Daniel Volkert Parteien und Migranten

Kultur und soziale Praxis Für Catharina

Daniel Volkert (Dipl.-Sozw.), geb. 1980, ist Projektkoordinator bei der Türki- schen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Ferner ist er Research Partner am Max-Planck-Institut für multireligiöse und multiethnische Gesellschaften in Göttingen. Er promovierte an der Georg-August-Universität in Göttingen und beschäftigt sich mit der zivilgesellschaftlichen und politischen Partizipation und Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund. Daniel Volkert Parteien und Migranten Inkorporationsprozesse innerhalb der SPD und der französischen PS

Originaltitel der Arbeit: »Zwischen Parteibuch und Wahlurne: Parteipolitische Inkorporationsprozesse von EinwanderInnen am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands und der Parti Socialiste in Frankreich.«

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCom- mercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/. Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wieder- verwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages ur- heberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3828-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3828-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt

Danksagung | 7

1 Einleitung | 9 1.1 Allgemeine Forschungsrelevanz | 10 1.2 Fallauswahl und Arbeitshypothesen | 12 1.3 Forschungsstand und Forschungsbeitrag dieser Arbeit | 19 1.4 Aufbau | 23

2 Theoretisch-konzeptioneller Rahmen | 25 2.1 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes „Partei“ | 26 2.2 Parteien und Wandel | 36 2.3 Zwischenresümee | 43

3 Methoden | 45 3.1 Dokumentenanalyse | 45 3.2 Leitfadengestützte Interviews und teilnehmende Beobachtung | 47

4 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands | 51 4.1 Von 1973 bis 1979: Erste Ansätze in der Mitgliederanwerbung | 53 4.2 Von 1980 bis 1988: Zwischen Ausländerwahlrecht und Ausländerfeindlichkeit | 61 4.3 Von 1989 bis 1998: Vom Objekt zum handelnden Subjekt | 70 4.4 Von 1999 bis 2009: Das Primat der Integration und der Individualisierung | 83 4.5 Von 2009 bis 2013: Integration, Vielfalt und Gleichberechtigung im Spannungsfeld | 90 4.6 Zwischenresümee | 103

5 Die Berliner SPD | 107 5.1 Parteipolitische Inkorporationsprozesse unter Vorbehalten | 110 5.2 Zwischen Aufbruchsstimmung und Enttäuschung: Die Phase der innerparteilichen Mobilisierung von Migranten/Migrantinnen | 126 5.3 Priorisierung des Wahlstimmenfangs und der politischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen | 134 5.4 Zwischen Anpassungsdruck und Eigenständigkeit gegenüber Impulsen der Bundespartei | 139 5.5 Zwischenresümee | 146

6 Fallstudie in | 149 6.1 Mitgliedschaft, Ansprache und Verankerung | 152 6.2 Zugang zu politischen Machtpositionen | 162 6.3 Zwischenresümee | 178

7 Die Parti socialiste in Frankreich | 181 7.1 Von 1972 bis 1977: Arbeitsmigranten/-migrantinnen als Objekte politischen Handelns | 184 7.2 Von 1978 bis 1989: Vom Objekt zum Subjekt politischen Handelns | 199 7.3 Von 1989 bis 2001: Das Primat der Integration | 217 7.4 Von 2002 bis 2012: Zwischen Antidiskriminierungs-, Vielfalts- und Parteienwettbewerbsrhetorik | 227 7.5 Zwischenresümee | 243

8 Die Pariser Sozialisten | 247 8.1 Dominanz nationaler Impulse und Inaktivität der Pariser PS | 249 8.2 Mobilisierung und Einstellungswandel über die Parteiflügelgrenzen hinaus | 269 8.3 Zwischenresümee | 280

9 Fallstudie in Paris und Seine-Saint-Denis | 281 9.1 Eine Parteigliederung in einem Pariser Arrondissement | 284 9.2 Eine Parteigliederung in einer Stadt in Seine-Saint-Denis | 307 9.3 Zwischenresümee | 324

10 Fazit und Forschungsausblick | 327

Abkürzungsverzeichnis | 337

Literatur | 341

Quellen | 363

Danksagung

Diese Arbeit wäre mir ohne die Unterstützung einer Vielzahl an Personen und Insti- tutionen nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt meiner Erstbetreuerin, Prof. Dr. Karen Schönwälder, für ihre stete wissenschaftliche Begleitung und För- derung. Neben dem entgegengebrachten Vertrauen in meine Fähigkeiten, den un- zähligen Anregungen und Kommentaren in Gesprächen und dem Teilhaben an ih- rem umfassenden Wissen ermöglichte sie mir meinen eigenen Schwerpunkt zu ent- wickeln. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Andrea Bührmann, die meinen soziologischen Blick schärfte und mir wertvolle methodische Hinweise gab. Die Teilnahme an den von ihr geleiteten Doktorandenkolloquien war mir eine große Be- reicherung. Prof. Dr. Matthias Koenig danke ich für seine strukturierten theoreti- schen und frankreichspezifischen Einblicke, die mir bei der Systematisierung der eigenen Materie halfen. Ferner wäre die Arbeit nicht ohne die umfangreiche Unterstützung der Mitarbei- ter_innen des Max-Planck-Instituts für multireligiöse und multiethnische Gesell- schaften in Göttingen denkbar gewesen. Das Institut bot mir ein materielles und in- tellektuelles Arbeitsumfeld, durch das ein freies Arbeiten erst möglich wurde. In diesem Zusammenhang danke ich Prof. Dr. Steven Vertovec, dem Direktor der so- ziokulturellen Abteilung des Instituts, für seine stete und wohlwollende Unterstüt- zung meiner Arbeit sowie für seine Offenheit gegenüber neuen Ideen. Darüber hin- aus bin ich für die vielen Begegnungen, den wertvollen Austausch, die gemeinsa- men Lernerfahrungen und die unzähligen Anregungen und Denkanstöße dort dank- bar. Insbesondere bin ich Cihan Sinanoglu und Christiane Kofri, die fast zeitgleich mit mir ihre Promotionen begannen, für die zahlreichen Gespräche und Hilfestel- lungen sehr verbunden. Ferner danke ich Dr. Maria Schiller, Lisa Harms und Frie- derike Voss für die inhaltlichen wie formalen Ratschläge. Mein Dank gilt auch Paul Becker, Astghik Chaloyan, Simone Dietrich und Anna Seegers-Krückeberg insbe- sondere für die aufmunternden Mensa- und Kaffeerunden. 8 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Außerhalb des Max-Planck-Instituts möchte ich mich bei Prof. Dr. Franz Walter sowie dem Göttinger Institut für Demokratieforschung für das Feedback auf meine Arbeit bedanken. Ferner gilt mein Dank Dr. Stephan Lanz für seine Einblicke in das Thema ‚Interkulturalität in Berlin‘. Diese Arbeit ist eine deutsch-französische Produktion. Daher bedanke ich mich bei Dr. Virginie Guiraudon, Forschungsdirektorin des CNRS in Frankreich, für die Möglichkeit am Centre d’Études Européenes des Sciences Po in Paris als Gastdok- torand meine Forschungen voranzutreiben. Der Zugang zu einer umfangreichen Bibliothek sowie zu Experten/Expertinnen im Forschungsfeld Migration und politi- sche Teilhabe waren entscheidend für meine Erhebungen in Paris. Namentlich will ich hier besonders Prof. Dr. Florence Haegel, Dr. Vincent Tiberj, Dr. Carole Bache- lot, Dr. Olivier Rosenberg und Dr. Antoine Jardin erwähnen. Auch außerhalb des Centre d’Études Européenes erhielt ich forschungsrelevante Einblicke in meine Thematik. Für Zeit und Rat möchte ich mich bei Dr. Angéline Escafré-Dublet, Prof. Dr. Romain Garbaye, Dr. Camille Hamidi, Prof. Dr. Riva Kastoryano, Prof. Dr. Frédéric Sawicki, Dr. Patrick Simon, El Yamine Soum und Dr. Catherine Wihtol de Wenden bedanken. Parteien bilden den zentralen Untersuchungsgegenstand dieses Buches. So gilt mein Dank den Parteimitgliedern der SPD und der französischen Sozialisten, die sich für Interviews zur Verfügung gestellt hatten und mir Einblicke in ihre Arbeit gewährten. Ferner bin ich insbesondere den lokalen Parteigliederungen in Berlin, Paris und Seine-Saint-Denis für ihre Offenheit und ihr Vertrauen dankbar. Ohne sie wäre mir eine Teilnahme an verschiedenen Treffen nicht möglich gewesen. Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen der Fondation Jean Jaurès, die mir den Zugang zu Archivmaterialien der PS ermöglichten und mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Meinem Freundeskreis möchte ich für die vielen Gespräche danken. Besonders Sebastian Hübers und Katharina Moosbauer waren mir bei den Korrekturen eine große Hilfe. Und auch meiner Familie danke ich für ihr Grundvertrauen in meine Fähigkeiten, ihre finanzielle Unterstützung und für ihr Mitdenken und Mitfiebern. Weit über einen Dank hinaus geht meine Verbundenheit zu meiner Frau Catha- rina. Sie ist in all den Jahren mit mir durch Höhen und Tiefen dieser Arbeit gegan- gen. Sie hat mich bei inhaltlichen und vor allem stilistischen Fragen immer wieder beraten. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

1 Einleitung

In einem Streitgespräch der Wochenzeitung „Die Zeit“ äußert die damalige Generalsekretä- rin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), : „Es gibt auch Ressentiments und Vorbehalte in meiner eigenen Partei. Es gibt da auch Leute, die sich nicht richtig vorstellen können, dass eine Generalsekretärin Fahimi heißt und nicht Meyer, Schul- ze, Scheuer.“ (Dausend und Lau 26.03.2015, S. 4f.)

Während einer lokalen Parteisitzung in Berlin ereignet sich Folgendes. Ein Jugendlicher mit sichtbarem Migrationshintergrund klopft an der Tür und tritt ein. Die Anwesenden nehmen kaum Notiz von ihm, bis auf eine Frau, die sich zu ihm wendet und sich höflich erkundigt, was er denn wolle. Der Jugendliche sagt: „Ich bin immer mal wieder hier vorbeigegangen und wollte mal hereinschauen, wollte mehr erfahren“. Die Frau reagiert verhalten, erwähnt im Flüsterton, dass es gerade schlecht passe und ob er nicht ein anderes Mal vorbeischauen könne. Der Jugendliche nickt und verabschiedet sich hörbar von allen. Die anderen Teilneh- mer/innen reagieren kaum. (Eigene Beobachtung)

Das Buch „Soumission“ (Unterwerfung) von Michel Houellebecq ist Anfang 2015 Gegen- stand der medial-öffentlichen Debatte in Frankreich und Deutschland. Im Buch entwirft der Autor ein Szenario, nach dem ein muslimischer Präsident die Macht übernimmt und das Land in bürgerkriegsähnliche Zustände verfällt.

Bei diesen kaleidoskopisch dargestellten Beobachtungen und fiktiven Szenarien werden Inkorporations- und Ausschlussprozesse von Einwanderern/Einwander- innen innerhalb politischer Parteien auf unterschiedliche Art und Weise themati- siert. Ängste, Ressentiments, Ignoranz, aber auch gelebte Teilhabe finden hier Er- wähnung. Doch wie sieht es in den politischen Parteien tatsächlich aus? Inwiefern werden Migranten/Migrantinnen als potenzielle Wähler/innen, Parteimitglieder oder zukünftiges politisches Personal gesehen? Inwieweit nehmen die Parteien da- 10 | PARTEIEN UND MIGRANTEN bei hemmende oder fördernde Rollen ein? Welche Motivationen und Widerstände lassen sich ausmachen und wodurch können diese erklärt werden? An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Am Beispiel der Sozialdemo- kratischen Partei Deutschlands (SPD) und der französischen Parti socialiste (PS) untersuche ich, inwieweit und warum es zu parteipolitischen Inkorporationsprozes- sen von Einwanderern/Einwanderinnen kommt. Dabei definiere ich „Einwandere- rer/Einwanderinnen“1 als Personen, die nach dem zweiten Weltkrieg bzw. nach 19492 selbst oder deren Familienangehörige eingewandert sind. Darüber hinaus wird ein Ziel der Arbeit sein, im Rahmen dieser Definition herauszufinden, wen die Parteien unter dieser Kategorie genau fassen. Welche Einwanderungsgruppen bzw. -generationen werden somit im Zuge parteipolitischer Inkorporationsprozesse wahr- genommen und angesprochen? Unter parteipolitischen Inkorporationsprozessen verstehe ich grundsätzlich die innerparteilichen Debatten über und Maßnahmen zur Ansprache, Anwerbung und Förderung von Migranten/Migrantinnen als potentielle Wähler/innen, Parteimit- glieder oder zukünftiges politisches Personal. Dabei werden Prozesse als Entwick- lungen über die Zeit verstanden, die es für beide Parteien nachzuzeichnen gilt. Die- se Inkorporationsprozesse untersuche ich auf nationaler und städtischer Ebene. Mit Berlin und Paris wähle ich darüber hinaus bewusst Metropolen, um den Einfluss spezifischer städtischer Kontexte auf das Handeln der beiden Parteien fest- zustellen. Inwiefern kommt es zu Abweichungen von der Gesamtpartei? Und in- wieweit lassen sich hier länderübergreifende Muster ausmachen? Im Folgenden werde ich zunächst auf die gesellschaftliche Relevanz des The- mas sowie die Begründung der Fallauswahl eingehen. Anschließend sind der bishe- rige Forschungsstand und die erkennbaren Forschungslücken zu benennen, aus de- nen sich weitergehende Fragestellungen für die Untersuchung ergeben. Schließlich wird der Aufbau der Arbeit kurz skizziert.

1.1 ALLGEMEINE FORSCHUNGSRELEVANZ

Seit den letzten Jahrzehnten müssen sich gesellschaftspolitische Organisationen in demokratisch verfassten Gesellschaften immer wieder mit der einwanderungsbe- dingten Heterogenität und den damit verbundenen Herausforderungen auseinander-

1 Im Folgenden werden die Begriffe Einwanderer/Einwanderinnen, Migranten/Migran- tinnen oder Menschen mit Migrationshintergrund synonym verwendet. 2 Insbesondere in Deutschland soll mit der zeitlichen Begrenzung die Gruppe der kurz nach dem zweiten Weltkrieg geflohen Aussiedler/innen, ausgeklammert werden. EINLEITUNG | 11 setzen (Faist 2000, S. 171f.; Koopmans und Statham 2003, S. 1; Vertovec 1998, S. 188). Eine dieser Herausforderungen ist die politische Inkorporation, d.h. Teilhabe und Repräsentation, von Einwanderern/Einwanderinnen (Garbaye 2007, S. 1f.; Ire- land 1994, S. 3). Im Rahmen von Forschungsarbeiten3 zu diesem Themenfeld stellte sich heraus, dass die Rolle von politischen Parteien in diesem Zusammenhang wei- testgehend ungeklärt bzw. unerforscht ist. Auch Bloemraad und Schönwälder stel- len einen besonderen Forschungsbedarf fest (Bloemraad und Schönwälder 2013, S. 567). Dabei sind politische Parteien aus zwei Gründen besonders gefordert. Zum ei- nen stellen sie eine intermediäre Instanz zwischen Staat und Gesellschaft dar, wel- che politische Interessen bündelt, in politische Programme fasst und diese umzuset- zen versucht (Spier et al. 2011, S. 11f.). Zum anderen fungieren Parteien als Rekru- tierungsorgane für den politischen Nachwuchs (Alemann 2010, S. 216; Hazan und Rahat 2010; Norris und Lovenduski 1995, S. 2). In Gesellschaften, die zunehmend durch Einwanderung geprägt sind, ist zu fragen, inwieweit Parteien auf diese Ver- änderung reagieren und Menschen mit Migrationshintergrund Teil dieses Vermitt- lungs- und Rekrutierungsprozesses sind. Diese Fragen bekommen zudem eine besondere Relevanz, da die etablierten Parteien in einer Krise stecken. Abnehmende Mitgliederzahlen, Stimmenverluste und schwindendes Vertrauen in der Bevölkerung (Katz et al. 1992; Dalton und Wattenberg 2000; Mair und van Biezen 2001; Scarrow und Gezgor 2010) verdeut- lichen dies. Angesichts dieser Symptome stehen Parteien unter erhöhtem Druck. Stellen vor diesem Hintergrund Einwanderer/Einwanderinnen eine attraktive und zukünftige Wähler- und Mitgliederklientel dar? Aufgrund dieser eklatanten Forschungslücke ist das primäre Ziel, eine grundla- genlegende Arbeit zu erstellen. Die black box ‚Partei‘ gilt es auf verschiedenen Ebenen auszuleuchten, um Entwicklungen der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen zu erkennen und nachzuvollziehen.

3 Am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesell- schaften untersuchte ich mit anderen Forschern/Forscherinnen die politische Repräsenta- tion von Menschen mit Migrationshintergrund in den deutschen Kommunalparlamenten. Hier zeigte sich, dass es bisher noch keine ausgewiesenen Studien zu den Parteien gibt.

12 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

1.2 FALLAUSWAHL UND ARBEITSHYPOTHESEN

Warum ist eine Untersuchung parteipolitischer Inkorporationsprozesse von Men- schen mit Migrationshintergrund gerade im Falle der deutschen Sozialdemokraten und französischen Sozialisten vielversprechend? Es handelt sich um Parteien, die in spezifischen nationalen Kontexten verankert sind. Letztere lassen ein Spannungs- verhältnis erwarten. So sind auf der einen Seite Unterschiede zwischen beiden Län- dern erkennbar, die die Annahme nahelegen, dass beide Parteien verschieden mit Fragen der politischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen umgehen. Auf der anderen Seite lassen sich Gemeinsamkeiten finden, die eher für eine Anglei- chung der Inkorporationsprozesse sprechen. Welche jeweils daraus abgeleiteten Annahmen bestätigen sich im empirischen Material? Haben beide Parteien einen vergleichbaren oder ungleichen Weg in der Bewältigung parteipolitischer Inkorpo- rationsprozesse eingeschlagen? Und welche Bedeutung hat dieses nationale Span- nungsverhältnis unter Berücksichtigung städtischer Rahmenbedingungen? Ein wesentlicher Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich lässt sich in den unterschiedlichen Migrationsgeschichten erkennen. Demnach unterschied sich die Migration in beiden Ländern, trotz einer vergleichbaren Anwerbepolitik, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und Anfang der 1970er Jahre endete (Schönwälder 2001, S. 159f.; Bade und Oltmer 2007, S. 159; Page Moch 2007, S. 134f.), in zweierlei Hinsicht. In Frankreich dominierte nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien die postkoloniale Einwanderung. Es kamen in den 1950er Jahren vor allem Menschen aus Portugal, Algerien und Marokko nach Frankreich (Weil 2005, S. 79ff.; Laubenthal 2006, S. 58f.). In den 1980er Jahren stieg die Zahl der Asylsuchenden aus Südostasien sowie aus Afrika, die teilweise auch aus den ehemaligen Kolonien stammten (Hargreaves 2007, S. 20). Schließlich war die Mig- ration von Menschen aus den französischen Überseegebieten (Dom-Tom) wie Gua- deloupe und Martinique geprägt, die aufgrund ihrer französischen Staatsbürger- schaft offiziell nicht als Einwanderer/Einwanderinnen gezählt werden. Wegen ihrer afrikanischen oder asiatischen Herkunft gelten sie als sichtbare Minderheiten (ebd., S. 21). In Deutschland dominierte hingegen die Einwanderung aus den süd- und südosteuropäischen Ländern sowie aus der Türkei (Schönwälder 2001, S. 159f.; Bade und Oltmer 2007, S. 159). Dabei handelt es sich um Länder, die keine ehema- ligen Kolonien von Deutschland waren. Zudem nahm ab Ende der 1980er Jahre die Einwanderung von Menschen aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu, die selbst deutsche Vorfahren hatten, die Spätaussiedler/innen (Bade und Oltmer 2007, S. 164; Herbert 2001, S. 288ff.). Diese Migrationsbewegungen wurden in beiden Ländern immer wieder von öffentlich-politischen Debatten begleitet. Demnach ist davon auszugehen, dass Inkorporationsprozesse in beiden Parteien von den unter- EINLEITUNG | 13 schiedlichen Diskussionen beeinflusst werden und sich folglich auf unterschiedliche Einwanderungsgruppen beziehen. Ein zweiter Unterschied ist, dass Deutschland und Frankreich traditionell unter- schiedliche Integrations- und Staatsbürgerschaftsverständnisse zugeschrieben wer- den. Diese Verständnisse werden als Ideen oder Ideologien verstanden, die in poli- tisch-öffentlichen Debatten zum Tragen kommen und nicht nur politische Entschei- dungen, sondern auch Eingliederungsprozesse von Menschen mit Migrationshinter- grund im jeweiligen Nationalstaat beeinflussen (Michalowski und Finotelli 2012, S. 232). Bertossi und Duyvendak merken in diesem Zusammenhang an, dass die Staatsbürgerschafts- und Integrationsverständnisse das Handeln in und die Formen von Institutionen – also auch Parteien – bestimmen (Bertossi und Duyvendak 2012, S. 241). Frankreich steht für ein assimilationistisches Modell (Brubaker 1992, S. 1, 81; Castles und Miller 2003, S. 281f.; Schain 2008, S. 77; Favell 1998, S. 40f.; Weil 2005, S. 369). Dies bedeutet zum einen, dass das einzelne Individuum sich in die Gesellschaft eingliedert und kollektive Interessen kultureller oder religiöser Art keine Berücksichtigung finden. Folge ist hierbei das Fehlen einer offiziellen Integ- rationspolitik, die auf eine gezielte Unterstützung und Interessenberücksichtigung bestimmter Einwanderungsgruppen abzielt. Zum anderen ist das Modell durch ein liberales Staatsbürgerschaftsgesetz geprägt, das die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft an den Geburtsort knüpft (ius soli; Geburtsortprinzip). So geht der vereinfachte Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten, wie beispielsweise dem Wahlrecht, mit der Pflicht der Eingliederung in das französische Wertesystem ein- her. Das Individuum wird somit als Teil einer politisch definierten Nation betrach- tet. Deutschland steht im Gegensatz dazu für ein ethnisches Staatsbürgerschaft- und Integrationsmodell, bzw. Gastarbeitermodell (Brubaker 1992, S. 1; 77; 81; Castles und Miller 2003, S. 211). Grund hierfür ist das bis Ende 2000 geltende restriktive Staatsbürgerschaftsrecht, das die Staatsbürgerschaft eng an das Abstammungsprin- zip knüpfte (ius sanguinis; Abstammungsprinzip) und somit die Hürden der Ein- bürgerung hoch hängte. Derartige Restriktionen können als Anzeichen für eine ge- ringe Bereitschaft der Gesellschaft gesehen werden, „ausländische Personen in das Land einwandern und darin auch teilhaben zu lassen“ (Kortmann 2011, S. 67). Ent- sprechend wurden statt einer aktiven Integrationsförderung gerade in den 1980er Jahren Rückkehranreize für Einwanderer/Einwanderinnen geschaffen, um dem offi- ziellen Grundsatz treu zu bleiben, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei (Bade 2011, S. 161f.). Migranten/Migrantinnen wurden somit weiterhin primär als Bürger/innen ihrer Herkunftsländer betrachtet, die nur vorübergehend in Deutsch- land verweilten. Unter Berücksichtigung dieser nationalspezifischen Dichotomie ist anzuneh- men, dass die parteipolitische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen innerhalb der PS stärker ausgeprägt ist als in der SPD. Durch niedrige Einbürgerungshürden sind Einwanderer/Einwanderinnen in Frankreich öfters Bürger/innen mit politi-

14 | PARTEIEN UND MIGRANTEN schen Rechten, die das aktive und passive Wahlrecht besitzen und somit für Partei- en, in ihrer Funktion als Wahlstimmenmaximierer, interessant sind. Darüber hinaus werden sie als Teil der französischen Gesellschaft wahrgenommen. Entsprechend hoch sind die Handlungsanreize der Parteien, sich gegenüber diesem gesellschaftli- chen Teil zu öffnen. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass aufgrund des französi- schen Staatsbürgerschaftsverständnisses innerhalb der PS der Einzelne und nicht ganze Migrantengruppen oder -gemeinschaften angesprochen werden. Im Gegen- satz dazu fehlt ein vergleichbarer Handlungsdruck im Fall der SPD, da in Deutsch- land höhere Einbürgerungshürden die politische Teilhabe von Menschen mit Migra- tionshintergrund jahrzehntelang erschwerte. Entsprechend ist eher davon auszuge- hen, dass Migranten/Migrantinnen primär als politische Subjekte in Bezug auf das politische Engagement in den Herkunftsländern wahrgenommen werden. Gleichzei- tig ist eine gruppenspezifische Wahrnehmung innerhalb der Partei wahrscheinli- cher. Eine modellhafte Gegenüberstellung beider Länder und somit beider Parteien ist jedoch nicht unproblematisch. Die Kontrastierung Deutschlands gegenüber Frank- reich ist unter anderem wegen ihrer statischen Konzeptionen in die Kritik geraten. Entsprechend werden beispielsweise mögliche Angleichungen bzw. Gemeinsam- keiten zwischen beiden Ländern über die Zeit ausgeblendet (Bertossi und Duyvend- ak 2012, S. 244; Michalowski und Finotelli 2012, S. 234). Frankreich und Deutsch- land können heute als Einwanderungsländer gelten. Ein Indiz dafür ist, dass die Zahl der Einwanderer/Einwanderinnen in beiden Kontexten seit dem Zweiten Weltkrieg stetig zugenommen hat. Während die Zahl der Eingewanderten ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland 1950 noch bei rund 560.000 lag, waren es 1970 bereits fast 3 Millionen (Herbert 2001, S. 198f.). Laut Bevölkerungszensus von 2011 lag diese Zahl bei etwa 6,1 Millionen, was einem Bevölkerungsanteil von 7,6 Prozent entspricht4. Die Zahl der Menschen mit einem Migrationshintergrund5 betrug zum gleichen Zeitpunkt fast 15,3 Millionen Menschen (19,2 Prozent der Ge- samtbevölkerung). Von den 15,3 Millionen besaßen rund 9,2 Millionen die deut-

4 Vgl. Datenbank Zensus 2011 des Statistischen Bundesamts (https://ergebnisse.zensus20 11.de; letzter Zugriff am 10.03.2015). 5 Als Menschen „mit Migrationshintergrund werden alle zugewanderten und nicht zuge- wanderten Ausländer/-innen sowie alle nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesre- publik Deutschland zugewanderten Deutschen und alle Deutschen mit zumindest einem nach 1955 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewanderten El- ternteil definiert. Ausländer/-innen sind Personen, die nicht die deutsche Staatsangehö- rigkeit besitzen.“ (https://ergebnisse.zensus2011.de/#Glossary:; letzter Zugriff am 10.03. 2015) EINLEITUNG | 15 sche Staatsbürgerschaft (11,2 Prozent). In Frankreich lag die Zahl der Auslän- der/innen (étrangers) 1946 bei 1,7 Millionen (4,3 Prozent) und stieg bis 1975 auf rund 3,4 Millionen (6,5 Prozent) an (Weil 2005, S. 534f.). 2011 konnte die Zahl laut Bevölkerungszensus auf rund 3,9 Millionen beziffert werden (6 Prozent)6. Die Zahl der Eingewanderten (les immigrés7) lag 2011 bei 5,6 Millionen. Rund neun Prozent der Bevölkerung waren somit eingewandert.8 Diese Zunahme blieb in beiden Län- dern nicht ohne Folge auf die öffentliche Wahrnehmung und Politik. So lässt sich in Deutschland und Frankreich eine zunehmende Relevanz der Integrationspolitik im letzten Jahrzehnt feststellen, die verstärkt auf eine Beteiligung von Migran- ten/Migrantinnen setzt. Es wurden beispielsweise Dialogforen von den Regierungen eingerichtet, um mit verschiedenen Interessengruppen der Einwanderer/Einwander- innen in Kontakt zu treten. Unter Bundeskanzlerin wurde der Integ- rationsgipfel initiiert, der erstmals einen strukturierten Dialog mit Vertreter/innen von Migrantenselbstorganisationen darstellte (Musch 2011, S. 219; Krick 2010, S. 246f.). Ein weiteres Beispiel ist die Aufnahme des Dialogs mit muslimischen Ver- bänden im Rahmen der Islamkonferenz im Jahre 2006 (Linden 2014, S. 277-282). In Frankreich wurde 2003 der Conseil français de culte musulman (CFCM) ge- gründet, welcher das politisch-institutionelle Sprachrohr der dort lebenden Musli- me/Musliminnen bildet (Garbaye 2007, S. 17; Kastoryano 2006, S. 64; Bird 2005, S. 436). Insgesamt zeigt sich, dass mit zunehmender und dauerhafter Einwanderung verschiedene gesellschaftliche Institutionen verstärkt unter Handlungsdruck gerie- ten und die Inkorporationsprozesse vorantrieben. Die politischen Parteien bleiben als intermediäre Instanzen von diesen Veränderungen nicht unberührt. Entspre- chend ist davon auszugehen, dass innerhalb der PS und SPD der Diskussionsbedarf und Handlungsdruck im Hinblick der parteipolitischen Inkorporation steigt. Eine weitere Kritik an der Gegenüberstellung beider Länderkontexte ist die Nichtberücksichtigung institutioneller und organisationspezifischer Faktoren, die ein Abweichen von festgelegten nationalen Verständnissen ermöglichen (Bertossi und Duyvendak 2012, S. 244; Michalowski und Finotelli 2012, S. 234). In diesem Zusammenhang fordert Koenig im Rahmen seiner Analyse des nationalstaatlichen Umgangs mit religiöser Vielfalt, sich weniger an klar abgrenzbaren Verständnissen

6 Vgl. Datenbank Recensement 2011 des Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) (www.insee.fr; letzter Zugriff am 10.03.2015). 7 Laut Definition von INSEE sind hier Einwanderer/Einwanderinnen mit und ohne franzö- sische Staatsbürgerschaft inbegriffen (vgl. http://www.insee.fr/fr/bases-de-donnees/de- fault.asp?page=recensement/resultats/doc/definitions-rp.htm#def_immigre; letzter Zugriff am 10.03.2015). 8 Vgl. Datenbank Recensement 2011 (www.insee.fr; letzter Zugriff am 10.03.2015).

16 | PARTEIEN UND MIGRANTEN zu orientieren, sondern vielmehr die spezifischen institutionellen Rahmenbedingun- gen und situationsspezifischen Interpretationen zu berücksichtigen (Koenig 2007, S. 912). Ferner stellen Bowen at al. heraus, dass Ideen, Normen und Emotionen Hand- lungen innerhalb von Organisationen entscheidend beeinflussen (Bowen et al. 2014, S. 2f.). Berücksichtigt man diesen Kritikpunkt, so ist bei der SPD und der PS aus drei Gründen von einer Angleichung der parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen auszugehen. Erstens verfügen beide Parteien über eine breite gesellschaftliche Verankerung. Sie vereinen einen verhältnismäßig hohen Wahlstimmen- und Mitgliederanteil auf sich. Die SPD erhält neben der Christde- mokratischen Union (CDU) bis heute die meisten Wahlstimmen und zählt die meis- ten Mitglieder (Beyme 2010, S. 150; Niedermayer 2012, S. 393). Die PS bildet heu- te neben den Konservativen (UMP)9 aufgrund des Niedergangs der Kommunisti- schen Partei (PCF)10 die stärkste politische Kraft (Knapp 2004a, S. 53; Bergounioux und Grunberg 1992, S. 381). Entsprechend ist ein erhöhter Repräsentationsanspruch gegenüber verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vorhanden. Dauerhafte gesell- schaftliche Veränderungen wie Migration und der Umgang damit setzen diese Art von Parteien besonders unter Handlungsdruck. Zweitens erlebten SPD und PS in den letzten Jahrzehnten eine Vertrauenskrise. Beide Parteien verzeichnen seit Jahrzehnten sinkende Zustimmungswerte. Während die SPD bei den Bundestagswahlen 1972 mit einem Stimmenanteil von 45,8 Pro- zent ihr bestes Ergebnis erzielte, lag dieser Anteil 2009 nur noch bei 23 Prozent (Beyme 2010, S. 150). Darüber hinaus sank laut Dalton und Bürklin generell die Parteienidentifikation in Westdeutschland. Konnten sich 1972 noch 55 Prozent mit den Parteien identifizieren, lag dieser Wert 2002 bei 37 Prozent (Dalton und Bür- klin 2003, S. 62)11. Während die Mitgliederzahl Anfang der 1970er Jahre noch über einer Million lag, gab es 2012 rund 477.000 Mitglieder (Decker et al. 2014, S. 8). Ebenso zeigt die PS ähnliche Krisensymptome. Auch sie musste Wahlverluste über die Jahrzehnte hinnehmen. Kam sie bei den Präsidentschaftswahlen 1981 noch auf 44,4 Prozent der Stimmen, lag dieser Anteil 2002 bei 27,2 Prozent (Evans und Mayer 2005, S. 38). Vergleichbar sieht es bei den Parlamentswahlen aus. 1981 stimmten 38,3 Prozent der Wähler/innen für die PS. 2002 waren es nur noch 27,9 Prozent (Knapp 2004a, S. 53). Zudem macht sich ein genereller Vertrauensverlust

9 Union pour un Mouvement Populaire. 10 Die PCF (Parti communiste français) konnte noch bis Ende der 1970er Jahre mehr Wahl- stimmen bei den Parlamentswahlen auf sich vereinigen als die PS. Sie verfügte über eine weitaus größere Mitgliederzahl. 11 Für die neuen Bundesländer liegt der Wert 2002 bei 28 Prozent (ebd.). EINLEITUNG | 17 gegenüber den Parteien in Frankreich bemerkbar. So sank der Anteil derjenigen Personen, die einer Partei nahe stehen, im Zeitraum von 1988 bis 2002 um 8 auf 32 Prozent. Parallel stieg die Ablehnung der PS von 12 auf 17 Prozent (Haegel 2005, S. 28ff.)12. Auch sank das vergleichsweise niedrige Mitgliederniveau Ende der 1990er Jahre auf rund 150.000 Mitglieder (Decker et al. 2014, S. 8). Vor diesem Hintergrund ist vorstellbar, dass beide Parteien die verlorene Zustimmung mittels der Ansprache und Inkorporation neuer Wählergruppen, wie beispielsweise Ein- wanderer/Einwanderinnen, wieder zurückgewinnen möchten. Drittens handelt es sich um Parteien mit einer linksorientierten Programmatik. Aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung ist davon auszugehen, dass sie für mehr Gleichberechtigung von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen eintreten (Caul 1999, S. 81f.). So kann beispielsweise die Wertvorstellung von der internationalen Solidarität mit ausländischen Arbeiter/innen als ein wichtiger Pfeiler für Gleichbe- rechtigungsforderungen gesehen werden. Auch lässt sich nach ersten Studien bele- gen, dass Gewählte mit Migrationshintergrund in deutschen und französischen Par- lamenten vor allem auf dem linken Parteienspektrum verankert sind (Schönwälder et al. 2011, S. 34; Keslassy 2010, S. 3f.; Geisser und Oriol 2001, S. 47f.). Entspre- chend ist davon auszugehen, dass das normative Setting beider Parteien sich be- günstigend auf Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen auswirkt. Mit der zusätzlichen Analyse der Parteigliederungen in Berlin und Paris lassen sich weitere Anhaltspunkte für vergleichbare Entwicklungen in den Parteien jen- seits nationalspezifischer Eigenheiten finden. So werden Städte im Allgemeinen als Orte beschrieben, wo sich Einwanderer/Einwanderinnen räumlich konzentrieren (Rogers et al. 2001, S. 4; Alexander 2007, S. 2f.). Es ist auch die Rede von multi- kulturellen (Rogers 2003, S. 284f.), superdiversen Städten (Vertovec 2007) oder Einwanderungsstädten (Lanz 2007, S. 9). Berlin zählte laut dem Bevölkerungszen- sus 2011 knapp unter 3,3 Millionen Einwohner/innen13. Der Anteil der ausländi- schen Bevölkerung lag bei 11,4 Prozent. Rund 24,1 Prozent der Bevölkerung hatten einen Migrationshintergrund. Die Anteile liegen über dem Bundesdurchschnitt, was für eine räumliche Konzentration von Menschen mit Migrationshintergrund in Ber- lin spricht. In Paris lag die Bevölkerungszahl laut dem Zensus von 2011 bei etwas mehr als 2,2 Millionen14. Davon verfügten rund 330.000 Menschen nicht über die

12 Zudem gaben laut einer Umfrage von 2008 55 Prozent der Befragten an, dass die Partei in einer langwierigen Krise stecke (Umfrage der SOFRES-Institut – vgl. http://www.tns- sofres.com/sites/default/files/141108_ps.pdf.; letzter Zugriff am 15.03.2015). 13 Vgl. Datenbank Zensus 2011 (https://ergebnisse.zensus2011.de; letzter Zugriff am 10.03.2015). 14 Vgl. Datenbank Recensement 2011 (http://www.insee.fr; letzter Zugriff am 10.03.2015).

18 | PARTEIEN UND MIGRANTEN französische Staatsbürgerschaft, was einem Anteil von knapp unter 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht. Rund 460.000 Personen wurden zu diesem Zeitpunkt als Eingewanderte (immigrés) gezählt15 . Entsprechend waren 20 Prozent der Bevölkerung eingewandert16 . Ferner werden Migrations- und Integrationsprozesse im engen Zusammenhang mit urbanen Leben gesehen (Ireland 1994, S. 101). So sind es die Städte, bzw. die verschiedenen Organisationen und Akteure in einer Stadt, die auf die veränderte städtische Realität unterschiedlich reagieren (Salzbrunn 2014, S. 71). Auch For- scher/innen in Frankreich und Deutschland weisen auf die Bedeutung des lokalen Kontexts bei der Integration von Migranten/Migrantinnen hin. So hält Gesemann fest, dass deutsche Städte als „Integrationsmaschinen“ gelten können (Roth und Ge- semann 2009, S. 12). Kastoryano und Crowley konstatieren für den französischen Kontext, dass Einwanderungsfragen seit den 1980er Jahren mit der Dezentralisie- rungsreform im lokalen Kontext problematisiert und durch lokale Politiken ange- gangen wurden (Kastoryano und Crowley 2001, S. 181ff.). Hinzu kommt, dass Ber- lin und Paris als machtpolitische Zentren gesehen werden können. So bilden beide Städte den nationalen Regierungs- und Parlamentssitz17. Es ist deshalb zu erwarten, dass sich gerade dort politische Parteien mit Fragen der politischen Teilhabe von Migranten/Migrantinnen auseinandersetzen müssen. Gleichwohl heißt das nicht, dass Städte per se Orte der parteipolitischen Inkor- poration sind. Bereits Garbaye zeigte an den Fallstudien Lille und Roubaix, dass Einwanderer/Einwanderinnen in sehr unterschiedlichem Maße politisch inkorporiert wurden. Er machte dafür Unterschiede in der Mobilisierung der Migranten/Migran- tinnen in Vereinen, im politischen Wettbewerb und in der städtischen Integrations- politik verantwortlich (Garbaye 2007). Auch Roth und Gesemann machen das Ausmaß und den Erfolg einer Integrationspolitik von den „Ressourcen und Organi- sationen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ sowie den politischen Bedin- gungen abhängig (Roth und Gesemann 2009, S. 13). Insofern ist zu erwarten, dass die Berliner SPD und die Pariser PS stärker durch stadtspezifische Rahmenbedin- gungen als durch historisch gewachsene nationale Pfadabhängigkeiten geprägt wer- den.

15 Vgl. Datenbank Recensement 2011 (http://www.insee.fr; letzter Zugriff am 10.03.2015). 16 Nach Schätzungen von Michael Alexander lag der Anteil der Bevölkerung mit Migrati- onshintergrund, d.h. erste und zweite Generation der Migranten/Migrantinnen, bei rund 41 Prozent (Alexander 2007, S. 123). 17 In Berlin haben seit dem Regierungsumzug 1999 der und die Regierung ihren Sitz (Müller 2003, S. 466). EINLEITUNG | 19

1.3 FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSBEITRAG DIESER ARBEIT

Wie bereits erwähnt, sind die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Ein- wanderer/Einwanderinnen kaum erforscht. Die Forschungsarbeiten zu den deut- schen Parteien bilden demnach keine Ausnahme. Verschiedene grundlegende Ver- öffentlichungen im Bereich der Parteiforschung, wie beispielsweise die Parteimit- gliederstudie von 2011 (Spier et al. 2011), das Parteienhandbuch (Niedermayer 2013) oder wissenschaftliche Ausführungen zum Parteienwandel, bzw. zur Partei- enkrise (Jun 2011), stehen hierfür symptomatisch, da in diesen Publikationen das Thema Parteien und Migranten/Migrantinnen nicht angesprochen wird18. Allenfalls lassen sich bisher überblicksartige Darstellungen (Kösemen 2014), erste konzeptio- nelle Ansätze (Wüst 2011) oder allgemeine Einschätzungen von Politiker/innen (Oppong 2011; Kaya 2013) in diesem Themenfeld finden, denen aber keine syste- matische Erforschung von Parteien zu Grunde liegt. Allein in vorhandenen Studien zur politischen Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lassen sich vereinzelte Hinweise auf die Rolle der Parteien finden. So zeigt sich, wie oben angedeutet, dass in den Parlamen- ten auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene Mandatsträger/innen mit Mig- rationshintergrund vor allem auf dem linken Parteienspektrum zu verorten sind, d.h. bei den Grünen, bei der Linken und der SPD (Schönwälder 2013a, S. 639; Schön- wälder et al. 2011, S. 34f.; Wüst und Heinz 2009; Donovan 2007, S. 462). Unter- schiedliche Hypothesen werden für diese ungleiche Verteilung aufgestellt. So wird angenommen, dass die SPD durch ihre gewerkschaftliche Nähe ausländische Ar- beitskräfte für die Parteienarbeit gewinnen konnte. Des Weiteren gab es sozialde- mokratisch orientierte türkische Vereine in Deutschland, die als Brücke in die SPD dienten (Schönwälder 2012; 2010a, S. 32; Hunger 2003, S. 312). Überdies wird da- von ausgegangen, dass eine inhaltliche Offenheit und liberalere Einstellung der lin- ken Parteien im Hinblick auf Einwanderer/Einwanderinnen einen Parteibeitritt so- wie einen innerparteilichen Aufstieg zum Wahlamt wahrscheinlicher werden lässt (Wüst 2011, S. 121). Im Hinblick auf die Präsenz von Einwanderern/Einwanderinnen unter den Par- teimitgliedern lassen sich in der Forschungsliteratur vereinzelt Hinweise finden. So wurde nach Wiedmann die Zahl der ausländischen Mitglieder bei der SPD im Jahr 2004 auf 6755 Personen beziffert, wovon die meisten männlich waren und die tür-

18 Durch die Teilnahme an politikwissenschaftlichen Konferenzen konnte ich feststellen, dass das Thema für die etablierte Parteienforschung langsam an Bedeutung gewinnt und vermehrt diskutiert wird.

20 | PARTEIEN UND MIGRANTEN kische Staatsangehörigkeit besaßen. Die Zahl entsprach „gut einem Prozent aller Mitglieder“ (Wiedemann 2006, S. 277f.). Bis heute ist hingegen unklar, wie viele Mitglieder einen Migrationshintergrund haben. Ferner wird in der Literatur auf ein- zelne innerparteiliche Initiativen hingewiesen, wie beispielsweise die Bundeskonfe- renz sozialdemokratischer Migrantinnen und Migranten in den 1990er Jahren in- nerhalb der SPD (Schönwälder 2013a, S. 637). Ähnlich sieht es im Hinblick auf die Forschungserkenntnisse zur Berliner SPD in diesem Themenfeld aus. Während in der Literatur ein klarer Fokus auf der Ein- wanderungsgeschichte und den stadtspezifischen Umgang mit Einwanderern/Ein- wanderinnen liegt (Kiepenheuer-Drechsler 2013; Gesemann 2009; Lanz 2007; Mahnig 2004; Schwarz 2001; Vertovec 1996), gibt es bislang keine Studien, die sich explizit mit den Berliner Parteien und parteipolitischen Eingliederungsprozesse von Migranten/Migrantinnen beschäftigen. Erneut lassen sich nur vereinzelte Hin- weise auf die Rolle von Parteien finden. So wird auch hier davon ausgegangen, dass die SPD in Berlin gute Beziehungen zu den türkischen Migrantenorganisationen un- terhält (Yurdakal 2006) sowie eine hohe Zustimmung unter den türkeistämmigen Wähler/innen aufweist (Boucher 2008, S. 223). Schließlich bezifferte Decker die Zahl der ausländischen Mitglieder 1980 der SPD auf etwa 386 Mitglieder, während die CDU auf rund 15 Mitglieder kam (Decker 1982, S. 99). Weitgehend unerforscht ist auch die Relevanz parteipolitischer Inkorporations- prozesse von Einwanderern/Einwanderinnen auf der Ebene lokaler Parteigliederun- gen. Bislang lassen sich vereinzelte Studien finden, die sich entweder nicht auf die SPD beziehen (vgl. Studie über die Berliner CDU von Mayntz (Mayntz 1959) oder sich auf innerparteiliche Nominierungsprozesse konzentrieren, die eine Analyse der lokalen Parteienbasis außen vor lassen (vgl. Studie von Reiser 2014). Zudem blei- ben dabei andere Dimensionen der parteipolitischen Inkorporationsprozesse, wie beispielsweise die Mitgliederanwerbung von Migranten/Migrantinnen, unbeleuch- tet. Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die bisherigen Erkenntnisse im Fall der SPD noch gering sind. Die wenigen Ergebnisse beziehen sich vor allem auf Fragen der politischen Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund, so dass weitere organisationsrelevante Inkorporationsprozesse, wie die Ansprache von Wähler/innen und Mitgliedern, allenfalls indirekt erwähnt werden. Ferner sind bis- lang die in diesem Zusammenhang stattfindenden innerparteilichen Debatten sowie die Durchsetzung von Maßnahmen unerforscht. Entsprechend bleibt unklar, mit welchen Faktoren parteipolitische Inkorporationsprozesse erklärt werden können. Auch gibt es bisweilen keine Erkenntnisse über die Entwicklungen im Zeitverlauf. Lässt sich ein Trend zu mehr oder weniger Inkorporation feststellen? Wodurch zeichnet sich dieser aus und wie lässt er sich erklären? Zudem kann bisher keine Aussage darüber gemacht werden, wie auf nationaler, städtischer und lokaler Par- teienebene mit dem Thema umgegangen wird. Welche Gemeinsamkeiten und Un- EINLEITUNG | 21 terschiede lassen sich feststellen? Inwiefern spiegeln sich die Debatten auf den un- terschiedlichen Ebenen wider? Die vorliegende Arbeit ist im Fall der SPD vor allem als grundlagenlegende Ar- beit konzipiert, mit der der primäre Anspruch verbunden ist, die black box ‚Partei‘ erstmals auszuleuchten. Dabei wird in dreierlei Hinsicht ein Forschungsbeitrag ge- leistet. Erstens werden die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Einwande- rern/Einwanderinnen über einen längeren Zeitraum innerhalb der Bundes-SPD und Berliner SPD dargestellt und reflektiert. Ziel ist es, verschiedene Phasen der Inkor- poration zu identifizieren und zu begründen. Zweitens wird mit der Parteienorgani- sationsperspektive ein analytischer Rahmen gewählt, mit dem das Spannungsver- hältnis unterschiedlicher Rahmenbedingungen berücksichtigt und somit das Han- deln innerhalb der SPD eingeordnet und nachvollziehbar gemacht werden kann. Drittens zielt der Vergleich zwischen nationalen und lokalen Parteienebenen darauf ab, innerparteiliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzudecken. Der Untersuchungszeitraum beginnt 1970 und endet 2013. Grund für die Wahl dieser Zeitspanne ist, dass es Anfang der 1970er Jahre erstmals zu einer Debatte über das Zusammenleben zwischen Deutschen und Migranten/Migrantinnen nach dem Zweiten Weltkrieg kam, bei der auch Fragen der politischen Partizipation nicht ausgeklammert wurden (Schönwälder 2001, S. 498). Des Weiteren wurde 1969 die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt gebildet. Der Sozialde- mokrat Brandt versprach mit seiner Wahl grundlegende Reformen und eine Demo- kratisierung in Deutschland (ebd., S. 496). 2013 bildet wiederum ein Jahr, in dem die letzten Bundestagswahlen stattfanden. Entsprechend können Diskussionen bis in die jüngste Zeit analysiert werden.19 Im Gegensatz zur Deutschland liegen für Frankreich bereits fundiertere Er- kenntnisse zur parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen vor. So gibt es mehrere Forschungsarbeiten, die eingehend den Umgang der Partei- en mit Migranten/Migrantinnen aus unterschiedlichen Perspektiven analysieren. In der Untersuchung von Soum und Geisser wird die historische Entwicklung der Ein- gliederungsprozesse von Migranten/Migrantinnen in allen relevanten Parteien des französischen Parteiensystems nachgezeichnet und problematisiert (Geisser und Soum 2008). Ferner gibt es Analysen, in denen ansatzweise die Rolle der PS in ei- ner bestimmten Zeitperiode oder in einem spezifischen Stadtkontext untersucht wird (Geisser 1997; Masclet 2006; Garbaye 2007). Überdies liegen Arbeiten vor, in

19 Um die Entwicklungen innerhalb der Bundes-SPD und Berliner SPD vergleichen zu kön- nen, wird auch für letztere der gleiche Zeitraum vorgeschlagen. Die lokale Feldstudie wurde wiederum im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahlen, d.h. 2010 und 2011, durchge- führt.

22 | PARTEIEN UND MIGRANTEN denen die politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund analy- siert und die Rolle von Parteien indirekt thematisiert werden (Bouamama 1994; Wihtol de Wenden 1988). Tenor dieser Arbeiten ist, dass mit der Wahl des Sozialis- ten François Mitterands 1981 erstmals die parteipolitische Inkorporation von maghrebinisch-stämmigen Einwanderer/Einwanderinnen auf der Tagesordnung stand. Ab den 1990er Jahren wurden hingegen ein abnehmendes Interesse, ein Scheitern der Inkorporationsbemühungen sowie eine Instrumentalisierung einzelner Gewählter mit Migrationshintergrund festgestellt. Erst seit Anfang der Jahrtau- sendwende ist ein wiedererwecktes Interesse an der Inkorporation von Menschen mit Migrationshintergrund im Rahmen einer Diversitätspolitik auszumachen (Car- tier et al. 2010: S. 180; Avanza 2010a; 2010b: S. 745; 749). Angesichts dieser Arbeiten kann auf umfassendes Wissen über parteipolitische Inkorporationsprozesse innerhalb der PS zugegriffen werden. Nichtsdestotrotz ist eine zentrale Forschungslücke erkennbar. So fehlt den bisherigen Arbeiten eine par- teiorganisationstheoretische Reflexion, d.h. parteipolitische Inkorporationsprozesse werden bisher nicht aus einer Organisationsperspektive heraus analysiert. Entspre- chend können die Ursachen von bestimmten Regelhaftigkeiten und Umbrüchen nur eingeschränkt aufgedeckt werden. Zudem kommt es nicht zu einer methodisch fun- dierten Operationalisierung des Forschungsgegenstands. Man erfährt nur sehr ein- geschränkt, welche Quellen, warum und mit welchen Methoden untersucht wurden. Entsprechend bleibt unklar, wo im Forschungsmaterial mögliche Lücken bestehen und folglich weitere Analysen notwendig sind. Während die nationale Ebene der PS im Hinblick auf die parteipolitischen In- korporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen relativ gut erforscht ist, gibt es keine vergleichbaren Studien zu den Pariser Sozialisten. Vielmehr lassen sich Forschungsarbeiten ausfindig machen, in denen die politische Partizipation und Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in verschiedenen städtischen Kontex- ten, u.a. auch Paris, untersucht werden (Garbaye 2007; Geisser 1997; Kepel 2012; Michon 2011). Dabei wird die Rolle der Parteien, bzw. einzelner politischer Perso- nen, thematisiert, ohne eine systematische Analyse parteistruktureller Faktoren ein- zubeziehen. Überdies gibt es bisweilen nur vereinzelt Studien, in denen die Nomi- nierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund sowie die dahin- ter stehenden politischen Strategien lokaler Parteigliederungen untersucht werden. So analysierte Avanza im Rahmen der Kommunalwahlen 2008 Positionierungsstra- tegien Pariser Kandidaten/Kandidatinnen mit sichtbaren Migrationshintergrund (candidates de la diversité) (Avanza 2010a; 2010b). Sie stellt eine geringe Hervor- hebung der Herkunft im Wahlkampf fest, wobei unter diversité auschließlich sicht- bare Minderheiten verstanden werden. Des Weiteren haben Cartier et al. in ihrer Untersuchung in einem Pariser Vorort eine ähnliche Frage gestellt (Cartier et al. 2010). Auch sie sehen ein mehr oder weniger offenes Positionieren von sichtbaren Minderheiten auf Wahllisten. Gleichwohl fehlt auch diesen Studien die parteiorga- EINLEITUNG | 23 nisatorische Perspektive, so dass unklar bleibt, wie innerparteiliche Normen, Struk- turen und Akteurskonstellationen die Nominierungen beeinflussen. Zudem untersu- chen sie andere Formen der parteipolitischen Inkorporation, wie beispielsweise Mitgliederanwerbung, nicht. Aufbauend auf diesen Vorarbeiten wird ein Forschungsbeitrag in dreierlei Hin- sicht geleistet. Erstens sollen mittels eigener Erhebungen sowie den bereits vorhan- denen Forschungserkenntnissen parteipolitische Inkorporationsprozesse von Mig- ranten/Migrantinnen über die Zeit untersucht und durch einen spezifischen analyti- schen Zugang, der Parteienorganisationsperspektive, erklärbar gemacht werden. Zweitens gilt es, die Entwicklungen innerhalb der Pariser PS nachzuvollziehen und in Beziehung zur nationalen Ebene zu setzen, um Gemeinsamkeiten und Unter- schiede herauszuarbeiten. Drittens werden parteipolitische Inkorporationsprozesse auf lokaler Parteiebene untersucht, die neben den Nominierungsprozessen auch an- dere Formen der parteipolitischen Inkorporation umfassen. Der Untersuchungszeitraum für nationale und Pariser Parteiebene beginnt 1971 und endet 2012. Der Beginn begründet sich zum einen darin, dass die PS 1971 ge- gründet wurde und somit eine Untersuchung vor diesem Zeitraum eine andere Or- ganisation betreffen würde. Zum anderen kam es auch in Frankreich ab Ende der 1960er Jahren zu einer verstärkten öffentliche Debatten über die soziale Lage der Migranten/Migrantinnen (Weil 2005, S. 95f.). Der Analysezeitraum endet 2012, da in diesem Jahr die nationalen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfanden und diese als Zäsur betrachtet werden können.20

1.4 AUFBAU

Zunächst gilt es, in Kapitel 2 auf den theoretisch-konzeptionellen Rahmen der Ar- beit einzugehen. Hier soll zum einen der Untersuchungsgegenstand ‚Partei‘ einge- grenzt werden (vgl. 2.1), um weitergehende Fragestellungen für die Analyse der parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Menschen mit Migrationshintergrund herauszuarbeiten. Parteien werden dabei als heterogene Organisationen mit einem Konglomerat aus widersprüchlichen Zielen, unterschiedlichen Akteuren und ver- schiedenen Werten und Normen konzeptualisiert. Außerdem soll auf unterschiedli- che Modelle des Parteiwandels kritisch eingegangen werden, um mögliche Ursa- chen förderlicher oder hemmender Faktoren im Hinblick auf die parteipolitische In-

20 Auch hier wird aufgrund der Vergleichbarkeit der gleiche Untersuchungszeitraum für die Pariser PS gewählt. Die lokale Feldstudie wurde in der Wahlkampfphase 2011 und 2012 durchgeführt.

24 | PARTEIEN UND MIGRANTEN korporation von Migranten/Migrantinnen zu erörtern (vgl. 2.2). Anschließend geht es in Kapitel 3 um die Auswahl und Begründung der Methoden, die die Art der Er- hebungen und Untersuchung bestimmen. Von Kapitel 4 bis Kapitel 9 erstreckt sich der empirische Teil der Arbeit. In den Kapiteln 4 bis 6 wird die SPD auf nationaler Ebene (4), auf Berliner Ebene (5) und auf Ebene der Parteibasis (6) untersucht. In den Kapiteln 7 bis 9 soll wiederum die PS auf nationaler Ebene (7), auf Pariser Ebene (8) und auf dem Level lokaler Parteigliederungen (9) betrachtet werden. In den Kapiteln 4 und 7 (nationale Parteiebene) sowie 5 und 8 (städtische Parteiebene) sollen jeweils die Entwicklungen im historischen Verlauf analysiert und mittels par- teitheoretischer Überlegungen in unterschiedliche Phasen eingeteilt und erklärt werden. Schließlich untergliedern sich die Fallstudienkapitel (6 und 9) nach thema- tischen Feldern, in denen je nach Dichte des qualitativen Materials unterschiedliche Bereiche parteipolitischer Inkorporationsprozesse ergründet werden. Im Schlusska- pitel (10) werden die Ergebnisse der Arbeit kurz zusammengefasst und ein For- schungsausblick gewagt.

2 Theoretisch-konzeptioneller Rahmen

Politische Parteien bilden einen zentralen Untersuchungsgegenstand der vorliegen- den Arbeit. Sie stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, in der es um parteipoliti- sche Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen geht. Warum sollten Parteien sich veranlasst sehen auf die einwanderungsbedingte Heterogenität zu re- agieren? Wie können in diesem Zusammenhang die Art der Reaktionen von Seiten der Parteien erklärt werden? Welche Faktoren spielen eine förderliche oder hinder- liche Rolle? Bevor der in den Fragen angesprochene Wandel von Parteien theoretisch- konzeptionell gefasst werden soll, geht es mir im Folgenden darum, Parteien als spezifische Organisationsform zu definieren, denn laut dem Parteienforscher Wie- sendahl gilt es folgende Maxime zu berücksichtigen: „Wer den organisatorischen Wandel von Parteien erkunden will, muss sich zunächst ein Bild von ihrem Orga- nisationsinnern, ihrem Aufbau, ihrem Beziehungsgefüge und ihrer Funktionsweise verschaffen.“ (Wiesendahl 2010a, S. 36) Angesichts einer Bandbreite an Definitionen von Parteien werde ich mich an theoretischen Zugängen der Organisationsforschung anlehnen sowie diese mit Er- kenntnissen aus der Partei- und Repräsentationsforschung von politisch benachtei- ligten Gruppen verknüpfen, um für die vorliegende Arbeit ein adäquates Parteien- verständnis zu entwickeln. Anschließend lege ich dar, was unter Parteienwandel verstanden werden kann und was ich in Bezug auf meine Fragegestellung als Parteienwandel definiere. Un- ter Bezugnahme auf das vorangegangene Parteienverständnis gilt es, mittels einer kritischen Reflexion geeignete Erklärungsmodelle des Parteienwandels herauszu- arbeiten, die für die anstehende Analyse als Orientierungsrahmen dienen wird.

26 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

2.1 EINGRENZUNG DES UNTERSUCHUNGSGEGENSTANDES „PARTEI“

Wendet man sich der Frage nach einer Definition zu, die bei der Eingrenzung und Bestimmung von Parteien helfen soll, so fällt auf, dass es eine Vielfalt an Definiti- onen gibt (White 2006, S. 6; 8). Diese Vielzahl liegt unter anderem am Fehlen ei- ner umfassenden Parteientheorie, die bei einer einheitlichen Definitionsentwick- lung hilfreich gewesen wäre. Die Konzentrierung des Forschungsinteresses auf das Parteiensystem, bei dem die Parteien als Teil eines politischen Systems konzipiert wurden und somit keine eigenständige Definition erfuhren, beförderte diese Ent- wicklung (Bukow 2013, S. 45; Jun 2010, S. 11). Des Weiteren schlugen sich in den Parteiendefinitionen unterschiedliche Sichtweisen nieder (White 2006, S. 6). Vor diesem Hintergrund folge ich der Vorgehensweise des Parteienforschers Bukow, der in seiner eigenen Arbeit über professionalisierte Mitgliederparteien nicht eine Aufzählung und ein Durchdeklinieren verschiedener Parteibegriffe für sinnvoll er- achtet, sondern durch eine Verknüpfung von organisations- und parteitheoretischen Überlegungen ein geeignetes Parteienverständnis für den eigenen Untersuchungs- gegenstand entwickelt (Bukow 2013, S. 45). Daran anlehnend definiere ich Partei- en als hochkomplexe Organisationen, die sich durch eine Heterogenität an Zielen und Akteuren auszeichnet und durch formale Strukturen, innerparteiliche Normen sowie Umwelteinflüsse geprägt werden. Ausgangspunkt dieses Verständnisses bilden zum einen die organisationstheo- retischen Überlegungen von Kieser und Kubicek, nach denen Organisationen „so- ziale Gebilde sind, die dauerhaft ein Ziel verfolgen und eine formale Struktur auf- weisen, mit deren Hilfe Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerich- tet werden sollen“ (Kieser und Kubicek 1992, S. 4). Somit bilden Ziele, Mitglieder und eine formale Struktur wesentliche Elemente einer Organisation, auf die im Folgenden im Detail eingegangen werden soll.1 Zum anderen geht der Organisati- onsforscher Scott von normativen Strukturen innerhalb von Organisationen aus,

1 Des Weiteren werden in der Organisationsforschung Elemente wie Arbeitsteilung, Machtdifferenzierung, Dauerhaftigkeit sowie eindeutige Aufnahme- und Ausschlussver- fahren für Organisationsangehörige angeführt (Endruweit 2004, S. 19f.; Bukow 2013, S. 28). Die Aspekte Arbeitsteilung- und Machtdifferenzierung sowie Aufnahme- und Aus- schlussverfahren sollen im Zusammenhang der ersten drei Elemente erörtert werden. Die Dauerhaftigkeit bedarf keiner eingehenderen Betrachtung, da diese im Fall der untersu- chenden Parteien angenommen werden kann bzw. nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchungsfrage ist. THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 27 die das Beziehungsgefüge zwischen Organisationsteilnehmern/-teilnehmerinnen regeln (Scott 2003, S. 18; 20).

2.1.1 Organisationsziele

Scott definiert ein Organisationsziel als einen von Organisationsteilnehmern/- teilnehmerinnen anvisierten Endzweck (desired ends), der durch bestimmte Aktivi- täten erreicht werden soll (Scott 2003, S. 22). Des Weiteren richten sich nach Ma- yntz die Organisationsziele nach den Bedürfnissen ihrer Mitglieder, wobei sich diese in ihren Inhalten und ihrer Gewichtung unterscheiden können (Mayntz 1963, S. 58ff.)2. Im Hinblick auf Parteien lassen sich nach Strøm drei unterschiedliche Zielsetzungen ausmachen. Erstens handelt es sich dabei um vote seeking, womit die Maximierung von Wählerstimmen gemeint ist. Zweite Zielbestimmung ist das office seeking, d.h. das Streben nach öffentlichen Ämtern. Drittens wird unter po- licy seeking die Durchsetzung von politischen Zielen und Inhalten verstanden. Strøm geht davon aus, dass diese Ziele unabhängig voneinander sind (Strøm 1990, S. 566ff.; 570f.). Harmel und Janda machen eine weitere Zielbestimmung aus. Sie nennen diese Dimension intra party democracy maximization. Hierbei ist das Ziel, die Interessen der Mitglieder zu repräsentieren (Harmel und Janda 1994, S. 269; 271). In der politikwissenschaftlichen Literatur wird die PS als eine Partei der Ge- wählten beschrieben, wo weniger die Mitglieder als vielmehr die Gewählten machtpolitischen Einfluss haben (Haegel 2005, S. 31; Leyrit 1997, S. 130; Sferza 1996, S. 195). Gefördert wird diese Gewichtung durch die Möglichkeit zur Ämter- häufung (cumul de mandat), nach der einzelne Politiker_innen mehrere Mandate auf sich vereinigen können und somit an Machteinfluss gewinnen (Knapp 2004a, S. 64). Hier rückt das Ziel des office seeking in den Mittelpunkt des Handelns von Parteien. Im Gegensatz zur PS wird die SPD historisch als Massenmitgliederpartei konzeptualisiert, in der Mitglieder ein wesentliches Identitätsmerkmal sind (Grun- den 2012, S. 100; Spier und Alemann 2013, S. 450). Demnach nehmen die Mit- glieder eine zentrale Funktion ein, so dass die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse stärker im Mittelpunkt steht. Gleichzeitig muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass eine derar- tig einseitige Zielausrichtung bezweifelt werden kann. Jun geht grundsätzlich von einer Parallelität verschiedener Ziele aus, die sich innerhalb einer Partei manifes- tieren (Jun 2010, S. 12). Knapp sieht die Sozialisten als Mitgliederpartei, wenn- gleich in etwas abgeschwächter Form (Knapp 2004b, S. 18). Darüber hinaus darf

2 Ebenso Türk spricht von einer Vielzahl von Organisationszielen, die nicht „kompatibel sein müssen“ (Türk 1978, S. 82).

28 | PARTEIEN UND MIGRANTEN die Rolle der Mitglieder innerhalb der PS nicht unterschätzt werden. Diese ent- scheiden über die Nominierung des Spitzenkandidaten/der Spitzenkandidatin für das Präsidentenamt und über die Nominierung der Kandidaten/Kandidatinnen bei den Kantonal-, Kommunal- und Parlamentswahlen. Ferner stimmen sie über partei- interne Projekte ab (Grunberg und Haegel 2007, S. 56). Zudem bilden auch sie ei- ne wichtige Finanz- und Arbeitskraft innerhalb der Partei (ebd., S. 48). Im Fall der SPD kann spätestens ab Ende der 1950er Jahre eine stärkere Fokussierung auf den Wahlstimmenmarkt festgestellt werden. Es sollten nicht mehr allein das Arbeiter- milieu, sondern verschiedene gesellschaftliche Schichten angesprochen werden, um mehrheitsfähig zu sein – oder wie Lösche und Walter es formulieren: „Man will Wahlen gewinnen, bestimmte politische Ziele inhaltlich durchsetzen und auch Personen in Machtpositionen hieven [...].“ (Lösche und Walter 1992, S. 200) Verstärkt wurde diese Ausrichtung in den letzten Jahrzehnten durch eine Pro- fessionalisierung der Partei, die eine stärkere Fokussierung auf potenzielle Wäh- ler_innen nach sich zog (ebd., S. 50; Grabow 2000, S. 43). Des Weiteren spricht gegen die Annahme einer einseitigen Zielausrichtung die Feststellung, dass es zu Zielkonflikten auf einer Parteienebene und zwischen den unterschiedlichen Parteienebenen kommen kann. Mayntz sieht derartige Konflikte innerhalb von Organisationen entstehen, wenn „eine Organisation mehrere, nicht ganz miteinander vereinbare Ziele gleichzeitig verfolgt oder [...] verschiedene ein- flußreiche Gruppen innerhalb oder auch außerhalb der Organisation nicht darin übereinstimmen, welches Ziel die Organisation verfolgen soll.“ (Mayntz 1963, S. 74). Auch Strøm geht davon aus, dass es innerhalb einer Partei Akteure mit unter- schiedlichen Zielen und politischen Einfluss gibt, was zu innerparteilichen Ausei- nandersetzungen führen kann (Strøm 1990, S. 566f.; 570f.). Entsprechend ist davon auszugehen, dass innerhalb der PS und SPD unter- schiedliche Ziele wirkungsmächtig sind, die nicht immer konfliktfrei sind. Im Spannungsfeld der angeführten Zielsetzungen werden die Aushandlungsprozesse über die Inkorporation von Migranten/Migrantinnen stattfinden, wobei grundsätz- lich bei der SPD ein stärkerer Einfluss der Mitglieder und bei der PS ein deutliche- rer Einfluss der Wahlstimmen angenommen wird.

2.1.2 Umweltoffenheit, formale Mitgliedschaft und Akteursvielfalt

Mitglieder stellen ein weiteres konstitutives Merkmal von Organisationen dar. Sie sind Voraussetzung für die Existenz von Organisationen sowie Mittel zu Errei- chung bestimmter Ziele (Endruweit 2004, S. 122). Ferner bilden sie die Grenze ei- ner Organisation, wobei umstritten ist, wie weit der Mitgliederbegriff gefasst wer- den muss (Kieser und Kubicek 1992, S. 10; Preisendörfer 2008, S. 60). Handelt es sich hierbei um eine formale Mitgliedschaft, d.h. eine durch Regeln festgelegte Aufnahme und Exklusion von Individuen? Oder sind Mitglieder allein diejenigen, THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 29 die aktiv zu den Organisationszielen beitragen (Endruweit 2004, S. 122)? Diese Fragen sind für eigene Analyse insofern wichtig, als mit der parteipolitischen In- korporation von Migranten/Migrantinnen eine Innen- und Außengrenze impliziert wird. Entsprechend gilt es zu definieren, wer genau inkorporiert oder ausgegrenzt wird. Beginnt die Eingliederung von Einwanderern/Einwanderinnen ab einer for- malen Parteimitgliedschaft oder stellt bereits der Austausch mit Sympathisan- ten/Sympathisantinnen mit Migrationshintergrund eine Inkorporation dar? Scott spricht vor diesem Hintergrund allgemein von Organisationsteilnehmern (participants), um eine möglichst weite Definition zu ermöglichen (Scott 2003, S. 21). Er folgt hier indirekt dem open system view, nach dem eine klare Grenzzie- hung von Organisation und Umwelt nicht möglich ist (Preisendörfer 2008, S. 130; Scott 2003, S. 82ff.). In diesem Kontext lässt sich der soziologische Neoinstitutio- nalismus nennen, bei dem es in seiner extremsten Form keine eigenständig han- delnden Individuen mehr gibt, sondern Organisationen vor allem durch institutio- nelle Umweltbedingungen geprägt werden (DiMaggio und Powell 1983, S. 147). Entsprechend wird eine Abgrenzung von einer Organisation von ihrer Umwelt mit- tels des Kriteriums „Mitgliedschaft“ ad absurdum geführt. Eine vollkommene Übertragung dieser Sichtweise auf die zu untersuchenden Parteien wäre wenig zielführend, da die Mitgliedschaft, die in Parteienstatuten geregelt wird, einen we- sentlichen Inklusions- und Exklusionsmechanismus darstellt, der den Zugang zu bestimmten innerparteilichen Rechten und Pflichten vorgibt. Nichtsdestotrotz stellt Bukow in Bezug auf deutsche Parteien in diesem Zusammenhang fest:

„Eine komplexe Frage ist die nach den Organisationsgrenzen und der Organisationszugehö- rigkeit. [...] Selbst in vermeintlich klaren Fällen mit stark formalisierter Mitgliedschaft – wie etwa bei den deutschen Parteien – ist diese Grenzziehung nicht immer problemfrei möglich. Problematisch wird es dann, wenn sich Organisationen in den Möglichkeiten der Mitwirkung öffnen und so Organisationsgrenzen verschwimmen bzw. verschwinden [...].“ (Bukow 2013, S. 29)

Demnach lassen Beteiligungsformen außerhalb einer formalen Mitgliedschaft die Grenzen verschwimmen. Auch im Fall der französischen Parteien stellt er eine sol- che Tendenz fest, wie beispielsweise die Beteiligung von Nichtmitgliedern bei der Direktwahl des sozialistischen Spitzenkandidaten/der sozialistischen Spitzenkandi- datin für die Präsidentschaftswahlen (ebd., S. 71). Zudem sind Parteien nicht allein auf Mitglieder angewiesen, sondern aufgrund ihrer Teilnahme an Wahlen und am politischen Wettbewerb auch auf Wahlstimmen. Entsprechend nehmen auch Wäh- ler_innen bzw. deren Einstellungen durch ihre potentielle und faktische Stimmab- gabe indirekt Einfluss auf die Organisationswirklichkeit von Parteien. Somit ist auch hier von einer stärkeren Umwelteinbettung auszugehen, die „für den Erfolg und die Überlebensfähigkeit von Parteien außerordentlich bedeutend“ ist (Bukow

30 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

2013, S. 46). In diesem Zusammenhang muss auch die gesellschaftliche Veranke- rung der Parteien gesehen werden. So verfügt „gerade die deutsche Sozialdemokra- tie über ein ausgeprägtes Netz von Vorfeldorganisationen“ (Spier und Alemann 2013, S. 454) wie beispielsweise Gewerkschaften sowie sozialen Interessensver- bände, Sport- und Freizeitvereine (ebd., S. 455; Lösche und Walter 1992, S. 195). Und auch die PS, wenn auch weit weniger gewerkschaftlich verankert, war insbe- sondere mit verschiedenen sozialen Bewegungen verknüpft, wie der Menschen- rechts- und Frauenbewegung (Knapp 2004b, S. 159f.). Vor diesem Hintergrund soll die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen nicht ausschließlich an einer formalen Mitgliedschaft festgemacht werden. Vielmehr ge- he ich auch dann von einer parteipolitischen Eingliederung aus, wenn sie den um- weltbedingten Selbsterhalt der Organisation betreffen. Ferner bedarf es einer Differenzierung der Parteimitglieder. Sie bilden keine homogene Gruppe, sondern lassen sich vielmehr unterschiedlichen Akteursgrup- pen zuordnen. Eine Dreiteilung schlagen in diesem Kontext die Parteienforscher Katz und Mair vor. Es gibt die Akteure auf der Ebene der Parteibasis (party on the ground), der öffentlichen Ämter (party in public office) sowie der Parteileitung (party in central office) (Katz 2002, S. 93-100). Unter party on the ground werden „die lokal verankerten Mitgliederorganisationen der Parteien verstanden“ (Wie- sendahl 2006, S. 13). Als party in public office kann der „Kreis der Politiker, die aufgrund des Wahlerfolgs ihrer Parteien in den Besitz von Parlaments- und Regie- rungsämtern“ gekommen sind (ebd., S. 11) verstanden werden. Die Führungsorga- ne, die die gewählten Parteispitzen umfassen, bilden schließlich die Ebene der Par- teileitung (party in central office). Im Fall der PS wurde bereits die Bedeutung der Gewählten (party in public office) hervorgehoben. Demnach könnte davon ausge- gangen werden, dass diese einen entscheidenden Einfluss auf die Inkorporations- prozesse von Einwanderern/Einwanderinnen nehmen. Auf der anderen Seite dürfen auch die anderen Akteursebenen nicht vernachlässigt werden. Beispielsweise zei- gen Studien zur britischen Labour-Partei, dass die Mobilisierung sichtbarer Min- derheiten innerhalb der Parteibasis deren parteipolitische Inkorporation förderte (Le Lohé 1998, S. 74; Shukra 1998, S. 117f.). Auch Frauen mobilisierten sich in- nerhalb der Parteien und übten Druck auf die Führungsspitze aus, um eine höhere Repräsentation durchzusetzen (Opello 2006, S. 96ff.; Kittilson und Tate 2004, S. 6; Caul 1999, S. 83). Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche Rolle die unter- schiedlichen Parteiebenen bei der parteipolitischen Inkorporation von Migran- ten/Migrantinnen einnehmen. Unterscheiden sich die Einstellungen der Parteibasis von denen der Führungsspitze? Welche Rolle nehmen zentrale gewählte Politi- ker_innen ein? Und welche Folgen haben diese auf die Formulierung und Ausge- staltung möglicher Eingliederungsmaßnahmen bzw. deren Blockade? Gleichzeitig verleitet diese vertikal angelegte Typologie zu einer starren Ge- genüberstellung verschiedener Akteure und blendet somit mögliche Verknüpfun- THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 31 gen untereinander aus. Als solche horizontalen Verbindungen gelten innerparteili- che Gruppenbildungen wie zum einen politische Parteiflügel oder politische Strö- mungen und zum anderen themenspezifische Arbeitsgruppen. Innerparteiliche Strömungen (courants) bilden innerhalb der PS seit ihrer Gründung ein wesentli- ches Charakteristikum (Grunberg und Haegel 2007, S. 67; Haegel 2005, S. 33). Gleichwohl war3 und ist4 bis heute laut Statut eine Institutionalisierung und Forma- lisierung dieser innerparteilichen Gruppierungen untersagt. Während sich die courants in den 1970er Jahren durch ideologisch-programmatische Differenzen voneinander abgrenzten, sind sie im Laufe der Jahre immer stärker zu einer Art Patronage-Bündnisse geworden, die das Ziel der Durchsetzung bestimmter Füh- rungspersönlichkeiten auf den verschiedenen innerparteilichen Ebenen verfolgten (Sferza 1996, S. 193; 197; Clift 2003, S. 47f.). Auch im Zusammenhang der par- teipolitischen Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen erwäh- nen einige Autoren die Bedeutung einzelner courants (Geisser 1997; Bouamama 1994). Im Fall der deutschen Sozialdemokraten sprechen Lösche und Walter von drei unterschiedlichen Formen von Parteiflügeln. Bei der ersten Gruppe handelt es um die ideologisch-programmatisch geprägten Flügel zwischen „links“ und „rechts“. Der zweite Typ bilden die ad-hoc Zusammenschlüsse, die sich aufgrund eines aktuellen Konflikts formieren. Schließlich gibt es die „Patronagemaschinen“, die sich bilden, um wichtige Posten und Ämter zu besetzen und den Machteinfluss abzusichern (Lösche und Walter 1992, S. 221f.). Entsprechend ist davon auszuge- hen, dass horizontale Bündnisse, die auf den unterschiedlichen Akteursebenen ver- ankert sein können, maßgeblich Entscheidungen, wie die politische Teilhabe von Migranten/Migrantinnen innerhalb der Partei, bestimmen.

2.1.3 Formaler Organisationsaufbau

Unklar blieb im Hinblick auf die unterschiedlichen Parteiakteure bisher, in wel- chem Beziehungsgeflecht diese zueinander stehen. Welcher Akteur verfügt über welchen Einfluss? Wer thematisiert die parteipolitische Eingliederung von Ein- wanderern/Einwanderinnen? Wer entscheidet über Maßnahmen? Hierzu bedarf es einer eingehenden Betrachtung der formalen Struktur bzw. des formalen Aufbaus einer Partei. Formale Regeln, die das Handeln der Organisationsmitglieder be-

3 Im Statut von Epinay besagt der Artikel 21: „La liberté de discussion est entière au sein du parti, mais nulle tendance organisée ne saurait y être tolérée.“ („Die Diskussionfrei- heit ist innerhalb der Partei umfassend, aber die Bildung einer organisierten politischen Strömung ist nicht erlaubt.“ (Parti socialiste 1971) 4 Im Statut von 2012 ist der identische Wortlaut unter Artikel 1.2.3 zu finden (Parti socia- liste 2012a).

32 | PARTEIEN UND MIGRANTEN stimmen, machen die formale Organisationsstruktur aus (Kieser und Kubicek 1992, S. 16). Diese werden häufig mit einem „Bauplan“ verglichen, der „für die Organisationspraxis der entscheidende Gestaltungs- und Handlungsparameter“ ist (Preisendörfer 2008, S. 66). Er enthält Informationen zur Arbeitsteilung, Koordina- tion, Hierarchie, Delegation und Formalisierung innerhalb einer Organisation (ebd., S. 67)5. Sie bestimmen über das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Organisationsteilnehmern/-teilnehmerinnen. In der Parteienforschung wurden in diesem Kontext unterschiedliche Parteitypen entwickelt, um auf die verschiedenen Organisationsformen von Parteien einzugehen. An dieser Stelle werde ich auf zwei gegensätzliche Parteitypen eingehen, um eine möglichst große Spannbreite an „Organisationsbauplänen“ aufzuzeigen. Zum einen handelt es sich dabei um hie- rarchisch aufgebaute Organisationsstrukturen, bei der die Führungsspitze die zent- rale Stellung innerhalb der Partei einnimmt. Zum anderen geht es um stratifizierte bis lose gekoppelte Beziehungsgefüge, die eine Machtverteilung auf unterschiedli- che Ebenen beinhalten. Es gilt zu fragen, inwiefern die zu untersuchendenden Par- teien den jeweiligen Typen zugordnet werden können und welche Implikationen sich daraus für die Analyse ergeben. Zum ersten Typus gehört das Modell der Partei als Kampforganisation, das auf Michels (Michels 1989) zurückgeht. Sie steht für einen „hierarchisch-zentralis- tischen Aufbau, zentralistische Führung, Verapparatung und Bürokratisierung, Au- torität und Folgebereitschaft, Unterordnung und Disziplin“ (Wiesendahl 2010a, S. 39). Ziele einer Kampforganisation sind der politische Machtkampf und die Mobi- lisierung einer ideologisch homogen geprägten Wähler- und Mitgliedschaft. Weni- ger ideologisch aufgeladen als vielmehr auf den Machtausbau in Form von Stim- men- und Ämtermaximierung ausgerichtet (vote and office seeking), konzipieren Downs (Downs 1968), Panebianco (Panebianco 1988) sowie Katz und Mair (Katz und Mair 1995) verschiedene Parteitypen, bei denen die Parteiführungsebene (par- ty in central) klare Ziele hat und diese mit geeigneten Mitteln auf den unteren Par- teigliederungen durchsetzen kann (top down).

5 Unter Arbeitsteilung ist die funktionale Differenzierung gemeint, die Auskunft über die Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Verrichtungen gibt. Unter Koordination werden Abstimmungsprozesse verstanden, die bei einer vorhanden Arbeitsteilung und den damit entstehenden Problemen notwendig werden. Unter Hierarchie ist wiederum die vertikale Differenzierung zu verstehen, die Auskunft über die Verteilung von Entscheidungsbe- fugnissen bzw. die Unter- und Überordnungsverhältnisse gibt. Der Aspekt der Delegati- on gibt darüber Auskunft, welche und wie viele Entscheidungsbefugnisse eine Stelle in- nerhalb der Organisation hat. Schließlich ist mit der Formalisierung der Grad der schrift- lichen Fixierung von Strukturen von Abläufen und Strukturen gemeint (Preisendörfer 2008, S. 67-73). THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 33

Zum zweiten Typus gehört das Modell der Partei als Stratarchie, das auf Elderveld zurückgeht (Eldersveld 1978). Parteien bilden aufgrund ihrer Offenheit und Systemfunktionalität gegenüber vielfältigen und verschieden gelagerten An- forderungen der Umwelt unterschiedliche Strukturen aus, die mannigfache Interes- sen verfolgen und entsprechend verschiedene Ziele anvisieren. Entsprechend kommt es zu Interessens- und Zielkonflikten, die dazu führen können, dass be- stimmte Maßnahmen nicht oder nur auf bestimmten Ebenen der Partei umgesetzt werden (Wiesendahl 2010a, S. 41). Ähnlich gelagert ist die Konzeptualisierung der Partei als organisierte Anarchie. Sie berücksichtigt weniger die Heterogenität der Umweltanforderungen als vielmehr die innerparteiliche Vielfalt von Akteuren, die oftmals zu einer Entkoppelung zwischen Zielen und Maßnahmen führt (ebd., S. 42). Michels deutet die SPD als Kampforganisation, da sie über eine relativ starke Mitgliederbasis verfügt und sich durch eine Oligarchisierung ihrer Parteistrukturen auszeichnet (Michels 1989). Auch wenn Michels Analyse auf die Zeit vor dem ers- ten Weltkrieg zurückgeht (Spier und Alemann 2013, S. 447), kann angesichts einer Professionalisierung der Partei, mit der die strategische Ausrichtung stärker in die Hände der Führungsspitze der Partei gelegt wurde (Grabow 2000, S. 43), weiterhin von hierarchischen Elementen ausgegangen werden. Gleichwohl sehen Lösche und Walter spätestens mit dem Wandel der Partei zur Volkspartei Ende der 1950er Jah- re eine innerparteiliche Fragmentierung einhergehen, die der Vorstellung einer „stromlinienförmig sich zuspitzende[n] Oligarchie“ (Lösche und Walter 1992, S. 192) entgegensteht. Vielmehr zeichne sich der organisatorische Zustand der SPD durch lose verkoppelte Fragmente aus (ebd.). Sie schlussfolgern daraus: „Wer Volksparteien als spezifische Organisationen begreifen will, hat gerade [...] Wider- sprüchlichkeiten und Unfertigkeiten, die strukturellen Ungereimtheiten, die Viel- falt und Dysfunktionalität, auf die er bei einem Gang durch die Empirie stößt, in seine Analyse einzubeziehen“ (ebd., S. 194). Bukow schlägt einen „Mittelweg“ für die Organisationswirklichkeit der SPD vor, nach dem „jüngere Professionalisierungsbemühungen der Parteien ein über- zeugendes Argument dafür sind, den prägenden Charakter und die Bedeutung der Bundesparteiorganisation nicht zu gering einzuschätzen, ohne jedoch die Möglich- keit der organisatorischen Abweichung auf unteren Gliederungsebenen aus dem Blick geraten zu lassen.“ (Bukow 2013, S. 60) Auch die PS lässt sich keinem Parteitypus eindeutig zuordnen. Auf der einen Seite verfügt die Partei über dezentrale Organisationsstrukturen, die stark durch die lokalen Eliten geprägt sind (Gallagher und Marsh 1988, S. 87; Knapp 2004b, S. 164f.). Diese haben aufgrund der Ämterfixierung und Wahlstimmenmaximierung ein großes Gewicht innerhalb der Partei, die sich auch in der relativen Autonomie der untersten Parteigliederung (section) ausdrückt. Auf der anderen Seite verfügt die Partei im Vergleich zur SPD über eine geringe Mitgliederbasis, die zu einer

34 | PARTEIEN UND MIGRANTEN strukturellen Schwäche der Parteibasis gegenüber der Parteispitze führt (Leyrit 1997, S. 130). Des Weiteren zeigt sich, dass die nationalen courants je nach ihrer Stärke bis auf die unterste Ebene der Parteien Einfluss auf die Ämterbesetzung und die politische Ausrichtung nehmen. Schließlich kam es im Laufe der Jahre auch hier zu einer Professionalisierung der Partei, die zu einer zusätzlichen Schwächung der unteren Parteigliederungen führte (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 192f.). Demnach ist zu fragen, welchen Einfluss das Beziehungsgefüge auf parteipoli- tische Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen nimmt. Ist innerhalb der SPD eine stärkere Fragmentierung der Maßnahmen als innerhalb der PS zu be- obachten? Und inwiefern kommt es im Zuge der Professionalisierung zu einer stärkeren Vereinheitlichung von Entscheidungen?

2.1.4 Normen und Werte

Das Beziehungsgefüge zwischen den unterschiedlichen Akteuren wird nach Scott von normativen Strukturen6 bestimmt, die Teil der Sozialstruktur sind (Scott 2003, S. 18; 20). Unter normativen Strukturen fasst er Werte, Normen und Rollenerwar- tungen zusammen7. Sie helfen Akteuren innerhalb von Organisationen, Situationen einzuschätzen und darauf mit geeigneten Maßnahmen zu reagieren. An diese Über- legungen lässt sich der soziologische Neoinstitutionalismus anknüpfen, deren Ver- treter_innen nicht von normativen Strukturen, sondern Institutionen sprechen. Hall und Taylor führen in diesem Zusammenhang aus: „[...] sociological institutional- ists [...] include [...] formal rules, procedures or norms, [...] the symbol systems, cognitive scripts, and moral templates that provide the ‚frames of meaning‘ guid- ing human action.“ (Hall und Taylor 1996, S. 947) Überträgt man diese organisationstheoretischen Überlegungen auf Parteien, dann kann zunächst die ideologische bzw. programmatische Ausrichtung einer Par- tei als normative Struktur oder Institution die Zielsetzungen beeinflussen. An die- ser Stelle kann gefragt werden, inwiefern diese Institutionen die parteipolitische Eingliederung von Einwanderern/Einwanderinnen begünstigen oder erschweren. Lovenduski geht beispielsweise davon aus, dass der Zugang zu Wahlämtern bzw. Kandidaturen von Frauen unter anderem von den Normen und Werten einer Partei

6 Der theoretische Ursprung der normativen Strukturen fußt auf Theorien von Durkheim, der sich beispielsweise mit der Rolle von sozialen Fakten im Kontext individuellen Han- delns befasst hat, ähnlich wie Berger und Luckmann (Hinings und Tolbert 2008, S. 475). 7 Normative Strukturen spiegeln sich nicht nur in formalen, sondern auch in informellen Strukturen von Organisationen wider (Scott 2003, S. 59). An dieser Stelle soll nicht zwi- schen formellen und informellen Strukturen unterschieden werden, da eine klare Tren- nung problematisch ist (Endruweit 2004, S. 150). THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 35 geprägt ist, wobei sich linke Parteien früher offener für eine Nominierung von Frauen zeigten (Lovenduski und Norris 1993, S. 12f.). Ebenso stellt Caul im Zu- sammenhang der Repräsentation von Frauen in den nationalen Parlamenten von elf europäischen Ländern und den USA fest, dass sich linke Parteien mehr als konser- vative Parteien für die Nominierung von Kandidatinnen einsetzten (Caul 1999, S. 85; 2001, S. 1226). Sie macht unter anderem die Wertevorstellung für mehr Gleichberechtigung von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen innerhalb von linken Parteien verantwortlich (Caul 1999, S. 81f.). Ein ähnliches Bild zeigen bis- herige Studien im Hinblick auf die politischer Interessen von Migranten/Migran- tinnen, welche den linken Parteien zugeschrieben wird (Messina 2007, S. 209; 1998, S. 55; 60-63). Darüber hinaus stellt Anwar im Fall der britischen Labour Partei fest, dass mit einem Erstarken des linken Werte- und Orientierungsrahmens die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen begünstigt wurde (Anwar 1986, S. 88). Und auch Kittilson und Tate gehen davon aus, dass in Großbritannien und den USA die linken Parteien aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung stärker geneigt sind, Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshinter- grund aufzustellen. Entsprechend fallen die Repräsentationsraten zwischen linkem und rechtem Parteienspektrum unterschiedlich aus. In Deutschland verfügen die Linke, die Grünen sowie die SPD auf kommunaler, regionaler und Bundesebene über die meisten Mandatsträger mit Migrationshintergrund (Schönwälder 2013a, S. 639; Schönwälder et al. 2011, S. 34; Wüst und Heinz 2009, S. 205). Ebenso sind in Frankreich gewählte Einwanderer/Einwanderinnen am stärksten auf dem linken Parteienspektrum zu verorten (Keslassy 2010, S. 3f.; 2009, S. 19f.; Geisser und Oriol 2001, S. 47f.). Belgien, Niederlande sowie Großbritannien bilden hier keine Ausnahme (Messina 2007, S. 216f.; Rich 1998, S. 100; Le Lohé 1998, S. 73). Gleichwohl stellt beispielsweise Lovenduski fest, dass sich heute auch konser- vative Parteien verstärkt gegenüber Frauen öffnen (Lovenduski und Norris 1993, S. 12f.). Die Konservativen zeigen sich in Deutschland und Frankreich in den letz- ten Jahren zunehmend bemüht, Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund inner- parteilich zu fördern und Wähler_innen mit Migrationshintergrund anzusprechen. Dadurch setzen sie die linken Kräften unter Druck (Kösemen 2014, S. 227f.; Schönwälder 2013a, S. 638; Geisser und Soum 2008, S. 50f.). Ferner nominierten in Großbritannien nach Erhebungen von Heath et al. die Konservativen 2010 für die Parlamentswahlen fast genauso viele Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrati- onshintergrund wie die Labour Partei, wodurch sich der bisherige Unterschied bei den Gewählten mit Migrationshintergrund zwischen beiden Parteien reduzierte (Heath et al. 2013, S. 89). Ein Grund hierfür kann im Pragmatismus innerhalb kon- servativen Parteien gesehen werden. Diese eröffnet nach Mayntz eine höhere An- passungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen sowie einen größeren Inter- pretations- und Handlungsspielraum (Mayntz 1963, S. 70). Im Gegensatz dazu sieht sie bei der SPD, aufgrund ihrer Ideologisierung, eine weit geringe Anpas-

36 | PARTEIEN UND MIGRANTEN sungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen (Mayntz 1963, S. 68).8 Insofern ist davon auszugehen, dass die Werteordnung der SPD und PS sich begünstigend auf die Inkorporation von Migranten/Migrantinnen auswirkt. Gleichwohl ist anzu- nehmen, dass diese Werte einen engen Rahmen abstecken, der den Spielraum in- nerparteilicher Reformen auch einengen kann.

2.2 PARTEIEN UND WANDEL

In einem nächsten Schritt stellt sich die Frage, warum sich Parteien gegenüber der einwanderungsbedingten Heterogenität überhaupt organisatorisch verändern sollen bzw. wie ein solcher Wandel abstrakt gefasst werden kann. In einem ersten Schritt werde ich erläutern, was ich unter „Parteienwandel“ im Kontext der Forschungs- frage verstehe. In einem zweiten Schritt werde ich anhand des oben dargestellten Parteienverständnisses geeignete Erklärungsmodelle des Parteienwandels heraus- arbeiten, die anschließend als Orientierungsrahmen für die eigene Analyse dienen.

2.2.1 Definition: Parteienwandel

Um eine Definition von Parteienwandel herauszuarbeiten, gehe ich auf die unter- schiedlichen Forschungsansätze von Parteienwandel ein. Auf diese Weise wird der Analyseschwerpunkt der vorliegenden Arbeit eingegrenzt. Es gibt drei unterschied- liche Perspektiven im Hinblick auf den Parteienwandel. Die Arbeit stützt sich auf den discrete party change approach. Zur besseren Einordnung soll dieser von zwei weiteren Ansätzen abgegrenzt werden. Der erste der beiden ist der life cycle ap- proach (Harmel 2002, S. 119) oder auch entwicklungsgeschichtliche Ansatz (Bu- kow 2009, S. 211). Bei diesem geht es um historisch-fundamentale Veränderungen von Parteien.9 Eine Analyse des Parteiwandels nach diesen Erklärungsmodellen bietet sich nicht an, da es mir nicht um historisch ganzheitliche Transformations- prozesse innerhalb von Parteien geht. Vielmehr liegt mein Interessensschwerpunkt auf partiellen Veränderungsprozessen innerhalb von Parteien, die weder einem

8 Auch Walter stellt einen Pragmatismus innerhalb der CDU fest (Walter 2009b, S. 23). 9 Hierunter lassen sich die entwickelten Parteitypologien fassen, wie beispielsweise die bereits erwähnte Massenmitgliederpartei nach Duverger (Duverger 1969), die sich durch ihre ideologische Ausrichtung und ihren Mitgliederfokus auszeichnet. Auch die Catch- All-Parteien nach Kirchheimer (Kirchheimer 1965), die sich durch eine Entideologisie- rung und Wahlstimmenorientierung charakterisieren lassen, gehören zu diesem Typus. Für weitere Ausführungen siehe Wiesendahl (Wiesendahl 2010b, S. 95 ff.) oder Pogunt- ke (Poguntke 2003). THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 37

Parteitypus zugeordnet werden können noch einen neuen Parteitypus begründen. Neben dem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz gibt es die systemische Perspekti- ve des Parteienwandels. Erfasst wird demnach der Wandel ganzer Parteiensysteme, d.h. „die Erforschung des Struktur- und Funktionswandels von Parteiensystemen“ (Wiesendahl 2010a, S. 36). Sie gehen somit einen Schritt weiter, indem nicht nur ein Wandel von Parteien, sondern von ganzen Parteiensystemen im Mittelpunkt steht (Harmel 2002, S. 130). Im Gegensatz dazu zielt der discrete party change approach auf spezifische, kleinteiligere und graduelle Veränderungen innerhalb der Parteien ab (Harmel 2002, S. 131; Wiesendahl 2010a, S. 45). Harmel definiert Parteienwandel sehr weit: „Party change (in the broadest sense) is any variation, alteration or modifica- tion in how parties are organized, what human and material resources they can draw upon, what they stand for and what they do.“ (Harmel und Janda 1994, S. 275) Fast jegliche Art der Veränderung kann somit als Organisationswandel betrachtet werden. Um diese Definition einzuengen, bezieht Bukow den Wandel auf die Or- ganisationsstruktur, die Programmatik, die Zielsetzungen, Kommunikationsstrate- gien und zwischenparteilichen Beziehungen (Bukow 2013, S. 72). Im Folgenden werde ich mich nicht auf programmatisch-inhaltliche Veränderungen konzentrie- ren, da es mir originär nicht um die inhaltliche Positionierung und Ausrichtung der Partei in der Migrantenpolitik geht.10 Die anderen Elemente werden Teil der Ana- lyse sein, solange sie die Problematisierung sowie die Entwicklung geeigneter Maßnahmen zur Ansprache und Eingliederung von Einwanderern/Einwanderinnen in die Parteienorganisation – sei es als potentielle Wähler_innen, als Mitglieder oder als zukünftiges politisches Personal – betreffen.

2.2.2 Erklärungsmodelle für Parteienwandel

Ähnlich wie bei der Definition von Parteien „fehlt es noch an einem entwickelten organisationstheoretisch verankerten wandlungstheoretischen Reflexionsniveau, das den parteispezifischen Formen, Bedingungen und Möglichkeiten des Wandels hinreichend gerecht“ (Wiesendahl 2010a, S. 46) wird. Hingegen gibt es eine An- zahl verschiedener Modelle, mit denen der Parteienwandel erklärt werden soll. Die Selektion bestimmter Erklärungsmodelle, die als Analyserahmen dieser Arbeit die- nen werden, wird sich an dem oben skizzierten Parteienverständnis orientieren. Im

10 Programmatisch-inhaltliche Veränderungen sollen nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie innerparteiliche Diskussionen der parteipolitischen Inkorporation von Einwan- derern/Einwanderinnen beeinflussen sowie diesbezüglichen organisationsstrukturellen Wandel miterklären können.

38 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Folgenden wird eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen gewählt. In einem ersten Schritt wird der interaktive Erklärungsansatz dargestellt, da dieser einen re- lativ umfassenden Erklärungsanspruch hat und, neben den innerparteilichen Set- tings, Umweltimpulse als treibende Kraft von Parteienwandel ansieht. Anschlie- ßend werde ich unter Bezugnahme auf das eigene Parteienverständnis, dieses Mo- dell kritisch reflektieren und zwei weitere Erklärungsansätze ergänzend heranzie- hen. Dabei handelt es sich zum einen um den Umweltverarbeitungsansatz und zum anderen um einen neoinstitutionalistischen Erklärungsansatz.

Interaktiver Ansatz Der interaktive Ansatz geht auf die bereits erwähnten Parteienforscher Harmel und Janda zurück. Sie verstehen Parteienwandel als „reaction to some combination of discrete environmental stimuli and/or internal factors“ (Harmel 2002, S. 119). Umwelteinflüsse werden als externe Schocks sozialer, politischer, ökonomischer und politischer Art konzeptualisiert, da davon ausgegangen wird, dass Parteiorga- nisationen strukturkonservativ sind und deshalb nur unter extremen Wandlungsbe- dingungen überhaupt einen Anlass sehen sich zu verändern (Harmel und Janda 1994, S. 267). Als Beispiele nennen sie Gesetzesänderungen, das Entstehen neuer Parteienwettbewerber, Stimmenverlust bei Wahlen bzw. Verlust von Mandaten in Parlamenten. Die Rolle von parteiinternen Faktoren bestimmen sie wie folgt:

„Not all parties are affected by a given stimulus in the same way or to the same degree; a ‚shock‘ for one may be just another environmental change for another. This is largely be- cause of the external stimulus is a shock only if it related directly to the party’s primary goal and not all parties share the same goal.“ (Ebd., S. 268)

Es ist die Zielbestimmung einer Partei, die darüber entscheidet, welcher Umwelt- einfluss von Parteien wahrgenommen wird und welcher nicht. Zielt eine Partei primär auf die Stimmenmaximierung (vote seeking), dann wird ein Parteiwandel als Folge von Wahlmisserfolgen wahrscheinlicher. Ferner können hier Debatten über den Einfluss des politischen Parteiensystems und des politischen Parteien- wettbewerbs angeschlossen werden. Wilson geht von drei Formen des Wandlungs- drucks auf Parteien aus. Die erste Form beinhaltet geringere Zustimmungswerte und wiederholte Wahlniederlagen einer Partei. Somit kann gefragt werden, ob Wahlniederlagen die parteipolitischen Eingliederungsprozesse von Migran- ten/Migrantinnen antreiben. Saggar stellt beispielsweise fest, dass der Wahlmisser- folg der Konservativen (Tories) in Großbritannien dazu führte, dass sich diese mehr um Wähler_innen mit Migrationshintergrund bemühten (Saggar 2000, S. 40). Zweitens kann ein Strategiewechsel des politischen Gegners zu einem Wandel führen. Und drittens vermag der Zutritt neuer Parteienwettbewerber Veränderun- gen innerhalb von Parteien auszulösen (Wilson 1994, S. 270). Im Hinblick auf die THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 39 letzten beiden Ursachen spielt die Ausgestaltung des Parteiensystems bzw. des Wettbewerbs zwischen den Parteien eine Rolle. Es ist davon auszugehen, dass bei einer starken inhaltlichen und wettbewerblichen Polarisierung zwischen Parteien, die Chance geringer ist, dass sie sich gegenseitig in ihren Strategien kopieren. Ihnen geht es vielmehr um eine Abgrenzung zu den politischen Gegnern, um bei den eigenen Wählern/Wählerinnen zu punkten. Frankreich hat ein stark polarisiertes Parteiensystem (Decker 2011, S. 26). Aufgrund des etablierten Mehrheitswahlrechtssystems konzentrierte sich die politi- sche Macht auf die UMP und der PS. Auf nationaler Ebene scheiterten insbesonde- re immer wieder Versuche, in der Mitte einen dritten Parteienblock – sei es die Li- beralen (Modem) oder der Grünen (Europe Ecologie – Les Verts) – als eigenstän- dige mehrheitsfähige politische Kraft zu etablieren (Tiberj 2013, S. 70).11 Das poli- tische System Deutschlands ist hingegen weniger polarisiert. Hier besteht aufgrund des personalisierten Verhältniswahlrechts ein Mehrparteiensystem, in dem Regie- rungskoalitionen nicht die Ausnahme, sondern die Regel auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sind. Kleine, wettbewerbsfähige Parteien spielen eine Rolle, die die Großen in Bewegung setzen, wenn eine ideologische Nähe gegeben ist. Die Etablierung der Grünen als vierte politische Kraft in den 1980er Jahren auf Bun- desebene setzte die SPD insbesondere aufgrund ihrer programmatischen Nähe un- ter Druck. Mit der Einführung der Frauenquote innerhalb der Grünen blieb der SPD nach Ansicht von Kolinsky keine Wahl, als auch einer Frauenquote bei der Besetzung von politischen Ämtern einzuführen, um nicht die Stimmen der jungen Wähler_innen zu verlieren (Kolinsky 1993, S. 130). Gleichzeitig darf diese Dichotomie zwischen Frankreich und Deutschland nicht überstrapaziert werden. Es gibt auf regionaler und kommunaler Ebene in Frank- reich aufgrund des Verhältniswahlrechts größere Anreize zu einer gemeinsamen Listenbildung, die Angleichungsprozesse begünstigen kann. Zudem ist die Etablie- rung weiterer politischer Kräfte wie dem rechtsextremen Front National (FN) zu beobachten (Wilson 1994, S. 273; Bornschier und Lachat 2009, S. 362ff.). Durch diese Parteien kamen Themen wie Einwanderung und Integration verstärkt auf die politische Agenda. Dem FN gelang es somit auf nationaler wie auf regionaler Ebe- ne das Verhalten der anderen Parteien zu beeinflussen. Nichtsdestotrotz ist insbe- sondere auf nationaler Parteienebene davon auszugehen, dass dieser Anpassungs- druck weitaus geringer im Fall der PS ist, als im Fall der SPD. Als eine weitere Zielbestimmung, durch die Umwelteinflüsse gefiltert werden, nennen Harmel und Janda die Durchsetzung politischer Ziele (policy seeking) oder die Vertretung einer bestimmten Ideologie. Demnach ist ein Parteienwandel dann zu erwarten, wenn Umweltveränderungen die programmatisch-inhaltliche Identität

11 Vielmehr sind diese auf Bündnisse mit den Sozialisten oder Konservativen angewiesen.

40 | PARTEIEN UND MIGRANTEN der Partei betreffen, wie beispielsweise der Zusammenbruch der Sowjetunion für die kommunistischen Parteien (Harmel und Janda 1994, S. 270). Veränderungen der Migrationsbewegungen, der gesamtgesellschaftlichen Thematisierung von Migration sowie damit einhergehende Ereignisse vermögen Parteien auf dem lin- ken Parteispektrum herausfordern, da sie sich, wie bereits erwähnt, nicht selten als Anwälte der Migranten/Migrantinnen sehen. Die dritte Zielbestimmung, die die Repräsentation der Mitgliederinteressen (democracy seeking) betrifft, kann als Anknüpfungspunkt für externe Stimuli die- nen (Harmel und Janda 1994, S. 271). Dabei sehen Harmel und Janda umwälzende Veränderungen in der Umwelt als Ursache für einen Wandel der Mitgliedschaft und von innerparteilichen Forderungen. Eine Analogie lässt sich in diesem Zu- sammenhang zur Repräsentationsforschung von Frauen herstellen. Norris und Lo- venduski stellen im Fall der Labour Partei fest, dass sich durch die Deindustriali- sierung in Großbritannien und die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft die Zusammensetzung der Mitgliedschaft änderte und Frauen innerparteilich stärker Gewicht bekamen (Norris und Lovenduski 1993, S. 41). An dieser Stelle ist anzu- nehmen, dass mit der Zunahme politisch gleichberechtigter Menschen mit Migrati- onshintergrund, sich die Zusammensetzung der Parteimitglieder wandelt und For- derungen nach einer parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen wahrscheinlicher werden. Schließlich betonen beide Autoren in Anlehnung an den Parteienforscher Pa- nebianco (Panebianco 1988) in ihrem Modell, dass die jeweilige Zielsetzung von einer dominanten Koalition, d.h. der Führungsriege oder starken Parteiflügeln, be- stimmt werde. Ein Auswechseln der Führungsebene erhöhe demnach die Wahr- scheinlichkeit einer Zielverschiebung, so dass andere Umwelteinflüsse priorisiert werden und ein Parteienwandel möglich wird (Harmel und Janda 1994, S. 266f.). Entsprechend ist davon auszugehen, dass Veränderungen hinsichtlich des parteipo- litischen Umgangs mit Migranten/Migrantinnen wahrscheinlicher werden, wenn ein Führungswechsel bzw. eine parteiinterne Machtverschiebung vorangegangen ist. Trotz des relativ umfassenden Erklärungsanspruchs des interaktiven Ansatzes lassen sich vor dem Hintergrund des skizzierten Parteienverständnisses verschie- dene Kritikpunkte ausmachen.

Umweltverarbeitungsansatz: Selektion und Bewertung von Umweltimpulsen In Bezug auf die innerparteiliche Beschaffenheit kann kritisch angemerkt werden, dass Parteien, wie unter 2.1.1 gezeigt, heterogene Ziele verfolgen, die im Wider- spruch zueinander stehen können. Zwar sehen Harmel und Janda unterschiedliche Zielbestimmungen, koppeln diese jedoch an die dominante Koalition, so dass mög- liche Zielkonflikte über einen innerparteilichen Machtwechsel ausgetragen werden. THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 41

Es wird somit ausgeschlossen, dass es innerhalb der Führungsriege unterschiedli- che Auffassungen über die Zielbestimmungen geben kann. Des Weiteren ist denk- bar, dass es unterschiedliche Auffassungen über geeignete Maßnahmen gibt, die zur Zielerreichung führen. Wilson stellt beispielsweise fest, dass Wahlniederlagen ebenso zu einer Wandlungsresistenz innerhalb von Parteien führen können, da be- fürchtet wird, weitere Stimmen der Stammwählerschaft zu verlieren oder zumin- dest mit einer Neuausrichtung einen möglichen Verlust nicht ausgleichen zu kön- nen (Wilson 1994, S. 270). Die Labour Partei hielt sich in den 1950er und 1960er Jahren gegenüber einer Repräsentation von Einwandererinteressen zurück, da sie mehr Verluste als Gewinne an Wahlstimmen befürchtete (Heath et al. 2013, S. 82). Ferner ist vorstellbar, dass die Verarbeitung spezifischer Umweltimpulse im Einklang mit verschiedenen Zielvorstellungen einer Partei steht und somit ein Wandel noch beschleunigt wird. Die SPD zielte zum Beispiel mit der Einführung der Frauenquote innerhalb ihrer eigenen Reihen zum einen auf die Verhinderung der Wählerwanderung zu den Grünen (vote seeking) und zum anderen auf die Be- friedigung der Forderung der Frauen und einiger Männer innerhalb der SPD nach mehr Gleichberechtigung (democracy seeking) (Kolinsky 1993, S. 130). Ferner bleibt die unter 2.1.2 und 2.1.3 dargestellte Heterogenität der Parteiakteure sowie deren Beziehungsgefüge zueinander unberücksichtigt. Entsprechend wird nicht ge- fragt, ob und wie die Beteiligten auf parteiexterne Impulse reagieren. Darüber hin- aus zeigt sich nicht, ob von oben nach unten (top down) oder von unten nach oben (bottom up) auf Veränderungen reagiert wird. Kommt es parallel zu unterschiedli- chen Reaktionen, die zu einem partiellen Wandel beitragen bzw. Blockaden zu er- klären vermögen? Um diesen ersten Kritikpunkten zu begegnen, kann der Umweltverarbeitungs- ansatz herangezogen werden, mit dem nach Wiesendahl gezeigt wird „wie Umwelt mit ihren Wandlungsimpulsen von Parteien wahrgenommen und verarbeitet“ wird (Wiesendahl 2010a, S. 51). Er geht davon aus, dass Umwelteinflüsse nie unmittel- bar auf die Wandlungsprozesse innerhalb einer Partei einwirken, sondern diese zu- nächst interpretiert und verarbeitet werden müssen. Grund hierfür ist die Komple- xität der Umwelt, die mehrdeutig und vage ist, so dass deren Sinn und Bedeutung „durch einen eigenständigen, kognitiven Aufnahme- und Verarbeitungsprozess“ erschlossen werden muss (ebd.). Dieser Verarbeitungsprozess wird dadurch er- schwert, dass verschiedene politische Akteursgruppen daran beteiligt sind und die- se „in ihren Problemsichten und Deutungsmustern einerseits und den Wandlungs- intentionen und Zielen genauso wie in ihren Mitteln und Wegen“ (Wiesendahl 2010a, S. 52) unterscheiden. Die unterschiedlichen Problem- und Lösungsangebote werden wiederum durch verschiedene „parteikulturell tradierte mind maps und kognitive Landkarten“ (ebd.) beeinflusst, worunter formale und informale Regeln, Verfahrensweisen und Routinen einer Partei zu verstehen sind. Entsprechend fin- det Parteienwandel nicht im „luftleeren Raum“ statt. Er ist nicht als ganzheitlicher

42 | PARTEIEN UND MIGRANTEN ungefilterter Prozess zu verstehen, sondern vielmehr als fragmentarisch und ge- lenkt. Wie werden Forderungen nach einer stärkeren politischen Beteiligung von Migranten/Migrantinnen tatsächlich innerparteilich gefiltert? Gibt es bestimmte Routinen und Muster wie mit dieser Art von Forderung umgegangen wird? Welche Akteurskonstellationen müssen für einen Wandel gegeben sein? Wie wird argu- mentiert? Gibt es Kompromisse? Und was bedeutet dies für die Qualität der Ver- änderungen?

Neoinstitutionalistischer Erklärungsansatz: Umweltanpassungen jenseits parteiwettbewerblicher Effizienzkriterien Ein weiterer Kritikpunkt ist die unspezifische Definition von Umwelteinflüssen. Zwar werden nach Harmel und Janda soziale, ökonomische und politische Impulse genannt, ohne jedoch ins Detail zu gehen. Ein Grund hierfür ist, dass nach ihrer Theorie allein fundamentale Einschnitte Parteien zu einem Wandel bewegen und sich somit eine feingliedrige Definition von Umwelteinflüssen erübrigt. Dies ist angesichts der skizzierten Verflechtung der Parteien mit Vorfeldorganisationen und Vereinen sowie mit den Wählern/Wählerinnen problematisch, da Impulse aus diesen Bereichen nicht berücksichtigt werden. Ferner kann kritisch angemerkt werden, dass der Einfluss eines gesellschaftli- chen Wertewandels nur schwach beleuchtet wird. Es entsteht somit der Eindruck, dass vor allem der politische Wettbewerb zwischen Parteien sowie mögliche Wahlniederlagen die entscheidenden Wandlungsressourcen darstellen. Parteien werden somit als rational-effiziente Organisationen konzipiert.12 Forschungen zei- gen jedoch den bedeutenden Einfluss eines gesellschaftlichen Wertewandel auf die Parteienlandschaft jenseits von Rationalitätsüberlegungen. Die von Inglehart ange- führte „stille Revolution“ (Inglehart 1977) ist ein solcher Wandlungsfaktor. Diese umfasste die Ausbreitung postmaterieller Werte wie Umweltschutz, Gleichberech- tigung von Frauen oder Schutz von Minderheiten, was sich auf etablierte Parteien auswirkte. Dieser Einfluss zeigte sich insbesondere im Hinblick auf Gleichberech- tigungsfragen innerhalb der Parteien, die von Frauenbewegungen initiiert wurden (Kittilson und Tate 2004, S. 6; Caul 2001, S. 1217; Opello 2006, S. 94ff.; 104ff.; Faulenbach 2008, S. 317). Der Neoinstitutionalismus stellt nach Bukow eine relevante Forschungsper- spektive für die Parteienforschung dar, da mit diesem nicht nur der „Fokus auf das

12 Zwar werden über die Zielbestimmungen des policy seeking und democracy seeking eine Möglichkeit eröffnet, gesellschaftlichen Wandel miteinzubeziehen. Dennoch bleiben diese Ansätze rudimentär entwickelt und knüpfen nicht selten an wahlstrategische Ar- gumente an. Das bedeutet, dass ein Wertewandel nur dann innerparteilich zu Verände- rungen führt, wenn damit auch ein Stimmengewinn verbunden ist. THEORETISCH-KONZEPTIONELLER RAHMEN | 43

Organisation-Umwelt-Verhältnis“ gelegt, sondern auch die Rational-Choice- Annahme in Frage gestellt wird (Bukow 2009, S. 14). Nach DiMaggio und Powell ist die grundlegende Annahme des Neoinstitutionalismus, dass Organisationen sich jenseits rational-effizienter Logik an die Umweltanforderungen anpassen und an- gleichen (DiMaggio und Powell 1983, S. 147). Sie grenzen sich damit bewusst von kompetitiven Ansätzen (vgl. Hannan und Freeman 1977) ab, nach denen Organisa- tionen einem freien Wettbewerb unterliegen und Anpassung durch Effizienzsteige- rung bestimmt wird. Vielmehr gehen sie davon aus, dass Organisationswandel primär durch das Ziel der Legitimitätserhaltung oder -steigerung gegenüber der Umwelt (institutional legitimacy) determiniert wird und es zu einer Angleichung von Organisationsstrukturen (institutional isomorphism) kommt (DiMaggio und Powell 1983, S. 150). Einer von drei Angleichungsmechanismen ist der coercive isomorphism, den sie wie folgt definieren:

„Coercive isomorphism results from both formal and informal pressures exerted on organiza- tions by other organizations upon which they are dependent and by cultural expectations in the society within which organizations functions.“ (Ebd.)

Unter cultural expectations in the society sind auch Veränderungen im gesell- schaftspolitischen Kontext zu fassen. Dabei kann Gesellschaft sehr weit definiert werden, denn Angleichungsprozesse ereignen sich innerhalb eines organisationales Feld (organizational field), welches sich durch unterschiedliche Grade der Interak- tions-, Machtaufteilungs-, Informations- und Interdependenzdichte zwischen ver- schiedenen Organisationen auszeichnet. DiMaggio und Powell reduzieren dieses Feld nicht allein auf die direkten politischen Wettbewerber, sondern beziehen auch andere Akteure im Umfeld der Organisation mit ein, wobei deren Identifikation ei- ne empirische Frage ist (DiMaggio und Powell 1983, S. 148). Entsprechend er- möglicht dieses Modell, Einflüsse auf verschiedenen Ebenen zu berücksichtigten – von den europäischen Werten im Zusammenhang von Migration, über die unter- schiedlichen nationalen Staatsbürgerschafts- und Integrationsverständnisse, über das städtische Selbstverständnis bis hin zu den Erwartungshaltungen lokaler Verei- ne und anderer Akteure.

2.3 ZWISCHENRESÜMEE

Parteien sind als komplexe und vielschichtige Organisationen zu betrachten. Zu beachten ist die unterschiedlichen Zielsetzungen der Parteien, die von einer Viel- zahl von verschiedenen Akteuren getragen und beeinflusst werden. Darüber hinaus müssen der formale Organisationsaufbau und die innerparteilichen Normen und Werten im Rahmen einer Analyse Berücksichtigung finden. Überdies sind die zu

44 | PARTEIEN UND MIGRANTEN untersuchenden Parteien nicht als hermetisch abgeschirmte Organisationen von ih- rer Umwelt zu sehen. Vielmehr müssen die Einflüsse vorgelagerter Organisationen und politischer Bewegungen in die Analyse miteinbezogen werden. Parteienwandel muss des Weiteren als inkrementell und kleinteilig verstanden werden. Parteien sind dabei als Organisationen zu begreifen, die auf Umweltver- änderungen rational-effizient wie auch legitimitätssteigernd reagieren. Dabei wir- ken die Umweltimpulse nicht unvermittelt, sondern werden innerparteilich verar- beitet. Ein Blick in die Parteiforschungsliteratur verrät, dass unterschiedliche Grund- tendenzen innerhalb der PS und SPD zu erwarten sind. Im Fall der Sozialisten ist anzunehmen, dass die parteipolitische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen stärker mit Fragen der Wahlstimmenmaximierung und Ämterbesetzung zusam- menhängen. Hingegen ist bei der SPD davon auszugehen, dass Migranten/ Migrantinnen stärker als Mitgliederpotenzial wahrgenommen werden. Ferner ist im Fall der Sozialisten anzunehmen, dass die nationale Parteienebene größeren Ein- fluss auf den Wandlungsprozess nimmt als innerhalb der SPD. Bei letzterer sind vielmehr losgekoppelte autonome Entscheidungen auf lokaler Ebene zu vermuten. Ferner wird das Verhalten der Parteiwettbewerber einen höheren Anpassungsdruck auf die SPD haben als in Frankreich. Den Parteien gemein wird sein, dass die innerparteilichen Normen und Werte die Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen unterstützen werden, wenngleich auch mit ideologisch begründeten Widerständen zu rechnen ist. Ferner steigt mit einschneidenden Wahlniederlagen und Führungswechseln die Wahr- scheinlichkeit für Veränderungsprozesse. Und nicht zuletzt wird sich die in der Einleitung erwähnte Anpassung der Staatsbürgerschaft- und Integrationskonzepte in beiden Ländern dazu führen, dass eine parteipolitische Exklusion von Migran- ten/Migrantinnen ineffizient und immer schwerer legitimierbar sein wird. Es gilt aber, unabhängig von diesen Annahmen, die Komplexität und Interakti- on der verschiedenen Ebenen in der Analyse zu berücksichtigen, um innerparteili- che Wandlungsprozesse umfassend zu verstehen und neue Erkenntnisse zu gewin- nen. 3 Methoden

Im folgenden Kapitel werden die in dieser Arbeit verwendeten Methoden darge- stellt. Wichtig ist zu betonen, dass es an dieser Stelle noch nicht um eine detaillier- te Beschreibung des Ausmaßes der Erhebungen sowie den damit verbundenen konkreten Herausforderungen gehen wird. Auf diese Punkte werde ich jeweils zu Anfang der einzelnen Parteienkapitel eingehen. Hauptuntersuchungsgegenstand bilden die politischen Parteien. Die Parteienor- ganisationsforschung selbst verfügt über keine einheitliche methodische Vorge- hensweise (Bukow 2013, S. 19). Vielmehr hängt der methodische Zugang von der Perspektive auf die Organisationswirklichkeit ab (Rosenstiel 2012, S. 230). Gemäß dem entwickelten Parteiverständnis gilt es, eine vielschichtige Organisation auf un- terschiedlichen Ebenen (national, regional, lokal) zu untersuchen. Daher bietet sich eine Verbindung von verschiedenen qualitativen Methoden an, um ein möglichst umfassendes Bild über innerparteiliche Prozesse zu bekommen.

3.1 DOKUMENTENANALYSE

Zunächst zielt die Analyse verschiedener Parteiendokumente auf unterschiedliche Aspekte der Organisationswirklichkeit der zu untersuchenden Parteien auf nationa- ler und städtischer Ebene ab. Nach Wolff zeichnen sich Dokumente durch ihre „Schriftlichkeit“ aus, welche die „Reichweite der Kommunikation“ erhöht, indem diese unabhängig von Zeit und Ort der Mitteilung wirken kann (Wolff 2012, S. 502). Entsprechend können Schriftstücke ihre Wirkungskraft innerhalb einer Orga- nisation über den Entstehungsort und einen bestimmten Zeitpunkt hinaus entfalten. Zudem fungieren sie als „institutionalisierte Spuren“, so dass sich Schlussfolge- rungen über Aktivitäten und Absichten verschiedener Akteure ableiten lassen (ebd., S. 503). Die konkrete Auswahl spezifischer Dokumente erfolgt auf Basis von verschiedenen Vorannahmen. 46 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Parteisatzungen und -statute geben Auskunft über die formalen Parteistrukturen (Bukow 2013, S. 115), die in der Praxis parteipolitische Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen direkt oder indirekt beeinflussen können. Gleichzeitig „muss bedacht werden, dass hier die gewonnenen Erkenntnisse kein vollständiges Bild der Organisationswirklichkeit bieten“ (ebd., S. 21). Entspre- chend gilt es, weitere Dokumententypen in die Analyse mit einzubeziehen. Eine wesentliche Quelle bilden Parteitagswortprotokolle, Anträge und Beschlüsse, mit denen Einblicke in den innerparteilichen Willensbildungsprozess gewährleistet werden können. Auf den Parteitagen (im Fall der PS congrès) treffen die Delegier- ten aus den unterschiedlichen Parteigliederungen zusammen und diskutieren über zentrale Themen, die neben der inhaltlichen Programmatik auch die eigene Organi- sation betreffen. Entsprechend können die Wortbeiträge, Anträge und Beschlüsse als „Seismograph“ der innerparteilichen Diskussion gesehen werden. Somit kön- nen die Ziele und Positionen unterschiedlicher Parteiakteure über die Zeit analy- siert werden. Debatten geben außerdem Auskunft über Legitimationsstrategien, die mit bestimmten Normen und Werten verbunden sind. Ferner analysiere ich die je- weiligen Mitgliederzeitschriften der Parteien auf nationaler und städtischer Ebene. Sie fungieren als Kommunikationsorgan zwischen Parteispitze, Mandatsträgern/- trägerinnen und Parteimitgliedern. Entsprechend geben sie Auskunft über das Par- teien- und Organisationsleben und Agenda-Setting (z.B. Themenschwerpunkte, Zielsetzungen, Reformen). Sollten parteipolitische Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen stattfinden, so ist zu erwarten, dass sich diese indi- rekt oder direkt dort bemerkbar machen. Überdies untersuche ich die Jahresberichte der Parteien. Die Berichte sind the- matisch nach bestimmten Gebieten unterteilt, die nicht nur programmatisch- inhaltliche Diskussionen, sondern auch Informationen über organisationsrelevante Aktivitäten, wie beispielsweise über durchgeführte Wahlkämpfe oder ergriffene Maßnahmen zur Mitgliederanwerbung, beinhalten. Zudem geben die verschiede- nen innerparteilichen Gruppierungen Auskunft über ihre geleistete Arbeit. Neben einer durch Vorannahmen geprägten Auswahl von Dokumenten, identi- fizierte ich während der Erhebungen weitere Dokumente, die mir als untersu- chungsrelevant erschienen und die mir zugänglich gemacht wurden. Einzelne Pres- semitteilungen der Parteiführungsspitze, Berichte relevanter Arbeitsgruppen oder Kommissionen sowie Briefwechsel und interne Notizen zentraler Parteiverantwort- licher waren Gegenstand der Untersuchung. An dieser Stelle muss der begrenzte Zugang zu Dokumenten erwähnt werden, der zu dazu führte, dass die Informationen zwischen und innerhalb der Parteien ungleichmäßig verteilt waren. Eine weitestgehend gute Dokumentation war insbe- sondere bei den nationalen Parteitagsprotokollen und Parteizeitschriften beider Parteien feststellbar, aber teilweise auch durch Sperrfristen begrenzt. Des Weiteren gab es beispielsweise für die Pariser Sozialisten kein systematisches Archiv, so METHODEN | 47 dass die Recherche sehr aufwendig und die gewonnen Informationen lückenhaft waren. Somit ist zu betonen, dass die Beschreibungen an manchen Stellen dichter sind und an manchen Stellen eher im Vagen bleiben. Entsprechend wird mit der Dokumentenanalyse kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Das Auswerten der gesammelten Dokumente und Zeitungsberichte orientierte sich an der strukturierenden Inhaltsanalyse (Mayring 2012, S. 473). Bei dieser „sollen bestimmte Aspekte aus dem Material“ herausgefiltert und nach bestimmten Kriterien eingeschätzt werden (ebd.). Ich erfasste auf Basis meiner Vorannahmen untersuchungsrelevante Informationen der jeweiligen Dokumente, indem ich nach bestimmten Stichwörtern suchte. Dieses Verfahren ergänzte ich durch eine Art „of- fenes Codierungsverfahren“, um neue untertheoretisierte Aspekte zu codieren und in Beziehung zueinander zu stellen. Hierzu verwendete ich das qualitative Daten- verarbeitungsprogramm „Atlas Ti“, mit der die Codierungen systematisiert und vi- sualisiert werden konnten.

3.2 LEITFADENGESTÜTZTE INTERVIEWS UND TEILNEHMENDE BEOBACHTUNG

Einen weiteren Bestandteil meiner Arbeit bilden die Interviews mit Mitgliedern beider Parteien. Hierbei orientierte ich mich grundsätzlich an einem Leitfaden. Ziel war es, bestimmte Fragekomplexe abzudecken sowie eine Vergleichbarkeit zwi- schen den Interviews in unterschiedlichen lokalen und nationalen Kontexten zu ermöglichen. Westle unterscheidet zwischen leitfadengestützten Experteninter- views und mehr offenen bzw. narrativen Befragungen, bei denen der Leitfaden sehr stark in den Hintergrund tritt (Westle 2009, S. 249). Experteninterviews bieten sich nach Kvale (2007) dann an, wenn gerade Führungspersönlichkeiten zu einem bestimmten Themenkomplex befragt werden können. Grund hierfür ist, dass expli- zites und implizites Wissen direkt in den Fragestellungen verpackt werden kann, um das Interesse des Gegenübers zu wecken. Darüber hinaus können durch eine gezielte Fragestellung, vergleichbar mit fokussierten Interviews, Stimuli gesetzt werden. Nach Kyale führt dies zu folgender Situation:

„[...] the position of the interviewer comes more into the open in a confrontational interview, with the options for the subject to challenge the interviewer’s assumptions, approximating a more equal power balance of the interview interaction. The goal of the confrontational inter- view is to lead to insight through dialectical development of opposites [...].“ (Ebd., S. 75)

Diese Vorgehensweise bot sich oftmals an, da zu erwarten war, dass ohne bewuss- tes Einsetzen von Wissen die Antworten sich schnell an Allgemeinplätzen der poli- tischen Rede orientieren würden.

48 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Nach dieser Vorgehensweise interviewte ich Parteimitglieder, die zentrale Po- sitionen auf den jeweiligen Parteiebenen innehatten. Ziel war es, parteiinternes Wissen über die innerparteiliche Relevanz des Migrationshintergrundes in be- stimmten Kontexten oder Zeitpunkten zu erlangen. Da es unter anderem auch um machtpolitische Fragen ging, konfrontierte ich die Interviewten mit spezifischen Fakten aus meinem gesammelten Wissen, um Reaktionen zu provozieren. Weniger konfrontativ führte ich leitfadengestützte Interviews mit parteiexternen Exper- ten/Expertinnen aus der Parteien-, Stadt- und Migrationsforschung, um zusätzli- ches Wissen über meinen Forschungsgegenstand in Erfahrung zu bringen. Eine offenere Interviewtechnik wendete ich wiederum bei Parteimitgliedern an, die stärker über ihre persönlichen Erfahrungen in der Partei berichteten. Ziel war es, die Befragten von ihren individuellen Wahrnehmungen innerhalb der Partei er- zählen zu lassen und weniger explizites Wissen abzufragen. Gleichwohl muss an dieser Stelle betont werden, dass die Trennlinie zwischen Experten/Expertinnen und Nicht-Experten/Expertinnen nicht immer trennscharf verlief. Die Führungs- spitzen verbanden persönliche Erfahrungen mit der Partei, während einzelne Par- teimitglieder immer auch über eine gewisse Expertise verfügten. Entsprechend wechselte ich oftmals innerhalb eines Gesprächs von einer engeren zu einer offene- ren Interviewführung und umgekehrt. Neben den Interviews bildeten die teilnehmenden Beobachtungen auf lokaler Ebene ein weiteres wesentliches Standbein meiner Erhebungen. Diese ist eine in der politikwissenschaftlichen Forschung heute selten genutzte Methode (Lueger 2000, S. 261). Sie gestattet vor allem „die Teilnahme am Alltagsleben [...] und [...] in Gesprächen sich auf das Erlebte zu beziehen, Fragen dazu zu stellen“ (Rosenthal 2014, S. 104). Zudem erlaubt sie „die Kontrastierung der anders erhobenen ‚Daten‘ oder Texte, wie z.B. im Kontext der teilnehmenden Beobachtung stattfindende In- terviews, mit den Interpretationen aus den Beobachtungen“ (ebd.). Ferner kann diese Methode hilfreich sein, wenn es um Handlungsroutinen geht, die den Han- delnden nicht bewusst sind (ebd.). Sie boten sich insbesondere bei der Erforschung der Relevanz des Migrationshintergrundes in der politischen Praxis auf lokaler Ebene an. Des Weiteren können, wie bereits oben erwähnt, teilnehmende Beobach- tungen dazu dienen, sich im Forschungsfeld zu orientieren, d.h. sich mit Aktiven im Feld vertraut zu machen sowie forschungsrelevante Persönlichkeiten zu identi- fizieren. Für die Leitfadeninterviews und teilnehmenden Beobachtungen verwendete ich eine Auswertungsstrategie, die von einem offenen Charakter des „theoretischen Vorverständnisses“ ausgeht, ohne dabei auf jegliche Theorietraditionen zu verzich- ten (Schmidt 2012, S. 447f.). Grundprinzip dieser Vorgehensweise ist der Aus- tausch zwischen Material und theoretischem Vorwissen, d.h. „eine Art Wechsel- spiel zwischen theoretischen Überlegungen auf der Basis von Auseinandersetzun- gen mit Literatur und Theorietraditionen auf der einen Seite, Erfahrungen und Be- METHODEN | 49 obachtungen bei der Erkundung des Forschungsfeldes auf der anderen Seite“ (Schmidt 2012, S. 448). Ziel war es, Auswertungskategorien durch das Lesen der vorhandenen Materialien (hier: Interviewtranskriptionen, Beobachtungsprotokolle) zu bestimmen. Wichtig war dabei, Kategorien nicht direkt den Formulierungen der Fragen zu entnehmen, sondern genau zu schauen, welche Begriffe von den Inter- viewten selbst verwendet und definiert wurden. Auch galt es, weitere Aspekte, die nicht Gegenstand des Leitfadens waren, bewusst wahrzunehmen. Entsprechend konnten mögliche theoretische Vorannahmen „ausdifferenziert, in Frage gestellt und verändert werden“ (ebd., S. 448). Gleichzeitig war ich mir der Grenzen der Interviews und teilnehmenden Be- obachtungen bewusst. Zum einen war der Zugang zu Interviewpartnern/Interview- partnerinnen oder Veranstaltungen oftmals nicht gegeben. Im Zeitraum der Erhe- bungen war Wahlkampf, so dass manche angefragten Personen keine Zeit hatten oder sehr vorsichtig waren, was die Teilnahme an Parteisitzungen anging. Eine weitere Grenze von Interviews ist generell die subjektiven Rekonstrukti- onsprozesse und Erinnerungslücken der Befragten. Gerade bei Fragen über Ereig- nisse, die mehrere Jahre zurück liegen, ist mit Ungenauigkeiten zu rechnen. Dies merkte ich an beispielsweise bei der Nennung von Daten und Ereignissen, die nicht immer deckungsgleich mit den Informationen aus den analysierten Parteidokumen- ten waren. Auch bei den Beobachtungen ist festzuhalten, dass nur ein kleiner Aus- schnitt der Lebensrealität analysiert werden kann. Ferner ist die Perspektive als Teilnehmer_in subjektiv geprägt und kann nur begrenzt durch eine systematische Dokumentation objektiviert werden. Insofern muss unterstrichen werden, dass mit- tels der verwendeten Methoden allenfalls ein begrenzter Einblick in Parteien gege- ben werden kann.

4 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Im folgenden Kapitel werde ich den Fragen nachgehen, in welchem Maß und wa- rum es innerhalb der SPD auf Bundesebene zu parteipolitischen Inkorporations- prozessen von Migranten/Migrantinnen kam. Welche Phasen lassen sich ausma- chen? Welche Faktoren sind für Veränderungen und Wandlungsresistenzen ver- antwortlich? Ziel des Kapitels ist es, nicht nur einen historischen Überblick der Entwicklungen zu geben, sondern auch mittels parteiorganisationstheoretischer Überlegungen eine Systematik hinter den Wandlungsprozessen und -resistenzen herauszuarbeiten. In einem ersten Schritt wird auf die empirische Grundlage der Analyse einge- gangen. In einem zweiten Schritt gilt es, einen Exkurs über die Geschichte der SPD vor dem Untersuchungszeitraum sowie über den Aufbau zur Orientierung zu ge- ben. Anschließend wird die Struktur des Kapitels skizziert und begründet. Basis der empirischen Untersuchung bildeten zunächst verschiedene Parteido- kumente. Sie umfassten Parteitagsprotokolle sowie die alle zwei Jahre erscheinen- den Parteijahrbücher (1970 bis 2012)1, die Parteimitgliedern sowie einer interes- sierten Öffentlichkeit Auskunft über die Aktivitäten der SPD geben. Des Weiteren wurden die Ausgaben der Parteizeitschrift Vorwärts im gleichen Zeitraum analy- siert. Diese Zeitschrift erhält jedes Parteimitglied monatlich. Sie enthält Artikel und Informationen über politische Themen, Entwicklungen sowie aktuelle Veran- staltungen und Initiativen in der Partei. Schließlich habe ich nach weiteren inhalt- lich relevanten Dokumenten (z.B. Pressestimmen, Stellungnahmen, Projekt- und Kongressberichte) im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung recherchiert. Aktuellere Parteidokumente wie beispielsweise Pressemitteilungen, Beschlüsse des Parteivor- stands und Werbematerialien entnahm ich zudem der SPD-Internetseite.

1 Ab dem Jahrbuch 2007-2008 können die Berichte auch online abgerufen werden (vgl. https://www.spd.de/partei/Beschluesse/3718/beschluesse_des_parteivorstands.html; letz- ter Zugriff am 09.02.2015). 52 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Neben den Parteidokumenten wurden Aussagen aus vier Interviews mit SPD- Politikern/Politikerinnen, die mit diesem Themenfeld auf nationaler Ebene direkt oder indirekt vertraut sind, in die Analyse miteinbezogen. Überdies durchsuchte ich für den Untersuchungszeitraum die Datenbanken sowie Online-Inhalte überre- gionaler Zeitungen (Die Süddeutsche Zeitung, Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Tageszeitung) sowie Wochenzeitungen (Der Spiegel, Die Zeit) nach thema- tisch relevanten Artikeln. Um die Entwicklungen ab dem Untersuchungszeitraum (1973) besser verorten zu können, gilt es einen kurzen Überblick über die SPD zu geben. Ihre Ursprünge hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschland in dem 1863 von Ferdinand La- salle gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ sowie in der von Wil- helm Liebknecht und August Bebel 1869 gegründeten „Sozialdemokratische Ar- beiterpartei“ (Stöss 1986, S. 2023; Walter und Marg 2013, S. 17). 1890 kam es zur Umbenennung in die „Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) (Brandt und Lehnert 2013, S. 63; 72f.). Nach den verheerenden Jahren des NS-Regimes zählte sie 1946 bereits 700.000 Mitglieder (Spier und Alemann 2013, S. 440). Angesichts der Dominanz der bürgerlichen Parteien bildete die Zeit zwischen 1949 und 1965 eine Phase der konstruktiven Opposition, in der die SPD bei einem Stimmenanteil von rund 30 Prozent lag. Um ihren Stimmenanteil sowie den Mitgliederanteil zu erhöhen, kam es 1958 zu einer einschneidenden Organisationreform auf dem Par- teitag in Stuttgart. Das Godesberger Programm führte 1959 mit derselben Intention zu einer inhaltlichen Neuausrichtung, mit der die SPD sich vom Marxismus ab- wandte und sich zu den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität be- kannte (Brandt und Lehnert 2013, S. 184; Lösche und Walter 1992, S. 114; Stöss 1986, S. 2054f.). Ziel war es, „die Partei für eine sich von traditionellen Klassen- bindungen lösende Anhängerschaft sowie die neue Mittelschicht zu öffnen“ (Grabow 2000, S. 35). Darüber hinaus bildete sie 1966 erstmalig eine Regierungs- koalition mit den Christdemokraten, die sie von der Oppositionspartei zur Regie- rungspartei werden ließ (Spier und Alemann 2013, S. 441). 1969 kam sie bei den Bundestagswahlen auf 42,7 Prozent und bildete mit den Liberalen eine sozial- liberale Koalition, die mit Willy Brandt zum ersten Mal in der Bundesrepublik ei- nen sozialdemokratischen Bundeskanzler stellte (ebd., S. 442). Ab diesem Zeit- raum beginnt die vorliegende Analyse. Der Aufbau des Kapitels wird durch fünf verschiedene zeitlich begrenzte Ent- wicklungsphasen gegliedert, die jeweils ein Unterkapitel bilden. Die Einteilung ba- siert auf der Analyse des empirischen Materials. Mit ihr soll der Parteiwandel im Hinblick auf parteipolitische Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen herausgestellt und veranschaulicht werden. Dabei orientiert sich die Unterteilung an Veränderungen oder Umbrüchen in der Wahrnehmung, Problematisierung und Maßnahmenentwicklung in Bezug auf die Wähler- und Mitgliederansprache sowie die Rekrutierung von politischem Personal. Entsprechend handelt es bei der jewei- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 53 ligen Phasenbeschreibung um das Kernstück der empirischen Auswertung. Die Er- gebnisse der jeweiligen Phase werden dann in einem zweiten Schritt mittels der vorhandenen Forschungsliteratur interpretiert und erklärbar gemacht.

4.1 VON 1973 BIS 1979: ERSTE ANSÄTZE IN DER MITGLIEDERANWERBUNG

Die erste Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass ab 1973 innerhalb der SPD die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen im Rahmen ei- ner Mitgliederanwerbung an unterschiedlichen Stellen thematisiert wurde. Gleich- zeitig gab es auch eine innerparteiliche Skepsis gegen diese Initiativen. Eine tiefer- gehende Auseinandersetzung und die Durchsetzung von Maßnahmen blieben in dieser Phase noch aus. Der damalige Vorsitzende der innerparteilichen „Kommission für Fragen aus- ländischer Arbeitnehmer“2, Hermann Buschfort, Mitglied des Partei- und Frakti- onsvorstandes im Bundestag, führte im Sozialdemokratischen Pressedienst unter dem Titel „SPD fordert: mehr Rechte für die Gastarbeiter – Sechs Hauptpunkte zur Forcierung der Integration“ aus:

„Ausländische Arbeitnehmer können in der SPD volle Mitgliedschaftsrechte erwerben und für Parteiämter kandidieren. [...] Leider ist aber die Zahl derer, die mitarbeiten, noch sehr ge- ring. Dies ergibt sich aus [...] der ungenügenden Aktivität der Partei auf diesem Gebiet [...]. In diesem Punkt muß die SPD schnell und intensiv handeln, wenn sie ihre Forderung nach Integration glaubwürdig vertreten will.“ (Sozialdemokratischer Pressedienst 27.07.1973, S. 4)

Zunächst wird an dieser Stelle deutlich, dass Buschfort in seinen Ausführungen auf die „Gastarbeiter“ oder auch „ausländische Arbeitnehmer“ zielt. Die Problemati- sierung der Unterrepräsentanz unter den aktiven Mitgliedern sowie den daraus ab- geleiteten Handlungsbedarf der Partei begründet er, indem er die Glaubwürdigkeit der parteiprogrammatischen Zielsetzungen im Bereich der Integrationspolitik an eine stärkere Aufnahme der Migranten/Migrantinnen in die Partei knüpft. Ange- sichts der innerparteilichen Stellung Buschforts, der nicht einfaches Mitglied der SPD, sondern Mitglied im Partei- und Fraktionsvorstand war, kann davon ausge-

2 Diese Funktion füllte Buschfort seit 1973 aus (Schönwälder 2001, S. 549). Die Kommis- sion beschäftigte sich überwiegend mit Eingliederungsfragen der ausländischen Bevöl- kerung (Miller 1978, S. 513).

54 | PARTEIEN UND MIGRANTEN gangen werden, dass das Thema eine innerparteiliche Relevanz bekam. Hierfür spricht ferner, dass der damalige sozialdemokratische Bundesgeschäftsführer Hol- ger Börner laut einem Bericht des Spiegels anerkannte, dass die Partei lange Zeit die Frage der ausländischer Mitglieder „unter den Tisch gekehrt“ habe (Der Spie- gel 16.07.1973, S. 36). Auch im Jahrbuch der SPD von 1973-1975 ist die Forderung nach einer ver- stärkten „Bemühung um die Mitgliedschaft und die Mitarbeit ausländischer Ar- beitnehmer in der SPD, den Gewerkschaften und befreundeten Organisationen“ (SPD 1976, S. 448) zu finden. Der Parteivorstand, der zumindest offiziell die An- werbung von „ausländischen Arbeitnehmer[n] in der SPD“ als Ziel formulierte, trat unterstützend in Erscheinung. Hierfür spricht auch die „Entschließung zur Situati- on der ausländischen Arbeitnehmer“, in der es heißt:

„Der Parteivorstand bekennt sich zu dem Grundsatz, daß die in der Bundesrepublik beschäf- tigten ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien in die deutsche Gesellschaft integriert werden [...]. Dies bedeutet, daß sie grundsätzlich die gleichen Lebensbedingungen und Rech- te in Anspruch nehmen können wie die deutschen Arbeitnehmer und befähigt werden, ge- meinsam mit ihnen ihre Interessen wirksam in der Gesellschaft zu vertreten.“ (SPD 1976, S. 447)

Hier werden der Integrationsanspruch der ausländischen Arbeitnehmer_innen so- wie deren Familien mit einer gleichberechtigten Teilhabe und Interessenvertretung assoziiert. Auch in weiteren Printmedien3 wurde über dieses Thema berichtet. In einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (faz) von 1975 ist zu lesen, dass die SPD begonnen hätte, bei Neuaufnahmen die nichtdeutsche Nationalität zu zählen (Diepes 31.07.1975, S. 6). In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung (sz) vom 30.08.1974 ist von einem angeblich massenhaften Eintritt von ausländischen Ar- beitnehmern/Arbeitsnehmerinnen in einen Ortsverein bei München die Rede und es wird ein Bedrohungsszenario entworfen, nach dem Ausländer_innen dadurch die Mehrheiten innerhalb eines Ortsvereins verändern könnten (Schneider 30.08.1974, S. 3). Auch die Führungsebene der SPD wird in diesem Artikel zitiert, die nunmehr zurückhaltender als zuvor in Bezug auf eine Anwerbung von Partei- mitgliedern reagiert hätte. Der eben zitierte Börner kommentiert die angebliche

3 In den mir vorliegenden Parteidokumenten konnte ich keine weiteren Hinweise auf eine Thematisierung finden, so dass ich mich auch auf Zeitungsartikel stützen musste. Her- vorzuheben ist, dass diese als Sekundärquellen bereits gefilterte Informationen enthalten und der Wahrheitsanspruch nicht überprüft werden kann. Entsprechend gilt es Vorsicht gegenüber voreiligen Schlüssen und Interpretationen. DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 55

Eintrittswelle von ausländischen Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen mit den Wor- ten: „Die Aufnahme von Ausländern in die Partei sollte die Ausnahme bleiben.“ (Ebd.) Er spricht sich somit für eine begrenzte Aufnahme aus. Des Weiteren heißt es in dem Artikel:

„In der Bonner Baracke sieht man in dieser Auskunft keinen Widerspruch zu dem März- Beschluss des Bundesparteivorstandes. Da den ausländischen Arbeitnehmern das Wahlrecht nicht zustehe, müsse auch darauf geachtet werden, daß in kleinen Ortsvereinen Ausländer nicht plötzlich die Majorität haben.“ (Schneider 30.08.1974, S. 3)

Mit dem März-Beschluss war mit ziemlicher Sicherheit die oben zitierte „Ent- schließung zur Situation der ausländischen Arbeitnehmer“ gemeint, die eben auch eine verstärkte Bemühung um die Mitgliedschaft von „ausländischen Arbeitneh- mern“ umfasste. Die „Bonner Baracke“, wie die Parteiführungszentrale damals ge- nannt wurde, sah darin scheinbar keinen Widerspruch. Es ist dennoch anzunehmen, dass die politischen Absichtserklärungen von den „Ängsten“ der Basis eingeholt wurden und die Führungsebene unter Zugzwang setzte. In dem bereits zitierten Artikel des Spiegels finden sich ferner Hinweise, dass der Bundesvorstand bei Absichtserklärungen blieb und keine konkreten Maßnah- men ergriff. Demnach forderten Ortsvereine „bislang vergeblich fremdsprachiges Schrifttum“ vom Bundesvorstand an (Der Spiegel 16.07.1973, S. 36). Vielmehr waren es scheinbar lokal begrenzte Aktionen der Jungsozialisten (Jusos), mit de- nen auf die „Anwerbung fremdsprachiger Genossen“ abgezielt wurde, um die ei- genen Reihen zu stärken (ebd.). Die folgende Karikatur ironisiert diese Situation. Der „Gastarbeiter“ sitzt in ei- nem Kinderwagen der Jusos, welche ihn stolz als „Nachwuchs“ gegenüber Börner präsentieren. Dieser schaut nicht erfreut, so dass hier eine Missbilligung der Aktion gesehen werden kann.4 Auch in den bereits erwähnten Artikeln der faz und der sz heißt es, dass insbesondere die Jungsozialisten „Zulauf an Ausländern“ hätten (Diepes 31.07.1975, S. 6). Zudem werden sie als Verteidiger ausländischer Partei- beitritte gesehen (Schneider 30.08.1974, S. 3).

4 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass sich diese Unzufriedenheit vermutlich primär gegen die Jusos richtet. Gleichzeitig weist dies Börner auch nicht als einen Verfechter der Mit- gliederanwerbung von Migranten/Migrantinnen aus.

56 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Karikatur: Die SPD, die Jusos und die Gastarbeiter

Quelle: Der Spiegel 16.07.1973, S. 36

Auch in der wissenschaftlichen Literatur lassen sich Hinweise finden, die die be- sondere Rolle der Jusos in diesem Zusammenhang bestätigen. Miller geht in seiner wissenschaftlichen Untersuchung zur politischen Partizipation von Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz davon aus, dass die Jusos einen erheblichen Aufwand betrieben, um die ausländischen Arbeitskräfte als Mitglieder zu gewinnen. Seinen Erhebungen nach wurden Ausländer_innen in die Juso-Vorstände der Großstädte Hannover, München und Bonn gewählt. Ferner gab es eine Arbeitsgruppe im Juso-Vorstand, in der Deutsche und Ausländer_innen aktiv waren. Sie entwickelten unter anderem Vorschläge zur politischen Partizipa- tion von Einwanderern/Einwanderinnen (Miller 1978, S. 514). Ab Mitte der 1970er Jahre lassen sich jedoch keine weiteren Hinweise für eine Fortführung der Diskussionen über die parteipolitische Beteiligung von Einwande- rern/Einwanderinnen finden. Weder in den Jahresberichten, Pressemitteilungen, in den Parteiprotokollen noch in der medialen Berichterstattung war eine Fortführung der Debatte feststellbar. Die erste Phase zeichnet sich demnach durch ein scheinbar abruptes Ende der angestoßenen Debatte aus.

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 57

4.1.1 Soziale Probleme, Humanismus und politischer Wettbewerb als innerparteiliche Wandlungsfaktoren

Ausgehend von dem interaktiven Erklärungsmodell (vgl. 2.2.2) des Parteienwan- dels sind zunächst Stimuli aus der Umwelt als mögliche Faktoren für innerparteili- che Veränderungen in Bezug auf die parteipolitische Inkorporation von Einwande- rern/Einwanderinnen zu erörtern. Dabei lassen sich drei Einflüsse ausmachen. Ers- tens kommt es zu einer zunehmenden Problematisierung von Einwanderungs- und Integrationsfragen. Zweitens ist die Phase mit der ersten sozial-liberalen Koalition durch einen wirtschaftlichen und politischen Aufbruch bestimmt. Drittens themati- sieren auch die Parteiwettbewerber die politische Beteiligung von Einwande- rern/Einwanderinnen. Die seit Mitte der 1950er Jahre durchgeführte Anwerbepolitik von ausländi- schen Arbeitskräften führte zu einem Anwachsen der ausländischen Beschäftigten, die ihren Höhepunkt 1973 mit insgesamt 2,6 Millionen ausländischen Arbeitneh- mern/Arbeitnehmerinnen erreichte (Schönwälder 2001, S. 496; Herbert 2001, S. 199). Vor dem Hintergrund dieser Anwerbepolitik kam es bereits in den 1960er Jahren zu Debatten über die Dauerhaftigkeit und Eingliederungsprozesse der ein- gewanderten Arbeiter_innen und deren Familien, wenngleich daraus noch keine Integrationspolitik folgte und in erster Linie die Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Vordergrund stand (Schönwälder 2005, S. 106; Meier-Braun 1995, S. 16). Erst mit dem rasanten Anstieg der beschäftigten Ausländer_innen Anfang der 1970er Jahre, der zunehmenden Aufenthaltsdauer, dem Nachzug von Familienangehörigen sowie ihrer schwierigen Wohnverhältnisse, kam es zu einer Auseinandersetzung über Eingliederungsmöglichkeiten von Einwanderern/Einwanderinnen (Meier- Braun 1995, S. 16; Schönwälder 2004, S. 1208). Hierfür stehen beispielsweise die 1972 vorgelegten „Grundsätze zur Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien“ des Bundesarbeitsministeriums, das unter Leitung des Sozialdemo- kraten Walter Arendt5 stand. In den Grundsätzen wurde „die Förderung der Ein- gliederung zum Leitgedanken staatlicher Ausländerpolitik“ genannt. Ferner wurde 1973 in dem von der Bundesregierung verabschiedeten „Aktionsprogramm zur Ausländerbeschäftigung“ die soziale Integration hervorgehoben (Frey 1982, S. 89). Des Weiteren waren „die Jahre seit 1969 eine Phase des wirtschaftlichen Booms und des politischen Aufbruchs“, die mit der Wahl der sozial-liberalen Re- gierung Reformen und eine Demokratisierung versprachen (Schönwälder 2001, S. 496). Diese begrüßte die Ausweitung der Anwerbepolitik. Zudem herrschte in der Bevölkerung „eine gelassen optimistische Einstellung zur Arbeitsmigration wie der

5 Vgl. Angaben aus dem Archiv der Sozialdemokratie (http://www.fes.de/archiv/adsd_ neu/inhalt/nachlass/nachlass_a/arendt-wa.htm; letzter Zugriff am 25.02.2014).

58 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Gestaltung des Zusammenlebens von ausländischen Migranten/Migrantinnen und Deutschen“ vor (Schönwälder 2001, S. 498). Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die Haltung der Regierung Brandt, die sich zu Humanität und sozialer Ge- rechtigkeit verpflichtet sah, so dass „die Frage der Lebensbedingungen von frem- den Staatsangehörigen“ (ebd., S. 503) in den Vordergrund rückte. Auch wurde die- se Entwicklung durch die 1968er-Bewegung forciert, deren Anhänger_innen zu- mindest in Teilen der SPD beitraten und die „gesellschaftsverändernde Reformpo- litik der SPD“ unterstützten (Reinhardt 2011, S. 73). Dabei warb Brandt immer wieder für Toleranz gegenüber Ausländern/Ausländerinnen und verwies auf die Ideale der Arbeiterbewegung (Schönwälder 2001, S. 504). Brandt selbst war nicht nur Bundeskanzler, sondern auch Parteivorsitzender der SPD. Zudem setzten liberalere Töne in der Integrationspolitik, die CDU und Freie Demokratische Partei (FDP) anschlugen, die SPD unter Druck (ebd., S. 522). Die Grundlage hierfür bildet das politische System in Deutschland, das aufgrund des Verhältniswahlrechtes eine Koalitionsbildung zwischen unterschiedlichen Parteien zur Mehrheitsbeschaffung begünstigt. Der Politikwissenschaftler Sartori spricht von einem hohen Koalitions-Potenzial (Sartori 1976, S. 145), welches die Beein- flussung zwischen den Parteien wahrscheinlicher werden lässt. Handlungen des politischen Mitbewerbers führen zu stärkeren Reaktionen beim politischen Gegen- über. Verstärkt wurde dieses Ansteckungspotenzial durch die Tatsache, dass sich die SPD in einer Koalition mit den Liberalen (FDP) befand, so dass eine zusätzli- che inhaltliche und personelle Nähe gegeben war. Gleichermaßen war die CDU ei- ne starke Oppositionspartei. Entsprechend konnte sich die SPD ihrer Mehrheit bei zukünftigen Wahlen nie ganz sicher sein, was die gegenseitigen „Sensibilitäten“ beförderten. Laut faz verabschiedete die FDP auf dem Freiburger Parteitag von 1972 einen Beschluss, der Ausländern/Ausländerinnen die Mitgliedschaft ermöglichte. Die CDU diskutierte ebenfalls die Frage eines Beitritts und öffnete die Mitgliedschaft für Ausländer_innen, die mindestens drei Jahre „im Geltungsbereich des Grundge- setzes“ wohnhaft waren und ein Jahr als Gast in der Partei mitgearbeitet hatten (Diepes 31.07.1975, S. 6). Auch wenn zu dieser Zeit bereits Ausländer_innen ohne Beschränkungen der SPD beitreten durften, kann davon ausgegangen werden, dass die SPD von diesen „Öffnungsprozessen“ Notiz nahm. Eine „Integrationspolitik“, die nunmehr auch von den anderen Parteien mittels einer liberaleren Mitgliederpo- litik angegangen wurde, bot somit zumindest einen Anreiz, auf diesem Feld weiter voranzuschreiten, um an Glaubwürdigkeit gegenüber den eigenen Wählern/Wäh- lerinnen zu gewinnen. Ferner gab es neben dem Parteienwettbewerb einen innerparteilichen Faktor, der die Mitgliederanwerbung von Einwanderern/Einwanderinnen begünstigte. Mit der bereits angeführten Entwicklung der SPD zur Volkspartei kam es in organisa- torischer Hinsicht zu einer Stärkung der innerparteilichen Demokratie, indem bei- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 59 spielsweise Parteitage an Bedeutung gewannen (Brandt und Lehnert 2013, S. 184). Ende der 1960er Jahre zeigte sich der Anspruch einer Volkspartei auch in der Mit- gliederzusammensetzung. Sie bildete nunmehr den sozialen Querschnitt der Be- völkerung ab (Walter 2011, S. 179). Die Mitgliederzahlen stiegen sprunghaft an und überschritten schließlich 1976 die Eine-Million-Grenze (ebd., S. 178). Darüber hinaus verfügte die Partei über eine heterogene Anhängerschaft: „Die SPD war nicht mehr nur die Partei der Arbeiter, auch schon nicht mehr lediglich Partei der neuen Mitte, sie war jetzt sogar Partei der Intellektuellen und der höheren Gesell- schaft.“ (Walter 2011, S. 178) Eine Folge dieser Entwicklung war, dass es zu einer Akademisierung der Mit- gliedschaft kam (Lösche 1990, S. 51), was zu einem erhöhten innerparteilichen In- teressenkonfliktpotenzial führte, denn „die Jungen hatten soeben den Marxismus wiederentdeckt. [...] Sie redeten [...] von der ‚Ausbeutung der lohnabhängigen Massen‘“ (Walter 2011, S. 179; 181). Gleichzeitig gehörten sie zu jener Bevölke- rungsschicht, die offener und liberaler gegenüber einer Pluralisierung der Gesell- schaft eingestellt war (ebd., S. 180). Die Zahl der linken Aktivisten/Aktivistinnen nahm seit Mitte der 1960er Jahre innerhalb der Jusos zu (Reinhardt 2011, S. 73). Sie sahen sich nicht als „Parteisoldaten“, sondern wollten „die SPD-Politik aus kri- tischer Perspektive mitbestimmen“ (ebd., S. 74). Die Jusos setzten sich bewusst von der „‚alten‘ sozialdemokratischen Klientel, den Industriearbeitern“ (Grabow 2000, S. 38) ab. Die Arbeitsmigranten/-migrantinnen sahen sie in diesem Zusam- menhang im Sinne der internationalen Solidarität als Verbündete für eine Radikali- sierung der Arbeiterschaft (Miller 1978, S. 514). Dies erklärt, warum die Jusos verstärkt dazu geneigt waren, ausländische Arbeiternehmer_innen für die Parteiar- beit oder Mitarbeit bei den Jusos zu gewinnen.

4.1.2 Wirtschaftskrise, politischer Terror und innerparteiliche Machtverlagerung als Hemmnisse

Offen blieb bisher, warum diese ersten Initiativen auch auf innerparteilichen Wi- derstand stießen und sich vorerst nicht durchsetzen konnten bzw. nicht weiter ver- folgt wurden. Entscheidend ist, sich in Erinnerung zu rufen, dass in Parteien unter- schiedliche Interessensgruppen aktiv sind, die auf verschiedene Umweltbedingun- gen reagieren. Letztere können auch Widerstände verstärken. Zum einen setzte die Wirtschaftskrise ein, mit der eine liberale Integrationspolitik auch in Frage gestellt wurde. Zum anderen förderte das Attentat einer palästinensischen Gruppe bei den Olympischen Spielen 1972 in München die innerparteiliche Skepsis gegenüber ei- ner politischen Beteiligung von Einwanderern/Einwanderinnen. Zudem kam es ab 1974 zu einer innerparteilichen Machtverlagerung innerhalb der SPD, die den rech- ten Flügel und deren Positionen stärkten.

60 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Während es noch Anfang der 1970er Jahre eine positive Haltung gegenüber ei- ner Anwerbepolitik gab, lassen sich bereits 1972 Hinweise dafür finden, dass die sozial-liberale Bundesregierung in der Anwerbepolitik zunehmend die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht sah (Schönwälder 2001, S. 498f.). Grund hierfür war eine veränderte Kosten-Nutzen-Einschätzung der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften, die unter anderem mit einer „Überbelastung der Infrastruktur in Ballungsgebieten“ sowie mit einer Kritik an der expansiven Wirtschaftspolitik in Verbindung gebracht wurde (ebd., S. 536; 538). Vor diesem Hintergrund stieg die Furcht vor sozialen Konflikten, die zunehmend als schwerwiegendes Hemmnis ei- ner Eingliederung von Ausländern/Ausländerinnen wahrgenommen wurde (ebd., S. 541; Meier-Braun 1995, S. 16). Die Ölkrise bot 1973 schließlich die Gelegen- heit einen Anwerbestopp durchzusetzen, der einen Kurswechsel nicht nur in der Migrationspolitik, sondern auch in der gesamten bundesdeutschen Politik bedeute- te (Schönwälder 2005, S. 109; 2001, S. 498). Während Frey davon ausgeht, dass die Ölkrise sowie die sich „abzeichnenden Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt“ (Frey 1982, S. 90) einen Wechsel in der Einwanderungspolitik verhinderten, legt Schönwälder dar, dass eine „demonstrative Anerkennung dieses Einwanderungs- prozesses“ bedeutet hätte, dass die Regierung die „politische Verantwortung für die Konsequenzen der Gastarbeiterpolitik“ übernommen hätte (Schönwälder 2004, S. 1209). Entsprechend gerieten Forderungen nach einer Integrationspolitik in den Hintergrund, welche als eine Anerkennung des Einwanderungsprozesses hätten gedeutet werden können. Zudem kam das Attentat einer palästinensischen Gruppe bei den Olympischen Spielen 1972 in München hinzu, das Ängste vor ausländerfeindlichen Reaktionen weckte und eine Vermittlung einer Einwanderungs- bzw. Einwandererpolitik er- schwerte (ebd.). Vielmehr sollten Härte und Entschlossenheit gegenüber Auslän- dern/Ausländerinnen gezeigt werden, die nach Auffassung Brandts das Gastrecht in Deutschland missbrauchten (Schönwälder 2001, S. 530). Mit den Anschlägen verstärkte sich die Skepsis gegenüber einer politischen Beteiligung von Auslän- dern/Ausländerinnen, was nicht zum ersten Mal geschah6. Vor diesem Hintergrund

6 So wurden Anfang der 1960er Jahre die politische Aktivität von „Einwandererorganisa- tionen“ sowie die vermehrten studentischen Aktivitäten von Ausländern/Ausländerinnen im Zusammenhang eines Staatsbesuchs aus dem Iran problematisiert (Schönwälder 2001, S. 226). Auch wenn hier kein generelles politisches Betätigungsverbot für diese Bevölkerungsgruppe erging, so wurde dennoch im Ausländergesetz geregelt, dass eine politische Aktivität beschränkt werden könne (ebd., S. 226f.). Ferner gab es Befürchtun- gen einer kommunistischen Unterwanderung durch italienische und jugoslawische Ar- beitsmigranten/-migrantinnen, als der Vorschlag der Europäischen Wirtschaftsgemein-

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 61 wollten nicht zuletzt die Konservativen härter gegen die Aktivitäten von Auslän- dern/Ausländerinnen vorgehen, was die SPD unter Druck setzte (Schönwälder 2001, S. 530f.). Parallel veränderten sich die Machtverhältnisse zwischen den Flügeln inner- halb der SPD. Während noch Anfang der 1970er Jahre die Jusos innerparteilich an Gewicht gewannen, wurden sie in den folgenden Jahren zurückgedrängt. Die Par- teirechte nahm mit der Wahl des Sozialdemokraten Helmut Schmidt zum Bundes- kanzler im Jahre 1974 innerparteilich in ihrer Bedeutung zu (Reinhardt 2011, S. 90). Dieser trat deutlich für eine Abgrenzung von den Linken ein (ebd.). Insofern nahmen die skeptischen Stimmen gegenüber einer liberalen Integrationspolitik, die auch eine gleichberechtigte politische Teilhabe von Ausländern/Ausländerinnen umfasst hätte, zu, weshalb die parteipolitische Inkorporation von ausländischen Arbeitskräften in die SPD vorerst nicht weiter thematisiert wurde.

4.2 VON 1980 BIS 1988: ZWISCHEN AUSLÄNDERWAHLRECHT UND AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT

Die zweite Phase zeichnet sich einerseits durch eine erneute Thematisierung der parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen im Rahmen der Debatte über die Einführung eines Wahlrechts für Ausländer_innen aus. Anderer- seits entwickelte sich in Teilen der Partei eine bisweilen offene Abneigung gegen Einwanderung und Migranten/Migrantinnen. Ende 1970er Jahre kam es innerhalb der Partei zu einer Debatte über die Ein- führung des kommunalen Ausländerwahlrechts. Der SPD-Politiker Hans Eichel7 äußerte sich auf dem Parteitag 1980 in Essen in diesem Zusammenhang:

„Bleiben wir uns doch ehrlich! Ab welchem Augenblick beginnen wir – leider Gottes auch wir Sozialdemokraten – als Parteien, eine Interessensgruppe wirklich ernst zu nehmen? Wir beginnen, sie in dem Augenblick ernst zu nehmen, wo mit ihrem Abstimmungsverhalten Wahlchancen verbunden sind. [...] Ehe sie bei uns nicht zu Wählern geworden sind, Genos- sinnen und Genossen, werden wir sie in unserer Aufgabenstellung nicht vollkommen ernst nehmen.“ (SPD Bundesparteitag 1980, S. 79)

schaft über eine Beteiligung europäischer Staatsangehöriger in den betrieblichen Vertre- tungsorganen im Raum stand (ebd., S. 229f.). 7 Damals Delegierter für Hessen-Nord und Oberbürgermeister von Kassel.

62 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Eichel verknüpft das fehlende Wahlrecht mit einer mangelnden Wahrnehmung und Berücksichtigung der Interessen von Migranten/Migrantinnen bei der „Aufgaben- stellung“ der Partei. Er thematisiert hier indirekt eine potenzielle Ansprache der Einwanderer/Einwanderinnen als zukünftige Wähler_innen der SPD. Wie weit er diese Aufgabenstellung im Falle der Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen definiert, wird an folgender Stelle deutlich. Er entgegnet den Gegnern/Gegnerinnen seiner Position, die mit der anvisierten Reform die Gefahr von „Ausländerparteien“ sehen: „Die Wahrscheinlichkeit, Genossinnen und Ge- nossen, daß Ausländer sich in deutsche Parteien integrieren – und dies ist unsere Aufgabe – ist weit größer als die Wahrscheinlichkeit, daß daraus Ausländerpartei- en entstehen.“ (Ebd., S. 78) Somit sieht Eichel erst recht mit der Reform die Notwendigkeit einer Einglie- derung von Migranten/Migrantinnen in die Partei. Gleichzeitig zeigt er sich opti- mistisch, dass dies auch geschehen werde. Eine weitere Delegierte, Ulrike Ries, führt aus:

„Die Bundesrepublik [...] ist faktisch ein Einwanderungsland. Dies müssen wir anerkennen, und daraus müssen wir auch politische Konsequenzen ziehen. [...] Wir haben in unserer Par- tei bereits in zahlreichen örtlichen und regionalen Vorständen Ausländer. Es ist nicht einzu- sehen, daß in unserer Partei Ausländer einerseits bereits auf dem Weg zur Integration sind und gleichberechtigt politisch mitwirken, andererseits die Ausländer aber dann, wenn es um die Umsetzung von politischen Forderungen geht, vom aktiven und passiven Wahlrecht aus- geschlossen werden.“ (SPD Bundesparteitag 1980, S. 242)

Mit dem Verweis auf das Einwanderungsland sowie mit der Verankerung der Mig- ranten/Migrantinnen innerhalb Partei, wirbt sie für das Wahlrecht für Ausländer_- innen. Ihrer Ausführung nach ist die innerparteiliche Beteiligung dieser Bevölke- rungsgruppe bereits Realität. Wie noch zu zeigen sein wird (vgl. 4.2.2), sprechen hier Eichel und Ries für ei- ne bestimmte Gruppe in der Partei, die in diesen Fragen zum damaligen Zeitpunkt als fortschrittlich gelten konnte. Auch die auf dem Parteitag 1982 in München ein- gereichten Anträge mit den Titeln „Ausländer-Arbeit der SPD“ und „Ausländerpo- litik der SPD“ lassen sich dieser Gruppe zuordnen. Die Anträge enthalten konkrete Forderungen, wie beispielsweise eine Übersetzung der Grundsatzveröffentlichun- gen der SPD in die Sprachen der ausländischen Bevölkerung oder eine aktive Mit- gliederwerbung bei ausländischen Mitbürgern durch die offensive Ansprache in Gewerkschaften und ausländischen Organisationen (SPD Bundesparteitag 1982, S. 1260). Im ersten Antrag ist zu lesen:

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 63

„Ausländische SPD-Mitglieder stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen der ausländischen Bevölkerung und der SPD dar. Damit sie zu Sprechern der ausländischen Mitbürger in der SPD werden und umgekehrt die Integrationspolitik der SPD bei ihren Landsleuten vertreten können, müssen zunächst in der Parteiarbeit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.“ (SPD Bundesparteitag 1982, S. 1260).

Ausländische Parteimitglieder werden hier als wichtige Vermittlungsinstanz in der Integrationspolitik angesehen, die Anwerbemaßnahmen notwendig werden lassen. Wie bereits Anfang der 1970er Jahre wird hier eine Durchsetzung der Integrations- politik mit einer Beteiligung der ausländischen Bevölkerung in Verbindung ge- setzt. Parallel zu den Diskussionen auf den Parteitagen entwickelte sich eine De- batte auf dem Kongress der sozialdemokratischen Wählerinitiative8, der 1981 in Berlin9 stattfand und sich mit der Situation von Einwanderern/Einwanderinnen in Deutschland kritisch auseinander setzte. In einem Memorandum des Kongresses ist zu lesen:

„Bisher sehen Ausländer ihre Interessen durch die Parteien nicht vertreten [...]. Wir fordern deshalb die Parteien auf, sich ernsthafter als bisher darum zu bemühen, Ausländer als Mit- glieder zu gewinnen und unter ihrer Beteiligung Positionen zu Ausländerfragen und deren konkrete Umsetzungsmöglichkeiten zu erarbeiten. [...] Alle bundesdeutschen Verbände und Parteien sind aufgefordert, die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Eingewanderten voranzutreiben.“ (Sozialdemokratische Wählerinitiative 1982, S. 17)

Demnach soll nicht allein die SPD, sondern alle Parteien in die Pflicht genommen und dazu aufgefordert werden, ausländische Mitglieder zu gewinnen, um deren Anliegen und Interessen wahr- und aufzunehmen. Erneut wird den Parteien und ih- ren Organisationen eine Vermittlerrolle in der Migrantenpolitik zugewiesen. Im Gegensatz zu den Forderungen der sozialdemokratischen Wählerinitiative gab es ab den 1980er Jahren innerhalb der SPD auch Stimmen, die sich gegen eine solche liberale Ausrichtung stellten. Dies zeigte sich zum einen in den Aussagen prominenter Parteitagsdelegierter. Zum anderen drückte sich dies in der fehlenden Beschlusslage im Bereich der Förderung parteipolitischer Inkorporationsprozesse

8 Ins Leben gerufen wurde diese Initiative bereits 1969 von verschiedenen Intellektuellen, um „nichtgebundende Bürger für den demokratischen Dialog mit der Partei zu gewin- nen“ (Jäckel 1969, S. 198). Sie bestand aus einer Gruppe von Journalisten/Journa- listinnen, Schriftstellern/Schriftstellerinnen und Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen (Reinhardt 2011, S. 75). 9 Wie sich unter (vgl. 5.1 zeigen wird, kommt es in der Berliner SPD zu dieser Zeit zu in- tensiven Debatten über die parteipolitische Beteiligung von Migranten/Migrantinnen.

64 | PARTEIEN UND MIGRANTEN von Migranten/Migrantinnen aus. Der amtierende Bundeskanzler Schmidt sprach sich 1980 auf dem Parteitag in Essen ausdrücklich gegen die Aufnahme der Forde- rung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländer in das Wahlprogramm aus (SPD Bundesparteitag 1980, S. 48)10. Schmidt befürchtete mit einer Einführung eines solchen Rechts „eine Einladung zur Bildung fremdsprachiger Rathausparteien, die der Durchsichtigkeit ermangeln müßten“ (ebd.). Zudem betonte er, dass es im Hin- blick der Integration von Ausländern/Ausländerinnen weitaus wichtigere Bereiche gäbe, als den der politischen Partizipation (ebd., S. 258). Jürgen Schmude, der Mitglied des Parteirats11 und Bundesminister für Bildung und Wissenschaft war, äußerte sich wie folgt: „Diese Parteien werden dann Ausländerparteien sein, aus- ländische Parteien. Wir werden dann auch manche von jenen türkischen Gruppie- rungen mit Parteistatus erleben, die heute unseren Argwohn und unser Mißtrauen erwecken.“ (Ebd., S. 248) An dieser Stelle tritt insbesondere ein Misstrauen gegenüber der politischen Beteiligung der Türkeistämmigen hervor. Wie brisant dieser Punkt ist, zeigt auch folgenden Gegenrede von Matthias Kurth des Bezirksverbands Hessen-Süd12:

„Hier wird die Gefahr radikaler Ausländergruppen [...] heraufbeschworen. Sicherlich sind das Gefahren. Man kann auch nicht verhindern, daß es Ausländerparteien geben wird. Aber wenn es wirklich radikale oder auch terroristische Aktivitäten geben sollte, muß man ihnen auch bei Ausländern mit den Mitteln des Strafrechts beikommen [...]. Aber man darf den Ausländern deswegen doch nicht politische Teilhaberechte generell verweigern.“ (Ebd., S. 252)

10 Diese Ablehnung stand im Widerspruch zu den Beschlüssen auf dem Parteitag 1975 in Mannheim und dem Integrationskonzept von 1979 des ersten „Bundesbeauftragten für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien“ Heinz Kühn, in de- nen ein solches Wahlrecht unterstützt wurde (Meier-Braun 1995, S. 17). 11 Der Parteirat war bis 2011 das höchste Gremium zwischen den Parteitagen, „in dem un- ter anderem die Bezirke und Landesverbände nach ihrer Mitgliederstärke“ vertreten wa- ren (Lösche und Walter 1992, S. 206). Er hatte vor allem eine beratende Funktion ge- genüber dem Parteivorstand. Ab 2011 wurde er im Zuge einer Organisationsreform zum Parteikonvent reformiert (SPD 2012b, §§ 28-29). 12 Die Partei untergliedert sich laut Statut in Ortsvereine, Unterbezirke und Bezirke, in de- nen sich die „politische Willensbildung der Partei“ vollzieht (SPD 2012b, § 8). Ver- schiedene Unterbezirke bilden einen Bezirk (ebd.). Die Bezirke oder Unterbezirke ent- senden nach einem bestimmten Schlüssel ihre Delegierten auf den Bundesparteitag (ebd., § 15). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 65

Hier wird die Angst vor terroristischen Aktivitäten von Seiten der Ausländer_innen deutlich angesprochen. Während aus diesen Aussagen noch keine direkte Ableh- nung der politischen Beteiligung dieser Bevölkerungsgruppen innerhalb der SPD abgeleitet werden kann, sprechen andere Begebenheiten für eine grundlegende Skepsis innerhalb der Partei. Zunächst ist hervorzuheben, dass die oben genannten Anträge zur parteipolitischen Inkorporation auf dem Münchner Parteitag keine Mehrheit auf sich vereinigen konnten, sondern zur Beratung an den Parteivorstand überwiesen wurden. Angesichts einer fehlenden Beschlusslage konnte der Partei- vorstand nach eigenem Belieben aktiv werden. Zwar gab die Führungsspitze ein Arbeitspapier für ‚Ausländerarbeit der SPD‘ für die Ortsvereine in Auftrag (SPD 1984, S. 173-174, 274). Für eine weitergehende Thematisierung der Inhalte dieses Dokumentes ließen sich jedoch keine weiteren Anhaltspunkte finden.13 Des Weiteren lassen sich Hinweise auf das Vorhandensein ausländerfeindli- chen Ressentiments innerhalb der Partei finden. Laut einer Umfrage des Allensba- cher Instituts für Demoskopie 1982 waren 81 Prozent der SPD-Anhänger der Mei- nung, dass „zu viele Ausländer“ in der Bundesrepublik leben würden (Institut für Demoskopie Allensbach 1982, S. 5). Neben dieser Umfrage zeigt der Fall Mathi- opoulos die innerparteilichen Ambivalenzen gegenüber Einwanderern/Einwan- derinnen auf. Die Griechin Margitta Mathiopoulos sollte 1987 auf Vorschlag des damaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt zur Pressesprecherin des SPD- Parteivorstands ernannt werden – eine Funktion, in der sie die Partei gegenüber der Öffentlichkeit repräsentiert hätte. Unter den vielschichtig gelagerten Gründen einer Ablehnung dieser Personalie (Der Spiegel 30.03.1987, S. 270), die schließlich zum Rücktritt des Parteivorsitzenden sowie den Verzicht der Nominierten führten, wur- de auch das Argument vorgebracht, dass Mathiopoulos eine Ausländerin war. Brandt sagte in seiner Rücktrittserklärung:

„Bei der Diskussion um die in Aussicht genommene neue Sprecherin hat mich besonders ge- stört, was ich als einen Aufstand von Spießertum empfunden habe. Es zeigt sich jedenfalls, daß Teile der öffentlichen Meinung und der eigenen Partei in Haltungen zurückfallen, die ich für überwunden hielt. [...] Zu einem Problem wurde das [die Ernennung] offensichtlich erst, als ich ihm [dem Bundesgeschäftsführer] eine junge Frau genannt hatte, die noch nicht deut- sche Staatsangehörige ist [...] sondern ‚nur‘ aus einer Familie mir befreundeter griechischer Antifaschisten [stammt].“ (SPD 1984, S. 174)

13 So ließen sich in den analysierten Dokumenten bis Anfang der 1990er Jahre keinerlei Anträge in Parteitagsprotokollen finden, die das Thema berührten. Ebenso in den Jahres- berichten des Parteivorstands wurde das Arbeitspapier nicht weiter thematisiert.

66 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Mit dieser Aussage spricht Brandt verschiedene Ebenen gleichzeitig an, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen und die Gegner einer Nominierung als gestrig und engstirnig zu qualifizieren („Aufstand des Spießertums“). Denn mit dem Ver- weis Brandts auf die Eigenschaften „jung“ und „Frau“ knüpft er an das Vorhaben der Partei an, sich gegenüber jungen Wählern/Wählerinnen zu öffnen. Eine Ableh- nung der Personalie erscheint vor diesem Hintergrund rückwärtsgewandt. Darüber hinaus erinnert er mit dem Verweis auf die familienbedingte Zugehörigkeit Mathi- opoulos zu den „Antifaschisten“ an die Idee der internationalen Solidarität, ein Eckpfeiler sozialdemokratischer Identität. Somit erklärt Brandt das Kriterium „Staatsangehörigkeit“ bei der Auswahl seiner Mitarbeiter_innen als obsolet. Dennoch drang diese Argumentation innerhalb der Partei nicht durch. Der da- malige Bundesgeschäftsführer Peter Glotz wollte eine Ablehnung innerhalb Teilen der Wählerschaft und Mitglieder gegen „die Griechin“ nicht verneinen (SPD 1984, S. 192). In der SPD Mitgliederzeitschrift Vorwärts werden Ressentiments gegen- über Mathiopulus innerhalb einer Parteibasis beispielhaft dargestellt:

„‚Worum geht’s?‘ erkundigt sich scheinheilig ein neu Hinzugekommener in fröhlicher Run- de: ‚Um Marlene Gyros?‘ Beim Basis-Flachs um die zeitweilig designierte Parteisprecherin Margarita Mathiopoulos blieb kaum ein Auge trocken. Schenkelklopfenden Zuspruch konnte ernten, wer den vom Kölner Express kolportierten Slogan ‚Ouzo statt Juso‘ zum Besten gab.“ (Mappes 1987, S. 12)

Darüber hinaus berichtet der Autor von einem vermeintlich drohenden geschlossen Austritt eines Ortsvereins aufgrund der Ernennung (ebd.). Zwar gab es auf der an- deren Seite, laut Brandt, Solidarisierungsbekundungen für Mathiopoulos (SPD 1984, S. 174), jedoch wurde schließlich mit ihrem Verzicht auf den Posten deut- lich, dass die Partei für eine Pressesprecherin ohne deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht offen genug war. Im Zusammenhang mit dem Fall Mathiopoulos weist ein Bericht des Spiegels auf weitere Anfeindungen hin. Paolo Lavista, der Juso-Sekretär des Bezirks Nie- derrhein war, musste sich mit offenen Anfeindungen auseinandersetzen. Ein Tele- fonanrufer riet ihm angeblich, die SPD in „SPG“ (Sozialdemokratische Partei Griechenlands) umzubenennen. Auch beschimpfte, laut Bericht, ein Parteimitglied den Sekretär am Telefon mit folgenden Worten: „Watt, noch ein Ausländerschwein in der Partei? Ihr unterwandert uns – ich trete aus.“ (Der Spiegel 30.03.1987, S. 270) Somit zeigt sich zum einen, dass in Teilen der Partei Vorbehalte gegenüber ei- ner weitergehenden parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwander- innen vorherrschte, die bis zur offenen Ausländerfeindlichkeit reichen konnten. Zum anderen deuten die Thematisierung und Berichterstattung über diese Ausei- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 67 nandersetzungen darauf hin, dass ein Problembewusstsein unter den politischen Aktiven darüber wuchs.

4.2.1 Von Ansätzen einer liberalen Integrationspolitik zur Dominanz ausländerfeindlicher Stimmungen

Ein Grund für die in Teilen der SPD erneut aufkommende Diskussion über die po- litische Beteiligung der Einwanderer/Einwanderinnen in Politik und Partei ist in der gesellschaftspolitischen Debatte Ende der 1970er Jahre zu suchen. Zu dieser Zeit waren Integrationskonzepte Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen (Meier-Braun 2002, S. 46). Die Bundesregierung erklärte beispielsweise 1979, dass sie im Rahmen einer Fortentwicklung der Ausländerpolitik „darauf abziele, die Integration der hier lebenden Ausländer, insbesondere der Kinder und Jugend- lichen, während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik zu verbessern“ (Frey 1982, S. 94). Auch legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn14 (SPD), ein Memorandum vor (Kühn-Memorandum), in dem er eine faktische Einwanderung feststellte sowie das kommunale Wahlrecht für Auslän- der_innen forderte (Meier-Braun 2002, S. 46). Bereits in den 1970er Jahren begann die Diskussion über die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Auslän- der_innen, da angenommen wurde, dass zumindest ein Teil der ausländischen Ar- beitnehmer_innen im Land bleiben würde und „eine angemessene Berücksichti- gung der Interessen des ausländischen Bevölkerungsteils bei politischen Entschei- dungen“ durch die Einführung eines solchen Wahlrecht gewährleistet werden sollte (Rittstieg 2001, S. 366). Angesichts dieser Entwicklungen sahen sich die innerpar- teilichen Verfechter_innen eines Wahlrechts bestätigt und nutzten die Möglichkeit, erneut Anfang der 1980er Jahre für eine solche Maßnahme zu werben und das Thema der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen anzuspre- chen. Gleichwohl unterschieden sich die Vorstellungen über Maßnahmen einer In- tegrationspolitik. Bundeskanzler Schmidt versprach 1980 den auf Dauer in Deutschland lebenden Ausländern/Ausländerinnen das Staatsbürgerschaftsrecht, welches 1982 in einem Regierungsentwurf zur Liberalisierung des Staatsbürger- schaftsrechts mündete, jedoch im Bundesrat scheiterte (Schönwälder 2005, S. 112). Weniger die Verleihung gesonderter politischer Rechte für Ausländer_innen als vielmehr die erleichterte Einbürgerung stand dabei im Mittelpunkt.

14 Kühn besuchte beispielsweise das „Internationale Volksfest“ in der Gruga-Halle in Es- sen, das unter dem Motto „Gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit“ stand (Özcan 1992, S. 303). Zudem war er von 1966 bis 1977 Ministerpräsident von Nordrhein- Westfalen, Mitglied im SPD-Parteivorstand von 1962 bis 1979 sowie Ausländerbeauf- tragter von 1978 bis 1980 (Reinhardt 2011, S. 81).

68 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Während diese innerparteilichen Debatten Anfang der 1980er Jahre zumindest eine kontroverse Thematisierung der parteipolitischen Inkorporation von Auslän- dern/Ausländerinnen ermöglichte, kann die Weiterentwicklung der gesellschafts- politischen Auseinandersetzung die innerparteilichen Ressentiments gegenüber Migranten/Migrantinnen sowie den aufgezeigten Diskussionsstillstand in Teilen erklären. So machte sich ab Ende der 1970er Jahre eine zunehmende ausländer- feindliche Stimmung in der Bevölkerung breit (Schönwälder 1991, S. 3). Diese Ausländerfeindlichkeit hatte nicht zuletzt mit dem beginnenden wirtschaftlichen Abschwung und Ängsten „vor Überfremdung und Arbeitsplatzverlust“ zu tun (Heßler 1993, S. 138-139). Vor diesem Hintergrund fanden die konservativen Uni- onsparteien mit einer „mehr oder weniger expliziten Mobilisierung ausländerfeind- licher Ressentiments im Zuge von Wahlkampagnen“ (Aumüller 2009, S. 195) bei den Wählern/Wählerinnen Anklang. Darüber hinaus brachten die von den Konser- vativen regierten Bundesländer über den Bundesrat eine Gesetzesinitiative ein, die den Zuzug begrenzen und die Rückkehrbereitschaft von Migranten/Migrantinnen erhöhen sollte (Meier-Braun 1995, S. 17). Entsprechend sah sich die SPD, die oh- nehin einen Popularitätsverlust in der Bevölkerung verzeichnete, unter Zugzwang gesetzt (Schönwälder 2004, S. 1210). Zumal nicht nur die christlich-konservativen Wähler_innen, sondern auch Teile der eigenen Anhängerschaft ausländerfeindliche Ressentiments hegte. Ferner waren die Einbürgerungsraten in den 1980er Jahren angesichts des restriktiven Ausländerrechts sowie des weiterhin bestehenden Rückkehrwillens der Einwanderer/Einwanderinnen niedrig15 und demnach das Wählerpotenzial weiterhin verschwindend gering. Unter der Prämisse, dass Partei- en das Ziel der Wahlstimmenmaximierung (vote seeking) verfolgen, hätte eine of- fensive Positionierung für eine liberale Einwandererpolitik die Gefahr eines Stimmenverlusts in sich geborgen. Nach Wilson kann eine solche Angst vor dem Verlust der Stammwähler_innen Wandlungsresistenzen innerhalb von Parteien er- klären (Wilson 1994, S. 270). Erschwerend kam hinzu, dass die Diskussion um angeblich radikal-islamische Vereine in den Großstädten und deren Absicht, demokratische Grundsätze zu un- terwandern, zunahm (Glaser 1980, S. 3). Dadurch verstärkte sich die Skepsis ge- genüber der politischen Betätigung von bestimmten Einwandergruppen innerhalb der Gesellschaft (Herbert 2001, S. 239). Sie richtete sich insbesondere gegen die türkische Bevölkerung (Meinhardt 1984, S. 19; Aumüller 2009, S. 202).

15 So lag der Anteil der Eingebürgerten an allen Ausländern/Ausländerinnen unter 0,5 Pro- zent (Dornis 2002, S. 168). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 69

4.2.2 Innerparteiliche Machtdivergenzen als Ursache des Stillstands

Neben der Entwicklung der gesellschaftspolitischen Debatte im Umgang mit Aus- ländern/Ausländerinnen lassen sich innerparteiliche Faktoren anführen, die für ei- nen Stillstand der Debatte in den 1980er Jahren verantwortlich gemacht werden können. Zunächst muss erörtert werden, welche innerparteiliche Position die Befürwor- ter_innen einer parteipolitischen Inkorporation hatten und in welchem Forum sie ihre Interessen formulierten. Zum einen ist festzuhalten, dass die Befürwor- ter_innen und Antragsteller_innen vor allem aus dem Bezirksverband Hessen-Süd stammten. Der zitierte Eichel war einer der Protagonisten, der nach wie vor dem Bezirk Hessen-Süd angehört. Weitere Vertreter_innen des Bezirks waren Heide- marie Wieczorek-Zeul oder Karsten Voigt, die sich bereits Anfang der 1970er Jah- re für eine politische Beteiligung von Migranten/Migrantinnen einsetzten (Schön- wälder 2001, S. 531). Alle drei genannten Personen gehörten dem linken „Frank- furter Kreis“ sowie der Führungsriege der Jusos an (Faulenbach 2011, S. 370; Gei- ling 2009, S. 167)16. Sie bildeten das Gegengewicht zu der als rechts geltenden in- nerparteilichen Gruppe die „Kanalarbeiter“ (Lösche und Walter 1992, S. 222). Ein weiteres Beispiel ist der Bezirk Mittel-Rhein, zu dem die Delegierte Ulrike Ries (SPD Bundesparteitag 1980, S. 242) sowie Paolo Lavista, der in der Funktion des Juso-Sekretärs des Bezirkes Niederrhein tätig war, gehörten. Gleichzeitig zeigte sich, dass diese Positionen von einer linken Minderheit in der Partei vertreten wur- den. Es gab auf den Bundesparteitagen keine weiteren Bezirksverbände, die sich offensiv für eine parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen einsetzten. Somit fehlten die Mehrheiten, um die genannten Anträge Anfang der 1980er Jahre durchzusetzen. Überdies muss hervorgehoben werden, dass die Positionen der Befürwor- ter_innen auf den Parteitagen vorgetragen wurden. Grundsätzlich stellen die Partei- forscher Walter und Lösche fest, dass den Parteitagen in der Wirklichkeit „häufig eine Werbe- und Wahlkampffunktion“ (Lösche und Walter 1992, S. 211) zu- kommt, so dass es gerade vor Wahlen um Geschlossenheit geht und abweichende Interessen der Parteienbasis nur schwer durchgesetzt werden können. Hierzu passt auch das Argument von Schwarz, der davon ausgeht, dass zu dieser Zeit ein Kon- sensprinzip innerhalb der Partei vorherrschte, das „zu einer Sklerose, die keine um- fassende Lösung mehr zuließ“ führte (Schwarz 2001, S. 131). Interessen eines

16 So war Voigt von 1969 bis 1972 Bundesvorsitzender der Jusos. Zur gleichen Zeit war Eichel stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos. Wieczorek-Zeul fungierte als de- ren Vorsitzende von 1974 bis 1977 (Reinhardt 2011, S. 42f.; 79).

70 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Teils der Parteienbasis hatten ohne die Unterstützung aus dem Parteivorstand nur wenige Chancen auf Erfolg. Zudem wurde die SPD, angesichts wachsender Machtkämpfe und Interessens- konflikten ab Mitte der 1980er Jahre, „mehr und mehr zum Ort personalpolitischer Auseinandersetzungen“, die eine effiziente Parteiführung erschwerten (Grabow 2000, S. 43f.; Wilson 1994, S. 280) und eine „kontinuierliche Diskussion um Zu- kunftsvorstellungen und Ziele der Partei“ (Luther und Müller-Rommel 2002, S. 53) verhinderten. Vor diesem Hintergrund war die innerparteiliche Stellung des Parteivorsitzenden Brandt derart geschwächt, dass er an der Personalie Mathiopou- los scheiterte. Brandt, der durch seine eigene Migrationserfahrung durchaus ein „offenes Ohr“ für die Belange der Migranten/Migrantinnen hatte (Wilson 1994, S. 279) und mit Mathiopoulos ein Zeichen der innerparteilichen Modernisierung set- zen wollte, musste sich den innerparteilichen Realitäten stellen. Insofern ist das Scheitern der Nominierung nicht allein der ausländerfeindlichen Stimmung inner- halb der Partei geschuldet, sondern beruhte auch auf der schwachen innerparteili- chen Position von Brandt.

4.3 VON 1989 BIS 1998: VOM OBJEKT ZUM HANDELNDEN SUBJEKT

Die dritte Phase kann in verschiedener Hinsicht als Zäsur parteipolitischer Einglie- derungsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen in die SPD gesehen werden. Erstens setzte sich parteiintern immer mehr ein Einstellungswandel im Umgang mit Einwanderung und Einwanderern/Einwanderinnen durch, welcher durch ein neues innerparteiliches Selbstbewusstsein dieser Gruppe unterstützt wurde. Zwei- tens wurden organisationsrelevante Veränderungsvorschläge zur Verbesserung der innerparteilichen Repräsentation von Parteimitgliedern mit Migrationshintergrund eingebracht, zu denen sich die Parteispitze positionieren musste. Drittens kam es zu verschiedenen Initiativen innerhalb der SPD, die unter anderem eine stärkere Beteiligung von Migranten/Migrantinnen vorsahen. Viertens lassen sich zum ers- ten Mal Hinweise auf eine Wahl- und Mitgliederwerbung finden, mit der bestimm- te Herkunftsgruppen angesprochen werden sollten. Im Hinblick auf den ersten Punkt lässt sich zunächst eine Veränderung in Be- zug auf die offizielle innerparteiliche Rhetorik feststellen. In dem 1989 erschiene- nen Grundsatzprogramm der SPD ist zu lesen:

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 71

„In der Bundesrepublik leben Menschen unterschiedlicher Nationalität, Kultur und Religion zusammen, die Länder Europas sind multikulturell geworden. [...] Kulturelle Vielfalt berei- chert uns. Daher wollen wir alles tun, was uns Verständnis, Achtung und Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Nationen und Kulturen fördert, Integration und Teilhabe ermög- licht.“ (SPD 1989, S. 9f.)

Es wird hier von der kulturellen Vielfalt gesprochen und eine Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Nationen und Kulturen betont. Ebenso steht das Be- kenntnis zur Integration und Teilhabe im Vordergrund. Entsprechend wird im glei- chen Dokument erstmals offiziell für die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen geworben.17 Zudem verlangte der Parteivorstand 1989 „ein neues, auf Rechtssicherheit und Klarheit angelegtes Ausländergesetz“ (SPD 1991, S. C 253), mit dem die Einbürgerung gegebenenfalls unter Hinnahme von Doppel- staatsangehörigkeit erleichtert werden sollte. Die Forderungen nach stärkeren Be- teiligungsrechten unabhängig von der Staatsangehörigkeit spiegelten sich auch in Bezug auf die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen wider. 1991wurde auf dem Parteitag in Bremen erstmals ein Antrag mit dem Titel Arbeitsgemeinschaft für Ausländer in der SPD eingereicht, nach dem unter ande- rem die Interessen der Ausländer_innen in der Parteiarbeit vertreten werden sollten (SPD Bundesparteitag 1991, S. 739). Im Plenum argumentierte einer der Antrag- steller:

„Schon seit vielen Jahren hat es Veränderungen durch diejenigen gegeben, die als ausländi- sche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hierher gekommen sind. Teilweise sind die schon in der zweiten Generation hier. Wir müssen sie integrieren und ihnen die Möglichkeit geben, sich selber als Gruppe zu entfalten, die durchaus auch eigene Lebens- und Ausdrucks- formen hat und die – das will ich noch einmal unterstreichen – das Parteileben in starker Form bereichern.“ (SPD Bundesparteitag 1991, S. 314)

Vor dem Hintergrund eines dauerhaften Aufenthalts der „ausländischen Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer“ wird deren „Integration“ in die Partei gefordert. „Integration“ wird mit Entfaltungsmöglichkeiten der ausländischen Parteimitglie- der verbunden, die zu einer Bereicherung des Parteilebens führen würde. Ferner gab es auf demselben Parteitag einen weiteren Antrag, nach dem nicht eine Arbeitsgemeinschaft für Ausländer, sondern eine Arbeitsgemeinschaft für

17 Durch die Einführung der kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen in Schleswig- Holstein und Hamburg gewann diese Forderung erneut an Prominenz (SPD 1991, S. C 253), auch wenn am 31.Oktober 1990 das Bundesverfassungsgericht diese gesetzliche Regelung für verfassungswidrig erklärte (ebd., A 85).

72 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Einwanderer gefordert wurde (SPD Bundesparteitag 1991, S. 739). Hier meldete sich Yilmaz Karahasan, Mitglied des Bezirksverbandes Hessen-Süd, zu Wort:

„Genossinnen und Genossen! [...] Wir sagen immer wieder, daß wir ein integraler Bestand- teil dieser Gesellschaft sind, [...] daß eine Einwanderung stattgefunden hat. [...] Da können wir doch nicht die eingewanderten und bereits zu Inländern gewordenen Bürgerinnen und Bürger oder die eingeborenen Inländerinnen und Inländer, die ausländische Staatsangehörige sind, als Ausländer bezeichnen, geschweige denn behandeln.“ (Ebd., S. 314f.)

Gemäß meiner Analyse der Parteitagsprotokolle äußert sich hier erstmals ein Par- teimitglied mit eigener Einwanderungserfahrung und pochte auf einen Einstel- lungswandel in Bezug auf die Akzeptanz der Eingewanderten, die sich in Deutsch- land dauerhaft niedergelassen hätten. Entsprechend sieht er in der Namensgebung der Arbeitsgemeinschaft ein symbolisch wichtiges Zeichen. Zudem fanden die genannten Anträge eine breitere Unterstützerbasis auf dem Parteitag18, sodass sich die Parteispitze genötigt sah, auf diese Forderungen direkt zu reagieren und Argumente gegen eine Arbeitsgemeinschaft zu artikulieren. Die damalige Bundesgeschäftsführerin Anke Fuchs reagierte auf die besagten Anträge auf dem Bundesparteitag 1991 folgendermaßen: „Diese sozialdemokratische Partei darf keine Ständepartei werden, darf sich nicht zu sehr in Arbeitsgemeinschaften aufgliedern. Deswegen muß ich leider – die Ausländer nehmen es mir bitte nicht übel – bei der Überweisung des Parteivorstands bleiben.“ (SPD Bundesparteitag 1991, S. 315) Mit dem Bild einer Ständepartei verleiht die Rednerin der Situation eine Dra- matik. Vor diesem Hintergrund will sie nicht die Migranten/Migrantinnen angrei- fen („die Ausländer nehmen es mir bitte nicht übel“), sondern lehnt allein die strukturellen Folgen dieses Vorschlags ab19. Zumal auf dem gleichen Parteitag die bisherigen Arbeitsgemeinschaften in ihren Befugnissen gestärkt wurden, so dass eine Ausweitung doppelt schwer wog. Entsprechend wurde der Antrag nicht be- schlossen, sondern „nur“ an den Parteivorstand zur Bearbeitung überwiesen. In den Folgejahren erhöhte sich der Druck der Basis. 1993 wurde in mehreren Anträgen auf dem Parteitag in Wiesbaden der Parteivorstand an die Bearbeitung der Anträge erinnert (SPD Bundesparteitag 1993, S. 1173).

18 Die Anträge wurden nicht mehr allein vom Bezirksverband Hessen-Süd unterstützt, son- dern auch von den Bezirken Ostwestfalen-Lippe, Braunschweig und Weser-Ems sowie dem Unterbezirk Osnabrück Stadt, die als Antragssteller genannt werden. 19 Die Rednerin hält die Einrichtung einer Kommission für Einwanderungsfragen für durchaus angebracht (SPD Bundesparteitag 1991, S. 315). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 73

Ferner kam es ab Mitte der 1990er zu innerparteilichen Initiativen, die indirekt den Forderungen auf den Parteitagen Rechnung trugen. Unter Leitung von , Vorstandsmitglied der Bundestagsfraktion, wurde 1996 die „Bundeskonfe- renz sozialdemokratischer Migrantinnen und Migranten“ (SPD Bundestagsfraktion 1997) durchgeführt. Auch hier stand der Titel der Konferenz für ein Bekenntnis zum Einwanderungsland. Weder von „Ausländern“ noch von „ausländischen Mit- bürgern“ war mehr die Rede, sondern allein von Migrantinnen und Migranten. Darüber hinaus sollten laut Andres auf der Konferenz Migrationsfragen nicht über, sondern mit einem wachsenden Anteil zugewanderter Bürgerinnen und Bürger dis- kutiert werden (SPD Bundestagsfraktion 1997). In diesem Sinne beteiligten sich bereits bei der Initiierung der Konferenz einige Persönlichkeit mit Migrationshin- tergrund20. Ebenso wurde ein Großteil der Ergebnisse auf der Tagung von Men- schen mit Migrationshintergrund präsentiert.21 Zudem deuteten die Ergebnisse der Bundeskonferenz verstärkt auf eine Thematisierung der innerparteilichen und par- lamentarischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen hin. Hier wurde er- neut die Forderung nach einer Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen auf Bundesebene laut. Im Unterschied zur multikulturellen Rhetorik im Grund- satzprogramm von 1989 forderten die Beteiligten der Konferenz keine Sonderrege- lungen aufgrund kultureller Besonderheiten, sondern stellten vielmehr den An- spruch auf gleichberechtigte Teilhabe in den Vordergrund. Das SPD Mitglied Vijoy Batara verglich im Plenum den Kampf um eine Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen mit dem damaligen Ringen der Frauen um die „Arbeits- gemeinschaft Frauen“ sowie der jungen Mitglieder um die Arbeitsgemeinschaft der Jusos (ebd., S. 59f.). Es handelte sich um eine Argumentation, die nicht primär auf der „Integrationsfunktion“, sondern vielmehr auf dem Kampf um innerparteiliche Gleichberechtigung basierte. Darüber hinaus wurde auf der Konferenz eine Gleichbehandlung von Migranten/Migrantinnen in allen Parteigremien gefordert (ebd., S. 24). Ferner sollten Menschen mit Migrationshintergrund auf aussichtsrei- chen Plätzen für Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europawahlen aufgestellt werden (ebd., S. 25). Gleichzeitig gab es nach Ansicht des Bundestagmitglieds Leyla Onur keine Mehrheiten für solche Positionen innerhalb der Partei (ebd., S. 68). Auch hinsichtlich der Forderung nach einer angemessenen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in den Parteigremien sah Andres am Schluss der Konfe- renz noch intensiven Diskussionsbedarf (ebd., S. 76).

20 Dies waren Ahmet Iydirli, Aylan Cehun und Kenan Kolat (Interviews mit P und R). 21 Insgesamt gab es neun Arbeitsgruppen. Bei mindestens acht Berichterstat- tern/Berichterstatterinnen der Arbeitsgruppen gehe ich aufgrund des angegebenen Vor- und Nachnamens von einem Migrationshintergrund aus.

74 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Nichtsdestotrotz war das Thema der innerparteiliche Ansprache und Inkorpora- tion von Migranten/Migrantinnen nun auch innerhalb der Fraktionsvorstand prä- sent, zumal die Konferenz von der Bundestagsfraktion und deren „Arbeitsgruppe Migrationspolitik“, der im Jahre 1996 sechzehn Bundestagsmitglieder angehörten (SPD Bundestagsfraktion 1997, S. 78), ins Leben gerufen wurde. Andres formu- liert das Anliegen der Fraktion wie folgt: „Migrationsfragen umfassend zu be- leuchten, mit und nicht über einen wachsenden Anteil zugewanderten Bürgerinnen und Bürger [...] parteipolitische Grundsätze zu erarbeiten sowie Strukturen für so- zialdemokratisches Handeln aufzuzeigen.“ (Ebd.) Auch die Reden von in der Funktion als Parteivorsitzender und Rudolf Dressler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zeigten, welchen Be- deutungszuwachs das Thema innerhalb der Parteispitze erfuhr. Jürgen Behnk, ein Teilnehmer der Tagung, sagte hierzu:

„Alles was wir an Papieren stehen haben, ist doch nicht neu. Das haben wir doch seit min- destens zehn Jahren tausendmal besprochen, beredet, in Anträgen formuliert, auf Parteitagen vorgelegt. Vieles davon ist auch beschlossen, so daß die Euphorie, die so ein bißchen hier auftaucht, sich im Wesentlichen darauf konzentrieren kann, daß die Bundestagsfraktion dies jetzt erst überhaupt zur Kenntnis nimmt.“ (Ebd., S. 69)

Doch nicht allein die Bundestagsfraktion wurde aktiv, sondern auch der Parteivor- stand etablierte dauerhaftere Organisationsstrukturen, innerhalb derer Migran- ten/Migrantinnen ihre Anliegen präsentieren konnten. Die Einrichtung der Arbeits- gruppe Migrationspolitik wurde unter Leitung von Wieczorek-Zeul wie folgt be- gründet: „Mit der Arbeit der Arbeitsgruppe werden die Konsequenzen aus der Dis- kussion über das Staatsbürgerschaftsrecht gezogen und eine öffentliche Begleitung der Integrationspolitik der Bundesregierung durch Partei und Fraktion sicherge- stellt.“ (SPD 1999, S. 71) 1999 wurde die Arbeitsgruppe in Gesprächskreis umbenannt, der von Andres geleitete wurde. Ziel des Kreises war es, verschiedenste gesellschaftliche Gruppen – von Wissenschaftlern/Wissenschaflterinnen über Experten_innen aus Sozialver- bänden, Gewerkschaften sowie Aussiedler- und Migrantenorganisationen bis hin zu Sprecher_innen migrationspolitischer Arbeitskreise – aus den Unterbezirken der SPD in den Diskussionsprozess einzubeziehen. Die Weichen waren innerhalb der SPD somit auf Beteiligung gestellt, wenngleich konkrete Maßnahmen zur stärke- ren innerparteilichen und parlamentarischen Repräsentation weiterhin auf sich war- ten ließen. Vor dem Hintergrund parteiinterner Widerstände verlagerten sich nach Aussage eines damals beteiligten Parteiakteurs die Initiativen auf die regionale Ebene (Interview R), wie sich auch an der erfolgreichen Einrichtung einer Arbeits- gemeinschaft innerhalb der Berliner SPD 1997 noch zeigen wird (vgl. 5.2). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 75

Neben der innerparteilichen Beteiligung konnte ich auf Basis meiner Doku- mentenanalyse erstmals Hinweise auf eine gezielte Wahlwerbung und Ansprache von Wählern/Wählerinnen mit Migrationshintergrund ab Ende der 1980er Jahre ausfindig machen. Anlässlich der Wahlen des europäischen Parlaments am 18. Juni 1989 findet sich ein Schreiben der SPD an die Aussiedler_innen mit dem Titel: „Aufruf an die Aussiedlerinnen und Aussiedler sowie Übersiedlerinnen und Über- siedler22“ in deutscher und polnischer Sprache (SPD 1991, S. C 254-55). Die Mehrsprachigkeit23 sowie die Nennung des Wahltermins in Verbindung der Auf- zählung der Positionen der SPD zu europapolitischen Themen können als eine gruppenspezifische Wahlansprache gedeutet werden. Zudem brachte die SPD 1988 Materialien mit dem Titel „Aktive Solidarität – Aus- und Übersiedler in der Ver- trauensarbeit der SPD“ heraus. Hier ist ein abgedrucktes Flugblatt mit der Über- schrift zu finden: „Bundesregierung für beschämende Lage der Aussiedler verant- wortlich.“ (Ebd., S. C 254: 7)24 Auch bei den Bundestagswahlen 1994 gab es ein persönliches Schreiben vom Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten, Rudolf Scharping, in dem er auf Deutsch und Russisch zur Teilnahme an den Wahlen auf- ruft und für die SPD wirbt (SPD 1995, S. 20). Schließlich war im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998 in der Mitgliederzeitschrift Vorwärts zu lesen:

„Vor allem als Wählerpotential waren die ‚Rußlanddeutschen‘ bisher interessant für die kon- servativen Parteien [...] Diese Akzeptanz ist seit längerem ins Wanken geraten: weniger Mit- tel für Sprachkurse und Integration, Erschwerungen bei den Sprachtests [...] Bei der Union schrillen die Alarmglocken, schließlich werden, so Schätzungen, etwa eine Millionen Aus- siedler das erste Mal im September den Bundestag mitwählen.“ (Vorwärts 1998, S. 18)

Hier wird die Hoffnung geäußert, Stimmen der traditionell eher konservativen Aussiedler_innen bei den nächsten Wahlen zu gewinnen. Die angenommene Dis- tanzierung der Aussiedler_innen von der CDU gab den Anlass innerhalb der SPD, sich verstärkt um diese Wähler_innen zu kümmern.25 Nicht nur die Gruppe der

22 Mit Übersiedler_innen sind die Menschen aus der damaligen DDR gemeint, die in die Bundesrepublik geflüchtet oder übergesiedelt sind. 23 Unklar bleibt an dieser Stelle, inwieweit es auch noch in anderen Sprachen verfasst wur- de. Es konnten keine weiteren Materialien hierzu gefunden werden. 24 Gleichwohl muss betont werden, dass es in der Broschüre ausschließlich um Fragen der Aufnahmebereitschaft Deutschlands und Möglichkeiten der sozialen Integration der Aussiedler_innen geht. Somit richtete sich das Flugblatt wohl vor allem an die SPD- Stammwählerschaft. 25 2004 versucht eine SPD-Broschüre zur Aussiedlerarbeit mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Aussiedler_innen nur konservative Parteien wählen würden (Vorwärts 2004, S. 39).

76 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Aussiedler_innen waren Gegenstand von Wahlstimmenkampagnen. Beispielsweise betonte innerhalb der SPD die Arbeitsgruppe Migrationspolitik vor den Europa- wahlen 1999: „Eingebürgerte, EU-Bürger und Aussiedler sind bei kommunalen Wahlen insbesondere in den Ballungsgebieten wichtige Zielgruppen mit hohen Mobilisierungsreserven für die SPD.“ (SPD 1999, S. 71) Daraus wird geschlussfolgert, dass mit einer festeren Bindung der Migran- ten/Migrantinnen als Wähler_innen an die SPD bessere Kontakte zu Migrantenor- ganisationen sowie die Gewinnung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrati- onshintergrund erzielt werden können (ebd.). Somit wurde nicht allein die Wahl- werbung26, sondern auch die Nominierung von Menschen mit Migrationshinter- grund als Mittel zur Mobilisierung gesehen. In diesem Zusammenhang berichtete Wieczorek-Zeul 1996 auf der Bundeskonferenz der Migrantinnen und Migranten von einer Doppelstrategie der CDU, die sich einerseits im hessischen Kommunal- wahlkampf gegen ein kommunales Wahlrecht aussprach, andererseits Kandida- ten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund aufstellte (SPD Bundestagsfraktion 1997, S. 9). Ein weiterer Teilnehmer der Konferenz, Jannis Goudoulakis, äußerte zu diesem Thema: „Genossinnen und Genossen, ihr habt sicherlich alle gemerkt, daß die CDU uns in letzter Zeit umwirbt, und zwar sehr massiv, weil wir, zumin- dest ein Teil von uns, ein Wählerpotential darstellen für die Kommunalwahlen. Die SPD fängt jetzt erst an. Ich hoffe, daß es nicht dabei bleibt.“ (Ebd., S. 59) Hier spricht der Zitierte das Wahlpotential der EU-Bürger_innen auf kommu- naler Ebene an, welches die SPD im Gegensatz zur CDU scheinbar noch nicht ge- nug ansprechen würde. Auch in einem Bericht der sz wird ein solcher Wettbewerb angedeutet. Hier heißt es, dass SPD, CDU, FDP und Grüne jeweils eine Kandidatin oder einen Kan- didaten mit Migrationshintergrund 1994 für die Wahl zum Europaparlament aufge- stellt hätten (Mishra 09.06.1994, S. 10). Schließlich lassen sich Hinweise finden, dass die SPD auch Migranten/ Migrantinnen in der Mitgliederwerbung ansprechen wollte. In einem Antrag des Parteivorstands mit dem Titel „Organisatorische Erneuerung und Modernisierung der SPD“ des Parteitags 1991 in Bremen ist zu lesen:

Unklar bleibt, inwieweit auch andere Migrantengruppen mit gezieltem Wahlmaterial an- gesprochen wurden. 26 Eine befragte Person formuliert im Interview, dass es schon vor 1998 Wahlmaterial in anderen Sprachen gegeben habe, ohne jedoch exakte Angaben über Zeitpunkt und Art der Materialien machen zu können (Interview mit N). Bis dato konnte ich in meinen ge- sammelten Materialien keine Hinweise darauf finden. DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 77

„Volkspartei bedeutet ‚im Volk sein‘ und mit möglichst vielen Bevölkerungsgruppen eine politisch wirksame Mehrheit anzustreben. [...] Die SPD bleibt die größte Mitgliederpartei in Deutschland. Sie lädt zur Mitwirkung, Gestaltung und Übernahme von Verantwortung ein. Sie ist offen für Junge und Alte, Frauen und Männer, deutsche und ausländische Mitbürge- rinnen und Mitbürger.“ (SPD Bundesparteitag 1991, S. 711f.)

Wenngleich mit dem Verweis auf „ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger“ ein Begriffsverständnis aus den 1980er Jahren hervortritt, nach welchem Migran- ten/Migrantinnen noch nicht als Eingewanderte betrachtet werden, werden sie als Bestandteil der Volks- und Mitgliederpartei SPD definiert. In einer Mitgliederwer- bung von 1996 wurde die Ansprache darüber hinaus konkret umgesetzt. So werben unter dem Titel „Ja. Rot steht uns gut. Warum es sich jetzt lohnt, SPD Mitglied zu werden: Frauen bekennen Farbe“ in der Mitgliederzeitschrift Vorwärts sieben weibliche Mitglieder für die SPD. Sie werden mit Namen, Alter, Beruf, Wohnort sowie Passbild dargestellt. Neben dem Foto steht jeweils ein persönliches Zitat, das Auskunft über die individuellen Motive für ein Engagement bei der SPD gibt. Eine der Frauen ist Dilek Kolat, die als 29-Jährige Studentin der Wirtschaftsmathematik vorgestellt und mit den Worten zitiert wird: „Ich habe mich für die SPD entschie- den, weil diese Partei dafür eintritt, daß Frauen – gleich, wo sie geboren sind – selbstbestimmt leben können.“ (Vorwärts 1996, S. 5) Das Voranstellen der Eigenschaften „Frau“ und „junge Akademikerin“ zielt auf die geschlechtsspezifische sowie soziale Dimension ab. Gleichzeitig verbindet sie das Geschlecht mit dem Migrationshintergrund („Frauen – gleich, wo sie geboren sind“). Entscheidend bei diesen aufgezeigten Veränderungen ist, dass Menschen mit eigener Einwanderungsgeschichte aktiv in die innerparteilichen Diskussionen ein- griffen und diese prägten. Nicht nur die Wortmeldungen von Delegierten mit Mig- rationshintergrund auf dem Parteitag, sondern auch die bereits erwähnte27 rege Teilnahme auf der Bundeskonferenz der Migrantinnen und Migranten 1996, offen- barte der Führungsspitze die innerparteiliche Präsenz dieser Gruppe und deren In- teressen. Insofern sind die Migranten/Migrantinnen nicht mehr allein Objekt, son- dern auch handelndes Subjekt.

27 Vgl. Fußnote 21.

78 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

4.3.1 Liberalisierungsansätze in der Ausländerpolitik und Einwanderung unter veränderten Vorzeichen

Der skizzierte Einschnitt in der dritten Phase im Hinblick auf parteipolitische In- korporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen muss vor dem Hintergrund von verschiedenen Umweltveränderungen nachvollzogen werden. Unter den Einwanderern/Einwanderinnen kristallisierte sich auch immer stär- ker das Bewusstsein heraus, dass sie dauerhaft in Deutschland leben würden. Wäh- rend in den 1970er bis 1980er Jahren vor allem die anvisierte Rückkehr in das ei- gene Herkunftsland im Vordergrund stand, begann sich mit der Wiedervereinigung ein Einstellungswechsel in Teilen der eingewanderten Bevölkerung zu vollziehen. Migranten/Migrantinnen demonstrierten beispielsweise in Berlin auf der Straße und skandierten „Wir sind das Volk“ in Anspielung auf die Parolen der ostdeut- schen Demonstranten (Triadafilopoulos 2012, S. 135). Als weiteres Indiz für mehr Beteiligung kann die Anzahl der Einbürgerungen gesehen werden, die seit 1990 sprunghaft anstieg. Während 1981 35.000 Menschen eingebürgert wurden, betrug die Anzahl 1990 bereits über 100.000 und stieg bis 1995 auf über 313.000 an (Sta- tistisches Bundesamt 2014, S. 16). Entsprechend stieg auch die Anzahl der Men- schen, die politisch mitbestimmen konnten. Gleichermaßen wuchs das Bewusstsein in der Parteiführung, dass mit zunehmenden Einbürgerungsraten auch langfristig über eine politische Machtbeteiligung dieser Gruppe nachgedacht werden musste. Hinzu kam, dass die Zuwanderung der Menschen aus der ehemaligen Sowjet- union zunahm. Während 1986 rund 42.800 Aussiedler_innen nach Deutschland kamen, waren es 1989 schon 377.000 und 1990 fast 400.000 (Herbert 2001, S. 276). Diese hatten aufgrund ihrer Abstammung einen sofortigen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit bzw. Einbürgerung (ebd.). Mit der deutschen Staats- angehörigkeit erlangten sie auch das passive und aktive Wahlrecht. Entsprechend kamen sie als potenzielle Wähler_innen in Betracht. Schließlich wurde 1996 das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger_innen eingeführt (Hagedorn 1998, S. 45). Entsprechend gewann auch die Wahlansprache und politische Repräsentation von EU-Staatsangehörigen bei allen Parteien an Bedeutung. Die SPD war zudem in der Situation, dass sie bei den Bundestagswahlen 1990 das schlechteste Ergebnis seit 1957 einfuhr (Walter 2009a, S. 211) und seit Jahren in der Oppositionsrolle ver- harrte. Diese Entwicklung bildete einen zusätzlichen Anreiz für Partei, um sich ge- genüber diesen Bevölkerungsgruppen verstärkt zu öffnen. Unterstützend wirkte in diesem Zusammenhang die veränderte gesellschaftli- che Stimmung. Bis zum Ende der 1980er Jahre nahm die ausländerfeindliche DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 79

Stimmung innerhalb der Bevölkerung ab.28 Mit der zunehmenden einwanderungs- bedingten Pluralisierung gewann eine Multikulturalismus-Debatte an Bedeutung (Schönwälder 2005, S. 113), in der das Recht der Migranten/Migrantinnen auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gefordert wurde. Auch wenn diese Diskussion kaum Einfluss auf das tatsächliche Regierungshandeln hatte (Aumüller 2009, S. 198), so schlug sie sich, wie gezeigt, in den Diskussionen und der Pro- grammatik der SPD nieder. In diesem Zusammenhang spielten die Grünen in den 1980er Jahren eine entscheidende Rolle, die sich von allen Parteien am stärksten für postmaterialistische Werte einsetzten (Triadafilopoulos 2012, S. 136). Klatt und Walter sprechen von einem „Kulminationspunkt postmaterieller Einstellun- gen“, der sich nicht zuletzt in multikulturellen Stadtteilfesten ausdrückte (Klatt und Walter 2009, S. 306). Diese neue Partei konnte sich in unterschiedlichen Parlamen- ten etablieren und bildete somit auch einen potenziellen Koalitionspartner für die SPD, um gegen die Konservativen zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, warum die Haltung der konservativen politischen Kräfte, die „die Verteidigung deutscher Kultur und Identität“ in den Mittelpunkt stellten (Schön- wälder 2005, S. 113), abgelehnt wurde. Der damalige CSU-Politiker und Bundes- innenminister Zimmermann arbeitete ein restriktives Ausländergesetz aus, dass je- doch auf eine breite gesellschaftliche Ablehnung stieß (Meier-Braun 1995, S. 18). Als Gegenreaktion zu Zimmermanns Entwurf bildete sich eine breite Koalition aus SPD, Grünen, FPD und Teile der CDU selbst, die sich für eine Liberalisierung des Ausländerrechts einsetzte (Triadafilopoulos 2012, S. 134). Wolfgang Schäuble, der Nachfolger Zimmermanns, stellte einen abgeänderten Entwurf vor, der zwar vielen Sozialdemokraten nicht weit genug ging, aber erste Erleichterungen der Einbürge- rung beinhaltete und 1991 als Gesetz in Kraft trat. Eine weitere Liberalisierung er- folgte 1993 mit Erleichterungen bei der Einbürgerung (Schönwälder 2010b, S. 164; Triadafilopoulos 2012, S. 135; Meier-Braun 1995, S. 18). Angesichts dieser Entwicklungen gewannen die liberaleren Kräfte innerhalb der SPD, die Deutsch- land als Einwanderungsland sahen und eine erleichterte Einbürgerung, inklusive der Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft, forderten (Flam 2007, S. 266), an Bedeutung. Auch die Asylrechtsdebatte Anfang der 1990er Jahre verstärkte paradoxerweise diesen Effekt. Angesichts steigender Asylbewerberzahlen und ausländerfeindlicher Ausschreitungen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen von 1991 bis 1992 nahm die politische Debatte über die Aufnahme von Asylbewer-

28 So sank laut der „Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) von 1980 bis 1990 in der Bevölkerung beispielsweise die Zustimmung für Forderungen nach einer Ausweisung von ausländischen Arbeitskräften bei Arbeitsplatz- knappheit oder einem politischen Betätigungsverbot (Schönwälder 1991, S. 5f.).

80 | PARTEIEN UND MIGRANTEN bern/-bewerberinnen sowie eine Asylgrundrechtsänderung zu (Triadafilopoulos 2012, S. 137-139; Schönwälder 2005, S. 115). Trotz starker Vorbehalte und inner- parteilicher Auseinandersetzungen um eine Asylrechtsverschärfung unterstützte die SPD schließlich die Grundgesetzänderung (ebd.). Vor dem Hintergrund der von den Konservativen bis rechten politischen Kräften populistisch angeheizten Debatte fürchtete die SPD, im Falle einer Veto-Haltung bei den anstehenden Bun- destagswahlen weiter an Zustimmung zu verlieren. Entsprechend schaffte es die stellvertretende Parteivorsitzende Herta Däubler-Gmelin nicht, sich gegen den Asylkompromiss durchzusetzen und gestand ein, dass die SPD dem „Druck der Straße“ nachgegeben habe (Meier-Braun 2013, S. 72f.). Es waren der damalige Parteivorsitzende Björn Engholm sowie der Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich- Klose, die diese umstrittene Rechtsänderung innerparteilich durchsetzten und so zu einem „schmerzhaften Verlust“ der innerparteilichen Wertebasis in der Asylpolitik beitrugen (Walter 2009a, S. 217). Angesichts dieses „schmerzhaften“ Schritts ge- wannen die liberalen Kräfte innerhalb der SPD zusätzlich an Einfluss. Eine damals Beteiligte der „Projektgruppe Integration“ geht davon aus, dass im Gegenzug zur Beschneidung des Asylrechts Erleichterungen für die bereits hier lebende ausländi- sche Bevölkerung und somit weitreichende Reformen gefordert werden konnten (Interview mit N). Entsprechend war das Umfeld günstig, um Fragen der parteipo- litischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen zu diskutieren sowie entspre- chende Initiativen zu unterstützen.

4.3.2 Eine innerparteiliche Krise als Wandlungsmotor

Parallel zu den bisher aufgezeigten Faktoren verändern sich die innerparteilichen Rahmenbedingungen. Im Laufe der 1980er Jahre wurde immer deutlicher, dass die SPD in einer Kri- se steckte. Während sie bei den Bundestagswahlen 1976 noch auf einen Stimmen- anteil von rund 43 Prozent kam, lag dieser 1987 bereits bei 37 Prozent und erreich- te 1990 mit 33,5 Prozent ein historisches Tief (Grunden 2012, S. 97). Der damalige Bundesgeschäftsführer Glotz beklagte sich nach der Bundestagswahl 1987, dass „die ungenügende Mobilisierung der eigenen Mitglieder ein wesentlicher Grund für die Wahlniederlage gewesen sei“ (Lösche 1990, S. 54). Auch die Mitglieder- zahlen nahmen deutlich ab. Waren noch 1976 über eine Millionen Menschen Mit- glied der SPD, waren es 1986 schon fast 100.000 Mitglieder weniger (Grunden 2012, S. 95). Dieser Trend setzte sich in den 1990er Jahren fort, so dass, mit Aus- nahme von 1991, die Mitgliederzahlen ab 1992 unter die 900.000 Marke fielen (Beyme 2010, S. 151). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 81

Gleichzeitig kam es Anfang der 1990er Jahre zu einem Generationswechsel in der Führungsebene der Partei. Die sogenannte „Enkelgeneration“29 löste die alte Führungsebene ab. Einer dieser „Enkel“ war Björn Engholm, der damalige Minis- terpräsident von Schleswig-Holstein, der 1991 den Parteivorsitz übernahm (Thör- mer et al. 2007, S. 79). Zudem war die Führungsspitze der Partei durch die damali- gen Ministerpräsidenten wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Rudolf Schar- ping sowie geprägt, die der Partei ein neues „Gesicht“ gaben und ei- nen „Juso-Hintergrund“ aufwiesen (Thörmer et al. 2007, S. 79). In Teilen waren sie es, die bereits in den 1970er Jahren für Gleichberechtigung und Teilhabe der Migranten/Migrantinnen gekämpft hatten. Nunmehr saßen sie an den Schalthebeln der Partei und versuchten die SPD von innen zu erneuern. An der erwähnten Bun- deskonferenz der Migranten/Migrantinnen nahmen Lafontaine und Wieczorek- Zeul teil. Letztere leitete, wie bereits erwähnt, im Parteivorstand die Arbeitsgruppe Migrationspolitik. Und auch Andres, der Hauptverantwortliche der Bundeskonfe- renz und Leiter des Gesprächskreises, war von 1976 bis 1977 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos gewesen30. Zudem störte sich Engholm an der bisherigen „Closed-Shop-Mentalität“ der SPD, nach der sich die Partei „sozial und gesellschaftlich immer mehr isolierte“ (Walter 2011, S. 213). Entsprechend wollte er die Partei reformieren und für Sei- teneinsteiger attraktiver machen (ebd.). Mit dem Projekt „SPD 2000“ sollte diese Parteireform vorangetrieben werden, wobei es hierbei allgemein darum ging, die Kontaktschwelle zwischen Bürgern/Bürgerinnen und der Partei zu senken sowie stärkere Beteiligungsmöglichkeiten für Mitglieder zu ermöglichen (Thörmer et al. 2007, S. 80). Des Weiteren wollte man „die Ideen der Neuen Sozialen Bewegun- gen aufgreifen, um die SPD zu modernisieren und für diese Wählerschichten zu öffnen“ (Spier und Alemann 2013, S. 453). Dabei spielte eine Professionalisierung und Flexibilisierung der Organisationsstrukturen eine wichtige Rolle. Um den ver- lorenen Rückhalt unter den Wählern zurückzugewinnen und die Dialogfähigkeit mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu steigern, wurden Projekt- gruppen, offene Regionalkonferenzen, Netzwerke und Diskussionsforen eingerich- tet (Jun 2009, S. 198). Entsprechend können sowohl die Bundeskonferenz der sozi- aldemokratischen Migrantinnen und Migranten als auch die aufgezeigten innerpar-

29 Dieser Begriff wurde von Brandt geprägt, der damit den stattfindenden Generationen- wechsel an den Machtstellen der Partei hervorheben wollte (Walter 2009a, S. 206). Der Historiker Faulenbach spricht auch von der Nachkriegsgeneration (Faulenbach 2011, S. 370). 30 Vgl. Biographieangaben auf der offiziellen Homepage von Andres (http://gerd-andres. de/person/lebenslauf.htm; letzter Zugriff am 23.03.2014).

82 | PARTEIEN UND MIGRANTEN teilichen unterschiedlichen Gesprächskreise und Foren, an denen Einwande- rer/Einwanderinnen beteiligt wurden, eingeordnet werden. Trotz dieser Veränderungen konnte die Forderung nach einer Arbeitsgemein- schaft für Migranten/Migrantinnen nicht durchgesetzt werden. Ein Grund für diese Ablehnung muss in einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Arbeitsgemeinschaf- ten gesehen werden, da von Beginn der Existenz von Arbeitsgemeinschaften31 ein „Zusammenschluss weitgehend autonomer Interessensgruppen“ (Lösche und Wal- ter 1992, S. 219) sowie eine daraus resultierende Zersplitterung der Partei befürch- tet wurde. Die Bundesgeschäftsführerin Fuchs, die sich gegen eine solche Arbeits- gemeinschaft aussprach, teilte diese allgemeine Skepsis. Sie gehörte nicht der „En- kelgeneration“, sondern vielmehr der „Kriegskinder-Generation“ (Faulenbach 2011, S. 369f.) an. Diese war durch die Erfahrungen des Krieges geprägt, die „noch im späteren politischen Bewusstsein präsent waren“ (ebd.). Die „Enkelgene- ration“ wuchs „im Wirtschaftswunderdeutschland auf und begann, während der 1960er Jahre kritische Fragen nach der Restauration der Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit“ zu stellen (ebd.). Fuchs sieht sich selbst als eine Person, die den Krieg miterlebt habe und dadurch im Unterschied zur „Enkelgeneration“ den Stel- lenwert von Solidarität und Loyalität höher bewerte (Reinhardt 2011, S. 288). Hie- raus schlussfolgert Reinhardt, dass „für sie die Partei nicht nur eine Ebene der Vergesellschaftung zur Aushandlung gemeinsamer politischer Ziele und einer ge- meinsamen Loyalität zur Vertretung dieser Ziele, sondern immer auch eine Ver- gemeinschaftungsebene“, ein familiärer Ort, ist (ebd., S. 288ff.). Entsprechend ist anzunehmen, dass ein derartiger Solidaritäts- und Gleichheitsgedanke ein Grund für die ablehnende Haltung von Fuchs gegenüber einer Arbeitsgemeinschaft war. Gleichwohl boten die anderen Arbeitsgemeinschaften, die unter anderem mit dem Ziel gegründet wurden, neue Wähler_innen und Mitglieder zu gewinnen, und Ausdruck einer innerparteilichen Pluralisierung waren (Lösche und Walter 1992, S. 218f.), eine Art Vorbild für die Migranten/Migrantinnen, die sich als eigenstän- dige Gruppe innerhalb der Partei zu formieren begannen. Die Stärke dieser Vor- bildfunktion zeigte sich nicht zuletzt daran, dass trotz Widerstände an einer Etab- lierung bis zur endgültigen Durchsetzung zwanzig Jahre später festgehalten wurde (vgl. 4.5).

31 So gründete sich beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft der Jusos nach dem zweiten Weltkrieg, gefolgt von der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer (AfA) sowie die Ar- beitsgemeinschaft für Frauen (AsF) Anfang der 1970er Jahre (Lösche und Walter 1992, S. 218f.). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 83

4.4 VON 1999 BIS 2009: DAS PRIMAT DER INTEGRATION UND DER INDIVIDUALISIERUNG

Die vierte Phase ist dadurch geprägt, dass im Kontext der parteipolitischen Inkor- poration von Migranten/Migrantinnen der Begriff der Integration an Dominanz gewann. Der bereits genannte Gesprächskreis32 wurde von der „Projektgruppe Integrati- on“ abgelöst, um laut Jahresbericht „die zentrale gesellschaftliche Bedeutung des Themas Integration zu verdeutlichen“ (SPD 2005, S. 71). Dieser Projektgruppe ging es laut Eigendarstellung unter anderem um die Frage, wie „Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund [...] an die Partei herangeführt werden und sie in die Basisarbeit integriert werden können.“ (ebd.). Entsprechend stand die Aktivie- rung von Parteimitgliedern mit Migrationshintergrund im Vordergrund. In diesem Sinne äußerte sich auch die damalige Vorsitzende der Projektgruppe, , auf dem Parteitag 2005 in Karlsruhe wie folgt:

„Bevor wir alle auffordern, andere zu integrieren, wäre es das Wirkungsvollste, denke ich, wenn wir das in der eigenen Partei tun. Wir sollten selbst damit anfangen und sagen: Dieje- nigen, egal aus welchen Ländern sie kommen, die sich interessieren und die bei der Sozial- demokratie mitmachen möchten, sind eingeladen und werden einbezogen.“ (SPD Bundespar- teitag 2005, S. 137)

Aus dem Anspruch, Integrationsanstrengungen von allen gesellschaftlichen Mit- gliedern abzuverlangen, leitet Vogt die besondere Verantwortung der Parteien ab, Integrationsanstrengungen auch in Bezug auf die eigene Organisation zu leisten33. Im Unterschied zu der vorherigen Phase ging es nunmehr nicht mehr um eine ver- stärkte Förderung der innerparteilichen Repräsentation von Einwanderern/Einwan- derinnen, sondern um die Integration einzelner Mitglieder mit Migrationshinter- grund vor Ort. Dabei blieb die Forderung unkonkret, da keine überprüfbaren Ziele und Maßnahmen angegeben wurden. Mehr noch – der Integrationsbegriff wurde so

32 Dieser muss bis 2002 Bestand gehabt haben, da im SPD Jahresbericht 2001-2002 ein letztes Mal ein Bericht zu finden ist (SPD 2003, S. 68). 33 Dieses Motiv lässt sich noch 2010 finden, als sich die Partei organisatorisch wie inhalt- lich neu aufstellen wollte. Im Rahmen der vom Parteivorstand eingerichteten „Zu- kunftswerkstatt: Faires Deutschland“ richtete die ‚Werkstatt Integration‘ folgende Forde- rung an die Partei: „Integration ist […] eines der Zukunftsthemen unseres Landes. [...] Auch unsere Partei selbst hat in Sachen ‚Integration‘ einen „Erneuerungsbedarf.“ (SPD Parteivorstand 2010, S. 22)

84 | PARTEIEN UND MIGRANTEN gefasst, um gegen gezielte Fördermaßnahmen der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen zu argumentieren. Eine damals zentrale politische Persönlichkeit bemühte in diesem Bereich das Argument der sozialen Integration, nach der nicht die kulturelle, religiöse oder ethnische, sondern die soziale Herkunft entscheidend für die Integration sei (Interview mit N). Sie lehnte damals wie heute die Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen ab und un- terschied diese von anderen Gruppen innerhalb der SPD: „[...] ich finde, es gibt Jusos, Frauen in der SPD und von mir aus noch Arbeitnehmer – und dann hat sich die Geschichte“ (Interview mit N). Somit erkennt die interviewte Person keinen vergleichbaren Anspruch der Mig- ranten/Migrantinnen auf Maßnahmen für eine innerparteiliche Gleichberechtigung, wie sie sich die Frauen erkämpft hatten, an. Sie begründet ihre Position unter ande- rem damit, dass „der Grieche, der Türke und der Pole“ ganz unterschiedliche Hin- tergründe hätten und Integration nicht eine Frage der Herkunft, sondern der sozia- len Umstände sei (Interview mit N). Eine innerparteiliche, separate Interessensver- tretung der „Migranten“ wäre demnach ihrer Meinung nach nicht sinnvoll.34 Aus demselben Grund lehnte sie eine Quotierung oder Bevorzugung von Einwande- rern/Einwanderinnen bei der Kandidatenaufstellung für innerparteiliche und par- lamentarische Ämter strikt ab (ebd.). Hierzu passt auch, dass die Diskussion über die Repräsentation und Partizipati- on von Migranten/Migrantinnen fast komplett zum Erliegen kam.35 Dies zeigte sich unter anderem auf dem Parteitag in Bochum im Jahre 2003, als Sigmar Gab- riel, der Mitglied im Parteivorstand war, angesichts eines verstärkten Mitglieder- rückgangs (Gorholt 2009, S. 257) die Lage der Partei wie folgt skizziert: „Wir ha- ben inzwischen nicht nur zu wenig Frauen, wir haben zu wenig junge Leute, wir haben zu wenig Facharbeiter, wir haben zu wenig Betriebsräte, zu wenig Hand- werker, zu wenig Techniker. Das ist der Zustand der SPD.“ (SPD Bundesparteitag 2003, S. 202) Eine Anwerbung von Mitgliedern mit Einwanderungsgeschichte wurde hier nicht ausdrücklich thematisiert. Auch die Arbeitsgruppe „Moderne Mitgliederpar- tei“, unter Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Kurt Beck, kam auf dem Karlsruher Parteitag 2005 zu dem Ergebnis, dass die gesellschaftliche Lebensreali- tät sich wieder mehr in den Ortsvereinen widerspiegeln solle, ohne jedoch explizit auf Menschen mit Migrationshintergrund abzuzielen (SPD Bundesparteitag 2005,

34 Neben ihr lehnten, laut weiterer Experteninterviews, Franz Müntefering, der von 1999 bis 2002 Generalsekretär sowie zeitweise Vorsitzender der Partei war, und , der von 2002 bis 2004 Generalsekretär der SPD war, eine solche Arbeitsgemeinschaft ab (Interview P; Interview R). 35 Ausnahme bildete der weiterhin bestehende „Gesprächskreis Migrationspolitik.“ DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 85

S. 310).36 Ausschließlich der Bezirksverband Hessen-Süd forderte auf demselben Parteitag, dass sich SPD-Ortsvereine verstärkt „um die aktive Mitarbeit von Mig- ranten und Migrantinnen“ bemühen sollten, sowie „die Zusammenarbeit mit den Migrantenorganisationen“ stärken und „mehr Mitglieder mit Migrationshinter- grund in die Parlamente“ schicken sollten (ebd., S. 110). Die Verantwortung sahen die Antragssteller_innen jedoch vor allem bei den Ortsvereinen und nicht mehr in der Parteiführungsebene selbst. Dementsprechend waren nach Ansicht einer da- mals involvierten Persönlichkeit derartige Anträge wenig umstritten und blieben folgenlos in der konkreten Praxis (Interview mit N).37 Im Gegensatz zu Fragen der innerparteilichen Repräsentation rückte die Wahl- ansprache von Einwanderern/Einwanderinnen verstärkt in den Vordergrund. Gerhard Schröder, der 1998 zum Kanzler gewählt wurde, erkannte das zunehmen- de Wahlpotenzial der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland (ebd.). Vor den Bundestagswahlen 2002 galt die Wiederwahl des amtierenden sozialdemokra- tischen Bundeskanzlers als unsicher. Die SPD setzte in diesem Kontext verstärkt auf die Stimmen der türkischstämmigen Migranten/Migrantinnen, indem die Kam- pagne „Neue Inländer für Gerhard Schröder“ initiiert wurde. Laut eines Berichts der faz sollten unter Führung des damaligen SPD-Europaabgeordneten Ozan Ceyhun Unternehmer_innen, Wissenschaftler_innen, Sportler_innen und Gewerk- schaftler_innen türkischer Herkunft versammelt werden, um für die SPD zu wer- ben (Hermann 17.11.2003, S. 5). Auch besuchte Schröder die Redaktion der türki- schen Zeitung Hürriyet, um über das auflagenstarke Printmedium türkische Wäh- ler_innen anzusprechen (Wüst 2007, S. 147). Des Weiteren warben vor den Bun- destagswahlen 2005 in der Mitgliederzeitschrift Vorwärts Migrantinnen für die SPD. Unter dem Titel „Künstler für die SPD“ wird Renan Demirkan, Schriftstelle- rin und Schauspielern, mit den Worten zitiert: „Diese Regierung hat als erste über- haupt in diesem Land – und deswegen unterstütze ich Schröder – einen Kultur- staatsminister eingesetzt.“ (Vorwärts 2005b, S. 13) Ebenso wirbt Mo Asumang, Moderatorin und Schauspielerin, für die SPD mit den Worten: „Als schwarze Deutsche fühle ich mich mit der SPD sicherer.“ (Vorwärts 2005a, S. 8)

36 Dies zeigt sich auch indirekt in dem nach 2006 herausgegeben Praxishandbuch „Orts- vereinsarbeit“, in denen als Zielgruppen Frauen, Arbeitnehmer_innen, Studierende, alte Menschen oder gesellschaftliche engagierte Menschen definiert werden (SPD 2007b, S. 81ff.). Menschen mit Migrationshintergrund sollen somit nicht gezielt angesprochen werden. 37 Entsprechend kann ihrer Aussage nach die Überweisung des Antrags an den Parteivor- stand, an die Landesvorstände und Bundestagsfraktion zur Kenntnisnahme als weitge- hend wirkungslos betrachtet werden, da sie die Adressaten nicht zu konkreten Maßnah- men anhält.

86 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Auffallend ist, dass in beiden Fällen weibliche Kulturschaffende mit Migrati- onshintergrund für die SPD werben und somit eine breite Wählerschicht anzuspre- chen versuchen.

4.4.1 Der Einfluss einer offiziellen Integrationspolitik und Staatsbürgerschaftsreform

Als eine Erklärung für die Entwicklungen in der skizzierten vierten Phase muss die Ablösung der konservativ-liberalen Regierungskoalition durch eine rot-grüne Re- gierung 1998 gesehen werden. Sie setzte sich, wie im Wahlkampf versprochen, für eine liberalere Migrantenpolitik ein. In den Koalitionsvereinbarungen war von ei- nem unumkehrbaren Zuwanderungsprozess sowie von der Notwendigkeit zur In- tegration die Rede, dessen Kernstück eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts beinhaltete (Meier-Braun 2013, S. 93). Auch wenn die Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft schließlich an den Widerständen der unionsgeführten Bundes- länder im Bundesrat scheiterte, brachte die Reform Einbürgerungserleichterungen für die in Deutschland geborenen Kinder von ausländischen Eltern mit sich (ebd., S. 95) (Schönwälder 2005, S. 118). Vor dem Hintergrund der Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts stieg die Zahl der Deutschen mit Migrationshintergrund immer weiter an. Während die Anzahl der Einbürgerungen Anfang der 2000er Jah- re sank, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass Aussiedler_innen mit der Reform nicht mehr formal eingebürgert werden mussten (Wüst 2007, S. 148), zeig- ten die Daten des Mikrozensus von 2005, dass in Deutschland 15,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund lebten, wovon rund 7,7 Millionen Menschen den deutschen Pass besaßen (Statistisches Bundesamt 2007, S. 38-43). Auch wenn es zum damaligen Zeitpunkt noch keine offiziellen Angaben zu den Wahlberech- tigten mit Migrationshintergrund gab, waren schätzungsweise von den 62 Millio- nen Wahlberechtigten rund 5,7 Prozent eingebürgerte Menschen (Wüst 2007, S. 148).38 Vor diesem Hintergrund konnten Migranten/Migrantinnen wahlentschei- dend sein, so dass die Parteien verstärkt um diese Gruppe warben (ebd., S. 147). Nach dem Politbarometer von 2001 und 2002 wiesen insbesondere die Türkei- stämmigen unter den Eingebürgerten eine Präferenz für die SPD auf. Rund 62 Pro- zent hatten die Absicht, bei den nächsten Wahlen die SPD zu wählen, während die CDU insbesondere bei den Aussiedlern/Aussiedlerinnen aus den der ehemaligen Sowjetunion höhere Zustimmungswerte aufwies (ebd., S. 157). Auch Kroh und Tucci kommen in ihrer Untersuchung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zu dem Ergebnis, dass 69 Prozent der ersten Generation türkischer Her-

38 Im Jahr 2009 wurde der Anteil der Wähler_innen mit Migrationshintergrund laut Bun- deswahlleiter auf 9 Prozent geschätzt (Schönwälder 2010a, S. 29f.). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 87 kunft sowie 73 Prozent der zweiten Generation in den Jahren ab 2000 mit der SPD sympathisierten (Kroh und Tucci 2009, S. 823). Entsprechend muss eine Anspra- che von Menschen türkischer Herkunft im Wahlkampf für die SPD vielverspre- chend gewesen sein. Neben der Staatsbürgerschaftsreform wurde im Juni 2000 eine Zuwanderungs- kommission unter Leitung von Rita Süssmuth (CDU) und Hans-Jochen Vogel (SPD) eingesetzt, um die Grundlagen eines neuen Zuwanderungsrechts auszuarbei- ten (Michalowski 2007, S. 99). Hierbei wurden Vorschläge für eine Integration von Migranten/Migrantinnen ausgearbeitet, wie beispielsweise die Einführung all- gemeiner Fördermaßnahmen, welche nicht allein auf Aussiedler_innen beschränkt bleiben sollten. Auch wenn das neue Zuwanderungsrecht erst 2004 verabschiedet wurde und Anfang 2005 in Kraft trat (ebd., S. 99f.), nahmen die Debatten über eine Integrationsfähigkeit und die daraus abgeleiteten verpflichtenden staatlichen Integ- rationsangebote in diesem Zeitraum zu (Flam 2007, S. 266). Gestützt wurde diese Debatte durch vergleichbare Diskussionen in anderen europäischen Nachbarstaa- ten, wie in den Niederlanden oder Großbritannien, die auch vermehrt von der Not- wendigkeit einer Integration sprachen (Schönwälder 2004, S. 1212). Das Ende der rot-grünen Koalition und die Auswechslung durch eine schwarz- rote Koalition unter Führung der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2005 brachten keinen Abbruch dieser Integrationsbemühungen und -dis- kussionen. Maria Böhmer wurde 2005 zur Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt. Des Weiteren wurde von der Bundesregierung 2006 ein Integrationsgipfel einberufen, an dem verschiedene Vertreter_innen aus Politik und Gesellschaft teilnahmen, die einen nationalen Integrationsplan verab- schiedeten (Bade 2011, S. 166; Musch 2011, S. 219). Insofern zeigte sich, dass das Integrationsthema seit der Jahrtausendwende die politische Debatte um Einwande- rer/Einwanderinnen dominierte. Gleichzeitig wurde Integration nicht mehr als ein- seitiger, sondern gegenseitiger Prozess betrachtet. Die SPD stellte zum Beispiel in ihrem Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 fest, dass der Anspruch der In- tegration als gesamtgesellschaftlicher Anstrengungsprozess zu verstehen sei.39 Nach Klopp muss diese Entwicklung zum einen als Folge der multikulturellen Rhetorik gesehen werden, nach der Forderungen einseitiger Anpassungsanstren- gungen ihre Berechtigung verloren hatten. Zum anderen ist sie dem langjährigen Austausch zwischen Einwanderern/Einwanderinnen und Nicht-Einwanderern/Ein- wanderinnen geschuldet (Klopp 2002). Nichtsdestotrotz bedeutet dies nicht, dass Forderungen nach einer kulturellen Assimilation verschwanden. In den politischen Auseinandersetzungen wurde weiterhin der Spracherwerb sowie das Bekenntnis zu

39 „Einwanderung verlangt Integration. Sie ist eine gemeinsame Anstrengung. Dazu müs- sen beide Seiten bereit sein.“ (SPD 2007a, S. 36)

88 | PARTEIEN UND MIGRANTEN bestimmten kulturell geprägten Wertevorstellungen von den Einwande- rern/Einwanderinnen gefordert und durchgesetzt (Aumüller 2009, S. 208; Schön- wälder 2010b, S. 154f.). Insofern galt es nicht, im Sinne einer multikulturellen Po- litik, Sonderrechte für Einwanderer/Einwanderinnen einzuführen. Vielmehr wurde Integration nicht mehr allein „als kulturelle Anpassung, sondern als Teilhabe in zentralen Lebensbereichen definiert, im Sinne gleicher Bildungs- und beruflicher Entwicklungschancen“ (Schönwälder 2013b, S. 218). Entsprechend kann erklärt werden, warum eine individuelle Ansprache, bzw. individuelle Integration, in die Partei als vorrangig erachtet wurde, während die Etablierung von Sonderrechten in Form einer Arbeitsgemeinschaft oder Quotierung von politischen Ämtern zuguns- ten der Parteimitglieder mit Migrationshintergrund abgelehnt wurde.

4.4.2 Die Idee der sozialen Gerechtigkeit und Professionalisierungstendenzen

Neben diesen Umweltveränderungen sind es innerparteiliche Faktoren, die eine In- dividualisierung parteipolitischer Inkorporationsmaßnahmen begünstigten. Der Begriff der Integration wurde an die innerparteiliche Norm der sozialen Gerechtig- keit angeknüpft, um Forderungen nach gruppenspezifischen Forderungen, wie bei- spielsweise die Etablierung einer gesonderten Arbeitsgemeinschaft für Migran- ten/Migrantinnen, zu delegitimieren. Diese Norm bildet für sozialdemokratische Parteien ein entscheidendes Deutungsmuster (Turowski 2010, S. 54; Nachtwey 2009, S. 39). Dabei geht es zum einen um Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer existenzsichernden Teilhabe sowie um die „Verringerung der Ungleichheit zwi- schen den Individuen und sozialen Gruppen“ (Nachtwey 2009, S. 40-41). Zum an- deren steht die Chancengerechtigkeit im Mittelpunkt, nach der es um faire Partizi- pationsmöglichkeiten geht sowie um die Verringerung der „Unterschiede der Start- chancen, die man vor allem durch das Glück oder Unglück der Geburt in eine be- stimmte soziale Lage mitbekommen hat“ (ebd.). Während sich der Begriff der so- zialen Gerechtigkeit in den Anfängen der SPD insbesondere auf die Nivellierung der Klassengegensätze, d.h. Kapital und Arbeit, bezog, erfuhr er mit der Wohl- fahrtsstaatsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie mit der Volkspartei- Werdung eine Weiterentwicklung. Nunmehr standen soziale Sicherung und gleiche Teilhaberechte nicht mehr allein für Arbeiter_innen im Vordergrund, sondern für alle Bürger_innen aus unterschiedlichen sozialen Milieus (Nachtwey 2009, S. 105f.; Stöss 1986, S. 2054; 2057). Auch wenn der Begriff ab den 1970er Jahren bis heute immer wieder umgedeutet wurde (Nachtwey 2009, S. 212), so blieb dessen ungeachtet weiterhin der soziale Hintergrund zentraler Bezugspunkt des Gerech- tigkeitsdenkens innerhalb der Partei. Aufgrund dieses Gerechtigkeitsbegriffs ist die Anknüpfung religiöser, kultureller oder ethnischer Bezüge nicht vorgesehen. Ent- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 89 sprechend konnten Maßnahmen, für welche diese Dimensionen konstitutiv sind, delegitimiert und abgelehnt werden. Ein weiterer innerparteilicher Faktor, der die Ausrichtung der Partei in dieser Phase unterstützte, ist die in den 1980er Jahren begonnene Professionalisierung der Partei. Nicht mehr allein die langfristige Mitgliederanwerbung und Wählerbindung stand im Vordergrund, sondern vielmehr kurzfristige Wählerkoalitionen gewannen an Bedeutung (Grabow 2000, S. 43). Vor dem Hintergrund beständig abnehmender Mitgliederzahlen und schlechter Wahlergebnisse40, die nicht für einen Regie- rungswechsel reichten, setzte sich Ende der 1990er Jahre innerparteilich die Ein- sicht durch, dass ein neuer Ansatz gesucht werden musste. Ganz gemäß der Profes- sionalisierungsthese nach Beyme und Panebianco (Beyme 1993; Panebianco 1988) konzentrierten sich die Aktivitäten der SPD-Parteispitze weniger auf die Mitglie- der, sondern vielmehr auf die Mobilisierung zusätzlicher Wähler_innen (Grabow 2000, S. 26). Unter Schröder und dem Bundesgeschäftsführer Matthias Machning wurde der Ansatz der „Netzwerkpartei“ vorangetrieben. Machning begründete die Notwendigkeit zur Entwicklung einer Netzwerkpartei wie folgt:

„Mit der Lösung von Milieubindungen, dem Verlust an Stammwählern und der Auflösung alter ideologischer Lager können Parteien alten Typs nicht mehr genügend Zustimmung mo- bilisieren. Sie müssen Kompetenzen aus allen gesellschaftlichen Gruppen zur Lösung ge- meinsamer Probleme zusammenführen, und immer wieder aufs Neue Wählerallianzen schmieden, die Mehrheiten für konkrete politische Vorhaben sicherstellen. Parteien müssen sich heute darauf einstellen, dass sie Unterstützung nicht länger bei Stammwählern abrufen können.“ (Machnig 2001, S. 138)

Eine Flexibilisierung der Wahlkampfkommunikation und eine verstärkte innerpar- teiliche Vernetzung, um die Einbindung von Nicht-Mitgliedern und die Bildung kurzfristiger Interessen- und Wählerkoalitionen zu ermöglichen (Alemann und Godewerth 2005, S. 162), war die Konsequenz aus dieser Milieuentwicklung. Da- bei wurde die Partei durch „ein professionelles Kampagnenmanagement, das The- men, Personen und Präsentationsformen gemäß der Medienlogik zu einer Einheit verbindet“ (Spier und Alemann 2013, S. 444), begleitet. Hiermit kann beispiels- weise erklärt werden, warum Schröder gezielt in türkischen Medien um die Stim- men der Türkeistämmigen warb. Diese Vorgehensweise ist Ausdruck einer Flexi- bilisierungsstrategie, nach der gezielt um die Gunst eines bestimmten Bevölke-

40 So lag die Mitgliederzahl ab 1995 unter 800.000 und reduzierte sich bis 1998 jährlich um 2 bis 3 Prozent. Des Weiteren konnte die SPD bei den Bundestagswahlen 1994 zwar wieder leicht zulegen, blieb jedoch mit einem Stimmenanteil von 36,4 Prozent hinter den Ergebnissen der 1970er mit über 40 Prozent zurück (Beyme 2010, S. 150f.).

90 | PARTEIEN UND MIGRANTEN rungsteils geworben werden sollte, ohne dabei unbedingt an eine langfristige Mit- gliederverankerung zu denken. Des Weiteren zielte Machnig insbesondere auf drei Wählergruppen ab, die von ihm als „neue Mitte“ definiert wurden (Heise 2012, S. 101; Machnig 2001, S. 140). Seiner Auffassung nach gab es die traditionell, materialistisch orientierte Gruppe der Arbeiter_innen und Angestellten aus der Unter- und Mittelschicht. Zweitens identifizierte er die Angehörigen des Aufsteigermilieus und der neuen Arbeitneh- mergruppen. Als dritte Gruppe sah er die postmaterialistisch orientierten Angehö- rigen der sozialen und kulturellen Berufe. Letztere waren nach seiner Auffassung für eine „faire Integration aller Gruppen“ in die Gesellschaft und standen für „kul- turelle Toleranz“ und „politischer Teilhabe in einer liberalen Atmosphäre“ (ebd.). Diese drei Gruppen gelte es „mit Dialogangeboten, Kampagnen und dauerhafter Anbindung“ anzusprechen und fallweise zu mobilisieren (ebd., S. 141). Hierzu passt auch die Wahlwerbung mit Migranten/Migrantinnen aus dem Kulturbereich.

4.5 VON 2009 BIS 2013: INTEGRATION, VIELFALT UND GLEICHBERECHTIGUNG IM SPANNUNGSFELD

Die fünfte Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Fragen der innerparteilichen Re- präsentation von Einwanderern/Einwanderinnen diskutiert und erstmals konkrete Maßnahmen beschlossen wurden. Auffällig ist dabei, dass in den Diskussionen ne- ben dem Begriff der „Integration“ vermehrt die Begriffe „Vielfalt“ und „gleichbe- rechtigte Teilhabe“ auftauchten. Gleichzeitig wurden mit den gleichen Begriffen verschiedene Ideen und Interessen verknüpft, was als ein Ausdruck des Kampfes um die Deutungshoheit im Bereich der parteipolitischen Inkorporation von Ein- wanderern/Einwanderinnen verstanden werden muss. Zunächst wird im Folgenden auf die Begriffsentwicklung im Kontext der innerparteilichen Diskussion einge- gangen, um dann in einem zweiten Schritt die kontrovers diskutierten Maßnahmen der Partei zu skizzieren. Zunächst zeigt sich in den Parteidokumenten, dass weiterhin der Integrations- anspruch propagiert wurde. Petar Drakul forderte, dessen Eltern als Arbeitskräfte aus dem damaligen Jugoslawien eingewandert waren41, auf dem Parteitag in Dres- den 2009 mehr Selbstbewusstsein beim Thema „‚Integration“ ein: „Die SPD ist ih- rem historischen Selbstverständnis nach Integrationspartei. [...] Deswegen sage ich

41 Vgl. biographische Angaben auf der persönlichen Homepage von Drakul (http://www. petar-drakul.de/index.php?mod=content&menu=7&page_id=19654, letzter Zugriff am 25.03.2013). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 91 noch einmal: Wir als Sozialdemokraten sollten ganz selbstbewusst sagen: Wir sind die Integrationspartei in Deutschland – [...] und ganz sicherlich nicht die CDU.“ (SPD Bundesparteitag 2009, S. 427) Mit den Worten „Integrationspartei“ und „historisches Selbstverständnis“ ver- sucht der Zitierte an die Wurzeln der Partei zu erinnern und deutet eine zunehmen- de Konkurrenz von Seiten der CDU an. Auch in der Namensgebung verschiedener innerparteilicher Initiativen blieb der Bezug zu diesem Begriff bestehen. Der SPD- Parteivorstand richtete 2010 den Arbeitskreis Migration und Integration unter Lei- tung von Kenan Kolat ein.42 Ferner wurde im selben Jahr die Zukunftswerkstatt: Integration als eine von sechs Arbeitsgruppen (SPD Parteivorstand 2010, S. 3), mit welchen die Partei sich organisatorisch wie inhaltlich neu aufstellen wollte (SPD Parteivorstand 2010, S. 4), ins Leben gerufen. Im Leitfaden dieser Werkstatt ist zu lesen:

„Integration heißt für uns, dass Menschen in unserem Land, unabhängig von ihrer Herkunft, am Haben und Sagen teilhaben können. Es geht uns dabei darum, den Blick nicht ausschließ- lich auf Menschen mit Migrationshintergrund zu richten. Integration ist in erster Linie eine soziale Frage.“ (SPD Parteivorstand 2010, S. 22)

Erneut wird an dieser Stelle Integration primär als soziale Integration verstanden. Auch einer der Werkstattleiter, Klaus Wowereit, eine Persönlichkeit im Bundes- parteivorstand und damaliger Oberbürgermeister von Berlin, schreibt in einer sei- ner Publikationen unter dem Titel „Mut zur Integration“: „Natürlich gibt es migra- tionsspezifische kulturelle Besonderheiten [...], aber die Lösung der Integrations- aspekte erfolgt im Wesentlichen über die Beantwortung sozialer Fragen. Die Lö- sung sozialer Fragen – das ist die Kernkompetenz der SPD.“ (Wowereit 2011, S. 83) Die Konzentrierung auf „soziale Fragen“ wird in Verbindung mit dem Integra- tionsbegriff gesetzt und als Kernkompetenz der Sozialdemokratie gesehen. Vor diesem Hintergrund spricht sich Wowereit auch gegen die Einführung einer festen Quotierung für Migranten/Migrantinnen bei der Besetzung von Parteiämtern aus, da nicht der Migrationshintergrund, sondern der soziale Hintergrund die relevante Größe bildet. Gleichermaßen ist erkennbar, dass der Integrationsbegriff innerhalb der Partei zunehmend abgelehnt wurde. Im Bundeswahlprogramm von 2013 heißt es: „Wir setzen uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein.

42 Vgl. Angaben von der Homepage der Bundestagsabgeordneten Mechthild Rawert (http://www.mechthild-rawert.de/inhalt/2010-07-06/fuer_echte_chancengleichheit_in_ politik_und_gesellschaft_spd_gru; letzter Zugriff am 03.02.2015).

92 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Integrationspolitik neu zu denken heißt letztendlich auch, den Begriff der Integra- tion zu überwinden [...].“ (SPD 2013, S. 58) Ein „gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt“ tritt nun an die Stelle der Integration. Die „alte“ Integrationspolitik wird somit nicht mehr mit einer gleichberechtigten Teilhabe in Verbindung gesetzt. Und auch im Gründungs- dokument der 2013 initiierten Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt ist zu le- sen:

„Wer es ernst meint, dass unsere Gesellschaft zusammenwachsen soll, wer wirklich [...] Teilhabe und Chancengleichheit für alle Mitglieder unserer Gesellschaft wünscht, der muss darauf hinaus, dass wir Worte wie Integration, Migranten oder Bildungsinländer perspekti- visch endlich überwinden lernen und aufhören diese wieder und wieder zu zementieren.“ (Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt 2013, S. 2)

Der Durchsetzung von Teilhabe, Chancengleichheit stehen nach dieser Aussage Begriffe wie „Integration“ sowie „Migranten oder Bildungsinländer“ im Weg. Des Weiteren ist erkennbar, dass diese Bezeichnung auch im Zusammenhang konkreter Maßnahmen, die die Stärkung der innerparteilichen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen zum Ziel hatten, verwendet wurde. Kenan Kolat äußerte sich in einer Presseerklärung der SPD wie folgt:

„Der Beschluss des SPD-Parteivorstandes, dass künftig 15 Prozent der Mitglieder in den Führungsgremien der Bundespartei einen Migrationshintergrund haben müssen, ist ein star- kes Signal für mehr Vielfalt in der SPD [...] In einer Zeit, in der Deutschland immer bunter und vielfältiger wird, brauchen wir dringend noch mehr Menschen mit Einwanderungsge- schichte in Führungspositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Diese Aufgabe müs- sen wir endlich ernsthaft und entschlossen anpacken. Es ist gut, dass die SPD dabei voran geht.“ (SPD 2011c)

Die Quotierung wird hier als ein „starkes Signal für mehr Vielfalt“ gesehen und mit der veränderten Bevölkerungszusammensetzung begründet („In einer Zeit, in der Deutschland immer bunter und vielfältiger wird“). Die Adjektive „bunt“ und „vielfältig“ werden indirekt mit der eingewanderten Bevölkerung gleichgesetzt, was vor dem Hintergrund des Repräsentationsgedankens die Notwendigkeit einer angemessenen innerparteilichen Widerspiegelung von Migranten/Migrantinnen begründet. Zum gleichen Thema kommt der Parteivorstand in einem Beschluss von 2011 zu folgendem Ergebnis:

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 93

„Als Partei gehen wir mit gutem Beispiel voran. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Weltanschauung in unserem Land zusammenleben, müssen wir vielfältiger werden, um Volkspartei zu bleiben. Wir eröffnen deshalb Menschen, die oder deren Vorfahren nach Deutschland eingewandert sind, bessere Chancen denn je, in unsere Partei einzusteigen und in ihr aufzusteigen. Die SPD setzt sich das Ziel, dass in allen Führungsgremien der Bundespartei zukünftig 15 Prozent der Mitglieder eine Migrationsge- schichte verfügen.“ (SPD Beschlüsse 2011, S. 217)

Vielfalt wird nunmehr als Voraussetzung für eine Volkspartei gesehen und als Be- gründung für eine Quotierung herangezogen. Während sich die „Vielfältigkeit“ zu Beginn noch auf unterschiedliche Dimension bezieht („Herkunft, Religion und Weltanschauung“), kommt es zu einer Gleichsetzung von Vielfalt und Migrations- hintergrund, wenn es um Fragen der innerparteilichen Repräsentation geht. Inso- fern zeigt sich hier, dass gezielte innerparteiliche Fördermaßnahmen von Migran- ten/Migrantinnen mit dem Vielfaltsbegriff legitimiert werden sollen. Weitere Bei- spiele für diese Verknüpfung lassen sich an anderer Stelle finden. Eine Veranstal- tung der Bundespartei im Jahr 2011 läuft unter der Überschrift „Für eine vielfältige SPD – mehr Migrantinnen und Migranten in Mandate“ (Michaelis 2011), was eine Gleichsetzung von Vielfalt, Migranten/Migrantinnen und Repräsentationsfragen bedeutet. Auch im Namen der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt, die als ein innerparteiliches Repräsentationsorgan von Migranten/Migrantinnen gelten kann43, ist diese Verknüpfung erkennbar. Neben dem Vielfaltsbegriff wird die innerparteiliche Repräsentation von Ein- wanderern/Einwanderinnen mit der gleichberechtigten Teilhabe begründet. Kenan Kolat sieht die Arbeitsgemeinschaft mit der „geistig traditionellen Ausrichtung der Sozialdemokratie“ in Einklang, die unter anderem das gleichberechtigte Zusam- menleben „gesellschaftlich ausgegrenzter und benachteiligter Bevölkerungsgrup- pen“ in den Mittelpunkt stelle (Kolat und Kolat 2010, S. 1). Auch in der Zielbe- schreibung der Integrationswerkstatt ist von einer interkulturellen Öffnung der SPD die Rede, die eine gleichberechtigte Teilhabe und Verwirklichung von Chan- cengleichheit auf „allen politischen Ebenen“ anvisiert (SPD Parteivorstand 2011, S. 24). Ebenso werden 2011 im Berliner Parteitagsbeschluss eben diese Gleichbe- rechtigung und Chancengleichheit genannt (SPD 2011b, S. 15). Bis zu dieser Stelle scheinen hinter den Begriffen „Integration“ und „Vielfalt“, bzw. „Gleichberechtigung“, unterschiedliche Intentionen zu stehen. Während mit dem Integrationsbegriff vor allem eine soziale Integration gemeint ist und somit

43 An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass die Arbeitsgemeinschaft offen ist für Migranten/Migrantinnen wie Nicht-Migranten/-Migrantinnen, so dass hier nicht aus- schließlich von einem Vertretungsorgan einer bestimmten Gruppe auszugehen ist.

94 | PARTEIEN UND MIGRANTEN gruppenspezifische Maßnahmen der parteipolitischen Inkorporation von Migran- ten/Migrantinnen abgelehnt werden, dient der Vielfalts- und Gleichberechtigungs- begriff als Legitimationsgrundlage für eine derartige Zielsetzung. Tatsächlich kommt es aber zu einer Vermengung unterschiedlicher Begrifflichkeiten, die Aus- druck der unauflöslich entgegensetzten Interessenslagen sind. Im Arbeitsprogramm des SPD-Vorstands heißt es zur Werkstatt Integration: „Auch die SPD selbst hat in Sachen ‚Integration‘ einen Erneuerungsbedarf. Sie ist nicht bunt, nicht vielfältig genug. Die gesellschaftliche Lebensrealität spiegelt sich nicht in unserer Partei, erst Recht nicht auf Führungsebene, wider.“ (SPD Parteivorstand 2011, S. 4) Integration und Vielfalt werden in einem Zusammenhang genannt. Sie werden nicht in einem Widerspruch gesehen, sondern bilden die Legitimationsbasis für die Forderung nach einer besseren Repräsentation der „gesellschaftlichen Lebensreali- tät“ innerhalb der Parteiführungsebene. Unklar bleibt jedoch an dieser Stelle, auf welche Art und Weise diese Forderung eingelöst werden soll. Ferner ist in einem Beschluss des Bundesparteitags von 2011 zu lesen:

„Herkunft darf kein Schicksal sein – das ist der Anspruch der SPD seit ihrer Gründung. [...] Damit geht einher, dass wir kulturelle Vielfalt als eine wichtige Ressource unseres Landes anerkennen und fördern. Deutschland ist eine multikulturelle, vielfältige Gesellschaft, in der Integration millionenfach gelungen ist. [...] Für die deutsche Sozialdemokratie ist klar: In- tegration ist vor allem eine soziale Frage.“ (SPD 2011b, S. 1)

Bekenntnisse zur „multikulturellen Gesellschaft“ sowie einer angeblich „millio- nenfach gelungenen“ Integration, die im Sinne einer sozialen Integration zu verste- hen ist, stehen hier nebeneinander und werden mit der Idee der kulturellen Vielfalt als Ressource verknüpft. Auch in einem Beschluss des Parteivorstands von 2011 ist die Rede von der kulturellen Vielfalt als Reichtum, welche es anzuerkennen und zu fördern gelte, um Gleichberechtigung und Selbstbestimmung zu erreichen (SPD 2011a, S. 1). Dieser Förderungslogik folgt auch Wowereit auf dem Bundespartei- tag 2011:

„Potentiale zu entdecken, Talente zu fördern, um individuell Perspektiven zu schaffen, Leis- tung zu ermöglichen und diese zum Wohle der Gesellschaft einbringen zu können – das ist sozialdemokratische Politik. Unser Anliegen ist daher eine Politik der individuellen Förde- rung.“ (SPD Parteivorstand 2011, S. 4)

Das Schaffen von „individuellen Perspektiven“ sowie die Ermöglichung von „Leistung“ sind Ziele einer „sozialdemokratischen Politik“. Individuelle Förderung spricht somit gegen kollektive innerparteiliche Fördermaßnahmen für Migran- ten/Migrantinnen. Nicht die Gruppe der Eingewanderten, sondern der einzelne Migrant oder die einzelne Migrantin muss demnach gefördert werden. Entspre- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 95 chend spricht sich Wowereit für die individuelle Ansprache und Förderung einzel- ner Persönlichkeiten mit Einwanderungsgeschichte innerhalb der Partei aus, anstatt eine Quote für Migranten/Migrantinnen zu fordern (SPDvision 2010). Ebenso in der Außendarstellung der Partei spiegelt sich diese Förderungslogik wider. In der Mitgliederzeitschrift Vorwärts wurden 2013 drei ausgewählte Bundestagskandida- ten/-kandidatinnen mit Migrationshintergrund unter dem Titel „Neue deutsche Vielfalt“ vorgestellt. Abgebildet ist Dr. , der aus dem Senegal als Student in die damalige DDR migrierte, 2008 in die SPD eintrat und vom Stadtrat zum Bundestagskandidaten avancierte. Macit Karahmetoglu kam wiederum im Kindesalter aus der Türkei nach Deutschland und schaffte den Bildungsaufstieg von der Hauptschule bis zum Rechtsanwalt. , die gebürtige Berli- nerin und Tochter türkischer Eltern, ist Bildungsaufsteigerin und kam als Gewerk- schafterin zur SPD. Neben dem Migrationshintergrund werden hier die Lebensleis- tung sowie der soziale Aufstieg durch individuelle Förderung betont (Doering 2013, S. 28f.). Somit wird deutlich, dass mit der Verknüpfung des Vielfaltbegriffs mit unter- schiedlichen Begrifflichkeiten und Ideen gegensätzliche Interessenslagen bezüg- lich der parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen legiti- miert wurden. Entsprechend blieben verschiedene Positionen innerhalb der Partei bestehen oder wurden allenfalls rhetorisch überdeckt. Es gilt festzuhalten, dass im Gegensatz zur vorherigen Phase, in der das Primat ausschließlich auf einer indivi- duellen und sozialen Integration von Migranten/Migrantinnen lag, nunmehr der Vielfaltsbegriff jenen Vertretern/Vertreterinnen einen Argumentationsspielraum gab, um die bereits Anfang der 1990er Jahre entwickelten gruppenspezifische Maßnahmen und Forderungen erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Interessenlagen reagierte die SPD-Führungsspitze mal zögerlich, mal unterstützend, mal verweigernd auf Forde- rungen nach bestimmten Maßnahmen der parteipolitischen Inkorporation von Mig- ranten/Migrantinnen. Zunächst wurde eine Arbeitsgemeinschaft für Eingewanderte nicht befürwortet. Vielmehr versuchte man 2010 mit der Gründung des bereits ge- nannten Arbeitskreises für Migration und Integration auf Parteivorstandsebene, den Befürwortern/Befürworterinnen einen Kompromiss vorzuschlagen. Erst als auf dem Bundesparteitag 2011 nicht nur Migranten/Migrantinnen, sondern auch Ho- mosexuelle und Menschen mit Behinderung jeweils eine eigenständige Arbeitsge- meinschaft forderten, musste sich der Parteivorstand neu positionieren. Die SPD- Generalsekretärin äußerte sich grundsätzlich skeptisch gegenüber jedweder Einrichtung neuer Arbeitsgemeinschaften innerhalb der SPD:

96 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Es geht hier um die Frage, ob wir tatsächlich dem schrumpfenden hauptamtlichen Apparat unserer Partei [–] dadurch, dass wir hier eine Arbeitsgemeinschaft zusätzlich anerkennen[,] es wird dann nicht bei den Schwusos bleiben; mit Verlaub, mit welcher Begründung sollte ich dann ‚Selbst aktiv‘ oder dem Arbeitskreis Migranten das verwehren; ich wüsste jeden- falls gar nicht, wie ich das machen sollte [–], die Betreuung von mittlerweile zwölf Arbeits- gemeinschaften aufbürden.“ (SPD Bundesparteitag 2011, S. 178)

Angesichts der Forderungen verschiedener Gruppen nach einer eigenständigen Ar- beitsgemeinschaft ist nicht mehr wie in den 1990er Jahren von einer Zersplitterung der SPD die Rede, sondern von einer „Überforderung“ der Partei44. Nahles spricht hier einen Gleichberechtigungsanspruch zwischen verschiedenen innerparteilichen Gruppen an, mit dem sie ihre eigene Position stützen will. Umgekehrt legitimiert dieser Anspruch, im Falle einer Zustimmung für die Schwusos45, automatisch die Durchsetzung einer Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen. Als die Schwusos eine Aufwertung zu einer Arbeitsgemeinschaft mit einer Mehrheit auf dem Parteitag tatsächlich durchsetzen konnten, blieb dem Parteivorstand nichts an- deres übrig, als auch die Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen zu un- terstützen (ebd., S. 182). Ebenso im Hinblick auf die Einführung einer „Migrantenquote“ bei der Beset- zung von Parteiämtern zögerte der Parteivorstand zunächst. 2011 setzte der Partei- vorsitzende eine Selbstverpflichtung von 15 Prozent für die Füh- rungsgremien der Partei durch. Ferner wurden die unteren Parteigliederungen dazu aufgefordert, „dieses Ziel bei der Besetzung der jeweiligen Führungsgremien der Partei und bei der Kandidatenaufstellung für Wahlen von kommunaler bis bundes- politischer Ebene umzusetzen“ (SPD 2011a, S. 5). Somit hatte die Selbstverpflich- tung, im Gegensatz zu einer festen Quotenregelung, Empfehlungscharakter und war für die Parteigliederungen nicht bindend. Dieser Empfehlungscharakter zeigte sich auch in Bezug auf die Ernennung einer/eines ersten Ministers/Ministerin mit Migrationshintergrund. Gabriel gab auf dem Bundestag 2010 zu Protokoll:

44 Ein involviertes Parteimitglied äußerte im Interview, dass parteiintern zudem argumen- tiert worden sei, dass eine Gründung eine Umverteilung der Ressourcen von anderen Arbeitsgemeinschaften nach sich ziehen würde (Interview mit R). 45 Zusammenschluss der „Lesben und Schwule in der SPD“ (vgl. http://www.spd.de/spd_ organisationen/schwusos/.; letzter Zugriff am 24.02.2012). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 97

„Dem Landesverband, der als erster eine Migrantin oder einen Migranten für ein ganz nor- males Ministerium aufstellt [...] Wenn Ihr das macht, dann zahlen wir hinterher die Wahlfe- te, wenn Ihr die auch ins Kabinett geschafft habt, liebe Genossinnen und Genossen. Da müs- sen wir jetzt ran. Das ist unsere Aufgabe. Wir müssen ihnen bei uns auch richtig zeigen, dass sie dabei sind.“ (SPD Bundesparteitag 2010, S. 42)

Erneut fordert er die Landesverbände zu einer Ernennung auf und versucht Anreize dafür zu schaffen, ohne sie dabei direkt zu verpflichten. Mit der Nominierung von Bilkay Öney zur ersten sozialdemokratischen Ministerin mit Migrationshinter- grund in Baden-Württemberg im Mai 2011 sowie der Ernennung von Dilek Kolat zur ersten Senatorin mit Einwanderungsgeschichte von Berlin Ende 2011 folgten einzelne Landesverbände dieser Aufforderung, während eine Quotierung von Mi- nisterämtern und der Kandidatenlisten im Untersuchungszeitraum nicht zur Debat- te stand. Schließlich zeigt sich in der fünften Phase, dass die Ansprache und Mitglieder- gewinnung von Migranten/Migrantinnen nunmehr explizit als Bedingung für er- folgreiche Wahlen genannt wurden. Der neu designierte Parteivorsitzende Gabriel äußerte auf dem Bundesparteitag 2009:

„Die Ersten, die wir ansprechen müssen, sind die Migrantinnen und Migranten, die Auslän- derinnen und Ausländer [...]. Die brauchen wir zu allererst in der SPD. [...]. Lasst uns die einladen, lasst uns die wählen. [...] Dann gehören die mittenrein in die SPD, und dann wer- den wir bei denen übrigens auch mehr Verständnis und bessere Wahlergebnisse haben, liebe Genossinnen und Genossen.“ (SPD Bundesparteitag 2009, S. 194)

Hier wird eine erfolgreiche Inkorporation von Migranten/Migrantinnen in die Par- tei als Voraussetzung für mehr Verständnis und Wählerstimmen von Seiten der Migranten/Migrantinnen gesehen. Auch in der Begründung der 2013 neu gegrün- deten Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt heißt es:

„Bei den Bundestagswahlen 2009 haben sich fast 6 Mio. Wählerinnen und Wähler mit einem Migrationshintergrund beteiligen dürfen und die Zahl dieser Wählergruppe [...] steigt von Tag zu Tag. Die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt ist deshalb ein wichtiger Baustein für die [...] Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie in der Zukunft.“ (Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt 2013, S. 2)

An dieser Stelle werden Organisationsreformen, die auf eine Stärkung der inner- parteilichen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen abzielen, mit dem wach- senden Wahlpotential der eingewanderten Bevölkerung begründet. Ferner wurden im Bundestagswahlkampf 2013 eine Zusammenfassung des Regierungsprogramms

98 | PARTEIEN UND MIGRANTEN auf Arabisch, Englisch, Polnisch, Russisch, Serbisch und Türkisch unter dem Titel „Das Wir entscheidet – gute Gründe für die SPD“ online gestellt.46 Gleichwohl zeigt sich, dass eine Anwerbung von migrantischen Mitgliedern in dieser Phase nicht erkennbar ist. Allenfalls implizit wird bisher dafür geworben. Die Mitglieder-Kampagne „Mach Dich stark: Werde Mitglied der SPD“ (SPD 2012a) von 2012 zeigt auf einem Plakat drei Mitglieder der SPD. Darunter sind zwei Frauen und ein Mann. Sie tragen jeweils ein T-Shirt mit der gleich beginnen- den Aufschrift „Ich bin das…“. Auf dem Shirt der ersten Frau wird der Satz ver- vollständigt mit „… S in Soziale Gerechtigkeit“, bei der zweiten Frau mit „…P in neue Perspektiven“ und bei dem männlichen Mitglied mit „… D in Demokratie le- ben“. Der Frau mit dem P auf dem T-Shirt wird der Name Canan B. zugeordnet. Jegliche direkte Verweise auf ihre Herkunft fehlen, so dass allenfalls implizit auf- grund ihres Namens von einem Migrationshintergrund ausgegangen werden kann. Stattdessen entsteht der Eindruck, dass einzelne Individuen als SPD Mitglieder vorgestellt werden, die unterschiedliche Charakteristika aufweisen und für ver- schiedene inhaltliche Positionen der SPD eintreten. Canan B. kann somit als Mig- rantin und/oder als junge Frau gesehen werden, die für die „Zukunft“ der Partei symbolhaft steht.

4.5.1 Anschlussfähigkeit der Vielfaltsrhetorik an innerparteiliche Kontroversen

Das Aufkommen der Vielfaltsrhetorik in der fünften Phase, das die Debatte über parteipolitische Inkorporationsprozesse prägt, lässt sich zum einen durch die ver- mehrte öffentliche Diskussion über die Förderung von Vielfalt erklären. Zum ande- ren ist es die Ambiguität des Begriffs selbst, die eine Anschlussfähigkeit an inner- parteiliche Debatten erlaubt. Mit dem Beginn der schwarz-roten Koalition 2005, unter Führung der konser- vativen Bundeskanzlerin Angela Merkel, setzte die Bundesregierung vermehrt auf eine Wertschätzung der kulturellen Vielfalt Deutschlands. Unter Merkel und Staatsministerin Böhmer wurde die „Charta der Vielfalt“ initiiert, in der sich für eine Offenheit gegenüber Vielfalt in Unternehmen ausgesprochen wurde (Bühr- mann 2015). Zum einen kann darin eine Reaktion auf das zur gleichen Zeit in Kraft getretene Antidiskriminierungsgesetz bzw. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)47, das auch für Unternehmen gilt, gesehen werden (ebd.). Zum anderen

46 Vgl. http://www.spd.de/95466/regierungsprogramm_2013_2017.html; letzter Zugriff am 13.04.2014. 47 Laut AGG ist das Ziel „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethni- schen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung,

DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 99 sollte damit der Internationalisierung des Wettbewerbs Rechnung getragen werden, nach der die kulturelle Vielfalt zur wichtigen Ressource für Unternehmen wird (Schönwälder 2013b, S. 217). Darüber hinaus beschränkte sich das Unterzeichner- feld der Charta über die Jahre nicht mehr allein auf Unternehmen, sondern auch auf Vereine, Bildungs- und Forschungseinrichtungen (Bührmann 2015). Schließ- lich initiierte die Bundesregierung 2007 die Kampagne „Vielfalt als Chance“, in deren Rahmen Unternehmen und öffentliche Einrichtungen ausgezeichnet werden sollten, die sich für die kulturelle Vielfalt in der Ausbildung stark machten48. Auch hier wurde Vielfalt als eine Chance und Ressource im globalen Konkurrenzkampf der Unternehmen dargestellt. Doch nicht die Verbreitung des Begriffs allein sorgte dafür, dass dieser unter anderem innerhalb der SPD vermehrt verwendet wurde, sondern auch seine unge- naue Definition. Im Zusammenhang dieser unklaren inhaltlichen Begriffsbestim- mung stellen Vertovec und Wessendorf fest: „Behind many emergent ‚diversity‘ policies there is the idea that, rather than treating members of ethnic minorities as ever-representative of bounded collectives, institutions should recognize cultural difference as an individual trait.“ (Vertovec und Wessendorf 2009, S. 27f.) Durch die Anerkennung kultureller Unterschiede auf Basis individueller und nicht gruppenspezifische Eigenschaften kann unter Vielfaltspolitik eine Integration auf individueller Ebene verstanden werden. Auch Faist geht bei dem Vielfaltsbe- griff davon aus, dass die Anerkennung und Nutzung individueller Ressourcen im Vordergrund steht (Faist 2009, S. 175). Analog führen Thomas und Ely in diesem Zusammenhang das Access-and-Legitimacy-Paradigma an, nach dem insbesondere Unternehmen Vielfalt im Sinne von individuellen Unterschieden als Ressource im internationalen Wettbewerb anerkennen (Thomas und Ely 1996). Somit konnten sich die Gegner_innen gruppenspezifischer Maßnahmen innerhalb der SPD mit der Verwendung des Vielfaltsbegriffs in ihrer Haltung bestätigt sehen. Gleichzeitig betonen Vertovec und Wessendorf eine Ambiguität und Mehrdeu- tigkeit des Vielfaltsbegriffs. Ihrer Auffassung nach sind die Begriffe Vielfalt und Multikulturalismus austauschbar (Vertovec und Wessendorf 2009, S. 28). Entspre- chend werden Forderungen nach gruppenspezifischen Rechten für Migranten/ Migrantinnen unter den Vielfaltsbegriffs gefasst. Zudem führt Vertovec aus, dass mit dem Vielfaltbegriff auf die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Heterogeni- tät in den Organisationen abgezielt wird: „This facet of ‚diversity‘ can be charac-

des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ (Bundestag 14.06.2006, § 1) 48 Vgl. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/IB/Artikel/Newsletter/2007- 10-31-ib-newsletter-oktober-2007-vielfalt-als-chance.html; letzter Zugriff am 13.03. 2014.

100 | PARTEIEN UND MIGRANTEN terized as a politics of presence. Here the goal is to create an institution – [...] that looks like the population it serves. This may include the use of monitoring or quo- tas.“ (Vertovec 2012, S. 298) Demnach können auch Quoten mit dem Anspruch einer angemessenen Reprä- sentation von bestimmten Bevölkerungsgruppen unter dem „Vielfaltskonzept“ le- gitimiert werden. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum auch Befürwor- ter_innen von gruppenspezifischen Maßnahmen im Hinblick auf einer parteipoliti- schen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen sich des Vielfaltsbegriffes be- dienten. Somit eignete sich das Wort „Vielfalt“ dazu, verschiedene Positionen, die sich über die Jahrzehnte im Hinblick auf die parteipolitische Inkorporation von Migran- ten/Migrantinnen ausgebildet hatten, unter einen rhetorischen Deckmantel zu pa- cken, ohne dabei eine offene Kontroverse zu riskieren. Somit bildete der Vielfalt- begriff allenfalls eine Plattform, von der aus verschiedene Positionen legitimiert werden konnten.

4.5.2 Wahlniederlage, innerparteiliche Kontroverse und Basismobilisierung

Fünf Faktoren lassen sich anführen, die das Durchsetzen der genannten Maßnah- men im Bereich der politischen Repräsentation und Teilhabe von Migranten/ Migrantinnen erklären können. Erstens kommt es zu einer einschneidenden Wahl- niederlage für die SPD bei der Bundestagswahl im Jahr 2009. Zweitens ist damit ein innerparteilicher Führungswechsel verbunden. Drittens wirbt die CDU ver- stärkt um die Wählergunst der Migranten/Migrantinnen. Viertens kommt es zu ei- ner innerparteilichen Kontroverse um den Ausschluss des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin. Und fünftens bildet sich eine ad-hoc Koalition an der Parteibasis für eine Arbeitsgemeinschaft für Migranten/Migrantinnen. Zum ersten Punkt lässt sich festhalten, dass die SPD bei den Bundeswahlen 2009 auf 23 Prozent der Wahlstimmen kam, was einem Anteil von 16,1 Prozent al- ler Wahlberechtigten entsprach (Matuschek und Güllner 2011, S. 224). Während die Sozialdemokraten bei den gewonnen Wahlen 1998 rund zwanzig Millionen Wähler_innen für sich gewinnen konnten, waren es 2009 rund die Hälfte (Spier und Alemann 2013, S. 459). Angesichts einer derartigen, historischen Wahlnieder- lage kann davon ausgegangen werden, dass es zu einer Neubewertung der Situati- on sowie zur Evaluierung der bisherigen Politik innerhalb der SPD kam. Mit der Wahlniederlage kam es ferner zu Veränderungen bei der Besetzung des Parteivorstands. Kurz nach dem schlechten Wahlausgang trat der bisherige Partei- vorsitzende Müntefering zurück, der durch den ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Bundesumweltminister der vorherigen großen Koalition, Gabriel, abgelöst wurde. Gabriel war laut Aussagen verschiede- DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 101 ner Persönlichkeiten innerhalb der Partei, die ihn kannten oder mit ihm arbeiteten, gegenüber Anliegen der Migranten/Migrantinnen offen (Interviews mit N; R).49 Darüber hinaus rückte Wowereit in den Parteivorstand, der sich auf Länderebene gegenüber den Interessen von Migranten/Migrantinnen sensibel zeigte. Von dieser Offenheit zeugt auch sein 2011 veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Mut zur In- tegration. Für ein neues Miteinander“ (Wowereit 2011), in dem er sich mit der In- tegration von Einwanderern/Einwanderinnen aus gesamtgesellschaftlicher Perspek- tive auseinandersetzt. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der ehemalige konservative Koaliti- onspartner CDU die Wahlen gewonnen hatte und sich vermehrt gegenüber Migran- ten/Migrantinnen zu öffnen versuchte. Böhmer äußerte sich beim Treffen von CDU-Bundestagsabgeordneten noch kurz vor den Wahlen im September 2009 wie folgt: „Die CDU möchte, dass sich noch mehr Migrantinnen und Migranten in der Union politisch engagieren! Sie, die schon Mandate oder Parteiämter wahrnehmen, sind dabei besonders wichtig!“ (Böhmer 01.09.2009, S. 1) Böhmer benennt eine Öffnung der Partei gegenüber Migranten/Migrantinnen im Zusammenhang der Nutzung von Vielfalt als Chance. Zudem setzten die Christdemokraten 2010 als erste Partei eine Person mit türkischem Migrationshin- tergrund, Aygül Özkan, für einen Ministerposten auf Landesebene durch und „überrumpelten“ damit die SPD (Kösemen 2014, S. 227). Der Druck auf die SPD stieg auf diese Weise, sich wieder verstärkt um die Frage der parteipolitischen In- korporation von Migranten/Migrantinnen zu kümmern. Ein weiterer wichtiger Grund bildete die Diskussion um den Parteiausschluss von Sarrazin. Im Jahr 2010 veröffentlichte das SPD-Mitglied und der ehemalige Finanzsenator das Buch „Deutschland schafft sich ab“, welches sich bereits nach einem Vierteljahr über 1,3 Millionen Mal verkauft hatte (Bade 2012, S. 119). Dieses handelt von der fehlenden Integrationsfähigkeit und -willigkeit der in Deutschland lebenden Muslime/Musliminnen und begründete diese mit einer an- geblich mangelnden Intelligenz „die sich innerhalb der anwesenden und demogra- phisch stark wachsenden muslimischen Zuwandererbevölkerung expansiv vererbt und deswegen Deutschland ‚immer dümmer‘ mache.“ (ebd., S. 122). Hierdurch wurde eine medial als auch wissenschaftlich vermittelte öffentliche Kontroverse50 zwischen Verfechtern/Verfechterinnen und Gegnern/Gegnerinnen Sarrazins The- sen ausgelöst, die sich auch innerhalb der SPD widerspiegelte. Die Führungsspitze

49 So verweist eine interviewte Persönlichkeit in diesem Zusammenhang auf Gabriels frühere Ehe mit Munise Demirel, einer türkischstämmigen Frau. 50 Vgl. hierzu beispielsweise die Veröffentlichung „Zur Sache Sarrazin“, in der es unter- schiedliche Beiträge aus Wissenschaft und Medien gibt (Broder 2010).

102 | PARTEIEN UND MIGRANTEN strengte ein Parteiausschlussverfahren51 an. Ein Parteiausschluss wurde im April 2011 abgelehnt (Medick 22.04.2011).52 Nach Kösemen war eine „öffentliche Ent- weder-oder-Entscheidung“ besonders schwierig, da die SPD als Volkspartei, wie im Fall Sarrazin, zwischen Interessen verschiedener Wahlgruppen abwägen musste (Kösemen 2014, S. 232). Zum einen galt es die Sympathisanten/Sympathisan- tinnen und Unterstützer_innen von Sarrazin53 und zum anderen die Gegner_innen, worunter insbesondere Migranten/Migrantinnen waren, zufrieden zu stellen. Somit stand die Parteiführung vor einer schwer lösbaren Aufgabe. Angesichts der Ent- scheidung gegen einen Ausschluss galt es nunmehr eine „Kompensation“ (ebd.) zu finden, zumal bereits einige Mitglieder öffentlich wirksam den Entschluss ihrer Spitze kritisierten und Austritte zumindest partiell spürbar waren.54 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass Gabriel die Gelegenheit nutzte, um für eine innerparteiliche Quote für Migranten/Migrantinnen zu werben. Auf diese Weise konnte er ein Zeichen des guten Willens setzen. Der Spiegel berichte- te, dass Gabriel die Selbstverpflichtung mit persönlichem Einsatz in einer Partei- vorstandssitzung im April 2011 durchgesetzt habe, um den Migranten/Migran- tinnen innerhalb der Partei entgegenzukommen (Medick 09.05.2011). Auch ein in

51 Bereits 2009 scheiterte ein Parteiausschlussverfahren, als sich Sarrazin in einem Inter- view des Lettre International negativ über die „Produktivität“ von „Arabern“ und „Tür- ken“ in Berlin äußerte und eine Empörungswelle innerhalb der SPD auslöste. So be- zeichnete der Berliner SPD-Abgeordnete Raed Saleh laut eines Berichts der Tageszei- tung Sarrazinsʼ Aussagen als „rassistisch, sozialdarwinistisch und menschenverachtend“ (Tageszeitung 14.09.2009). 52 Laut einer Bevölkerungsbefragung von 2006 hatten nur 36 Prozent ein positives Bild von Muslimen/Musliminnen, so dass sich Politiker_innen generell schwierig mit einer klaren Positionierung gegenüber dem Islam taten (Schönwälder 2010b, S. 158). 53 So stießen die Thesen Sarrazins innerhalb der sozialdemokratischen Wählerklientel auf mehrheitliche Zustimmung. Es stimmten laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen von 2010 eine Mehrheit der SPD-Anhänger_innen den Thesen zu (vgl. For- schungsgruppe Wahlen- Politikbarometer September 2010: http://www.forschungs- gruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2010/September_I/; letzter Zugriff am 14.04.2015). Zudem machte sich laut eines Spiegel-Berichts in Teilen der Parteibasis ein deutlicher Widerstand gegen den Ausschluss bemerkbar (Alwin 03.09. 2010). 54 So verließ beispielsweise laut eines Spiegel-Berichts der Vorsitzende des jüdischen Ar- beitskreises der SPD, Sergey Lagodinsky, die Partei. Kenan Kolat sowie der ehemalige Landesvorsitzende der Berliner SPD, Michael Müller, äußerten sich enttäuscht über den Ausgang des Verfahrens (Reimann 26.04.2011). Darüber hinaus berichtete die Tageszei- tung von einer Austrittswelle innerhalb der Berliner SPD (Bergt 28.04.2011). DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 103 den Verhandlungen involvierter Akteur bestätigt im Interview diesen Zusammen- hang (R). Schließlich war es die Mobilisierung auf der Ebene der Parteibasis (party on the ground), die dafür sorgte, dass die Arbeitsgemeinschaft durchgesetzt wurde. Zunächst kann in diesem Zusammenhang grundsätzlich angeführt werden, dass ein Parteitag innerhalb der SPD ein Ort der demokratischen Willensbildung ist, bei dem die Delegierten Vorfeldabsprachen der Führungsspitze ändern können (Lö- sche und Walter 1992, S. 212ff.). Insofern ist es nicht ungewöhnlich, dass sich un- ter bestimmten Gegebenheiten die Durchsetzung des Mehrheitswillens der Basis vollzieht. Des Weiteren muss die Rolle der parteiinternen Koalitionsbildung her- vorgehoben werden. So versuchten, wie beschrieben, unterschiedliche Gruppie- rungen zum gleichen Zeitpunkt jeweils die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft durchzusetzen. Somit bot sich die Gelegenheit einer Solidarisierung zwischen den verschiedenen Gruppen, um für eine Mehrheit unter den Delegierten zu sorgen. Nach Walter und Lösche bilden, wie bereits unter 2.1.2 ausgeführt, sich innerhalb Parteien sogenannte ad-hoc-Koalitionen, die sich kurzfristig zusammenschließen, um bestimmte Konflikte anzusprechen und damit verbundene Interessen durchzu- setzen. Die Art und Weise wie die Arbeitsgemeinschaft der Migranten/Migran- tinnen letztlich durchgesetzt wurde, deutet darauf hin, dass es eine solche ad-hoc- Koalition zwischen Menschen mit Migrationshintergrund, Schwusos und den Ver- tretern/Vertreterinnen der „Selbst aktiv“-Gruppe gegeben haben muss.

4.6 ZWISCHENRESÜMEE

Insgesamt hat sich für die SPD gezeigt, dass es über die Zeit zu einer verstärkten parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen kam. Ab den 1970er Jahren gab es vereinzelte Initiativen, die zumeist die Mitgliederanwerbung von Migranten/Migrantinnen zum Ziel hatten. Dabei wurde überwiegend für diese und nicht mit dieser Zielgruppe gesprochen. Die Situation änderte sich ab Ende der 1980er Jahre. Nunmehr beteiligten sich Einwanderer/Einwanderinnen immer mehr an diesen Diskussionen und verlangten eine angemessene Repräsentation. Die Par- teiführungsebene richtete vermehrt ihre Wahlkampagnen auf diese neue Zielgrup- pe aus und öffnete sich auch zunehmend gegenüber Fragen der politischen Reprä- sentation, wenngleich die wenigen durchgesetzten Maßnahmen dafür sprechen, wie umstritten die gezielte parteipolitische Inkorporation von Migranten/Migran- tinnen bis heute bleibt. Dabei zeigte sich, dass der politisch-kulturelle Kontext als ein wichtiger Erklä- rungsfaktor für diese Wandlungsprozesse gesehen werden kann. Es war das Zu- sammenspiel aus zeitlich versetzten Einwanderungsbewegungen, den damit ein- hergehenden politischen und sozialen Herausforderungen, den Reaktionen der poli-

104 | PARTEIEN UND MIGRANTEN tischen Wettbewerber und den damit verbundenen Aushandlungsprozessen und entwickelten politisch-rechtlichen Maßnahmen, die die Diskussionsprozesse sowie die Durchsetzung von Maßnahmen innerhalb der SPD prägten. Es wurde in der vorliegenden Analyse deutlich, dass die relativ kurzen Phasen einer öffentlichen wie innerparteilichen Thematisierung erster Integrationsansätze vor den 1990er Jahren zu einer SPD-internen Problematisierung der parteipolitischen Inkorporati- on von Migranten/Migrantinnen beitrugen. Gleichzeitig waren es die Kurzweilig- keit und der fehlende politische Wille zu einer langfristigen Integrationspolitik, die weitergehenden Diskussionen und der Durchsetzung von Maßnahmen entgegen wirkten. Ab Ende der 1980er Jahre zeigte sich, dass sich mit dem liberaleren Einbürge- rungsrecht und den erhöhten Einbürgerungsraten die Konfigurationen des Partei- enwettbewerbs veränderten, da die einstigen Ausländer_innen nunmehr als Einge- bürgerte über das aktive und passive Wahlrecht verfügten und Wahlen beeinflus- sen konnten. Ferner hatte die Idee der Vertretung von Migranten/Migrantinnen durch Migranten/Migrantinnen aufgrund der multikulturellen Debatte an Bedeu- tung gewonnen. Der Umgang mit Einwanderern/Einwanderinnen war nicht mehr allein eine Frage der politisch-inhaltlichen Ausrichtung, sondern betraf nun die SPD als Rekrutierungsorgan von politischem Personal und Vermittlungs- und Inte- ressenvertretungsinstanz. Zudem stieg die Konkurrenz zwischen SPD und den Konservativen um die Stimmen der Migranten/Migrantinnen. Wahlsieg und Wahl- niederlagen bekamen vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen eine andere Be- deutung, da Migranten/Migrantinnen als ansprechbare Subjekte Gegenstand des politischen Wettbewerbs wurden. Gleichmaßen zeigte sich auch, dass diese Umwelteinflüsse nicht unvermittelt das Handeln der SPD beeinflussten, sondern vielmehr durch innerparteiliche Fak- toren beeinflusst wurden. Vier Haupterkenntnisse lassen sich in diesem Zusam- menhang herausarbeiten. Erstens konnte ich feststellen, dass grundlegende Zielsetzungen der Partei, die Art und Weise der parteipolitischen Inkorporation beeinflussen. Die historisch ver- ankerte Zielvorstellung und Ausprägung der SPD als Massenmitgliederpartei be- rührte auch Fragen der parteipolitischen Eingliederung von Einwanderern/Einwan- derinnen. Die zentrale Bedeutung der Mitglieder für die Partei führte schon früh dazu, dass eine politische Integration der migrantischen Bevölkerung primär über deren Parteienbeitritt definiert wurde. Dies ändert sich erst ab den 1990er Jahren als sich die SPD zunehmend professionalisierte und die Wahlstimmenmaximierung verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet. Umso mehr reagierte die SPD auf gestiegene Einbürgerungszahlen der Migranten/Migrantinnen und richtete ent- sprechend ihre Wahlstrategien neu aus. Zweitens muss die Heterogenität der innerparteilichen Akteure und Ziele sowie deren Gewicht in den innerparteilichen Aushandlungsprozessen berücksichtigt DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS | 105 werden. Bis in die 1980er Jahre zeigte sich, dass die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen vor allem von einer linken Minderheit, d.h. insbesondere den Jusos, und nicht von einer innerparteilichen Mehrheit gefordert wurde. Da die ideologischen Gräben zwischen den Flügeln sehr groß waren, war eine Übereinkunft auch in Fragen der Arbeitsmigranten/-migrantinnen nur schwer durchsetzbar, zumal die ausländerfeindliche Einstellung in Teilen der Partei nicht zu übersehen war. Vor diesem Hintergrund blieben die Forderungen nach einer stärkeren Anwerbung von ausländischen Mitgliedern auf den Parteitagen ungehört bzw. führten nicht zu konkreten Maßnahmen. Erst eine Abschwächung dieser Flü- gelgegensätze legte den Grundstein für eine Kompromissbildung Anfang der 1990er Jahren, die sich beispielsweise in der Zustimmung zum Asylkompromiss und in der als „Gegenleistung“ ausgehandelten forcierten Integrationspolitik wi- derspiegelte. Ebenso die ad-hoc-Koalitionsbildung zur Gründung einer Arbeitsge- meinschaft für Migranten/Migrantinnen kann unter diesem Aspekt gesehen wer- den, da flügel- und gruppenübergreifend für eine strukturelle Reform innerhalb der Partei gestimmt wurde. Ferner muss auch die Bedeutung des Parteivorstands (party in central office) gesehen werden, von dem Wandlungsresistenzen als auch Wand- lungsimpulse ausgingen. Die aufgezeigte Dualität zwischen Schmidt und Brandt blockierte eher Öffnungsprozesse gegenüber neuen Bevölkerungsgruppen. Der veränderte Führungswechsel bzw. Generationenwechsel im Parteivorstand Anfang der 1990er Jahre und 2009, eröffnete wiederum neuen Spielraum für alte Initiati- ven und Maßnahmen. Drittens müssen die verstärkte innerparteiliche Präsenz, Aktivität und Etablie- rung von Einwanderern/Einwanderinnen ab den 1990er hervorgehoben werden, die das Engagement und Gewicht der Parteibasis im Aushandlungsprozess veränderte. Indem sie aktiv ihre Forderungen formulierten, die Debatten mitorganisierten und sich einbrachten, fungierten sie nicht nur als innerparteiliche „Verstärker“ und „Vermittler“ ihrer Interessen, sondern emanzipierten sich als eigenständige poli- tisch handelnde Subjekte. Insofern zeigen sich hier Parallelen zum Engagement der Frauen innerhalb der SPD und anderen Parteien, die ähnliche Emanzipations- und Beteiligungsprozesse durchliefen und dadurch die parteipolitische Inkorporation von Frauen vorantrieben (Krook 2004, S. 9; Caul 1999, S. 82f.; Kolinsky 1993, S. 130). Auch hier waren es die Frauen selbst, die den Druck gegenüber der Partei- spitze aufbauten und langfristig Forderungen durchsetzen konnten. An vierter Stelle muss die beeinflussende bzw. vermittelnde Funktion von ge- wachsenen Normen, Werten und Routinen innerhalb der SPD angeführt werden. Diese unterstützten einerseits eine Annäherung zwischen Partei und Migran- ten/Migrantinnen aufgrund von internationaler Solidarität und dem Gleichberechti- gungsgedanken, welche insbesondere das Engagement des linken Flügels in den 1970er und 1980er Jahre prägte. Andererseits wurde mit dem Rekurrieren auf die Norm der sozialen Gerechtigkeit bewusst eine parteipolitische Inkorporation auf

106 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Basis ethnischer, kultureller oder religiöser Eigenschaften abgelehnt. Dieses Span- nungsfeld ist bis heute erkennbar. Die in den letzten Jahren mehrdeutige Verwen- dung des Integrations- und Vielfaltsbegriffs spiegelt dieses Spannungsfeld wider. Des Weiteren wurde an den Diskussionen über die Etablierung einer Arbeits- gemeinschaft für Migranten/Migrantinnen sowie über die Einführung einer „Mig- ranten-Quote“ die Kontroverse zwischen der Gefahr von Partikularinteressen und berechtigtem Repräsentationsanspruch deutlich. Demnach wurden die genannten Forderungen einerseits mit der Idee einer Volkspartei legitimiert, da diese den An- spruch mit sich trägt, die Bevölkerung in ihrer Unterschiedlichkeit zu repräsentie- ren. Andererseits wurde vor der Gefahr einer Zersplitterung der Partei gewarnt, so dass derartige Maßnahmen abgelehnt werden konnten.

5 Die Berliner SPD

Nachdem die Entwicklungen innerhalb der Bundes-SPD dargestellt wurden, werde ich in diesem Kapitel auf die Situation innerhalb der Berliner SPD eingehen. Zu- nächst gilt es auch hier zu fragen, in welchem Maß es zu parteipolitischen Inkorpo- rationsprozessen über die Zeit kommt. Welche Erklärungsfaktoren lassen sich identifizieren? Welche Rolle spielt dabei der stadtspezifische Kontext? Oder sind es die im vierten Kapitel dargestellten nationalen Entwicklungen, die das Handeln der Berliner Sozialdemokraten bestimmen? Welches Gewicht nehmen in diesem Zusammenhang parteistrukturelle Faktoren ein? Basis der Untersuchung bilden wie bei der Bundes-SPD verschiedene Parteidokumente. Sie ermöglicht die Analyse von Wortprotokollen der Landespar- teitage im Zeitraum 1980 bis 1997. Ein Zugriff auf die Protokolle vor und nach dieser Zeit war nicht möglich.1 Ferner stütze ich mich insbesondere auf das Online- Archiv der Berliner SPD2, das mir den Zugriff auf Landesparteitagsanträge, Be- schlussbücher sowie Reden einzelner Delegierter ab dem Jahr 2000 ermöglichte. Ferner untersuchte ich die alle zwei Jahre erscheinenden Jahrbücher der Berliner SPD von 1970 bis 20123. Sie geben, wie auf Bundesebene der Partei, den Partei- mitgliedern sowie einer interessierten Öffentlichkeit Auskunft über die Aktivitäten der SPD. Um das innerparteiliche Geschehen zu erfassen, habe ich die Parteizeit- schrift Berliner Stimme für den Zeitraum 1970 bis 2013 auf relevante Artikel durchsucht. Sie gilt bis heute als Informations- und Diskussionsorgan der Partei. Darüber hinaus habe ich weitere inhaltlich relevante Dokumente (z.B. Pressestim-

1 So waren die Protokolle nur von 1980 bis zum Parteitag 1997 in der Zentral- und Lan- desbibliothek archiviert. Auch stehen für jüngere Landesparteitage keine Wortprotokolle auf der Berliner SPD-Homepage zur Verfügung, sondern vielmehr einzelne gedruckte oder visuell aufbereitete Redebeiträge. 2 Vgl. http://archiv.spd-berlin.de/archiv/; letzter Zugriff am 13.02.2015. 3 Für die Jahrgänge vor 2000 gilt mein herzlicher Dank einem Mitarbeiter der SPD, der mir die Jahrbücher zur Verfügung gestellt hat. 108 | PARTEIEN UND MIGRANTEN men, Stellungnahmen, Projekt- und Kongressberichte) verwendet, die auf der Homepage der Partei zur Verfügung4 standen oder mir direkt von meinen Inter- viewpartnern/Interviewpartnerinnen zur Verfügung gestellt wurden. Die geführten Interviews mit Berliner Sozialdemokraten/Sozialdemokratinnen (5), mit einem langjährig engagierten Politiker mit Migrationshintergrund der Grünen sowie mit dem Stadtexperten Lanz dienten mir als Grundlage, um die Entwicklungen inner- halb und außerhalb der Berliner SPD besser nachzuvollziehen. Ergänzend habe ich mehrere Veranstaltungen5 unter Beteiligung von SPD-Landespolitikern/-poli- tikerinnen zum Thema Migranten/Migrantinnen besucht, um insbesondere aktuelle Diskussionen zu verfolgen. Neben den Parteidokumenten und -interviews habe ich für den Untersuchungs- zeitraum Berliner Zeitungen (Die Tageszeitung; Der Tagesspiegel) sowie die be- reits genannten überregionalen Tages- und Wochenzeitungen (vgl. 4) nach relevan- ten Artikeln durchsucht, um ergänzende Informationen zu den innerparteilichen Entwicklungen sowie zu den städtischen politischen Debatten zu erhalten. Schließ- lich erhob ich die Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund6 in den Bezirksverordnetenversammlungen und dem Abgeordnetenhaus7 von 1989 bis 2011 mittels der offiziellen Kandidatenlisten und Wahlergebnisse, um zum einen

4 Das Online-Archiv enthält Pressemitteilungen ab 2007, die ich mittels einer Suchfunkti- on auf Inhalte durchsucht habe. 5 So besuchte ich im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahlen 2011 am 05.09.2011 den Workshop „Politische Partizipation von MigrantInnen“, der vom „Verein Jede-Stimme- zählt“ initiiert wurde, an dem auch SPD-Politiker_innen teilnahmen. Am 18.02.2013 nahm ich an der Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Bürgerschaft- liches Engagement in der Einwanderungsstadt Berlin“ teil, wo auch SPD-Führungskräfte mit Migrationshintergrund (Raed Saleh als Fraktionsvorsitzender und Aziz Bozkurt als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt) auf dem Podium saßen. Des Weiteren war ich bei einer Veranstaltung der Kreuzberger SPD anwesend, an der Eckhard Barthel (SPD) und Barbara John (CDU) teilnahmen. 6 Die Basis zur Identifikation des Migrationshintergrundes bildete die Angaben zu Ge- burtsort und Namen, die in den Kandidatenlisten abgedruckt sind. Ferner nahm ich Be- richte regionaler Tageszeitungen zur Hilfe, um zusätzliche Information für die Verifika- tion zu gewinnen. Für die Wahlen 2011 schickte ich zudem eine Umfrage an die von mir identifizierten Kandidaten/Kandidatinnen, um unter anderem ihren Migrationshinter- grund zu verifizieren. Insgesamt muss jedoch von einer konservativen Erhebung ausge- gangen werden, da aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen keine hundert- prozentige Abdeckung möglich ist. 7 Die Repräsentationszahlen verifizierte ich zudem durch die Erhebungen von Schönwäl- der (Schönwälder 2013a). DIE BERLINER SPD | 109 die Entwicklung der Repräsentationsraten der SPD gegenüber anderen Parteien zu verfolgen und zum anderen die gemachten Angaben der Parteiverantwortlichen ab- zugleichen. Um die Berliner SPD besser einordnen zu können, wird ihre Entwicklung und ihr Aufbau kurz skizziert. Die Berliner Sozialdemokraten stellten sich nach dem Zweiten Weltkrieg als stärkste Partei im Hinblick auf Mitgliederzuwachs und Wählerzuspruch heraus. Sie gewannen die Stadtverordnetenwahlen 1948 mit 64,5 Prozent (Meyer et al. 2007, S. 59). Auch hatten sie 1946 rund 32.000 Mitglieder8, während die CDU nur 17.000 Mitglieder auf sich vereinigen konnte (Schmidt 2007, S. 42). Diese Dominanz der SPD blieb bei den Abgeordnetenhauswahlen be- stehen. Sie erhielt auch 1950 bis 1971 die Mehrheit der Stimmen (zwischen 44,7 und 61,9 Prozent), während die CDU meistens zwischen 20 und 30 Prozent pen- delte und erst ab 1971 anfing, aufzuholen (Reichart-Dreyer 2008, S. 149). Die Ber- liner SPD verfügte bis zum Beginn meiner Untersuchungsphase bereits über jahr- zehntelange Regierungs- und Koalitionserfahrungen. Zudem kündigte sich ab Mit- te der 1970er Jahre eine Krise der Partei an. Nach 1974 sanken die Mitgliederzah- len kontinuierlich. Das Wahlergebnis von 1975 lag mit 42,6 Prozent erstmals unter dem der CDU (43,9 Prozent) (Reichart-Dreyer 2008, S. 149; Schmidt 2007, S. 48). In diesem Zeitraum beginnt die nachfolgende Untersuchung. Zum Aufbau der Partei lässt sich festhalten, dass die Berliner SPD einen Lan- desverband bildet. Er ist laut Statut des Landesverbands ein Bezirk (SPD Landes- verband Berlin 2012b, § 8* [1]) und somit Grundlage der Organisation (ebd., § 8* [2]). Er bildet das „eigentliche Machtzentrum“ der Partei und weist eine Autono- mie gegenüber der Bundespartei in inhaltlicher und personalpolitischer Hinsicht auf (Lösche und Walter 1992, S. 203). Der Landesverband ist in Unterbezirke auf- gegliedert, die im Fall der Berliner SPD Kreisverbände genannt werden (SPD Lan- desverband Berlin 2012b, § 8* [19]). Die Bestimmung der Kreisverbände orientiert sich an den Berliner Bezirken9 (Meyer et al. 2007, S. 65). Vor der Wiedervereini- gung bezogen sich die Kreisverbände auf West-Berlin, das in zwölf Bezirke aufge- teilt war. Somit gab es insgesamt zwölf Kreisverbände. Nach 1990 gab es aufgrund der Wiedervereinigung insgesamt 23 Bezirke und somit 23 Kreisverbände (SPD

8 Diese Zahl bezieht sich auf die West-Berliner SPD. Aufgrund der Aufteilung Berlins in unterschiedliche Sektoren wurde die SPD im sowjetisch besetzten Teil mit der Kommu- nistischen Partei Deutschlands (KPD) zur SED zwangsfusioniert. Bei einer Abstimmung über die Vereinigung der West-Berliner SPD mit der SED, welche abgelehnt wurde, wa- ren 320.304 Mitglieder stimmberechtigt (vgl. http://archiv.spd-berlin.de/geschichte/chro- nik/chronik-themen/1946-03-31-urabstimmung-die-ergebnisse/; letzter Zugriff am 15.02.2015). 9 Die Berliner Bezirke sind nicht zu verwechseln mit den Bezirken innerhalb der SPD.

110 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Landesverband Berlin 1996, S. 136). Mit der Verwaltungsreform 2001 reduzierte sich die Anzahl der Bezirke wieder auf zwölf. Vor diesem Hintergrund passte der Landesverband bereits 2000 die Anzahl der Kreisverbände auf zwölf an (SPD Landesverband Berlin 2002, S. 13). Die kleinste Einheit der Berliner SPD bilden die Abteilungen10, die in den Kreisverbänden organisatorisch verankert sind. Sie bilden die lokale Basis der Partei, in denen die Mitglieder organisiert sind. Das Kapitel unterteilt sich in vier Unterkapitel, die jeweils eine Phase darstel- len. Wie im Kapitel der Bundes-SPD orientiert sich die Phasenteilung11 an den im empirischen Material feststellbaren Umbrüchen, die parteipolitische Inkorporati- onsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen betreffen. Anschließend gilt es, die relevanten Erklärungsfaktoren für diese Umbrüche herauszuarbeiten.

5.1 PARTEIPOLITISCHE INKORPORATIONSPROZESSE UNTER VORBEHALTEN

Bis Mitte der 1970er Jahre gibt es gemäß meinen Erhebungen im Gegensatz zu den Entwicklungen auf Bundesebene kaum Hinweise12 auf eine Thematisierung partei- politischer Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen innerhalb der Berliner SPD. Erst Ende der 1970er Jahre lassen sich Veränderungen feststel- len, die den Anfang der ersten Phase, die bis Mitte der 1980er Jahre andauert, mar- kieren. Diese Phase ist durch eine ambivalente Migrationspolitik, der auch die par- teipolitische Teilhabe miteinschließt, gekennzeichnet. Zum einen kam es zu unter- schiedlichen Initiativen und dem Aufbau von Strukturen auf der Ebene des Lan- desvorstands und der Kreisverbände, in denen die parteipolitische Inkorporation von Eingewanderten thematisiert und gefördert wurde. Hierbei spielten die lokalen türkischen Vereine eine mobilisierende Rolle. Zum anderen herrschte innerhalb der Partei eine Skepsis gegenüber der politischen Eingliederungsfähigkeit von türki- schen Einwanderern/Einwanderinnen.

10 Eine Abteilung ist vergleichbar mit einem Ortsverein. 11 Angesichts der fließenden Übergänge der einzelnen Phasen wird im Folgenden auf eine genaue Datierung nach Jahren verzichtet. 12 So blieb ein Antrag des Kreisverbandes Kreuzberg auf dem Landesparteitag 1974 die Ausnahme. In diesem heißt es: „Der Senat von Berlin und die SPD Fraktion im Abge- ordnetenhaus werden aufgefordert, umgehend Vorstellungen und Voraussetzungen für die Durchführung einer politischen Beteiligung auf kommunaler Ebene für die ausländi- schen Mitbürger zu entwickeln bzw. zu klären.“ (Berliner Stimme 1974) Der Antrag wurde nicht angenommen. DIE BERLINER SPD | 111

Initiativen auf Landesebene der Partei

Erste Anzeichen einer Thematisierung politischer Inkorporationsprozesse lassen sich 1979 finden, als der Arbeitskreis Innenpolitik sich mit Fragen der „Integration der auf Dauer in Berlin lebenden Ausländer“ (SPD Landesverband Berlin 1980, S. 73) beschäftigte und eine Tagung mit Vertretern/Vertreterinnen des Bezirksamtes Kreuzberg durchführte, wo unter anderem das Thema „Stärkung der Beteiligungs- möglichkeiten für Ausländer auf kommunaler Ebene“ besprochen wurde (ebd.). Noch im selben Jahr wurde die Kommission Zusammenleben mit den ausländi- schen Mitbürgern vom Landesvorstand der SPD eingerichtet. Hier sollte die be- gonnene Diskussion um die „Ausländerpolitik“ „nunmehr in die Parteiorganisation der SPD insgesamt hineingetragen“ werden (Berliner Stimme 1980a, S. 3). Die Kommissionsarbeit stellte zugleich die inhaltliche Vorbereitung des Landespartei- tags, der unter dem Titel „Zusammenleben mit den ausländischen Mitbürgern“ 1980 stattfand (SPD Landesverband Berlin 1982, S. 18), dar. In diesem Zusam- menhang wurde im Jahresbericht von 1982 rückblickend festgehalten:

„Inzwischen ist die Überzeugung gewachsen, daß das Ziel des friedlichen Zusammenlebens von deutscher Bevölkerung und ausländischen Minderheiten, insbesondere mit den türki- schen Mitbürgern und deren Integration nur durch eine gemeinsame langfristige angelegte Kraftanstrengung aller Parteien, Verbände und Organisationen erreicht werden kann.“ (Ebd.).

Zwei Jahre später wurde darüber hinaus ein ständiger Ausschuss VIII13 vom Lan- desvorstand der SPD 1981 ins Leben gerufen (ebd., S. 39). Der Ausschuss, der von Rainer Klebba, dem Fraktionsvorsitzenden des Kreisverbandes von Kreuzberg, ge- leitet wurde, sah „ein verstärktes Bemühen um die ausländischen Parteimitglieder“ als eine dringliche Aufgabe an (ebd.). Als erste Aktion des Ausschusses wurden „alle in der Berliner SPD organisierten ausländischen Genossen erfasst und zu ei- ner gemeinsamen Veranstaltung eingeladen“ (ebd.). Diese Veranstaltung fand am 23.03.1982 statt. Es wurden „über 350 ausländische Genossen“ eingeladen und un- ter anderem nahm der Parteivorsitzende Peter Ulrich teil (ebd., S. 18; 39). Hierbei wurden insbesondere „die Probleme der Ausländer in der SPD diskutiert“ (ebd.). Neben der Durchführung dieser Veranstaltung war der Ausschuss mit dem Erarbei- ten einer „Argumentationshilfe für die Genossen der Berliner SPD [...] zum Aus- länderproblem“ beschäftigt (ebd.).

13 Auf Landesebene gab es insgesamt acht ständige Ausschüsse zu verschiedenen Themen, die von I bis VIII durchnummeriert wurden (ebd.).

112 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Bezeichnend für die Phase ist darüber hinaus, dass sich die genannten Aktivitä- ten mit dem Engagement auf lokaler Ebene auf zweierlei Art verschränkten. In die- sem Zeitraum lässt sich zum einen ein Engagement einzelner Vertreter_innen der Kreisverbände im Bereich der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Mi- grantinnen feststellen, die auch auf Landesebene der Partei aktiv waren. Zum ande- ren sind es die Mitglieder aus verschiedenen türkischen Vereinen, die sich auf der Ebene der Kreisverbände und der Landesebene engagierten.

Die aktivierende Rolle der Kreisverbände

Der Kreisverband Kreuzberg nahm eine besondere Rolle ein. Innerhalb des Kreis- verbandes wurde 1980 der Arbeitskreis Ausländer gegründet, was laut eines Be- richts der Berliner Stimme als Novum innerhalb der Berliner SPD gesehen wurde (Berliner Stimme 1980f, S. 9). In einem weiteren Bericht der Mitgliederzeitschrift heißt es zu dieser Neugründung:

„Ausländische Mitbürger, die an einer dauerhaften Integration interessiert sind, an den kommunalpolitischen Schwerpunkten ihres Lebensbereiches mitwirken wollen und ihre poli- tische Orientierung in der SPD wiederfinden, sollen durch den neugegründeten ‚Arbeitskreis ausländischer Mitglieder in der SPD Kreuzberg‘ ihre Belange stärker als bisher vertreten können.“ (Berliner Stimme 1980g, S. 11)

Hier wird deutlich, dass die Beteiligung der ausländischen Mitglieder an eine dau- erhafte Integration geknüpft wird. Gleichzeitig wird ein separierender Ansatz deut- lich, indem ihre Interessen in einem gesonderten Gremium artikuliert werden sol- len. Der Arbeitskreis verfolgte neben der Interessenvermittlung von Migran- ten/Migrantinnen das Ziel, als Beratungsorgan der SPD in Sachen Ausländerpolitik zu fungieren. Überdies galt es, die „deutsch-ausländische Freundschaft“ zu fördern (ebd.). Darüber hinaus forderte die Gruppe die Einführung des kommunalen Wahl- rechts für Ausländer_innen sowie bereits die Einrichtung einer Arbeitsgemein- schaft auf Landesebene (ebd.). Ausgelöst wurde diese Initiative zur Gründung eines Arbeitskreises laut eines Berichts der Berliner Stimme vor allem durch „einen starken Mitgliederzustrom aus der türkischen Bevölkerung“ (Berliner Stimme 1980f, S. 9). Diese Eintritte be- schreibt der damalige stellvertretende Kreisvorsitzende Walter Momper auf dem Landesparteitag von 1980 wie folgt:

DIE BERLINER SPD | 113

„Und wir haben in Kreuzberg jetzt etwa 70 oder 80 türkische Bürger, und es kommen in die Sprechstunden jeden Sonnabend ein, zwei zu mir, die sagen, ob sie in die SPD eintreten sol- len. Ich rate denen immer ab, weil ich den Eindruck habe, daß sie sich vielzuviel von der Partei versprechen, als das, was sie einlösen kann. [...] Aber wenn sie unbedingt wollen, werde ich sie natürlich auch nicht ablehnen.“ (Berliner SPD 1980, S. 195f.)

Die Unbedingtheit der beitrittswilligen türkischstämmigen Migranten/Migran- tinnen trotz des abwiegelnden „Rates“ des Kreisvorsitzenden zeigt die Vehemenz und Bereitschaft des Engagements, die den innerparteilichen Handlungsdruck in- nerhalb kürzester Zeit erhöhte und zu besagtem Arbeitskreis führte.14 Auch der türkeistämmige Merih Ünel war Mitglied der Kreuzberger SPD und des Arbeits- kreises. Er nahm jedoch auch eine kritische Haltung zu diesem Arbeitskreis ein. Er argumentierte, dass der Arbeitskreis Gefahr liefe, die Stigmatisierung zu erhöhen, da eine Randgruppe wieder in ein „Ghetto“ gesteckt werde. Deswegen forderte er die Beteiligung von Menschen ohne Migrationshintergrund in dieser Arbeitsgruppe (Ünel und Weber 1982, S. 80). Darüber hinaus zeigte sich, dass das Engagement der Kreuzberger Sozialde- mokraten über die Kreisebene hinaus ging und die Landespartei betraf. Sozialde- mokraten aus Kreuzberg wie Klebba oder Ünel waren an der Arbeit der von der Landesführung eingerichteten Kommission Zusammenleben mit den ausländischen Mitbürgern maßgeblich beteiligt. Auch die Redebeteiligung der Kreuzberger SPD auf dem Parteitag selbst spricht für ihr Engagement (Berliner SPD 1980, S. 105 ff.). Des Weiteren beteiligte sich die Kreuzberger SPD wesentlich an der Arbeit des 1981 auf Landesebene gegründeten Ausschuss VIII. Erster Vorsitzender war, wie bereits erwähnt, der Kreuzberger Klebba. Ab 1986 fungierte Ünel als stellver- tretender Vorsitzender des inzwischen umbenannten Fachausschuss Ausländerpo- litik15 (SPD Landesverband Berlin 1982, S. 142, 1988, S. 45). Klebba war als Kreisvorsitzender im Landesvorstand vertreten und konnte somit die innerparteili- chen Diskussionen auf Landesebene beeinflussen (SPD Landesverband Berlin

14 Hierfür sprechen auch die Schätzungen von Decker, die die ausländischen Mitglieder in Kreuzberg noch Ende der 1970er auf nur 27-30 Personen schätzt (Decker 1982, S. 99f.). Insofern käme der Beitritt der Türkeistämmigen Anfang der 1980er tatsächlich einem Wandel gleich. Darüber hinaus waren laut eines Berichts der Berliner Stimme 90 Prozent der Gründungsmitglieder des Arbeitskreises „türkischer Nationalität“ (Berliner Stimme 1980g, S. 11). 15 Mitte der 1980er Jahre wechselte die Bezeichnung des Ausschusses VIII zu Fachaus- schuss XII (Ausländerpolitik) (SPD Landesverband Berlin 1988, S. 45). Ein Grund für die Umbenennung war eine stärkere Verzahnung der Ausschüsse mit der Arbeit der Par- lamentarier im Abgeordnetenhaus (SPD Landesverband Berlin 1986, S. 15f.).

114 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

1986, S. 103). Darüber hinaus führte Momper, der von 1969 bis 1971 Vorsitzender der Kreuzberger Jusos war und 1980 zum Kreisvorsitzenden der Kreuzberger SPD gewählt wurde, ab 1985 den Fraktionsvorsitz der SPD im Abgeordnetenhaus. Dar- über hinaus war er ab 1986 Vorsitzender der Partei sowie Regierender Bürgermeis- ter von Berlin im Jahr 1989.16 Neben dem Kreisverband Kreuzberg gingen weitere Kreisverbände das Thema der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen an. 1980 initiier- ten Mitglieder der SPD und des 1977 gegründeten Vereins der Türkischen Sozial- demokraten in Berlin (TSD) aus Charlottenburg die Türkisch-Deutsche Begeg- nungsstätte „Atatürk“, die insbesondere die Betreuung von Schülern/Schülerinnen mit Migrationshintergrund zum Ziel hatte. Die Miete für die Räumlichkeiten über- nahm damals eine SPD-Abteilung (Berliner Stimme 1980h, S. 9). Möglich wurde diese Zusammenarbeit nicht zuletzt aufgrund eines geschlossenen Beitritts der TSD-Mitglieder17 in die SPD Ende der 1970er Jahre (Decker 1982, S. 101), der ei- nen intensiveren Austausch ermöglichte. Entsprechend hoch war die Anzahl aus- ländischer Mitglieder in der Charlottenburger SPD im Vergleich zu anderen Kreis- verbänden (ebd., S. 99f.). Auch der Kreisverband Schöneberg setzte sich für die Belange der Migran- ten/Migrantinnen ein. Die Schöneberger Sozialdemokraten riefen 1983 die Aktion „Ausländer mit uns“ ins Leben, die auch von der Ausländerbeauftragten Unterstüt- zung erfuhr (Glaser 1983b, S. 4). Darüber hinaus leitete Michael Barthel, damali- ger Bezirksstadtrat in Schöneberg, Ende der 1970er die Kommission „Zusammen- leben mit den ausländischen Mitbürgern“. Der zur Abstimmung stehende Antrag auf dem Landesparteitag 1980, der inhaltlich von den Vorschlägen der Kommissi- on abwich, stieß aufgrund seiner restriktiven Maßnahmen innerhalb des Schöne- berger Kreisverbands sowie bei den Kreuzbergern und Charlottenburgern auf Ab- lehnung (Berliner Stimme 1980e, S. 3). Ferner fungierte Otto Edel, damals Be- zirksverordneter in Schöneberg, als stellvertretender Vorsitzender im 1981 neu ge- gründeten Ausschuss VIII (SPD Landesverband Berlin 1982, S. 142). Hervorzuhe- ben ist die Rolle von Eckhard Barthel, der Mitglied der Schöneberger Sozialdemo- kraten und von 1983 bis 1998 Mitglied des Abgeordnetenhauses war.18 Er leitete

16 Vgl. hierzu die politische Biographie unter: http://www.berlin.de/rbmskzl/regierender- buergermeister/buergermeister-von-berlin/buergermeistergalerie/artikel.4640.php; letzter Zugriff am 12.02.2015. 17 So wird in der Berliner Stimme beispielsweise Izzetin Karanlik als Mitglied der Charlot- tenburger SPD vorgestellt, der sich gleichzeitig im TSD engagiert (Berliner Stimme 1980i). 18 Vgl. http://www.spd-berlin.de/landesverband/personen-a-z/personen-a-f/barthel-eckhar- dt/; letzter Zugriff am 15.04.2014. DIE BERLINER SPD | 115 nicht nur den Fachausschuss ab Mitte der 1980er Jahre, sondern war darüber hin- aus Obmann im Ausländerausschuss des Berliner Abgeordnetenhaus (Borchers 1987, S. 12f.). Barthel war ein wesentlicher Sprecher für die Belange der Migran- ten/Migrantinnen innerhalb der SPD und setzte sich für die politische Gleichbe- rechtigung von Ausländern/Ausländerinnen ein (Interview mit P). In den fehlenden Rechten sah er einen entscheidenden Grund für die Partizipations- und Repräsenta- tionsschwierigkeiten von Migranten/Migrantinnen innerhalb der SPD (Jacobs 1992, S. 11).

Die Bedeutung von türkischen Vereinen

Bereits in dem eben beschriebenen Engagement einzelner Kreisverbände klang die Bedeutung türkischer Vereine an. Für die herausgehobene Stellung dieser Organi- sationen im Zusammenhang parteipolitischer Inkorporationsprozesse von Einwan- derern/Einwanderinnen lassen sich weitere Hinweise finden. Dabei ist insbesonde- re der frühe Austausch zwischen der SPD und der Progressiven Volkseinheit der Türkei (HDB) hervorzuheben. Erste dokumentierte Kontakte zwischen der HDB19 und der SPD hatten die Jusos, die am 27.Oktober 1973 bei einer gemeinsamen Veranstaltung über die 50jährige Geschichte der türkischen Republik diskutierten (Özcan 1992, S. 276). Ab Ende der 1970er Jahre intensivierten sich die Kontakte im Zuge der einwanderungspolitischen Diskussionen. Es gründete sich zu dieser Zeit im Kreuzberger Kreisverband eine Arbeitsgruppe, an der Mitglieder der HDB teilnahmen und ein ausländerpolitisches Papier erarbeiteten. Darüber hinaus wurde in Kreuzberg 1980 der bereits erwähnte Arbeitskreis Ausländerpolitik eingerichtet, in dem auch Mitglieder der HDB vertreten waren (Özcan 1992, S. 302). Mit dieser Gruppe wurden 1981 verschiedene Kulturabende in Berlin durchgeführt sowie ei- nige Broschüren20 veröffentlicht (Berliner Stimme 1981b, S. 3; Interview P). Laut Aussage eines Beteiligten war die Partei von dieser Kooperation „vielleicht nicht so begeistert, aber die wollten uns auch nicht abstoßen“ (Interview mit P). 1980 protestierte die HDB öffentlich gegen einen Landesparteitagsantrag mit dem Titel „Zusammenleben mit den ausländischen Mitbürgern“, der restriktive Positionen zur Familienzusammenführung enthielt und somit auch die türkisch- stämmige Bevölkerung betraf. Die HDB kritisierte in einer Stellungnahme im Vor-

19 Der Verein nannte sich 1973 noch „Verein links von der Mitte in der Türkei“ und änder- te seinen Namen 1975 in HDB (Özcan 1993, S. 68). 20 So wurde laut Özcan „die erste Ausgabe der „Ausländerplattform“ herausgegeben, in der „Forderungen zur Integration der eingewanderten Arbeiter und ihrer Familien“ erhoben und Möglichkeiten zu ihrer Durchsetzung vorgeschlagen wurden […]“ (Özcan 1992, S. 302).

116 | PARTEIEN UND MIGRANTEN feld des Parteitags jegliche Einschränkung der Familienzusammenführung (HDB 1980, S. 9), betonte jedoch gleichzeitig ihre generelle Kooperationsbereitschaft mit den Gremien der SPD (ebd. 10). Darüber hinaus formulierten laut eines Berichts der Berliner Stimme eine Reihe von türkischen sowie kurdische Organisationen ei- nen offenen Brief, in dem sie die Einschränkung der Familienzusammenführung vehement ablehnten. Parallel betonten sie die Mittlerrolle, die sie zwischen den Sozialdemokraten und den eigenen „Landsleuten“ einnahmen (Berliner Stimme 1980c, S. 3). Auch in den 1980er Jahren hielt dieser Austausch an, so dass die HDB bei der Kampagne für das kommunale Wahlrecht für Ausländer_innen Ende der 1980er Jahre ein wichtiger Kooperations- und Organisationspartner der SPD war (Berliner Stimme 1991, S. 11). Der bisweilen konfliktreiche Austausch sowie die Vernetzung zwischen SPD und türkischen Sozialdemokraten führten zu einem Engagement einzelner Verein- spersönlichkeiten in der Partei. Prominentes Beispiel ist der bereits erwähnte Ünel, der nicht nur SPD-, sondern auch HDB21-Mitglied war. Dieser äußerte auf dem be- reits oben erwähnten Landesparteitag 1980:

„Als türkische Sozialdemokraten, [...], sind wir der Meinung, daß die Zusammenarbeit der deutschen Sozialdemokraten mit den türkischen Sozialdemokraten [...] ein immanent wichti- ger Punkt im Integrationsprozess ist, denn als Ausländer weiß ich ganz genau, daß nur die türkischen Sozialdemokraten [...] die treibende Hauptkraft bei diesem Prozeß sein werden. [...] Aus diesem Grunde sollte man wirklich die Tatsache ins Auge fassen und die Zusam- menarbeit mit den türkischen Sozialdemokraten innerhalb und außerhalb der Sozialdemokra- tischen Partei Deutschlands intensivieren.“ (Berliner SPD 1980, S. 120)

Deutlich wird hier, dass er zwischen türkischen und deutschen Sozialdemokraten unterscheidet und sich somit als eigenständiger Partner definiert ohne den der In- tegrationsprozess nicht gelingen kann. Seine Aussage wird auch durch die Domi- nanz der Beteiligung der türkischen Sozialdemokraten an der Diskussion über die ausländerpolitischen Leitlinien der SPD im Vorfeld des besagten Parteitags unter- strichen. Ebenso an der 1981 bundesweiten sozialdemokratischen Wählerinitiati-

21 Merih Ünel agierte nicht nur innerhalb des HDB, sondern auch als Ersatzmitglied im Vorstand des „Türkischen Bund in Berlin“ (TBB) (Özcan 1992, S. 319). Derartiges En- gagement in mehreren Migrantenorganisationen war dabei keine Seltenheit. Auch Kenan Kolat war ab 1986 Mitglied des HDB. DIE BERLINER SPD | 117 ve22 waren HDB-Mitglieder wie Ünel oder Hakki Keskin beteiligt (Sozialdemokra- tische Wählerinitiative 1982, S. 71; 79). Neben dem HDB gab es weitere türkische Vereine, deren Mitglieder innerhalb der SPD aktiv waren. 1980 gründete sich der Initiativkreis Gleichberechtigung ‚In- tegration‘ (IGI), aus dem sich 1983 zwei Dachverbände: der Türkischen Gemeinde zu Berlin (TGB) und der Türkische Bund in Berlin (West) e.V. für Gleichberechti- gung (BTT) entwickelten (Özcan 1992, S. 315f.). Einige Mitglieder dieser neu ge- gründeten Organisationen fanden sich auch in Funktionen innerhalb der SPD wie- der. Zafer Ilgar, Vorsitzender der TGB23, war Mitglied des Ausschuss VIII und Mitglied der SPD in Wilmersdorf (Berliner Stimme 1983b, S. 9). Darüber hinaus leitete er die Initiative „Executiv-Komitee“ – ein Zusammenschluss türkischstäm- miger Berliner, die von Barbara John gefördert wurden (Glaser 1983b, S. 4). Eine weitere im öffentlichen Leben aktive Persönlichkeit war Serap Yavuz, die Presse- sprecherin der TGB sowie Mitbegründerin des deutsch-türkischen Frauenvereins war. Neben ihrem Engagement in der SPD in Wilmersdorf sowie bei den sozial- demokratischen Frauen wurde sie 1984 Vorsitzende des Fachausschusses für Aus- länderpolitik auf Ebene des Landesvorstandes (Berliner Stimme 1984, S. 9; SPD Landesverband Berlin 1983, S. 16). Necati Gürbaca, eines der Gründungsmitglie- der des IGI und Vorsitzender des BTT (Özcan 1992, S. S. 319; 336), war nicht nur Ausländerreferent der IG-Metall24, sondern auch SPD Mitglied, der als ein Haupt-

22 Ins Leben gerufen wurde diese Initiative bereits 1969 von verschiedenen Intellektuellen (vgl. Fußnote 8). In Berlin versammelte sich die Initiative im Dezember 1981 zum The- ma „Ausländerpolitik.“ 23 Gemäß der Veröffentlichung von Özcan war Ilgar vermutlich auch Gründungsmitglied des IGI (Özcan 1992, S. 318). 24 An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich in meiner Analyse vereinzelt Hinweise auf eine Querverbindung zwischen SPD und Gewerkschaften im Kontext der Partizipation von Migranten/Migrantinnen gefunden habe. Neben dem Engagement Nürbacas wurde Fat- ma Akcakayiran als erste freigestellte türkische Betriebsrätin 1981 in der Berliner Stim- me interviewt (Berliner Stimme 1981a, S. 6). Ferner berichtete Martin Barthel davon, dass im Vorfeld des Landesparteitags 1980 der DGB Landesbezirk Berlin einbezogen wurde. Michael Pagels, damaliger Berliner DGB-Vorsitzender und SPD-Mitglied, spricht davon, dass „mehr ausländische Funktionäre und ausländische Mitglieder aktiv am Gewerkschaftsleben teilnehmen als es in unserer Partei üblich ist“ (Berliner SPD 1980, S. 138). Ebenso Eckhard Barthel macht eine solche Unterscheidung, indem er zu dieser Zeit das Engagement der ausländischen Arbeitskräfte vor allem in den Betriebsrä- ten, aber nicht in der Partei sieht (Volkert 2011a). Dies spricht eher dafür, dass gewerk- schaftliches und parteipolitisches Engagement von Migranten/Migrantinnen eher die Ausnahme bildete.

118 | PARTEIEN UND MIGRANTEN redner auf dem Landesparteitag im Februar 1980 auftrat und sich innerhalb der Partei gegen eine restriktive Ausländerpolitik einsetzte (Berliner Stimme 1980a, S. 3; Berliner Stimme 1981b, S. 3). Ebenso das SPD-Mitglied Kenan Kolat war in den 1980er Jahren im Verein Türkisches Wissenschafts- und Technologiezentrum (BTBTM)25, der an der Technischen Universität seinen Sitz hatte, aktiv. Er gründe- te 1987 die Arbeitsgruppe Immigranten, Ausländer und Flüchtlingspolitik (AGI- AF) innerhalb der SPD, die sich unter anderem zum Ziel setzte, eine Plattform für sozialdemokratische Migranten/Migrantinnen zu schaffen.

Polarisierung der innerparteilichen Debatte

Gleichwohl war für diese Phase bezeichnend, dass es innerhalb der Partei auch Gegenstimmen zu einer Eingliederungspolitik von Einwanderern/Einwanderinnen gab, die eine fremdenfeindliche Konnotation aufwiesen. Unter der SPD-Anhänger- schaft war eine Ausländerfeindlichkeit keine Seltenheit. Es stimmten nach einer Umfrage des Spiegels von 1981 47 Prozent26 der SPD-Wähler_innen in Berlin der Aussage zu, dass Ausländer „grundsätzlich in ihre Heimat zurückkehren“ sollten (Der Spiegel 30.03.1981, S. 47). Auch fanden Bürgerinitiativen, die Anfang der 1980er Jahre gegen Ausländer_innen Stimmung machten, durchaus Anklang unter SPD-Mitgliedern. So berichtet Paul Glaser in der Berliner Stimme von der rechts- gerichteten Bürgerinitiative „Demokratie und Identität“, an der auch SPD-Mit- glieder beteiligt waren (Glaser 1983a, S. 9). Zudem fiel 1983 der Landschulrat Herbert Bath, der Mitglied der SPD war, durch ausländerfeindliche Positionen auf. Laut eines Berichts der Berliner Stimme sprach sich Bath prinzipiell gegen eine „Integration von Ausländern“ aus, sah eine „schleichenden Landnahme durch eine fremde Bevölkerung“ und leugnete eine sich ausbreitende Ausländerfeindlichkeit (Berliner Stimme 1983a, S. 9). Der bereits genannte ständige Ausschuss VIII sah vor diesem Hintergrund in der „Aufklärungsarbeit gegen die zunehmende Ausländerfeindlichkeit“ eine der dringlichsten Aufgaben (SPD Landesverband Berlin 1982, S. 39). Rückblickend beschreibt einer der damals Aktiven, Eckhard Barthel, die Situation wie folgt: „Es gab zwei Möglichkeiten, wenn wir über die Türkischstämmigen redeten. Entweder man wählte jemanden mit warmem Herzen, weil er Türkischstämmig war oder man wählte ihn nicht, weil er Türkischstämmig war. Das war diese Polarität, die es damals bei den Entscheidungen gab.“ (Volkert 2011a)

25 Eckhard Barthel geht rückblickend davon aus, dass die Impulse zum politischen Enga- gement von ausländischen Studenten/Studentinnen der Technischen Universität in Berlin (TU) kamen (Volkert 2011a). 26 Dieser Wert lag unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (57 Prozent) (ebd.). DIE BERLINER SPD | 119

Diese „Polarität“ im Hinblick auf die Türkischstämmigen kristallisierte sich insbesondere auf dem Landesparteitag 1980 im Rahmen der Diskussionen um den Antrag „Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern“ heraus. Dabei stand die Frage nach der Integrationsfähigkeit der türkischen Bevölkerung im Mittelpunkt. In der Berliner Stimme vom Februar 1980 ist zu lesen, dass sich die innerparteili- che Debatte auf die Integration von „Türken“ konzentriere (Berliner Stimme 1980a, S. 3). Bereits im Vorfeld des Parteitags warnte Martin Barthel, Leiter der Zuwanderungs-Kommission, vor einer Gleichsetzung von „Ausländern“ mit „Tür- ken“ und vor einem „Schreckensbild des integrationsunwilligen Türke[n]“ (Berli- ner SPD 1980, S. 89f.). Auch im Hinblick auf die Diskussionen über die Einführung eines kommuna- len Wahlrechts für Ausländer_innen entspannte sich ähnlich wie auf Bundesebene der Partei (vgl. 4.3) eine Kontroverse. Die Gegner befürchteten, dass von einer Ausweitung des Wahlrechts radikalisierte türkische Gruppierungen profitieren und in die Bezirksparlamente einziehen würden. Der damalige sozialdemokratische Bürgermeister Dietrich Stobbe gab auf dem Berliner Parteitag 1980 zu Protokoll:

„Und die Gewährung eines kommunalen Wahlrechts, die am Ende dazu führt, daß wir in den Bezirksverordnetenversammlungen durch die Wahrnehmung des passiven und aktiven Wahlrechts und durch die Bildung von Parteien oder Gruppierungen letzten Endes die deut- schen Parteien verdrängen oder einengen. (Zuruf: 5-Prozent-Klausel) Dies würde die 5- Prozent-Klausel, mein lieber [sic], wenn Du Dir anguckst, wie das dort ist in der Stadt, nicht lösen. Die würde leicht übersprungen werden von Gruppierungen, die etwa so denken, wie ‚Graue Wölfe‘ denken. Das ist das Problem. Das muß man offen und deutlich sagen.“ (Ber- liner SPD 1980, S. 133f.)

Mit dem Verweis auf die „Grauen Wölfe“, eine rechtsextreme Vereinigung von Türkischstämmigen27, knüpft der Zitierte indirekt an die Debatte der „integrati- onsunwilligen und -unfähigen Türken“ an, die eine Gefahr für „deutschen Partei- en“ seien, wenn einer Ausweitung des Wahlrechts zugestimmt werde. Im Gegen- satz dazu betonte der Delegierte Jürgen Lüdtke eine „konstruktive Politik“ der tür- kischen Sozialdemokraten (ebd., S. 122). Momper geht noch einen Schritt weiter:

27 Die Grauen Wölfe sind Mitglieder der faschistischen türkisch-nationalen Bewegungspar- tei (MHP), die in Deutschland 1976 verboten wurde und danach unter dem Namen „Türkische-Demokratische Idealisten-Vereine in Europa“ (ADÜTDF) lief. Die MHP wird für Terrorakte in der Türkei verantwortlich gemacht (Meier-Braun und Pazarkaya 1983, S. 133ff.).

120 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Und da werde ich überhaupt nicht staunen, denn der HDB und zum Beispiel die Sozialde- mokraten, die Türken sind, die haben schon breite Einwirkungsmöglichkeiten in die türki- sche Bevölkerung. Es ist doch einfach Quatsch anzunehmen, daß das alles Reaktionäre und Extremisten sind. [Beifall].“ (Berliner SPD 1980, S. 196)

Mit der Betonung der Überzeugungs- und Einwirkungsmöglichkeiten unter den türkischstämmigen Sozialdemokraten sowie deren Abgrenzung zu extremistischen Gruppen untermauert der Redner den Anspruch der türkischen Sozialdemokraten als Vermittler_innen. In diesem Sinne wurde auch die Beteiligung von ausländischen Mitgliedern in- nerhalb der Partei betont. Günter Abendroth, damaliger Bezirksbürgermeister von Kreuzberg, hob in Bezug auf die Ergebnisse der Kommission Zusammenleben mit Ausländern auf besagtem Parteitag hervor:

„Und das Ergebnis unserer Arbeitsgruppe, so verbesserungswürdig es manchem erscheinen mag, konnte nur durch die Konzentration der Kräfte, auch der unserer ausländischen Freun- de, zustande kommen. Und nur mit ausländischen Mitbürgern kann Ausländerpolitik zur In- tegrationspolitik werden.“ (Ebd., S. 140)

Zudem wurde der von der Berliner Stimme formulierten Befürchtung vor einer un- zureichenden Redebeteiligung von ausländischen Mitgliedern28 auf dem Parteitag dadurch begegnet, dass das Rederecht einem ausländischen Mitglied gesondert von den Delegierten erteilt wurde. Der Tagungspräsident schilderte den Sachverhalt wie folgt:

„In der Kommission des Landesvorstands haben vier türkische Mitbürger mitgearbeitet. Alle vier sind weder Delegierte noch Teilnehmer des Landesparteitags. Sie haben den Wunsch geäußert, daß einer von den vieren hier das Rederecht bekommt, ausnahmsweise. [Beifall] Nach dem Beifall zu urteilen gehe ich davon aus, daß der Landesparteitag damit einverstan- den ist, daß der Genosse Ünel – um den handelt es sich – hier das Rederecht erhält, und daß wir ihn auf dieser Rednerliste nicht auf Platz 52 stellen, sondern daß wir ihn vorziehen und ihm Gelegenheit geben, sich zum Wort zu melden und seine Meinung vorzutragen. [Beifall]“ (Berliner SPD 1980, S. 111)

28 „Dennoch bleibt ein Schönheitsfehler. Ausländische, vor allem natürlich türkische, Sozi- aldemokraten haben es in den Parteigremien noch nicht so weit gebracht, als daß sie selbst schon Delegierte stellen und damit das Wort auf dem Parteitag ergreifen könnten.“ (Berliner Stimme 1980d, S. 1) DIE BERLINER SPD | 121

Die Zustimmung zu einem gesonderten Rederecht für einen der „vier türkischen Mitbürger“ deutet darauf hin, dass dessen Beteiligung und Meinung nicht nur in- nerhalb der Kommission, sondern auch auf dem Landesparteitag gewünscht wurde. Hierfür spricht auch, dass die Berliner Stimme im Rückblick auf den Parteitag titel- te: „Mit unseren Ausländern leben – SPD-Landesparteitag packte heiße Eisen an – Türke als Redner.“ (Berliner Stimme 1980a, S. 3) Schließlich gab es im verabschiedeten Schlussantrag einen Passus mit dem Ti- tel „SPD und Ausländer“. Hierin ist zu lesen:

„Ausländische Genossen stellen in der Integrationspolitik ein wichtiges Bindeglied zwischen der SPD und den von der Integrationspolitik betroffenen ausländischen Mitbürgern her. Sie werden zu Sprechern der ausländischen Mitbürger in der SPD [...]. Dazu ist notwendig: ver- stärkte Mitgliederwerbung unter ausländischen Mitbürgern und Abbau der Schranken zur ak- tiven Mitarbeit; Stärkung der der SPD nahestehenden Organisationen der ausländischen Mit- bürger und enge Kooperation mit ihnen.“ (SPD-Landesparteitag 1980)

Die Funktion der „ausländischen Genossen“ als „Bindeglied“ zwischen SPD und den „ausländischen Mitbürgern“ dient hierbei als Argument für eine verstärkte Mitgliederanwerbung. Während auf Bundesebene ein vergleichbarer Antrag schei- terte (vgl. 4.2), fand sich eine Mehrheit für eine solche Forderung. Zudem wurde besagter Beschluss auf Deutsch und Türkisch veröffentlicht (SPD-Landesparteitag 1980), was als ein Zugehen auf die türkischsprachigen Leser/innen gesehen werden kann. Aufgrund des skizzierten Engagements einzelner Personen konnte dieser Passus, trotz genereller Vorbehalte gegenüber der Eingliederungsfähigkeit der Türkeistämmigen, verabschiedet werden.

5.1.1 Die Krise der Integrationspolitik und die Polarisierung der Einwanderungsdebatten

Die parteipolitischen Inkorporationsprozesse müssen vor dem Hintergrund verän- derter politischer Debatten und Ansätze in der Berliner Migrantenpolitik ab Ende der 1970er Jahre gesehen werden. Während von Anfang bis Mitte der 1970er Jahre die „Ausländerpolitik“ vor allem auf sozialpolitische Maßnahmen bezogen wurde, „um die sozialen Folgen der wirtschaftlich motivierten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu bewältigen“ (Gesemann 2009, S. 314), änderte sich die Situation ab Ende der 1970er Jahre. Gründe hierfür waren der Anstieg des Familiennachzugs ab 1978 (Schwarz 2001, S. 128) sowie die beginnende Einwanderung von Flücht- lingen aus dem Iran, Libanon, Vietnam, Polen und Palästina nach Berlin (Kapphan 2001, S. 94). Die bisherige Migrantenpolitik war aus Sicht der Parteien in eine Kri- se geraten (Schwarz 2001, S. 128). Einerseits führte dies zu Debatten über die Verhinderung von weiterer Zuwanderung bzw. zu einer Zuzugsbegrenzung für be-

122 | PARTEIEN UND MIGRANTEN stimmte Stadtteile. Andererseits wuchs die Einsicht, dass mit einer dauerhaften Niederlassung der Migranten/Migrantinnen eine Diskussion über die soziale, wirt- schaftliche und politische Teilhabe unvermeidbar war. Der Berliner Senat verab- schiedete 1979 die „Leitlinien und neue Maßnahmen zur Ausländerintegration in Berlin“, nach denen er den „auf Dauer in Berlin lebenden Ausländern stärker als bisher aktive Beteiligungschancen im Kommunalbereich, in der Wirtschaft, in Par- teien, Gewerkschaften und Verbänden“ einräumen wollte (Berliner Stimme 1980b, S. 8). 1981 beschloss der CDU geführte Berliner Senat, die bundesweit erste Auslän- derbeauftragte John (CDU) zu ernennen, die den „integrationspolitischen Teil einer zwiespältigen Politik“ (Schwarz 2001, S. 132) verfolgte. Neben einer Einbürge- rungskampagne für die zweite Einwanderergeneration (Hunger und Thränhardt 2001, S. 120) stand vor allem die Ansprache und Förderung von Eigenorganisatio- nen von Migranten/Migrantinnen im Vordergrund (Gesemann 2001, S. 16). Ziel Johns war es, aus dem bereits bestehenden Netzwerk von Migrantenorganisationen Ansprechpartner_innen zu gewinnen, um die „Legitimationsbasis“ ihrer Arbeit zu verbreitern (Schwarz 2001, S. 134; Vermeulen und Berger 2008, S. 168). Unter- stützend wirkte hier auch ein Programm für Selbsthilfeorganisationen des Sozial- senators Ulf Fink (CDU), mit dem Migrantenorganisationen finanziell gefördert werden konnten (ebd.). Diese Förderung verstärkte laut Lanz die Umorientierung dieser Vereine weg von Aktivitäten im Herkunftsland hin zu sozio-kulturellen Be- langen im Ankunftsland, um eine finanzielle Unterstützung zu bekommen (Inter- view mit Lanz). Diese Vereine bildeten nicht selten den Ausbildungsort, an dem eine Funktionärselite Fähigkeiten „politischer Artikulation und Mobilisierung“ (Fi- jalkowski 2001, S. 173) erlernte. Der entstehende Kontakt und Austausch zwischen Parteien und Vereinen diente für Migranten/Migrantinnen als Brücke zum partei- politischen Engagement. Vor dem Hintergrund einer sich verstärkenden Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung setzte zur gleichen Zeit die Berliner CDU auf eine restriktive „Aus- länderpolitik“. In einer vom Spiegel in Auftrag gegebenen Umfrage vor den Abge- ordnetenhauswahlen erreichten beispielsweise die Türkeistämmigen die niedrigs- ten Sympathiewerte (Der Spiegel 30.03.1981, S. 47). Diese Entwicklung wurde durch eine öffentliche Debatte über eine angebliche „Ghettobildung“ in bestimm- ten Bezirken von Berlin (Lanz 2007, S. 71) sowie durch eine angeblich zunehmen- de Radikalisierung türkischer Gruppierungen (Schwarz 2001, S. 129) verstärkt. Die Berliner CDU nutzte diese Stimmung für einen ausländerfeindlichen Wahl- kampf aus, welcher zumindest teilweise zu einem Wahlsieg und einem Regie- rungswechsel 1981 beitrug (ebd., S. 130; Lanz 2007, S. 103). Dabei richtete sich die Kampagne insbesondere gegen die türkische Bevölkerung, die damals die größ- DIE BERLINER SPD | 123 te Einwanderungsgruppe in Berlin darstellte.29 Nach ihrer erfolgreichen Wahl ver- folgte die CDU neben der Politik Johns eine restriktive Haltung in der Ausländer- politik. Dabei markierte der sogenannte „Lummer-Erlass“ von Innensenator Hein- rich Lummer (CDU) vom 20. November 1981 eine neue Qualität. Unter anderem sollten nach diesem Vorschlag „alle 18jährigen legal in West-Berlin lebenden Aus- länder abgeschoben werden, wenn sie nicht schon mindestens fünf Jahre dort leb- ten und nicht zugleich bei Vollendung ihres 18. Lebensjahres über ein Ausbil- dungs- oder Arbeitsverhältnis verfügten“ (Meinhardt 1984, S. 107f.). Es ging dem- nach nicht nur um einen weiteren Zuzugsstopp, sondern auch um eine aktive Ab- schiebepolitik. Auch innerhalb der SPD spiegelten sich diese Haltungen wider, die eine Basis für die aufgezeigte Skepsis gegenüber einer politischen Eingliederungs- fähigkeit von Migranten/Migrantinnen waren.

5.1.2 Lokalspezifische Mobilisierungsfaktoren und innerparteilicher Organisationsaufbau

Neben der Berliner Migrantenpolitik spielen zwei lokalspezifische Faktoren eine Rolle, die die parteipolitischen Inkorporationsprozesse begünstigen. Zum einen ist es die Konzentration von Einwanderern/Einwanderinnen in bestimmten Bezirken, die letztere vor besondere Herausforderungen stellen. Die daraus resultierenden Konflikte führen zu einer Vermittlungsarbeit, die den Kontakt zwischen politi- schen Veranwortlichen und Migranten/Migrantinnen fördert. Zum anderen ist es das Engagement sozialdemokratischer türkischer Vereine, die diesen Austausch begünstigen. Ein Großteil der ausländischen Arbeitskräfte siedelte sich in den 1970er und 1980er Jahren in Bezirken wie Kreuzberg, Wedding, Neukölln, Schöneberg und Spandau an. In den 1990er Jahren zogen überdies viele Aussiedler_innen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Charlottenburg (Kapphan 1999, S. 16f.; 2001, S. 93, 97, 103). Diese Bevölkerungsgruppen wohnten nicht selten in sanierungsbedürfti- gen Wohnungen und waren von sozialer Marginalisierung betroffen. Die daraufhin entstehenden Vereinigungen und Initiativen förderten den Kontakt zwischen Lo- kalpolitikern/-politikerinnen und Einwanderern/Einwanderinnen. Hier sticht insbe- sondere Kreuzberg hervor. In der wissenschaftlichen Literatur werden die Hausbe- setzerszene und Konflikte um Wohnraum in den 1980er Jahren in diesem Stadtteil genannt (Gerdes 2009, S. 116; Hartmann et al. 1998, S. 351). Ein damals aktiver Migrant berichtete, dass hier Kontakte und Vertrauen zwischen Ausländern/Aus- länderinnen und Deutschen verstärkt wurden und somit ein Übergang zum zivilge-

29 So lag der Anteil der türkischen Staatsbürger_innen unter den Ausländern/Ausländer- innen 1980 bei 49 Prozent (Schwarz 1992, S. 123).

124 | PARTEIEN UND MIGRANTEN sellschaftlichen und politischen Engagement erleichtert wurde (Interview mit S). Überdies trug der lokale politische Parteienwettbewerb zum Bemühen der Parteien um die eingewanderte Bevölkerung bei. Die linksgerichtete Alternative Liste (AL)30 gründete sich in Kreuzberg, zu deren Gründungsmitgliedern der türkisch- stämmige Riza Baran gehörte. Ferner stellte die AL bereits 1987 mit der Kreuzber- gerin Sevim Celebi-Gottschlich die erste türkischstämmige Mandatsträgerin im Abgeordnetenhaus (Kleff 2009, S. 67). Insofern ging die AL in politischen Reprä- sentationsfragen voran und zeigte, wie eine Inkorporation von Einwanderern/Ein- wanderinnen funktionieren konnte. Ein weiterer wichtiger Faktor war das Vorhandensein lokal verankerter türki- scher Migrantenorganisationen, die die Basis für ein späteres politisches Engage- ment in Berlin legten. Bereits 1957, d.h. lange vor der großen Einwanderung der türkischstämmigen Arbeitnehmer_innen Ende der 1960er Jahre, gründeten tür- kischstämmige Studenten/Studentinnen den Verein Türkischer Studentenverein in Berlin e.V. (BTÖB) (Özcan 1992, S. 69). Dieser hatte das Ziel, die türkischen Stu- dierenden in West-Berlin zu vereinigen und als Informations- und Austauschplatt- form zwischen den Ländern und Kulturen zu fungieren (ebd.). Mit der verstärkten Einwanderung von türkischen Arbeitskräften Ende der 1960er in Berlin gab es ne- ben dem Studentenverein den „Türkischen Arbeiterverein in Berlin“, der 1964 ge- gründet wurde. Letzterer verfolgte die Absicht, „den in Berlin wohnenden Arbeite- rInnen behilflich zu sein, bei ihnen gegenseitige Hilfsbereitschaft und Solidarität zu fördern und zu ermöglichen, daß der Aufenthalt der in Berlin lebenden türki- schen ArbeiterInnen in einer freundlichen Atmosphäre abläuft“ (Özcan 1993, S. 66). Mit den politischen Entwicklungen in der Türkei, d.h. insbesondere der Mili- tärputsch 1980, kam es darüber hinaus zur Gründung verschiedener türkischer Vereine, die „fast das gesamte Spektrum der politischen Parteien und Strömungen in der Türkei“ (ebd.) abbildeten. Unter den linksgerichteten Organisationen befand sich die Türkische Sozialistengemeinschaft in Berlin, die sich 1967 gründete, um die sozialistisch orientierten türkischen Studierenden und Arbeiter_innen unter ei- nem Dach zu vereinigen (Özcan 1992, S. 223). Es kam im Laufe der politischen Auseinandersetzung in der Türkei zu einer weiteren Zersplitterung der türkischen Linken (ebd., S. 226). Vor diesem Hintergrund bildete sich die HDB31, um die Re- publikanische Volkspartei der Türkei (CHP) im Wahlkampf finanziell zu unter-

30 Diese schloss sich 1993 zum Bündnis90/Die Grünen (kurz: die Grünen) zusammen. 31 Laut eines Berichtes der Berliner Stimme wurde der Verein vor dem Hintergrund des Wahlkampfs der CHP (Republikanische Volkspartei) in der Türkei mit dem Ziel der Stimmenwerbung in Deutschland gegründet. Gründungsmitglieder sind vor allem Stu- dierende. Der Anteil der Arbeiter_innen stieg jedoch mit der Zeit (Becker 1980, S. 3). DIE BERLINER SPD | 125 stützen (Özcan 1992, S. 275f.). Sie bildete die erste sozialdemokratische Organisa- tion türkischer Arbeitsmigranten/-migrantinnen (Özcan 1993, S. 68). Der Austausch zwischen diesem Vereinen und der SPD war dadurch begrün- det, dass sie beide die Wertevorstellung der internationalen Solidarität miteinander verband. Die ersten Kontakte wurden zwischen der SPD und dem HDB laut Aus- sage eines damals Beteiligten mit diesem Wertegedanken begründet (Interview mit P). Der anfängliche Austausch zwischen den türkischen Sozialdemokraten und den Jungsozialisten stand unter dem Zeichen der „internationalen Solidarität“ (Özcan 1992, S. 276). In dem 1980 gegründeten Arbeitskreis Ausländerpolitik, in dem ne- ben den Jusos verschiedene ausländische Organisationen, darunter auch der HDB, vertreten waren (ebd., S. 302), herrschte nach einem HDB-Mitglied „echte“ Soli- darität vor (Interview mit P). Nach dem Selbstverständnis des HDB bildete der In- ternationalismus eine wesentliche Voraussetzung für eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten. Im damaligen Leitbild des HDB ist zu lesen: „Aus ihrem Inter- nationalismus-Verständnis sieht die HDB ihre Aufgabe auch darin, unter ihren Landsleuten die Zusammenarbeit mit den deutschen demokratischen Organisatio- nen zu propagieren und gemeinsame Aktionen zu veranstalten.“ (HDB 1980, S. 3) Der Anspruch der internationalen Solidarität übertrug sich ab Ende der 1970er Jahre immer mehr auf die migrationspolitischen Debatten in Berlin. Der HDB setz- te sich verstärkt für die sozialen Belange der in Berlin lebenden türkischen Bevöl- kerung ein, da die Probleme im Wohnbereich und in den Schulen zunahmen sowie die Einwanderung von Türkeistämmigen durch die Familienzusammenführung an- hielt. Vor diesem Hintergrund suchte der Verein intensiven Kontakt mit der SPD, was bei einzelnen Persönlichkeiten innerhalb der SPD auf Interesse stieß (Inter- view mit P). Zweitens kann die Verbindung dadurch erklärt werden, dass die Kreisverbände innerhalb der SPD bis heute über eine relativ große Autonomie verfügen. Jeder Kreisverband weist einen eigenen Parteivorstand auf, der „die Verantwortung für die politische und organisatorische Arbeit“ im Kreis trägt (SPD Landesverband Berlin 2012b, § 23a* [1]). Dieser ist zudem für die Ausbildung der Funktionäre und die politische Unterrichtung der Mitglieder zuständig (ebd., § 23a* [6]). Ferner kann der Kreisverband eine Kreisdelegiertenversammlung einberufen, die das höchste Beschlussorgan des Kreises ist und die Richtlinien für die politischen Ar- beit im Kreis festlegt (ebd., § 22a* [1]; [3]). Zudem stellt sie die Delegierten für den Landesparteitag und die Kandidaten/Kandidatinnen für das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen auf (ebd., § 22a* [8]). Angesichts die- ser Kompetenzen konnten die Kreisverbände auf die skizzierten Umweltverände- rungen flexibel reagieren.

126 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

5.2 ZWISCHEN AUFBRUCHSSTIMMUNG UND ENTTÄUSCHUNG: DIE PHASE DER INNERPARTEILICHEN MOBILISIERUNG VON MIGRANTEN/MIGRANTINNEN

Die zweite Phase, die ab Ende der 1980er Jahre beginnt und bis Mitte der 1990er Jahre dauert, ist durch eine Ambivalenz geprägt. Nach einer kurzen Phase des Aufbruchs kam Enttäuschung unter den Befürwortern/Befürworterinnen einer poli- tischen Eingliederung von Migranten/Migrantinnen auf, die zu deren innerparteili- chen Mobilisierung beitrug. Ende der 1980er Jahre kam es innerhalb der Berliner SPD wie in der Bundes- partei zu Diskussionen über eine multikulturelle Gesellschaft und das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Staatsangehörige. Die Berliner Stimme zitiert den Regie- renden Bürgermeister und Sozialdemokraten Momper mit der Aussage, dass die zukünftigen Gesellschaften multikulturelle Gesellschaften seien, in denen es auch „das Wahlrecht für alle Mitglieder“ geben müsse (Berliner Stimme 1989, S. 5). Auch der damalige Vorsitzende des Fachausschusses Ausländerpolitik, Ünel, be- gründete die Initiative mit dem Argument, dass Berlin es immer wieder verstanden habe „Menschen anderer Nationalitäten einzugliedern und von ihrem kulturellem Reichtum zu profitieren“. Berlin könne „auch jetzt die Toleranz einer Weltstadt beweisen“ (Horb 1989, S. 1). Des Weiteren zeigte sich der Landesvorstand der Partei offen für eine Kampagne, in der für das Wahlrecht geworben werden sollte. Der damalige Landesgeschäftsführer Eckhard Springsklee äußerte: „Unsere Kam- pagne für die Einführung des kommunalen Wahlrechts ist ein Appell an das Ge- rechtigkeitsbewußtsein der Berlinerinnen und Berliner. Wir suchen das Gespräch mit dem toleranten, weltoffenen Berlin.“ (Horb 1989, S. 1) Der Fachausschuss bereitete maßgeblich die Kampagne vor.32 Das breite Enga- gement von Mitgliedern mit Einwanderungsgeschichte innerhalb der Partei, die über kein Wahlrecht verfügten, machte den Handlungsbedarf nach Ansicht des Ausschusses offensichtlich. In Zusammenarbeit mit dem Landesverband organi- sierte er zwei Schulungsveranstaltungen zum Thema „Kommunales Wahlrecht für Ausländer“, bei denen Mitglieder Informationen und Argumentationshilfen für die Kampagne erhalten konnten (Beckers 1989, S. 9). Mit einer Beteiligung von 300

32 Springsklee äußert sich rückblickend auf dem Landesparteitag 1990 sehr positiv über die Professionalität und das Engagement des Fachausschusses: „Da hatten wir zusammen mit dem Fachausschuß, der das inhaltlich sehr gut aufbereitet hat und auch sehr gedrängt und gefordert hatte, eine professionell vorbereitete Kampagne organisiert: mit Handzet- teln, mit Festen, einer kleinen Broschüre, die, glaube ich, viele von euch noch zu Hause oder in den Info-Stand Materialien haben.“ (Berliner SPD 1990a, S. 13) DIE BERLINER SPD | 127

Personen stieß die Veranstaltung innerhalb der Partei auf Anklang.33 Angesichts der richterlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 31. Oktober 1990 gegen die wahlrechtliche Änderung zeigte sich der Fachausschuss demonstra- tiv. Er organisierte im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahlen eine Veranstaltung mit dem Titel „Multikultopia“ – eine Verbindung der Wörter „Multikulturalismus“ und „Utopia“. Laut Bericht der Berliner Stimme wollten die Organisatoren in ei- nem Wahlkampf, „der nur auf Deutsche“ ziele, „alle Berlinerinnen und Berliner, gleich welcher Nationalität“ einladen (Berliner Stimme 1990). Unter Beteiligung von Künstlern/Künstlerinnen mit Migrationshintergrund und weiteren prominenten Persönlichkeiten sollte das Verständnis für verschiedene Kulturen geweckt werden (Berliner Stimme 1990). Gleichwohl war diese Aufbruchsstimmung unter den Beteiligten nicht von lan- ger Dauer. Ünel quittierte den Koalitionsvertrag, den die SPD mit der CDU 1990 schloss, laut eines Berichts der Tageszeitung mit den Worten: „Unter dem Strich gibt diese Koalition den 300.000 Nichtdeutschen in dieser Stadt gar nichts.“ (Ta- geszeitung 17.01.1991, S. 22) Zudem machten sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 Befürch- tungen breit, dass sich das Augenmerk nun ausschließlich auf die Bevölkerung aus den Ostbezirken richten würde34. Der Fachausschuss „Ausländerpolitik“ des Lan- desvorstands ließ Bedenken anklingen: „Der Prozeß der deutschen Einheit hat die Realisierung sozialdemokratischer Ausländer- und Flüchtlingspolitik nicht erleich- tert- im Gegenteil. Der Fachausschuss befürchtet, daß die ausländische Bevölke- rung an den Rand gedrängt wird.“ (SPD Landesverband Berlin 1990, S. 41) Diese Besorgnis bestätigt ein aktives SPD-Mitglied mit Migrationshintergrund rückblickend im Interview. Für ihn war der Mauerfall ein Bruch, welcher die Dis- kussion um Jahre zurückgeworfen habe (Interview mit P). Angesichts dieser Befürchtungen kam es zu einer innerparteilichen Mobilisie- rung, die die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen problematisierte und vorantrieb. Dabei wurde die Wiedervereinigung auch gezielt als Legitimationsgrundlage für eine verstärkte innerparteiliche Repräsentation von Migranten/Migrantinnen genutzt. Im Vorfeld seiner Wahl zum ersten türkisch-

33 Jedoch muss hervorgehoben werden, dass die Kampagne wohl auch auf innerparteili- chen Widerstand stieß. Bereits vor dem Bundesverfassungsgerichtsurteil am 31. Oktober 1990 wurde die Kampagne laut Aussage Springsklees von Fraktion und Landesvorstand gestoppt (Berliner SPD 1990a, S. 13). Diese Entscheidung führte zu Protesten insbeson- dere bei den türkischen Sozialdemokraten (Glaser 1980, S. 3). 34 So war beispielsweise insbesondere die Einbeziehung und Ansprache der Bevölkerung in den östlichen Bezirken Gegenstand des Wahlkampfes bei den Bezirksverordneten- wahlen 1992 (SPD Landesverband Berlin 1992, S. 17ff.).

128 | PARTEIEN UND MIGRANTEN stämmigen Beisitzer im Landesvorstand warb Ünel auf dem Landesparteitag am 14. September 1990 mit folgender Aussage:

„Ich werde meine Kandidatur so werten, daß es in den Umbruchzeiten auch Zeiten sind, in denen man Signale setzen muß, wo man die Chance hat, Signale zu setzen. Meine Kandida- tur sollte so verstanden werden, daß die SPD das Zusammenleben mit fast 300.000 Auslän- dern und Ausländerinnen in dieser Stadt ernst meint, daß die SPD die Existenz dieser Leute in einem vereinigten Berlin, in einer vereinigten SPD ernst nimmt.“ (Berliner SPD 1990a, S. 74)

Die Verknüpfung der eigenen Kandidatur mit einer Signalwirkung in „Umbruch- zeiten“ an die in Berlin lebenden „Ausländern und Ausländerinnen“ zeigt, wie er die Wiedervereinigung als Argument für seine Kandidatur nutzt. Eckhard Barthel, der sich den Vorsitz im Fachausschuss mit Ünel teilte, bekräftigte dieses Argu- ment:

„Diese Wahl Merih Ünels hat eine über die Person hinausgehende Bedeutung. Wir leben in einer Zeit – ganz klar – in der sehr viel vom Volk die Rede ist – verständlicherweise vom deutschen Volk –, es wäre schön, wenn wir auch von der Berliner Bevölkerung reden. Zur Berliner Bevölkerung gehören zur Zeit in West-Berlin auch viele Nichtdeutsche, und diese gehören auch innerhalb unserer Partei zu uns. Deswegen wäre es ein hervorragendes Signal, das erste Mal in diesem Landesvorstand auch einen Genossen zu haben [...] der eben nicht den deutschen Paß in der Tasche hat, aber auch mit Mitglied dieser Partei ist.“ (Ebd., S. 76).

Ebenso er spricht von einer Signalwirkung durch die Wahl Ünels, weil dieser re- präsentativ für die „Nichtdeutschen“ stehe. Barthel entkoppelt hier innerparteiliche Repräsentationsfragen von der Staatsangehörigkeit („einen Genossen zu haben [...] der eben nicht den deutschen Paß in der Tasche hat“), indem er die Definition des „deutschen Volkes“ durch die „Berliner Bevölkerung“ ersetzt. Die Wiedervereini- gung wird somit zum Anlass genommen, die Repräsentation jenseits staatsbürger- schaftlicher Grenzen zu legitimieren. Darüber hinaus merkt Ünel in seiner Bewer- bungsrede an:

„Lassen sie mich noch meine Freude zum Ausdruck bringen, daß durch diesen Einigungspar- teitag die Berliner SPD noch vielfältiger geworden ist. Es gibt nicht nur Italiener, Spanier, Griechen und Türken in dieser Partei, jetzt gibt es auch noch MongolInnen, KubanerInnen und Kasaken und Bulgaren in dieser Partei. Ich denke, in einer europäischen Metropole steht einer internationalistischen Partei auch solch eine multi-ethnische Mitgliederstruktur.“ (Ber- liner SPD 1990b, S. 57)

DIE BERLINER SPD | 129

Nicht allein die Türkeistämmigen, sondern vielmehr der multiethnische Charakter der Mitgliederstruktur der Partei wird hervorgehoben.35 Dass Ünel im ersten Wahlgang mit den meisten Stimmen unter allen Bewerbern/Bewerberinnen zum Beisitzer gewählt wurde, deutet darauf hin, dass die vorgebrachten Argumente auf positive Resonanz stießen. Neben der Durchsetzung der Personalie Ünels kam es auf weiteren Ebenen der Partei zu einer Thematisierung der parteipolitischen Inkorporation von Einwande- rern/Einwanderinnen. Der Ausschuss für Migrationspolitik36 wies auf den Miss- stand der Unterrepräsentation von Migranten/Migrantinnen hin. Vor diesem Hin- tergrund forderte er, dass „unter den von der SPD nominierten Vertreter/innen für die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten auch ein(e) Berliner/in nichtdeutscher Herkunft sein [sollte]“ (SPD Landesverband Berlin 1994, S. 53). Mit der Wahl von Havva Engin, eine Kandidatin türkischer Herkunft aus Schöne- berg, kam die SPD Fraktion diesem Wunsch nach (ebd.). Des Weiteren problema- tisierte der Fachausschuss die fehlende Repräsentation von Einwanderern/Einwan- derinnen im Abgeordnetenhaus. Nach einem Bericht der Berliner Stimme bezeich- nete der Fachausschussvorsitzende Eckhard Barthel nach den Bezirksverordneten- wahlen 1992 die fehlende Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in den West-Berliner kommunalen Parlamenten37 als eine „Schande“ und machte dafür die fehlende Ansprache von Migranten/Migrantinnen als auch deren fehlende Be- reitschaft zu einer Kandidatur verantwortlich. Laut Bericht sei „ein schlichtes Normalitätsverhältnis zu den GenossInnen ausländischer Herkunft [...] in der Partei

35 Auch der Fachausschuss Ausländerpolitik äußerte im Jahresbericht der Berliner SPD von 1992, dass seine Zusammensetzung „multikultureller“ geworden sei, indem nun- mehr auch Menschen aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion sich an der politischen Arbeit beteiligten (SPD Landesverband Berlin 1992, S. 38). 36 Dabei handelt es sich um den einstigen Ausschuss „Ausländerpolitik“, der 1994 umbe- nannt wurde (SPD Landesverband Berlin 1996, S. 51). Hintergrund bildete, wie auf Bundesebene, eine zunehmende Tabuisierung des Ausländerbegriffs. So hieß es im Jah- resbericht der Partei zur Begründung: „Da Begriffe in der Politik von großer Bedeutung sind, […], wollen wir den Namen unseres Fachausschusses, ‚Ausländerpolitik‘, ändern. Schließlich geht es bei uns nicht um Ausländer, sondern um Migranten, ‚Inländer mit ausländischem Pass‘ oder ethnische Minderheiten.“ (SPD Landesverband Berlin 1994, S. 53). 37 Tatsächlich gab es ausschließlich drei Personen mit Migrationshintergrund, die für die SPD in den ehemaligen Ostbezirken Pankow, Friedrichshain und Hohenschönhausen gewählt wurden. Darunter waren zwei Polnischstämmige sowie ein Spanischstämmiger. Letzterer war der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain Helios Mendiburu (Volkert 2012).

130 | PARTEIEN UND MIGRANTEN noch nicht erreicht.“ (Jacobs 1992, S. 11). Auch das Berliner SPD-Mitglied Ahmet Iyidirli zählte 1994 in einem Spiegel-Interview Gründe für die fehlende innerpar- teiliche Repräsentation von Migranten/Migrantinnen auf:

„Ausländische Mitglieder haben es in der SPD nicht leicht. Sie werden immer noch als Fremdkörper betrachtet. [...] Um in der Parteihierarchie weiter nach oben zu gelangen, muss man Ochsentouren fahren. Ausländische Mitglieder sind zumeist Einzelkämpfer, mitten auf der Strecke geht ihnen die Puste aus.“ (Nirumand 17.09.1994, S. 31)

Die „Außenseiterposition“ von Migranten/Migrantinnen („Fremdkörper“; „Einzel- kämpfer“) wird hier als Hauptgrund für den fehlenden Aufstieg in politische Ämter gesehen. Um diesem Missstand zu begegnen, bat der Fachausschuss vor den Ab- geordnetenhauswahlen und Bezirksversammlungswahlen 1995 die Kreisverbände schriftlich „auch GenossenInnen nicht-deutscher Herkunft auf aussichtsreiche Plät- ze zu nominieren“ (SPD Landesverband Berlin 1996, S. 52). Schließlich mobilisierten sich insbesondere Parteimitglieder mit Migrationshin- tergrund38, um gegen den sich abzeichnenden innerparteilichen Stillstand im Be- reich der Einwandererpolitik anzugehen. Die bereits erwähnte AGIAF, die Ende der 1980er Jahre gegründet worden war, war, laut Aussage eines ihrer Mitglieder, eine Gruppierung innerhalb der Partei, die sich nach der Wende für eine Arbeits- gemeinschaft Migration einsetzte und wesentlichen Anteil an deren Durchsetzung auf dem Landesparteitag 1997 hatte (Interview mit R). Der Landesvorstand war gegen eine solche Arbeitsgemeinschaft39, so dass die Befürworter_innen die ver- schiedenen Flügel innerhalb der Partei von einem solchen Vorhaben überzeugen mussten. Das besagte Mitglied hebt deshalb die Bedeutung der Parteienbasis bei der Durchsetzung hervor. Erst kurz vor der Abstimmung habe schließlich der Lan- desvorstand eingelenkt (ebd.)40. Ein weitere befragte Person formuliert es grund-

38 Ende der 1990er Jahre wurden die Genossen/Genossinnen nichtdeutscher Herkunft von Seiten der Arbeitsgemeinschaft Migration auf rund 500 Personen beziffert, wobei nicht klar ist, auf welcher Datenbasis diese Erhebungen erfolgten (Kolat 1999, S. 1). 39 So habe sich laut eines damaligen involvierten Akteurs der damalige Parteivorsitzende Peter Strieder gegen eine solche Arbeitsgemeinschaft ausgesprochen. Dieser Widerstand drückte sich unter anderem darin aus, dass eine Werbe- und Präsentationsveranstaltung für eine solche Arbeitsgemeinschaft nicht in der Berliner Parteizentrale, sondern in Kreuzberg stattfinden musste (ebd.). 40 Wobei er kritisch anmerkte, dass es selbst nach dem positiven Votum weitere zwei Jahre dauerte, bis die Arbeitsgemeinschaft ihre Arbeit aufnehmen konnte. Ein Zeichen dafür, dass der Landesvorstand zumindest keine Dringlichkeit darin sah, wenn nicht gar die Einrichtung absichtlich verzögerte (ebd.). DIE BERLINER SPD | 131 sätzlicher: „Bestimmte Sachen kommen niemals direkt von der Landesebene“. Vielmehr müsse „der Druck von unten“ kommen. Die Landesebene nehme dann bei Bedarf „Gas und Druck“ raus. Sie seien aber damit sehr sparsam (Interview mit P). Mit verschiedenen Argumenten wurde für die Arbeitsgemeinschaft geworben. Im Bewerbungsflyer der Arbeitsgemeinschaft heißt es:

„Die ‚Ausländerpolitik‘ wird in der Berliner SPD als ein Randthema wahrgenommen. Die Integration ist eine wichtige und dauerhafte Aufgabe für Berlin. In diesen Fragen gibt es immer wieder Querschüsse und unqualifizierte Äußerungen von manchen bekannten SPD- Funktionären. Ziel muß sein, daß das Thema sachlich und ohne Emotionen diskutiert wird. Dabei sollten insbesondere die GenossInnen nichtdeutscher Herkunft in die Diskussion ein- bezogen werden.“ (Kolat 1999)

Somit fungierten die behauptete Vernachlässigung der „Ausländerpolitik“ sowie der „Integrationspolitik“ als Argumentationsgrundlage. Des Weiteren warb die Ar- beitsgemeinschaft Migration bei der Erstaufstellung ihres Vorstandes gezielt unter dem Motto „Team Global“ für ihre Kandidaten/Kandidatinnen. Diese stammten laut Werbeflyer nicht mehr allein aus der Türkei, sondern auch aus Jugoslawien, Ghana, Russland, Chile, Palästina und den Niederlanden (ebd.).

5.2.1 Die Multikulturalismus-Debatte und die rot-grüne Regierungskoalition als Katalysator

Die Aufbruchsstimmung in der zweiten Phase lässt sich durch eine Kumulation verschiedener umweltbedingter Entwicklungen ab Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre erklären. Auf Bundesebene gewann die politische Diskussion über eine multikulturelle Gesellschaft in Berlin an Bedeutung. Diese Rhetorik stand laut Lanz zudem im Zusammenhang der Stilisierung Berlins zu einer kosmopolitischen internationalen Kulturmetropole, hinter der sich „ein gewisser Stolz“ auf die Inter- nationalität Berlins verbarg (Interview mit Lanz). Der damalige Regierende Bür- germeister Eberhard Diepgen verknüpfte (CDU) in seiner Regierungserklärung 1985 „die Anwesenheit von Einwanderern nicht mehr mit ihrem ökonomischen Beitrag, sondern mit jenem zur kulturellen Vielfalt der Metropole“ (Lanz 2007, S. 105). Diese Debatte wurde innerhalb der SPD dadurch verstärkt, dass sie vier Jahre später eine Regierungskoalition mit der linksgerichteten AL bildete. Die Wahl des Sozialdemokraten Momper zum Regierenden Bürgermeister wurde durch die erst- malige Bildung einer rot-grünen Koalition ermöglicht. Diese politische Allianz führte dazu, dass die Rechte von Migranten/Migrantinnen stärker thematisiert wur- den, denn die AL war auf dem linken Spektrum angesiedelt, vertrat postmaterialis- tische Werte (Lempp 2007, S. 131) und setzte sich schon Anfang der 1980er Jahre dafür ein, „dass Minderheiten mit eigener Stimme vertreten sein sollten“ (Schön-

132 | PARTEIEN UND MIGRANTEN wälder et al. 2011, S. 65). Auch wenn die AL bis Mitte der 1980er Jahre den Ruf als „Antiparteien-Partei“ hatte und als koalitionsunfähig galt (Reichart-Dreyer 2008, S. 151), erhöhte sich der Druck auf die Sozialdemokraten, eine rot-grüne Koalition in Erwägung zu ziehen, da die AL wachsende Zustimmungswerte verbu- chen konnte und sich langfristig als vierte politische Kraft41 im Berliner Parteien- system etablierte, während die SPD an Stimmen verlor.42 Entsprechend rückten Themen wie Umweltpolitik, aber auch Fragen nach einer Gleichberechtigung von Mann und Frau stärker in den Fokus der Partei (SPD Landesverband Berlin 1988, S. 10f.). Auch stimmte auf dem Landesparteitag 1987 eine Mehrheit für die Ein- führung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen (SPD Landesverband Berlin 1988, S. 45). Dies war ein zentrales Anliegen der AL, das im Koalitionsver- trag Berücksichtigung fand (Schwarz 1992, S. 136). Darüber hinaus führte die Zu- sammenarbeit mit der AL auch zu einem Austausch zwischen den Parteimitglie- dern mit Migrationshintergrund. Ein damals aktives SPD-Mitglied mit Migrations- hintergrund berichtet, dass es unter den Migranten/Migrantinnen beider Parteien zu einem inhaltlichen Austausch kam, wobei innerhalb der AL migrationspolitische Forderungen offener diskutiert werden konnten (Interview mit P). Die AL nominierte in den 1990er Jahren zudem Migranten/Migrantinnen für die Bezirksverordnetenversammlungen43 (BVV). Bei den Bezirksverordnetenwah- len wurden 1992 allein in Kreuzberg mit Riza Baran, Özcan Mutlu und Selcuk Is- kender-Thoring drei türkischstämmige Migranten/Migrantinnen gewählt, die für die AL antraten.44 Im Vergleich dazu, konnte die SPD trotz ihrer Rhetorik zum Wahlrecht für Ausländer_innen nichts bieten. Diese Mischung aus politisch-inhaltlicher und wettbewerbsbedingter Verände- rungen war eine entscheidende Bedingung für die Aufbruchsstimmung unter den Befürwortern/Befürworterinnen einer stärkeren politischen Einbindung von Men- schen mit Migrationshintergrund in die SPD. Gleichwohl war bedeutsam, dass sie

41 Die AL hatte bereits bei den Abgeordnetenhauswahlen 1979 3,7 Prozent der Stimmen. 1981 erreichte sie dann 7,2 Prozentpunkte der Stimmen, so dass erstmals eine weitere politische Kraft im Abgeordnetenhaus vertreten war. 1985 lag ihr Stimmenanteil bei 10,6 Prozent (Reichart-Dreyer 2008, S. 149). 42 Während sie in den 1970er Jahren noch bei über 40 Prozent Stimmenanteilen lagen, ka- men sie 1985 auf 32,4 Prozent (Reichart-Dreyer 2008, S. 149). 43 Dabei handelt es sich um das oberste Organ des Bezirks, das neben dem Bezirksamt Teil der Bezirksverwaltung ist. Berlin hat insgesamt zwölf Bezirke und somit zwölf Bezirks- verordnetenversammlungen. Die BVV wählt jeweils den Bezirksbürgermeister bzw. die Bezirksbürgermeisterin (vgl. http://www.berlin.de/ba-tempelhof-schoeneberg/politik/bvv /bvv-info.html; letzter Zugriff am 15.04.2014). 44 Murat Sengül wurde für die AL in Schöneberg gewählt (Volkert 2012). DIE BERLINER SPD | 133 bereits auf ein institutionelles Netzwerk innerhalb der Partei zugreifen konnten (vgl. 5.1), um ihre Forderungen zu artikulieren und zumindest teilweise durchzu- setzen.

5.2.2 Das Scheitern der Koalition und die Auswirkungen der Wiedervereinigung

Neben der Aufbruchsstimmung gilt es aber auch die eintretende Ernüchterung un- ter den Beteiligten zu erklären. Zwei parallele Entwicklungen waren dabei ent- scheidend. Erstens scheiterte die Koalition zwischen SPD und AL. Außerdem brachte die Wiedervereinigung eine einschneidende politische Wende mit sich. Die Koalition hielt insgesamt nur ein Jahr und wurde bereits 1990 durch eine schwarz-rote Koalition abgelöst. Entsprechend konnten viele Projekte in der Ein- wanderungspolitik nicht umgesetzt werden. Dementsprechend zeigte sich der Fachausschuss „Ausländerpolitik“ enttäuscht darüber, wie „wenig in der Auslän- der- und Flüchtlingspolitik erreicht werden konnte“ (SPD Landesverband Berlin 1990, S. 40). Diese Enttäuschung bezog der Ausschuss insbesondere auf das Schei- tern eines Gesetzesantrags zur Einführung des kommunalen Wahlrechts. Entspre- chend sah man die Parteimitglieder ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Hinblick auf die politische Beteiligung weiterhin benachteiligt (ebd.). Die zweite wichtige Entwicklung, wie bereits angeklungen, muss in der Wiedervereinigung 1990 gese- hen werden. Hiervon war insbesondere Berlin als geteilte Stadt betroffen. Auch Lanz geht in seiner Analyse davon aus, dass Fragen über ein Zusammenleben zwi- schen Migranten/Migrantinnen und Nicht-Migranten/Migrantinnen in den Hinter- grund gerieten, um die Fremdheit zwischen West- und Ostberlin abzubauen (Lanz 2007, S. 129). Die Wiedervereinigung stellte seinen Erkenntnissen nach ein „trau- matisches Erlebnis“ für die Einwanderer/Einwanderinnen dar, weil das gerade ge- wachsene politische Interesse an der Situation der eingewanderten Bevölkerung plötzlich wieder zu schwinden drohte (Interview mit Lanz). Zudem führte die Wiedervereinigung zu einer Deindustrialisierung Berlins, welche die Arbeitslosig- keit insbesondere unter Migranten/Migrantinnen sowie das soziale Konfliktpoten- tial in der Stadt steigen ließ (Hunger und Thränhardt 2001, S. 123). Gleichzeitig kam es in den 1990er Jahren zu einer verstärkten Einwanderung aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion (Kapphan 2001, S. 94) sowie aus Polen (Lanz 2007, S. 124). Die öffentliche Auseinandersetzung um das „Ausländerproblem“ nahm wieder zu (ebd., S. 132). Der konservative regierende Bürgermeister Diepgen stell- te in seiner Regierungserklärung klar, dass angesichts des städtischen Umbruchs

134 | PARTEIEN UND MIGRANTEN sowie der finanziellen Probleme Berlin keine Einwanderungsstadt sein könne (Lanz 2007, S. 129).45

5.3 PRIORISIERUNG DES WAHLSTIMMENFANGS UND DER POLITISCHEN REPRÄSENTATION VON MIGRANTEN/MIGRANTINNEN

Bezeichnend für die dritte Phase, die ab Mitte der 1990er Jahre beginnt und bis 2009 reicht, ist die Ansprache der eingewanderten Bevölkerung als potenzielle Wähler_innen sowie die Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrati- onshintergrund für die Abgeordnetenhauswahlen. Im Wahlkampf für die Abgeordnetenhaus- und Bezirksverordnetenwahlen 1995 wurden die Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund gemein- sam mit der damaligen Spitzenkandidatin der SPD, Ingrid Stahmer, durch Wer- bung in türkischen Medien einer „wachsenden Zahl Berliner WählerInnen auslän- discher Herkunft bekannt gemacht“ (SPD Landesverband Berlin 1996, S. 52f.). Darüber hinaus berichtete der Fachausschuss von gezielten Bemühungen „um EU- BürgerInnen, die ja erstmals das aktive und passive Wahlrecht für die BVV-Wahl erhalten hatten. Neben Info-Materialien und Besuchen bei den entsprechenden Vereinen veranstalteten wir gemeinsam mit GenossInnen von Bruder/Schwester- Parteien und der SPD-Tiergarten eine gemeinsam gelungene EU-Fete im Tiergar- ten“ (ebd., S. 53). Des Weiteren gab es 1999 mit Dilek Kolat die erste türkischstämmige Direkt- kandidatin46, die bei den Abgeordnetenhauswahlen für die SPD antrat (Grunert

45 Gleichwohl waren die Diskussionen nicht vergleichbar mit den Debatten Anfang der 1980er Jahre. So richtete sich die Fremdenfeindlichkeit nicht mehr primär auf die Tür- kischstämmigen, sondern vielmehr auf die Einwanderer/Einwanderinnen aus Ostmittel- europa. Zudem sprach sich Diepgen in besagter Regierungserklärung gegen eine „deut- sche Monokultur“ aus und warb für eine verstärkte Einbürgerung (Lanz 2007, S. 131). Parallel gewann der bereits Ende der 1980er Jahre angeklungene städtische Diskurs über Berlin als internationale Metropole wieder an Bedeutung. So sollte die Betonung auf Berlin als europäische Metropole gelegt werden, welche mit den „Attributen kosmopoli- tisch, urban und vielfältig“ verknüpft wurde, um multinationale Investoren für den Standort Berlin zu interessieren (ebd., S. 184f.). 46 Die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses bestimmt sich zum einen durch die Gewählten der Direktwahlkreise nach Mehrheitswahlrecht und die Gewählten auf den Bezirks- oder Landeslisten nach Verhältniswahlrecht. DIE BERLINER SPD | 135

08.11.1999). Sie und Spitzenkandidat Momper tauschten sich bei einer Wahlveran- staltung mit deutsch-türkischen Unternehmern/Unternehmerinnen aus (SPD Lan- desverband Berlin 2000, S. 85). Ebenso war die stattfindende Pressekonferenz mit Parteivorsitzenden Peter Strieder und Dilek Kolat Ausdruck dafür, dass auch die Parteienspitze die Bedeutsamkeit des Wählerpotentials zunehmend erkannte (SPD Landesverband Berlin 2000, S. 85). Schließlich reagierte Strieder auf einer Presse- konferenz im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahlen 2001 auf das wahlstrategische Manöver des gegnerischen Spitzenkandidaten (CDU), der mit Emine Demirbüken47 eine türkischstämmige Migrantin in das Wahlkampfteam aufge- nommen hatte (Tageszeitung 28.07.2001, S. 22), mit den Worten: „Wir brauchen keine Berater, wir haben real existierende Kandidaten.“ So präsentierte er Dilek Kolat, Ülker Radzwill und Thuy Nonnemann als SPD-Kandidatinnen (Grunert 16.08.2001). Zudem wurde Kolat, laut eines Berichts des Tagesspiegels, als Teil eines jungen und dynamischen Bewerberfelds beworben. Der Parteivorsitzende Strieder betont in diesem Zusammenhang, dass das Alter sowie der berufliche Hin- tergrund der Kandidaten/Kandidatinnen ein Gegenentwurf zu einer Partei des öf- fentlichen Dienstes seien (Der Tagesspiegel 31.08.2001, S. 10). Zugleich stellte er Kolat bei einem weiteren Pressetermin mit anderen Kandidatinnen als Abbild der „kulturellen Vielfalt“ der Stadt dar (Katenkamp 17.08.2001, S. 19). Insofern fun- gierten die nominierten Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund als Symbol einer Erneuerung der Partei sowie als Spiegelbild einer Einwanderungs- stadt. Ferner wurde 2005 mit Ahmet Iyidirli erstmals ein Berliner Sozialdemokrat mit türkischen Migrationshintergrund für die Bundestagswahl aufgestellt (Lohre 25.06.2005, S. 25). Auch die 1997 gegründete Arbeitsgemeinschaft Migration betrachtete zu die- sem Zeitpunkt als eine ihrer zentralen Aufgaben, „Wählerinnen und Wähler nicht- deutscher Herkunft“ anzusprechen (SPD Landesverband Berlin 2000, S. 85). Erol Özkaraca, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft, befürchtete laut eines Zeitungsbe- richts, dass die SPD ins „Hintertreffen“ gerate, da sich nicht nur die Grünen, son- dern auch CDU um die Wählergruppe der Einwanderer/Einwanderinnen bemühe (Winden 01.08.1997, S. 18).48 Ferner forderte die Arbeitsgemeinschaft, die inner-

47 Sie war zum damaligen Zeitpunkt als Ausländerbeauftragte des Bezirks Tempelhof- Schönebergs aktiv. In dieser Berufung sah Steffel laut eines Zeitungsberichts ein Signal dafür, dass die CDU die Anliegen von Migranten/Migrantinnen ernst nehme (Tageszei- tung 28.07.2001, S. 22). 48 Sowohl die Gründung der Deutsch-Türkischen Union (DTU) 1996, die den türkischen Mittelstand anvisierte, als auch Initiativen wie den 1999 gegründeten CDU- Zukunftskreis 1999, der sich für eine liberaler Ausländerpolitik innerhalb der CDU ein-

136 | PARTEIEN UND MIGRANTEN parteiliche Kommunikation von Migranten/Migrantinnen untereinander zu fördern, um ihre Chancen bei der Wahl von Funktionsträgern/-trägerinnen zu stärken (Kolat 1999). In diesem Zusammenhang sollte die Partei auf das „nicht zu unterschätzen- de Wählerpotential“ aufmerksam gemacht werden, um die Anreize der Nominie- rung von Migranten/Migrantinnen zu verdeutlichen (ebd.). Auch nach der Jahrtau- sendwende war die Arbeitsgemeinschaft in diesem Bereich aktiv. Von der Förde- rung der innerparteilichen Vernetzung unter Migranten/Migrantinnen (SPD Lan- desverband Berlin 2004, S. 82; SPD Landesverband Berlin 2008, S. 101)49, über die Wahlmobilisierung und Mitgliederanwerbung von Migranten/Migrantinnen (SPD Landesverband Berlin 2000, S. 85, 2002, S. 82) bis hin zur Unterstützung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund im Wahlkampf (SPD Landesverband Berlin 2006, S. 104, 2008, S. 102) reichte der Aktionsraum.50 Jedoch scheiterte sie immer wieder mit weitreichenden Forderungen am Wi- derstand des Landesvorstands. Beispielsweise konnte die Forderung nach einer landesweiten Mitgliederkampagne (Alberti und Wierth 06.05.2011, S. 21) oder ei- ner „Selbstverpflichtung zur Berücksichtigung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund auf aussichtsreichen Listenplätzen“ (Berliner SPD 2009, S. 78) nicht durchgesetzt werden.

5.3.1 Steigendes Wahlpotenzial von Einwanderern/Einwanderinnen und die Erneuerung der Partei

Die verstärkte Ansprache von Wählern/Wählerinnen mit Migrationshintergrund sowie die Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen nichtdeutscher Herkunft lassen sich auf zwei wesentliche Faktoren zurückführen. Erstens nahm zum einen der Stimmenanteil der eingewanderten Bevölkerung ab Mitte der 1990er Jahre weiter zu. Grund hierfür war zum einen die Liberalisierung des Ausländergesetzes auf Bundesebene (vgl. 4.3.1), welche durch eine liberale Einbürgerungspraxis in Berlin begleitet wurde (Hunger und Thränhardt 2001, S. 120f.; Kapphan 2001, S. 94). Zum anderen fand das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger_innen 1995 bei

setzte (Der Tagesspiegel 12.01.1999, S. 11), zeigten das Bemühen der CDU um Wäh- ler_innen mit Migrationshintergrund. 49 So wurde 2008 das Netzwerk Integration gegründet, das zur parteiinternen Vernetzung von „Experten und Expertinnen in Integrationsfragen“ dienen sollte (SPD Landesver- band Berlin 2008, S. 101). 50 Darüber hinaus konnte sie bis 2012 ihre Mitgliederzahl auf 700 steigern und auch Able- ger in elf von zwölf Kreisverbänden installieren (SPD Landesverband Berlin 2012a, S. 68). DIE BERLINER SPD | 137 den Bezirksverordnetenwahlen in Berlin erstmals Anwendung. Von nun an hatten nicht nur Bürger_innen mit deutscher Staatsbürgerschaft, sondern auch EU- Ausländer_innen das aktive und passive Stimmrecht auf kommunaler bzw. bezirk- licher Ebene. Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses stieg zudem die An- zahl der Einwanderer/Einwanderinnen aus der europäischen Union.51 Während die Zahl der Ausländer_innen aus der europäischen Union 1991 bei rund 40.000 lag und somit etwas mehr als 10 Prozent aller Ausländer_innen ausmachte, stieg deren Zahl 1999 auf ungefähr 67.000 und ihr Anteil auf über 15 Prozent (Kapphan 2001, S. 96). Ein zweiter Faktor war, dass die SPD bis Ende der 1990er Jahre zunehmend an Stimmen verlor. Sie konnte bei den Wahlen 1995 23,6 Prozent und 1999 22,4 Pro- zent der Wähler_innen auf sich vereinen. Die SPD befand sich mitten in einem „beispiellosen Erosionsprozess“ (Reichart-Dreyer 2008, S. 153; Niedermayer und Stöss 1996, S. 407; 411). Gleichzeitig differenzierte sich nach der Wiedervereini- gung das Parteiensystem weiter aus. Hinzu kam die SED-Nachfolgepartei, die Par- tei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die bei den Wahlen 1990 auf Anhieb 9,2 Prozent der Stimmen erhielt und bereits 1995 ihren Anteil auf 14,6 Prozent ausbauen konnte (Reichart-Dreyer 2008, S. 149). Sie bildete langfristig für die SPD einen potenziellen Koalitionspartner neben der CDU und den Grünen. Hierzu hatte sie Gelegenheit, als es aufgrund des Bankenskandals52 zu einem Bruch der schwarz-roten Koalition kam und ein Neustart gewagt werden musste. Die SPD stellte erfolgreich ein Misstrauensvotum gegen den damaligen regierenden Bür- germeister Diepgen (CDU) und bildete mit den Grünen sowie einer Tolerierung der PDS die Regierung. Nach der Selbstauflösung des Abgeordnetenhauses und anstehenden Neuwahlen galt es, eine Erneuerung der Partei nach „außen“ zu ver- mitteln, um die krisenhaften Jahre zu überwinden. Die SPD wollte sich vom einsti- gen Image – dem einer „Patronagepartei“ des „öffentlichen Dienstes“ (ebd.) lösen – und bewusst durch ein verjüngtes Spitzenpersonal insbesondere junge Wähler_- innen ansprechen.

51 Zur EU zählte noch nicht Polen, das somit in der Statistik getrennt aufgeführt wurden. 52 Ausgelöst wurde der Bankenskandal durch die parteifreundlichen Bankgeschäfte des CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus Landowsky, der gleichzeitig auch Chef der Berlin- Hannoverschen Hypothekenbank war (Reichart-Dreyer 2008, S. 153).

138 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

5.3.2 Die Rolle der Arbeitsgemeinschaft und das Engagement innerhalb der Kreisverbände

Neben den bereits genannten Faktoren müssen für die Entwicklungen der dritten Phase die Strukturen innerhalb der Berliner SPD verantwortlich gemacht werden. Arbeitsgemeinschaften haben generell die Funktion, bestimmte Wählerschichten anzusprechen. Hierzu führen Lösche und Walter aus:

„Denn die innerparteilichen Interessensgruppen [...] wenden sich [...] an unterschiedliche Zielgruppen, die Jungsozialisten an die ökologiebewußten jungen Wähler, die Arbeitsge- meinschaft sozialdemokratischer Frauen an die berufstätigen Frauen, die Arbeitsgemein- schaft für Arbeitnehmerfragen an die Facharbeiter und an die Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst.“ (Lösche und Walter 1992, S. 211)

Entsprechend kann geschlussfolgert werden, dass die Arbeitsgemeinschaft Migra- tion die eingewanderte Bevölkerung als Zielgruppe ansprach und somit auch als deren Lobbygruppe agierte. Das Entscheidende ist nun, dass nach einer erfolgrei- chen Etablierung dieser Zusammenschluss nicht nur die innerparteiliche Legitimi- tät besaß, als Interessengruppe zu agieren und somit größeres Gewicht bei der Durchsetzung von Maßnahmen hatte, sondern diese Leistungen im Gegenzug der Bereitstellung von Ressourcen und Einfluss geradezu erwartet wurden. Zudem boten die finanziellen und organisationsrelevanten Ressourcen mehr Möglichkeiten, bestimmte Maßnahmen durchzuführen. Der Machteinfluss ist laut Organisationsstatut dadurch gegeben, dass die Landesvorsitzenden der Arbeitsge- meinschaften automatisch in den Parteivorstand auf Landesebene gewählt werden. Ferner besitzen diese das Rede- und Antragsrecht auf dem Landesparteitag (SPD Landesverband Berlin 2012b, §§ 10 [1]; 23* [2]). Insofern wurden mit der Etablie- rung der Arbeitsgemeinschaft die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Anträge auf den Parteitagen gestellt oder unterstützt werden konnten, die die parteipoliti- sche Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen zum Ziel hatten. Überdies muss die Rolle der Kreisverbände hervorgehoben werden. Gemäß des Parteienstatuts sind sie für die Nominierungen von Kandidaten/Kandidatinnen für die Abgeordnetenhauswahlen und Bezirksverordnetenwahlen zuständig (SPD Lan- desverband Berlin 2012b, § 22a* [8]). Für die Wahlkreiskandidaten/-kandidatinnen für den Bundestag haben die Kreisverbände das Nominierungsrecht (ebd., § 12* [1]).53 Hier spiegelt sich die bottom-up Struktur der Partei wider, die den unteren

53 Zwar heißt es in § 12 des Parteistatuts der Bundespartei, dass die Wahlkreisvorschläge für Bundestag und Landtage „im Benehmen mit dem Bezirks- und Parteivorstand be-

DIE BERLINER SPD | 139

Parteigliederungen bei den Nominierungen mehr Selbstbestimmung zugesteht. Demnach fallen die innerparteilichen Entscheidungsprozesse über die Nominie- rung bzw. Nicht-Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshin- tergrund auf Kreisebene und nicht auf Landesebene. Dilek Kolat54 wurde vom Kreisverband Schöneberg, Ülker Radziwill55 und Thy Nonnmeyer jeweils vom Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf aufgestellt, also jene Kreisverbände, die, wie unter 5.1 dargestellt, bereits in den 1980er Jahren mit der parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen begonnen hatten. Weitgehend unabhängig von den Interessen und Machtverhältnisse auf Landesebene konnten diese Kreisverbände somit vorangehen und ein Zeichen setzen.

5.4 ZWISCHEN ANPASSUNGSDRUCK UND EIGENSTÄNDIGKEIT GEGENÜBER IMPULSEN DER BUNDESPARTEI

Die vierte Phase beginnt 2009 und geht bis zum Ende der Erhebungszeitraums (2013). Dabei fällt auf, dass es zu einer zeitlichen Überschneidung der Phasenein- teilung mit der Bundespartei kommt (vgl. 4.5). Es kann festgehalten werden, dass es einerseits Parallelen und andererseits Unterschiede im Hinblick auf die Debatten und Maßnahmen zwischen beiden Parteienebenen gibt. In einem vom Landesparteitag 2010 verabschiedeten Antrag heißt es:

„Die SPD wieder attraktiv machen für Menschen mit Migrationshintergrund. Die SPD hat bei der Bundestagswahl insbesondere bei WählerInnen mit Migrationshintergrund deutlich an Stimmen verloren. [...]. Wir fordern eine inhaltliche Offensive innerhalb der SPD, um Menschen mit Migrationshintergrund wieder ein politisches Zuhause zu bieten. Gleichzeitig ist es notwendig, dass die SPD auch durch ihr Spitzenpersonal deutlich macht, dass sie ein politisches Zuhause für Menschen mit Migrationshintergrund ist. [...].“ (Berliner SPD 2010, S. 54)

schlossen“ werden (SPD Landesverband Berlin 2012b, § 12 [3]). Im Normalfall nimmt hier der Landesvorstand jedoch keinen Einfluss (Interview mit T). 54 Mit Dilek Kolat wurde bereits 1995 eine Bezirksverordnete mit Migrationshintergrund gewählt. Seit 2001 konnte sie immer wieder ihren Wahlkreis direkt gewinnen (Volkert 2012). 55 Laut eigenen Angaben wurde sie bei den „Türkischen Sozialdemokraten in Berlin“ poli- tisch sozialisiert (vgl. http://uelker-radziwill.de/person; letzter Zugriff am 14.04.2014).

140 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Unter dem Eindruck der bundespolitischen Entwicklungen kommt es erstmals offi- ziell zu einem Bekenntnis der Partei zu einer stärkeren Berücksichtigung von Men- schen mit Migrationshintergrund in den eigenen Führungspositionen. Als Grund wird hierfür angeführt, dass die Partei mit ihrem bisherigen Profil nicht mehr at- traktiv für „WählerInnen mit Migrationshintergrund“ sei, was sich auch in der sin- kenden Zustimmung bei den Bundestagswahlen bemerkt gemacht habe. Insofern stellt dies einen Einschnitt dar, da nunmehr das Thema der politischen Repräsenta- tion von Migranten/Migrantinnen eng mit einem Wahlerfolg verknüpft wird. Auch die Einführung einer „Migrantenquote“ in der Bundespartei ist innerhalb der Berliner SPD ein Diskussionspunkt. Ein Mitglied des Landesvorstands kom- mentiert den oben genannten Beschluss wie folgt:

„[...] ja, solche Sachen, solche programmatischen Festlegungen sind leicht zu treffen, da steht noch nicht mal drin, dass wir eine Quote wollen. Das wäre ja noch eine Frage gewesen, wo man dann auch strukturell etwas in Frage gestellt hätte. Aber das, darauf wird ja verzich- tet und insofern war es, denke ich, eine Selbstverständlichkeit, dass das angenommen wird. Wer wollte denn dagegen sein?“ (Interview mit Q)

Die Gründe für den Widerstand gegen eine Quote fasst ein weiterer Funktionsträ- ger innerhalb der Partei wie folgt zusammen:

„[...] in der Gesamtpartei ist die sehr, sehr umstritten, bzw. wird eigentlich abgelehnt, immer mit dem Argument, da werden dann ja Leute bevorzugt, da spielt der Machtgedanke immer wieder eine Rolle [...] bzw. es hat noch nicht so weh getan, dass man sich auch offen für Quotendiskussionen einlässt, solche Diskussionen werden recht schnell beendet.“ (Interview mit O)

Der Befragte geht von einer Problemlage aus, die nicht nur die Berliner SPD, son- dern die „Gesamtpartei“ betreffe. Auch die Art der Legitimierung oder Ablehnung einer Quote weist Parallelen zur Debatte innerhalb der Bundes-Partei auf. So lehnt einerseits ein damaliges Mitglied des Parteivorstands im Interview eine Quote mit der Begründung ab, dass nicht der Migrationshintergrund per se als „Bonus“ gelten könne, da in der Partei nicht nach ethnischer oder nationaler Herkunft gefragt wer- de (Interview mit T). Andererseits stellt die Bundestagsabgeordnete und Daniela Kaya, die Mitglieder der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Migra- tion und Vielfalt sind, in einer Veröffentlichung zur sozialdemokratischen Integra- tionspolitik klar, dass die Einführung einer Quote für Migranten/Migrantinnen ge- rade aufgrund der sozialen Spaltung, von der die eingewanderte Bevölkerung be- sonders betroffen sei, unabdingbar sei (Kolbe und Kaya 2013, S. 133). Mal wird die Bedeutung der ethnisch-kulturellen Herkunft negiert, mal als Voraussetzung einer gleichberechtigten Teilhabe gesehen. DIE BERLINER SPD | 141

Überdies gab es innerhalb der Berliner SPD vergleichbare Reaktionen im Zu- sammenhang der Nominierung von Aygül Özkan, Mitglied der CDU, zur ersten türkischstämmigen Ministerin in Niedersachsen wie in der Bundes-SPD (vgl. 4.5.2). Christian Hanke, Politiker der Berliner SPD, betonte im Rahmen einer öf- fentlichen Veranstaltung, dass er sich „schwarz geärgert habe“ als die CDU die erste Ministerin mit Migrationshintergrund ernannt habe. Darüber hinaus sei es „politischer Selbstmord“, die kulturelle Vielfalt nicht zur Kenntnis zu nehmen (Volkert 2011b, S. 2f.).56 Grundsätzlich formuliert das ein Parteiakteur mit Migra- tionshintergrund so:

„[...], wenn die CDU anfängt in der Integrationspolitik einen Fortschritt zu machen, hat das eine viel größere Hebelwirkung, als wenn die SPD etwas macht. Von daher ist der Hebel, den die CDU da bewusst, unbewusst wie auch immer, durch Einzelpersonen gesetzt hat, hat schon eine große Hebelwirkung für die gesamte politische Klasse oder für die politischen Parteien [...] allein die Symbolik gehört in dem Fall [...] dazu, dass auch in Berlin sich was bewegt hat und mindestens der Druck entstanden ist – ok, bei den nächsten Wahlen mindes- tens einen Senator, vielleicht eine Senatorin drin haben oder auf Staatssekretärsebene jeman- den.“ (Interview mit O)

Er nimmt hier einen Anpassungsdruck wahr, der von der CDU auf die SPD und andere Parteien im Bereich der Migrantenpolitik ausgeht und suggeriert mit dem indirekten Verweis auf die Ernennung von Özkan, dass die SPD hierauf mit der Ernennung einer eigenen Ministerin, bzw. Senatorin, reagieren würde. Ferner war es der Bundesvorsitzende selbst, der in seiner Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD 2010 auf die Nominierung von Özkan einging und betonte: „[...] die SPD muss mal zeigen, dass wir das besser und häufiger können. Wettbewerb [...] ist gut, auch für die SPD“ (Gabriel 2010). Unabhängig von der Frage, unter welchen Umständen57 Dilek Kolat tatsächlich nach den Abgeordnetenhauswahlen 2011 zur ersten türkischstämmigen Berliner

56 In einem Zeitungsinterview bekräftigt er diese Position: „Es stimmt, wir haben keine Migranten in hohen Positionen. Wir wären gerne die Ersten gewesen, die eine türkei- stämmige Ministerin vorweisen können, leider ist uns Niedersachsen zuvorgekommen. Das wird sich bei der nächsten Wahl ändern.“ (Thomsen und Rennefanz 02.09.2010) 57 Es mag beispielsweise bei ihrer Nominierung eine Rolle gespielt haben, dass ihre lang- jährige politischen Karriere sowie Vernetzungen innerhalb der Partei Kolat für das Amt prädestinierten. So war sie zum Zeitpunkt ihrer Ernennung beispielsweise eine führende Persönlichkeit im „Branitzer Kreis“, eines Netzwerks Berliner Sozialdemokratinnen (Meyer et al. 2007, S. 66; Nowakowski 27.10.2012).

142 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Senatorin ernannt wurde, zeigt sich, dass sich die Debatten im Vorfeld ihrer Nomi- nierung denen der Bundesebene glichen. Auch in begrifflicher Hinsicht kommt es zu einer Angleichung. Der Vielfalts- begriff tauchte im Zusammenhang der parteipolitischen Repräsentation von Mig- ranten/Migrantinnen vermehrt auf58. Prominentes Beispiel ist die Umbenennung der Arbeitsgemeinschaft Migration in Arbeitsgemeinschaft Migration und Viel- falt.59Auch der damalige regierende Bürgermeister von Berlin, Wowereit, sprach bei einer SPD-Veranstaltung unter dem Motto „Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“ über die Gleichstellung von Migranten/Migrantinnen (SPD Landesver- band Berlin 29.09.2010). Zudem wurden die neu gewählten Abgeordneten mit Migrationshintergrund als „Berlins Vielfalt“ in einem Bericht der Arbeitsgemein- schaft betitelt (SPD Landesverband Berlin 2011). Gleichzeitig wurde, wie auf Bundesebene, der Aspekt der sozialen Integration hervorgehoben. Erneut ist es Wowereit, der in einer Rede auf dem Landesparteitag 2009 die Vielfalt als Chance sieht und deutlich macht: „Im Übrigen ist es egal, ob Migrationshintergrund oder deutscher Hintergrund. Das ist völlig egal. Es ist eine Frage der sozialen Situation der Familien.“ (Wowereit 2009, S. 17) Gleichwohl sind es in der vierten Phase auch Unterschiede zwischen Berliner SPD und Bundes-SPD feststellbar. Während der Bundesvorstand 2011 eine Selbst- verpflichtung beschloss, nach der mindestens 15 Prozent im Bundesparteivorstand einen Migrationshintergrund haben sollen (vgl. 4.5; S. 96) und diese auch als Emp- fehlung für die unteren Parteigliederungen ausgesprochen wird, hielt der damalige Landesvorsitzende Michael Müller im Grundsatz eine solche Maßnahme zwar für richtig, verwies jedoch darauf, das der Berliner Landesverband die 15 Prozent im Landesvorstand bereits erfülle. Darüber hinaus zeigte sich sein Nachfolger Jan Stöß skeptisch gegenüber einer Selbstverpflichtung aufgrund der fehlenden Ver- bindlichkeit, ohne dabei im Gegenzug eine feste Quote zu fordern (Arbeitsgemein- schaft Migration und Vielfalt – SPD Berlin 2012, S. 5f.).60 Und auch die Arbeits-

58 Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass der Vielfaltsbegriff nicht nur im Zusammenhang von Migranten/Migrantinnen Anwendung findet. So lassen sich Beispiele finden, die Vielfalt auch im Hinblick auf die sexuelle Orientierung thematisieren (vgl. hierzu bei- spielsweise die SPD-Veranstaltung: „Vielfalt oder Einfalt – eine Ehe für Alle“ [SPD Landesverband Berlin 01.11.2010]). 59 Mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt auf Bundesebene wurde die Berliner Arbeitsgemeinschaft Migration aufgrund der Einheitlichkeit umbe- nannt. 60 An anderer Stelle spricht er sich allgemein für eine angemessene Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in weiteren Parteigremien, wie auf dem Parteikonvent oder bei der Bundesparteitagsdelegation, aus, ohne dabei konkrete Maßnahmen zu nennen (ebd.). DIE BERLINER SPD | 143 gemeinschaft Migration und Vielfalt hob im Jahresbericht 2012 hervor, dass die in der Selbstverpflichtung festgesetzte Quote bereits erreicht sei (SPD Landesverband Berlin 2012a, S. 71). Weniger die fehlende Selbstverpflichtung als solche, sondern vielmehr die Grundhaltung in der Partei wurde kritisiert. Der SPD Politiker Hanke bemängelte in einem Zeitungsinterview das 2010 verabschiedete „Integrations- und Partizipa- tionsgesetz“ des von der SPD geführten Senats, das auf einem veralteten Modell der politischen Beteiligung von Migranten/Migrantinnen basiere. Nicht die Partizi- pation in den Integrationsbeiräten, sondern in den Parteien wäre zentral. Hier wür- den gerade Migranten/Migrantinnen auf höheren Positionen der Partei fehlen (Thomsen und Rennefanz 02.09.2010). Hieran schließt sich die Kritik eines Partei- kenners an:

„Innerhalb der Partei, wenn man sich da die Personen anguckt… zum Beispiel im Landes- vorstand der SPD… also den geschäftsführenden Landesvorstand der SPD, da wo es auch wirklich umstritten ist, wer da reinkommt, ist gar kein Mensch mit Migrationshintergrund vertreten. [...] Das heißt, insgesamt an den Schalthebeln der Partei sieht es schwierig aus.“ (Interview mit O)

Wie virulent das Thema der Beteiligung im geschäftsführenden Landesvorstand61 ist, zeigt auch die Befragung der Kandidaten für den Landesvorsitz von Seiten der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt. Hier lautete die Frage, was die Kandi- daten/Kandidatinnen konkret für eine angemessenere Repräsentation von Migran- ten/Migrantinnen im geschäftsführenden Landesvorstand zu tun gedächten. In die- sem Zusammenhang bedauert der Herausforderer, Stöß, dass kein /keine Bewer- ber_in mit Migrationshintergrund zur Wahl stand. Gleichwohl verweist er hier auf die Rolle der Kreisverbände, die entscheidenden Einfluss bei der Auswahl gehabt hätten und eben keinen Kandidaten bzw. keine Kandidatin mit Migrationshinter- grund vorschlugen. Entsprechend sah seine Vorschlagslisten keine/keinen Bewer- ber_in nichtdeutscher Herkunft vor (Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt 2012, S. 5).62 Auch war laut eines Berichts der Tageszeitung im Vorfeld der Wah- len eine derartige Forderung seitens der Migranten/Migrantinnen innerhalb der SPD formuliert worden (Tageszeitung 16.05.2012, S. 23).

61 Hierzu gehören der/die Landesvorsitzende, vier Stellvertreter_innen und der/die Landes- kassiererIn. 62 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass sein Gegenkandidat, der damals amtie- rende Parteivorsitzende Müller, Iyidirli für einen Stellvertreterposten vorschlug (SPD Berlin 2012).

144 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Ein weiterer Unterschied zur Bundespartei zeigte sich darin, dass die Bundes- Partei sich gegenüber einer Bundesarbeitsgemeinschaft Migration noch skeptisch zeigte, während die Landesarbeitsgemeinschaft in Berlin fester Bestandteil der Par- tei zu sein schien. Der einstige Vorsitzende Müller antwortete auf die Frage, wel- chen Stellenwert die Arbeitsgemeinschaft Migration habe:

„Einen hohen! Ich bin stolz darauf, dass Berlin hier absoluter Vorreiter ist und Maßstäbe setzt. [...] Die Fachkompetenz der AG Migration [...] ist für unsere Arbeit unentbehrlich. Es ist klar: Diese Kompetenz muss eine wirksame Stimme in den Gremien erhalten und diese Kompetenz muss anhand von Positionspapieren und Einzelpersonen stärker nach außen ge- tragen werden.“ (Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt 2012, S. 4)

Insofern wird die einst ungewollte Arbeitsgemeinschaft nunmehr als Errungen- schaft der Berliner SPD und als wichtiges innerparteiliches Interessensvermitt- lungsorgan dargestellt. Sie gilt inzwischen als common sense, die als Beweis der Fortschrittlichkeit der Partei dient.

5.4.1 Wahlniederlage und personelle Verflechtungen

Ein wesentlicher Grund für die vergleichbaren Entwicklungen kann in den Wahl- ergebnisse der Berliner SPD bei den Bundestagswahlen 2009 gesehen werden. Während sie 2005 noch auf insgesamt 34,3 Prozent der Stimmen kam, lag der An- teil 2009 bei 20,2 Prozent.63 Somit war das Ergebnis der Berliner SPD schlechter als im Bundesdurchschnitt (23 Prozent). Die CDU gewann hingegen zwischen bei- den Wahlen leicht hinzu. Ihr Anteil stieg von 22 auf 22,8 Prozent, womit sie die Berliner Sozialdemokraten überholte. Auch in den kurz zuvor stattfindenden Euro- pawahlen 2009 kam die Berliner SPD auf nur noch 18,8 Prozent64 der Stimmen und landete somit hinter der CDU (24,3 Prozent) und den Grünen (23,6 Prozent).65 Die Wahlniederlage bei den Bundestagswahlen bezeichnete der damalige Lan- desvorsitzende Müller auf dem Landesparteitag 2009 als „krachende Niederlage“ (Müller 2009, S. 2). Auch der damalige Bürgermeister Wowereit sprach von einem „katastrophalen Ergebnis“ (Wowereit 2009, S. 2).

63 Vgl. Veröffentlichungen des Landeswahlleiters für Berlin (vgl. https://www.wahlen- berlin.de/Wahlen/BU2009/Berlingesamt.asp?sel1=2154&sel2=065; letzter Zugriff am 14.05.2014). 64 Die Bundes-SPD kam laut Angaben des Bundeswahlleiters auf 20,8 Prozent (vgl. http://www.bundeswahlleiter.de/de/europawahlen/EU_BUND_09/ergebnisse/faltblatt_er gebnisse_ew2009.pdf; letzter Zugriff am 14.05.2014). 65 Vgl. Veröffentlichungen des Landeswahlleiters für Berlin (vgl. Fußnote 63). DIE BERLINER SPD | 145

Zudem kam es, wie bereits unter 4.5.2 ausgeführt, zu einem Führungswechsel auf der Bundesebene, mit dem Wowereit zu einem der stellvertretenden Vorsitzen- den des Bundesvorstands gewählt wurde. Er leitete neben dem Berliner Sozialde- mokraten Kenan Kolat die Zukunftswerkstatt Integration. Insofern kann von einer personellen Verflechtung der Bundes- und Landespartei ausgegangen werden, die wiederum die Diskussionen im Bereich der parteipolitischen Inkorporation auf beiden Ebenen beeinflussten. Wowereit sprach sich, wie bereits erwähnt (vgl. 4.5), gegen eine offizielle Quote aus. Vielmehr warb er für ein verstärktes Bemühen um Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund für die verschiedenen Funk- tionen (SPDvision 2010). Kolat bildete hingegen den Pol innerhalb der Partei, der eine Quote befürwortete.

5.4.2 Folgen einer lose verkoppelten Anarchie

Für die abweichenden Entwicklungen zwischen Bundes- und Berliner Ebene der Partei müssen zwei Gründe angeführt werden. Zum einen liegt es an der Organisa- tionsstruktur der SPD. Zum anderen sind es die über die Jahrzehnte erfolgten par- teipolitischen Inkorporationsprozesse innerhalb der Berliner SPD, die eine andere Ausgangslage schaffen. Hinsichtlich des ersten Punktes muss festgehalten werden, dass die SPD keine „straff durchorganisierte, hierarchisch aufgebaute“ (Wiesendahl 2011, S. 89) Or- ganisation darstellt, sondern sich vielmehr durch eine fragmentierte, lose verkop- pelten Anarchie auszeichnet (Lösche und Walter 1992, S. 197). Diese Organisati- onswirklichkeit ist durch „Dezentralisation, ein gewisses Maß an Autonomie der Einzelteile“ (ebd.) gekennzeichnet. Entsprechend lässt sich auf den jeweiligen Ebenen ein Eigenleben ausmachen, das sich nur begrenzt von „oben“ steuern lässt. Die bereits aufgezeigten Entwicklungen auf den unterschiedlichen Ebenen der Ber- liner SPD sowie die Autonomie gegenüber der Bundespartei sind Grund für die Eigenständigkeit im Hinblick auf Fragen parteipolitischer Inkorporationsprozesse. Der Empfehlungscharakter der bundesweit beschlossenen „Migrantenquote“ ist in- direkt Ausdruck dieser losen Kopplung. Er eröffnet einen Interpretationsspielraum, der auch eine vollständige Ablehnung umfassen kann. Gleichwohl kann der SPD eine innewohnende „symbolische Zwecksetzung [...], die alle Mitglieder und Organisationsteile integriert“ (ebd., S. 198) nicht abge- sprochen werden. Entsprechend muss angesichts der symbolischen Aufladung der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen eine Ablehnung von Maßnahmen in diesem Bereich legitimiert werden. Paradoxerweise ist es die lose Koppelung der Partei, die aufgrund eines Nebeneinanders verschiedener innerpar- teilicher Akteure und Initiativen im Ergebnis zu einer erhöhten politischen Reprä- sentation von Migranten/Migrantinnen über die Zeit führte und somit die Legitima- tionsgrundlage für eine Ablehnung einer solchen „Migrantenquote“ bot. Bei-

146 | PARTEIEN UND MIGRANTEN spielsweise war der kontinuierliche Anstieg der Präsenz von Migranten/Migran- tinnen im Landesvorstand nicht einer gezielten Initiative geschuldet, sondern viel- mehr ergab er sich aus den Entwicklungen in unterschiedlichen Segmenten der Partei. Von den insgesamt fünf gewählten Personen mit Migrationshintergrund bei den Vorstandswahlen 2012 wurden zwei Kandidaten/Kandidatinnen in ihrer Funk- tion als Vertreter_innen der Kreisverbände sowie eine Person als Vertreter_in der Arbeitsgemeinschaft Migration automatisch gewählt (SPD Landesverband Berlin 2012b, § 23* [2]). Ähnlich sah es bei der Repräsentation von Migranten/Migran- tinnen in der BVV und im Abgeordnetenhaus nach den Wahlen 2011 aus. Bei den Abgeordnetenhauswahlen 2011 waren unter den 47 gewählten Sozialdemokraten/ Sozialdemokratinnen acht Migranten/Migrantinnen, was einem Anteil von 17 Pro- zent entspricht. Bei den Bezirksverordnetenwahlen hatten unter den 212 SPD- Gewählten 18 Personen einen Migrationshintergrund (8,5 Prozent) (Volkert 2012). Doch auch hier waren es, wie bereits erwähnt, gemäß des Parteienstatuts, die Kreisverbände und nicht der Landesvorstand oder der Landesparteitag, die für die- se Nominierungen verantwortlich waren (SPD Landesverband Berlin 2012b, § 22a* [8]). Gleichwohl bildeten die lose Koppelung sowie das erreichte Repräsentations- niveau von Migranten/Migrantinnen die Grundlage für weitergehende Diskussio- nen, die sich auf die Machtteilhabe innerhalb des geschäftsführenden Landesvor- stands bezogen und sich somit von den Debatten innerhalb der Bundespartei unter- schieden.

5.5 ZWISCHENRESÜMEE

In Hinblick auf die Frage, inwiefern es zu parteipolitischen Inkorporationsprozes- sen innerhalb der Berliner SPD kam, lässt sich festhalten, dass die Eingliederung von Einwanderern/Einwanderinnen seit Ende der 1970er Jahre vorangeschritten ist. Während Ende der 1970er Jahre ausländische Mitglieder noch als Vermittler_innen im Kontext einer polarisierten Einwandererdebatte gesehen wurden und in diesem Feld zu Wort kamen, verlagerte sich der Fokus seit Mitte der 1990er Jahre auf die innerparteiliche Repräsentation von Migranten/Migrantinnen. Spätestens ab der Jahrtausendwende wurde in den Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshinter- grund eine Ressource zu Wählermobilisierung gesehen. In den letzten Jahren kon- zentriert sich die Debatte auf Fragen einer kontinuierlichen Machtbeteiligung, wie beispielsweise durch Quoten. Auf den ersten Blick erscheinen somit die Entwicklungen mit denen der Bun- despartei vergleichbar. Angesichts eines fehlenden Wahlrechts sowie niedriger Einbürgerungsquoten blieb das Interesse der Partei auf beiden Ebenen auf ein Mi- nimum an Inkorporation beschränkt. Allein die Norm der internationalen Solidari- DIE BERLINER SPD | 147 tät sowie das Selbstverständnis einer Mitgliederpartei dienten als Motivationen zur begrenzten Gewinnung von ausländischen Mitgliedern. Mit den Erleichterungen der Einbürgerungen sowie einer erhöhten Einbürgerungsbereitschaft unter Migran- ten/Migrantinnen änderten sich die Parameter in beiden Kontexten und die politi- sche Repräsentation und Machtbeteiligung von Einwanderern/Einwanderinnen ge- wann kontinuierlich an Bedeutung. Gleichwohl konnte herausgearbeitet werden, dass berlinspezifische Rahmenbe- dingungen die parteipolitischen Inkorporationsprozesse grundlegend beeinflussten. Erstens zeigte sich, dass es aufgrund des früheren Engagements der türkischen Vereine sowie der Kreisverbände in relativer kurzer Zeit zu parteipolitischen In- korporationsprozessen kam. Zweitens war es die polarisierte Migrantenpolitik der Berliner CDU in den 1980er Jahre, die die innerparteilichen Auseinandersetzungen der Berliner SPD prägte, zu einer zusätzlichen Aktivierung der ausländischen Ver- eine führte und das innerparteilichen Engagement der Migranten/Migrantinnen verstärkte. Schließlich war es die Wiedervereinigung, die einerseits Bürde war, aber andererseits auch zusätzliche Mobilisierungskräfte unter den Migranten/Mi- grantinnen frei setzte, gepaart mit der Vorstellung einer internationalen Metropole, die die parteipolitischen Inkorporationsprozesse unterstützten. Entsprechend gab es im Unterschied zur Bundespartei bereits 1990 mit Ünel das erste türkischstämmige Mitglied im Landesvorstand. Darüber hinaus konnte angesichts dieses Mobilisie- rungspotenzials die Arbeitsgemeinschaft Migration 1997 durchgesetzt werden, während die Bundes-SPD rund 15 Jahre länger dazu brauchte. Diese frühe Etablie- rung der Arbeitsgemeinschaft eröffnete wiederum einen erweiterten Legitimations- und Mobilisierungsspielraum, der wie ein Katalysator auf die politische Repräsen- tation von Migranten/Migrantinnen in Partei- und Wahlämtern wirkte. Der verän- derte Parteienwettbewerb sowie die erhöhten Einbürgerungszahlen stießen somit auf ein ausgeprägtes Feld an innerparteilichen „Rezeptoren“, die die Umweltim- pulse an unterschiedlichen Stellen verarbeiteten. Eine grundlegende Voraussetzung dieser Entwicklung muss in der Parteistruk- tur gesehen werden, die dem Modell der lose verkoppelten Anarchie nahe kommt. Erst die Entkoppelung der unterschiedlicher Parteigliederungen – angefangen von der Bundespartei bis zur Ebene des Kreisverbände – ermöglichte eine Autonomi- sierung und Flexibilisierung der Partei, durch die auf stadt- bzw. bezirksspezifische Umweltbedingungen reagiert werden konnte. Entsprechend handelte es sich nicht um zentral orchestrierte Impulse, die vom Bundes- oder Landesvorstand ausgin- gen, sondern vielmehr um ein Nebeneinander an Entwicklungen, die zu bestimm- ten Zeitpunkten kumulierten und Veränderungsprozesse hervorriefen. Erst in den letzten Jahren lässt sich zumindest in Teilen eine Parallelisierung der Debatten und Maßnahmen im Hinblick der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen auf beiden Ebenen erkennen, was durch einschneidende Wahlniederlagen und personelle Verflechtungen begründet werden kann. Gleich-

148 | PARTEIEN UND MIGRANTEN zeitig ist zu erwarten, dass es angesichts der Entkoppelung der Parteistrukturen in Zukunft weitergehende Differenzierung geben wird.

6 Fallstudie in Berlin

Bei der Analyse der Entwicklungen innerhalb der Berliner SPD wurde deutlich, dass sich parteipolitische Inkorporationsprozesse unter anderem durch relativ auto- nome Entwicklungsprozesse innerhalb verschiedener Kreisverbände ergaben. Bis- her blieb unklar, auf welche Art und Weise der Migrationshintergrund von politi- schen Verantwortlichen in bezirklichen Kontexten thematisiert wird. Inwiefern las- sen sich hier tatsächlich lose verkoppelte Entwicklungen in den Kreisverbänden ausmachen? Und gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen loka- len Parteigliederungen? An dieser Stelle muss betont werden, dass es weniger um ursächliche Erklärungen der Beobachtungen geht, sondern vielmehr Aufschluss über Homogenität und Varianzen in den Aussagen und im Handeln lokaler Partei- verantwortlicher gegeben werden soll. Diese Fragen werden zum einen auf die Rolle des Migrationshintergrundes bei der Mitgliederansprache und -verankerung bezogen. Zum anderen geht es mir darum, die Relevanz des Migrationshintergrun- des bei der Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen für Wahlämter zu ergrün- den. Mittels eines Vergleichs zweier lokaler Parteigliederungen (Parteigliederung A und Parteigliederung B) sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede erarbeitet werden. Im Folgenden skizziere ich die Strategie bei der Auswahl der Parteigliede- rungen sowie die Hürden und den Umfang der Erhebungen. Anschließend gebe ich einen Überblick über den Aufbau des Kapitels. Ausgangspunkt der Fallausfall bilden die Kreisverbände, die wie bereits in der Einführung (vgl. 5) ausgeführt, das parteistrukturelle Pendant zu den Berliner Be- zirken sind. Im vorliegenden Fall habe ich mich für zwei Kreisverbände entschie- den, die einen vergleichbar hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung aufweisen.1 Hintergrund für dieses Auswahlkriterium bildet die

1 Zu Wahrung der Anonymität soll der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an dieser Stelle nicht exakt beziffert werden. Er lag laut Mikrozensus als auch dem Ein- wohnermelderegister von 2011, d.h. zum Erhebungszeitraum, jeweils über 30 Prozent

150 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Annahme, dass Parteien in Gebieten mit vielen Migranten/Migrantinnen tendenzi- ell dazu geneigt sind, sich mit deren parteipolitischer Inkorporation auseinander- setzen.2 Aufgrund der Größe des jeweiligen Kreisverbandes konzentrierte ich mei- ne Untersuchungen auf bestimmte Abteilungen. Ziel war es, jene Abteilungsgebie- te in den Blick zu nehmen, bei denen zu erwarten war, dass der Migrationshinter- grund im Zusammenhang der Nominierungsprozesse eine Rolle spielen würde. Zur Eingrenzung wurden verschiedene Mittel gewählt. Zum einen besuchte ich die Bü- ros der beiden Kreisverbände, stellte mein Thema („einwanderungsbedingte Viel- falt im Kontext der anstehenden Wahlen“) vor und erkundigte mich nach mögli- chen Ansprechpartnern/-partnerinnen und relevanten Abteilungen. Mit den bereits erwähnten Erhebungen zur Repräsentation von Migranten/Migrantinnen im Abge- ordnetenhaus und in den Bezirksverordnetenversammlungen sowie im Internet ver- fügbaren Informationen verglich ich die Angaben vom Kreisbüro. An dieser Stelle müssen die Grenzen der Durchsetzung einer zielgerichteten Auswahl betont wer- den. Grundsätzlich ist die Erforschung von Parteien im Kontext von anstehenden Wahlen sowie der zuvor stattfindenden Nominierungsprozesse ein schwieriges Un- terfangen. Politische Verantwortliche sind in dieser Phase zeitlich sehr gebunden und nicht immer gewillt, Einblicke in das Parteileben zu geben. Vor diesem Hin- tergrund stieß ich auf unterschiedliche Reaktionen bei den Angefragten, die im ei- nen Fall einer Untersuchung positiv gegenüberstanden, im anderen Fall Vorbehalte äußerten. Dieses führte unter anderem dazu, dass ich mit einem kleineren Kreis an Personen ins Gespräch kam sowie meine Beobachtungen innerhalb der Partei be- grenzt waren.3 Darüber hinaus war der Grad des Einblicks in den beiden Partei- gliederungen unterschiedlich, so dass ein direkter Vergleich nicht immer auf der- selben Materialbasis gewährleistet werden konnte. Nichtsdestotrotz gilt an dieser Stelle zu betonen, dass es sich, gerade aufgrund des schwierigen Zugangs und des hohen persönlichen Zeitaufwands, um seltene Einsichten in das Parteiinnenleben handelt. Die dargestellten Ergebnisse sind die ersten ihrer Art für die SPD.

(vgl. https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/produkte/produkte-Sb.asp?creg=BBB; letzter Zugriff am 03.02.2014). 2 Was jedoch im Umkehrschluss nicht heißt, dass ein höherer Anteil von Einwande- rern/Einwanderinnen in der Bevölkerung automatisch zu einer stärkeren Öffnung der Parteien führt (vgl. hierzu die Diskussion über begünstigende Faktoren der politischen Repräsentation von Einwanderern/Einwanderinnen [Maxwell 2012, S. 108ff.; Schön- wälder 2013a, S. 639ff.]). 3 Entsprechend muss an dieser Stelle betont werden, dass die präsentierten Ergebnisse, die ich der Parteigliederung A und der Parteigliederung B zuordnen werde, nur einen Teil- ausschnitt zeigen. FALLSTUDIE IN BERLIN | 151

Die Basis der Analyse besteht aus drei Elementen. Erstens habe ich insgesamt acht Interviews mit Persönlichkeiten aus beiden Parteigliederungen geführt. Darun- ter sind Funktionsträger_innen, die an zentralen Stellen der Parteigliederungen wirken. Sie verfügten zum Zeitpunkt der Erhebung über eine langjährige Parteier- fahrung und hatten einen Überblick über den Kreis und/oder ihre Abteilung. Ferner ist davon auszugehen, dass sie direkt oder indirekt in die Aushandlungsprozesse bei den Nominierungen beteiligt waren. Neben dieser Gruppe interviewte ich auch Kandidaten/Kandidatinnen, die über ihre eigenen Erfahrungen im Zusammenhang der Selektionsprozesse berichten konnten. Schließlich waren unter den Befragten auch Personen, die mit den Abläufen in den Kreisverbänden vertraut waren und sich im Bereich der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen engagierten. Es muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass eine besondere Sorgfalt der Anonymisierung der Aussagen gilt. Informationen über machtpoliti- sche Aushandlungsprozesse könnten bei einer nachträglichen Zuordnung möglich- erweise negative Folgen für die Beteiligten haben. Um eine solche Zuordnung der Aussagen zu verhindern, werde ich persönliche Angaben (z.B. Name oder Ge- schlecht) soweit wie möglich vermeiden oder gegebenenfalls verändern. Außerdem werde ich für den jeweiligen Interviewpartner oder die jeweilige Interviewpartne- rin keine Kürzel oder Identifikationsnummern verwenden, um zu verhindern, dass indirekte Rückschlüsse durch die Zuordnung verschiedener Interviewpassagen zu einer Person möglich sind. Vielmehr werde ich die Interviewzitate fortlaufend durchnummerieren. Das zweite Element meiner Erhebungen sind teilnehmende Beobachtungen (TB) in beiden Parteigliederungen. Dabei habe ich um die Teilnahme an Abtei- lungssitzungen und an Veranstaltungen gebeten, die auf Kreisebene im Rahmen der offiziellen Nominierungen der Kandidaten/Kandidatinnen stattfanden. Insge- samt habe ich zehn teilnehmende Beobachtungen im Zeitraum der Nominierungen, d.h. von September 2010 bis Januar 2011, durchgeführt. Darunter waren sieben Abteilungssitzungen der Parteigliederung B. Bei den Abteilungssitzungen handelte es sich, bis auf eine Ausnahme4, um Mitgliederversammlungen, zu der laut Organi- sationsstatut alle Parteimitglieder eines Abteilungsgebietes gehören (SPD Landes- verband Berlin 2012b, § 22b*). Insofern war es mir möglich, neben den Interviews weitere Stimmen von aktiven Mitgliedern zu erfassen. Darüber hinaus nahm ich jeweils bei einer Kreisdelegiertenversammlung teil, bei der die Kandida- ten/Kandidatinnen für das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenver- sammlung nominiert wurden. Bei den Kreisdelegiertenversammlungen handelt es sich, wie bereits erwähnt, um das höchste Beschlussorgan eines Kreises (ebd., §

4 Hier tagte ausschließlich der von der Mitgliederversammlung gewählte Abteilungsvor- stand.

152 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

22a*). Sie bildet sich durch die in den Mitgliederversammlungen der Abteilungen gewählten Delegierten. Diese Nominierungsprozesse konnte ich somit in beiden Parteigliederungen verfolgen. Ferner wohnte ich einer Versammlung in der Partei- gliederung A bei, bei der sich die Kandidaten/Kandidatinnen im Vorfeld der offizi- ellen Nominierungen vorstellten. Hier sammelte ich zudem Informationsmateria- lien zu den Bewerbern/Bewerberinnen, die unter den Teilnehmenden verteilt wur- den. Das Kapitel ist in zwei Abschnitte unterteilt. Zunächst werde ich mich der Fra- ge zuwenden, inwiefern im Zusammenhang der Mitgliederansprache und –verank- erung der Migrationshintergrund eine Rolle spielt. Hierbei werde ich mich aus- schließlich auf die Interviewaussagen der befragten Personen stützen. Danach bringe ich in Erfahrung, inwieweit dem Migrationshintergrund bei der Nominie- rung von Kandidaten/Kandidatinnen für die Bezirksverordnetenversammlung und das Abgeordnetenhaus eine förderliche oder hemmende Wirkung zugeschrieben wird. Dabei werde ich die Interviewaussagen nutzen und die Ergebnisse aus den teilnehmenden Beobachtungen einfließen lassen.

6.1 MITGLIEDSCHAFT, ANSPRACHE UND VERANKERUNG

Im Folgenden werde ich auf den Aspekt der Parteimitgliedschaft eingehen und da- bei insbesondere die beiden untersuchten Parteigliederungen vergleichen. In einem ersten Schritt wird es mir darum gehen, wie die Befragten die Mitgliederzusam- mensetzung im Verhältnis zur eigenen Stadtbevölkerung wahrnehmen (vgl. 6.1.1). Inwiefern spielen Migranten/Migrantinnen dabei eine Rolle? Werden sie als eigen- ständige Gruppe wahrgenommen? Wie wird diese Gruppe in diesem Fall definiert? In einem zweiten Schritt (vgl. 6.1.2) steht die Frage im Mittelpunkt, ob der Migra- tionshintergrund bei der Ansprache von Neumitgliedern relevant ist. Gibt es geziel- te Fördermaßnahmen? Oder werden andere Formen der Ansprache erwähnt? Schließlich soll es mir im dritten Schritt (vgl. 6.1.3) darum gehen, ob und inwie- fern der Zutritt und die Verankerung von Migranten/Migrantinnen von den Befrag- ten problematisiert werden.

6.1.1 Definitorische Eingrenzung der Mitglieder mit Migrationshintergrund

Im Fall der Parteigliederung A hält zunächst eine Führungspersönlichkeit, die eine langjährige Verankerung innerhalb der Partei aufweist und in einer Schlüsselposi- tion wirkt, im Hinblick auf die Frage der Bevölkerungszusammensetzung im Be- zirk fest:

FALLSTUDIE IN BERLIN | 153

„Wahrscheinlich gibt es überhaupt nur wenige Gegenden in Deutschland, die so sehr auch als Chiffre dafür stehen können, für einen ganz vielfältigen, bunten, interkulturell geprägten Bezirk wie C, [...] es ist ein sehr junger Bezirk [...] wir haben natürlich eine sehr hohe Quote von Einwohnerinnen und Einwohnern im Bezirk, die nicht in Deutschland geboren sind oder die einen Migrationshintergrund haben. Das ist in C klar deutlich mehr als in D [...], es sind vor allem türkischstämmige Familien in C, nicht so viel arabischstämmige Familien, [...]. Aber es gibt mittlerweile [...] eigentlich von überall auf der Welt, viele Menschen, die hier leben, einen signifikant hohen Anteil auch an Franzosen, an Engländern, an Italienern, vor allen Dingen Spaniern, hier in C gibt es ganz viel Skandinavier, die hier leben. Also, es ist schon sehr bunt. Natürlich auch viele Menschen aus Osteuropa, Russen [...] und Vietname- sen.“ (1)

Auffällig ist, dass die zitierte Person auf einen Teilbezirk (C) eingeht und diesen als ein Symbol für Vielfalt, Buntheit und Interkulturalität sieht. Ferner bringt sie mit diesen Attributen die eingewanderte Bevölkerung in Verbindung, worunter sie insbesondere die Präsenz der Türkeistämmigen und ausländischen Europäer_innen hervorhebt. Im Teilbezirk D stellt sie vor allem die europäischen Einwanderer/ Einwanderinnen in den Vordergrund. Kontrastiert man diese Aussage mit ihrer Wahrnehmung der Mitgliederzusammensetzung, ergibt sich ein verändertes Bild. Die Führungsperson betont, dass die Mitgliedschaft durch Menschen bestimmt werde, die aus West- und Ostdeutschland nach Berlin gekommen seien. Dabei spiele zum einen der Regierungsumzug eine Rolle, aus dem vor allem der Zuzug von bereits politischen Aktiven resultierte. Zum anderen sei eine Ursache im Zu- zug junger Menschen zu suchen. Darüber hinaus erwähnt sie die Gruppe an „Alt- eingesessenen“ sowie einen Anteil an Mitgliedern, die bei der Bürgerrechtsbewe- gung Ende der 1980er Jahre aktiv waren (ebd.). Daran anschließend geht sie von selbst auf die interkulturelle Prägung der Parteimitgliedschaft ein und führt hierzu aus: „Wir haben gerade in C einen großen Anteil an Mitgliedern, die einen Migra- tionshintergrund haben. Mittlerweile gibt es durchaus auch Mitglieder in D – aber gerade in C gibt es [...], das ist schwer jetzt in Prozentzahlen auszudrücken, einen erheblichen Anteil bei den Mitgliedern [...].“5 Hier sieht sie eine räumliche Konzentration der Migranten/Migrantinnen im Teilbezirk C, wobei sie nicht darauf eingeht, was unter Migrationshintergrund ge- nau zu verstehen ist. Das Antwortverhalten eines weiteren Parteimitglieds, das zu- mindest begrenzte Einblicke in die Parteigliederung hat, folgt dieser Einschätzung:

5 Eine oder mehrere direkt folgende Aussage(n) von einem oder einer Befragten werden nicht weiter durchnummeriert.

154 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„In D ist das halt nicht so sichtbar mit der Vielfalt, obwohl es da natürlich auch Gebiete gibt [...], aber in der Partei ist das noch nicht wirklich angekommen [...] in C [...] gibt es sogar schon Abteilungen, die auch in der Mehrheit Menschen mit Migrationshintergrund beherber- gen – und das ist da schon was gleich etwas anderes.“ (2)

Erneut sieht es die überproportionale Präsenz von Mitgliedern mit Migrationshin- tergrund im Teilbezirk C im Gegensatz zu Teilbezirk D. Mit den Begriffen Vielfalt und Migrationshintergrund bleibt auch an dieser Stelle unklar, wer unter diese Gruppe gefasst wird. Erst auf direkte Nachfrage wird angedeutet, dass es vereinzelte Mitglieder gä- be, die aus Frankreich, Spanien oder Portugal kämen (3). Zu Mitgliedern aus Ost- und Ostmitteleuropa wird wiederum geäußert: „Ich hoffe, ich vergesse jetzt nie- manden, aber es ist mir im Augenblick nicht so bewusst“. Insofern zeigt sich hier, dass sich der oben erwähnte große Anteil an Mitglie- dern mit Migrationshintergrund nicht auf mittel- und osteuropäische Wurzeln be- zieht. Dies bestätigt auch eine Aussage eines anderen Befragten:

„[...] also, zwei Italiener auf einem Haufen sind, glaube ich, sehr schwer in der SPD anzu- treffen, also beschränkt sich es dann schon sehr stark auf den türkischen Migrationshinter- grund. [...] meistens hört man dann auch: ‚Ok, guckt euch mal eure Führungspersonen mit Migrationshintergrund an, die repräsentieren nicht das, was wir sind‘. Das ist auch genauso bei der griechischen Community: ‚Und ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt noch in der Partei bin. Vielfalt ist nicht nur türkeistämmig‘.“ (4)

Migrantische Parteimitglieder werden hier insbesondere als türkischstämmig ange- sehen, was angeblich zu einer Abwehrhaltung unter den anderen Migranten und Migrantinnen führt. Noch deutlicher wird eine weitere Interviewteilnehmerin im Hinblick auf ostmitteleuropäische Einwanderer und Einwanderinnen:

„Also, im Bezirk ist es so, wir haben wirklich nur diejenigen, die in der SPD sind, die haben einen türkischen Migrationshintergrund, die meisten. Also, das ist meine Beobachtung jetzt, von den Leuten, die ich da sehe. Arabisch ist ganz selten. Es ist selten, russisch, polnisch ha- ben wir auch nicht. [...] also polnisch haben wir natürlich, wie gesagt, die würde man auch eher deutsch einschätzen. Das sind keine polnischen Bürger, die jetzt direkt aus Polen kom- men… Also, wahrscheinlich sind das… also, ich würd nicht mal sagen, dass das Aussiedler sind. [...] Ich kenne zum Beispiel nur eine – wie gesagt, man kann das auch nicht einschät- zen. Manche haben ja auch deutsche Namen und bei manchen ist dieser Migrationshinter- grund überhaupt nicht zu erkennen. Aber polnische und russische… die haben wir nicht. Al- so, in C haben wir keine.“ (5)

FALLSTUDIE IN BERLIN | 155

Nachdem zunächst die Türkeistämmigen hervorgehoben werden, hält es die inter- viewte Person, überlegend, für möglich, dass auch Aussiedler_innen zu den Mit- gliedern gehören. Die zögerliche Antwort verdeutlicht die Unsicherheit bei der Zu- ordnung. Aussiedler_innen werden als „deutsch“ umschrieben und somit als nicht eigenständige Herkunftsgruppe innerhalb der Partei wahrgenommen. Diese Be- obachtung teilt ein weiteres Parteimitglied:

„Im tatsächlichen Leben gibt es drei Merkmale, mit der man eine Person als ‚anders‘ defi- niert: Hautfarbe, Sprache, Name. Wenn ich mich vorstelle, ich heiße Özgül, zack, bin ich in einer Schublade. Mein Aussehen höchstwahrscheinlich [...] noch jemand aus Indien, jemand mit dunklerer Hautfarbe – zack, in der Schublade. Drittens: Ich bin überhaupt nicht bemerk- bar, bis wir anfangen uns zu unterhalten und ein Akzent erkennbar wird – ‚aha‘ sagt man dann da. Diese drei Merkmale bestimmen im praktischen Leben die Definition von Migrant. Was der Mikrozensus definiert – Aussiedler usw. – alles Palaver [...].“ (6)

Darüber hinaus führt er aus:

„Es gibt aber Prozesse [...], die diese Gruppe verkleinern. [...]. Manche haben die Chance oder das Glück möglichst aus diesen Schubladen herauszukommen – z.B. durch akzentfreie Sprache [...]. Wenn man auch noch Glück hat aus einer Region zu kommen, wo man die Namen relativieren kann, z.B. wenn man aus der christlichen Ecke, wie Polen, kommt, dann hat man ähnliche Namen, aber eine andere Schreibweise. Ich merke das sehr stark bei den Russen und Polen, die die deutsche Schreibweise verwenden, das ist Taktik [...]. Gut, in ei- ner Parteiarbeit kann ich so eine Definition nicht verwenden, diese offizielle, breit angelegte Definition muss ich akzeptieren. Aber in der Realität funktioniert das nach drei Kriterien. [...]. Zum Beispiel habe ich in der Partei Freunde, mit denen ich politisch eng zusammenar- beite [...], die polnischer Herkunft sind [...]. Die sind Deutsche.“

Indirekt decken sich die Einschätzungen einer Eingrenzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und der entsprechenden Parteimitglieder auf bestimmte Herkunftsgruppen. Erneut sind es die aus Polen und Russland stammenden, die seiner Auffassung nach die Möglichkeit hätten, dieser Bezeichnung als „Migrant“ zu entgehen. Zwar gibt er an, dass formal eine breitere Definition innerhalb der Partei gelte, in der Praxis sich jedoch die Wahrnehmung auf die drei Merkmale be- schränke. Dieser Einschätzung folgt ein weiterer Akteur:

„[...] sie sehen bei mir auch nicht den typischsten Migranten, weil ich die Sprache fließend spreche, ich sehe zwar so aus, aber man hat sich inzwischen dran gewöhnt, aber wenn einer jetzt mit einem gebrochenen Deutsch kommt und dann vielleicht noch einen fetten Schnurr- bart trägt, dann haben manche auch den Prototypen des Türken vor sich.“ (7)

156 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Insofern sieht auch er Abstufungsmöglichkeiten in Abhängigkeit von Sprache und Aussehen, wobei ein bestimmter, überzeichnend dargestellter, Prototyp eines Tür- keistämmigen als Vergleichsfolie fungiert. Die eingangs beschriebenen Wahrnehmungen spiegeln diese Ambivalenz zwi- schen formeller und informeller Definition wider. Zum einen erwähnen die Befrag- ten zunächst die Türkeistämmigen, die nach der obigen Definition zur Gruppe der Migranten/Migrantinnen gezählt werden können, um dann – zum Teil erst auf mein Nachfragen hin – über andere Herkunftsgruppen in der Mitgliedschaft zu re- flektieren. Angesichts einer breiteren offiziellen Definition von Migrant_in versu- chen die Befragten auch andere Gruppen einzubeziehen, sind sich aber unsicher bzw. schätzen ihre Zahl als gering ein. Auch in der Parteigliederung B reduzieren die Befragten „Migranten/ Migrantinnen“ auf bestimmte Herkunftsgruppen. Ein zentrale Führungspersönlich- keit sieht die „Buntheit und Vitalität“ als ein Charakteristikum der Bevölkerung an, das sich durch „die vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft einfach auto- matisch“ ergebe (8). Dabei hebt sie zwei Herkunftsgruppen hervor: „Die beiden größten Herkunftsgruppen sind Türken und Araber. Sicherlich zahlenmäßig den Arabern mindestens gleichwertig – würde ich denken – sind die Russen, die aber deutlich weniger Probleme haben, weniger Integrationsprobleme haben als die Araber.“ Deutlich tritt der Fokus auf die Türkeistämmigen und Arabischstämmigen her- vor, deren Wahrnehmbarkeit durch die „Integrationsprobleme“ verschärft wird und andere Bevölkerungsgruppen in den Hintergrund rücken lässt. Auf die Frage in- wieweit sich die eingewanderte Bevölkerung in der Partei widerspiegelt, erläutert sie:

„Also, in der politischen Klasse des Bezirks spiegelt sich das noch viel zu wenig wider. Es gibt so eine traditionelle Aufteilung der Migrantenbevölkerung in drei Gruppen. Das sieht so aus, dass man sagt: ‚Türken sind bei der SPD, die Araber bei der CDU und die Kurden sind bei den Linken, und die Grünen haben von allen etwas.‘ Aber das hängt eher damit zusam- men, welche Partei traditionell gute Beziehungen zu den Vereinen und Interessenvertretun- gen der jeweiligen Einwanderergruppen pflegen [...].“

Unter Verweis auf andere Parteien konzentriert sie ihre Aufmerksamkeit auf be- stimmte Herkunftsgruppen, die Türkischstämmigen, Arabischstämmigen und Kur- dischstämmigen. Erneut bleiben somit andere Herkunftsgruppen, wie beispielswei- se der bereits oben angeführte russischstämmige Bevölkerungsteil, unerwähnt.6

6 Zwar sagt in einem von mir gesammelten Bericht ein engagiertes Parteimitglied der Par- teigliederung B, dass es neben den Türkischstämmigen auch polnischstämmige und iran-

FALLSTUDIE IN BERLIN | 157

Des Weiteren klingt in dem obigen Zitat an, dass die Unterrepräsentanz dieser Gruppen im Unterschied zur Parteigliederung A problematisiert wird („Also in der politischen Klasse des Bezirks spiegelt sich das noch viel zu wenig wider“). Hierzu führt die interviewte Person weiter aus:

„Also [...], ich habe den Eindruck, dass vielen Einwanderern die Politik auch als ein relativ hermetischer Bereich erscheint, zu dem sie irgendwie keinen Zutritt haben. Das ist sicherlich auch eine Wahrnehmungsfrage, viele in den Parteien würden sich ja wünschen, dass mehr kämen aus allen Bevölkerungsgruppen auch aus dem Migrantischen.“

Unklar bleibt an dieser Stelle, ob sich aus der unterschiedlichen Problemwahrneh- mung auch Unterschiede im Hinblick auf eine Mitgliedergewinnung ergeben.

6.1.2 Formen der Mitgliederrekrutierung von Migranten/Migrantinnen

Auf die Frage, ob und welche Maßnahmen im Hinblick auf die Anwerbung von Mitgliedern mit Einwanderungsgeschichte erwähnt werden, wird in beiden Kon- texten von keinen expliziten Werbemaßnahmen gesprochen, mit denen ganz ge- zielt auf bestimmte Herkunftsgruppen reagiert werden soll. Vielmehr wird der Vernetzung mit den lokal verankerten Migrantenorganisationen eine entscheidende Rolle bei der Rekrutierung zugeschrieben. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Art der Kontakte und Ansprache. Ein Befragter der Parteigliederung A führt im Zusammenhang einer Mitgliederanwerbung von Einwanderern/Einwanderinnen aus: „Wenn sie jetzt fragen, gibt es den Wunsch, die gezielt anzusprechen, ja, aber es gibt jetzt auch keine zielgerichtet Kampagne, zu sagen: Also wir werben jetzt nicht gezielt Mitglieder mit Migrationshintergrund.“ (9) Stattdessen laufe die Ansprache über politische Projekte:

„Wir unterstützen z.B. jetzt sehr stark den Begründer des Projekts Z, dass eben Menschen ohne deutschen Pass, die Möglichkeit haben [...] an einer symbolischen Testwahl zu beteili- gen [...]. Da haben wir durchaus starken Zulauf auch abseits der Parteiszene. Wir haben sehr exponierte Mitglieder und auch Kontakte hier zur alevitischen Gemeinde. Also, es gibt ein- fach aufgrund der kommunalen Verankerung und der Stärke, die diese verschiedenen Initia- tiven und Institutionen hier haben, vielfältige Anknüpfungspunkte.“

stämmige Mitglieder gäbe (M2). Wie sich jedoch in den folgenden Abschnitten im Zu- sammenhang der parteipolitischen Inkorporation zeigen wird, bleibt der Fokus auf den Türkeistämmigen und Arabischstämmigen.

158 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Die interviewte Person sieht somit eine starke Vernetzung zwischen der Partei und verschiedenen Vereinen, wobei er als Beispiel die alevitische Gemeinde hervor- hebt und somit indirekt den Austausch mit Türkischstämmigen unterstreicht. Die- sen Fokus auf eine bestimmte Herkunftsgruppe verstärkt die befragte Person, in- dem sie auf eine starke sozialdemokratische Kultur der Türkeistämmigen im Teil- bezirk C verweist:

„Und auch eine starke Tradition gerade in der türkischen Community, die eben auch klas- sisch sozialdemokratisch geprägt ist, also auch kulturell sozialdemokratisch geprägt ist, also sowohl der türkische Verein I hat mit Herrn Özal als Vorsitzenden einen sehr wahrnehmba- ren Sozialdemokraten, der auch in C sehr aktiv ist, also, da gibt es eine starke Sozialisation, eine kemalistisch sozialdemokratische Tradition hinzu zur Sozialdemokratie.“

An dieser Stelle wird die ideologische Nähe der türkischen und deutschen Sozial- demokratie als Argument der personellen Verflechtung angeführt. Sie dient als Beweis für die indirekten Rekrutierungsprozesse in die Partei. Ein weiterer Inter- viewter bestätigt diese Dominanz der Verflechtung mit den türkischen Sozialde- mokraten:

„Es gibt einige Organisationen der türkischen Sozialdemokraten [...], es gibt, glaube ich, keine [Migrantenorganisation] außer türkischstämmige Organisationen, die so verflochten ist, wie die türkischen Sozialdemokraten. [...]. Ich kenn z.B. auch den Vorsitzenden der itali- enischen Jugend [...], auch ein Genosse. Aber da ist die Verflechtung nicht da. Das ist halt punktuell, man ist da drin [...].“ (10)

Insofern fokussiert sich hier die Wahrnehmung insbesondere auf die türkischen Sozialdemokraten, so dass andere Migrantenorganisationen kaum in den Blickwin- kel geraten. Eine Konzentration auf bestimmte Einwandererorganisationen findet auch in der Parteigliederung B statt. Ein Führungsmitglied führt hinsichtlich der Rekrutie- rungswege aus:

„Für die SPD ist es zum Beispiel der türkische Verein G, das ist ein sehr aktiver, sehr großer türkischer Verein mit sehr gut funktionierenden Strukturen und da er in Z beheimatet ist, ist er für uns ein wichtiger Partner. Aber da gibt es auch viele kleinere Gruppen. Im arabischen Bereich ist das der arabische Verein Ä, da gibt es eine ganze Reihe von kleineren Vereinen, mit denen wir regelmäßig Kontakt halten.“ (11)

Im Gegensatz zur Parteigliederung A rücken somit neben den türkischen Vereinen auch die arabischen Vereine in den Vordergrund. Ferner wird hier nicht auf eine gewachsene Tradition mit türkischen Sozialdemokraten verwiesen. FALLSTUDIE IN BERLIN | 159

Eine Interviewpartnerin mit türkischem Migrationshintergrund äußert in die- sem Zusammenhang: „Der Verein hat ja schon mit der SPD zusammengearbeitet, mit vielen Parteien, auch mit der CDU und so weiter. Und darüber habe ich dann Peter kennengelernt, Möller den Mandatsträger. Und so kam es dazu. Also, gleich so von der oberen Quelle …“ (12) Somit findet laut dieser Aussage eine individuelle Ansprache durch eine zent- rale politische Persönlichkeit statt. Vergleichbare Ansätze werden in der Partei- gliederung A nicht formuliert. Vielmehr wird auf „eine sehr aktive Arbeitsgemein- schaft Migration, die sehr offen ist gegenüber SPD-Mitgliedern oder Interessierten, die auch Migrationshintergrund haben“, verwiesen (13). Die Verantwortung wird somit auf eine spezifische Organisationseinheit übertragen. Zudem tritt innerhalb der Parteigliederung A in den Aussagen hervor, dass Mitglieder mit Migrations- hintergrund vor allem von bereits verankerten Migranten/Migrantinnen angespro- chen und geworben werden. Ein Mitglied antwortet auf die Frage, wie Menschen mit Migrationshintergrund gewonnen würden, dass die Rekrutierungsmechanismen der SPD über die „persönliche Schiene“ laufen und dort immer die Tatsache greife, dass man den anwerbe, der einem ähnle (14). Zwei von mir Interviewte mit Migra- tionshintergrund berichten in diesem Sinne, dass sie von einem Mitglied mit Mig- rationshintergrund angesprochen und in die Partei eingeführt wurden (15; 16). Ei- nes dieser Mitglieder verweist zugleich auf seine Verankerung bei den türkischen Sozialdemokraten (TB-W1).

6.1.3 Problematisierung der Mitgliederverankerung

Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit die Verankerung und Etablierung von Migranten/Migrantinnen nach ihrem Parteibeitritt problematisiert wird. Im Fall der Parteigliederung A lassen sich Hinweise finden, dass diese Thematisierung von der Parteibasis ausgeht. Hierzu führt ein Parteimitglied aus:

„Also, in der Partei hat man Leute, die in Migrantenvereinen tätig sind. Dort waren es die bestimmenden Personen, in der Partei waren sie auf einmal relativ ruhig, relativ unbestim- mend. [...] ich habe bemerkt, dass sie in den Abteilungen relativ wenig mitmachen, aber in der AG Migration ganz schön aktiv sind. [...] Ich habe immer das Problem, den Leuten zu sagen: ‚Geht in die Abteilung!‘“ (17)

Während es zunächst eine Zurückhaltung der Migranten/Migrantinnen im Hinblick auf eine Beteiligung innerhalb der Partei hervorhebt, beschränkt es diese Passivität auf die Abteilungsarbeit, wohingegen dies in der Arbeitsgemeinschaft anders sei. Auf die Frage, worauf diese Zurückhaltung zurück zu führen sei, fragt das Mitglied mich direkt zurück:

160 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Was würden Sie denn machen? Sie gehen zu einer Diskussion in einer Baptistenkirche, wo es nur Schwarze gibt, Sie kommen da rein und es wird heftig über ein x-beliebiges Thema diskutiert, worüber Sie auch eine Meinung haben und gerne diskutieren wollen. Was würden Sie machen? Sich melden und denen stundenlang einen Vortrag halten?“

Als Erklärung schließt es darauf an: „Also, ich hab die Erfahrung gemacht, je mehr Leute in einer Diskussionsrunde sind, die so sind wie ich oder mir ähneln, desto mehr trau ich mir zu.“ Die befragte Person stellt somit indirekt die Eigenschaft des Migrationshinter- grunds als eine Gemeinsamkeit dar, die nur dann eine Beteiligung erleichtere, wenn bereits Menschen mit ein solchem Hintergrund anwesend wären. An dieser Stelle können Aussagen reflektiert werden, nach denen eine räumliche Konzentra- tion von Mitgliedern in bestimmten Abteilungen wahrgenommen wird (vgl. 6.1.1). Im Umkehrschluss wäre eine stärkere Beteiligung und Verankerung in diesen Ab- teilungen zu erwarten. Ein Interviewpartner sieht nicht mehr den sichtbaren Migra- tionshintergrund per se als Hürde der Beteiligung, sondern vielmehr die Zugehö- rigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, denn wenn, dann treffe man die „migrantische Mittelschicht“ in der Partei an (18). Die Beschreibung eines Partei- mitglieds mit Migrationshintergrund ihrer ersten Erfahrungen in der SPD gehen sogar noch einen Schritt weiter:

„Also, ich muss zugeben, dass ich mich in der Abteilung auf Anhieb nicht wohlgefühlt habe. Und zwar deshalb, weil ich – wie gesagt, das war aber die Zusammensetzung der Abteilun- gen ein bisschen – da waren halt wirklich – ich war wirklich alleine jetzt, die waren wirklich viel älter gewesen. Da hat man sich eigentlich von Anfang an nicht so recht wohlgefühlt, da- für, dass ich gleich in den Vorstand kam, war ich irgendwie, ja,… ein bisschen gezwungen, meinen Verpflichtungen nachzugehen und immer dabei zu sein.“ (19)

Nicht der sichtbare Migrationshintergrund, sondern das Alter wird als Hürde dar- gestellt. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen zeigt sich, dass die Befragten den Hergang ihrer eigenen Verankerung sowie der anderen Migran- ten/Migrantinnen reflektieren. In der Parteigliederung B lässt sich eine vergleichbare Problematisierung in den Interviewaussagen nicht feststellen.7 Anfängliche Verankerungsschwierigkei- ten werden nicht auf den Migrationshintergrund zurückgeführt, sondern als Lern- prozess interpretiert, wie folgende Aussage einer Person mit Migrationshintergrund zeigt:

7 Was nicht automatisch zu dem Rückschluss führen darf, dass es keine ähnlich gearteten Verankerungsprobleme gäbe. FALLSTUDIE IN BERLIN | 161

„Also, die Zeit war für mich auch ein bisschen fremd, ein bisschen komisch [...] Die Men- schen kannte ich nicht. Es waren sehr viele alte Menschen mit dabei [...] also, es hat schon so Anlaufzeit gekostet. Damals, ich sehe das jetzt, habe ich das so nicht wahrgenommen… es hat mich so ein bisschen angestrengt das Ganze, weil das neu war, man weiß ja nicht, wie man sich verkaufen soll. Ich habe einfach das gesagt, so wie es ist. Aber heute würde ich da viel, ganz anders rangehen. Also, ich hab mich auch weitergebildet bzw. die Partei hat einen auch schon reif gemacht, weil man auch einiges besser sieht, anders sieht.“ (20)

Neben dem hohen Alter werden die parteiinternen Abläufe als befremdlich be- schrieben. Mit dem Sammeln von Erfahrungen („die Partei hat einen auch schon reif gemacht“) scheinen diese Anfangsschwierigkeiten überwunden worden zu sein. Ein zentraler Parteiakteur sieht diesen Reifeprozess eng mit seiner Initiative verknüpft, Migranten/Migrantinnen bewusst an die Partei heranzuholen und mit einem Mentoring-Programm zu begleiten. Auf meine Nachfrage, was unter „Men- toring“ zu verstehen sei, führt er aus:

„[...] die Leute überall mitnehmen, ihnen zeigen, was es alles gibt, sie zu Versammlungen mitnehmen, ihnen helfen sich in der Partei zurecht zu finden. Sie mitnehmen in die Fraktion, [...], um ihnen zu zeigen, wie da die politische Arbeit funktioniert, damit die einfach ein Grundverständnis von Politik entwickeln und sich überlegen, ob das was für sie ist, wo sie sich auch selber engagieren wollen, längerfristig. [...] Eine von den damaligen Mentees zum Beispiel, [...] die ist dann auch wirklich bei der Stange geblieben, weil sie wohl wusste, dass sich innerhalb der politischen Prozesse sich so etwas entscheidet, ob sie auch das Vertrauen der Partei bekommt und dass diese Kontinuität auch wichtig ist, das was man als Außenste- hender oft ein bisschen abfällig die Ochsentour nennt, die ist ja in gewisser Weise auch eine Ausbildung und für die Partei wiederum ein Signal, das ist jemand, auf den man sich verlas- sen kann, wenn man jemanden ein öffentliches Mandat zum Beispiel anträgt.“ (21)

Das Beispiel bezieht sich auf eine Person mit Migrationshintergrund, die scheinbar erfolgreich das Mentoring-Programm durchlaufen und somit die innerparteilichen Prozesse kennengelernt habe. Jenseits des Mentoring-Programms führt er an ande- rer Stelle in Bezug auf Mitglieder mit Migrationshintergrund aus:

„[...] ich hab das von Anfang an – praktisch von dem ersten Tag an [...] gesagt, dass ich das vorhabe, dass mir das wichtig ist. Ich habe das auch in der Abteilung vorgemacht, wo ich auch Abteilungsvorsitzender war, [...], hab ich das ganz bewusst auch forciert und Leute rangeholt und aufgebaut. [...] Also, da wusste die Partei, worauf sie sich einließ [...]“. Nach dieser Aussage ist es die individuelle Motivation einer Führungspersönlich- keit, die zu einer verstärkten Ansprache von Migranten/Migrantinnen geführt habe. Somit wird im Gegensatz zur Parteigliederung A eine gezielte Förderung einzelner

162 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Mitglieder mit Migrationshintergrund angedeutet, welche sich auch im Hinblick auf die Nominierungsprozesse bemerkbar machen wird.

6.2 ZUGANG ZU POLITISCHEN MACHTPOSITIONEN

Im folgenden Unterkapitel wird gezeigt, inwiefern der Migrationshintergrund bei der Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen für die BVV und das Abgeordne- tenhaus eine Rolle spielt. In einem ersten Schritt geht es um die Wahrnehmungen der Befragten in diesem Wahlkontext. Inwieweit spielt ihrer Auffassung nach der Migrationshintergrund bei der Selektion eine Rolle? Wird er als ein förderlicher, hinderlicher oder neutraler Faktor gesehen? In einem zweiten Schritt werde ich auf Basis meiner teilnehmenden Beobachtungen und der gesammelten Materialien eru- ieren, inwiefern der Migrationshintergrund von den Bewerbern/Bewerberinnen selbst hervorgehoben wird. Das Ziel ist, Aussagen der Interviews kritisch mit den eigenen Beobachtungen zu vergleichen.

6.2.1 Relevanz und Irrelevanz des Migrationshintergrundes bei den Nominierungen

Im Folgenden steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit der Migrationshintergrund von den Befragten, d.h. von zentralen Entscheidungsträgern/-trägerinnen sowie den Kandidaten/Kandidatinnen selbst, bei den Nominierungsprozessen als relevant wahrgenommen wird und wenn ja, warum? Es zeigt sich zunächst, dass sich eine unterschiedliche Wahrnehmung in den beiden Parteigliederungen feststellen lässt. Während in Parteigliederung B der tür- kische Migrationshintergrund als ein entscheidender Grund für die Nominierungen angesehen und dies mittels verschiedener Argumente legitimiert wird, dominiert in der Parteigliederung A die Wahrnehmung, dass dieser, wenn überhaupt, eine mar- ginale Rolle gespielt habe. Eine zentrale Führungsfigur der Parteigliederung B macht deutlich, welche Rolle der türkischstämmige Migrationshintergrund im Falle eines Kandidaten ge- spielt habe: „Natürlich, wir wollen die Menschen überzeugen, und viele Menschen [...], die wir überzeugen wollen, haben einen türkischen Nachnamen, das ist wich- tig, dass die sehen, Mensch, Leute wie ich sind die auch bei der SPD [...] So eine Partei kann ich wählen.“ (22) Die befragte Person legitimiert somit die gezielte Nominierung eines türkisch- stämmigen Kandidaten mit einer Repräsentationsidee, nach der die gemeinsame Herkunft von Kandidat und Bevölkerung zu einer Mobilisierung letzterer führen würde. Noch deutlicher wird die Intention einer Stimmenmaximierung an einer an- deren Stelle des Interviews: FALLSTUDIE IN BERLIN | 163

„Das ist doch klar, wir stellen unsere Kandidaten auf, weil wir der Meinung sind, dass das Kandidaten sind, die in der Bevölkerung Akzeptanz finden und die auch gewählt werden. Und eine Überlegung dabei ist, wir brauchen eben auch die Bevölkerung in ihrer ganzen Breite in unserer Kandidatenriege. Klar geht es da um Wählerstimmen.“

Ein Wahlerfolg und eine Akzeptanz beim Wahlvolk lassen sich dieser Aussage nach nur dadurch gewährleisten, dass die Kandidaten/Kandidatinnen die Bevölke- rung in ihrer „Breite“ widerspiegeln. Ein anderer Befragter, der selbst Kandidat mit türkischem Hintergrund ist, bestätigt diese Sichtweise: „Ob der Migrationshinter- grund gut ist? Natürlich ist der gut, die Partei will doch die Wahlen gewinnen.“ (23) Auch eine andere Kandidatin mit türkischem Migrationshintergrund stellt einen solchen Zusammenhang her:

„[...] ich [musste] ja das Ramadan-Fest, das Fastenbrechen organisieren und diese typischen Themen für die türkische Community [...]. Und in der Abteilung kommt es eigentlich jetzt mehr [...] wird das ein bisschen höher gepuscht. Wahrscheinlich jetzt auch durch die Wahl, weil wir auch viele Migranten bei uns haben, dass wir sozusagen da als Gesicht stehen.“ (24)

Die Verstärkung ihrer Aktivitäten in der „türkischen Community“ verbindet sie di- rekt mit dem Wahlkampf, indem sie als Kandidatin als „Gesicht“ für die „Migran- ten“ steht. Des Weiteren führt sie in diesem Zusammenhang aus: „Wir werden jetzt bald in unseren Netzwerken das verbreiten, dass wir jetzt auf der Kandidatenliste sind, meine Kollegin und ich [...], dass wir für diesen Ort auch deren Interessen weitergeben können, für die da sein können [...]“. Wenngleich offen bleibt, wer genau Teil dieser Netzwerke ist, steht die Aussa- ge im Kontext der Rolle ihres Migrationshintergrundes im Wahlkampf. Insofern ist anzunehmen, dass mit Netzwerken auch Verbindungen in die „türkischen Commu- nity“ gemeint sind. Ferner deutet sie an anderer Stelle an, dass sie bewusst Wahl- kampfflyer auf Türkisch verteilen würden, um gezielt Migranten/Migrantinnen an- zusprechen (ebd.). Hierzu passt auch die Aussage einer Führungspersönlichkeit:

164 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Wir haben auch als ein Argument für Frau K ganz offensiv verwendet, dass sie in einem großen türkischen Verein aktiv ist und dass die Leute zu ihr kommen und einfach auch ihren Rat haben wollen: ‚Wen soll ich denn wählen Deiner Meinung nach?‘ Da haben wir auch den Genossen in der Partei gesagt, naja, ist doch eine schöne Situation, wenn sie in dieser Si- tuation dann den Rat geben kann: ‚Da wählt doch am besten einfach die SPD‘.“ (25)

Die zivilgesellschaftliche Verankerung der Kandidatin wird hier als eine Möglich- keit gedeutet, Wahlstimmen für die SPD zu gewinnen. Sie dient als Legitimations- grundlage im Kontext der innerparteilichen Überzeugungsarbeit und suggeriert ei- nen pragmatischen Handel von Kandidatur gegen Stimmenpotenzial. Neben dem Stimmenmaximierungsargument findet sich darüber hinaus eine normenbezogene Legitimierung der Nominierung von Migranten/Migrantinnen, wie sie folgende Aussage verdeutlicht:

„Ich habe es den Leuten immer so erklärt, dass ich gesagt habe: ‚Wenn die SPD den An- spruch hat Volkspartei zu sein, dann muss sie auch den Anspruch haben, dass sich das Volk in der Partei wieder erkennt. Und das Volk besteht nun mal nicht nur aus Deutschen.‘ [...]. Dass das für uns auch eine Überlebensfrage als Volkspartei ist, ob es gelingt, diese Öffnung auch zu [...] vollziehen.“ (26)

Hier wird die Idee der Volkspartei sowie deren Überlebensfähigkeit als Argument herangezogen, um das eigene Vorgehen („diese Öffnung“) zu begründen. Dabei deutet der Befragte eine innerparteiliche Überzeugungsarbeit („Ich habe es den Leuten immer so erklärt“) an, die daraus besteht, Migranten/Migrantinnen als Be- standteil des „Volkes“ und somit als notwendige Zielgruppe der SPD als Volkspar- tei zu definieren. Anders verhält es sich in der Parteigliederung A. Hier kommt es zu wider- sprüchlichen Aussagen. Ein zentraler Parteiakteur hebt die Tradition der Partei- gliederung hervor, nach der Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund aufgestellt worden seien und zählt dabei ausschließlich türkischstämmige Personen auf. Zudem sagt er in Bezug auf die Nominierungsliste bei den Bezirkswahlen:

„Ich würde [...] in Anspruch nehmen, dass wir [...] versucht haben, mindestens auch was die Nominierungsliste angeht, zu sagen, also, da wollen wir z.B. was die Besetzung von Platz P angeht, einen Vorschlag machen, da ist es so, dass es einen Vorschlag [...] gab, in dem sich auch die Vielfalt des Bezirks abbildet.“ (27)

Auf dem Listenplatz P ist eine Türkischstämmige nominiert, die er diesmal unter dem Begriff Vielfalt fasst. Auf meine Nachfrage bestätigt er mir, dass hier durch- aus die Sichtbarkeit im Hinblick auf einen Stimmengewinn eine Rolle gespielt ha- be. Ferner verbindet er an anderer Stelle des Interviews den Migrationshintergrund FALLSTUDIE IN BERLIN | 165 mit einer positiven Qualifikation, der interkulturellen Kompetenz. Gleichwohl be- zweifelt er schließlich, dass die Kandidatin sich aufgrund ihres Migrationshinter- grundes gegen andere Kandidatinnen durchgesetzt habe. Ein Parteimitglied meint, dass wohl bei der Nominierung „die schwarzen Haare“ eine Rolle gespielt hätten. In diesem Zusammenhang führt die Person aus:

„[...] also, es wäre [...] peinlich [...], bis jetzt war das ja wirklich so gewesen. Also, man hat keinen Migrant oder keine Migrantin auf diesen Listenplätzen gesehen. Bis jetzt war es im- mer so gewesen. [...] wie gesagt, es wäre da einfach zu auffällig, wenn man da, ich sag mal, keinen mit Migrationshintergrund hätte. [...] Und ich würde sogar behaupten, dass das zufäl- lig entstand.“ (28)

Die befragte Person geht davon aus, dass eine fehlende Nominierung „peinlich“ gewesen wäre. Trotzdem geht sie nicht von einer zielgerichteten Aktion, sondern vielmehr von einem Zufall aus. Ein weiterer Befragter deutet an, dass die Nominie- rung der Migrantin aufgrund ihrer Netzwerke und nicht aufgrund eines Willens der Parteigliederung zustande gekommen sei (29). Somit bleiben die Befragten wider- sprüchlich in ihren Aussagen. Was die Nominierung für die Abgeordnetenhauswahlen betrifft, so wird eine förderliche Rolle des Migrationshintergrundes in der Parteigliederung A verneint. Ein Befragter äußert sich in diesem Zusammenhang wie folgt: „Es gibt keine Son- derbehandlung als Migrant, d.h. man muss sich schon hochkämpfen – was ich auch richtig finde.“ (30) Ein anderer Interviewteilnehmer formuliert es so: „[...] fast alle türkischstäm- migen Politiker und Politikerinnen, die von der Sache ein bisschen Ahnung haben, [...] wissen genau, dass mit dieser Geschichte ‚gelungene Migration, Migranten usw.‘ keine Blumen zu gewinnen sind. Das ist auch nicht unbedingt eine gute Ei- genschaft.“ (31) An dieser Stelle reduziert er den Migrationshintergrund auf die Türkeistämmi- gen, die sich im Klaren darüber seien, dass ihr Hintergrund keinen Bonus darstelle. Ein Führungsmitglied stellt den individuellen Wettbewerb zwischen den Kan- didaten/Kandidatinnen in den Vordergrund.

„[...]. Einmal würde ich es positiv sehen, die Migrantinnen und Migranten setzen sich genau- so wie – das schreckliche Wort – biodeutsche Kandidaten mit Mehrheit durch und ich würde nicht sagen, dass die einen Bonus haben, sondern, das ist ja ein Merkmal der SPD und viel- leicht jetzt auch anders als bei den Grünen oder den Linken, es ist eben die Breite dieser Volkspartei, da brauchen sie schon starke Ellenbogen, um sich durchzusetzen und es funkti- oniert auch bei uns nicht, dass jemand von oben sagt, so dass muss jetzt aber mal jemand werden, der… Das würde nicht funktionieren [...].“ (32)

166 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Der Befragte verneint hier eine Bevorzugung von Bewerbern/Bewerberinnen auf- grund ihres Migrationshintergrundes und begründet dies mit der Idee der Volkspar- tei. Während in der Parteigliederung B die Volkspartei noch als Argument für eine Förderung von Migranten/Migrantinnen herangezogen wurde, assoziiert der hier Zitierte mit der Volkspartei andere Eigenschaften. Es ist die „Breite“ der Partei, die zu einem erhöhten innerparteilichen Wettbewerb führe („da brauchen sie schon starke Ellenbogen“) sowie eine hierarchische Entscheidung verhindere („es funkti- oniert auch bei uns nicht, dass jemand von oben sagt [...]“). Ferner wird im Gegensatz zur Parteigliederung B der Stimmen- und Parteien- wettbewerb nicht als Grund für eine spezielle Förderung von Migranten/Migran- tinnen hervorgehoben. Zwar deutet ein Kandidat an, dass er teilweise damit argu- mentiert habe, dass man nicht gegen die Grünen antreten könne, wenn man „nur Biodeutsche“ nominiere. Gleichzeitig verneint er aber, dass dieses Argument bei der Entscheidung eine Rolle gespielt habe (33). Ebenso ein zentraler Parteiakteur verneint eine solche Hypothese:

„Manchmal wäre es ja schön, wenn man in der Lage wäre, das noch deutlicher zu steuern. Also, wir haben ja hier eine Konkurrenzlage in C von SPD gegen Grüne. So und jetzt haben wir im Wahlkreis Z zwei Frauen gegeneinander, im Wahlkreis K zwei junge Männer gegen- einander und im Wahlkreis L zwei Männer mit Migrationshintergrund. Also sagen wir mal so, wenn man das jetzt rein parteitaktisch betrieben hätte, hätte man das vielleicht anders gemacht, um dann immer noch ein Gegenprogramm zu setzen, aber das ist die Kraft und Schönheit der Demokratie, dass das also nur begrenzt steuerbar ist und auch von vielen Zu- fällen abhängt, wer sich dann wo durchsetzt.“ (34)

Er sieht in der Konfiguration des lokalen Parteienwettbewerbs mit den Grünen ei- nen Grund, der gegen die Nominierung eines Kandidaten mit Migrationshinter- grund sprechen würde, aber angesichts der demokratischen Entscheidungsprozesse und der Zufälle rein hypothetisch bleibt. Die Betonung des innerparteilichen Wettbewerbs zeigt sich darüber hinaus, in- dem die Netzwerkbildung von den Befragten hervorgehoben wird. Ein Interview- teilnehmer formuliert: „Das wichtigste ist gar nicht, woher man kommt, das wich- tigste ist, welche Truppen man hat, welche Freunde man hat, welche Seilschaften man hat. Das ist viel wichtiger.“ (35) Ebenso ein weiterer Befragter nimmt eine vergleichbare Perspektive ein:

FALLSTUDIE IN BERLIN | 167

„Langfristige Perspektiven werden in C nicht betrachtet. Von daher, bewusst sich zu überle- gen, wir müssen Leute irgendwie fördern, vielleicht bei ein zwei Leuten, aber generell war das sicherlich nicht Antrieb jemanden aufzustellen. Das sind eher Machtkonstellationen, die dazu bewegen jemanden irgendwie aufzustellen, d.h. man will vielleicht die Person V nicht haben und da kandidiert vielleicht die Person W mit Migrationshintergrund, dann nehme ich eher die Person als die andere, um es jetzt verschlüsselt zu sagen.“ (36)

Somit werden die Machtstrukturen hervorgehoben, innerhalb derer das Charakte- ristikum „Migrationshintergrund“ keine förderliche Rolle zu spielen scheint. Im Hinblick auf fehlende langfristige Perspektiven führt er weiter aus:

„Also, ich glaube in C ist es schon [...] noch etwas extremer als wahrscheinlich in anderen Bezirken. Was historisch halt gewachsen ist, wo man nicht mal sagen kann, ok, das sind jetzt die Leute, die im Moment an den Hebeln sitzen [...] das System ist so beschaffen wie es ist, das sind ja auch meist Getriebene des Systems, [...] generell in Berlin ist die Dichte der am- bitionierten Menschen anscheinend so groß, dass das Hauen und Stechen schon dazu führt, dass langfristige Gedanken doch sehr hinten anstehen. Und da sind dann meistens auch die Kandidaten mit Migrationshintergrund auch sozusagen Getriebene, die nicht darauf achten, wie schaffen wir jetzt eine langfristige Perspektive.“

Er leitet hier den innerparteilichen Wettbewerb aus einem generellen Wettbewerb in Berlin ab, der Parteiaktiven, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ein lang- fristiges Planen und Durchsetzen bestimmter Repräsentationsziele unmöglich ma- che. Zudem wird von einem Teil der Befragten hervorgehoben, dass die Migran- ten/Migrantinnen nicht in diesen Netzwerken verankert und somit im innerparteili- chen Wettbewerb benachteiligt seien: „Die Migranten haben keine Seilschaften in irgendeiner Partei, die haben sie nicht. [...] In der SPD auf jeden Fall haben sie niemanden oben, der sie fördert oder sie fördern will. [...] als Migrant hast du kei- nen Förderer, das ist nun mal so.“ (37) Darüber hinaus führt das Parteimitglied aus, wie man sich eine solche Förde- rung bei einer Parteiversammlung vorzustellen hat:

„Dort gibt es Leute, die immer ans Mikrofon gehen. [...] manchmal ist das sehr gezielt ge- macht, wer geht wohin, wer sagt was, das wird dann in Gruppen abgesprochen. Und ich meine, hier in C mit den Migranten vor fünf, sechs… das war ziemlich weit von allen, also ich kannte da… da gab es nur ein zwei Migranten, die ich kannte und das 2006, die irgend- wie was mitgemacht haben. Heute ist das wesentlich mehr, aber es hängt immer von be- stimmten Leuten ab, ob sie die aktivieren und motivieren mitzumachen oder nicht.“

168 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Es ist die Vernetzung und Organisierung in Gruppen, die über die Verteilung von Rollen und Aufgaben bestimmen und somit implizit oder explizit Inklusions- und Exklusionsprozesse antreiben. Dabei wird mit der Betonung einer geringen Anzahl an „Migranten“ automatisch eine Außenseiterrolle suggeriert, die nicht zum Kreis der Angesprochenen zählen. Eine weitere Befragte bestätigt diesen Eindruck, in- dem sie feststellt:

„[...] wobei ich manchmal schon den Eindruck bekomme bei [...] Nicht-Migranten, wenn die neu in die Partei einsteigen, dann habe ich schon das Gefühl, dass [...] bestimmte Leute, die in bestimmten Positionen sind, schnell auf sie zugehen, sie in bestimmte Funktionen, ja be- fördern oder behilflich sind. [...] Also wie gesagt, ich bin seit, also ich bin eigentlich viel länger dabei als einige, die nachher gekommen sind und wo ich dann gesehen habe, dass ei- nige Leute irgendwie schnell beim Arbeitskreis als Vorsitzender gewählt wurden oder sonst was. [...] bei Migranten [...] also da ist keiner, der mal sagt, ja mach mal das oder wenn du das machst, dann kannst du da hingehen… man braucht ja [...] jemanden, der einen so ein- weist in die Partei, weil man sich mit den Strukturen nicht auskennt, nicht unbedingt. Etwas zu lesen ist was anderes, als wenn man in der Partei ist und da mitarbeitet und die Strukturen einfach kennenlernt.“ (38)

Ihrer Auffassung nach setzt die Einbeziehung und Ansprache nicht erst bei der Par- teiversammlung an, sondern bereits beim Eintritt in die Partei. In diesem Stadium, bei dem es um die erste Orientierung geht, sieht sie Migranten/Migrantinnen ge- genüber Menschen ohne Migrationshintergrund benachteiligt. Gleichwohl merkt einer der Befragten an:

„Bei der Aufstellung eines Migranten [...] hat sicherlich auch eine Rolle gespielt, wie stark die Gruppe der Migranten in der Partei ist. Das hat sicherlich eine Rolle gespielt.“

I: „Das heißt?“

„Gruppenbildung, [...] wenn in der SPD jeden Tag so eine neue Gruppe entsteht, so Auf- bruch, neue Linke, dann kann man auch mal Linke Migranten gründen [...]. Vielleicht kommt das ja nochmal, weiß ich nicht. Aber in C ist das sicherlich, also in der [...] Abteilung [...] ist das, wie soll ich sagen, ein bestimmender Faktor.“ (39)

Mit dem Ausdruck „Gruppe der Migranten“ bzw. „Gruppenbildung“ impliziert er Vernetzungsprozesse von Migranten/Migrantinnen, die neben anderen Faktoren zur Nominierung eines Migranten beigetragen hätten. An anderer Stelle sieht er diese Vernetzungsprozesse nicht auf die Abteilungsgrenzen beschränkt, sondern erwähnt die Rolle der Arbeitsgemeinschaft Migration als Vernetzungsort. Auch ein weiterer Befragter sieht den Nominierungserfolg unter anderem mit der lokalen FALLSTUDIE IN BERLIN | 169

Präsenz der „sozialdemokratischen Türken“ begründet (40). Somit deutet sich eine Relevanz des Migrationshintergrunds im Kontext der Vernetzungsprozesse an, die als solche allgemein von Befragten als exkludierend wahrgenommen werden. Insgesamt zeigen sich in den untersuchten Parteigliederungen deutliche Unter- schiede in der Perzeption des Migrationshintergrunds als relevantes bzw. irrelevan- tes Nominierungskriterium. Diese Differenzen lassen jedoch noch keine Rück- schlüsse darüber zu, inwiefern im Zuge von Nominierungsprozessen innerparteili- che Widerstände gegen Migranten/Migrantinnen wahrgenommen werden. Ob und wie diese gestaltet sind, soll Gegenstand des folgenden Unterkapitels sein.

6.2.2 Zwischen Objektivierung und Individualisierung migrantenspezifischer Widerstände

Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Widerständen lassen sich Unterschiede zwischen beiden Parteigliederungen feststellen. Es kommt in der Parteigliederung B zu einer Problematisierung und kognitiven Verarbeitung der angeblichen Wider- stände gegen die Nominierungen von Migranten/Migrantinnen. In der Parteiglie- derung A hingegen werden Vorbehalte abstrakter abseits der konkreten Nominie- rungen formuliert. Zunächst lässt sich für die Parteigliederung B festhalten, dass es eine klare Di- chotomie bei der Aufteilung der Listenplätze gibt. Diese umschreibt ein interview- tes Führungsmitglied wie folgt: „Jeder Migrant, der auf der Liste steht, bedeutet, dass an der Stelle kein Deutscher stehen kann.“ (41) Zunächst kommt es zu einer gedanklichen Gegenüberstellung zwischen „Deut- schen“ und „Migranten“, womit eine Art herkunftsbezogenes „Nullsummenspiel“ suggeriert wird. Was der einen Gruppe zu Gute kommt, ist für die andere Gruppe ein Verlust. Diese Konfrontation von zwei Gruppen wird auch in den Deutungen der Gegenkandidaturen bei aussichtreichen Listenplätzen sichtbar. Hierzu führt ein Parteimitglied aus: „Überhaupt alle Kandidaten mit Migrationshintergrund hatten irgendwie Gegenkandidaten oder es war angedacht gegen zu kandidieren [...], das waren die schwächsten Glieder der Kette.“ (42) Kandidaten/Kandidatinnen werden aufgrund ihres Migrationshintergrundes als „schwächstes Glied der Kette“ gesehen, die somit eine Angriffsfläche für Gegen- Kandidaten/-Kandidatinnen bieten würden. Im Gegensatz hierzu wird in der Parteigliederung A eine solche Gegenüber- stellung beider Gruppen nicht wahrgenommen. Der Migrationshintergrund wird nicht per se als eine Eigenschaft begriffen, die im Zentrum eines gezielten Wider- stands bei den Nominierungen steht. Vielmehr wird auf mögliche Widerstände verwiesen, wie folgende zwei Zitate zeigen:

170 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Also, ich hab es bei mir nicht gemerkt, aber ich weiß es von anderen.“ (43)

„[...] also, ich habe es nicht erlebt direkt, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen [...].“ (44)

Es sind die Erfahrungen anderer oder ihre Vorstellungskraft, nach denen Wider- stände ihrer Ansicht nach entweder existieren oder denkbar sind. Dabei werden un- terschiedliche Beispiele genannt, die keinen Bezug zu den aktuellen Nominierun- gen haben bzw. kontextunabhängig formuliert werden. Beispielswiese wird vermu- tet, dass es bei einigen Mitgliedern die Befürchtung gäbe, dass Migranten/Migran- tinnen grundsätzlich bevorzugt würden und dadurch Neid entstehe. Des Weiteren wird geäußert, dass Mitgliedern mit Migrationshintergrund eine zu geringe Veran- kerung und ein zu geringes Engagement innerhalb der Partei unterstellt werden. Schließlich müssten sich Türkeistämmige gehäuft zu strittigen Themen wie dem Genozid an den Armeniern oder dem Kopftuch äußern – mit dem Ziel, diese zu po- litisch umstrittenen Aussagen zu verleiten, um diese gegen sie machtpolitisch ein- zusetzen. Gleichzeitig bleiben diese Interpretationen im Spekulativen, wie auch folgende Aussage deutlich macht:

„[...] ja, da wird auch immer der armenische Genozid thematisiert, da wird auch mal das Kopftuch erwähnt und sonst was und Leute werden auch teilweise komisch angemacht, das passiert schon. Wobei das auch Gerüchte sein können. Weil Partei funktioniert manchmal nur über Gerüchte, deswegen will ich da auch niemanden unterstellen, ob er das jetzt gesagt hat oder nicht. Aber man kriegt das halt mit.“ (45)

In der Parteigliederung B wird der Widerstand nicht nur auf die Nominierungspro- zesse konkret bezogen, sondern auch auf einen Aspekt reduziert. Das Führungs- mitglied führt aus:

„So eine Ansage [...] wir müssen uns interkulturell öffnen, wir brauchen Kandidaten mit Migrationshintergrund, die finden eine solche als Bedrohung, ganz individuell. [...] Die fra- gen einfach nur: ‚Was bedeutet das für mich? Und jetzt muss ich Platz machen, für jeman- den. Ich mache seit 25 Jahren Parteiarbeit, ja, ich bin hier der Treppenterrier gewesen, der die Briefchen durch die Briefschlitze gesteckt hat [...] und jetzt soll ich rausgedrängt werden für jemanden, der möglicherweise so etwas noch nicht gemacht hat, nur weil der ein exotisch klingenden Nachnamen hat, das finde ich nicht gut.‘ Und das kann ich den Leuten durchaus nachempfinden, dass sie so denken.“ (46)

Die oben angeführte Unterscheidung zwischen „Migrant“ und „Deutsche“ sowie der daraus abgeleitete Widerstand werden durch die innerparteiliche Norm über das Ausmaß eines Parteienengagements begründet. Der „Deutsche“ wird dabei als Parteimitglied mit einem langjährigen lokalen Parteienengagement assoziiert, wäh- FALLSTUDIE IN BERLIN | 171 rend der „Migrant“ allein einen „exotischen Namen“ vorweisen würde und über kein derartiges Engagement verfüge. Zudem bildet diese Denkfigur, die zur Veran- schaulichung eines wahrgenommen Grundproblems gewählt wurde, eine Interpre- tationsfolie zu Verarbeitung und Begegnung angenommener Widerstände. Was damit gemeint ist, verdeutlicht folgende Aussage:

„Deswegen war es mir eben auch wichtig [...] diese Widerstände etwas abzuschleifen, indem man auch den Leuten, die einen solchen Weg beschreiten wollen, klar macht, ihr müsst auch die Partei für Euch gewinnen, das reicht nicht, dass man sozusagen politisch auf dem grünen Tisch entscheidet, das ist gut für die Partei, wenn wir solche Kandidaten haben, deswegen muss die Partei da jetzt mitziehen, sondern die Partei ist in gewisser Weise wie eine Familie oder wie so ein lebendes, lebender Organismus, der muss mitgenommen werden. Und dafür kann man was tun. Das hat M perfekt hinbekommen.“ (47)

Das „[G]ewinnen“ der Partei, der „Familie“ oder des „lebenden Organismus“ kann nur durch ein Mindestmaß an parteipolitischen Engagement erfolgen, der die Wi- derstände brechen könne. Die ausgemachte Konkurrenz zwischen „Migrant“ und „Deutschen“ um Nominierungsplätze wird somit durch ein entsprechendes Partei- engagement zu entkräften versucht, wobei den Migranten/Migrantinnen eine Bringschuld auferlegt wird. Auf die Nominierungsentscheidung befragt, führt der Befragte weiter aus: „Die kommt, fährt nicht nur auf dem Ticket ‚ich bin junge Frau mit Migrationshintergrund und deswegen gut für euch und deswegen müsst ihr mich aufstellen‘, sondern die hatte schon etwas für die Partei geleistet, das wurde dann auch voll akzeptiert. Da hat auch keiner gezuckt.“ (48) Das Engagement wird hier als Schlüssel zu einem sicheren Listenplatz gese- hen, ohne dass weitere Faktoren erörtert würden. So sieht es auch eine Kandidatin mit Migrationshintergrund: „Ja, also unausgesprochene Widerstände waren be- stimmt da, das hat bestimmt einige gestört, aber da viele ja auch wussten, dass ich immer da war und man konnte jetzt auch nicht mit Argumenten kommen, sie war ja nie da, sie hat sich ja nie für etwas eingesetzt oder so.“ (49) Sie sieht mögliche Widerstände durch ihr kontinuierliches Engagement ent- kräftet. Aus dieser Perspektive wird es folglich dann problematisch, wenn Migran- ten/Migrantinnen über ein solches Engagement nicht verfügen. Entsprechend führt die Befragte Widerstände bei einer anderen Kandidatin mit Migrationshintergrund auf das fehlende Engagement zurück (ebd.). Auch ein weiterer Befragter bestätigt diese Perspektive und sieht darin den Grund für eine Gegenkandidatur. Hierzu führt er aus: „[...] die Genossin, die sich überlegt hatte gegen P anzutreten, hat das am Nominierungstag dann auch nicht mehr gemacht – die ist in der Liste noch ein bisschen hochgerutscht durch Verzichte und kleinere Umbaumaßnahmen und [...] da ist ihrem Ehrgeiz auch entgegen gekommen worden.“ (50)

172 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Angesichts eines fehlenden ausreichenden Engagements rücken nun innerpar- teiliche Aushandlungsprozesse in den Vordergrund, die die machtpolitische Di- mension der Nominierungsprozesse offenbaren. Widerstände werden durch interne Aushandlungsprozesse aufgelöst. Gleichwohl bleiben diese Aushandlungen eng mit vorangegangenen Legitimationsprozessen verwoben (vgl. 6.2.1).

6.2.3 Der Migrationshintergrund als explizit-kontroverses und implizites Kriterium der Nominierung

Im Folgenden werde ich zunächst auf meine Beobachtungen im Rahmen der No- minierungsprozesse in der Parteigliederung B eingehen, um anschließend die Er- gebnisse von Parteigliederung A zu schildern. Es wird sich dabei zeigen, dass der Migrationshintergrund in der Parteigliederung B eine herausgehobene Bedeutung einnimmt, die mit Ambivalenzen verbunden ist. In Parteigliederung A spielt der Migrationshintergrund allenfalls implizit eine Rolle. In der Parteigliederung B richtet sich das Augenmerk zunächst auf eine Person G, die einen Migrationshintergrund hat und sich für eine Kandidatur für das Abge- ordnetenhaus bewarb. Ich begleitete sie bei insgesamt vier Abteilungssitzungen, welche im Vorfeld der offiziellen Nominierung stattfanden. Darüber hinaus nahm ich an der offiziellen Nominierungsversammlung der Kandidaten/Kandidatinnen für das Abgeordnetenhaus teil. Daran anschließend fand die offizielle Nominierung der Kandidaten/Kandidatinnen für das Bezirksparlament statt, so dass ich auch hier nach der Relevanz des Migrationshintergrundes fragen werde. Es muss hervorge- hoben werden, dass es mir ausschließlich um die Relevanz des Migrationshinter- grundes bei den Nominierungen und nicht um das Nachvollziehen des Nominie- rungsprozesses an sich geht. Anstatt den formalen Rahmen eines solchen Prozesses an dieser Stelle ausführlich zu beschreiben, sollen kontextrelevante Faktoren dann erläutert werden, wenn sie für die Fragestellung relevant werden. Zunächst lässt sich festhalten, dass die Argumente, die in den Diskussionen der Abteilungssitzungen sowie bei der offiziellen Nominierung der Kandidatin hervor- gebracht werden, sich mit den Interviewaussagen decken (vgl. 6.2.1). Bei einer Abteilungssitzung kündigt der bisherige Wahlkreisabgeordnete seinen Rückzug an und schlägt G als seinen Nachfolger vor. Diese Wahl begründet er unter anderem damit, dass es um die Wahrnehmung nach außen sowie die Sichtbarkeit eines „tür- kischen Gesichtes“, welche der Abteilung und Bezirk gut stehen würde (TB3), ge- he. Auch bei einer der darauffolgenden Sitzungen hebt er hervor, dass es für die Abteilung und die Partei von Vorteil wäre, wenn nicht nur ein Kandidat mit einem Migrationshintergrund, sondern mit einem türkischen Migrationshintergrund bei den nächsten Wahlen aufgestellt würde (TB5). Auch betont ein weiteres Mitglied bei dieser Sitzung, dass angesichts der Sarrazin-Debatte die Menschen das Thema der Integration beschäftigt, wo G als Symbol der erfolgreichen Seite der Integrati- FALLSTUDIE IN BERLIN | 173 on gelten könne (TB5). In eine ähnliche Richtung geht eine Anmerkung eines an- deren Parteimitglieds, das betont, dass immer über Integration geredet werde, wenn es aber um „Pöstchen“ gehe, werde nur „biodeutsch“ gewählt. Es zeigt sich somit, mit welcher Offenheit der türkischstämmige Hintergrund als Argument verwendet und in seiner Außenwirkung als positiv angesehen wird. Folglich wird der Kandi- dat mit der gesellschaftspolitischen Debatte über Integration, die durch Sarrazin innerhalb der SPD erneut angefacht wurde (vgl. 4.5.2), assoziiert und als Vorbild eines solches Prozesses stilisiert. Eine weitere Motivation, die bei den Sitzungen im Vorfeld der offiziellen No- minierungen zu Tage tritt, ist der Parteien- und Stimmenwettbewerb. G betont bei einer Abteilungssitzung, dass es wichtig sei, zu zeigen, dass nicht nur bei den Grü- nen Migranten/Migrantinnen erfolgreich aktiv sind, sondern auch bei der SPD. Hier schließt ein Parteimitglied an und betont, dass das Klischee, die Grünen wür- den „nur Rakhi beim Türken trinken“, nicht stimme, was man nicht zuletzt an den erfolgreichen Kandidaturen für das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordne- tenversammlung sehen könne (TB5). Auch bei dem Versuch des Bewerbers, sich nicht primär als Migrant zu definieren, klingt das Stimmenargument an. Es kommt zu einem ironischen Zwischenruf von einem Sitzungsteilnehmer – „So wirst Du aber keine Stimmen bekommen.“ – der mit Gelächter quittiert wird (ebd.). Die Ironie deutet auf eine von den Teilnehmern/Teilnehmerinnen als ambiva- lent wahrgenommene Situation hin. Dies zeigt sich auch an dem anschließenden Kommentar eines Teilnehmers, der betont, dass es keinen reinen „Immi-Wahl- kampf“8 geben solle, sondern auch Menschen der Kirche und des Stadtviertels an- gesprochen werden müssten. Zudem sei zu bedenken, dass der „Migrantenanteil“ im Wahlgebiet noch unter 50 Prozent liege. Entsprechend müssten auch die „her- kömmlichen Leute“ gewonnen werden. Auch G betont kurz zuvor, dass er sich als jemand sehe, der Brücken baue, der die sozialen Probleme und Integration anspre- che sowie sich im Dialog mit den Menschen sehe (ebd.). Bei einer vorherigen Sit- zung erwidert er auf das Argument, nach dem man ein „türkisches Gesicht“ brau- che, dass er nicht nur ein Abgeordneter mit Migrationshintergrund – „nach dem Motto: erzähl mal deinen Landsleuten wie es geht“ – sondern auch für „Biodeut- sche“ da sein möchte (TB3). Ferner wehrt sich G gegen eine Reduzierung auf den türkischen Migrationshintergrund in einer Situation, als ein anderes Parteimitglied bei zwei Sitzungen die Art und Weise der Entscheidungsfindung bei der Bewer- berauswahl kritisiert. Während G bei der ersten Kritik zunächst betont, dass es kein besonderes Angebot sei, aufgrund des Migrationshintergrundes aufgestellt zu wer- den (TB5), reagiert er auf die anhaltende Kritik mit der Aussage, dass „nur noch

8 „Immi-Wahlkampf“ steht hier für Immigranten-Wahlkampf bzw. Einwanderer- Wahlkampf.

174 | PARTEIEN UND MIGRANTEN der Vorwurf fehle, dass ein Türke eingesetzt wurde“ (TB11). Schließlich verweist er auf einen türkischstämmigen Mandatsträger der Grünen, der von manchen als „Vorzeige-Kanake“ gesehen werde. Dieser Eindruck müsse vermieden werden, da es sonst für die Partei gefährlich werden könnte. Darüber hinaus betont eine andere Teilnehmerin, dass die Verankerung von G außerhalb der „Migranten-Community“ wichtig sei sowie eine zu starke Betonung des Migrationshintergrunds bei der No- minierung in anderen Abteilungen nicht so gut ankäme (TB3). An diesen Beobachtungen werden verschiedene Aspekte deutlich. Die gezielte Nominierung eines türkischstämmigen Kandidaten wird von den Teilnehmenden nicht nur mit Vorteilen, sondern auch mit Nachteilen assoziiert. So wird indirekt eine zu schwache Verankerung in der christlich-deutschen Bevölkerung befürchtet und ein Wahlkampf, der primär auf Migranten/Migrantinnen ausgerichtetet ist, ab- gelehnt. Das Austarieren dieser beiden Pole steht für die Beteiligten der Sitzungen im Mittelpunkt, so dass ein von außen und von innen wahrgenommenes Ungleich- gewicht als potenzielle Gefährdung der Nominierung gesehen wird. Vor diesem Hintergrund versucht G diesem Spannungsfeld zu begegnen, indem er sich bewusst als Vermittler zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund darstellt. Nicht die einwanderungsbedingte, sondern die soziale Herkunft müsse seiner Auf- fassung nach Ausgangspunkt eines Dialoges sein. Er knüpft somit an dieser Stelle indirekt an die bereits erwähnte Norm der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Aufstiegs an. Dieser gedankliche Schwenk gelingt ihm aber nur begrenzt. Bei einer Sitzung einer anderen Abteilung der Parteigliederung, bei der G für seine Kandida- tur wirbt, zeigt sich die Ambiguität seiner Rolle. Einerseits betont er, dass er sich immer dagegen gewehrt habe, vorrangig als Mensch mit Migrationshintergrund gesehen zu werden. Auch könne er nur in begrenztem Umfang die Bevölkerung mit Migrationshintergrund erreichen. Andererseits sei er sich bewusst, dass er ge- zielt in die Parteigliederung B geholt und dort gefördert wurde, um Menschen mit Migrationshintergrund als Mitglieder, Migrantenvereine als Multiplikatoren sowie generell mehr Akzeptanz unter den Einwanderern/Einwanderinnen zu gewinnen. Er wisse, welche Erwartung da auf ihm laste (TB8). In dieses Spannungsfeld lassen sich auch die Bewerbungsreden für und von G bei den offiziellen Nominierungen einordnen. Ein zentrales Führungsmitglied der Partei hebt in der Eröffnungsrede den Konkurrenzkampf zu den Konservativen und den Grünen hervor, welcher auch bei der Nominierung berücksichtigt werden müs- se. Die Liste der Kandidaten/Kandidatinnen müsse „bunter, weiblicher und mig- rantischer“ sein, denn das äußere Erscheinungsbild zähle und insbesondere die Grünen würden die kulturelle Frage mit der Botschaft „Wir sind die modernen, die Jungen“ in den Mittelpunkt stellen. Hier müsse etwas entgegengesetzt werden (TB10). In Bezug auf die Bewerbung von G führt er darüber hinaus aus, dass die- ser Vorschlag aus einem politischen Kalkül heraus entstanden sei. Er erwähnt, dass die SPD als Volkspartei nicht nur deutsche Namen auf der Liste haben sollte, son- FALLSTUDIE IN BERLIN | 175 dern auch einen türkischen Namen – der Sichtbarkeit wegen. Grundsätzlich spre- che die politische Klugheit für einen türkischen Mann (ebd.). G geht in seiner Bewerbungsrede auf diese Gründe nicht mehr direkt ein. Vielmehr verfolgt er einen Mittelweg, nach dem der Migrationshintergrund ange- sprochen, aber nur implizit mit seiner Kandidatur verbunden wird. Auf der einen Seite betont er, wie auch andere Kandidaten/Kandidatinnen, seinen beruflichen Werdegang und sein Engagement in der SPD sowie im Bezirk. Des Weiteren sieht er seine Arbeitsschwerpunkte im Bereich Bildung, Wirtschaft und Recht. Auf der anderen Seite erwähnt G seine türkische Herkunft, auch verweist er im Bereich Bildung auf die Fördermaßnahmen einer türkischen Einwandererorganisation. Darüber hinaus gibt es im Zusammenhang seiner Kandidatur keine weitere Für- sprachen oder Gegenreden, in denen der Migrationshintergrund thematisiert wird. Ein Teilnehmer begründet, der scheinbar eine Gegenkandidatur im Vorfeld erwo- gen hatte, seinen Rückzug mit Erfahrungen aus der Vergangenheit, als Angriffe schnell unter die „Gürtellinie“ gegangen seien. Es sei jedoch viel wichtiger, ge- schlossen in den Wahlkampf zu ziehen. Zudem sei er nie feindlich gegenüber G gesonnen gewesen. Auch ein weiterer Kandidat lobt in seiner Rede den Rückzug seines Genossen, der nicht selbstverständlich sei. Insofern findet eine direkte The- matisierung des Migrationshintergrundes nicht statt. Gleichwohl kokettieren meh- rere Kandidaten mit dem Begriff „Migrationshintergrund“, indem sie ihn auf sich selbst beziehen. Zwei Kandidaten assoziieren den Migrationshintergrund mit ihrer Herkunft aus einem anderen Bundesland. Ferner erwähnt ein Kandidat seinen Mig- rationshintergrund und verweist auf seine Herkunft aus einem anderen Berliner Bezirk. Die Versammlung bestätigt durch ihr Gelächter die dahinter liegende Iro- nie (ebd.). Im Fall der Parteigliederung A war mir eine vergleichbare Begleitung eines Kandidaten mit Migrationshintergrund nicht möglich, da meine Anwesenheit bei parteiinternen Treffen in der betreffenden Abteilung nicht erwünscht war. Nichts- destotrotz nahm ich an zwei Parteiveranstaltungen teil, die mir zumindest einen Einblick in den Nominierungsprozess gaben. Die erste Veranstaltung betraf eine Vorstellung aller Kandidaten/Kandidatinnen für das Abgeordnetenhaus, wobei auch persönliche Werbeflyer von einzelnen Bewerbern/Bewerberinnen für das Be- zirksparlament verteilt wurden. Die zweite Veranstaltung war die offizielle Nomi- nierung aller Kandidaten/Kandidatinnen für das Abgeordnetenhaus sowie für das Bezirksparlament. Im Folgenden werde ich meine Analyse auf den Beobachtungen sowie das ausgeteilte Material stützen. Zunächst sticht hervor, dass im Vergleich zur Parteigliederung B der Migrati- onshintergrund als Nominierungskriterium nicht explizit hervorgehoben wird. So- mit erwähnt keiner der Führungsmitglieder bzw. der Spitzenkandidaten/- kandidatinnen bei den Veranstaltungen den Migrationshintergrund als Auswahlkri- terium. Auch wird nicht darauf aufmerksam gemacht, dass es unter den Kandida-

176 | PARTEIEN UND MIGRANTEN ten/Kandidatinnen auch Personen mit einem Migrationshintergrund gibt. Vielmehr wird die Dominanz der Männer auf den verschiedenen Listen von Teilnehmerinnen kritisiert (TB7; TB9). Ferner lassen sich an verschiedenen Stellen offene Konflikte zwischen den Abteilungen feststellen, die in mehreren Kampfkandidaturen mün- den. So hebt bei der ersten Veranstaltung der Moderator hervor, dass nicht alle Ab- teilungen9 zu einer festen Nominierung gekommen seien. Dabei wird sich zeigen, dass der Platz, um den sich auch eine Kandidatin mit Migrationshintergrund be- wirbt, von zwei weiteren Kandidatinnen angestrebt wird. Eine der Gegenkandida- tinnen stellt klar, dass es ihr bei der Vorstellung nicht um eine persönlich inhaltli- che Darstellung ginge, sondern vielmehr wolle sie über Selbstachtung innerhalb der SPD sprechen. In diesem Zusammenhang bemängelt sie grundsätzlich den Ab- lauf des bisherigen Nominierungsverfahrens. Es gäbe elf Kandidaten für sechs Wahlkreise, es gäbe Absprachen zwischen den einzelnen Abteilungen, gegenseiti- ges „Abtasten“ sowie Diskreditierung einzelner Abteilungen. Sie betont, dass grundsätzlich Absprachen erforderlich seien, aber auch die Kriterien der Auswahl der Kandidaten/Kandidatinnen Berücksichtigung finden müssten. Es gehe darum, Glaubwürdigkeit bei den Wählern/Wählerinnen zurückzugewinnen (TB7 – 2). Darüber hinaus zieht eine weitere Person mit Migrationshintergrund ihre Be- werbung für eine Kandidatur für die Abgeordnetenhauswahlen zurück. Hierfür führt sie persönliche Beweggründe an und macht für ihren Rückzug Verleumdun- gen verantwortlich. Die betreffende Person mahnt zu einem aufrichtigeren Um- gang. Später wird sich bei der offiziellen Nominierung herausstellen, dass sie auch nicht mehr für die Bezirkswahlen antreten möchte (TB9). In beiden skizzierten Fällen wird der Migrationshintergrund nicht thematisiert. Auch wird in keiner der Für- oder Gegensprache der Migrationshintergrund erwähnt. Analysiert man die Bewerbungsreden und Flyer der Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund, so werben diese mit ihrer Herkunft indirekt, indem sie diesen mit dem eigenen sozialen Aufstieg und/oder mit dem Themenfeld der sozia- len Integration verknüpfen. Eine Kandidatin mit Migrationshintergrund stellt in ih- rer Bewerbungsrede heraus, dass sie ihre Schwerpunkte in der Wohn- und Mieten- politik, Fragen von „Arbeit und Soziales“ sowie der Integration sehe. Dabei betont sie, dass sie das Integrationsthema bewusst nicht an erster Stelle gesetzt habe, da sie aufgrund ihres Werdegangs selbst Teil der Integration sei – und gute Integrati- onspolitik mit guter sozialdemokratischer Bildungspolitik einhergehe (TB7). Zu- dem erwähnt sie, dass sie selbst in einem Stadtteil aufgewachsen sei, wo die sozia- len Probleme an der Tagesordnung gewesen seien. Sie kenne die Probleme aus ei- gener Erfahrung. Sie brauche demnach keine Sozialstudien, sie wisse, wo die Prob-

9 Im Idealfall wird sich innerhalb und zwischen den Abteilungen auf die Kandida- ten/Kandidatinnen geeinigt. FALLSTUDIE IN BERLIN | 177 leme liegen (TB9). Gleichzeitig lässt sie einfließen, dass der Wahlkreis, für den sie kandidiere, sich durch seine Vielfalt auszeichne. Zudem erwähnt sie, dass sie bei einem türkischen Verein aktiv gewesen sei (ebd.). Während die Anspielungen auf ihre Herkunft in ihren Reden schwach ausge- prägt sind, treten diese in ihrem Bewerbungsflyer, den sie bei der ersten Veranstal- tung unter den Teilnehmern/Teilnehmerinnen verteilen lässt, deutlicher hervor. So heißt es hier, dass sie als Kind von „Gastarbeitern“ nach Deutschland kam sowie in einem Stadtteil mit hohen Migrantenanteil aufgewachsen sei. Des Weiteren führt die Person aus, welche Funktionen sie innerhalb der Partei innehatte und hebt da- bei explizit die Gremienarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Migration hervor. Ferner wirbt sie nicht direkt mit einer gezielten Wahlwerbung unter Migranten/Migran- tinnen (TB7 – U1). Dies fällt auf, da sich mehrere Beispiele finden lassen, wo Kandidaten/Kandidatinnen ohne Migrationshintergrund ganz bewusst betonen, dass sie um Stimmen bei bestimmten Gruppen werben wollen. Ein Kandidat ver- weist auf sein Engagement in den Sportvereinen und betont, dass er dort Stimmen gewinnen werde (TB7). Eine andere Kandidatin verweist auf das akademische Wählerpotential, eine weitere Kandidatin zeigt auf ihre gute Vernetzung im Be- reich Kita und Schule (TB9). Darüber hinaus betont die Kandidatin mit Migrationshintergrund, dass es nicht sein dürfe, dass nur die politischen Wettbewerber „bunter“ aufgestellt seien. An anderen Stellen bleibt der Vielfaltsbegriff ambivalent und nicht eindeutig. Ein Kandidat ohne Migrationshintergrund wirbt dafür, dass alle Abgeordneten aus al- len Schichten und Altersklassen der Gesellschaft kommen sollten, um diese in ih- rer ganzen Vielfalt zu repräsentieren (TB7 – U8). Eine andere Kandidatin ohne Migrationshintergrund wirbt mit dem Slogan „Dreieck der Vielfalt“, worunter sie Bildung, Integration und Kultur fasst. Dabei bildet dieses Beispiel keine Ausnahme. Eine Kandidatin erwähnt für das Bezirksparlament in ihrer Bewerbungsrede zwar ihre Herkunft, sieht aber ihre Ar- beitsschwerpunkte im Bereich der Arbeit und Bildung. Auch sie erwähnt nicht, dass sie um Stimmen von Migranten/Migrantinnen werben möchte. Ein weiterer Kandidat mit Migrationshintergrund erwähnt sein Engagement in einem türkischen Verein. Er betont die Bedeutung von Integration. Gleichwohl stellt er klar, dass er in einem Viertel lebe, wo die Schere zwischen Arm und Reich besonders offen- sichtlich sei (TB9). Eine dritte Kandidatin mit Migrationshintergrund sieht sich laut ihrem Werbeflyer als „waschechte“ Bewohnerin des Bezirks, die sich „für die Bedürfnisse der Menschen unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hinter- grund einsetzen“ möchte. Zudem setze sie sich für den sozialen Aufstieg durch Bildung und Qualifizierung ein. Gleichermaßen will sie kandidieren, da sie davon überzeugt sei „dass wir in C mit seiner Vielfalt noch enorme Potentiale erschließen können. Wir müssen bundesweit ein Vorzeigebeispiel gelungener Integration wer-

178 | PARTEIEN UND MIGRANTEN den.“ (TB7 – U3). Insofern zeigt sich auch hier ein Zusammenspiel der Themen sozialer Aufstieg, Integration und Vielfalt.

6.3 ZWISCHENRESÜMEE

Es hat sich gezeigt, dass die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Migran- ten/Migrantinnen, bzw. deren Wahrnehmung, in den untersuchten Parteigliederun- gen einerseits Parallelen und andererseits Unterschiede aufweisen. Dabei lassen sich drei wesentliche Gemeinsamkeiten feststellen. Erstens werden in beiden Fäl- len Mitglieder mit Migrationshintergrund als eigenständige Gruppe wahrgenom- men. Sie bilden somit Anknüpfungspunkte für eine Ansprache. Dabei kommt es zu einer Fokussierung auf bestimmte Herkunftsgruppen, die mit Kriterien wie Sicht- barkeit, Sprachfähigkeit und Integrationsprobleme assoziiert werden. Insbesondere die Türkischstämmigen und Arabischstämmige werden als Migranten/Migrantin- nen definiert, während Aussiedler_innen oder Menschen aus anderen europäischen Staaten nicht bewusst darunter gefasst werden. Zweitens wird diese Einordnung in beiden Kontexten vor allem in Interviewsi- tuationen formuliert. Sobald es um die Außendarstellung und Rhetorik bei der konkreten Nominierung geht, wird der direkte Bezug auf den spezifischen Migrati- onshintergrund entweder weitestgehend vermieden oder zumindest problematisiert. Darüber hinaus ist in den Bewerbungsreden vermehrt von Vielfalt, Integration und sozialem Aufstieg der Kandidaten/Kandidatinnen die Rede. Hierbei zeigt sich, wie diese sich verschiedener Elemente der offiziellen Rhetorik der Partei bedienen (vgl. 4.5; 5.4), um ihre eigene Bewerbung zu legitimieren. Drittens hat sich gezeigt, dass insbesondere Migrantenorganisationen dieser Herkunftsgruppen indirekt als Mitgliederrekrutierungsorgane gesehen werden. In- sofern bestätigt sich hier insbesondere die unter 5.1.2 festgestellte Relevanz von türkischen Vereinen im Zusammenhang parteipolitischer Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen innerhalb der Berliner SPD. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es Unterschiede zwischen beiden Parteiglie- derungen, was die These einer Entkoppelung parteipolitischer Inkorporationspro- zesse von Migranten/Migrantinnen innerhalb der Berliner SPD unterstützt. So wurde in den Interviews deutlich, dass in der Parteigliederung B die Anwerbung von Migranten/Migrantinnen sowie deren politische Repräsentation von der Partei- führungsebene problematisiert werden, während dies in der Parteigliederung A nicht der Fall ist. Daran lassen sich drei Beobachtungen anknüpfen, die die Unter- schiede zwischen beiden Kontexten unterstreichen. Erstens wird in Parteigliede- rung A die Bedeutung der Arbeitsgemeinschaft Migration sowie die individuelle Ansprache unter Migranten/Migrantinnen als Mittel zur Mitgliederanwerbung von Einwanderern/Einwanderinnen gesehen und nicht weiter problematisiert, während FALLSTUDIE IN BERLIN | 179 in Parteigliederung B eine aktive Ansprache durch Führungspersönlichkeiten in- nerhalb der Partei erfolgt. Zweitens hängt die gezielte Förderung von Kandida- ten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund von dem Willen zentraler Parteiak- teuren/-akteurinnen ab. Zur Festigung ihrer Position legen sie beispielsweise das Selbstverständnis als Volkspartei sowie den politischen Wettbewerb unterschied- lich aus. Auch hier zeigt sich, wie Ziele und Normen flexibel gedeutet werden. Drittens stellte sich heraus, dass mit der offenen Förderung von migrantischen Kandidaten/Kandidatinnen eine Konkurrenzsituation zwischen „Migranten“ und „Deutschen“ skizziert wird. Zur Bewältigung möglicher Widerstände wird ein langfristiges Parteiengagement der Migranten/Migrantinnen gesehen, mit dem aber eine Art „Bringschuld“ einhergeht, die jederzeit eingefordert werden kann und so kontrollierbar bleibt. Im Gegensatz dazu kommt es im Fall einer fehlenden Förde- rung von Migranten/Migrantinnen zu keiner expliziten Problematisierung. Wider- stände werden vielmehr implizit angedeutet und auf innerparteiliche Machtkonstel- lationen zurückgeführt. Aufgrund der Unausgesprochenheit fehlt es an legitimen Bearbeitungs- und Auseinandersetzungsmöglichkeiten, die bei den Befragten ein latentes Benachteiligungsgefühl hinterlassen. Dieses begünstigt aber gleichzeitig, zumindest ansatzweise, informelle Vernetzungsprozessen unter Parteimitgliedern mit Migrationshintergrund, um eigene Mehrheiten zu generieren. Diese Netzwerke scheinen in ihrer Reichweite begrenzt, aber punktuell erfolgreich zu sein.

7 Die Parti socialiste in Frankreich

Äquivalent zum SPD-Kapitel gehe ich in diesem Teil der Arbeit den Fragen nach, inwiefern und warum es innerhalb der Parti socialiste zu einer parteipolitischen In- korporation von Einwanderern/Einwanderinnen kam. Welche Phasen lassen sich ausmachen? Welche Faktoren können erklären, wann und warum es zu Verände- rungen kam? Welche Umstände wirkten sich fördernd oder hemmend auf die In- korporation aus? Im Folgenden gehe ich zunächst auf die empirische Grundlage der Analyse ein. Anschließend gilt es, einen Exkurs über die PS zur Orientierung zu geben, um dann anschließend den Aufbau des Kapitels zu skizzieren. Basis der Analyse bilden Parteiendokumente insbesondere aus dem Archiv der Fondation Jean Jaurès (FJS) sowie dem Office universitaire de recherche socialis- te (L’OURS), die mir den Zugang zu Dokumenten bis 20011 zum einen online2 und zum anderen vor Ort ermöglichten. Ich analysierte die nationalen Parteitagsproto- kolle von 1971 bis 20013. Des Weiteren untersuchte ich die dazugehörigen Partei- tagsanträge und Beschlüsse, die in verschiedenen Parteizeitschriften4 abgedruckt waren. Ebenso habe ich die Protokolle des Comité directeur, bei dem es sich um eine Art Parlament der Partei handelt, das vom Parteitag gemäß der Flügelstärken gewählt wird (Schäfer 1989, S. 94), von 1971 bis 2001 analysiert. Ferner erhielt ich Zugriff auf die bis 1999 erschienenen Parteibroschüren, die das interne Partei-

1 Ausnahme bildeten hier aktuelle Jahrgänge der Parteienzeitschrift L’Hebdo des Socialis- tes, die frei zugänglich waren. 2 Vgl. http://www.jean-jaures.org/La-fondation/Le-Centre-d-archives-socialistes; letzter Zugriff am 13.02.2014. 3 Aufgrund der Digitalisierung konnte ich mithilfe einer Stichwortsuche für meine For- schung relevante thematische Gebiete und Personen relativ schnell erfassen. 4 Vgl. Le Poing et la Rose (erschienen von 1972-1992), Vendredi (1988-1996) und L’Hebdo des Socialistes (1997 bis heute). 182 | PARTEIEN UND MIGRANTEN leben (z.B. Parteistatute, Wahlkampfbroschüren, Mitgliederleitfäden) oder thema- tische Bereiche wie Rassismus, Rechtsextremimus oder Einwanderung betreffen. Darüber hinaus recherchierte ich in verschiedenen Parteienzeitschriften. Aufgrund der Vielzahl an Dokumenten musste ich mich auf die wesentlichen Veröffentli- chungen konzentrieren. So wählte ich zum einen Zeitschriften, die primär an die Parteimitglieder (L’Unité; Vendredi; L’Hebdo des Socialistes, Combat Socialistes) und zum anderen Publikationen, die an die Führungskräfte (Cadres) der Partei (Le Poing et la Rose – Spécial Responsable; PS Info – Le Poing et la Rose) gerichtet sind bzw. waren.5 Zudem diente zunächst die Beilage der Parteizeitschrift Combat Socialiste, der Combat Socialiste Immigrés, gefolgt von der Beilage Le Poing et la Rose Immigrés, die von 1978 bis 1979 erschienen und in denen organisatorische wie auch inhaltliche Fragen im Zusammenhang der Einwanderungsthematik ange- sprochen wurden, als Analysegrundlage. Auf diese Weise stand mir ein breites Spektrum an parteiinternen Informationsmedien zur Verfügung. Die Zeitschriften enthielten neben den bereits erwähnten Parteitagsdokumenten auch Berichte über die Zusammenkünfte des Parteiparlaments (Comité directeur) sowie über die durchgeführten Aktionen (Rapport d’activité). Schließlich hatte ich Zugang zu par- teiinternen Dokumenten (Briefe, interne Berichte, Stellungnahmen, Notizen etc.) relevanter Parteiverantwortlicher, die mit dem Themenfeld Einwanderung und Migranten/Migrantinnen betraut waren. Aufgrund einer Sperrfrist war ein Zugriff auf Protokolle der Parteitage und Zusammentreffen des Comité directeur nach 2001 nicht möglich. Jedoch waren Rahmeninformationen über Anträge und Dis- kussionen zu den Parteitagen nach 2001 entweder durch die Zeitschrift LʼHebdo des Socialistes oder online6 verfügbar. Während meiner Feldforschungsphase in Paris von Oktober 2011 bis März 2012 sammelte ich Informationsmaterialien im Wahlkampf. Außerdem lud ich von der Homepage der PS relevante Dokumente herunter. Gleichermaßen stützt sich meine Analyse auf Sekundärquellen, die auch den Zeitraum vor 2001 betreffen. Ich durchsuchte das Archiv der Tageszeitung Le Monde, deren Artikel ab 1944 in digi- talisierter Form vorliegen und online abrufbar sind7, nach relevanten Inhalten. Fer- ner ziehe ich Experteninterviews von französischen Wissenschaftlern/Wissen-

5 Die Einteilung basiert auf einem Aufsatz von L’OURS (http://www.lours.org/default.asp ?pid=87, letzter Zugriff am 23.01.2014). 6 Zu einer Übersicht der Parteitage (vgl. http://www.france-politique.fr/congres-ps.htm# 2005lemans; letzter Zugriff am 15.01.2014); für den Parteitag in Mans 2005 (http:// congres2005.parti-socialiste.fr/; letzter Zugriff am 15.01.2014), in Reims 2008 (http:// congresdereims.parti-socialiste.fr/; letzter Zugriff am 15.01.2014) in Toulouse 2012 (http://www.parti-socialiste.fr/congres, letzter Zugriff am 15.01.2014). 7 Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/recherche/; letzter Zugriff am 24.02.2015. DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 183 schaftlerinnen zu Rate, die zum Thema der politischen Partizipation von Migran- ten/Migrantinnen in Frankreich oder einem verwandten Bereich gearbeitet und veröffentlicht haben.8 Schließlich kann ich, wie in dieser Arbeit bereits erwähnt, auf vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. Veröffentlichungen9 zur par- teipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen innerhalb der PS zurück- greifen, um die eigenen Beobachtungen abzugleichen und gegebenenfalls zu er- gänzen. Bevor mit der Analyse begonnen werden soll, gilt es, kurz auf den Entste- hungshintergrund der PS einzugehen, um die Ausgangslage zu Beginn des Unter- suchungszeitraums besser einordnen zu können. Die Ursprünge der Partei gehen bis Anfang der 20. Jahrhunderts zurück, als unterschiedliche linke Strömungen sich in der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) im Jahre 1905 vereinigten (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 41; 44ff.; Hanley 1986, S. 27). Von Anfang an war die SFIO durch ideologische Heterogenität geprägt, die von re- formistischen Vertretern eines Jean Jaurès bis zu marxistischen Verfechtern eines Jules Guesde bestimmt war (Bell und Criddle 1988, S. 8; Hanley 1986, S. 31). An- gesichts ihrer Distanz zu Gewerkschaften, welche sich selbst anstelle von politi- sche Parteien im Mittelpunkt des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse sahen (Hanley 1986, S. 27; Bergounioux und Grunberg 1992, S. 46), war die Mit- gliederbasis im Vergleich zu den deutschen Sozialdemokraten in der Weimarer Republik relativ gering. Während die SPD 1914 bereits die Millionengrenze über- schritt, zählte die SFIO zur gleichen Zeit unter 100.000 Mitglieder (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 51). Zudem kam es 1920 zu einer Aufspaltung der Partei auf dem Parteitag in Tours, als sich Leninisten den Reformisten gegenübersahen. Erstere spalteten sich von der SFIO ab und gründeten die kommunistische Partei (PCF) (Bell und Criddle 1988, S. 9; Bergounioux und Grunberg 1992, S. 91). Die- ser Einschnitt hatte Folgen. Zum einen halbierten sich die Mitgliederzahlen der SFIO auf rund 50.000 (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 102). Zum anderen löste die PCF die SFIO 1945 als stärkste politische Kraft unter den Linken ab und bestimmte in den folgenden Jahrzehnten den politischen Konkurrenzkampf (Bell und Criddle 1988, S. 11; Hanley 1986, S. 34). Zwar konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg über 350.000 Mitglieder verzeichnen. Die Kommunisten hatten jedoch im selben Zeitraum mit über 800.000 Mitgliedern mehr als doppelt so viele Anhä-

8 So führte ich Interviews mit Romain Garbaye, El Yamine Soum, Catherine Wihtol de Wenden, Angéline Escafré-Dublet, Vincent Tiberj, Camille Hamidi und Riva Kastorya- no. 9 Zudem zog ich in seltenen Fällen weitere Onlinequellen zu Rate, die relevante Informa- tionen enthielten. Dies waren Informationen des Institut national de l’audiovisuel (INA- http://www.ina.fr).

184 | PARTEIEN UND MIGRANTEN nger_innen (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 174). Angesichts dieser margina- lisierten Position fungierte die sozialistische Doktrin als wichtiger Identitätsfaktor, so dass sich eine Reformierung und Verbreiterung der Unterstützerbasis, wie im Falle der SPD mit dem Godesberger Programm, zunächst nicht vollzog (ebd., S. 200; Bell und Criddle 1988, S. 11). Mit der Ausrufung der fünften Republik 1958 kam es zu einer Machtverlagerung vom französischen Parlament hin zum gewähl- ten Staatspräsidenten des Landes. Ferner wurde das Mehrheitswahlrecht eingeführt (Bell und Criddle 1988, S. 21-22). Beide Veränderungen erhöhten den Druck einer vereinigten Linke, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gegen die Konservati- ven zu gewinnen. Dieser Druck bildet die Basis für Fusionierungsprozesse unter- schiedlicher linker Gruppierungen und Parteien ab Ende der 1960er Jahre, die schließlich zu einer Umwandlung der SFIO zur PS auf dem Parteitag von Epinay 1971 führte (ebd., S. 51-62; Cole 1989, S. 80). Insofern begleitete die neue Partei eine innerparteiliche Fragmentierung durch die unterschiedlichen Strömungen von Beginn an. Die Unterteilung erfolgt unter den gleichen Vorgaben wie im SPD-Kapitel. Das Kapitel wird demnach in fünf Unterkapitel unterteilt, die jeweils eine bestimmte Phase bzw. Umbrüche in Bezug auf parteipolitische Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwanderinnen markieren. Anschließend werden die jeweiligen Ergebnisse einer Phase mittels der Forschungsliteratur einsortiert und erklärbar gemacht.

7.1 VON 1972 BIS 1977: ARBEITSMIGRANTEN/-MIGRANTINNEN ALS OBJEKTE POLITISCHEN HANDELNS

Die Jahre 1972 bis 1977 innerhalb der PS sind in Bezug auf Migranten/Migran- tinnen durch drei Charakteristika geprägt: Erstens kommt es Anfang der 1970er Jahre zu einer innerparteilichen Thematisierung und Problematisierung der sozial prekären Lage von Arbeitsmigranten/-migrantinnen. Dabei werden innerparteiliche Arbeitsstrukturen geschaffen, die das Ziel haben, geeignete Maßnahmen zur Ent- schärfung der Situation zu entwickeln. Zweitens spielt die innerparteiliche Beteili- gung von Migranten/Migrantinnen an diesen Entscheidungsprozessen keine Rolle. Ein drittes Charakteristikum ist der Austausch mit der eingewanderten Bevölke- rung, der sich über ausländische Vereine und Gewerkschaften vollzieht. Zum ersten Punkt lässt sich anhand der von mir untersuchten Parteidokumente feststellen, dass kurz nach der Etablierung der PS auf dem Parteitag von Epinay 1971 die Partei sich verstärkt mit der prekären Lage der angeworbenen Arbeits- kräfte aus dem Ausland auseinander setzte und Lösungen suchte. So wurden in den DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 185 ersten Ausgaben der 1972 neu gegründeten Parteizeitschrift L’Unité mehrere Be- richte über die prekäre Wohn- und Arbeitslage der Arbeitsmigranten/-migrantinnen veröffentlicht (Backmann 04.02.1972, S. 20; Buffin 14.04.1972, S. 21; Backmann 6.-12.04 1972, S. 6f.; Cottin 02.03.1973, S. 13f.). Insofern galt das Thema inner- halb der Partei als diskussionswürdig. Ferner wurde auf dem Parteitag in Grenoble 1973 ein Antrag einstimmig verabschiedet, nach dem ein Notfallplan zur Lösung der prekären Gesundheits- und Wohnungssituation der Arbeitsmigranten/-migran- tinnen sowie eine Ausweitung ihrer Teilhabe- und Mitspracherechte in Gewerk- schaften und auf politischer Ebene gefordert wurde (Parti socialiste 1973, S. 7). Cayrol stellt in seiner Untersuchung fest, dass 55,9 Prozent der befragten Delegier- ten des genannten Parteitags einen Handlungsbedarf im Themenfeld „Arbeitsmig- ranten/-migrantinnen“ sahen (Cayrol 1975, S. 26). Dabei wurde zum einen den Ar- beitsmigranten/-migrantinnen das Recht auf kulturelle Verschiedenheit (droit à la différence) zugestanden. Zum anderen sollten deren soziale und politische Rechte ausgebaut werden (égalité des droits). In dem bereits oben erwähnten Antrag ist zu lesen: „En ce qui concerne les travailleurs immigrés, le Parti socialiste exige [...]; l’extension des droits sociaux, syndicaux et politiques; [...] le respect des cultures et les religions des immigrés [...].“10 (Parti socialiste 1973, S. 7) Gemäß interner Diskussionspapiere sollen im Sinne einer kulturellen Eigen- ständigkeit der muttersprachliche Unterricht sowie Initiativen zur Stärkung der kul- turellen Identität gefördert werden (Parti socialiste 1976, S. b-c; 3). Gleichzeitig wurde die Einrichtung von Kommissionen für Arbeitsmigranten/- migrantinnen auf kommunaler Ebene (commissions municipales de travailleurs migrant) (Le Garrec 1976a, S. 10; Combat Socialistes Immigrés Mai 1978, S. 1; Parti socialiste 1976, S. c; 1)11 sowie die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen (droit de vote aux étrangers) gefordert (ebd.). Diese Initiati- ven wurden mit der Solidarität mit der „dritten Welt“ (le tiers monde) sowie dem Kampf gegen das kapitalistische Herrschaftssystem begründet. So ist im Titel des parteiinternen Bericht über die Lage der eingewanderten Arbeitskräfte (Rapport sur Travailleur immigrés) zu lesen: „Le Tiers-Monde n’est pas seulement à nos

10 „Was die Arbeitsmigranten anbetrifft, so fordert die sozialistische Partei […] die Aus- weitung der sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Rechte, […] den Respekt vor der Kultur und Religion der Einwanderer.“ 11 Aus den Dokumenten geht nicht hervor, welche Struktur diese Kommissionen aufweisen und in welcher Form die ausländischen Arbeitskräfte dort partizipieren sollen. Nach Wihtol de Wenden hatten diese Kommissionen einen informellen Charakter, in denen die Probleme der Arbeitsmigranten/-migrantinnen angesprochen wurden. Eine Beteili- gung und Repräsentation dieser Zielgruppe bildeten ihrer Auffassung nach damals eher die Ausnahme (Wihtol de Wenden 1988, S. 221).

186 | PARTEIEN UND MIGRANTEN portes, il est dans nos murs“ („Die dritte Welt steht nicht nur vor unseren Türen, sie ist bereits bei uns angekommen“).12 Ferner wurden neben den Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen keine weiteren Einwanderungsgruppen, die beispielsweise durch die postkoloniale Migration oder durch Familiennachzug nach Frankreich kamen (vgl. Hargreaves 2007, S. 23f.), angesprochen. Parallel vollzog sich ein organisatorischer Wandel innerhalb der PS, der sich in der Einrichtung innerparteilicher Gremien ausdrückte, mittels derer die Problem- stellungen in diesem Bereich angegangen werden sollten. Der damalige Parteivor- sitzende François Mitterrand etablierte 1976 das Amt des Délégué national pour les travailleurs immigrés (Nationaler Beauftragter für die Arbeitsmigranten), wel- ches von Jean Le Garrec begleitet wurde (Le Garrec 1979b). Es ist davon auszuge- hen, dass mit der Einrichtung dieses Amtes eine Profilschärfung der Partei nach außen in diesem Themenfeld im Vordergrund stand. Die Hauptaufgabe des délégué national ist, nach einer Analyse der damaligen Parteistrukturen von Cayrol, die Po- sitionen der Partei nach außen zu vertreten (Cayrol 1978, S. 208). Im parteiinternen Bericht über die Lage der eingewanderten Arbeitskräfte (Rapport sur Travailleur immigrés), der von Le Garrec dem Comité de directeur 1976 vorgelegt wurde, heißt es: „Il faut exprimer clairement que le Parti socialiste prend en compte les problèmes et les aspirations de plus de quatre millions d’hommes et de femmes immigrés.“13 (Parti socialiste 1976, S. b) Es geht somit um eine Politik, mit der die Probleme und Wünsche der Einwan- derer/Einwanderinnen wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang schlägt Le Garrec eine Mobilisierung aller Mitglieder und aller Ebenen der Partei vor:

12 Des Weiteren ist in Bezug auf die Arbeitsmigranten/-migrantinnen zu lesen: „Ces hommes et femmes sont avant tout les victimes d’une organisation économique concen- trant l’activité et les richesses en une infime portion du territoire mondial. Le problème des immigrés pose au sein des nations riches le problème général des inégalités de déve- loppement. Pour nous socialistes, cette situation scandaleuse est la conséquence de l’organisation économique capitaliste […].“ (Parti socialiste 1976) („Diese Männer und Frauen sind zu allererst Opfer einer Wirtschaftsordnung, die die Reichtümer auf einen winzigen Teil der Erde konzentriert. Die Probleme der Einwanderer in unseren reichen Gesellschaften offenbaren das generelle Problem der Ungleichheiten in der Entwicklung. Für uns Sozialisten ist diese skandalöse Lage die Konsequenz einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.“) Hier stehen die Probleme der Arbeitsmigranten/-migrantinnen sinnbildlich für die negativen Auswüchse des Kapitalismus, der durch die Profitmaxi- mierung einiger Weniger zu Lasten der ärmeren Länder gekennzeichnet ist. 13 „Es muss klar gestellt werden, dass die sozialistische Partei die Probleme und Bedürfnis- se von mehr als vier Millionen eingewanderten Männern und Frauen ernst nimmt.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 187

„L’ampleur des problèmes soulevés [...] exige d’abord une mobilisation militante. Il faut évi- ter, alors que c’est trop souvent le cas, l’isolement des travailleurs immigrés. Une organisa- tion militante efficace suppose que soient généralisées les actions entreprises par différents niveaux du parti. Nous pensons souhaitable que les sections locales et d’entreprises concer- nées par les problèmes d’immigration désignent des responsable avec lesquels la Délégation établirait des liens réguliers [...].“14 (Parti socialiste 1976, c; 1)

Eine Koordinierung verschiedener Aktivitäten sowie der Informationsaustausch zwischen den Parteigliederungen wird hier durch eine délégation15 anvisiert, um eine problemlösende Präsenz der Sozialisten in diesem Themenfeld zu erreichen. Auffällig ist dabei, dass Arbeitsmigranten/-migrantinnen nicht direkt angesprochen und mobilisiert werden sollen. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass die zu be- nennenden Vertreter_innen auf den unterschiedlichen Parteiebenen aus dem ein- gewanderten Arbeitermilieu stammten. Diese Stelle deutet auf das zweite Charakteristikum der Phase hin: die fehlende Thematisierung und Problematisierung der parteipolitischen Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen. In den analysierten Dokumenten waren keine Hinweise darauf zu finden, dass Arbeitsmigranten/-migrantinnen als Mitglieder angeworben werden sollten, d.h. der Anspruch formuliert wurde, die Repräsentati- on von Migranten/Migrantinnen unter den Mitgliedern zu erhöhen. Hierfür spricht indirekt auch, dass keine Statistiken über die Anzahl ausländischer Mitglieder ge- führt bzw. in Betracht gezogen wurden. Zudem wird in einem parteiinternen Be- richt über die politischen Partizipationsmöglichkeiten von Migranten/Migrantinnen im europäischen Vergleich festgehalten, dass Ausländer_innen in Frankreich nicht das Recht haben, einer Partei beizutreten (Délégation aux travailleurs immigrés, undatiert). Wenngleich ein Beitritt rechtlich zumindest umstritten war, so wurde in der politischen Praxis nicht zwangsweise nach der Nationalität eines Neumitglieds gefragt. In der wissenschaftlichen Literatur ist durchaus die Rede von ausländi-

14 „Angesichts des Ausmaßes der aufgedeckten Probleme […] bedarf es einer Mobilisie- rung der Parteimitglieder. Eine effektive Mitgliedermobilisierung setzt voraus, dass das Vorgehen in den verschiedenen Parteigliederungen vereinheitlicht wird. Arbeitsmigran- ten dürfen nicht, wie so oft, allein gelassen werden. Wir sehen es als wünschenswert an, wenn die lokalen Parteiverbände und Gliederungen in den Unternehmen, die mit den Einwanderungsproblemen zu tun haben, einen Verantwortlichen nominieren, der in re- gelmäßigen Kontakt mit der Vertretung [auf nationaler Ebene] steht.“ 15 Die Délégation ist eine innerparteiliche Arbeitsgruppe auf nationaler Parteienebene unter Leitung von Le Garrec, wo sich die regionalen Parteibeauftragten für Arbeitsmigranten/- migrantinnen (délégué fédéraux), einzelne Kommunalpolitiker_innen sowie Mitglieder der kommunalen Kommissionen für Einwanderer/Einwanderinnen trafen.

188 | PARTEIEN UND MIGRANTEN schen Mitgliedern, obgleich dieses Phänomen nicht im Zusammenhang der PS, sondern allein in Bezug auf die PCF thematisiert wird (Miller 1981, S. 183f.; Schain 1996). Entsprechend verfestigt sich hier der Eindruck, dass diese Bevölke- rungsgruppe noch keine wesentliche Rolle für die Sozialisten gespielt haben muss. Daran lässt sich das dritte Charakteristikum der Phase anknüpfen, nach dem der Austausch zwischen Partei und eingewanderter Bevölkerung über die ausländi- schen Vereine erfolgte. Le Garrec forderte in einem Bericht der Parteizeitschrift Le Poing et la Rose von 1976 dazu auf, verstärkt den Kontakt zu und den Austausch mit Vereinen von Arbeitsmigranten/-migrantinnen zu suchen, um mehr über die Probleme der Migranten/Migrantinnen vor Ort zu erfahren (Le Garrec 06.05.1976, S. 7). Ferner zeigt sich in einem Brief von Le Garrec an die Vereinigung Maison des travailleurs immigrés (MIT) (Délégation Nationale aux immigrés 04.04. 1979), dass er sich für einen direkten Austausch zwischen Parteiführung und Ar- beitsmigrantenorganisationen ausspricht. Überdies unterhielt Lionel Jospin16, der zum damaligen Zeitpunkt Verantwortlicher für den Bereich „Dritte Welt“ (Se- crétaire au Tiers Monde) war, Kontakte zu Repräsentanten/Repräsentantinnen aus- ländischer Arbeitskräfte. Davon zeugt beispielsweise der Briefwechsel mit dem Präsidenten der senegalischen Arbeitervereinigung in Frankreich (Union générale des Travailleurs Sénégalais en France), Sally N’Dongo (Jospin 1976; NʼDongo 1976). Ferner empfahl Jospin einem Parteimitglied in einem Brief den Verein Ami- cale des Algériens en Europe, der Hilfestellung bei der Lösung von Problemen der Arbeitsmigranten/-migrantinnen vor Ort leisten könne (Jospin 1975). Die Verbin- dung der Amicale des Algériens en Europe mit der Partei wird auch in einem par- teiinternen Bericht von 1979 deutlich, indem dieser als Beispiel für Kontakte zu Einwandererorganisationen angeführt wird (Délégation Nationale aux immigrés Octobre 1979). Aber auch hier ließen sich keine Hinweise dafür finden, dass diese Kontakte über einen inhaltlichen und gedanklichen Austauschprozess hinausgingen und eine Brückenfunktion in die Partei darstellten. So wurde in diesen Zusammen- hängen beispielsweise keine Werbung für eine Mitgliedschaft bei den Sozialisten thematisiert. Auch konnte ich keine direkte Wahlwerbung in diesem Zusammen- hang feststellen, obgleich anzunehmen ist, dass einige travailleur immigrés auf- grund der postkolonialen Ordnung schon über die französische Staatsbürgerschaft verfügten und somit das Wahlrecht hatten. Für die fehlende Brückenfunktion spricht auch, dass ich keine Anhaltspunkte für eine Präsenz und Beteiligung von

16 Jospin trat 1971 der neu gegründeten PS bei und stieg schnell innerhalb der Partei auf. Bereits 1973 war er Mitglied verschiedener nationaler Parteigremien. 1975 wurde er zum Secrétaire au Tiers Monde ernannt (Philippe und Hubscher 1991, S. 30). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 189

Migranten/Migrantinnen innerhalb der Partei finden konnte.17 Ich konnte auf der Führungsebene der Partei keine Person mit einem Migrationshintergrund identifi- zieren. Hierfür steht auch Le Garrec, der selbst aus Frankreich stammt (Le Garrec 2006, S. 30).18 Des Weiteren sind es Persönlichkeiten wie Jospin, der spätere Par- teivorsitzende, die im Themenfeld Arbeitsmigration aktiv waren.19 Auch lässt sich kein/e Plenarteilnehmer_in mit erkennbaren Migrationshintergrund bei den Partei- veranstaltungsformaten wie den Parteitagen (Congrés), den Nationalversammlun- gen (Convention nationale) sowie den Sitzungen des Parteiparlaments (Comité di- recteur) ausmachen, die oder der sich an den innerparteilichen Diskussionen betei- ligte. Darüber hinaus heißt es in einer schriftlichen Anmerkung in einem offiziellen Brief von Jospin zu einer Radiosendung im Zusammenhang der sogenannten So- nacotra-Streiks20: „le seul orateur non PS est un immigré représentant le comité de coordination Sonacotra.“21 (Jospin 1979) Das angesprochene Komiteemitglied hat selbst Migrationshintergrund und ist als einzige Person in der Runde nicht in der PS verankert. Auch an dieser Stelle lässt sich die personelle Trennung zwischen Arbeitsmigranten/-migrantinnen und der PS erahnen.

17 An dieser Stelle ist zu betonen, dass sich die Identifikation des Migrationshintergrundes auf Namen sowie biographische Angaben von Funktionsträgern/-trägerinnen innerhalb der Partei beziehen. Hierbei achtete ich insbesondere auf maghrebinisch, afrikanisch, spanisch und portugiesisch klingende Namen, die ein Verweis auf eine der damaligen Haupteinwanderungsgruppen sind. Es handelt sich somit um keine umfassende Erhe- bung, sondern eine erste Sichtung. Diese kann jedoch als relativ verlässliche Näherung genommen werden, da ich in späteren Phasen mittels der gleichen Herangehensweise ei- ne Veränderung der Repräsentanz von Migranten/Migrantinnen in Parteiämtern feststel- len konnte. 18 Unklar bleibt, inwieweit der Sozialist Ramon Casamitjana, der nach Bernardot als „rech- te Hand“ Le Garrecs galt (Bernardot 2008, S. 187) sowie Sekretär der Commission nati- onale des travailleurs immigrés war, einen Migrationshintergrund hat (Parti socialiste). Der Name legt zumindest einen spanischen Hintergrund nahe. 19 Vgl. hierzu Verweise auf Jospin in verschiedenen Dokumenten: Bericht der Délégation Nationale aux Immigrés (Délégation Nationale aux immigrés 1978) sowie Brief an Le Garrec und Jospin (Groupe Parlamentaire de PS 1976). 20 Hierbei handelte es sich um Proteste von Arbeitsmigranten/-migrantinnen gegen die Wohnbedingungen, die symbolisch für die inhumane Behandlung dieser Bevölkerungs- gruppe standen. Die Proteste stießen aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit (1974-1978) und ih- res Ausmaßes bei den linken politischen Parteien auf Gehör und wurden somit Gegen- stand politischer Kontroversen (Wihtol de Wenden 1988, S. 218f.; Bernardot 2008). 21 „Der einzige Redner, der nicht Mitglied in der PS ist, ist ein Einwanderer, der als Spre- cher des Sonacotra-Koordinationskomitees auftritt.“

190 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

7.1.1 Zwischen Parteienwettbewerb und internationaler Solidarität

Warum kann es zum einen zu einer innerparteilichen Problematisierung der sozia- len, rechtlichen und politischen Lage der ausländischen Arbeitskräfte kommen und warum wurden zum anderen Migranten/Migrantinnen dabei ausschließlich als Ob- jekte und nicht als Subjekte parteipolitischer Beteiligung betrachtet? Beide Ent- wicklungen lassen sich durch Umweltfaktoren erklären, die durch innerparteiliche Verarbeitungsprozesse verstärkt wurden. Grundlegende Umweltfaktoren der ersten Entwicklung bilden die zunehmende politisch-öffentliche Debatte der Anwerbepo- litik22 und die Situation von ausländischen Arbeitskräften. Die Anwerbepolitik wurde seit dem zweiten Weltkrieg verfolgt, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken (Feldblum 1999, S. 20; Weil 2005, S. 81; Schain 2008, S. 47). Die Zahl der Ausländer_innen stieg von 1946 bis 1968 um rund 900.000 auf 2,6 Millionen, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 5,3 Prozent entsprach (Weil 2005, S. 81). Diese Anwerbepolitik wurde bis Mitte der 1960er Jahre nicht von öffentlichen und politischen Kontroversen begleitet (Noiriel 2007, S. 524, 558). Vielmehr ging es primär darum, einen reibungslosen Arbeits- kräftenachschub zu gewährleisten, ohne dabei eine langfristige Niederlassung und Eingliederung der Einwanderer/Einwanderinnen anzuvisieren. Entsprechend ge- ring waren die Anreize, für würdige Arbeits- und Wohnverhältnisse zu sorgen (Weil 2005, S. 93ff.). Mit der 1968er-Bewegung wurden erstmals die prekäre Lage von ausländischen Arbeitskräften sowie der Rassismus gegen Migranten/Migran- tinnen innerhalb der französischen Gesellschaft öffentlich problematisiert. In die- sem Zusammenhang waren es insbesondere die Gewerkschaften und linksalterna- tive Gruppierungen, die gegen die schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnisse pro- testierten (ebd., S. 95f; Noiriel 2007, S. 562-565). Ein weiterer Umweltfaktor war der zunehmende politische Wettbewerb zwi- schen der PS und den Konservativen. Grund hierfür war, wie bereits unter 2.2.2 dargestellt, dass das Parteiensystem in Frankreich wegen des Mehrheitswahlrechts bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen durch eine Bipolarität geprägt ist, nach welcher die politischen Kräfte eines politischen Systems in zwei ideologische Blöcke gespalten sind (Knapp und Wright 2001, S. 245). In den 1970er Jahren bil- deten die PS und die PCF das Machtzentrum des linken Spektrums, während auf dem rechten Spektrum die Gaullisten, der Rassemblement pour la République

22 Begleitet durch eine Politik der erleichterten Familienzusammenführung (Weil 2005, S. 91). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 191

(RPR)23 und die Union pour la Démocratie Francaise (UDF)24 angesiedelt waren. Um eine maximale Mobilisierung der eigenen Wählerklientel zu erreichen, lag eine Kohäsion innerhalb eines Parteiblocks bei gleichzeitiger politisch-inhaltlicher Ab- grenzung zum gegnerischen Block nahe. Des Weiteren muss berücksichtigt wer- den, dass Mitterrand, damals noch Parteichef der PS, seit seiner ersten Präsiden- schaftskandidatur 1965 auf das höchste politische Amt hinarbeitete und nach der knappen Niederlage bei den Wahlen 1974 große Hoffnungen darauf setzte, dieses Ziel 1981 zu erreichen. Ferner zielte Mitterrand mit der Vereinigung linker Kräfte unter dem Dach der Sozialisten Anfang der 1970er Jahre langfristig darauf ab, sich als einziger linker Präsidentschaftskandidat gegen die konservativen Kräfte zu be- haupten (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 254; Cole 1989, S. 80). Insofern galt es, das linke Wahlstimmenpotenzial mittels klarer politischer Botschaften zu ge- winnen, indem er unter anderem die bisherige Politik der regierenden Konservati- ven im Bereich von Einwanderung kritisierte. Als Mitterrand bei den Präsidentschaftswahlen 1974 gegen den konservativen Kandidaten Valery Giscard d’Estaing antrat, sahen insbesondere linksalternative politische Kräfte sowie Arbeitsmigrantenorganisationen die Gelegenheit, die bei- den Hauptkontrahenten mit der Situation der Arbeitsmigranten/-migrantinnen zu konfrontieren. Sie stellten politische Forderungen auf und nominierten einen Mig- ranten zum symbolischen Präsidentschaftskandidaten – Djelali Kamal (Wihtol de Wenden 1988, S. 193). Laut eines Zeitungsberichtes von Le Monde reagierte Gis- card d’Estaing auf diese Entwicklung mit dem Versprechen, nach seiner Wahl ei- nen Staatssekretär für Einwanderung zu ernennen sowie für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten/-migrantinnen zu sorgen (Le Monde 20.05.1974). Nach Einschätzung von Weil versuchten die Konservativen mit dieser Strategie, Stimmen aus dem linken Wählerspektrum zu gewinnen (Weil 2005, S. 137). Die Aktion der linken Randgruppe war für die PS weniger gefährlich, als die Reaktion der Konservativen. Mit deren Hinwendung zum Thema Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen gerieten die Sozialisten unter Zugzwang, so dass Mitterrand öf- fentlich für eine humanere Politik gegenüber den ausländischen Arbeitskräften warb und eine Liste von Maßnahmen nannte (Le Monde 20.05.1974; Miller 1981, S. 185f.). Als Giscard d’Estaing nach seiner erfolgreichen Wahl zum Präsidenten 1974 tatsächlich einen Staatssekretär für Einwanderung (Sécretaire d’ètat à l’immigration) ernannte (Weil 2005, S. 108), um sich damit die weitere Zustim-

23 Die Vorgängerorganisation der RPR war bis 1976 die UDR (Union des démocrates pour la République). 24 1978 gegründet.

192 | PARTEIEN UND MIGRANTEN mung aus dem links-liberalen Milieu zu sichern (Weil 2005, S. 109; 118)25, rea- gierte Mitterrand mit der zeitnahen Ernennung eines Beauftragten für Arbeitsmig- ranten innerhalb der PS (Délégué national pour les travailleurs immigrés). Diese Umweltimpulse trafen ferner auf günstige innerparteiliche Rahmenbe- dingungen. So sympathisierten Teile der Sozialisten mit der 1968er-Bewegung. Insbesondere die Aufnahme der „zweiten Linken“ (La deuxième gauche) unter Führung von Michel Rocard 1974 (Cole 1989, S. 83) in die PS kann als Indiz für eine engere Verknüpfung zwischen Sozialisten und der sozialen Bewegung gese- hen werden. Es handelte sich dabei um eine Gruppierung aus früheren Mitgliedern der Parti socialiste unfié (PSU)26, die eine Nähe zur Gewerkschaft Confédération française démocratique du travail (CFDT) und dem Milieu der 1968er-Bewegung aufwies. Ihre Anhänger_innen gehörten der jüngeren und gebildeten Generation an, die im Sinne der 1968er für eine Liberalisierung der Werte sowie für kulturelle Selbstbestimmung eintraten (Bergounioux und Grunberg 2005, S. 280). In Rocards Biografie, der Mitbegründer der PSU war, zeigt sich die Verknüpfung zwischen der 1968er-Bewegung und dem Kampf für Arbeitseinwanderer/-einwanderinnen (Pitti 2006, S. 147). Diese Gruppierung gewann innerparteilich schnell an Gewicht, als sich der Parteivorsitzende Mitterrand mit ihnen verbündete, um seine Mehrheit innerhalb der Partei abzusichern (ebd., S. 283). Diese Entwicklung spiegelt sich indirekt auch in der Ernennung von Le Garrec zum parteiinternen Beauftragten für Arbeitsmigranten/-migrantinnen, der einst Mitglied der PSU war, nun der „zweiten Linken“ angehörte und sich für mehr Humanität im Umgang mit Einwande- rern/Einwanderinnen stark machte (Le Garrec 2006, S. 30f.). Einen zweiten Faktor bildete in diesem Zusammenhang die marxistisch ausge- richtete Werteorientierung innerhalb der Partei, welche aufgrund der 1968er-Be- wegung an Popularität gewonnen hatte und auf die Gründungsmitglieder Einfluss nahm (Winock 2007, S. 16). Die Partei betonte 1971 in Epinay ihren Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeiterklasse und gegen den Kapitalismus (Opello 2006, S. 43; Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 224). Vor allem der Kampf für soziale Gleich- heit und Gerechtigkeit war unter den Anhängern/Anhängerinnen die Hauptbegrün-

25 Fraglich bleibt an dieser Stelle, inwieweit die Konservativen tatsächlich von einem Stimmengewinn ausgingen. So zitiert Grillo den damaligen Minister für Arbeit, Michel Durofour, bei einer Veranstaltung im Jahr 1975 mit den Worten: „Our ideas won’t gain us many votes. [...] By following this policy we gain new enemies, but the president wants justice and progress in this sector as in others“ (Grillo 1985, S. 54). Demnach ging es weniger um einen Stimmengewinn als vielmehr um ideelle Motivationen. 26 So wird in einem Bericht der Le Monde vom 28. Mai 1974 berichtet, dass die PSU im Präsidentschaftswahlkampf eine Mobilisierung der „Jugendlichen und Migranten“ (les jeunes et les immigrés) anvisierte (Le Monde 28.05.1974). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 193 dung zur Abschaffung des bestehenden kapitalistischen Systems (Garraud 1978, S. 266). Entsprechend galt es, die Solidarität unter allen Arbeitern/Arbeiterinnen zu propagieren. Arbeitsmigranten/-migrantinnen waren dabei Teil der Arbeiterklasse. Ihre prekäre Lage konnte als Ausdruck kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse gedeutet werden. Im Rahmen seiner Untersuchung von Einwanderern/Einwander- innen in Lyon stellt Grillo darüber hinaus fest, dass das Wort travailleurs immigré dem Begriff travailleurs étrangers vorgezogen wurde, da mit immigré darauf ver- wiesen werden konnte, dass Einwanderung (immigration) die Konsequenz dieses „ausbeuterischen Kapitalismus“ in den Entwicklungsländern war (Grillo 1985, S. 66ff.). Entsprechend kann somit auch der Fokus auf die Wortwahl in den offiziel- len Parteidokumenten erklärt werden. Die Verquickung von linker Ideologie und der Problematisierung der Situation von Arbeitseinwanderern/-einwanderinnen zeigt sich in einer Studie von Cayrot auf andere Weise. Er untersuchte die Priori- sierung von politischen Themen der Anhänger_innen unterschiedlicher Flügel auf dem Parteitag in Grenoble 1973. Insbesondere Sympathisierende mit dem linken Flügel (CERES)27 sahen mit 66,1 Prozent im Themenfeld „Arbeitsmigranten“ (travailleurs immigrés) ein wichtiges Thema, während im Schnitt alle Parteitags- teilnehmer_innen mit 55,9 Prozent rund zehn Prozent weniger dieses Themenfeld als bedeutsam erachteten (Cayrol 1975, S. 26). Aufgrund dieser parteiexternen und parteiinternen Faktoren konnten politische Forderungen nach sozialen und politischen Rechten innerparteilich an Bedeutung gewinnen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum angesichts dieser gesellschaft- lichen wie auch innerparteilicher Solidarisierungswelle Einwanderern/Einwander- innen nicht zumindest in Ansätzen als Teil eines parteipolitischen Inkorporations- prozesses betrachtet wurden.

7.1.2 Faktoren der politischen Passivität

Erneut ist es eine Kombination aus bestimmten Umweltkonstellationen und inner- parteilichen Konfigurationen, die die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen hemmen. Im Hinblick auf die Umwelteinflüsse lassen sich drei Faktoren benennen. Erstens herrschte in der französischen Öffentlichkeit die Vorstellung, dass sich die Arbeitsmigranten/-migrantinnen nicht dauerhaft in Frankreich niederlassen und mittelfristig in ihre Heimatländer zurückkehren wür- den (Wihtol de Wenden und Leveau 2007, S. 25). Wie sehr diese Vorstellung auch unter den politischen Verantwortungsträgern/-trägerinnen verankert war, zeigte sich nicht zuletzt an der politischen Reaktion auf den erfolglosen Anwerbestopp von 1974. Nachdem der Stopp nicht wie erhofft zu einem Rückgang der ausländi-

27 Centre d’études, de recherches et de l’éducation socialiste.

194 | PARTEIEN UND MIGRANTEN schen Bevölkerung führte28, unterstützten die Konservativen in den 1970er Jahren eine aktive Rückkehrpolitik, die auf finanzielle Anreize mittels Rückkehrprämien setzte (Noiriel 2007, S. 580). Des Weiteren sollte mit der Förderung der kulturellen Identität der Arbeitsmigranten/-migrantinnen eine spätere Rückkehr erleichtert werden. So veranlasste Paul Dijoud, der damalige Staatssekretär für Einwande- rung, im Jahr 1975 die Gründung eines Office de promotion culturelle, einer Ein- richtung zur Förderung der Kulturen (Wihtol de Wenden 1988, S. 198). Überdies wurde arabischer Sprachunterricht an öffentlichen Schulen eingeführt sowie die Ausstrahlung multilingualer Radioprogramme Ende der 1970er ermöglicht (Weil 2005, S. 370f.). Behörden unterstützten die Einrichtung von Gebetsräumen in Fab- riken (Garbaye 2007, S. 71; Weil 2005, S. 129). Zudem wurden diese Rückpolitik und die Förderung der kulturellen Identität unter anderem von den Heimatländern der Arbeitsmigranten/-migrantinnen wie Algerien aus politischen und wirtschaftli- chen Überlegungen heraus unterstützt (Miller 1981, S. 31). Auch an den niedrigen Einbürgerungszahlen kann abgelesen werden, wie gering die Bereitschaft unter den Migranten/Migrantinnen war, sich dauerhaft in Frankreich niederzulassen. Der An- teil der Eingebürgerten lag an der Gesamtbevölkerung bei 2,7 Prozent, während der Anteil der Ausländer_innen bei 6,5 Prozent betrug (Feldblum 1999, S. 21). Hierfür spricht auch, dass die Zahl der Ausländer_innen 1975 auf fast 3.5 Millio- nen stieg, während im selben Jahr gerade einmal 43.000 Personen eingebürgert wurden (Weil 2005, S. 534f.; 542f.). Somit wählten viele ausländische Bürger_ innen trotz des vergleichsweise liberalen Staatsbürgerschaftsrechts, nach dem sich Ausländer_innen nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalt für die Staatsbürger- schaft bewerben konnten (Miller 1978, S. 99), nicht den französischen Pass. Diese Rahmensetzung begünstigte politische Forderungen nach Eingliede- rungsmaßnahmen, die sich an eine vorübergehend in Frankreich lebenden Bevöl- kerungsgruppe richteten. Entsprechend wurde innerhalb der PS die kulturelle Ei- genständigkeit der Migranten/Migrantinnen postuliert sowie Sonderrechte wie das Wahlrecht für Ausländer_innen oder die Einrichtung von politischen Ersatzvertre- tungsorganen priorisiert. Die Forderung nach einer verstärkten Einbürgerung stand nicht im Mittelpunkt. In diesem Sinne ist auch der aufgezeigte Austausch mit aus- ländischen Vereinen zu verstehen, mittels dessen kurz- und mittelfristige Interes- sen und Bedürfnisse der eingewanderten Bevölkerung berücksichtigt werden soll- ten, ohne dabei eine langfristige Eingliederung und Repräsentation in der eigenen Partei anzustreben. Ein zweiter Grund für eine mangelnde parteipolitische Inkorporation waren die eingeschränkten politischen Rechte der Ausländer_innen. Sie verfügten über kein

28 So stieg von 1968 bis 1975 der Anteil der ausländischen Bevölkerung von 5,3 auf 6,5 Prozent (Feldblum 1999, S. 20; Weil 2005, S. 537). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 195

Wahlrecht. Und selbst die neu Eingebürgerten verfügten in den ersten fünf Jahren über kein aktives bzw. zehn Jahre über kein passives Wahlrecht (Miller 1978, S. 98-101). Entsprechend kamen sie für die politischen Parteien als potenzielle Wäh- ler_innen nicht in Frage und waren, wie bereits gezeigt (vgl. 7.1.1), im politischen Wettbewerb um das linke Stimmenpotenzial Objekt und nicht Subjekt der politi- schen Auseinandersetzung. Darüber hinaus waren sie formell zur politischen Neut- ralität in Frankreich verpflichtet, um die öffentliche Ordnung sowie die Beziehun- gen zu den Heimatländern der Migranten/Migrantinnen nicht zu stören (Miller 1981, S. 18; 1978, S. 534; Hily et al. 1998, S. 23). Da unklar blieb, welche Form von politischer Aktivität unter dieses Gebot fiel und eine Beurteilung im Ermes- sensspielraum der Behörden lag (Wihtol de Wenden 1988, S. 211), war ein politi- sches Engagement immer mit Unsicherheit verbunden. Neben innenpolitischen Überlegungen waren auch die Entsendungsländer an einer politischen Neutralität ihrer Bürger im Ausland interessiert, da sie befürchteten, dass ein zu starkes politi- sches Engagement außerhalb der Heimatlandorganisationen die Gefahr einer poli- tischen Entfremdung bis hin zu aktiver Opposition barg (Miller 1981, S. 33). Als Beispiel kann die Amicales des Algériens en Europe (AAE) gesehen werden, die mit 100.000 Mitgliedern damals als die größte algerische Organisation in Frank- reich betrachtet werden konnte und parteiähnliche Züge in ihrem Organisations- und Mobilisierungspotential aufwies (ebd., S. 36). Sie erhob den Anspruch, die Algerier in Frankreich zu repräsentieren und war personell wie finanziell mit der regierenden Front de Libération Nationale (FLN) in Algerien eng verflochten. Ihre Hauptziele waren es, die Kontakte mit den ausgewanderten BürgerInnen aufrecht zu erhalten, deren Interesse an ihrem Heimatland zu stärken sowie die nationale Einheit zu wahren (ebd., S. 37). Somit nahm sie die Rolle eines politischen Akteurs ein, der kaum Notwendigkeit sah, seine Mitglieder für einen Parteibeitritt zu moti- vieren.29 Ferner gab es ausländische Vereinigungen, die aktiv versuchten, Arbeits- migranten/-migrantinnen von einem sozialen und politischen Engagement in Frankreich abzuhalten. So warnten die Amicale des Travailleurs et Commercants Marocains en France (ATMCF) ihre Landsleute davor, sich in linksgerichteten Gewerkschaften wie der CGT und CFDT zu engagieren (ebd., S. 38f.). Ebenso die Amicale des Tunisiens en France (ATF) oder die Association Générale des travail- leurs Sénégalais en France (AGTSF) standen einem politischen Engagement ihrer Bürger_innen in Frankreich skeptisch gegenüber. Miller stellt in seiner Analyse fest:

29 Jene Arbeitsmigranten/-migrantinnen, die sich in Opposition zu dieser Vertretung sahen, versammelten sich jedoch eher im linksextremen Parteienspektrum (Miller 1978, S. 548), so dass auch hier die Sozialisten keine Alternative boten.

196 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„[...] the mission of these numerically small but well-subsidized homeland fraternal organi- zations is not limited to their officially recognized role of promoting emigrant homeland identification. Rather, these organizations are engaged in a political battle against the devel- opment of opposition among emigrants.“ (Miller 1981, S. 39)

Insofern galt es, jegliche politische Aktivität der Mitglieder außerhalb der eigenen Organisation zu vermeiden30. Umso mehr sahen sich diese Organisationen als Vermittler zwischen den etablierten französischen Organisationen und der eigenen Herkunftsgruppe, während Gewerkschaften und Parteien sie als Ansprechpartner anerkannten (ebd., S. 37). Ein Beispiel stellen hier die bereits erwähnten Sona- cotra-Streiks dar, bei der die AAE in Kooperation mit der CGT zwischen den Streikenden und der Regierung zu vermitteln versuchten (Miller 1978, S. 539). In- sofern kann davon ausgegangen werden, dass eine gezielte Anwerbung und Um- werbung von ausländischen Mitgliedern im organisationalen Feld der Parteien, das durch die herkunftsorientierten Einwanderervereine mitgeprägt war, sich schwierig gestaltet hätte. Gleichwohl gab es trotz dieser Umstände Einwanderer/Einwanderinnen, die im größeren Umfang in politischen Parteien aktiv und sichtbar waren. Prominentes Beispiel ist hier die PCF. Die ausländische Mitgliederzahl wurde nach einer partei- internen Erhebung auf 25.000 beziffert.31 Zudem weisen Parteidokumente und - berichte darauf hin, dass es immer wieder zu Masseneintritten in der Geschichte der PCF kam sowie auf lokaler Ebene „Sprachgruppen“ eingerichtet wurden, die als Kommunikations- und Austauschplattform für ausländische Mitglieder fungier- ten (Miller 1981, S. 183f.). Dieser offensichtliche Kontrast legt nahe, dass die Inaktivität der PS nicht al- lein den genannten Umweltfaktoren geschuldet, sondern auch innerparteilich be- gründet war. So offenbart ein Vergleich der Parteistrukturen der PCF mit denen der PS, wesentliche Unterschiede. Es ist zunächst festzuhalten, dass die PCF im Ge- gensatz zur PS in den 1970er Jahren über eine weit größere Mitgliederbasis verfüg- te und in Frankreich am ehesten dem Typus einer Massenpartei entsprach, wenn- gleich die Mitgliederzahlen beispielsweise weit hinter denen der Volksparteien in Deutschland blieben. Die PCF verfügte 1970 über 300.000 Mitglieder (Martelli 2010, S. 82), während die Sozialisten auf insgesamt 70.000 Anhänger_innen ka-

30 Wobei die oftmals ökonomische Marginalisierung von Arbeitsmigranten/-migrantinnen zusätzlich zu einer Demobilisierung bei trug (Wihtol de Wenden 1988, S. 179). 31 Offiziell gibt es hierzu keine verlässlichen Zahlen. Von der Führungsebene werden diese bei mehreren 10.000 angesiedelt. Allein die Zahl der Italiener_innen soll demnach min- destens 5000 betragen. In Parteizeitschriften ist immer wieder von Masseneintritten von Ausländern/Ausländerinnen die Rede (Miller 1978, S. 508). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 197 men (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 361). 1979 waren in der PCF fast 540.00032 und in der PS rund 160.000 Mitglieder, so dass sich der Abstand vergrö- ßerte (ebd.). Entsprechend waren die Sozialisten weit davon entfernt, eine Massen- partei zu sein. Vielmehr entsprachen sie eher dem Typus einer Partei der Funktio- näre und Mandatsträger_innen. Ihr Potenzial lag demnach weniger in den Mitglie- dern als vielmehr in einem engen Netz lokaler Eliten, das insbesondere aus Bür- germeistern/-meisterinnen und Parlamentsmitglieder in den Kommunen bestand (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 65; Sawicki 2005, S. 40). Darüber hinaus gehörten 1979 rund 46,5 Prozent der Mitglieder der kommunis- tischen Partei dem Arbeitermilieu an (Martelli 2010, S. 48; Lavabre und Platone 2003, S. 54). Im Gegensatz dazu wurde Anfang der 1970er Jahre der Anteil von Arbeiter_innen unter den sozialistischen Mitgliedern auf 19 Prozent beziffert (Ber- gounioux und Grunberg 1992, S. 363)33. Ebenso waren 1973 2,2 Prozent der Sozia- listen in der Nationalversammlung Arbeiter_innen, während 22,2 Prozent vom Be- ruf Lehrer_in waren (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 75). Ein Grund dafür kann in der historisch bedingten schwachen gewerkschaftlichen Verankerung der Sozialis- ten gesehen werden (Sawicki 2005, S. 41; Hanley 1986, S. 28). Insbesondere das gebrochene Verhältnis zu einer der mitgliederstarken Gewerkschaften, der Con- fédération générale du travail (CGT), war Ausdruck dieser schwachen Veranke- rung (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 43). Im Gegensatz dazu unterhielt die PCF ein sehr enges Verhältnis zu der CGT (ebd., 147; Miller 1978, S. 473). Die CGT zeigte wiederum ein reges Interesse an den ausländischen Arbeitskräften. So gab es beispielsweise in den 1970er Jahren Initiativen, die Repräsentanz von Auslän- dern/Ausländerinnen in den Führungspositionen zu erhöhen, um mehr Mitglieder zu gewinnen. Überdies wurden innergewerkschaftliche Strukturen aufgebaut, um die Interessen der ausländischen Mitglieder zu berücksichtigen (ebd.). Zudem un- terstützten sie Forderungen muslimischer Arbeiter_innen, religiöse Praktiken am Arbeitsplatz zu ermöglichen (Schain 1996, S. 220). Darüber hinaus stellt Pitti in ih- rer Analyse der Streiks algerischer Arbeiter_innen bei Renault fest, dass diese seit Ende der 1940er überwiegend Mitglied der CGT waren (Pitti 2006, S. 150; 152). Und auch bei den bereits erwähnten Sonacotra-Streiks spielte die CGT mit der

32 Die Angaben variieren hier je nach Quelle. Lavabre bemisst die Zahl auf 480.000 Mit- gliedern (Lavabre und Platone 2003, S. 45) und Schain auf 520.000 (Schain 1996, S. 215). 33 Bergounioux und Grunberg beziehen ihre Zahlen von Hardouin. Dieser geht in seiner Analyse von einem generellen Arbeiteranteil in der Partei von 14,4 Prozent aus, während 19 Prozent den Anteil der Arbeiter_innen unter allen aktiven Mitgliedern darstellt (Hardouin 1978, S. 238f.).

198 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

PCF eine wichtige Vermittlerrolle, während die Sozialisten außen vor standen (Miller 1981, S. 542ff.; Bernardot 2008, S. 146). Entsprechend war das Potenzial der Einwanderer/Einwanderinnen innerhalb der PS weit weniger ausgeprägt. Es kann an dieser Stelle eingewandt werden, dass es in den 1970er Jahren durchaus zu einer Verbreiterung der Mitgliederbasis der PS kam. So stieg die Zahl der Mitglieder von 1970 bis 1978 um rund 110.000 Mit- glieder auf 180.000 (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 361). Zudem war durch- aus eine Verankerung im Arbeitermilieu feststellbar. So gründeten die Sozialisten in den 1970er unzählige section d’entreprise sowie groupes socialistes d’entreprise, Strukturen in denen sozialistische Arbeiter_innen organisiert waren und ihre Interessen artikulieren konnten (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 57). Paral- lel kam es zu einer stärkeren gewerkschaftlichen Verankerung der Partei (ebd., S. 56). So wurden Gewerkschaftler_innen im Parteienstatut von 1974 dazu aufgefor- dert, Mitglieder einer Partei zu werden (ebd., S. 57). Zudem konnten im selben Jahr insbesondere Mitglieder aus der zweitgrößten Gewerkschaft, der Confédérati- on Francaise Democratique de Travail (CFDT) gewonnen werden (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 134). Laut Miller stand die CFDT mit der CGT im engen Kon- kurrenzkampf um ausländische Mitglieder, wobei die CFDT einen höheren Anteil an ausländischen Mitgliedern als in der CGT aufwies (Miller 1978, S. 477; 479). Insbesondere Migranten/Migrantinnen mit katholischem Hintergrund sieht er in- nerhalb der CFDT verankert (ebd., S. 478). Davon zeugen auch die Verbindungen zu katholisch geprägten spanischen Nachbarschaftsvereinen (Miller 1981, S. 51) sowie zu den portugiesischen katholischen Migranten/Migrantinnen (Wihtol de Wenden 1988, S. 170). Insofern ist zumindest nicht auszuschließen, dass diese Einwanderergruppen über den Weg der CFDT Mitglied der PS wurden. Trotzdem war die PS trotz der partiellen Öffnung gegenüber der CFDT weit davon entfernt zu einer Arbeiterpartei zu werden. So stellte Roland Cayrol in sei- ner Untersuchung fest, dass die Delegierten des Parteitags von 1973 in Grenoble weitestgehend aus der bürgerlichen Schicht stammten (Cayrol 1975, S. 75). Des Weiteren dominierten noch Ende der 1970er Jahre Führungskräfte des öffentlichen Dienstes sowie aus der Wirtschaft (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 72). Und auch die innerparteilich eingerichteten Strukturen für Arbeiter_innen zogen eher Ange- stellte und mittlere bis höhere Führungskräfte an, so dass deren gewerkschaftlicher Mobilisierungseffekt begrenzt war (Stephan 2001, S. 64-65). Insofern konnten die Sozialisten unter den Arbeitsmigranten/-migrantinnen kein vergleichbares Mobili- sierungspotential wie die Kommunisten entwickeln.

DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 199

7.2 VON 1978 BIS 1989: VOM OBJEKT ZUM SUBJEKT POLITISCHEN HANDELNS

Die zweite Phase von 1978 bis 1989 zeichnet sich durch verstärkte Inkorporations- prozesse von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb der PS aus. Dies zeigt sich zunächst im begrenzten Werben um die Sympathien der Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen, gefolgt von einem sich herausbildenden innerparteilichen Be- wusstsein über das wachsende Wählerpotenzial einer jungen und muslimisch ge- prägten zweiten Einwanderergeneration. Um diese Wähler_innen wurden unter- schiedliche parteinahe Organisation gegründet oder unterstützt. Ferner werden erstmals die innerparteiliche Repräsentation sowie die Repräsentation von Migran- ten/Migrantinnen in den Parlamenten thematisiert und gezielt angegangen. So konnte ich im Zusammenhang der Parlamentswahlen von 1978 erstmals Werbeflyer ausfindig machen, die sich an Arbeitsmigranten/-migrantinnen richte- ten. Im Combat Socialiste Immigré, in dem über aktuelle innerparteiliche Debatten, Aktionen und Pläne im Bereich der Arbeitsmigrantenpolitik informiert wird, wurde im Namen des Beauftragten für Arbeitsmigranten/-migrantinnen, Le Garrec, ein Flugblatt auf Französisch, Arabisch und Portugiesisch veröffentlicht. In diesem heißt es:

„La droite, c’est-à-dire le gouvernement actuel, voudrait faire croire que les travailleurs im- migrés prennent le travail des chômeurs. C’est une opinion scandaleuse et fausse! [...] Les travailleurs immigrés ont des droits comme tous les travailleurs. [...] Ils doivent, en particu- lier, bénéficier des droits civiques, des libertés démocratiques, notamment le droit d’appartenance au parti politique et au syndicat de leur choix [...]. Cela n’est possible qu’avec la victoire de toute la Gauche, avec la victoire du parti socialiste.“34 (Combat Socia- listes Immigrés Mai 1978, S. 6)

Hier deuten verschiedene Elemente auf eine gezielte Ansprache der Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen. Zunächst wird für eine humanere und gleichberechtigte Politik gegenüber ‚Arbeitsmigranten‘ geworben. Darüber hinaus wird das Thema im Zu- sammenhang mit und in Abgrenzung von der Politik des konservativen Wettbe-

34 „Die Rechte, d.h. die aktuelle Regierung, möchte glauben machen, dass die Arbeitsmig- ranten die Arbeit den Arbeitslosen wegnehmen. Das ist eine törichte Behauptung! [...] Die Arbeitsmigranten haben die gleichen Rechte wie alle Arbeiter. [...] Sie sollten insbe- sondere Bürgerrechte und demokratische Rechte bekommen – vor allem das Beitritts- recht in Parteien- und Gewerkschaften [...]. Dies ist nur durchsetzbar mit einem Sieg der linken Kräfte, mit einem Sieg der sozialistischen Partei.“

200 | PARTEIEN UND MIGRANTEN werbers gesehen und impliziert somit eine Wahlaufforderung, den Sozialisten eine Stimme zu geben. Schließlich ist das Flugblatt in ihre Sprachen übersetzt, um ge- zielt Arbeitsmigranten/-migrantinnen algerischer und portugiesischer Herkunft35 anzusprechen. Ein vergleichbares Beispiel lässt sich im Zusammenhang der Präsidentschafts- wahlen von 1981 finden. So gab es eine Beilage der Parteizeitschrift Combat Soci- aliste, die unter dem Titel Rinascita (Aufbruch) erschien und ausschließlich auf Italienisch verfasst wurde. Sie enthielt Forderungen des sozialistischen Präsident- schaftskandidaten36. Am Ende der Auflistung wurde zur Wahl Mitterrands mit den Worten aufgefordert:

„Francois Mitterrand votate e fate votare Francois Mitterrand il candidato del cambiamento il candidato degli immigrati.“37 (Parti socialiste 1981, S. 1)

Bereits die Art dieser Publikation als Wahlwerbung deutet darauf hin, dass gezielt italienischsprachige Mitglieder der Partei angesprochen werden sollen. Zudem entstand im Zusammenhang der Kommunalwahlen 1979 ein Wahlpla- kat, das mit dem Slogan wirbt: „Je suis un travailleur comme vous – je revendique ma dignité.“38. Auf dem Plakat ist die Zeichnung eines Mannes zu sehen, der ein Kleinkind auf dem Rücken trägt. Im Hintergrund ist eine Baustelle mit Arbeitern erkennbar (Parti socialiste 1979). Darunter ist zu lesen: „Le Parti socialiste lutte pour les droits des travailleurs immigrés“39.

35 Bereits 1975 stellten die Portugiesen/Portugiesinnen mit einem Anteil von 22 Prozent und die Algerier_innen mit 20,6 Prozent an allen Ausländern/Ausländerinnen die größ- ten Einwanderungsgruppen dar und brachten es insgesamt auf rund 1,4 Millionen Men- schen in Frankreich (Feldblum 1999, S. 22). 36 Der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Mitterrand setzte sich in seinem Wahlprogramm unter anderem für die Einführung der Vereinigungsfreiheit (droit d’association) sowie des kommunalen Wahlrechts für Ausländer_innen und für eine er- leichterte Familienzusammenführung ein (Favier und Martin-Roland 1990, S. 199f.). 37 „Wählt und macht Werbung für Francois Mitterrand, den Kandidaten des Wechsels, den Kandidaten der Einwanderer!“ 38 „Ich bin ein Arbeiter wie Sie – ich fordere meine Würde ein.“ 39 „Die sozialistische Partei kämpft für die Rechte der Arbeitsmigranten.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 201

Die Verbindung zwischen Slogans und Bebilderung verdeutlicht, dass die PS sich als Fürsprecherin der Migranten/Migrantinnen sieht. Sie wirbt für mehr Ver- ständnis, für mehr Würde und Gleichberechtigung ausländischer Arbeitskräfte. Die Werbung ist in französischer Sprache verfasst. Es ist anzunehmen, dass hiermit auch Arbeitsmigranten/-migrantinnen (z.B. aus Algerien; Marokko, Tune- sien) angesprochen werden konnten, die bereits in ihren Herkunftsländern, auf- grund des Kolonialismus Frankreichs, französisch gelernt hatten. Des Weiteren findet das Plakat im Gegensatz zu den oberen Beispielen eine stärkere Verbreitung. So heißt es in einem Schreiben vom 5. Juni 1979 der Délégation nationales des Immigrés an die Parteisekretäre auf regionaler Ebene, an die Sozialisten in der Na- tionalversammlung sowie an den Parteichef: „Nous te rappelons l’existence d’une affiche nationale sur la défense des droits et de la dignité des immigrés. [...] Nous vous demandons de refaire un appel auprès des sections pour un collage de cette affiche: c’est important en ce moment.“40 (Parti socialiste 05.06.1979) Hierzu passt auch der medial-inszenierte Besuch des Parteichefs Mitterrand bei den von Abschiebung bedrohten Streikenden im Vorfeld der Kommunalwahlen von 1979. Er zeugt von der zunehmenden Bedeutung des Themas in Wahlkampf- zeiten. So sicherte Mitterrand den Protestlern seine politische und persönliche Un- terstützung zu und bot ihnen symbolträchtig an, sie im Notfall bei sich zuhause aufzunehmen (Le Poing et la Rose 1979, S. 8; Le Monde 10.05.1979). Ferner wurde das Wahlpotenzial von Einwanderern/Einwanderinnen erstmals in innerparteilichen Diskussionen thematisiert. So heißt es in einem parteiinternen Bericht der Délégation nationales des Immigrés vom 17. Juni 1978:

„Il FAUT DONC NOUS HABITUER A UNE TRES FORTE SEDENTARISATION EN FRANCE DES IMMIGRES et considérer ceux-ci comme: élèves et si possible étudiants, travailleurs salariés ou non, chefs ou membres de familles, locataire ou propriétaires et bien entendu à très court terme: électeur.“41 (Combat Socialistes Immigrés Juin 1978, S. 15)

Mit der Schreibweise in Großbuchstaben wird hier auf die Bedeutung zunehmen- der Sesshaftigkeit von Einwanderern/Einwanderinnen aufmerksam gemacht. Nicht mehr die Rückkehr, sondern das Niederlassen von Migranten/Migrantinnen wird

40 „Wir erinnern daran, dass es ein nationales Plakat zum Thema der Verteidigung der Rechte und Würde der Einwanderer gibt. [...] Wir bitten Sie die Sektionen [lokalen Par- teiverbände] aufzufordern, dieses Plakat aufzuhängen: Dies ist momentan wichtig.“ 41 „Wir müssen uns auf ein dauerhaftes Niederlassen der Einwanderer in Frankreich ein- stellen und diese als Schüler und möglicherweise Studenten, als Arbeitnehmer, Famili- enoberhäupter oder Familienmitglieder, Mieter oder Eigentümer und natürlich auf kurze Sicht als Wähler betrachten.“

202 | PARTEIEN UND MIGRANTEN thematisiert. Dabei werden die Arbeitsmigranten/-migrantinnen nur noch als eine Gruppe von vielen aufgeführt. Mit dem Verweis auf Familienmitglieder sowie die heranwachsende zweite Generation, welche Schüler oder Studenten umfasst, zeigt sich ein erhöhtes Bewusstsein für eine vielschichtige Einwanderungsgesellschaft, in der erstmals auch ein Wählerpotenzial direkt angesprochen wird. Ferner formu- lierte Jean Perraudeau, Sekretär der Kommission Einwanderung (Commission im- migration42), bereits kurz nach der Wahl Mitterrands zum ersten sozialistischen Präsidenten in einem Schreiben an den damaligen Parteichef Jospin und an Pierre Beregovoy, zukünftiger Generalsekretär des Präsidenten, die neue Migrantenpoli- tik:

„Compte-tenu de la politique menée à son égard tout au long du dernier septennat (répres- sion, atteinte aux droits, à la dignité), la population immigrée est l’un des secteurs où l’attente – y compris immédiate – par rapport à la nouvelle politique que nous allons mettre en œuvre est très forte. […] La présence d’immigrés, de jeunes immigrés, le 10 mai au soir à la Bastille en est le signe et atteste de l’espoir que représente pour la population immigré l’élection de François Mitterrand.“43 (Secrétariat International Jean Perraudeau 1981)

Die Präsenz von Einwanderern/Einwanderinnen sowie der zweiten Generation bei der Wahlfeier auf dem Platz der Bastille in Paris wird hier als Beweis dafür gese- hen, welche hohen Erwartungen diese Bevölkerungsgruppe gegenüber den Sozia- listen hat. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass es sich um Sympathisan- ten/Sympathisantinnen handelt, die die Wahl Mitterrands begrüßen. Ferner thema- tisiert Georges Morin, 1983 Kabinettschef unter Mitterrand, in einem parteiinter- nen Papier das maghrebinische Stimmenpotenzial (Morin 1984). Vor allem zwei Gruppen werden hier genannt. Zum einen erwähnt Morin die Nachkommen der als „muslimische Franzosen“ (Francais-musulmans) auch als Harkis bezeichneten Einwanderer/Einwanderinnen. Letztere kämpften an der Seite Frankreichs für den Erhalt der kolonialen Herrschaft über Algerien und mussten mit dessen Unabhän- gigkeit 1962 nach Frankreich auswandern. Morin argumentiert, dass die junge Ge- neration in den Sozialisten eine mögliche Alternative sähe: „Le Parti socialiste, […] a soulevé beaucoup d’espoir, notamment parmi les jeunes Français-musul-

42 Eine Nachfolgeorganisation der Délégation Nationale des Immigrés. 43 „Angesichts der Politik in den letzten sieben Jahren (Unterdrückung, Angriff auf die Grundrechte und Menschwürde), ist die Einwanderungspolitik einer der Bereiche, wo eine Neuausrichtung mit hohen und kurzfristigen Erwartungen verbunden sein wird. Die Präsenz von Einwanderern, von jungen Migranten, auf dem Platz der Bastille am Abend des 10. Mai ist ein Zeichen und Beweis dafür, welche Hoffnungen die eingewanderte Bevölkerung mit der Wahl François Mitterrands verbindet.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 203 mans. En effet, nombreux jeunes ont pris conscience de l’état d’indignité dans le- quel on a enfoncé leurs parents. Ils relèvent la tête et ils sont prêts à tout pour se faire entendre.“44 (Morin 1984) Es sei demnach die missliche Lage der Eltern sowie die Enttäuschung über eine konservative Politik, welche die Hinwendung zu den Sozialisten begründeten. Mo- rin schätzt die Gruppe auf rund 400.000 Personen (Morin 1984). Zudem hebt er die zweite Generation der angeworbenen maghrebinischen Arbeiter_innen als mögli- che Zielgruppe hervor (ebd.). Insgesamt schätzt Morin diese Gruppe auf rund 700.000 Personen (Morin 1984). Abschließend hält er insgesamt fest:

„[…] ces jeunes atteindront bientôt un million d’électeurs. Comme bien d’autres minorités avant eux, ils ont compris que, dans un pays démocratique, le bulletin de vote constitue sou- vent un appel efficace à la compréhension de ceux qui gouvernent… ou qui aspirent à gou- verner. Bien sûr, il serait tout aussi illusoire et méprisant d’imaginer un ‚vote musulmans‘ [...]. Mais comme dans toute communauté minoritaire, une mémoire et des réflexes collectifs subsistent, qui peuvent influencer les orientations politiques de beaucoup de ses membres à des moments décisifs. Cela aussi, personne ne devra l’oublier. Les souffrances endurées, les espoirs entrevus, le combat anti-raciste, beaucoup de chose porte tout naturellement la com- munauté française maghrébine vers les forces de progrès. A elles de montrer concrètement, qu’elles sont dignes de cette confiance.“45 (Morin 1984)

Der Autor sieht hier ein massives Wählerpotential bei den Einwanderern/Einwan- derinnen, von dem die Sozialisten als progressive politische Kraft profitieren, vo-

44 „Die sozialistische Partei [...] hat bei vielen, insbesondere bei den jungen muslimischen Franzosen, Hoffnungen geweckt. Tatsächlich ist sich die junge Generation über die un- würdigen Lebensverhältnisse der Eltern bewusst geworden, in welche sie gedrängt wur- den. Sie erheben ihren Stimme und sind dazu bereit alles zu geben, um gehört zu wer- den.“ 45 „[...] unter diesen Jugendlichen werden bald eine Million Wähler sein. Wie viele andere Minderheiten vor ihnen, haben sie verstanden, dass in einem demokratischen Staat die Stimmabgabe ein wirksames Mittel ist, um die Interessen und Bedürfnisse gegenüber Regierenden und deren Konkurrenten auszudrücken. Natürlich wäre es illusorisch und abwertend von einem ‚muslimisches Wählerpotential‘ auszugehen. [...] Aber es gibt, wie bei allen Minderheiten, ein kollektives Gedächtnis, welches das politische Bewusstsein vieler Mitglieder in entscheidenden Momenten beeinflussen kann. Das darf auch nicht in Vergessenheit geraten. Die erlittenen Schmerzen, die vagen Hoffnungen, der Kampf ge- gen Rassismus, viele Dinge lassen die französisch-maghrebinische Gemeinschaft mit den fortschrittlichen politischen Kräften sympathisieren. Diese müssen zeigen, dass sie dieses Vertrauen nicht enttäuschen.“

204 | PARTEIEN UND MIGRANTEN rausgesetzt das entgegengebrachte Vertrauen und die Erwartungen würden nicht enttäuscht werden. Auch wenn aus dem Dokument nicht hervorgeht, welchen Ver- breitungs- und Wirkungsgrad dieses parteiinterne Papier hatte, deuten mehrere Entwicklungen daraufhin, dass die Partei schon zuvor auf dieses Wahlstimmenpo- tenzial reagierte. So wurden 1982 in einem internen Schreiben der Parteiführung die regionalen Parteichefs, die Mitglieder der Parteispitze sowie die Abgeordneten der Nationalversammlung unter anderem dazu aufgefordert, Jugendliche mit Mig- rationshintergrund im Rahmen der Kommunalwahlen zu motivieren, sich in die Wahllisten46 einzutragen (Secrétariat National 1982). Insofern ging die Führungs- ebene davon aus, dass die Partei von einer erhöhten Wahlbeteiligung dieser Ju- gendlichen profitieren würde und erachtete daher eine Sensibilisierung der unteren Parteigliederungen als notwendig. Des Weiteren lassen sich Hinweise dafür finden, dass Mitterrand und ein enger Kreis an Vertrauten sich bemühten, die Sympathien der zweiten Generation zu ge- winnen. In einer Notiz von Philippe Farine, den Vorsitzenden der internationalen Abteilung der PS (Secrétariat international), an Jospin vom 14. Oktober 1983 wurde festgehalten, dass die Organisatoren der Bewegung im engen Austausch mit Yannick Moreau, dem Elysee-Beauftragten und Ansprechpartner Mitterrands, standen (Farine 1983). Ferner heißt es in einem weiteren Schreiben von Farine an Jospin vom 22. November 1983 im Zusammenhang des Empfangs einzelner Ver- treter_innen der Bewegung durch den Präsidenten:

„Dans beaucoup de milieux de la ‚seconde génération‘ cette marche a suscité une mobilisa- tion positive. Elle se déroule sous le signe du refus de la violence et d’une volonté raisonnée de trouver sa place dans notre société. Une réception par le Président de ces ‚ambassadeurs‘ de la jeunesse d’origine étrangère aurait valeur de ‚signe‘. Tu sais combien est grande la va- leur du ‚signe‘ dans ce Milieu.“47 (Secrétariat International Philippe Farine 1983)

Ein Empfang einer Delegation durch den Präsidenten wird hier als symbolischer Akt gedeutet, mit dem gezielt die Sympathie der Demonstranten/Demonstrantinnen gewonnen werden soll. Tatsächlich empfing Mitterrand einige Vertreter_innen der

46 In Frankreich müssen sich die wahlberechtigten Bürger_innen vor den jeweiligen Wah- len registrieren lassen. 47 „Dieser Marsch mobilisierte viele der ‚zweiten Generation‘. Er steht unter dem Zeichen der Gewaltlosigkeit sowie der Suche vieler nach einem Platz in unserer Gesellschaft. Ein Empfang der ‚Botschafter‘ der Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch den Präsi- denten hätte Symbolcharakter. Du weißt, welch große Bedeutung ein solches Zeichen in diesem Milieu hätte.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 205

Bewegung Ende 1983 im Elysee-Palast und verschaffte der Bewegung zusätzliche Aufmerksamkeit (Interview mit Garbaye). Anfang der 1980er solidarisierten sich der Mouvement des jeunes socialistes (MJS)48 mit der einsetzenden Massenbewegung der zweiten Generation. Der dama- lige Vorsitzende der Jungsozialisten, Alain Barrau, äußerte sich auf deren Kon- gress 1983 wie folgt:

„La campagne pour les élections municipales en mars 1983 a été l’occasion pour la droite de faire de l’immigration le bouc-émissaire de tous les maux de la société et de l’économie française. [...] Pour cela la lutte contre le racisme a été choisie comme une des actions priori- taires à mener par le secrétariat national à la jeunesse du parti et le MJS. Nous avons été nombreux à participer à des mouvements de solidarité comme ‚La marche pour l’égalité‘ lancée à l’initiative de jeunes immigrés, et dont l’impact dans l’opinion a été l’un des évè- nements marquants de ces dernier mois.“ (Barrau 14.04.1983, S. 14f.)49

Die Erfolge der Konservativen bei den Kommunalwahlen 1983 auf Basis einseiti- ger Schuldzuweisungen zu Lasten der Einwanderer/Einwanderinnen werden von Barrau als Auslöser für eine Mobilisierung gegen Rassismus sowie die Beteiligung der Jungsozialisten am „Marsch für Gleichheit“50 gesehen. Ferner bleibt es nicht allein bei einer Thematisierung des Stimmenpotenzials der zweiten Einwanderergeneration. So werden auch Maßnahmen ergriffen, wie die Gründung und Unterstützung von SOS-Racisme 1984, einer Vorfeldorganisati- on der Partei. Isabelle Thomas, Mitglied von SOS-Racisme (Malik 1990, S. 156), beschreibt bei einem Treffen des Comité de directeur am 4. Juli 1987 die Position und Rolle von SOS-Racisme:

48 Bewegung der jungen Sozialisten. 49 „Den Wahlkampf für die Kommunalwahlen im März 1983 nutzte die politische Rechte, um in der Einwanderung den Ursprung aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme zu sehen. [...] Vor diesem Hintergrund hat sich Führungsebene der MJS dazu entschieden, den Kampf gegen Rassismus zu priorisieren. Wir beteiligten uns zahlreich an Solidaritätsbewegungen wie den ‚Marsch für Gleichheit‘, welcher von junge Migran- ten initiiert und in der Öffentlichkeit als eines der markanten Ereignisse der letzten Mo- nate wahrgenommen wurde.“ 50 Hierbei handelt sich um eine Protestbewegung der zweiter Einwanderergeneration gegen Diskriminierung und Rassismus (vgl. 7.2.1 ).

206 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„En effet, la marche ‚des beurs‘, [...] l’importance du succès de la fête de SOS Racisme, le 20 juin, démontrent que les points marqués sont aussi et surtout dans notre camp [...]. La force du Parti à mon sens, est d’aider, sans hégémonie et sans substitution, les mouvements de masse [...].“51 (Comité directeur 04.07.1987, S. 52)

Im Wechsel von Nähe und Distanz zwischen der Partei und SOS-Racisme sieht Thomas eine erfolgversprechende Strategie, um die Sympathien der Jugendlichen (Beur52) zu gewinnen. Auch einer der SOS-Racisme Gründer, Julien Dray, betont die vorgelagerte Stellung dieser Organisation: „Mitterrand veut que SOS-Racisme se développe de façon autonome contre le Front National. [...] pour Mitterrand, il faut un contre Front national qui ne peut pas être le PS.“53 (Zitiert aus Favier und Martin-Roland 1991, S. 479) Demnach sieht Mitterrand SOS-Racisme als Gegenpart zum FN, der nicht von der Partei selbst erfüllt werden kann. Auch Jean Pierre Chèvenement54 erkennt in der Organisationsform von SOS-Racisme eine Art Vorbild für andere Bereiche, um Wählerstimmen wiederzugewinnen:

„[...] je pense à l'électorat populaire, à lʼélectorat ouvrier, à lʼélectorat Communiste en déshé- rence. Comment reprendre à notre compte les aspirations de ces gens-là ? Cela implique un projet, un programme et des formes dʼorganisation adaptées. Pourquoi pas en effet dévelop- per les associations autour du Parti, du type ‚SOS Racisme‘? Cʼest une très bonne chose.“55 (Comité directeur 22.03.1986, S. 46)

51 „Tatsächlich zeigen der Marsch der ‚Beur‘, [...] der bedeutende Erfolg des SOS-Racisme Festes am 20. Juni, dass vor allem wir es sind, die hier die Akzente gesetzt haben. [...] Die Stärke der Partei liegt meiner Ansicht nach darin, den Massenbewegungen zu helfen ohne sie ersetzen oder dominieren zu wollen.“ 52 Das Wort Beur basiert auf dem Argot Verlan, bei dem einzelnen Wörtern Vokale hinzu- gefügt oder entnommen sowie Silben vertauscht werden. Beur steht für Arabe und be- zeichnet somit die Jugendlichen maghrebinischer Abstammung (Bouamama 1994, S. 69). 53 „[...] Mitterrand möchte, dass SOS-Racisme sich unabhängig gegen den Front National entwickelt [...] nach Mitterrand braucht es einen Widerstand gegen den Front National, der nicht die PS sein kann.“ 54 Führungspersönlichkeit des linken Flügels CERES. 55 „[...] ich denke an das allgemeine Wahlvolk, an die Wähler der Arbeiterschicht, an die vernachlässigten kommunistischen Wähler. Wie können wir diese Menschen für uns gewinnen? Dazu bedarf es eines Projektes, eines Programms sowie angepasster Organi- sationsstrukturen. Warum sollen wir also nicht Vereinigungen wie SOS-Racisme außer- halb der Partei ansiedeln? Das ist eine sehr gute Sache.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 207

Somit bestätigt er die Annahme, dass SOS-Racisme auch darauf angelegt war, Stimmen zu gewinnen ohne dabei die PS direkt zu involvieren. Andere Wissen- schaftler folgen in ihren Untersuchungen dieser Einschätzung (vgl. die Arbeiten von Bouamama 1994, S. 114; Garbaye 2007, S. 77; Geisser 1997, S. 169). Neben dem Gewinnen von Stimmen der jungen Migranten/Migrantinnen zeichnete sich die zweite Phase dadurch aus, dass erstmals die politische Repräsen- tation von Migranten/Migrantinnen innerparteilich thematisiert wurde und es zu einer Förderung vereinzelter Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund kam. So greift Barrau erneut auf dem Parteitag 1985 in Toulouse das Thema der Mobilisie- rung der zweiten Generation im Zusammenhang der anstehenden Regionalwahlen 1986 auf:

„Il faut qu’un effort particulier soit fait en direction des jeunes immigrés de la deuxième gé- nération et des jeunes Français maghrébins qui ont déjà la nationalité française et qui peu- vent déjà voter en 1986. (Applaudissements) Je vous rappelle que l’ensemble des Français maghrébins représentent aujourd’hui quelque 800.000 électeurs, dont plus de la moitié sont des jeunes de moins de 25 ans, et je pense que, malgré les difficultés que nous avons déjà à constituer nos listes, il est important que, sans démagogie, sans surenchère entre nous, nous arrivions à ce que certains, certaines d’entre eux soient présents sur les listes Socialistes en 1986. (Applaudissements) Cela constituera un signe important que cette communauté attend et qui montrera que, pour nous, l’insertion et la prise de responsabilité ne sont pas de vains mots.“56 (Parti socialiste 1985a, S. 147f.)

Erstmals weist ein Delegierter auf einem Parteitag auf das Wahlstimmenpotential der jungen maghrebinischen Franzosen/Französinnen hin und begründet damit sein Werben für eine stärkere Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppe auf den Kan- didatenlisten für die Regionalwahlen 1986. Darüber hinaus greift er im selben Jahr bei einem nationalen Parteitreffen in Paris das Thema erneut auf. Dabei weist er

56 „Es braucht ein zusätzliches Bemühen in Richtung junge Einwanderer der zweiten Gene- ration und jungen maghrebinischen Franzosen, die bereits die französische Staatsbürger- schaft haben und 1986 wählen dürfen. (Applaus) Ich erinnere euch daran, dass die Ge- samtheit der maghrebinischen Franzosen ein Potenzial von 800.000 Wählern darstellt, von denen mehr als die Hälfte jünger als 25 ist. Und trotz der Schwierigkeiten bei der Erstellung der [Kandidaten]Listen ist es meines Erachtens wichtig, dass wir es ohne gro- ße Aufregung und großen Streit schaffen, dass einige von ihnen auf den Listen der Sozi- alisten 1986 sich wiederfinden werden. (Applaus) Dies würde ein wichtiges Zeichen darstellen, das diese Gruppe erwartet und es würde zeigen, dass Eingliederung und Ver- antwortungsübernahme für uns nicht nur leere Wortehülsen sind.“

208 | PARTEIEN UND MIGRANTEN unter anderem darauf hin, dass sich die Parteispitze damit auseinandergesetzt habe. Er hebt hervor:

„Il s’agit d’essayer dans certains endroits, là où c’est possible, là où effectivement ces com- munautés représentent quelque chose, d’avoir je dirai de manière symbolique et politique, des représentants de cette communauté de français maghrébins, sur des positions qui ne sont pas forcément – naturellement je ne me fais pas trop d’illusions – des positions éligibles pour des élections régionales, mais permettront de montrer que, sur cette question comme sur d’autres, nous ne mettons pas notre drapeau dans notre poche par rapport à cette élection de cette population dans la société française; nous considérons que c’est un thème sur lequel nous devons être nets et sur lequel nous devons être fiers de nos positions.“57 (Parti socialiste 1985b, S. 18)

Er sieht hier in der gezielten symbolischen Nominierung von maghrebinisch- stämmigen Persönlichkeiten in Wahlgebieten mit einem hohen Migrantenanteil ei- ne Möglichkeit für die Partei, sich zu profilieren. An dieser Stelle kann auch auf weitere Forschungsarbeiten in diesem Bereich verwiesen werden, die aufzeigen, dass bestimmte Führungspersönlichkeiten der Partei die Repräsentationsfrage auf unterschiedliche Weise forcierten. So wurde 1985 mit Unterstützung von Jospin und Louis Mermaz France Plus gegründet, die als parteiexterne Organisation darauf zielte, maghrebinische Jugendliche zur Wahrnehmung ihres aktiven und passiven Wahlrechts – d.h. zur Wahlbeteiligung und zur Kandidatur – zu animieren (Garbaye 2007, S. 77; Bouamama 1994, S. 126; Geisser 1997, S. 170). Es war nach Recherchen von Stenhouse der bereits erwähn- te Morin, der zu dieser Gruppe gehörte und Hauptimpulsgeber von France Plus war. Er wendete sich zum einen direkt an Laurant Fabius58 und Jospin, um diese auf die Bedeutung der maghrebinischen Jugendlichen aufmerksam zu machen (Stenhouse 1993, S. 66). Es handelte sich hierbei um eine Form des „ethnischen Lobbyismus“ (logique communautaire), nach dem Menschen mit einer maghrebi-

57 „Aus symbolischer und politischer Sicht geht es meiner Meinung darum, Repräsentanten der französisch-maghrebinischen Gemeinschaft an jenen Orten zu nominieren, wo es machbar erscheint und diese Gemeinschaften tatsächlich ins Gewicht fallen. Auch wenn ich mir indes keine Illusionen mache, dass sie auf sicheren Listenplätzen für die Regio- nalwahlen gewählt werden, so können wir nichtsdestotrotz zeigen, dass wir dieses The- ma nicht wie in viele andere außer Acht lassen. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit dem Thema offen und ehrlich umgehen und auf unsere Positionen Stolz sein müssen.“ 58 Fabius trat 1973 der PS bei, war bereits 1975 enger Berater von Mitterrand und begleite- te seit dessen Wahl 1981 verschiedene Ministerposten. Das Amt des Premierministers begleitete er 1986 bis 1988 (Philippe und Hubscher 1991, S. 27f.). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 209 nischen Herkunft gefördert und deren Interessen artikuliert werden sollten (Bouamama 1994, S. 126f.). Gleichzeitig ging es ihnen um eine Inkorporation in die demokratischen Institutionen Frankreichs. France Plus zielte dabei nicht nur auf die PS, sondern warb für ihr Anliegen bei allen etablierten Parteien. Kurz nach dem Sieg der Konservativen bei den Regionalwahlen 1986 merkte Farine, einstiger Secrétaire International der PS, bei einem Treffen des Comité de directeur kritisch an:

„Le mouvement dʼinscription sur les listes nʼa pas donné les résultats que lʼon escomptait [...]. Alors, je voudrais, à partir de là, exprimer un regret, [...] un appel. Le regret, cʼest que nous nʼavons pas été en mesure pour des raisons multiples, de trouver une place sur nos listes suffisante pour les représentants de cette génération montante et nous nʼavons pas été en mesure dʼaccueillir sur nos listes des candidats issus de cette génération. [...]. Lʼappel, cʼest celui adressé à notre Parti, car [...] une grande partie de ces jeunes garçons et filles ont découvert la nécessité de lʼaction politique et ils vont se retourner certains se tournent vers des possibilités dʼengagement politique et il faut que nous soyons capables de les accueil- lir.“59 (Comité directeur 22.03.1986, S. 100f.)

Er sieht indirekt den Grund für die geringe Einschreibung der zweiten Einwander- ergeneration in deren fehlenden Repräsentanz auf den Listen der PS und fordert hier für die Zukunft Verbesserungen. In einem beschlossenen Strategiepapier zu den Kommunalwahlen von 1989 findet sich der ausdrückliche Hinweis, dass die zweite Generation auf den Kandidatenlisten angemessen vertreten sein solle (Parti socialiste 1988 – Convention nationale extraordinaire, S. 3). In einem kurz danach erschienenen Rundschreiben der Parteiführung an die unteren Parteiebenen wurde auf diese Forderung erneut aufmerksam gemacht (Secrétariat National 1988). Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass neben der parlamentarischen Re- präsentation das Thema der innerparteilichen Repräsentation an Bedeutung ge- wann. Dabei spielten erneut einzelne Personen in der Parteiführung beim Aufbau dieser innerparteilichen Zusammenschlüsse eine wichtige Rolle. Hauptinitiator war eine Gruppe um Jospin und Mermaz. So führte Morin, Vertrauter und Berater von

59 „Die Maßnahmen zur Erhöhung der Einschreibungen auf den Wahllisten haben nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt. Vor diesem Hintergrund möchte ich ein Bedauern ausdrücken, [...] einen Aufruf starten. Das Bedauern bezieht sich auf die Tatsache, dass wir es aus verschiedenen Gründen nicht geschafft haben, ausreichend Platz für die Re- präsentanten dieser aufstrebenden Generation auf unseren Kandidatenlisten zu geben [...]. Der Aufruf richtet sich an unsere Partei, denn diese jungen Männer und Frauen se- hen die Notwendigkeit zum politischen Engagement. Einige von ihnen engagieren sich bereits. Wir müssen dazu in der Lage sein, sie willkommen zu heißen.“

210 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Mermaz, auf Anweisung von Jospin seit 1983 ein innerparteiliches Netzwerk von maghrebinisch-stämmigen Parteimitgliedern der zweiten Generation, das ab 1987 unter dem Namen Groupe de Trente (Gruppe der 30) firmierte (Geisser 1997, S. 178f.; 244). Nach Einschätzung von Geisser stellte die Gruppe einen historischen Einschnitt dar, da es sich erstmals innerhalb der PS um einen Zusammenschluss handelte, für den die maghrebinische Ethnizität konstitutiv war (ebd.). 1989 folgte die Gründung der Conférence nationale des élus socialistes originaires du Ma- ghreb (CNESOM), innerhalb derer sich die gewählten Sozialisten maghrebinischer Herkunft organisierten. Darunter fielen nicht nur die muslimischen Einwande- rer/Einwanderinnen, sondern auch die Pieds-Noir60, so dass gemäß Kelfaoui von einer ethnicitation élargie61 gesprochen werden kann (Kelfaoui 1995, S. 365). In einem Informationsschreiben der Vereinigung von 1991 ist zu lesen:

„Par le triple canal des fédérations du PS, de celles de la FNESR [Fédération nationale des élus socialistes et républicains] et des maires socialistes, nous arrivons à collecter, en trois mois, les coordonnés d’environ 300 élus, nationaux et locaux, dont une centaine d’origine musulmane.“62 (Zitiert aus Geisser 1997, S. 245)

Durch eine koordinierte Aktion unterschiedlicher Gliederungen der Partei werden potentielle Mitglieder identifiziert und angesprochen. Aufgrund ihrer guten Ver- netzung stellte die CNESOM eine parteiinterne Lobby dar, die laut Geisser und Soum auf lokaler und nationaler Ebene Parteimitglieder maghrebinischer Herkunft unterstützten (Geisser und Soum 2008, S. 31). Darüber hinaus trugen sie zur Sen- sibilisierung der Führungsspitze für das Vorhandensein einer nicht zu unterschät- zenden Mitgliederbasis in den Vorstädten Frankreichs bei. Vertreter_innen der Gruppe wurden mehrmals von Regierungsspitzen wie Rocard, Édith Cresson oder dem Präsidenten Mitterrand empfangen (ebd., S. 32). Neben CNESOM gründete sich 1989 der Club Emergence durch den Sozialisten Mohamed Mebtoul. Der Zu-

60 Hierunter sind die Algerienstämmige überwiegend europäischer Herkunft sowie die se- phardischen Juden zu verstehen, die nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich auswanderten (Comtat 2009, S. 35f.). 61 In der Propagierung und Anerkennung eines erweiterten „Ethnizitätsverständnisses“ sa- hen die Mitglieder dieses ‚Bündnis‘ eine Lösung für die Eingliederungsprobleme in die französische Gesellschaft (Geisser 1997, S. 180; Geisser und Soum 2008, S. 30f.). 62 „Mithilfe dreier Informationskanäle – den Parteiverbänden auf Departement-Ebene, dem Verbund der sozialistischen und republikanischen Gewählten und den sozialistischen Bürgermeistern – schaffen wir es innerhalb von drei Monaten, ungefähr 300 Gewählte auf nationaler und lokaler Ebene auszumachen, von denen 100 einen muslimischen Hin- tergrund haben.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 211 sammenschluss fungierte als Diskussionsforum im Hinblick auf die Eingliederung von Maghrebinischstämmigen in die Parteien. Im Gegensatz zu den anderen ge- nannten Gruppierungen hatte der Club Emergence, trotz einiger Sympathien inner- halb der Partei, keinen vergleichbaren Erfolg (Stenhouse 1993, S. 145).

7.2.1 Politischer Wettbewerb und das Stimmenpotenzial der zweiten Einwanderergeneration

Als eine Erklärung für die aufgezeigten parteipolitischen Inkorporationsprozesse ab Ende der 1970er Jahre lassen sich zunächst drei Umweltveränderungen heran- ziehen. Neben einem weiter zunehmenden Parteienwettbewerb zeichnet sich ein dauerhaftes Niederlassen der Migranten/Migrantinnen ab. Zudem wächst eine poli- tisierte und wahlberechtigte zweite Generation der Einwanderer/Einwanderinnen heran, die für die PS als Wähler_innen attraktiv wird. Wie unter 7.1.1 erwähnt, war das politische Parteiensystem bereits Mitte der 1970er Jahre polarisiert. Diese Polarisierung nahm ab Ende der 1970er Jahre aus drei Gründen zu. Der erste Grund war die sich weiter verschärfende inhaltliche Auseinandersetzung im Bereich der Migrantenpolitik. Aufgrund einer steigenden Arbeitslosigkeit und zunehmenden sozialen Problemen in den Vorstädten setzte die konservative Regierung verstärkt auf eine restriktive Einwanderungspolitik, um mittels einer Rückkehrpolitik die Lage zu entschärfen (Lequin 2006, S. 466ff.; Weil 2005, S. 144ff.). Zudem schlug sie populistische Töne gegen ausländische Arbeitskräfte an und schreckte auch nicht vor Abschiebungen von politisch aktiven Arbeitsmigranten/-migrantinnen zurück. Emblematisch stehen hierfür die bereits erwähnten Sonacotra-Streiks ab 1974. Zunächst wurden die Proteste vor allem von der PCF sowie den Gewerkschaftsbund CGT unterstützt (Bernardot 2008, S. 146). Als es zu Abschiebungen von Protestierenden kam und somit die öffentlich- mediale Wahrnehmung anstieg, entstand Ende der 1970er Jahre eine verstärkte So- lidarisierung der PS mit den Streikenden. Sie sah in der Eskalation des Konflikts die Gelegenheit, generell die Debatte über die Arbeits- und Wohnbedingungen und Rechte der Arbeitsmigranten/-migrantinnen anzustoßen und die damit verknüpfte Regierungspolitik an den Pranger zu stellen (Miller 1978, S. 560; 562f.). So kriti- sierte Le Garrec, Délégué national pour les travailleurs immigrés der PS, öffent- lich die Haltung der konservativen Regierung (Bernardot 2008, S. 163). Ferner so- lidarisierte sich Mitterrand mit den Streikenden (Le Monde 10.05.1979). Einzelne Sozialisten/Sozialistinnen beteiligten sich an den Solidaritätskundgebungen (Miller 1978, S. 566; Favier und Martin-Roland 1990, S. 200). Ein zweiter Grund für die Verschärfung des Wettbewerbs war die deutlich zu Tage tretende Konkurrenz zwischen der PS und der PCF. Der Kampf um die Vor- herrschaft im linken Spektrum war ab Mitte der 1970er Jahre in vollem Gange (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 332ff.). Die PCF verlor an Zustimmung unter

212 | PARTEIEN UND MIGRANTEN den Wählern/Wählerinnen, während die PS Zuwächse verbuchte. So lag die PS bei den Parlamentswahlen 1973 mit einem Stimmenanteil von 19,1 Prozent noch knapp hinter der PCF mit 21,4 Prozent. Bereits 1978 schaffte die PS bei den nächs- ten Parlamentswahlen die Kehrtwende und führte knapp mit einem Stimmenanteil von 22,8 Prozent gegenüber 20,6 Prozent der kommunistischen Partei (ebd., S. 382). Zudem wurden in einigen von Kommunisten regierten Gemeinden, die einen hohen Anteil an Einwanderern/Einwanderinnen hatten, Anfang der 1980er ein- schneidende Maßnahmen beschlossen, um den Zuzug von Migranten/Migrantinnen zu stoppen (Hargreaves 2012, S. 5; Lequin 2006, S. 420f.; Lavabre und Platone 2003, S. 99). Hier versuchten sich die Sozialisten mit einer liberalen Migrantenpo- litik abzuheben, um das enttäuschte linke Wählerpotenzial, das sich für soziale Ge- rechtigkeit einsetzte und mit Migranten/Migrantinnen sympathisierte, abzuschöp- fen (Weil 2005, S. 196f.; Noiriel 2007, S. 588). Ein dritter Grund waren der Eintritt und Aufstieg des rechtsextremen Front Na- tional (FN) im politischen System Anfang der 1980er Jahre. Erste größere Wahler- folge des FN63 trugen zu einer Fragmentierung und zum Erodieren des Parteiensys- tems bei. Diese Entwicklung setzte insbesondere die Konservativen unter Druck, als diese fürchten mussten, Teile ihrer Wählerschaft an den FN zu verlieren (Mar- cus 1995, S. 132; Hargreaves 2007, S. 155)..Nach Garbaye bot dieser Einschnitt die Gelegenheit für die Sozialisten, mit einer liberalen Migrantenpolitik zum einen sich deutlich von der FN abzugrenzen und die eigenen linken Kräfte zu mobilisie- ren. Zum anderen sollten die Konservativen zu einer restriktiveren Position animi- niert werden, in der Erwartung, dass diese moderate Konservative abschrecken und rechtskonservative Wähler_innen erst recht zu einer Wahl der FN animieren würde (Garbaye 2007, S. 81).64 In diesem Kontext fungierte nach Marcus und Bouamama SOS-Racisme als Mittel, um Sympathien unter den Protestierenden zu gewinnen und den politischen Gegner zu schwächen (Marcus 1995, S. 132; Bouamama 1994, S. 114). Nach Meguid kann auch von einer Abgrenzungsstrategie gesprochen wer- den, die große Parteien in Bezug auf Nischenparteien dann verfolgen, wenn der ei- gene Wahlstimmenverlust begrenzt bleibt und der des politischen Hauptgegners maximiert wird (Meguid 2008). Neben der zunehmenden wettbewerblichen Polarisierung kam ein weiterer Faktor hinzu, der für die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Einwande-

63 So erhielten der FN bei den Europawahlen 1984 11 Prozent der Wahlstimmen (Ysmal 1990, S. 21; Mayer et al. 1989, S. 43). 64 In dieser Hinsicht kann auch die Einführung des Verhältniswahlrechtes vor den Natio- nalversammlungswahlen 1986 gesehen werden, die einen Einzug der Rechtsextremen ermöglichte und somit indirekt die Konservativen im Parlament bedrängte (Marcus 1995, S. 131f.). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 213 rern/Einwanderinnen entscheidend war. Die zunehmende Sesshaftigkeit der Ein- gewanderten sowie das liberale Staatsbürgerschaftsrecht führten zu einem wach- senden Stimmenpotenzial der zweiten Einwanderergeneration. So ließen sich nach dem Anwerbestopp von 1974 viele ausländische Arbeitsmigranten/-migrantinnen dauerhaft in Frankreich nieder und kehrten nicht, wie erwartet, in ihre Heimatlän- der zurück (Wihtol de Wenden 1988, S. 234f.). Waren es 1968 noch ca. 2,6 Milli- onen Ausländer_innen, so erhöhte sich die Anzahl 1975 auf ca. 3,4 Millionen. Sie- ben Jahre später lag er bei ca. 3,7 Millionen (Weil 2005, S. 534f.). Diese Entwick- lung wurde dadurch verstärkt, als die Sozialisten Anfang der 1980er Jahre den Schwerpunkt von einer Rückkehrpolitik auf eine Absicherung des Aufenthaltssta- tusʼ verlagerten (ebd., S. 199). Entsprechend wurden Restriktionen der Familienzu- sammenführung aufgehoben, Aufenthaltsgenehmigungen verlängert sowie 130.000 Einwanderer/Einwanderinnen ein legaler Aufenthaltsstatus verliehen (Garbaye 2007, S. 73; Favier und Martin-Roland 1990, S. 202f.). Wie in den untersuchten Parteidokumenten thematisiert, stieg tatsächlich der Anteil der zweiten Einwander- ergeneration (Wihtol de Wenden 1988, S. 220). In diesem Zusammenhang war be- deutend, dass ein Großteil der Einwanderer/Einwanderinnen aus Algerien stammte, das bis 1962 als ehemalige Kolonien zu Frankreich gehörte. Im Zuge der Dekolo- nialisierung Algeriens fand eine Bestimmung des Staatsbürgerschaftsrechts (Art. 23), das double jus soli, auf diese Bevölkerungsgruppe Anwendung. Ursprünglich bekamen demnach alle in Frankreich geborenen Kinder von ausländischen Eltern die französische Staatsbürgerschaft, wenn mindestens ein Elternteil bereits in Frankreich geboren wurde (Feldblum 1999, S. 25). Übertragen auf die Situation der algerischen Bevölkerung in Frankreich bedeutete dies: „Young immigrants of Algerian origin in France were automatically attributed citizenship at birth if at least one of their parents had been born in Algeria before its independence in 1963 because Algeria had been considered an integral part of France [...].“ (Ebd., 26) Von 1963 bis Mitte der 1980 erhielten rund 290.000 algerischstämmige Kinder die französische Staatsbürgerschaft von Geburt an (ebd.). Anfang der 1980er Jahre wurden die Ersten unter ihnen volljährig und somit wahlberechtigt – sie konnten für ein politisches Amt kandidieren. Angesichts des polarisierten Wettbewerbs bot es sich für die PS an, dieses Stimmenpotenzial zu mobilisieren. Zumal die Haupt- konkurrierenden aufgrund ihrer restriktiven bis rassistischen Politik kaum gewillt waren, diesen Weg einzuschlagen. Neben dem gestiegenen Wählerpotenzial stellte die Politisierung und Mobili- sierung der maghrebinisch-stämmigen Jugendlichen (Mouvement Beur) Anfang der 1980er Jahre den dritten Faktor für das veränderte Bewusstsein der Partei dar. Die Bewegung demonstrierte gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung, da es immer wieder zu rassistischen Übergriffen gegen die maghrebinisch-stämmigen Jugendlichen von Seiten der Polizei kam (Garbaye 2007, S. 75). Die Proteste ku- mulierten 1983 im Marsch gegen Rassismus und für gleiche Rechte (Marches

214 | PARTEIEN UND MIGRANTEN contre le Racisme et pour l’Égalité des Droit), welcher in Marseille seinen Anfang nahm, über mehrere Städte zog und in Paris endete (Farine 1983). Neben der gleichberechtigten Teilhabe stand auch das Recht auf Verschiedenheit (droit à la différence), d.h. die Anerkennung der eigenen Herkunft und Identität, im Mittel- punkt ihrer Forderungen. Die Selbstbezeichnung der Protestierenden als Beur ve- reinte diese beiden Forderungen: „[...] le terme ‚Beur‘ indique à la fois l’existence de spécificités nouvelles vis-à-vis des parents, mais aussi l’affirmation d’une ori- gine arabe. Plus précisément, il exprime l’émergence d’une nouvelle réalité identi- taire française: l’existence d’Arabes de France.“65 (Bouamama 1994, S. 69) Sie sahen sich im Unterschied zu ihren Eltern nicht mehr als Arbeitsmigran- ten/-migrantinnen, die an eine baldige Rückkehr in die Heimatländer dachten, son- dern vielmehr als Teil der französischen Gesellschaft mit einer eigenen Identität. Durch das Ausmaß sowie die Vielfältigkeit des öffentlichen Protests – von De- monstrationen, über Rockkonzerte, Theateraktionen bis hin zu Radiosendungen (Ireland 1996, S. 266) – sahen sich die Sozialisten, nun in der Regierungsverant- wortung, gezwungen, darauf zu reagieren. Ebenso gewannen Fragen nach einer po- litischen Beteiligung und Repräsentation der protestierenden Jugend an Legitimi- tät, da Forderungen nach einer gleichberechtigten Teilhabe und der eigenständigen Interessensvertretung in den Vordergrund der gesellschaftlichen Debatte rückten.

7.2.2 Innerparteilicher Wettbewerb und Präsidentialisierung

Um die Veränderungen in der zweiten Phase (1978-1989) nachvollziehen zu kön- nen, müssen neben den Umweltfaktoren auch die innerparteilichen Rahmenbedin- gungen berücksichtigt werden. So hängt die Gründung von SOS-Racisme und wei- terer Interessengruppen von Migranten/Migrantinnen nicht allein mit dem wach- senden Stimmenpotenzial der Einwanderer/Einwanderinnen sowie einem veränder- ten Parteienwettbewerb zusammen. In der Forschungsliteratur wird der innerpartei- liche Wettbewerb unterschiedlicher Parteiströmungen, den courants, als weitere entscheidende Bedingung angeführt (Kelfaoui 1995, S. 365). Wie bereits oben angedeutet, sind es die Führenden dieser Flügel, die als Un- terstützer verschiedener Gruppierungen auftraten. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen einem Flügel um Fabius, der neben Mitterrand maßgeblich SOS-Racisme unterstützte, und einem Flügel um Jospin, Mauroy und Mermaz, der France Plus stützte (Bouamama 1994, S. 114; 126; Garbaye 2007, S. 77; Geisser 1997, S.

65 „Der Begriff ‚Beur‘ beinhaltet gleichermaßen einen Verweis auf die Eigenheiten gegen- über der Elterngeneration als auch das Bekenntnis zu arabischen Wurzeln. Genauer ge- sagt, steht er für eine neues Realitäts- und Identitätsverständnis in Frankreich: das Vor- handensein ein arabischen Kultur in Frankreich.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 215

169f.). Diese These lässt sich auch durch Erkenntnisse aus der Parteienliteratur stützen. So wird grundsätzlich von der zentralen Bedeutung der Flügel innerhalb der PS ausgegangen. Zwar ist laut Statut die Formierung von organisierten Interes- sensgruppen nicht erlaubt. Flügel bzw. politische Strömungen (Currents of opini- on) werden hingegen toleriert und bestimmen das Parteileben maßgeblich in pro- grammatisch-ideologischer und in personeller Hinsicht. Diese Strömungen werden insbesondere bei der inhaltlichen Ausrichtung und Ämtervergabe relevant (Bell und Criddle 1988, S. 219). Dabei zeichnet sich ein Flügel durch seine ideologische Grundausrichtung sowie seine Führungspersönlichkeiten aus (ebd.). In den 1980er Jahren nahm die Bedeutung ideologischer Flügelkämpfe ab und führte zu einer Präsidentialisierung (présidentiabilité) innerparteilicher Kämpfe (Stephan 2001, S. 154). Demnach drehten sich die Auseinandersetzungen weniger um verschiedene ideologische Auffassungen, sondern vielmehr um die Führungs- persönlichkeiten der jeweiligen Flügel, die Ambitionen auf die Nachfolge Mitter- rands im Präsidentenamt hatten. In diesem Zusammenhang muss auch die Grün- dung von France Plus gesehen werden. Dessen Initiierung von Seiten Jospins be- ruhte nicht auf programmatischen Divergenzen mit Fabius, sondern auf den politi- schen Karriereabsichten beider politischer Persönlichkeiten auf die Führungsrolle innerhalb der Partei sowie das Präsidentenamt (ebd., S. 156). So gehörten Fabius und Jospin dem Flügel der Mitterrandisten an und bildeten erst Ende der 1980er Jahre konkurrierende courants aus66. Deshalb kam es im Zuge des Wahlkampfes für die Regional- und Parlamentswahlen 1986 zu einer Konfrontation zwischen Jo- spin, der zu diesem Zeitpunkt Parteichef war, und Fabius, der die Funktion des Ministerpräsidenten innehatte. Fabius versuchte die Wahlkampfführung zu über- nehmen, was auf heftigen Widerstand von Seiten Jospins stieß, der dies als ureige- ne Aufgabe des Parteichefs ansah (Stephan 2001, S. 152; Favier und Martin- Roland 1991, S. 400f.; Bergounioux und Grunberg 1992, S. 444f.). In diesem Zeit- raum fällt auch die Gründung von France Plus, welche unter anderem als Reaktion Jospins gesehen werden kann, um die Führungsambitionen Fabius zu konterkarie- ren, der bereits 1983 als Unterstützer von SOS-Racisme galt. Ebenso die Durchset- zung der Kandidatur von Nora Zaïdi für einen aussichtreichen Platz bei den Euro- pawahlen 1989 kann indirekt als Resultat dieses Konfliktes gesehen werden. Als Fabius angesichts einer Gegenwehr von Jospin knapp die nötige Mehrheit für den

66 Vielmehr standen sich in den 1980er die linken Kräfte CERES und die Rocardiens als organisierte Flügel gegenüber (Stephan 2001, S. 92-96; Cole 1989, S. 84f.). Die Rivalität zwischen Jospin und Fabius hatte bereits in den 1970er ihren Ursprung, wobei sie nicht die Loyalität zu Mitterrand gefährdete (ebd., S. 87). Erst mit der Wiederwahl Mitter- rands 1988, der somit nach dieser Amtszeit nicht mehr antreten durfte, brach der Kampf um die Nachfolge zwischen den Protagonisten offen aus.

216 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Parteivorsitz 1988 verfehlte (Stephan 2001, S. 153), wurde ihm im Ausgleich zum entgangenen Parteivorsitz die Führung der Europaliste zugestanden (ebd., S. 155f.). Hier setzte sich er sich für Zaïdi auch gegen innerparteiliche Widerstände ein (Sauter 10.04.2007). Zaïdi selbst war eine Führungspersönlichkeit bei SOS- Racisme (Wihtol de Wenden und Leveau 2007, S. 127f.). Ein weiterer Effekt der „Präsidentialisierung“ war, dass einzelne Führungsper- sönlichkeiten verschiedener Flügel wie Fabius, Jospin und Rocard immer wieder unterschiedliche, kurzfristige und somit unübersichtliche Allianzen untereinander eingingen, um ihre eigene Position in der Partei zu festigen und einen Führungsan- spruch zu erheben. Diese innerparteilichen Dynamiken waren für die Gründung verschiedener Netzwerke und Gruppen maghrebinisch-stämmiger Einwande- rer/Einwanderinnen in den 1980er Jahren förderlich. Nach Geisser erhielt so der Groupe de Trente die Unterstützung aller Führungspersönlichkeiten innerhalb der Partei. Auch der CNESOM wurde von verschiedenen Flügelvertretern unterstützt (Geisser und Soum 2008: S. 30ff.). Baillet geht davon aus, dass France Plus im Laufe der Jahre nicht allein durch Jospin, Mermaz und Mauroy Unterstützung fand, sondern auch durch Rocard (Baillet 2001, S. 20). Letzterer unterstützte 1988 laut eines Zeitungsberichtes auch ein Treffen der Vertreter_innen von SOS- Racisme und France Plus, um Sympathien unter maghrebinischen Jugendlichen zu gewinnen (Jarreau 13.10.1988). Somit wirkten Abgrenzungsstrategien und Alli- anzbildungen zwischen den verschiedenen Flügeln unterstützend auf die Bildung dieser Gruppierungen innerhalb der Partei. Im Mittelpunkt standen dabei die Füh- rungspersönlichkeiten der PS, die von oben herab (par le haut) die Initialzündung setzten. Neben den Führungspersönlichkeiten der courants spielten ideelle und strate- giegeleitete Motivationen einzelner politischer Persönlichkeiten bei der Etablie- rung der Zusammenschlüsse eine Rolle. Hervorzuheben ist hier die Wirkung von Morin, der selbst ein französischstämmiger Einwander aus Algerien (Pieds-Noir) und Parteibeauftragter für den Maghreb war. Er war der maßgebliche Initiator und Unterstützer von France Plus, der Groupe de Trente und CNESOM (Stenhouse 1993, S. 66; Geisser 1997, S. 179f.). Julien Dray und Harlem Désir waren weitere Haupttriebfedern von SOS-Racisme. Beide verfügten über eine eigene oder famili- äre Migrationserfahrung. Dray gehörte zur Gruppe der Pieds-Noir, die aus Algeri- en nach der Unabhängigkeit auswanderten. Désir ist antillischer Abstammung (Malik 1990, S. 37f.). Darüber hinaus gehörten sie nach einer Analyse von Juhem zu einer Gruppe von Aktivisten/Aktivistinnen, die aufgrund ihres studentischen Engagements in linksalternativen Gruppierung in den 1970er Jahren erst ver- gleichsweise spät in die Partei eintraten und somit zunächst eine politische Nische dort finden mussten. Die Ansiedlung von SOS-Racisme außerhalb der offiziellen Strukturen verringerte eine mögliche Gegenwehr. Die Tolerierung bis hin zu einer aktiven Unterstützung verschiedener Flügel war ihnen zudem sicher, da der Anti- DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 217 diskrimininierungskampf innerhalb der Partei als common sense galt (Juhem 2001, S. 141-144). Die genannte Auslagerung von SOS-Racisme lag nach Marcus darüber hinaus darin begründet, dass es innerhalb der Partei auch konservative Stimmen gab, die einer Unterstützung der Anliegen der zweiten Einwanderergeneration skeptisch gegenüberstanden (Marcus 1995, S. 132). Ireland stimmt dieser Einschätzung zu: „The PS found itself torn between proponents of a new ethnic pluralism and de- fenders of the traditional Jacobin model requiring immigrantsʼ complete assimila- tion.“ (Ireland 1996, S. 267) Verschärft wurde diese innerparteiliche Spaltung durch eine Wirtschaftskrise und eine hohe Arbeitslosigkeit ab Anfang der 1980er Jahre, die zu gesellschaftli- chen Spannungen führten und die sozialistische Regierung zu restriktiveren Maß- nahmen in der Migrationspolitik greifen ließ (Favier und Martin-Roland 1991, S. 497f.). Auch in der Bevölkerung sank die Zustimmung gegenüber bestimmten Einwanderungsgruppen. So sahen laut einer Umfrage von 1984 jeweils 48 Prozent der Befragten maghrebinische und afrikanische Migranten/Migrantinnen als schlecht integriert an (Schain 2008, S. 144)67. Diese Stimmung spiegelte sich auch in der PS wider. Durch die Auslagerung von SOS-Racisme und France Plus außer- halb der offiziellen Parteistrukturen wurde einem innerparteilichen Widerstand ge- zielt aus dem Weg gegangen.

7.3 VON 1989 BIS 2001: DAS PRIMAT DER INTEGRATION

In der dritten Phase lässt sich eine Verlagerung der innerparteilichen Diskussionen feststellen. Forderungen nach einem Recht auf Verschiedenheit (droit à la diffé- rence)68 wichen dem Wunsch nach einer Integrations- und Anpassungspflicht (intégration). Diese Veränderung beeinflusste die parteipolitischen Inkorporations- prozesse auf drei Ebenen. Erstens berührte sie Fragen der politischen Repräsentati- on von Migranten/Migrantinnen. Zweitens änderte sich dadurch die Art der An- sprache von Wählern/Wählerinnen mit Migrationshintergrund. Drittens war sie Auslöser für eine innerparteiliche Gegenmobilisierung. Bei der Durchsicht der Parteitagsprotokolle und Sitzungen des Direktionskomi- tees (Comité directeur) konnte ich feststellen, dass das Integrationsthema an Be-

67 Martin Schain zitiert hier eine Umfrage des SOFRES Instituts. 68 Vgl. hierzu die skizzierten Debatten in den 1970er und 1980er Jahren (S. 212; S.246).

218 | PARTEIEN UND MIGRANTEN deutung gewann.69 Die Divergenzen traten zwischen den Verfechtern/Verfechter- innen unterschiedlicher Positionen immer stärker zu Tage. Der damalige Parteichef Pierre Mauroy wies auf einer Sitzung des Comité directeur im Dezember 1989 auf diesen Streitpunkt hin: „Il y a, certes, entre nous, des nuances, voire même des di- vergences. Les limites du droit à la différence ou du devoir de ressemblance, ne sont pas identiques selon quʼon souhaite insérer, intégrer ou assimiler.“70 (Comité directeur 02.-03.12.1989, S. 8) Im gleichen Zeitraum bekannte er sich in einem Vorwort der Parteizeitschrift Le Vendredi unter der Überschrift „Priorité à l’intégration“ zur Integration (Mau- roy 01.12.1989, S. 3). Bereits zuvor wurde er in derselben Zeitschrift zitiert:

„Pour réussir l’intégration: la grande majorité des quatre millions de personnes d’origine étrangère [...] ne demande qu’à s’intégrer.“71 (Vendredi 13.01.1989, S. 1)

„L’intégration fait la France.“72 (Vendredi 27.10.1989, S. 1)

Überdies wurde im Präsidentschaftswahlkampf von 1988 mit dem Slogan „Intégra- tion des immigrés“ und dem Untertitel „fraternité chérie“ (Geliebte Brüderlichkeit) geworben (Parti socialiste 1989). Die Verknüpfung des Ziels der Integration mit einem der Werte der französischen Revolution (Brüderlichkeit) verdeutlicht, wel- che Aufgabe die Partei mit den Einwanderern/Einwanderinnen verband: die An- passung an die französische Werteordnung. Zudem wurde eine Integrationspolitik vor allem mit der Forderung nach einer Anpassung der in Frankreich lebenden Muslime an die laizistischen Werte der französischen Verfassung verknüpft. Erneut äußerte sich hier der Parteichef bei ei- nem Treffen des Comité directeur 1989 wie folgt: „Quel défi! Car c’est à nous de faire de l’Islam une religion intégrée afin d’éviter de se trouver un jour face à une

69 Die Stichwortsuche der Online-Datenbank ergab, dass der Integrationsbegriff im Zu- sammenhang von Migranten/Migrantinnen Ende der 1980er Jahre vermehrt in den De- batten auftaucht. 70 „Es gibt sicherlich unter uns Meinungsverschiedenheiten, wenn nicht gar offenkundige Divergenzen. Die Grenzen des Rechts auf Verschiedenheit und der Pflicht zur Anpas- sung sind davon abhängig, je nachdem ob wir eingliedern, integrieren oder assimilieren wollen.“ 71 „Um die Integration zum Erfolg zu bringen: eine große Mehrheit der vier Millionen Menschen ausländischer Herkunft [...] wünscht sich nichts anderes als sich zu integrie- ren.“ 72 „Integration macht Frankreich aus.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 219 religion devenue intégriste, faute d’accueil et decompréhension.“73 (Comité direc- teur 02.12.1989, S. 9) Farine, langjähriger Engagierter im Bereich der Migrantenpolitik, sieht im Is- lam die zentrale Herausforderung für den laizistischen Staat. So gibt er auf dem gleichen Treffen zu Protokoll: „[...] il est certain quʼactuellement se trouvent au cœur du débat [...] ceux de culture musulmane, cʼest pourquoi nous ne pouvons pas esquiver, nous nʼesquiverons pas les questions posées par la rencontre de lʼIslam et de notre société laïque.“74 (Comité directeur 02.12.1989, S. 67) Diese Veränderung machte sich zunächst bei Fragen der politischen Repräsen- tation von Migranten/Migrantinnen bemerkbar. Erstmals stand die Ernennung ein- zelner Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund, die als Vorbilder der Integrati- on gelten konnten, für innerparteiliche und außerparteiliche Positionen im Mittel- punkt. In diesem Zusammenhang kann die Nominierung von Kofi Yamgnane zum Staatssekretär für soziale Angelegenheiten und Integration 1991 gesehen werden, der von Fabius gezielt für dieses Amt angesprochen wurde.75 Yamgnane, togolesi- scher Herkunft, studierter Ingenieur und seit 1969 mit einer Französin verheiratet, trat 1983 den Sozialisten bei, war seit 1983 im Stadtrat von Saint-Coulitz, einem kleinen Dorf in der Bretagne, und wurde dort 1989 zum ersten schwarzen Bürger- meister in Frankreich gewählt. Darüber hinaus erhielt er aufgrund seines politi- schen und bürgerschaftlichen Engagements den Prix National de Civisme und wurde zum Bretonen des Jahres gekürt. Yamgnane ist katholisch. In einem Radio- interview am 19. Mai 1990 auf France Culture sagte er:

„Un petit bourgeois noir, c’est très bien, même de gauche mais disons, des émigrés, enfin des arabes ce n’est pas bien! [...] Je sais servir la messe, j’étais, enfin je suis chrétien, enfin ca- tholique baptisé, en règle, avec ma communion, confirmé, tout ce qu’on veut. Je connais Ra- cine, La Fontaine comme le Français moyen. J’ai fait des études d’ingénieur comme le Fran- çais ordinaire. J’ai complètement épousé cette culture.“76

73 „Welche Herausforderung! Denn es liegt an uns, den Islam zu einer integrierten Religion werden zu lassen, um zu verhindern, dass wir eines Tages einer fundamentalistischen Religion ohne Zugang und Verständnis gegenüber stehen.“ 74 „[...] es ist sicher, dass sich die Debatte um Muslime dreht. Deshalb können wir nicht den Fragen ausweichen, welche durch das Zusammentreffen von Islam und unserer lai- zistischen Gesellschaft entstehen.“ 75 Vgl. http://fresques.ina.fr, letzter Zugriff am 03.04.2014. 76 „Ein kleiner schwarzer Bürgerlicher, sogar ein Linker, das passt wunderbar, aber ein Auswanderer, ein Araber das geht nicht! Ich weiß wie man eine Messe in der Kirche hält, ich war, kurz gesagt, ich bin ein Christ, katholisch getauft, kommuniert, gefirmt, al- les was das Herz begehrt. Ich kenne Racine, La Fontaine wie jeder Durchschnittsfranzo-

220 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Sein Anpassungsvermögen in sozialer, kultureller, religiöser und politischer Hin- sicht an die gesellschaftlichen Normvorstellungen lässt ihn zum Symbol einer ge- lungenen Integration werden. Abderrahmane Dahame, ehemaliges Mitglied von SOS-Racisme, betont rückblickend, dass es bereits einen arabischstämmigen Kan- didaten, den Präsidenten von France Plus Arezki Dahmani, für das Amt gegeben hätte. Yamgnane sei jedoch ihm vorgezogen worden, da es innerparteiliche Vorbe- halte gegenüber Kandidaten muslimischer Herkunft gegeben habe (Geisser und Soum 2008, S. 115-116). Auch wenn die Hintergründe nicht vollständig aufgeklärt werden können, so scheint es zumindest Hinweise zu geben, dass bei der Nominie- rung für den Posten persönliche Eigenschaften eine Rolle gespielt haben, die dem Ideal der Integrationsfähigkeit entsprachen. Ireland und Hargreaves folgen dieser Einschätzung, in dem auch sie in Yamgnane eine Symbolfigur der Integration se- hen (Ireland 1996, S. 273; Hargreaves 2007, S. 184). Im Hinblick auf innerparteiliche Ämter stellte ein muslimischer Hintergrund weniger ein Hindernis dar. So findet im Bericht des Comité directeur vom Dezem- ber 1989 Abdel Kader Kettou als Delegierter der Sekretärin für Soziale Fragen (Secrétaire nationale aux questions sociales) Erwähnung (Comité directeur 02.12.1989, S. 183). Auch fällt wenig später im Protokoll zu einer Sitzung des Comité directeur vom 16. Juni 1990 Mohamed Mebtoul als Sitzungsmitglied auf (Comité directeur 16.06.1990, S. 47)77. Ferner wurde Ahmed Ghayet, ein Parteiak- tivist mit marokkanischen Wurzeln, 1995 in die Parteiführung (Secrétariat natio- nal) als Delegierter für Integrationsprobleme78 berufen (Le Monde 17.10.1995). Auch er konnte durch sein langjähriges zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrantenpolitik (ebd.) als eine Art Vorbild gelungener Integration fungieren. Ähnlich verhielt es sich mit Désir, der sich als Gründer und Sprecher von SOS- Racisme und Antirassismus-Aktivist einen Namen innerhalb und außerhalb der Partei gemacht hatte und sich als Beauftragter der sozialen Bewegungen (Relations avec le mouvement social) im Parteivorstand wiederfand, in den er 1997 wieder- gewählt wurde (Bachelot 2008). Die Strategie der Führungsspitze einzelne Persön- lichkeiten mit Migrationshintergrund zu fördern, bestätigte Ghayet auf dem Partei- tag 1997 in Brest selbst:

se. Ich habe Ingenieurwissenschaften studiert wie jeder herkömmliche Franzose. Ich ha- be mir komplett diese Kultur zu Eigen gemacht.“ (Vgl. http://fresques.ina.fr, letzter Zu- griff am 03.04.2014). 77 Laut Stenhouse ist er zu dieser Zeit das einzige Mitglied maghrebinischer Herkunft (Stenhouse 1993, S. 67). Er wurde durch Henri Emmanuelli, einer führenden Persön- lichkeit unter den Linken der Partei, unterstützt (ebd., S. 164). 78 Délégué aux problèmes de l’intégration et du contact avec la jeunesse issue de l’immigration. DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 221

„[...] je suis particulièrement fier aujourd’hui de vous annoncer qu’à l’occasion de notre Congrès de Brest, un nombre significatif de jeunes en général et de jeunes issus de l’immigration en particulier vont faire leur entrée au Conseil national, [...]. Regardés par un grand nombre de jeunes dans leurs quartiers, Hicham, Driss, Redouane, Ahmed, Rachid, Mustapha… Vont pouvoir faire entendre leur voix dans nos instances nationales pour les uns, fédérales pour les autres. Ce signe était nécessaire, attendu, il marque pour moi la prise de conscience de notre parti qu’il lui faut en son sein donner un sens et un contenu au mot in- tégration.“79 (Parti socialiste 1997, S. 22)

Der erfolgreiche innerparteiliche Aufstieg wird hier als ein Beispiel gelungener In- tegration dargestellt und mit einer Aufwertung der Glaubwürdigkeit in der Integra- tionspolitik nach außen verknüpft. Die Integrationsrhetorik prägte neben den Repräsentationsfragen auch die Wahlwerbung. Die Mobilisierung von jungen Migranten/Migrantinnen spielte wei- terhin eine wichtige Rolle. So wurde in einer internen Wahlkampfbroschüre von 1993, die vom Parteisekretariat der Nachwuchsbildung (Secrétariat National For- mation) herausgegeben wurde, insbesondere auf Neuwähler_innen mit Migration- hintergrund hingewiesen. Diese sollten motiviert werden, sich in die Wahllisten einzutragen (Parti socialiste 1993, S. 11). Dabei wurde auf bekannte Vereinigun- gen wie SOS-Racisme und France Plus hingewiesen, die dabei behilflich sein könnten (ebd., S. 12). Im Unterschied zu den 1980er Jahren wurde in der Wahl- werbung, die sich an diese Zielgruppe richtete, verstärkt auf die Integration und auf das nationale Staatsbürgerschaftsverständnis gezielt. So heißt es in einer Wahlwer- bung für die Parlamentswahlen 1997:

79 „[...] ich bin heute besonders stolz darauf verkünden zu können, dass mit dem Parteitag in Brest eine nicht unwesentliche Zahl an jungen Menschen und insbesondere Jugendli- che mit Migrationshintergrund ihren Eintritt in den Conseil National bewerkstelligen konnten. [...] Unter Beobachtung einer großen Anzahl an Jugendlichen in ihren Stadt- vierteln, Hicham, Dris, Redouane, Ahmed, Rachid, Mustapha… werden sie ihren Stim- men in den nationalen oder föderalen Parteiinstanzen Gehör verschaffen. Dieses Zeichen war notwendig und wurde erwartet. Es markiert für mich den Bewusstseinswandel in- nerhalb unserer Partei, nach dem das Wort ‚Integration‘ mit Sinn und Inhalt gefüllt wer- den muss.“

222 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Hassan, Redouane, Leïla, Salime, Nicolas… et les autres pour la liberté. [...] Parce-que nous sommes Français [...] attachés aux valeurs de liberté, d’égalité, de fraternité, nous ne pou- vons assister en spectateurs aux dérives actuelles: Face aux victoires du Front national tant sur le plan des idées que sur le plan électoral, face aux discours de haine, d’intolérance, de rejet de l’autre.“80 (Ghayet 14.02.1997)

Hier werden mittels der direkten Nennung muslimisch klingender Vornamen junge Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen, die sich im Sinne der franzö- sischen Werte als Staatsbürger_innen gegen den FN81 mobilisieren sollen. Es wird aus Sicht der Partei dem Anspruch der „Integration“, der Ansprache von Jugendli- chen mit Migrationshintergrund und dem Kampf gegen den FN Rechnung getra- gen. Gleichzeitig stehen ihre Namen neben eine französisch klingendem Namen („Nicolas“), um eine gleichberechtigte Ansprache zu suggerieren. In der Forschungsliteratur lässt sich darüber hinaus eine dritte Entwicklung im Rahmen dieser Integrationsdebatte festmachen. So gründete sich nach Geisser und Stenhouse der innerparteiliche Zirkel Cercle des socialistes de culture musulmane (CSCM) am 23. Juni 1990, bei dem zum ersten Mal der Islam ein zentrales Identi- fikations- und somit Abgrenzungsmerkmal darstellte, um gegen eine Politik der In- tegration sowie gegen die Vorverurteilung des Islam einzutreten (Geisser 1997, S. 183; 186; Stenhouse 1993, S. 146). Der Kreis selbst hatte eine eigene Organisati- onsstruktur, die über einen Vorstand (Comité d’Orientation) verfügte, dessen Mit- glieder von einer Versammlung (Assemblée Générale) gewählt wurden (Stenhouse 1993, S. 147f.). Die Mitglieder des Zirkels hatten alle einen muslimischen Hinter- grund und zählten insgesamt 50, wovon die Hälfte als Mandatsträger_innen auf kommunaler Ebene für die PS engagiert waren (ebd., S. 154)82. Wie andere inner-

80 „Hassan, Redouane, Leila, Salime, Nicolas… und die Anderen für die Freiheit. [...] Da wir Franzosen sind, [...] die sich den Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ver- pflichtet sehen, können wir nicht tatenlos bleiben angesichts der Wahlerfolge des Front National sowie den Durchbruch ihrer Ideen, angesichts der Debatten, die von Hass, Into- leranz und Ablehnung des Anderen geprägt sind.“ 81 Die Partei setzte zu dieser Zeit verstärkt auf den Kampf gegen Rassismus und gegen den FN. So wurde auf Initiative des Parteichefs Mauroy 1990 eine Antirassismus-Kampagne initiiert. Mit dem Slogan wie „Le racisme sera-t-il le mur des Français? Contre Le Pen avec les Socialistes“ („Ist der Rassismus die Mauer der Franzosen? Gegen Le Pen mit den Sozialisten“) wurde dabei auf den Mauerfall in Deutschland angesprochen. Der Ras- sismus und der FN werden hier zur französischen „Mauer“ stilisiert, die es gelte „einzu- reißen.“ 82 Intellektuelle sowie Vereinsvorsitzende der Génération Beur ergänzten den Mitglieder- kreis (ebd., S. 148). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 223 parteiliche migrantische Gruppierungen lösten sie sich Mitte der 1990er Jahre auf.83 Kaum beachtet blieb in der bisherigen Forschungsliteratur, dass sich mit die- sen Auflösungsprozessen das wahrnehmbare innerparteiliche Engagement von Migranten/Migrantinnen auf die genannten Eliten begrenzte, die in verschiedenen Parteigremien verankert waren. Die 1996 eingerichtete Kommission Immigration et intégration84 ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Zum einen handelt es sich hierbei um eine Rückführung der innerparteilichen Diskussion über migrati- onspolitische Fragen in ein der Parteispitze unterstelltes Gremium. Zum anderen konzentrierte sich hier das Engagement der Parteiaufsteiger_innen mit Migrations- hintergrund85 unter dem Label „Integration“, so dass eine gruppenspezifische Inte- ressenvertretung, die sich in den verschiedenen Zirkeln und Zusamenschlüssen manifestierten, in den Hintergrund gerieten.

7.3.1 Wahlniederlagen, Arbeiterwählerpotential und Kopftuchstreit

Drei Entwicklungen führen in der dritten Phase zu einer innerparteiliche Priorisie- rung von Integration im Zusammenhang der parteipolitischen Inkorporation. Ers- tens ist die PS mit eigenen Wahlniederlagen und dem anhaltenden Erfolg des FN konfrontiert. Zweitens verändert sich die Struktur des sozialistischen Wahlpotenzi- als und drittens kommt es zur kontroversen Debatte um das Tragen des Kopftuches aus religiösen Gründen in öffentlichen Einrichtungen. Angesichts der verlorenen Kantonalswahlen 1985 und Parlamentswahlen 1986 sowie der Stimmenzugewinne der Konservativen (Ysmal 1990, S. 19f.) setzte sich die Erkenntnis durch, dass mit einer liberalen Einwanderungspolitik nur bedingt die Konservativen geschwächt werden konnten. Ebenso der anhaltende Erfolg des

83 So schaffte es beispielsweise die Groupe des Trente langfristig nicht, junge Menschen mit Migrationshintergrund für die Partei zu begeistern und zum Beitritt zu bewegen (Geisser und Soum 2008, S. 31). Darüber hinaus stellte sich die Vernetzung zwischen den maghrebinischen Eliten als schwieriger heraus als gedacht (Geisser 1997, S. 148). Auch Stenhouse stellt fest, dass die Gruppierungen CNESOM und CSCM sich langfris- tig nicht in der Partei als Lobbygruppe etablieren konnten (ebd., S. 162). 84 Gemäß meiner Dokumentenanalyse wurde die Kommission vom Sekretariat für Gesell- schaftsfragen (Secrétariat national aux questions de société) unter Führung von Adeline Hazan eingerichtet (Hazan 26.12.1997). Nach den mir vorliegenden Unterlagen muss das erste Treffen 1996 stattgefunden haben (Département de lʼAction Sociale 11.04. 1996). 85 Aufgrund der Anwesenheitslisten verschiedener Sitzungen konnte ich diese Personen identifizieren (ebd.).

224 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

FN86 führte zu einer Veränderung der politischen Landkarte. Nicht mehr nur die Konservativen, sondern auch die Sozialisten gerieten verstärkt unter Druck (Ber- gounioux und Grunberg 1992, S. 408). In diesem Zusammenhang äußern Bergou- nioux und Grunberg: „En effet, la propagande lepéniste a avivé les tendances xé- nophobes et racistes latentes dans une grande partie du monde ouvrier comme dans d’autres catégories de la population [...].“87 (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 408) Innerhalb des traditionell linken Arbeitermilieus wuchs nach dieser Aussage die Fremdendfeindlichkeit. Zudem wandte sich dieses Milieu mit dem Niedergang der kommunistischen Partei verstärkt der PS sowie dem FN zu, so dass sich beide Parteien in ihrer Wählerstruktur annäherten. So waren 30 Prozent der Wähler_- innen, die bei den Parlamentswahlen 1988 beabsichtigten, die Sozialisten zu wäh- len, Arbeiter_innen. Bei der FN lag der Anteil mit 32 Prozent auf einem vergleich- baren Niveau (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 393ff.). Gleichzeitig verbreiter- te sich damit das Wählerspektrum, da die Sozialisten bereits hohe Zustimmungs- werte unter den Angestellten und Beamten aufweisen konnten. Entsprechend nä- herte sich die Partei dem Ideal einer „Volkspartei“ an (ebd., S. 396f.). Eine linksli- berale Einwanderungspolitik stieß nicht mehr auf die gleiche Zustimmung wie An- fang der 1980er Jahre. So warb zwar Mitterrand 1988 im Präsidentschaftswahl- kampf weiterhin für das Wahlrecht für Ausländer_innen (Ireland 1996, S. 270), er stieß aber dabei unter den eigenen Wählern/Wählerinnen weit weniger auf Zu- stimmung (Bergounioux und Grunberg 1992, S. 409). Neben diesen Veränderungen kam es 1989 zur sogenannten Kopftuchdebatte (l’affaire foulard). Auslöser des Streits um das Kopftuch war das Vorkommnis, dass ein Schuldirektor drei muslimischen Schülerinnen den Zutritt zum Schulge- bäude verweigerte, da sie trotz gegenteiliger Aufforderung mit Kopftuch zum Un- terricht erschienen waren. Dieses Ereignis löste innerhalb Frankreich eine massive öffentliche und stark mediatisierte Debatte aus, welche die Assimilationsfrage in den Vordergrund rücken ließ (Favier und Martin-Roland 1996, S. 334; Noiriel 2007, S. 634-638). Auch rund 82 Prozent der linken Wähler_innen sprachen sich 1990 nach einer Umfrage von Le Monde für ein Kopftuchverbot aus (Le Monde 25.04.1990). Vor diesem Hintergrund richtete der sozialistische Premierminister Rocard das Amt eines Staatssekretärs für Integrationsfragen 1989 ein, gefolgt von

86 Der FN gewann bei den Parlamentswahlen und Regionalwahlen 1986 rund 10 Prozent der Stimmen. 1988 erzielte Jean Marie Le Pen als Präsidentschaftskandidat in der ersten Wahlrunde 14,4 Prozent der Stimmen (Perrineau 1989, S. 48f.). 87 „Tatsächlich hat die Propaganda Le Pens die xenophoben und latenten rassistischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterschaft wie in anderen Bevölkerungsschichten auffla- ckern lassen.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 225 der Gründung des Haut Conseil à l’intégration (HCI) (Hargreaves 2007, S. 183). Diese Einrichtung fokussierte sich auf die Anfertigung von Berichten und Empfeh- lungen im Zusammenhang der Integration von Migranten/Migrantinnen in die französische Gesellschaft (Hargreaves 1999, S. 195f.). Des Weiteren richtete 1991 die neue sozialistische Premierministerin Édith Cresson ein Ministerium für Sozia- le Angelegenheiten und Integration ein. In diesem Zusammenhang hält Hargreaves fest:

„Instead, the whole thrust of the preferred term ‚integration‘, was to suggest that any differ- ences separating minorities from the majority population were being reduced or eliminated by enlightened public policy. For the same reason, Rocard refused to set up a separate minis- try responsible for minority groups.“ (Hargreaves 2007, S. 183f.)

Insofern galt es, das Augenmerk nicht auf mehr auf das Recht auf Verschiedenheit (droit à la différence) und gruppenspezifische Eigenheiten zu legen, sondern die Integration des Einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Diese Entwicklung be- obachten auch Kelfaoui und Weil. Sie stellen eine Abwendung vom droit à la dif- férence hin zu einem assimilatorischen Integrationsverständnis (droit à l’indif- férence; droit à la ressemblance) (Kelfaoui 1995, S. 366f.; Weil 2005, S. 369).88

7.3.2 Rassismus, sinkende Wahlbeteiligung und die Rolle der innerparteilichen Flügel

Gleichwohl erklären diese assimilationistischen Tendenzen nur einen Teil der dar- gestellten Entwicklungen in der dritten Phase. Es müssen weitere politische Ent- wicklungen innerhalb und außerhalb Frankreichs sowie der innerparteiliche Kon- kurrenzkampf zwischen unterschiedlichen Flügeln berücksichtigt werden, um das Verhalten der politisch Handelnden zu erklären. So kam es Anfang der 1990er Jahre zu Unruhen in einigen französischen Vor- städten, an denen insbesondere Jugendliche aus eingewanderten Familien beteiligt waren. In diesem Zusammenhang verstärkte sich der Eindruck, dass die Sozialisten durch ihre vorgelagerten Organisationen wie SOS-Racisme jeglichen Einfluss auf diese Gruppe der Menschen verloren hatten (Ireland 1996, S. 272). Ferner nahmen ab Ende der 1980er Jahre sowie Anfang der 1990er Jahre rassistische Übergriffe gegen muslimische Einwanderer/Einwanderinnen sowie Juden in Frankreich zu.

88 So wird dort eine Entwicklung von einer politique d’insértion, die Anfang der 1980er Jahre eine pragmatische an den Bedürfnissen der Migranten/Migrantinnen orientierte Po- litik umfasste, hin zu einer politique d’intégration, die eine Hinwendung zu einem assi- milationistischen Integrationsverständnis beinhaltete, ausgemacht (ebd.).

226 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Die Schändung des jüdischen Friedhofs 1990 in Carpentas verstärkte die Diskussi- on in der Öffentlichkeit über Rassismus (Favier und Martin-Roland 1996, S. 346ff; Noiriel 2007, S. 652f.). Parallel sank im Laufe der 1980er Jahre die Wahlbeteili- gung. Während 1986 bei den Parlamentswahlen 21,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen nicht abgaben, waren es zwei Jahre später 34,3 Prozent. Auch auf lokaler Ebene zeigte sich ein ähnliches Muster. Gab es bei den Kantonalswahlen 1985 noch 33,3 Prozent Nichtwähler_innen, waren es drei Jahre später bereits 49,1 Prozent (Ysmal 1990, S. 25). Vor allem die 18- bis 24-Jährigen gehörten zu der Gruppe, die an Wahlen nicht teilnahmen (ebd., S. 34). Von deren Nichtbeteiligung war vor allem die PS betroffen (ebd. 25f.). Angesichts dieser Konstellation galt es, insbesondere Jungwähler_innen mit Migrationshintergrund mit einer Propagierung eines Anti-Rassismus-Kampfes zu mobilisieren. Darüber hinaus bot sich den Protagonisten der Anti-Rassismus-Bewegung die Möglichkeit, sich innerparteilich zu profilieren. So kritisierten Désir und Dray die Untätigkeit der sozialistischen Regierung im Kampf gegen Rassismus sowie die Ausrichtung der Migrantenpolitik und machten innerparteilich dagegen mobil. Als Mitglieder des linken Flügels der Partei (Nouvelle école socialiste) drohten sie, ei- ne eigenständige Liste bei den Europawahlen 1989 aufzustellen. Diese Aktion setz- te wiederum Fabius unter Druck, der nach dem entgangenen Parteivorsitz die Eu- ropaliste der Sozialisten anführte und Konkurrenz aus den eigenen Reihen fürchte- te (Favier und Martin-Roland 1996, S. 332). Zusätzlich verschärfte die bereits an- geführte Rivalität zwischen Fabius, Jospin und Rocard um eine mögliche Präsiden- tennachfolge die Situation (vgl. 7.2.2). Zu diesen individuellen Profilierungsstrate- gien und deren Einbettung in das innerparteiliche machtpolitische Spiel passte die individualisierte Förderung einzelner Migranten/Migrantinnen für diverse Partei- ämter. So trat beispielsweise Désir 1995 für den courant Gauche Socialiste89 und Ghayet für den courants von Jospin an (Le Monde 17.10.1995; Knapp 2004a, S. 69). Auch die Gründung des Cercle des socialistes de culture musulmane (CSCM) wird in der bisherigen Forschung durch ein Zusammenspiel aus innerparteilichen Normen, außenpolitischen Ereignissen und machtpolitischen Konstellationen er- klärt. So geht Geisser davon aus, dass die Mitglieder des Zirkels die Unterdrü- ckung des Islams im Zuge des „Kopftuchstreits“ als ein wiederkehrendes Muster kolonialistisch-rassistischer und kapitalistischer Unterdrückungsmechanismen sa- hen (Geisser 1997, S. 182f.). Durch die Verknüpfung von Islam und Antikapita- lismus war die Gruppe anschlussfähig an die Ideen des linken Flügels der Partei. Zudem waren sie gegen die Beteiligung Frankreichs am Golfkrieg 1990, setzten sich für den Kampf der Palästinenser in Israel sowie ein Eingreifen im Bosnien-

89 Dieser ist Nachfolger des Flügels Nouvelle école socialiste. DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 227 krieg 1992 ein (Stenhouse 1993, S. 156; Geisser 1997, S. 184f.). Damit bezogen sie klar Position gegen das Handeln der sozialistischen Regierung. Ebenso der lin- ke Flügel (Socialisme et République) unter Führung von Chevénement, der als Verteidigungsminister schließlich aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung in der Golfregion zurücktrat, versuchte sich durch Kritik an der Regierungspolitik innerhalb der Partei zu profilieren – zumal dieser Anfang der 1990er Jahre Kon- kurrenz durch eine weitere linke innerparteiliche Gruppierung (Nouvelle école socialiste) bekam. Insofern überschnitten sich die strategischen Interessen von Socialisme et République und dem CSCM. Nach Stenhouse bildete die Kritik an Rocard und dessen Flügel (Rocardiens) einen weiteren gemeinsamen Nenner zwi- schen dem Zirkel und Socialisme et République (Stenhouse 1993, S. 158f.). Rocard galt als rechts innerhalb der Partei und machte sich Anfang der 1990er Jahre durch einen restriktiven Einwanderungs- und Integrationsdiskurs bemerkbar, welcher bei beiden genannten Gruppierungen auf Widerstand stieß. Gleichzeitig begrenzte nach Stenhouse die Verquickung von Flügeln auf lange Sicht die Überlebensfähig- keit dieser innerparteilichen Gruppierungen.

7.4 VON 2002 BIS 2012: ZWISCHEN ANTIDISKRIMINIERUNGS-, VIELFALTS- UND PARTEIENWETTBEWERBSRHETORIK

Nach der Jahrtausendwende fokussierte sich die Debatte auf eine angemessene Re- präsentation von Migranten/Migrantinnen innerhalb der Partei und in den Parla- menten, wobei zum ersten Mal die Vertretung von Schwarzen thematisiert wurde. Dieses Anliegen und die damit verbundenen Maßnahmen wurden mittels unter- schiedlicher Rhetoriken legitimiert. Den Anfang bildete die Antidiskriminierungsrhetorik. So wurde zum ersten Mal die innerparteiliche Diskriminierung thematisiert und für die Unterrepräsenta- tion von sichtbaren Minderheiten verantwortlich gemacht.90 Gemäß meiner Doku- mentenanalyse wurde bei einem runden Tisch, zu dem verschiedene Vereine und Migrantenorganisationen im Dezember 2002 von der damaligen Integrationsbeauf- tragten der Partei (Secrétaire de la société), Adeline Hazan, eingeladen wurden,

90 Auch Geisser und Soum gehen in ihrer Forschungsarbeit davon aus, dass die innerpartei- liche Diskriminierung erstmals innerhalb der PS thematisiert wurde (Geisser und Soum 2008, S. 106f.). Gleichzeitig stellen sie diese Beobachtung allein ansatzweise dar, so dass im Folgenden auf die Diskussionen in diesem Themenfeld genauer eingegangen werden soll.

228 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Fragen der innerparteilichen Diskriminierung thematisiert. Im Ergebnisprotokoll dieses Treffens ist zu lesen:

„Il a enfin été fortement question de discrimination politique, plusieurs personnes rappelant que le parti devait faire une place plus importante aux Français d’origine étrangère dans les instances et au moment des élections. La France est l’un des pays de l’Union européenne qui compte le moins de personnes issues de l’immigration parmi ses élus (Parlement national, Parlement européen, Sénat notamment… ).“91 (Secrétariat National aux Questions de Société 02.12.2002, S. 3)

Demnach werden Diskriminierungen in der Politik mit der Rolle der Parteien in Verbindung gebracht. Die Verantwortung für die schlechte Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in der Politik wird somit nicht auf eine fehlende Integra- tion des Einzelnen, sondern auf die Tatenlosigkeit der Partei in ihrer Gesamtheit zurückgeführt. Noch deutlicher wurden die Teilnehmer_innen bei einem zweiten runden Tisch unter Anwesenheit des damaligen Parteivorsitzenden François Hol- lande im Februar 2003. In einem Bericht über die Veranstaltung heißt es in der Parteienzeitschrift L’Hebdo des Socialistes:

„Les discriminations dans la vie politique, et même plus précisément au PS, ça existe. [...] Radicalisé, le discours oscille entre ‚les militants issus de l’immigration ne sont là que pour coller des affiches‘ et ‚quand ils accèdent à des responsabilités, c’est pour tenir un rôle de potiche.‘“92 (Gil 15.03.2003, S. 10)

Die Teilnehmer_innen wiesen konkret auf diskriminierende Praktiken gegenüber Migranten/Migrantinnen innerhalb der Partei hin, die einen innerparteilichen Auf- stieg gänzlich verhinderte oder zumindest stark begrenzte. Laut Bericht kündigte Hollande bei diesem Treffen an, dass beim nächsten Parteitag in Dijon das Thema der Repräsentation auf der Tagesordnung stehen würde (ebd.). Ebenso einstige

91 „Im Zusammenhang der intensiven Diskussionen über Diskriminierung in der Politik er- innerten mehrere Personen daran, dass die Partei den Franzosen ausländischer Herkunft in den Parteiinstanzen sowie bei Wahlen mehr Platz zukommen lassen sollte. Frankreich ist eines der europäischen Länder, welches die wenigstens Menschen mit Migrationshin- tergrund unter ihren Gewählten hat (vor allem im Nationalparlament, im Europaparla- ment, im Senat).“ 92 „Die Diskriminierung in der Politik, genauer gesagt innerhalb der PS, gibt es. [...] Die aufgeheizte Debatte schwankt zwischen Aussagen wie „Die Parteimitglieder mit Migra- tionshintergrund sind nur zum Plakate aufhängen da“ und „Wenn sie einmal in verant- wortlicher Position sind, dann allein zur Staffage.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 229

Führungsgrößen wie Jospin ließen ein Problembewusstsein über bisherige Ver- säumnisse bei der Berücksichtigung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrati- onshintergrund erkennen. So ist im Jahresbericht der Partei von 2003 über Jospin zu lesen:

„Il a affirmé la nécessité, par souci de justice par souci d’efficacité politique, que les ins- tances nationales et locales du Parti, comme les listes électorales présentées par les socia- listes, représentent lʼensemble de la société française et proposé que des hommes et des femmes de lʼensemble des couleurs de notre pays soient, dès les élections européennes et ré- gionales de 2004, les candidats du Parti socialiste.“93 (Parti socialiste 2003c, S. 20)

Entsprechend avancierte die Repräsentationsfrage zu einem Thema des Führungs- zirkels der Partei und führte zu verschiedene Beiträgen (contributions thématiques) auf Parteitagen, in denen die innerparteiliche Diskriminierung problematisiert wur- de. In einem Antrag des Parteitags in Dijon 2003 mit dem Titel Vivre en France à l’égalité de droits, welcher als Resultat der runden Tische94 gesehen werden kann, heißt es:

„Cette représentation devrait être exemplaire d’une lutte contre les discriminations prioritai- rement au sein des instances de notre Parti. [...] A nous, socialistes, de montrer l’exemple dans notre représentation politique et de savoir donner, dans nos propres instances [...], toutes leur place aux personnes issues de l’immigration ou perçues comme telles.“95 (Secré- tariat National 2003, S. 12)

Die Repräsentationsfrage wird hier zum Gradmesser der Bekämpfung innerpartei- licher Diskriminierungen erhoben, dem sich die Partei zu stellen habe. In einem

93 „Aus Gerechtigkeits- und Effizienzüberlegungen heraus bekräftigte er die Notwendig- keit, dass die nationalen und lokalen Parteigliederungen dafür Sorge zu tragen haben, dass sich auf den Kandidatenlisten die gesamte französische Bevölkerung widerspiegelt. So schlug er vor, dass Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft die Kandidaten der sozialistischen Partei schon bei den Europa- und Regionalwahlen 2004 sein sollten.“ 94 Dieser Beitrag wurde unter anderem von Adeline Hazan und andere Exper- ten/Expertinnen der Migrantenpolitik (z.B. Harlem Désir, Jean Le Garrec, Faycal Douhane) unterstützt, die an den runden Tischen beteiligt waren. 95 „Die Repräsentationsfrage sollte exemplarisch für den Kampf gegen Diskriminierung innerhalb unserer Parteigliederungen stehen. [...] Es ist an uns, Sozialisten, beispielhaft bei der politischen Repräsentation voranzugehen und für einen angemessenen Platz für Menschen mit Migrationshintergrund – bzw. jene, die als solche wahrgenommen werden – in unseren eigenen Reihen [...] zu sorgen.“

230 | PARTEIEN UND MIGRANTEN weiteren Beitrag mit dem Titel Lutter contre les discriminations au sein du PS (Gegen Diskriminierungen innerhalb der PS kämpfen) ist zu lesen:

„Les sens de responsabilités nous commande de témoigner qu’il existe encore, y compris dans nos propres rangs hélas, une minorité porteuse de préjugés qui renvoie les militants is- sus de l’immigration, de manière pour le moins inélégante à leurs origines, à leurs cultures et à leurs civilisations. Evoquer le ‚plombage des listes‘ dû à la présence de citoyens issus de l’immigration revient en réalité à: [...]; tenter de préserver la mainmise habituelle sur une chasse gardée, par ceux qui ne semblent pas à s’embarrasser du cumul de mandats indiffé- renciés; renforcer l’image négative d’un appareil politique dont la seule vocation serait de ‚fabriquer des élus‘. Certains d’entre eux n’hésitent pas à utiliser des méthodes reprochées à nos adversaires, en ayant recours au clientélisme local, sans autre souci que de maintenir leurs mandats dans la durée.“96 (PS 2003a, S. 107)

Hier wird auf vorhandene innerparteiliche Vorurteile gegenüber Migranten/Mi- grantinnen aufmerksam gemacht, die zum Zweck der Machterhaltung von politi- schen Verantwortlichen genutzt werden würden und sich somit diskriminierend auf die Teilhabe der Menschen mit Migrationshintergrund auswirkten. Vor dem Hin- tergrund dieser Diskriminierungsstrukturen wurde die Schaffung eines Gremiums auf der Ebene der Parteiführung vorgeschlagen, das auf verschiedenen Ebenen der Partei für die Repräsentationsfrage sensibilisieren, Parteimitglieder mit Migrati- onshintergrund individuell fördern sowie eigene Vorschläge bei der Kandidaten- aufstellung einbringen sollte (ebd., S. 110). Der zweite Legitimationsstrang ist die Vielfaltsrhetorik (promotion de la diver- sité)97. So ist auf dem Parteitag in Dijon 2003 im Abschlussdokument unter der

96 „Es liegt in unserer Verantwortung, darauf aufmerksam zu machen, dass es leider auch in unseren eigenen Reihen noch eine Minderheit gibt, die vorurteilsbeladen ist und unse- re Parteimitglieder mit Migrationshintergrund auf unfeine Art und Weise auf ihre kultu- rell-zivilisatorische Herkunft reduzieren. Die ‚Auffüllung‘ von Listen mit Kandidieren- den mit Migrationshintergrund läuft in Wirklichkeit darauf hinaus: [...]; dass jene, die sich nicht an der Anhäufung ihrer unzähligen Ämter stören, die Kontrolle über einen eingespielten Machtkampf behalten wollen; dass das negative Image einer Politik, der es allein um die ‚Herstellung‘ von Gewählten geht, verstärkt wird. Einige unter ihnen zö- gern nicht, die gegnerischen Methoden einer Klientelpolitik allein aus Sorge um ihre langfristige Machterhaltung anzuwenden.“ 97 Meine Beobachtungen stehen im Einklang mit neueren Forschungsarbeiten im Bereich politischer Parteien und Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund. Escrafret-Dublet und Simon beobachten eine Verbreitung des Begriffs innerhalb des par- teipolitischen Diskurses (Escrafé-Dublet und Simon 2009, S. 126). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 231  Überschrift Un parti plus représentatif de la société (Eine gesellschaftlich- repräsentativere Partei) zu lesen: „C’est sur la constitution de nos listes pour les prochaines élections régionales et européennes qu’il faut être le plus volontaire. Je prends l’engagement d’y faire figurer toute la diversité de notre parti et de notre pays [...].“98 (Hollande 2003, S. 12) Es ist nicht mehr die Rede von Diskriminierung oder diskriminierenden Struk- turen innerhalb der Partei. Stattdessen soll die Vielfalt in der PS und der Gesell- schaft besser repräsentiert werden. Auch im Hauptantrag Hollandes auf dem Par- teitag in Mans 2005 wird die innerparteiliche Repräsentation mit dem Anspruch der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Vielfalt verbunden: „Le Parti socialiste peut s’enorgueillir d’avoir sur ses listes assuré la représentation de la diversité de toute la société et fait élire des conseillers régionaux et des députés européens issus de l’immigration.“99 (Hollande 2005, S. 33) Ferner ist im Hauptantrag der zweitgrößten innerparteilichen Gruppierung unter Führung von Fabius (courant Laurent Fabius) die Rede von der Förderung der innerparteilichen Vielfalt (Fabius 2005, S. 82). Darüber hinaus bleibt der Begriff in seiner Definition nicht eindeutig, wenn- gleich sich drei definitorische Grundlinien erkennen lassen, auf die sich oftmals gleichzeitig bezogen wird.100 Erstens wird mit diversité auf den Migrationshintergrund (issus de l’immigration) oder auf sichtbare Minderheiten (minorités visibles) bzw. Buntheit abgezielt (toutes les couleurs) (Hollande 25.01.2003, S. 12). In einer Stellungs- nahme unter dem Titel La diversité et le Parti Socialiste auf dem Parteitag 2008 in Reims heißt es dazu kritisch: 

 98 „Bei den Listenaufstellungen der nächsten Regional- und Europawahlen müssen wir energischer sein. Ich setzte mich dafür ein, dass sich dort die gesamte Vielfalt unserer Partei und unserer Nation widerspiegeln wird.“ 99 „Die sozialistische Partei kann stolz darauf sein, dass sie darauf bedacht war, dass ihre Kandidatenlisten die ganze gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln sowie Regionalräte und Europaabgeordnete mit Migrationshintergrund gewählt wurden.“ 100 Grundsätzlich stellen auch andere Forscher_innen die Mehrdeutigkeit des Vielfaltsbe- griff in der parteipolitischen Debatte fest, ohne dabei eine Systematisierung vorzuneh- men (Avanza 2010b, S. 749f.; 754; Masclet 2012).

 232 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„La diversité comme catégorie ne s’applique que pour les français issus de l’immigration dont la couleur de peau n’est pas blanche. Un noir fait partie de la diversité. Ses parents, ses grands-parents, ses arrières grands-parents… peuvent être Français toujours, il fait quand même partie de la diversité. [...] Enfin, la diversité se définit par le prénom ou la religion. Rachid, Amara, Mamadou, Fatoumata, Gökhan font obligatoirement parti de la diversité, di- versité issue de l’Afrique sub-saharienne, maghrébine ou turque.“101 (Boutih et al. 2008, S. 3f.)

Insofern manifestiert sich Vielfalt hier in der Kumulation und Überschneidung ver- schiedener Eigenschaften von der Hautfarbe, über den Vornamen bis zur Religi- onszugehörigkeit. Zweitens ist wie im Parteienstatut von 2012 ganz allgemein die Rede von der Förderung einer diversité sociologique, d.h. einer gesellschaftlichen Vielfalt (Parti socialiste 2012a, Artikel 1.4.2). Daran anschließend wird auch von einer diversité der sozialen Schichten gesprochen (catégories sociales) (Hollande 25.01.2003, S. 12). Ähnlich sieht es im Erneuerungsprogramm (rénovation) im Zusammenhang der Vorbereitung der Präsidentschaftswahlen 2012 aus (Parti socialiste 2010, S. 1f.). Diversité wird hier wie folgt definiert: „Quant à la diversité, elle doit s’en- tendre globalement tant pour les minorités issues de l’immigration ou de l’Outre- mer que pour les classes populaires.“102 (Ebd., S. 6f.) Somit machen der Migrationshintergrund, die Hautfarbe103 sowie der soziale Hintergrund den Vielfaltsbegriff aus. Ein dritter Strang setzt diversité mit individuellen Ressourcen und Potenzialen gleich. So heißt es in einem weiteren Beitrag unter dem Titel Indigènes hier, discriminés aujourd’hui (Eingeboren gestern, heute Diskriminierte) auf dem Par- teitag 2005:

101 „Vielfalt als Kategorie bezieht sich allein auf Franzosen mit Migrationshintergrund, deren Hautfarbe nicht weiß ist. Ein Schwarzer ist Teil der Vielfalt. Seine Eltern, seine Großeltern, seine Ur-Großeltern … können schon immer Franzosen gewesen sein, sie bleiben dennoch Teil der Vielfalt. [...] Schließlich wird Vielfalt am Vornamen oder an der Religion festgemacht. Rachid, Amara, Mamadou, Fatoumata, Gökhan sind zwangsweise Teil der Vielfalt, einer schwarzafrikanischen, maghrebinischen und türki- schen Vielfalt.“ 102 „Was die Vielfalt betrifft, so muss diese ebenso die Minderheiten mit Migrationshin- tergrund oder aus den Überseegebieten sowie Menschen der sozialen Unterschicht um- fassen.“ 103 Die Formel l’outre mer steht für Franzosen/Französinnen aus den Überseegebieten, die als französische Staatsbürger_innen nicht als Einwanderer/Einwanderinnen bezeichnet, aber mit einem sichtbaren Hintergrund assoziiert werden. DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 233

„La diversité est une réalité, un fait définitivement et légitimement ancré dans la société française du 21e siècle. Il ne s’agit donc plus de la promouvoir mais de la laisser exprimer son potentiel dans toute la sphère publique. [...] Pour cela, nos représentants doivent être re- connus pour leur engagement socialiste, leur compétence et leur capacité à apporter une plus-value au Parti et à la société dans son ensemble.“104 (Parti socialiste 2005b, S. 153)

Eine gezielte Förderung von Vielfalt wird hier abgelehnt. Vielmehr geht es um die Anerkennung individueller Leistungen, die als Bereicherung für die Partei gesehen werden. Diese Mehrdeutigkeit in der Verwendung des Vielfaltbegriffs lässt sich nicht nur in Anträgen und thematischen Beiträgen der Parteitage erkennen, sondern auch in anderen Bereichen. So zeigte das Titelblatt der Parteizeitschrift L’Hebdo des Socialistes 2010) im Kontext der Regionalwahlen 2010 die Gesichter aller Kandi- daten/Kandidatinnen, die auch sichtbare Minderheiten umfassten. Hier ist zu lesen: „Des listes à l’image de la France qu’on aime, renouvélées de 30% à 65% selon les régions, rajeunies, expressions de la diversité sociale et culturelle.“105. Eine Vermischung verschiedener Kategorien wie Alter, Migrationshintergrund und soziale Herkunft ermöglicht eine Assoziation mit mehr oder weniger allen Kanndidaten/Kandidatinnen. Vielfalt bleibt, ähnlich im Fall der SPD (vgl. 4.5), mehrdeutig. Des Weiteren wurden in einem Wahlwerbespot von 2012 die Neuge- wählten der Nationalversammlung unter dem Slogan égalité, diversité und renou- vellement vorgestellt. Zu sehen sind unter Einblendung der jeweiligen Schlagwör- ter die Gesamtheit der Gewählten: Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sichtbare Minderheiten, Junge und Alte. Der Begriff „Viel- falt“ kann demnach nicht mehr eindeutig einer Kategorie zugeordnet werden (Parti socialiste 2012b). Schließlich wird eine stärkere Repräsentation durch den politischen Wettbe- werb mit den Konservativen (UMP)106 legitimiert, wobei der Vielfalts- und Dis- kriminierungsbegriffs als Bezugspunkt oder als Gegenstand einer inhaltlichen

104 „Die Vielfalt ist Realität, eine Tatsache der französischen Gesellschaft im 21. Jahrhun- dert. Es geht deshalb nicht mehr darum, diese Vielfalt zu fördern, sondern ihr den Raum zu geben, damit sie ihre Potentiale im öffentlichen Sektor entfalten kann. Aus diesem Grund sollten unsere Gewählten für ihr Engagement bei den Sozialisten, ihre Fähigkeiten und ihr Vermögen, die Partei und die Gesellschaft zu bereichern, aner- kannt werden.“ 105 „Kandidatenlisten, die Frankreich so widerspiegeln wie wir es lieben, erneuert um 30 bis 65 Prozent je nach Region, verjüngt, Ausdruck der sozialen und kulturellen Viel- falt.“ 106 Union pour la Majorité Présidentielle.

234 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Auseinandersetzung dient. So heißt es in einem Antrag auf dem Parteitag 2003 in Dijon:

„Les Français issus de lʼimmigration sont électeurs et éligibles! [...] la République assure mal [...] la représentation de la société dans sa diversité. Nous portons notre part de respon- sabilité dans la montée de lʼabstention parmi les Français qui éprouvent un sentiment dʼabandon, ou dans le glissement vers la droite dʼune part de lʼélectorat issu de lʼimmigration.“107 (Parti Socilaiste 2003b, S. 51)

Die mangelnden Anstrengungen der Sozialisten für eine angemessene Repräsenta- tion von Menschen mit Migrationshintergrund werden hier als Gründe für die hohe Nichtwählerquote sowie den Verlust von Wählerstimmen an die Konservativen angeführt. Gleichzeitig heißt es zur Wahl von Bariza Khiari zur ersten sozialisti- schen Senatorin mit Migrationshintergrund in der Parteienzeitschrift L’Hebdo des Socialistes:

„Depuis le congrès de Dijon en 2003 et l’engagement du premier secrétaire sur la représenta- tivité du parti, la discrète Bariza Khiari s’est en effet beaucoup impliquée en faveur d’une ré- elle émergence politique des Français d’origine étrangère, qui ne serait pas accaparé par la droite.“108 (Tranchant 02.10.2004, S. 11)

Bariza Khiari wird hier als positives Beispiel für ihren Einsatz für eine verstärkte Repräsentation von Franzosen/Französinnen ausländischer Herkunft gelobt. Die Konservativen werden hingegen in diesem Feld als passiv konstruiert. Auch im be- reits zitierten Beitrag Lutte contre les discriminations: pour un PS à la tête du combat! (Für eine PS an der Sperrspitze des Kampfes gegen Diskriminierung) spielt die Konkurrenz zur UMP eine Rolle:

107 „Die Franzosen mit Migrationshintergrund sind Wähler und wählbar! [...] die Republik sorgt nur schlecht [...] für die Repräsentation der vielfältigen Gesellschaft. Wir tragen unseren Teil der Verantwortung für das Ansteigen der Wahlenthaltung unter den Fran- zosen, die sich nicht berücksichtigt fühlen, oder für das Abdriften eines Teils unserer Wählerschaft mit Migrationshintergrund nach rechts.“ 108 „Seit dem Parteitag 2003 in Dijon und dem Engagement des Parteivorsitzenden für mehr Repräsentation in der Partei hat sich die diskrete Khiari für eine wirkliche Sicht- barkeit von Franzosen ausländischer Herkunft eingesetzt, welche man vergeblich bei den Rechten sucht.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 235

„Alors que la droite tente de s’approprier la question de la lutte contre les discriminations [...] le Parti peine à se faire entendre sur ces problématiques. Pourtant, au-delà de ses effets d’annonce, de son discours démagogique sur la ‚discrimination positive‘ ou encore des no- minations très ponctuelles de ministres issus de l’immigration, [...] la droite n’offre aucune perspective: le Parti socialiste demeure le mieux qualifié pour répondre aux attentes des Français dans ce domaine.“109 (Parti socialiste 2005a, S. 97)

Zunächst wird die Befürchtung geäußert, dass die Konservativen im Kampf gegen Diskriminierung bei den Wählern/Wählerinnen mehr Gehör finden könnten als die Sozialisten. Nichtsdestotrotz werden deren Maßnahmen, wie die Einführung posi- tiver Maßnahmen, etwa die Einführung von Quoten für Personen mit einem sicht- baren Migrationshintergrund, als Blendwerk abgetan, um die Position der eigenen Partei in diesem Feld positiv abzuheben. Aufgrund dieser Diskussionen reagierte die Parteispitze mit der Einrichtung verschiedener Strukturen, die beauftragt wurden, insbesondere die genannten Her- ausforderungen anzugehen. So richtete im Jahr 2008 die Parteispitze das Amt des Secrétaire national à l’égalité, diversité et promotion sociale (Sekretär für Gleich- heit, Vielfalt und soziale Förderung) ein. Des Weiteren wurde unter der Rigide die- ses Parteisekretärs die Kommission für Renouvellement et diversité (Erneuerung und Vielfalt) initiiert, die laut eigener Beschreibung das Heranwachsen einer nou- velle génération politique unterstützen sowie eine möglichst breite Beteiligung von Bürgern/Bürgerinnen anschieben sollte.110 Faouzi Lamdaoui, ein Politiker algeri- scher Herkunft, leitete diese Kommission. Neben diesen Veränderungen wurden jedoch keine formellen Quoten für Migranten/Migrantinnen in Partei- und Wahl- ämtern beschlossen. Aufgrund der bestehenden Repräsentationslücke bildete sich ferner ein inner- parteilicher Zusammenschluss von Parteimitgliedern maghrebinischer Herkunft unter dem Namen Priarial 21 im Jahr 2004 (Geisser und Soum 2008, S. 108). Es handelte sich dabei um eine Mobilisierung von der Parteibasis aus, die nach Anga-

109 „Während die Rechte versucht, den Kampf gegen Diskriminierung auf ihre Fahnen zu schreiben [...] schafft die Partei es kaum, sich Gehör zu verschaffen. Nichtsdestotrotz bietet die Rechte jenseits leerer Versprechen, einer hetzerischen Debatte über ‚positive Diskriminierung‘ oder punktuellen Ernennungen von Ministern mit Migrationshinter- grund keine Perspektive: Es ist immer noch die sozialistische Partei, die die Erwartun- gen der Franzosen in diesem Bereich am ehesten erfüllen kann.“ 110 Vgl. http://www.parti-socialiste.fr/communiques/creation-de-la-commission-renouve llement-et-diversite-du-parti-socialiste; letzter Zugriff am 15.02.2015.

236 | PARTEIEN UND MIGRANTEN ben von Avanza maßgeblich von Faycal Douhane111 unterstützt wurde (Avanza 2010b, S. 746). Sie machten auf die diskriminierenden Strukturen der Partei auf- merksam und setzten sich für mehr Vielfalt in Partei- und Wahlämtern ein. Zudem wehrten sie sich gegen eine Ethnisierung des Vielfaltsbegriffs und versuchten die Bedeutung der sozialen Schicht sowie individueller Fähigkeiten hervorheben (ebd., S. 747; Geisser und Soum 2008, S. 104; 108f.). Ferner gründeten sich 2006 Equité, ein innerparteilicher Zusammenschluss von Franzosen/Französinnen schwarzer Hautfarbe, die für mehr Sichtbarkeit von schwarzen Politikern/Politikerinnen in- nerhalb der PS kämpften (Geisser und Soum 2008, S. 119f.). Somit organisierten sich erstmals vor allem Schwarze in einer Gruppe. Prominentes Beispiel ist die Durchsetzung der Kandidatur von George Pau-Langevin aus Guadeloupe für einen Parlamentssitz in einem aussichtsreichen Wahlkreis in Paris. Pau-Langevin stieß dabei auf massiven Widerstand des bisherigen Wahlkreiskandidaten und Abgeord- neten. Diese Gegenwehr konnte unter anderem durch die Androhung des Rücktritts von Viktorine Lurel als Parteisekretär der Überseeterritorien gebrochen werden (Laurence und Maxwell 2012, S. 26). Auch nahmen die Mitglieder von Equité vor und nach den Wahlen immer wieder Stellung zu den Fortschritten in Repräsentati- onsfragen. So veröffentliche der Gründer Louis-Mohamed Seye eine Stellungnah- me nach den Kommunal- und Kantonalswahlen 2008 auf der Homepage von Équité:

„Aucun maire [...] et aucun conseiller général d’origine africaine subsaharienne [...] ne sont sortis des urnes à l’issue de ces élections municipales et cantonales. Ce constat ne fait que nous renforcer dans notre détermination à combattre les discriminations politiques par le biais du mouvement EQUITE.“112

Hier wird an erster Stelle auf das Fehlen schwarzafrikanischer Bürgermeis- ter_innen hingewiesen, was das grundsätzliche Anliegen von Équité unterstreicht.

111 Douhane selbst war Mitglied im Conseil National seit 2005 und Vertrauter der Füh- rungspersönlichkeit Fabius (Avanza 2010b, S. 746; Geisser und Soum 2008, S. 32). Entsprechend ist davon auszugehen, dass Prairial 21 auch von Teilen der Parteispitze unterstützt wurde. 112 „Kein Bürgermeister [...] und kein Conseiller Général schwarzafrikanischer Abstam- mung [...] wurden bei den Kommunal- und Kantonalswahlen gewählt. Diese Tatsache ist uns weiterer Ansporn, uns mittels der Bewegung Equité gegen politische Diskrimi- nierungen einzusetzen“ (vgl. http://clubequite.over-blog.net/article-21494585.html; letzter Zugriff am 14.05.2014). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 237

7.4.1 Im Spannungsfeld der Antidiskriminierungs- und Vielfaltsdebatte

Die zwei im vorherigen Kapitel herausgearbeiteten und dargestellten Debatten las- sen sich anhand von Umwelteinflüssen erklären, die anschlussfähig an innerpartei- liche Debatten waren. So ist ein Grund für die innerparteiliche Antidiskriminie- rungsrhetorik in den sich verändernden gesellschaftlichen Diskussionen über den Umgang mit Einwanderern/Einwanderinnen und deren Nachkommen zu sehen. Ab Mitte der 1990er Jahren geriet die Integrationspolitik verstärkt unter Druck, da sich vor dem Hintergrund erster wissenschaftlicher Studien unter den politi- schen Eliten zunehmend die Erkenntnis durchsetzte, dass der Anspruch einer Gleichbehandlung aller Franzosen und Französinnen unabhängig von der Hautfar- be in der Realität nicht erfüllt wurde (Lépinard 2008, S. 103; Masclet 2012, S. 25). Darüber hinaus kam es angesichts alltäglicher Diskriminierungserfahrungen ver- mehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Jugendlichen mit Migrations- hintergrund und der Polizei sowie zu einer generellen Ausbreitung der Gewalt im öffentlichen Raum (Hargreaves 2007, S. 187f.). Ferner waren maghrebinische Ju- gendliche an den Terroranschlägen, die von islamistischen Gruppen aus Algerien durchgeführt wurden und sich gegen die Zivilbevölkerung in Frankreich richteten, beteiligt. Ein Grund für deren Unterstützung wurde in ihren Ausgrenzungserfah- rungen gesehen (Hargreaves 2007, S. 187). Vor dem Hintergrund dieser Entwick- lungen beauftragte der damalige konservative Premierminister Alain Juppé den Haut Conseil à l’intégration (HCI) einen Bericht über das Ausmaß der rassisti- schen Diskriminierungen sowie mögliche Gegenmaßnahmen anzufertigen. Als der Bericht veröffentlicht wurde, waren mittlerweile die Sozialisten unter Premiermi- nister Jospin an der Regierung (ebd., S. 188). Die Sozialistin Martine Aubry war nun als Ministerin für Arbeit und Solidarität für die Verwertung der Ergebnisse des Berichts zuständig. Sie erklärte 1998 den Kampf gegen rassistische Diskriminie- rung zu einer Priorität der Regierung. Sie erkannte damit an, dass die soziale Ex- klusion von Migranten/Migrantinnen nicht durch kulturelle Unterschiede, sondern durch Rassismus und Diskriminierung bedingt war (ebd., S. 189). Demnach ging es nicht mehr allein um die soziale und kulturelle Assimilation der Migran- ten/Migrantinnen, sondern auch um die Identifizierung und Bekämpfung rassisti- scher Alltagspraktiken. Der Integrationsbegriff hatte angesichts einer verfehlten Politik ausgedient und fand nunmehr in der Antidiskriminierungsrhetorik einen Nachfolger (Noirel 2006, S. 177). Zudem wurde diese Neuausrichtung durch Entwicklungen auf europäischer Ebene gestützt. So sah bereits der Entwurf des europäischen Vertrags von Amster- dam von 1997 Antidiskriminierungsmaßnahmen vor, die generell die Regierungen in Europa für das Thema sensibilisieren sollten (Masclet 2012, S. 30f.). Mit der Verabschiedung des Vertrags 1999 wurde darüber hinaus das Feld der Antidiskri-

238 | PARTEIEN UND MIGRANTEN minierungspolitik vergemeinschaftet. Von nun an mussten die Regierungen in Eu- ropa den Richtlinien und Verordnungen der europäischen Kommission im Bereich der Antidiskriminierungspolitik umsetzen. Die Gründung des Groupe d’étude et de lutte contre les discriminations (GELD) im Jahre 2000113 war entscheidend durch eine europäische Antidiskriminierungsrichtlinie beeinflusst (Lépinard 2008, S. 104). Diese Entwicklungen waren anschlussfähig an die Normen und Werte einer be- stimmten innerparteilichen Gruppe, die sich seit den 1980er Jahren im Kampf ge- gen Rassismus und Antidiskriminierung stark machte. Neu war die Projizierung der Antidiskriminierungsfrage auf die eigenen Parteistrukturen. Diese Kanalisie- rung kann dadurch erklärt werden, dass sich ab Ende der 1990er Jahre ein Be- wusstsein über Marginalisierung von sichtbaren Minderheiten innerhalb der Partei entwickelte. Begriffe wie l’Arabe de Service (Wihtol de Wenden und Leveau 2007, S. 96) oder pseudo-visibilité (Hily et al. 1998, S. 23) beschrieben eine Situation, in der einzelne Kandidaten/Kandidatinnen maghrebinischer Herkunft zusätzliche Stimmen generieren sollten, ohne eine reelle Chance auf Machtbeteiligung zu er- halten. Auch wurde nach den Erkenntnissen von Geisser und Soum zunehmend das innerparteiliche Vorurteil kritisiert, nach dem die Wähler_innen noch nicht für ei- nen Kandidaten oder eine Kandidatin mit sichtbarem Migrationshintergrund stim- men würden (Geisser und Soum 2008, S. 105f.). Zudem wurde immer deutlicher, wie gering die Repräsentation dieser Gruppe von Menschen war. So konnten viele der Gewählten bei den Kommunalwahlen 1989 ihren Erfolg sechs Jahre später nicht wiederholen (Garbaye 2007, S. 85). Noch geringer sah es mit der Repräsenta- tion auf den anderen politischen Ebenen aus. Geisser und Soum stellen in ihren Er- hebungen fest, dass 1994 kein Mensch mit außereuropäischen Wurzeln in das Eu- ropaparlament gewählt wurde. Bei den Parlamentswahlen 1997 schaffte es mit Yamgnane nur ein Sozialist mit afrikanischen Wurzeln in die Nationalversamm- lung. Dies entsprach einem Anteil von 0,17 Prozent an allen Gewählten (Geisser und Soum 2008, S. 198). Ebenso der politische Aufstieg bzw. die innerparteiliche Förderung einzelner Personen mit Migrationshintergrund, wie beispielsweise Désir oder Malek Boutih, änderte nichts an der Tatsache, dass im Jahre 2000 nur vier von 185 Führungsmitgliedern der Partei außereuropäische Wurzeln aufwiesen (Geisser und Soum 2008, S. 110).

113 Bereits 1999 gab es den Groupe d’étude sur les discriminations (GED), der sich zur Aufgabe machte, Diskriminierungen zu analysieren und die Ergebnisse zu publizieren. Der GELD hatte darüber hinaus die Funktion, Maßnahmen zur Bekämpfung der Dis- kriminierung zu entwickeln (vgl. http://discriminations-egalite.cidem.org/index.php? page=discrimination; letzter Zugriff am 27.06.2013). DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 239

Wie kann jedoch erklärt werden, warum in den folgenden Jahren die Diskussi- on über die innerparteiliche Inkorporation von Menschen mit sichtbarem Migrati- onshintergrund vermehrt unter dem Aspekt einer Förderung von Vielfalt forciert wurde? Ein Grund hierfür ist, dass sich in der öffentlichen Debatte Widerstand ge- gen eine Antidiskriminierungspolitik entlang ethnischer Kriterien entwickelte. So gab es zum einen massive Einwände gegen die Einführung von Statistiken, die auch Informationen über den ethnischen Hintergrund enthalten sollten (statistique ethnique), um das Ausmaß der Diskriminierungen feststellen zu können. Eine der- artige Maßnahme wäre entgegen der republikanischen Tradition, nach der franzö- sische Staatsbürger_innen nicht nach ihrer Religion oder ihrer ethnischen Herkunft unterschieden werden sollten (vgl. zur Debatte Simon 2008a, 2008b). Ferner wur- den Befürchtungen laut, dass erst mit einer solchen Intervention Gruppenunter- schiede generiert oder zumindest verschärft würden (Hargreaves 2007, S. 192). Des Weiteren kam es 2003 erneut zu einer öffentlichen Debatte über das Tragen eines Kopftuches im Schulunterricht, als der neue Präsident Jaques Chirac eine Kommission einberief, innerhalb derer über die Vereinbarkeit des Kopftuchtragens in öffentlichen Schulen mit dem Prinzip des Laizismus diskutiert wurde (Geisser 2003, S. 19). Parallel schob der damalige konservative Innenminister Nicolas Sar- kozy die Kontroverse über die Einführung positiver Maßnahmen, wie beispiels- weise die Quotierung von Ämtern nach ethnischer Herkunft, an, als er in einem Fernsehinterview 2003 das Scheitern der bisherigen Integrationspolitik erklärte, ei- ne Neuausrichtung der Politik durch die Einführung von positiven Maßnahmen forderte sowie die Ernennung eines muslimischen Präfekten ankündigte (Har- greaves 2007, S. 196; Simon 2007). Auch wenn Sarkozy in weiteren Diskussionen klarstellte, dass es ihm nicht um eine Bevorzugung ethnischer oder religiöser Min- derheiten ginge, sondern um eine Quotierung entlang gebietsräumlicher Kriterien, war die Kontroverse über positive Maßnahmen auf Basis ethnischer Kriterien ent- brannt (ebd.). Nach Auffassung von Escafré-Dublet und Simon bekam der Diskri- minierungsbegriff im Zusammenhang von Repräsentationsfragen eine zunehmend negative Konnotation und verlor somit an Legitimität (Escrafé-Dublet und Simon 2009, S. 9; Masclet 2012, S. 73). Zur gleichen Zeit kam es insbesondere zu einer Ausbreitung des diversité- Begriffs im Medien- und Unternehmensbereich. So wurde die geringe mediale Prä- senz von sichtbaren Minderheiten unter dem Deckmantel einer Vielfaltsförderung diskutiert (Doytcheva 2010, S. 425; Escrafé-Dublet und Simon 2009, S. 126). Fer- nere trugen französische Unternehmer_innen dazu bei, dass die Förderung von Vielfalt innerhalb der Unternehmen stärker thematisiert wurde. Basierend auf den Vorschlägen der wirtschaftsnahen Ideenfabrik Institut de Montaigne, wurde von 35 Unternehmenschefs eine Charte de la diversité („Charta der Vielfalt“) formuliert, nach der Unternehmen die Vielfalt bei der Rekrutierungspolitik berücksichtigen und fördern sollten (Doytcheva 2010, S. 427; Simon 2007, S. 158). Im Falle der

240 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Firmen bot der Vielfaltsbegriff drei wesentliche Vorteile. Erstens musste offener von Rassismus und rassistischen Strukturen innerhalb von Unternehmen gespro- chen werden (Rudder und Vourcʼh Francois 2006, S. 198). Zweitens wurde die Förderung einer vielfältigen Repräsentation mit dem Ziel einer Ausnutzung indivi- dueller Ressourcen verbunden und somit positiv konnotiert (Doytcheva 2010, S. 429; Escrafé-Dublet und Simon 2009, S. 133). Drittens bot die semantische Ambi- guität des Begriffs (Doytcheva 2010, S. 424; Masclet 2012, S. 79) den Vorteil, of- fiziell weitere Gruppen in die Definition miteinzubeziehen, um dem Vorwurf einer Minderheitenpolitik bzw. eine Ethnisierung sozialer Zusammenhänge zu begegnen. Auch wenn Esrcafé-Dublet und Simon davon ausgehen, dass die Sozialisten im Gegensatz zu den Konservativen einer unternehmerischen Instrumentalisierung und Ökonomisierung von Differenz gegenüber skeptisch eingestellt sind (Escrafé- Dublet und Simon 2009, S. 133), so vermögen vergleichbare Gründe die Verwen- dung und letztliche Dominanz des Vielfaltsbegriffs innerhalb der PS zu erklären. Zunächst konnten, wie im Fall der SPD (vgl. 4.5.1), mit diesem aufgrund seiner Mehrdeutigkeit unterschiedliche innerparteiliche Positionen unter einen Nenner gebracht werden. Auf der Seite waren die Verfechter_innen traditioneller Normen und Werte, die ihren Ausdruck in einem Bekenntnis zum Republikanismus im Sin- ne der Gleichheit und Freiheit des Einzelnen vor dem Staat, dem Laizismus sowie in der sozialen Gerechtigkeit sahen. Aus ihrer Warte war eine Reduzierung auf den ethnisch-kulturellen bzw. religiösen Hintergrund problematisch. Auf der anderen Seite gab es die Befürworter_innen einer Antidiskriminierungs- und aktiven inner- parteilichen Förderpolitik von sichtbaren Minderheiten. Der Vielfaltsbegriff eröff- nete aufgrund seiner inhaltlichen Ambiguität eine Möglichkeit, diese verschiede- nen Positionen scheinbar widerspruchlos aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund konnten umstrittene Punkte wie die Einführung positiver Diskriminierungsmaß- nahmen für sichtbare Minderheiten abgelehnt werden, da dies zu einer einseitigen Interpretation des Vielfaltsbegriffs geführt hätte (Masclet 2012, S. 106). Gleichzei- tig blieben zumindest informell Spielräume für eine Förderung verschiedenster Bevölkerungsgruppen, die durch das Fehlen formalisierter Regeln von selbst die Angriffsfläche der Gegner_innen reduzierten. Darüber hinaus müssen nach Salzbrunn, unter Verweis auf Cédiey (2007) und Masclet (2012), die unterschiedliche Logik einer Antidiskriminierungspolitik und einer Politik der diversité berücksichtigt werden, um dessen Verbreitung innerhalb von Organisationen zu verstehen. Während Diskriminierungen in „Akten, Prakti- ken, Behandlungen und Anordnungen, d.h. in operativen Prozessen“ eingebettet seien, die allein durch das Aufzeigen und Unterbinden benachteiligender Praktiken und Mechanismen bekämpft werden könnten, komme es mit diversité zu einem Perspektivenwechsel (Salzbrunn 2014). Hier stehe eine verbesserte Repräsentation von Personen und Gruppen im Vordergrund, ohne dabei zwangsweise diskriminie- rende Strukturen aufzulösen, so dass sich die „Vielfalt innerhalb einer Organisation DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 241

[...] demnach der Diskriminierung innerhalb und außerhalb der Organisation“ an- passen kann (ebd.). Entsprechend werden informelle kurzfristige Entscheidungen begünstigt, die die Parteien vor einschneidenden und schwer durchsetzbaren struk- turellen Reformierungsprozessen bewahrt. Hierzu passt das Argument von Geisser und Soum. Sie sehen die Verbreitung des Vielfaltsbegriffs darin begründet, dass dieser politische Eliten in die Lage versetzt, einer Problematisierung von innerpar- teilichen rassistischen Strukturen und innerparteilichen Machtverhältnissen auszu- weichen (Geisser und Soum 2008, S. 113). Das hervorgebrachte Argument des Parteienwettbewerbs begründet sich in zwei weiteren Umweltveränderungen. So erlitten die Sozialisten eine einschnei- dende Wahlniederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2002. Jospin schied als Spitzenkandidat der PS bereits in der ersten Wahlrunde aus, wohingegen es Le Pen des FN in die zweite Runde schaffte. Nur 16,2 Prozent der Wähler_innen gaben den Sozialisten ihre Stimme. Zudem waren die Wahlen durch eine hohe Nichtbe- teiligung geprägt: um die 30 Prozent der Wahlberechtigten nahmen nicht an den Wahlen teil (Levy et al. 2008, S. 7). Angesichts dieser Niederlage eröffnete sich innerparteilich ein Diskussionsraum. Außerdem begannen die Konservativen das Thema der Antidiskriminierung auf die Agenda zu setzen, um ebenfalls Menschen mit Migrationshintergrund als Wähler_innen zu erreichen. Bereits Mitte der 1990er Jahre versuchte der Konservative Charles Pasqua mittels eines Netzwerkes von Migranten/Migrantinnen in lokalen Vereinen die Stimmung in den sozialistisch- kommunistischen Wahlkreisen für sich zu gewinnen (Geisser und Soum 2008, S. 46). Er baute vor allem auf enttäuschte linke Wähler_innen, die ihre Erwartungen und Forderungen einer gleichberechtigten politischen Teilhabe bei den linken Kräften nicht erfüllt sahen (vgl. Geisser und Soum 2008; Wihtol de Wenden und Leveau 2007). Schließlich war zur Jahrtausendwende, als die politische Debatte über Antidiskriminierungsmaßnahmen sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene ihren Höhepunkt erreichte, die Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund bei den Kommunalwahlen 2001 kein Alleinstellungs- merkmal der Sozialisten mehr (Garbaye 2007, S. 89). In diesem Zusammenhang stellen Geisser und Soum fest:

242 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Ils sont nombreux, les Beurs et les Blacks qui, à l’horizon des années 2000, font clairement le choix de militer à droite. Le tabou de ‚trahir l’immigration‘ et la ‚mémoire des pères ou- vriers‘ est définitivement rompu. [...] Aujourd’hui, certaines élites issues de la diversité vont même jusquʼà émettre l’idée que le ‚vrai parti de l’émancipation‘ n’est plus à gauche mais bien à droite: c’est la gauche qui paternaliste et non la droite que désormais, favoriserait l’émancipation des enfants des cités.“114 (Geisser und Soum 2008, S. 47-49)

Das historisch gewachsene Bekenntnis zu linken Parteien aufgrund der familiären Einwanderungsgeschichte sowie die Identifikation mit der Arbeiterschicht verloren für die Einwanderergeneration ebenso an Wirkungskraft wie die Überzeugung, die Linken seien die einzige politische Kraft, die für ihre Gleichberechtigung eintrete. Schließlich sahen sich die Konservativen angesichts des Wahlsieges bei den Präsi- dentschaftswahlen gegen den FN in der Verantwortung, diesen Öffnungsprozess weiter voranzutreiben. So wurden ab 2002 vereinzelt Ämter auf Regierungs- und Staatssekretärsebene mit sichtbaren Minderheiten besetzt (Masclet 2012, S. 96), um symbolträchtig diesen Wandel zu untermauern. Vor diesem Hintergrund wurde die PS unter Zugzwang gesetzt.

7.4.2 Postkolonialismus und Mobilisierung der Schwarzen

Wie unter 7.4 angeführt, wurde ab der Jahrtausendwende erstmals die Repräsenta- tion von Menschen mit schwarzer Hautfarbe innerhalb der Partei thematisiert. Gleichzeitig wurde diese Gruppe innerparteilich als Zusammenschluss sichtbar. Mehrere Faktoren müssen hier zur Klärung berücksichtigt werden. So kommt es ab 2000 verstärkt zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der kolonialen Ver- gangenheit Frankreichs. Hintergrund bildeten unter anderem Mobilisierungen von Franzosen/Französinnen aus den Überseegebieten, die sich Ende der 1990er Jahre in Paris formierten und der Sklaverei gedachten (Lépinard 2008, S. 101). 2001 wurde von der Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, in dem der Skla- venhandel der ehemaligen Kolonialmacht als Verbrechen gegen die Menschlich- keit verurteilt wurde (Lépinard 2008, S. 99f.). Zudem wurde 2004 ein Komitee zum Gedenken an die Sklaverei per Gesetz eingerichtet, das jährlich einen Bericht

114 „Sie sind zahlreich zur Jahrtausendwende, die Beurs und die Schwarzen, die sich nun klar auf dem rechten Parteispektrum engagieren. Mit den Tabus wie dem ‚Betrug an der Einwandergeneration‘ oder ‚das Beschmutzen des Andenken der Arbeiterväter‘ ist endgültig gebrochen. Heute gehen einige Eliten der Vielfalt sogar soweit, dass die ‚wahre Partei der Emanzipation‘ heute nicht mehr auf dem linken, sondern auf dem rechten Spektrum zu finden ist: Es ist nunmehr die Linke, die paternalistisch agiert während die Rechte die Emanzipation der Kinder der Vororte ermöglicht.“ DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 243 für die Regierung verfasste, in dem über Maßnahmen zum Gedenken vorgeschla- gen und diskutiert wurden (Lépinard 2008, S. 99f.). Schließlich organisierten sich Franzosen/Französinnen mit schwarzer Hautfarbe in Gruppen, um auf ihre Anlie- gen aufmerksam zu machen. So gründete sich Anfang 2005 die Bewegung Mou- vement des Indigènes de la République, die arabisch und afrikanischstämmige Franzosen/Französinnen vereinte. Sie beklagten unter anderem das Fehlen eines öffentlichen Gedenkens der Sklaverei und beklagten die weiterbestehenden postko- lonialen Diskriminierungspraktiken (ebd., S. 102). Aufgrund dieses öffentlichen Drucks wurde unter Präsident Chirac ein Gedenktag zur Abschaffung der Sklaverei eingeführt, der zum ersten Mal 2006 begangen wurde. Verstärkt wurde diese Ent- wicklung durch die sozialen Unruhen in den Vorstädten Frankreichs 2005. So gründete sich laut Patrick Lozès, dem Vorsitzenden des Zusammenschlusses, am 26. November der Conseil représentatif des associations noires (CRAN), ein Dachverband schwarzafrikanischer Vereine, um über demokratische und gewaltlo- se Wege auf diskriminierende Praktiken innerhalb der französischen Gesellschaft aufmerksam zu machen: „The CRAN was founded on the conviction that the ques- tion of discrimination, and notably indirect discrimination [...], could not be tack- led without the existence of visible minorities in the public sphere.“ (Lozès 2012, S. 104) Überdies beruht das Kollektivbewusstsein unter den „Schwarzen von Frank- reich“ (Noir de France) gemäß CRAN auf gemeinsamen Diskriminierungserfah- rungen jenseits sozialer, kultureller und räumlicher Unterschiede, was den Antrieb der Mobilisierung bildete (Laplanche-Servigne 2009, S. 144). Ein wichtiges Anlie- gen von CRAN war die Erhöhung der politischen Repräsentation von Schwarzen. So machten sie bei der ersten Kabinettsbildung unter dem neu gewählten konserva- tiven Präsidenten Sarkozy darauf aufmerksam, dass kein(e) Schwarze(r) nominiert worden sei. Ein Sachverhalt, der kurze Zeit später bei einer Kabinettsumbildung mit der Nominierung von Rama Yade unter Regierungschef Raffarin nachgeholt wurde (Lépinard 2008, S. 103). Diese Mobilisierung stellte nach Geisser und Soum für viele Parteimitglieder ein Vorbild dar, so dass innerhalb der Sozialisten 2006 Équité gegründet wurde und die question noire in die Partei trug (Geisser und So- um 2008, S. 119f.).

7.5 ZWISCHENRESÜMEE

Im Fall der PS lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es ab Ende der 1970er Jahre zu einer parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen kam. Diese Veränderungen bezogen sich stärker auf die Stimmenmaximimierung und Repräsentation von Einwanderern/Einwanderinnen als auf die Mitgliederanwer- bung. Ferner gingen innerparteiliche Initiativen stärker von der Führungsebene als

244 | PARTEIEN UND MIGRANTEN von der Mitgliederbasis aus. So initierten oder unterstützten diese Parteieliten ver- schiedene Gruppierungen in und außerhalb der Partei, die sich für eine stärkere parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen stark machten. Überraschenderweise stellte sich dabei heraus, dass sich entgegen der Annahmen des assimilationistischen Integrationsverständnisses innerparteilichen Gruppierun- gen durchaus entlang ethnischer und religiöser Kriterien bildeten. Diese existierten aber immer nur für einen begrenzten Zeitraum. In der letzten Phase zeigt sich, dass, wie in der SPD, Repräsentationsfragen unter dem Begriff „Vielfalt“ themati- siert wurden. Hierbei entstanden Unterstützungsspielräume für einzelne Kandida- ten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund ohne dabei strukturelle Änderungen angehen zu müssen. Wie konnten diese Entwicklungen erklärt werden? Ein treibender Umweltfak- tor, waren die politischen Debatten über Migranten/Migrantinnen sowie die recht- lichen Rahmenbedingungen und Einstellungen der Eingewanderten. So konnte ich zeigen, dass in den 1970er Jahren der sogenannte Rückkehrmythos in Bezug auf die ausländischen Arbeitskräfte sowie die verhängte politische Neutralität entschei- dend zu einer Inaktivität der Sozialisten beigetragen hat. Die zunehmende Auflö- sung des Rückkehrmythos, eine wachsende zweite Einwanderergeneration begleitet durch ein liberales Staatsbürgerschaftsrecht sowie die Mobilisierung der Menschen auf den Straßen Frankreichs für mehr Gleichberechtigung und eine eigenständige Identität innerhalb der französischen Gesellschaft waren entscheidend dafür, dass sich die Partei ab Anfang der 1980er Jahre verstärkt innerparteilichen Repräsenta- tionsfragen dieser Bevölkerungsgruppe zuwandte. Auch hinsichtlich der herausge- arbeiteten Debatten über Integration und Islam, Diskriminierung und schließlich Vielfalt konnte ich jeweils unterschiedlich gelagerte Einflüsse auf die parteipoliti- sche Inkorporation von Migranten/Migrantinnen feststellen. Sei es die Förderung individueller Karrieren von muslimischen bzw. maghrebinischen Parteimitgliedern als symbolischer Ausdruck der Integration, sei es die Thematisierung innerparteili- cher Diskriminierungsformen gegenüber Minderheiten postkolonialer Einwande- rungen oder die Ambiguität einer Vielfaltsrhetorik. Ferner stellte der politische Wettbewerb einen wichtigen Umweltfaktor dar. So führte die Polarisierung des Parteiensystems auf nationaler Ebene dazu, dass auf- grund fehlender Koalitionsaussichten zwischen konservativen und linken politi- schen Kräften, die Anpassung zwischen beiden Parteien weit geringer ausfiel. Ent- sprechend führten rechtspopulistische Töne von Seiten der Konservativen nicht au- tomatisch zu einer Angleichung der Rhetorik unter den Sozialisten. Das Gegenteil war der Fall. Um das eigene Wählerpotenzial zu mobilisieren, wurde gezielt auf li- beralere Töne gegenüber Einwanderern/Einwanderinnen gesetzt, was sich auch auf die innerparteilichen Öffnungsprozesse gegenüber Migranten/Migrantinnen positiv auswirkte. DIE PARTI SOCIALISTE IN FRANKREICH | 245

Darüber hinaus hatten innerparteiliche Faktoren entscheidend Einfluss auf die Art und Weise der parteipolitischen Inkorporation. Dabei spielen Normen, Werte und Routinen eine zentrale Rolle im Hinblick auf das Selbstverständnis, die Ziel- setzungen unterschiedlicher Akteure sowie deren innerparteiliche Positionierung. Es lässt sich erkennen, dass die PS ihrem Selbstverständnis nach bis heute keine Massenmitgliederpartei, sondern eine Partei der Gewählten ist. Hierdurch ist zu er- klären, warum sie keine wesentlichen Anstrengungen unternahm, um gezielt Mit- glieder mit Migrationshintergrund zu werben. Vielmehr stand ausschließlich die Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in politischen Ämtern im Vorder- grund. Auch bestätigt sich in der Untersuchung die Annahme, dass die Parteibasis (party on the ground) im Gegensatz zur Führungsebene (party in central office, party in public office) kaum Einfluss nimmt. Hierdurch wird nachvollziehbar, dass trotz sozialer Bewegungen wie den Beur oder unterschiedlicher Gruppierungen sichtbarer Minderheiten Anfang der 2000er Jahre eine vergleichsweise geringe Mobilisierung von der Parteibasis ausging. Entsprechend kamen die meisten Im- pulse nicht von der Basis (bottom up), sondern von der Führungsebene (top-down). So waren es auch die innerparteilichen courants sowie die Präsidentialisierung des innerparteilichen Wettbewerbs, die eine Aufnahme verschiedener migrantischer In- teressen in die Partei erst ermöglichte. Erst diese Strukturen begünstigten, entgegen der republikanischen Tradition, die Artikulation ethnischer und religiöser Bezüge in den verschiedensten innerparteilichen Gruppen. Gleichwohl beförderten sie die Abhängigkeit dieser Zusammenschlüsse von einzelnen Führungspersönlichkeiten und courants, die je nach Interessenslage auch schnell ihre Unterstützung verwei- gern konnten oder aufgrund eines Machtwechsels keinen Einfluss mehr hatten. Entsprechend kurzlebig waren die verschiedenen Initiativen. Ähnlich wie im Fall der SPD, wurde die innerparteiliche Norm der sozialen Gerechtigkeit verwendet, um Ansprüche auf eine innerparteiliche Förderung auf- grund kulturell-religiöser Belange oder einer fehlenden Sichtbarkeit zu delegiti- mieren. So hoben die Gegner_innen einer solchen Politik die Bedeutung der sozia- len Herkunft, der Gleichheit sowie religiösen Neutralität hervor. Gleichzeitig blie- ben gegenteilige Ansichten und Positionen, die sich im Kontext einer Politik der Verschiedenheit (droit à la différence) in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt hatten, weiterhin bestehen. Das normenbesetzte Zusammentreffen verschiedener Positionen begünstigte wiederum die Verwendung des Vielfaltsbegriffs, in den un- terschiedliche Norm- und Wertevorstellungen hineininterpretiert werden können.

8 Die Pariser Sozialisten

In diesem Kapitel geht es zunächst um die Herausarbeitung von Entwicklungspha- sen, die die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwan- derinnen innerhalb der Pariser PS bestimmten. Wodurch zeichnen sich diese Pha- sen aus? Und inwieweit lassen sich hier vergleichbare oder unterschiedliche Ent- wicklungen in Bezug auf die nationale Parteiebene ausmachen? In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, Erklärungen für diese Beobachtungen zu finden. Da- bei gilt es insbesondere nach dem Einfluss des stadtspezifischen Kontexts zu fra- gen sowie die Rolle von parteispezifischen Faktoren herauszuarbeiten. Inwiefern verstärken oder schwächen sie nationale oder stadtspezifische Einflüsse? Wie in den bisherigen Kapiteln wird zunächst die empirische Basis skizziert, um dann im Anschluss einen kurzen Überblick über die Geschichte und den Auf- bau der Pariser PS zu geben. Basis der Analyse bildet eine Auswertung einer umfassenden Sammlung von unterschiedlichen Parteidokumenten der Pariser Sozialisten. Die archivierten Do- kumente wurden seit Anfang der 1971er Jahre bis 2007 gesammelt.1 Das Material gibt einen Einblick über zentrale Aktivitäten der Partei. Sie umfasst Dokumente wie Wahlprogramme, Wahlflyer, Kandidatenlisten, informelle Notizen zu einzel- nen Kandidaten/Kandidatinnen sowie interne Schreiben zum Ablauf der Wahl- kämpfe, der Nominierungen und anderweitiger Maßnahmen im Kontext von Wah-

1 Es muss an dieser Stelle auf die Begrenztheit des archivierten Materials hingewiesen werden. Es handelt sich um keine systematische Archivierung, die nach bestimmten Themen, Personen oder Inhalten sortiert wurde. Vielmehr waren die unterschiedlichsten Dokumente nach Wahlperioden geordnet. Entsprechend beinhalteten die Dokumente insbesondere Informationen zu den jeweiligen Wahlen. Es zeigt sich hierbei bereits ein Charakteristikum der Partei, welches sich in der anschließenden Analyse noch bestätigen und relevant werden soll: die Aktivität der Partei als Wahlverein, der vor allem in Wahl- perioden aktiv wird (Knapp 2004b, S. 163). 248 | PARTEIEN UND MIGRANTEN len. Demnach war es mir möglich, neben der Außenkommunikation im Wahl- kampf ebenso die innerparteilichen Kommunikationsprozesse nachzuvollziehen, die unter anderem auch Konflikte im Zusammenhang der Nominierungen beinhal- teten.2 Darüber hinaus konnte ich in den Materialien Presseberichte aus regionalen und überregionalen Zeitungen (z.B. Libération, Le Monde, Le Parisien) finden, in denen über die Partei oder den Wahlkampf berichtetet wurde und die somit Aus- kunft über die öffentliche Wahrnehmung geben konnten. Ferner ließen sich Infor- mationsblätter einzelner Parteigliederungen auf Arrondissements-Ebene ausma- chen, in denen politische Aktionen und Themen besprochen wurden. Schließlich enthielten die Unterlagen auch einzelne Ausgaben der Mitgliederzeitschrift der Pa- riser PS (Le Militant de Paris). Ferner nutzte ich die Informationen, die auf der offiziellen Homepage3 der Pa- riser Sozialisten zum Zeitpunkt der Erhebungsphase zur Verfügung standen. Da- runter befanden sich offizielle Bekanntmachungen (communiqué), der aktuelle Jah- resbericht der Partei von 2012, Flyer zu bestimmten Themen und Wahlen sowie jeweils eine Ausgabe des Journal fédéral von 2010 und 2011.4 Neben der Sichtung von Parteidokumenten führte ich zwei Gespräche mit zent- ralen Funktionsträgern innerhalb der PS, die mir Einblicke in aktuelle Entwicklun- gen innerhalb der Partei gewährten. Des Weiteren konnte ich auf Basis verschiede- ner Untersuchungen und Veröffentlichung zum Thema der politischen Repräsena- tion von Migranten/Migrantinnen in Paris einzelne Entwicklungen und Zusam- menhänge innerhalb der PS besser nachvollziehen (Michon 2011; Cartier et al 2010; Avanza 2010a; b). Zur Geschichte der Sozialisten in Paris lässt sich generell festhalten, dass sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis auf kurze Phasen über keine politische Mehr-

2 Aufgrund der in Teilen sensiblen Informationen, die mir in der Erwartung eines verant- wortungsbewussten Umgangs zur Verfügung gestellt wurden, anonymisiere ich, falls notwendig, die Vor- und Nachnamen der genannten Personen. 3 Vgl. http://www.ps-paris.org/; letzter Zugriff am 24.03.2014. 4 Es konnte keine offizielle Dokumentation der Parteiversammlungen auf Pariser Ebene in Form von Wortprotokollen gefunden werden. Auch die Recherchen in der Bibliothèque Nationale de France (BNF), die auch Dokumente zu einzelnen Parteien führt, sowie in den kommunalen Bibliotheken (Bibliothèques municipales spécialisés) brachten keine Ergebnisse (vgl. http://bibliotheques-specialisees.paris.fr/catalogue; letzter Zugriff am 22.02.2015). Als Alternative boten sich die gut dokumentierten Debatten der nationalen Parteitage an, da sich dort indirekt Positionen der Pariser fédération anhand von Diskus- sionsbeiträgen ablesen lassen. Zudem konnte ich in den archivierten Materialien einzelne thematisch relevante Anträge des Parteirats (Conseil fédéral) ausfindig machen, die punktuelle Einblicke gewährten. DIE PARISER SOZIALISTEN | 249 heit in Paris verfügte. So konnte die Vorgängerorganisation der PS – die S.F.I.O. beispielsweise 1962 bei den Parlamentswahlen 5,25 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, die kommunistische Partei kam hingegen auf 23,4 Prozent (Philippe und Hubscher 1991, S. 400). Während auf nationaler Ebene die PS ab Anfang der 1980er Jahre die Mehrheit der Stimmen bei den Präsidentschafts- und Parlaments- wahlen erreichte, dominierten die Konservativen die politische Landschaft in Paris bis 2001. Dieser geringe Stimmenanteil und die damit einhergehende politische Schwäche kann auf die sozio-professionelle Struktur der französischen Hauptstadt zurückgeführt werden. Während Industrielle, kleine Händler oder Handwerker ei- nen recht hohen Anteil an der Bevölkerung ausmachten, war der Anteil der Arbei- ter_innen in der Hauptstadt vergleichsweise gering (ebd.). Zur strukturellen Verortung der Pariser PS lässt sich festhalten, dass sie als fédération zwischen der nationalen Parteienebene (instances nationales) und der lokalen Parteibasis (section) steht (ebd., S. 169). Die sections in einem départe- ments, d.h. in einer Gebietskörperschaft in Frankreich, bilden wiederum eine fédération. Laut Statut haben die fédérations die Aufgabe, die Parteiarbeit im dé- partment zu gewährleisten, wobei sie dabei die Prinzipien der Partei, Entscheidun- gen der nationalen Parteiführung sowie der nationalen Parteiversammlungen be- rücksichtigen müssen (Parti socialiste 2012a, 2.4.1.2). Darüber hinaus werden die Führungsinstanzen der fédération durch die Mitglieder der sections bestimmt (Phi- lippe und Hubscher 1991, S. 169). Die sections bilden jene Parteigliederung, die die Parteiarbeit vor Ort ermöglicht (Parti socialiste 2012a, Artikel 2.2.1.1). Im Folgenden werde ich unter 8.1 und 8.2 zwei unterschiedliche Phasen im Hinblick auf die parteipolitische Inkorporation von Migrantinnen skizzieren. Diese Entwicklungen erkläre ich in den jeweilig dafür vorgesehenen Unterkapiteln. Ab- schließend gilt es, ein Zwischenfazit zu ziehen.

8.1 DOMINANZ NATIONALER IMPULSE UND INAKTIVITÄT DER PARISER PS

Die erste Phase, die von 1971 bis Ende der 1990er Jahre anhält, zeichnet sich durch drei Charakteristika aus. Erstens bestimmt in dieser Zeit die nationale Partei- ebene die Art und Weise der Thematisierung parteipolitischer Inkorporationspro- zesse von Migranten/Migrantinnen innerhalb der Pariser fédération. Zweitens ist für diese Phase bezeichnend, dass nationale Vorschläge, die insbesondere eine bes- sere Repräsentation von Einwanderern/Einwanderinnen in Wahlämtern betreffen, nicht thematisiert und aktiv unterstützt werden. Drittens etablieren sich einzelne europäischstämmige Migranten/Migrantinnen innerhalb der Partei, ohne dabei ih- ren Migrationshintergrund herauszustellen.

250 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Die impulsgebende Rolle der nationalen Parteienebene zeigte sich bereits in den 1970er Jahren. So spiegelten sich die Problemwahrnehmung der Situation der Arbeitsmigranten/-migrantinnen und die darauf beruhenden innerparteilichen Maßnahmen auf Pariser Ebene wider (vgl. 7.1). Während mit Le Garrec, wie er- wähnt, auf nationaler Ebene 1976 ein Beauftragter für Arbeitsmigranten/- migrantinnen (Délégué national pour les travailleurs immigrés) bestimmt wurde, lassen sich vergleichbare Formationen innerhalb der Pariser Sozialisten finden. In der Zeitschrift der Pariser Sozialisten – Le Militant de Paris – vom 31. März 1977 wurden vereinzelte und zeitlich begrenzte Unterstützungsaktionen für die streiken- den Arbeitsmigranten/-migrantinnen im Zusammenhang der Sonacotra-Streiks er- wähnt, welche einer besseren Koordinierung bedurften. Entsprechend wurde vor- geschlagen, das Kollektiv Luttes des travailleurs immigrés zu gründen (Fédération de Paris 1977b, S. 2). Noch im selben Jahr lassen sich in der gleichen Zeitschrift Hinweise auf eine Commission travailleurs immigrée (La Commission travailleurs immigrés 1977, S. 16) sowie einen Délégué aux travailleurs immigrés (Délégué aux travailleurs immigrés 1977, S. 6) finden, die von Le Garrec für die jeweilige föderale Parteigliederung vorgesehen waren (Les Socialistes et l’immigration 1983, S. 1.2). Zudem war der Délégué der jeweiligen föderalen Parteigliederung mit der nationalen Parteienebene rückgekoppelt. So nahm er an dem nationalen Treffen der Partei, Journée nationales „immigrés“, teil (Délégation Nationale aux immigrés 05.06.1979). Ferner ähneln sich zu dieser Zeit die Herangehensweise und der Umgang mit dieser Thematik. Es ging den Pariser Sozialisten ähnlich wie auf nationaler Ebene primär um eine Unterstützung der Proteste. An eine Inkorporation der Protestierenden in die Partei oder Wähleransprache wurde nicht gedacht. Die Trennung zwischen Partei und den Protestierenden wird in einem Beitrag eines Parteimitglied im Militant de Paris deutlich: „S’il appartient aux travailleurs im- migrés de conduire leur lutte eux-mêmes, nous devons, nous socialistes prendre leur lutte en compte pour qu’elle débouche sur une victoire.“5 (Vigne 06.1976, S. 10) Auch glichen und überschnitten sich bisweilen die Herangehensweise bzw. Formen der Unterstützung von Migranten/Migrantinnen auf nationaler und lokaler Ebene. So nahmen Vertreter der nationalen Führungsriege wie Mauroy sowie Pari- ser Führungskräfte und Gewählte gemeinsam an einer Sonacotra-Demonstration im Juli 1977 in Paris teil (Commission aux travailleurs immigrés 1978, S. 3). Zu- dem visierte auch die Pariser fédération einen Austausch mit Vereinen von Ar-

5 „Während die Arbeitsmigranten ihren Kampf selbst in die Hand nehmen müssen, kommt uns Sozialisten eine unterstützende Funktion zu, damit ihr Kampf von Erfolg gekrönt sein wird.“ DIE PARISER SOZIALISTEN | 251 beitsmigranten/-migrantinnen und Gruppierungen, die sich für diese engagierten6, an (Fédération de Paris 1977a, S. 4; Secrétariat aux rélations extérieures 1977, S. 19f.). Schließlich kam es in Paris im Sinne der internationalen Solidarität zu einer Solidarisierung mit politisch verfolgten Sozialisten/Sozialistinnen aus südeuropäi- schen und lateinamerikanischen Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland oder Chile. Neben einer Berichterstattung über die politische Lage in diesen Ländern (Pierre 06.1975, S. 1) wurde der Kontakt zu den Schwesterorganisationen, die in Paris einen Ableger hatten, gesucht (Délégation aux luttes internationales 1975, S. 5; Le Militant de Paris 1976, S. 1f.). Eine Delegation traf des Secrétariat fédéral einen Verantwortlichen der portugiesischen Sozialisten zum Informationsaus- tausch. Hierzu wird im Militant de Paris folgendes festgehalten: „Le Secrétariat souhaite que les sections qui en ont la possibilité prêtent leurs locaux aux cama- rades portugais pour y tenir leur réunion.“7 (Secrétariat fédéral 1975, S. 6) Die Unterstützung beschränkt sich somit nicht nur auf solidarische Bekenntnis- se, sondern schließt auch aktive Organisationshilfe mit ein. Im Falle der spanischen Sozialisten gründeten sich in den Arrondissements sogenannte comité de solida- rité, die sich für die Befreiung vom Franco-Regime in Spanien einsetzten (Le Mili- tant de Paris 1976, S. 1f.). Fragen der parteipolitischen Inkorporation von dieser Gruppe wurden dabei nicht thematisiert.

6 Ähnlich wie auf nationaler Ebene sind dies in den 1970er und 1980er Jahren insbesonde- re französische Menschenrechts- und Antirassismusorganisationen. Es lassen sich beis- pielsweise Verbindungen zwischen den Pariser Sozialisten und Vereinen wie der Mou- vement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples (MRAP), der Fédération des associations de solidarité avec tous-t-es les immigré-és (FASTI), der Ligue internatio- nale contre le racisme et antisémitisme (LICRA) oder der Ligue des droits de l’Homme (LDH) finden. Die Zusammenarbeit spiegelte sich beispielsweise in einer gemeinsamen Aktion von sozialistischen Mitgliedern der Pariser fédération, MRAP und FASTI im Jah- re 1977 gegen die Polizeikontrollen von Migranten/Migrantinnen in der Pariser Metro (Délégué aux travailleurs immigrés 1977, S. 6). Des Weiteren konnte ich im Militant de Paris vom Dezember 1985 ein Erklärung unter dem Titel Declaration commune contre le racisme finden, die unter anderem von den Sozialisten, MRAP, LDH, LICRA unter- stützt wurde. Auch suchte die Pariser fédération einen repräsentativen Austausch mit diesen Organisationen. So ist im Jahresbericht der fédération von 1985 zu lesen, dass der damalige Beauftragte für Einwanderung (délégué fédéral à l’immigration), Michel Bourdeau, als Parteienvertreter bei einzelnen Zusammenkünften von LICRA und MRAP beiwohnte und sich einbrachte (Bourdeau 07.1985, S. 16f.). 7 „Das Secrétariat wünscht, dass jene Sektionen, die über entsprechende Möglichkeiten verfügen, ihre Parteilokale den portugiesischen Genossen für ihre Versammlungen zur Verfügung zu stellen.“

252 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Gleichwohl gelang es einigen Personen aus dieser Gruppe oder aus ihrem Um- feld der Übertritt und Aufstieg innerhalb der PS. Manuel Escutia, der spanischer Herkunft war, kandidierte beispielsweise 1981 erfolgreich im 19. Arrondissement für die Nationalversammlung (Fédération de Paris 1981) sowie 1983 für den Stadt- rat in Paris (Chambarlhac 2005, S. 184). Darüber hinaus fungierte er ab 1980 als Délégué à la solidarité internationale (Secrétariat fédéral 1980, S. 4). Auch Manu- el Valls, der seit 2014 Premierminister von Frankreich ist, trat den Sozialisten 1980 bei und kandidierte 1986 für die Regionalwahlen (16 Mars Magazine 1986, S. 18f.). Er wurde 1962 in Spanien geboren und stammt aus einer Familie, die vor dem Franko-Regime flüchten musste.8 So ließen sich, jenseits eines Hinweises auf Erstellung fremdsprachiger Materialien9, keine Hinweise auf eine gezielte Anspra- che von migrantischen Wählern/Wählerinnen im Wahlkampf feststellen. Es fanden sich in den offiziellen Wahlkampfmaterialien der erwähnten spanischstämmigen Kandidaten keine Hinweise auf eine gesonderte Ansprache der Arbeitsmigranten/- migrantinnen. Auch in den Folgejahren kandidierten immer wieder Politiker_innen für die Nationalversammlung, deren europäische Herkunft nicht thematisiert wur- de. Der griechischstämmige Stélio Farandijis kandidierte 1981 und 1988 (Fédérati- on de Paris 1981; Stélio Farandjis 1988). Die spanischstämmige Carmen Carmona war 1986 Kandidatin (16 Mars Magazine 1986, S. 18f.). Und der griechischstäm- mige Christoph Cambadélis, seit 2014 Parteichef der Sozialisten, wurde 1988 ins Parlament gewählt (Bréhier 14.06.1988, S. 14). Auch Anfang der 1980er Jahre lässt sich im Hinblick der erstmaligen Anspra- che von maghrebinischen Jugendlichen die impulsgebende Rolle auf nationaler Ebene feststellen (vgl. 7.2). So machte sich die Debatte zeitverzögert auf der Ebene der Pariser fédération bemerkbar. In einem Rundschreiben der nationalen Füh- rungsspitze wurde erstmals das Wahlstimmenpotential der Migranten/Migran- tinnen in einem Rundschreiben thematisiert, das an die Parteichefs der unterschied- lichen fédérations sowie an die Parlamentarier gesendet wurde. Hier heißt es: „Il faut essayer de faire inscrire la population migrante (nouveaux arrivants dans la

8 Vgl. http://www.tagblatt.ch/aktuell/schweiz/tb-in/Ein-halber-Schweizer-regiert;art12010 1,3760969; letzter Zugriff am: 24.03.2013. 9 Vgl. Kurzbericht der innerparteilichen Gruppe Luttes des travailleurs immigrés (Fédéra- tion de Paris 1977a, S. 2). DIE PARISER SOZIALISTEN | 253 ville). C’est surtout par le biais de leur logement (office d’HLM10 par exemple) qu’il est possible de les connaitre.“11 (Secrétariat National 1982) In den Unterlagen lassen sich keine weiteren Hinweise finden, die auf ein Auf- greifen der Empfehlung oder die Entwicklung geeigneter Maßnahmen auf födera- ler Ebene rückschließen lassen. Ein weiteres Beispiel für die Vorreiterrolle der na- tionalen Ebene ist eine Broschüre für die Regional- und Parlamentswahlen von 1986, die auch der Pariser fédération vorlag. Diesmal war der Absender das Se- crétariat national aux collectivités locales à la décentralisation et aux relations avec les élus (Nationale Sekretariat für Gemeinden, Dezentralisierung und den Austausch mit den Gewählten). Unter dem Titel Les élus socialistes s’adressent aux électeurs (Die sozialistischen Gewählten wenden sich an die Wähler) finden sich unterschiedliche Briefentwürfe, mit denen verschiedene Wählergruppen ange- sprochen werden sollen (Fédération national des élus Socialistes et Républicains 1986). In der Einleitung der Broschüre ist zu lesen: „Cher camarade [...] Ces lettres s’adressent aux différentes catégories qui composent la population. Elles sont éventuellement à adapter aux circonstances locales et à compléter par des réfé- rences à la situation et aux problèmes locaux.“12 (Ebd.) Um ein einheitliches Bild der PS zu kommunizieren, schlägt die nationale Ebe- ne vor, unterschiedliche Wählergruppen auf eine bestimmte Art und Weise anzu- sprechen. Einer der Entwürfe zielt auf die Gruppe der Francais d’origine immi- grée. Hier ist zu lesen:

10 HLM steht für Habitation à loyer modéré und kann im Deutschen mit sozialem Woh- nungsbau verglichen werden. Viele Migranten/Migrantinnen lebten in diesen staatlichen geförderten Wohnungen. 11 „Es muss der Versuch unternommen werden, die migrantische Bevölkerung (Neuan- kömmlinge in der Stadt) zu einer Wählerregistrierung zu motivieren. Insbesondere an- hand des Wohntypus (z.B. HLM-Büro) können diese identifiziert werden.“ 12 „Liebe(r) Genoss(e)in, [...] Diese Briefe richten sich an verschiedene Bevölkerungsgrup- pen. Sie müssen eventuell an die örtlichen Rahmenbedingungen und Probleme angepasst werden.“

254 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„[...] Sans doute, avez-vous gardé des liens culturels ou familiaux avec votre pays d’origine. La droite vous le reproche souvent en disant que vous n’êtes pas de vrais français. Nous, au contraire, nous sommes persuadés que ces liens constituent un ‚plus‘ pour la France [...]. Il faut affirmer clairement votre qualité de citoyen. Avec la gauche, avec les socialistes, qui ont toujours été au premier rang de la lutte contre le racisme et la xénophobie, vous contribuerez à faire reculer d’une manière décisive ces deux menaces, [...]. L’avenir de la France c’est aussi votre affaire.“13 (Fédération national des élus Socialistes et Républicains 1986)

Nationale Debatten, wie der Kampf gegen rechts sowie das Recht auf Verschie- denheit der Migranten/Migrantinnen (droit à la différence) (vgl. 7.1), werden hier als Grundlage genommen, um für die Wahl der PS zu werben. Darüber hinaus las- sen sich vermehrt Hinweise finden, dass die von nationaler Ebene initiierten und unterstützten Initiativen und Organisationen wie SOS-Racisme und France Plus auch auf Pariser Ebene auf Resonanz stießen. So verweist die Beilage Paris Association14 des Militant de Paris im Januar 1986 auf die nationalen parteinahen Organisationen France Plus und SOS-Racisme. Zu France Plus heißt es: „Objec- tifs: Faire prendre conscience aux 800.000 de citoyens français de plus de 18 ans appartenant à une communauté de l’enjeu que représentent les futures échéances électorale.“15 (Hubert 02.1986) SOS-Racisme wird wie folgt umschrieben: „Mouvement de jeunes pluricom- munautaire. Objectifs: Etre un mouvement d’action et de soutien; Refuser toute discrimination raciale et développer une véritable culture du droit et du respect de l’autre, de ses différences et ses spécificités.“16 (Hubert 02.1986)

13 „[...] Ohne Zweifel haben Sie kulturelle und familiäre Bindungen zu Ihrem Herkunfts- land aufrechterhalten. Die Rechte unterstellt Ihnen, dass Sie keine wahren Franzosen seien. Wir hingegen glauben, dass diese Bindungen eine Bereicherung für Frankreich darstellen, [...]. Es gilt klar und deutlich Ihre Rolle als Bürger zu unterstreichen. Mit Un- terstützung der Linken, der Sozialisten, die immer Vorreiter im Kampf gegen Rassismus und Xenophobie waren, tragen Sie entscheidend zu einer Bekämpfung dieser beiden Ge- fahren bei, [...]. Die Zukunft Frankreichs geht auch Sie an.“ 14 Ziel des Mitteilungsblattes ist es, die Parteimitglieder über die Vereinslandschaft in Paris zu informieren. 15 „Ziele: Das Bewusstsein bei den 800.000 französischen Bürger mit Migrationshinter- grund über 18 Jahre für die entscheidende Bedeutung der zukünftigen Wahlen zu we- cken.“ 16 „Bewegung von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunftsgruppen. Ziele: Eine Bewe- gung der Aktion und der Unterstützung zu sein; Abwehr von jeglicher rassistischen Dis- kriminierung und Entwicklung einer wirklichen Kultur des Rechts und des Respekts ge- genüber anderen, gegenüber ihren Unterschieden und Besonderheiten.“ DIE PARISER SOZIALISTEN | 255

In beiden Fällen werden landesweite Ziele der Organisationen dargestellt, in- dem beispielsweise auf die Wahlberechtigten der zweiten Einwanderergeneration hingewiesen wird. Ebenso bei einer Umfrage der Pariser Parteibasis (section) von 1985, mit der die Pariser fédération mehr über den lokalen Organisationsgrad und den Aktionsradius des an Bedeutung gewinnenden FN in Erfahrung bringen wollte (Stievenard 1985), nennen einige Sektionen SOS-Racisme als lokal verankerten Akteur, der gegen den FN mobilisiert (Fédération de Paris 1986b). Wie bereits un- ter 7.2.1 ausgeführt, waren beide Organisationen eine Antwort der nationalen Füh- rungsriege der Sozialisten auf die politische Mobilisierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Ferner erhielt die Pariser Parteichefin Gisèle Stievenard am 3. Februar 1986 ei- nen Brief von Robert Le Foll, dem Délégué national aux DOM-TOM (Beauftragter für die Überseegebiete). In diesem macht Le Foll auf das Ausmaß der Bevölke- rungsgruppe aus den Überseegebieten in Paris sowie das Mobilisierungspotential aufmerksam (Le Foll 1986). Des Weiteren weist er auf Initiativen hin, mit denen gezielt Menschen aus den Überseegebieten mobilisiert werden sollen. Darunter fiel beispielsweise die Organisation von Großveranstaltungen mit prominenten Politi- kern wie Jospin oder Mitterrand, die Verteilung von speziellen Wahlflyern sowie eine Einrichtung einer Infotelefonhotline (Le Foll 1986). Erneut ist hier die natio- nale Ebene und nicht die Pariser fédération Impulsgeber. Schließlich zeigte sich bei den Kommunalwahlen17 1989 nur auf den ersten Blick eine Initiative der PS in Paris. Erstmals wird im kommunalen Wahlpro- gramm der Pariser Sozialisten offiziell die Absicht formuliert, Menschen mit Mig- rationshintergrund aufzustellen: „Les socialistes font, pour leur part, le choix de l’intégration des immigrés, choix qu’ils assumeront pleinement en prenant sur leurs

17 Bei den Kommunalwahlen treten in jedem Arrondissement Kandidierende für eine Partei oder Liste an. Die Anzahl der Sitze einer Partei oder Liste im Stadtrat (Conseil de Paris) wird zunächst in Abhängigkeit ihres Gesamtergebnisses bestimmt. Des Weiteren werden die Sitze in Abhängigkeit des Abschneidens der Partei oder Liste im jeweiligen Arron- dissement unter den jeweiligen Anwärtern/Anwärterinnen auf Arrondissement-Ebene aufgeteilt. Gleichzeitig bestimmt das Ergebnis einer Partei oder Liste im einzelnen Ar- rondissement über die Zusammensetzung der Vertretung auf Arrondissement-Ebene (Conseil d’arrondissement). Grundsätzlich haben die Nominierten auf den vorderen Plätzen eher eine Chance, in den Stadtrat gewählt zu werden. Bei einem schlechten Ab- schneiden schaffen es diese aber unter Umständen in den Conseil d’Arrondissement.

256 | PARTEIEN UND MIGRANTEN listes des Français d’origine immigrée, notamment à Paris.“18 (Fédération de Paris 1989b, S. 20) Mit den Worten „intégration“ und „jeunes beurs“ wird auf nationale Debatten verwiesen (vgl. 7.2.1) sowie mit „les socialistes“ auf die gesamte Partei abgezielt. Diese Vermutung bestätigt sich in einem Rundschreiben vom 17. November 1988 des Secrétariat national, welches unter anderem an die Parteichefs der fédérations gerichtet ist. Hier wird an einen nationalen Beschluss erinnert, nach dem die zweite Generation der Einwanderer/Einwanderinnen auf den Nominierungslisten Berück- sichtigung finden sollte (Secrétariat National 1988). Dieser Beschluss ging, wie be- reits gezeigt, auf eine nationale Entscheidung im Rahmen der Strategieentwicklung zurück. Ein zweites Charakteristikum dieser Phase ist, dass trotz dieser mehrmaligen Impulse die Pariser fédération verhalten reagiert. Eine derartige Reaktion kann da- ran festgemacht werden, dass wenig Material auf eine weitergehende innerparteili- che Thematisierung hinweist. Emblematisch steht hierfür eine Aussage des dama- ligen Beauftragten für Einwanderungsfragen innerhalb der Pariser PS (Délégué fédéral immigration), Michel Bardou Er schreibt im Vorfeld der Regionalwahlen 1986 in einer Ausgabe des Militant de Paris:

„A Paris, comme dans le reste de la France, l’insertion des enfants étrangers est fondée tout à la fois sur une parfaite maîtrise du français et sur le maintien d’un contact avec leur langue et culture d’origine. [...] Les jeunes qu’ils soient étrangers, d’origine étrangère par au moins un de leur parent, jeunes français de métropole ou des DOM-TOM, ensemble, se mobilisent contre le racisme. [...] A nous, socialistes de les accueillir dans nos rangs, de leur donner des responsabilités à l’intérieur de notre parti. [...] Alors nous pourrons compter sur eux pour les futurs combats contre la droite dont ils savent qu’ils ont rien à attendre à Paris.“19 (Bourdeau 03.1985, S. 4ff.)

18 „Die Sozialisten haben sich für die Integration der Einwanderer entschieden, eine Wahl, zu der sie voll und ganz stehen, so dass sie gerade in Paris Franzosen mit Migrationshin- tergrund auf den Kandidatenlisten nominiert haben.“ 19 „In Paris wie im Rest von Frankreich basiert die Eingliederung von ausländischen Kin- dern auf dem Beherrschen der französischen Sprache unter gleichzeitiger Bewahrung ih- rer muttersprachlichen Kenntnisse und kulturellen Herkunft. Die Jugendlichen – seien sie Ausländer, seien sie ausländischer Herkunft von Seiten mindestens eines Elternteils, seien sie junge Franzosen aus den Überseegebieten – machen zusammen mobil gegen Rassismus. Es ist an uns, Sozialisten, sie in unseren eigenen Reihen willkommen zu hei- ßen, ihnen Verantwortung innerhalb unserer Partei zu übertragen. [...] Dann können wir auf sie in Zukunft im Kampf gegen die Konservativen zählen, von denen sie wissen, dass sie nichts von ihnen in Paris erwarten können.“ DIE PARISER SOZIALISTEN | 257

An dieser Aussage wird deutlich, dass Barou die Eingliederung von Migran- ten/Migrantinnen in Paris und Frankreich (comme dans le reste de la France) mit- einander gleichsetzt. Entsprechend geht er von einer Kongruenz nationaler und lo- kaler Problematiken im Hinblick auf die Eingliederung der zweiten Einwanderer- generation aus, um die Forderung nach einer stärkeren innerparteilichen Repräsen- tation von Migranten/Migrantinnen zu legitimieren. Allein am Ende verweist er auf die Konservativen in Paris, von denen die Migranten/Migrantinnen nichts zu er- warten hätten. Weiterführende Aussagen in Bezug auf den Pariser Kontext bleiben an dieser Stelle aus. Ungeachtet dieser Äußerungen bleiben die Bemühungen seitens der Pariser fédéra- tion hinter den hoch gesteckten Zielen zurück. Zwar waren Hinweise zu finden, die darauf deuten, dass eine Nominierung eines maghrebinischen Kandidaten für die Regionalwahlen 1986 zumindest in Erwägung gezogen wurde. So finden sich unter der Notiz Elargissement – candidature beur Informationen zu diesem Kandidaten (Fédération de Paris 1986a). Angesichts der Tatsache, dass weder dieser Kandidat noch eine andere maghrebinische-stämmige Person auf der endgültigen Liste für die Regionalwahlen zu finden ist sowie weitere Hinweise auf eine Debatte fehlen (16 Mars Magazine 1986, S. 18f.), ist davon auszugehen, dass das Thema keine ausreichende Priorität hatte. Erst bei den Kommunalwahlen 1989 veränderte sich die Situation und es wur- den erstmals gezielt vereinzelt Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshinter- grund aufgestellt. Die Verantwortung für diese Nominierungen lag aber weniger bei der fédération als vielmehr bei einzelnen lokalen Eliten. Zwar lobte der dama- lige Pariser Parteichef Jean Marie Le Guen nach der Nominierung der Kandida- ten/Kandidatinnen für die Kommunalwahlen in einem Kommuniqué vom 24. Feb- ruar 1989 die Bereitschaft der Partei, Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrations- hintergrund (jeunes beur) aufzustellen (Secrétaire fédéral 1989). Gleichzeitig war klar, dass die Entscheidung für diese Nominierungen von anderer Stelle kam. So wurde beispielsweise Pau-Langevin durch die maßgebliche Unterstützung von Lis- tenführer Michel Charzat im 20. Arrondissement auf Platz 4 der Liste nominiert (Pau-Langevin 2011, S. 44). Sie verpasste aufgrund des schlechten Wahlergebnis- ses knapp den Einzug ins Pariser Stadtparlament20. Bereits 1983 wurde Pau- Langevin für die Liste der Kommunalwahlen im 18. Arrondissement nominiert (ebd., S. 43). Diesmal war es der damalige Spitzenkandidat der PS, Jospin, der sie neben Bertrand Delanoë und Daniel Vaillant unterstützte (ebd.). Dieses Engage-

20 Hätten die Sozialisten 1989 nicht im Arrondissement verloren, so Pau-Langevin rückbli- ckend, wäre sie in den Stadtrat von Paris gewählt worden. Stattdessen schaffte sie es in die Vertretung des Arrondissements (Conseil d ’Arrondissement) (Pau-Langevin 2011, S. 44).

258 | PARTEIEN UND MIGRANTEN ment darf nicht überbetont werden. So wurden alle Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund 1989 bis auf Pau-Langevin auf wenig aussichtsreichen Plät- zen nominiert (Fédération de Paris 1989a). Darunter befand sich beispielsweise Teoufik Boudechiche im 18. Arrondissement, der auf Platz 12 gewählt wurde. Auch Sultan Cheurfa, die auf nationaler Ebene als Präsidentin der muslimischen innerparteilichen Gruppierung CSCM (vgl. 7.3) aktiv war, wurde für den aussicht- losen 12. Platz nominiert (Fédération de Paris 1989a). Im 12. Arrondissement war es wiederum Adil Jazouli, Soziologe und Autor verschiedener Forschungsarbeiten zur Beur-Bewegung, der auf einem hinteren Listenplatz zu finden war (ebd.). Im 13. Arrondissement waren ebenfalls alle Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrati- onshintergrund auf nicht aussichtsreichen Plätzen (ebd.).21 Vor dem Hintergrund dieser aussichtlosen Plätze zeigt sich, wie gering der innerparteiliche Druck bzw. dass die Widerstände zu groß gewesen sein müssen. In den Folgejahren lässt sich bei den Nominierungen ein ähnliches Muster er- kennen. Pau-Langevin wurde bei den Regionalwahlen 1992 als einzige auf einen aussichtsreichen Platz nominiert und schließlich gewählt (Fédération de Paris 1991, S. 4).22 Bei den Kommunalwahlen 1995 kandidierten jedoch alle Migran- ten/Migrantinnen auf nicht aussichtsreichen Plätzen. Sie schafften es somit trotz der Zugewinne der Sozialisten nicht in den Pariser Stadtrat (Kandidaten/Kandida- tinnen für Kommunalwahlen 1995; Le Figaro 20.06.1995). Schließlich bewarben sich für die Regionalwahlen 1998 mehrere Kandidaten/Kandidatinnen maghrebini- scher Herkunft, die kaum berücksichtigt wurden. Aus den internen Dokumenten geht hervor, dass einer der Kandidaten bereits für eine bestimmte Position vorge- sehen war, jedoch diese zugunsten einer anderen Person aufgeben musste. Auch ein Beschwerdebrief von verschiedenen Pariser Sozialisten/Sozialistinnen an den damaligen Pariser Parteivorsitzenden Le Guen (Fédération de Paris 1998b) blieb ohne Erfolg. In seinem Schreiben berief sich der Kandidat auf die Unterstützung nationaler Politikgrößen und warnte vor der FN, die auf einem ihrer vorderen Lis- tenplätze Farid Smahi nominiert hatten (ebd.). Doch diese Argumente schienen die Führungsebene in Paris nicht zu überzeugen. Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass eine Kandidatin mit maghrebinischer Herkunft schließlich für den umstrittenen Platz nominiert wurde. Insofern war die fédération für eine Kandida- tin mit Migrationshintergrund bereit. Angesichts der Zielvorgaben einer paritäti- schen Liste erfüllte besagte Kandidatin zwei Kriterien – Frau und Migrationshin-

21 An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Sozialisten mit dem Mouvement des radicaux de gauche (MRG) eine gemeinsame Liste bildeten. Aus den Unterlagen ging nicht mehr hervor, ob Boudechiche und Jazouli für die Sozialisten nominiert waren. 22 Ein weiterer Kandidat war Karim Zin El Abidine. Er hatte auf Platz 41 kaum Aussicht gewählt zu werden (ebd). DIE PARISER SOZIALISTEN | 259 tergrund. Zudem war sie bereits auf kommunaler Ebene gewählt worden, so dass angenommen werden kann, dass sie auf lokaler Ebene besser vernetzt war. Nichts- destotrotz zeigt sich darin eine begrenzte Bereitschaft der Pariser fédération, meh- rere Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund auf aussichtsreichen Plätzen zu nominieren. Auch Pau-Langevin bewarb sich vergeblich für einen Platz. Rückblickend stellt sie in diesem Zusammenhang fest: „Toutefois, il m’a semblé regrettable [...] que la gauche n’ait pas été plus attentive au souhait qui commençait à se faire entendre de manière de plus en plus insistante, de voir des élus, un peu plus aux couleurs de la population francilienne si bigarrée.“23 (Pau-Langevin 2011, S. 84) Ein vergleichbares Bild der Unterrepräsentation zeigte sich in der Führungs- ebene der Pariser fédération. Migranten/Migrantinnen maghrebinischer Herkunft oder aus den Überseegebieten konnte ich dort nicht ausmachen. Weder 1990 noch 199724 war eine solche Person in der Führungsebene der Pariser Sozialisten (Sé- crétariat fédéral) vertreten (Fédération de Paris 1990, S. 4f.; Fédération de Paris 1998a).25

8.1.1 Die Bedeutung der Top-Down-Strukturen der Partei und die Sonderstellung von Paris

Wie kann jedoch erklärt werden, warum sich fast ausschließlich nationale Forde- rungen der Partei auf der Pariser Ebene widerspiegeln und warum diese auf lokaler Ebene kaum umgesetzt werden. Ein Grund für die geringe Selbständigkeit der Pariser PS ist der hierarchische Aufbau der Partei. Dieser bietet weniger Möglichkeiten, um Initiativen von der Parteibasis (party on the ground) zu starten. Ferner ist die Sonderstellung von Paris

23 „Auf jeden Fall ist es bedauerlich, dass die Linke [...] nicht ausreichend auf den Stim- mungswandel reagierte, der zunehmend spürbar war und sich auf das Verlangen nach ei- ner Repräsentation, die im Einklang mit einer so bunten Bevölkerung aus Ile-de-France stehen würde, richtete.“ 24 Die Jahre 1990 und 1997 können als wichtige Zeitpunkte betrachtet werden, da hier auf nationaler Ebene Parteitage (Rennes; Brest) stattfanden. Im Anschluss des jeweiligen Parteitags kommt es zu einer Neubesetzung auf föderaler Ebene. 25 Ausschließlich in der Commission executive fédéral waren Pau-Langevin, Khaled Melaa und Karim Zinelabidine vertreten (Fédération de Paris 1990, S. 4f.). Dieses Organ fun- giert laut Statut der Partei vor allem als Vollzugs- und Kontrollorgan und ist somit an die Weisungen und Beschlüsse der nationalen und föderalen Ebene gebunden (Fédération de Paris 1973). Entsprechend handelt es sich im Vergleich zum Sécrétariat fédéral um ein unbedeutendes Organ.

260 | PARTEIEN UND MIGRANTEN als nationales Zentrum sowie die machtpolitische Schwäche der Pariser PS auf kommunaler Ebene anzuführen. Zum ersten Punkt ist festzuhalten, dass die Parteistruktur eine Zentralisierung der Macht auf die nationale Parteienebene begünstigte. Dreh- und Angelpunkt sind in diesem Zusammenhang die bereits genannten courants, die Strömungen bzw. politischen Flügel innerhalb der PS. Sie bestimmen das Agenda-Setting der Partei. So stimmen die Parteimitglieder vor dem jeweiligen nationalen Parteitag nach dem Verhältniswahlrecht über verschiedene nationale Hauptanträge (motions) ab, die jeweils von einem oder mehreren courants erstellt wurden. Gemäß den Zustim- mungsergebnissen für die Anträge auf der jeweiligen Parteiebene werden die Parteiämter anteilig an die verschiedenen courants verteilt (Art. 16). Knapp fasst zusammen:

„Officially, a courant in the PS is a group of party members who present a general policy motion to a party congress and who, provided that they win at least 5 per cent of the votes in party federation meetings prior to the congress, are entitled to seats on the partyʼs decision- making bodies in proportion to their level of support.“ (Knapp 2004b, S. 166)

Entsprechend nehmen die verschiedenen courants über die motions Einfluss auf Organisation und Inhalte der Partei, so dass sich daraus eine Dominanz der courants im Hinblick auf die Konfiguration der personellen wie inhaltlichen Orga- nisationswirklichkeit der Partei ableiten lässt. Entscheidungen der dominierenden courants sind somit auch für die unteren Parteigliederungen bindend. Im Gegenzug sind die Einflussmöglichkeiten der fédérations begrenzt. Zwar können diese inhaltliche Beiträge einbringen, die unter Umständen in einer motion berücksichtigt werden. Gleichzeitig finden über diese Beiträge laut aktuellem Statut (Parti socialiste 2012a, Artikel 1.3.1) keine direkten Abstimmungen statt. Entsprechend gering sind die Anreize von Seiten einer ein- zelner fédération, maßgebliche Veränderungsvorschläge außerhalb der courants einzureichen. Somit kommt es nach Barboni zu einer Entmachtung unterer Partei- gliederungen, die ihren Einfluss innerhalb der Partei auf Basis territorialer Zugehö- rigkeit nicht etablieren können (Barboni 2008, S. 70f.).26 Sferza unterstreicht: „By creating direct links between the national and local level that cut across geographic

26 Über die Anzahl der Delegiertenstimmen, die wiederum durch die Mitgliederstärke in den Sektionen und den fédérations bestimmt wird, wäre ein territorialer Einfluss größe- rer Parteigliederungen denkbar. So gab es in der Parteiengeschichte immer wieder mo- tions, die durch mächtige Parteigliederungen eingebracht wurden. Andererseits bildeten sie eine Ausnahme sowie ihre Ausrichtung national und nicht regional bestimmt war. DIE PARISER SOZIALISTEN | 261 locales, factionalism recast lines of solidarity and provided national leaders with a chain of command that by-passed territorial structures.“ (Sferza 1996, S. 195) Verstärkt wird diese Zentralisierung durch die Macht der courants-FührerInnen und die damit einhergehende Entmachtung unter Parteigliederungen durch die Art der Besetzung von innerparteilichen Posten. So merkt Barboni in diesem Zusam- menhang an:

„Au-delà de cette centralisation, un second élément renforce la maîtrise par les élites parti- sanes du jeu des courants, à savoir l’indexation d’une liste de membres adossée à chaque motion, liste à partir de laquelle seront constituées les instances. L’impossibilité pour les ad- hérents de dissocier les motions de leurs représentants permet aux leaders de courants de ré- guler l’accessibilité aux postes de responsabilités.“27 (Barboni 2008, S. 71)

Die Verknüpfung der jeweiligen motions mit einer festen Bewerberliste führt dazu, dass die Mitglieder dieser Liste in ihrer Gänze zustimmen oder ablehnen können. Eine Beeinflussung der Rangfolge sowie Veränderungsvorschläge sind von Seiten der Mitglieder nicht möglich. Auch hier wird eine lokale Mobilisierung und Ver- netzung einzelner Parteigliederungen zur Beeinflussung der Personalbesetzung un- terbunden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die von nationaler Parteienebene verfassten Schreiben an die Pariser fédération erklären, in denen auf die Partei- tagsbeschlüsse hingewiesen wird. Auf diese Weise ist das Verhalten der Pariser Führungsebene, die sich indirekt oder direkt auf nationale Entscheidungen bezogen und ihr eigenes Vorgehen legitimierten, nachvollziehbar. Grundsätzlich kann gegen diese Argumentation eingewandt werden, dass die inhaltliche und personale Zusammensetzung innerhalb einer fédération von den Abstimmungsergebnissen ihrer Mitglieder abhängig ist. Diese können durchaus von den nationalen Gesamtergebnissen abweichen, so dass sich unterschiedliche courants auf nationaler und föderaler Ebene etablieren und somit unterschiedliche inhaltliche Positionen vertreten. Im Falle der Pariser fédération kann eine solche Abweichung bis Ende der 1970er Jahre festgestellt werden. Der bereits genannte marxistisch ausgerichtete courant CERES (vgl. 7.1.1) um Jean-Pierre-Chèvene- ment dominierte die Pariser fédération, während auf nationaler Ebene ab dem Par- teitag von Pau 1975 CERES zur Minderheit gehörte (Philippe und Hubscher 1991, S. 402; Hanley 1986, S. 105; 153). Vor diesem Hintergrund legte beispielsweise

27 „Neben dieser Zentralisierung gibt es ein zweites Element, das die Führungspersönlich- keiten der courants stärkt. Es handelt sich dabei um die Festlegung einer Personenliste für jede motion, mit der über die Verteilung von Parteiposten entschieden wird. Das ein- zelne Mitglied hat dabei keinen Einfluss auf die Besetzung dieser Liste, so dass die Spit- zen einer courants freie Hand bei der Besetzung von Schlüsselämtern haben.“

262 | PARTEIEN UND MIGRANTEN die Pariser fédération stärker als andere Parteigliederung auf die Schaffung von section d’entreprise (SE), d.h. der Schaffung von Parteiabteilungen in den Unter- nehmen, wert, um gezielt ArbeiterInnen für die Partei anzuwerben (Barboni 2008, S. 106f.). Ebenso konnte ich bereits aufzeigen, dass CERES-Mitglieder stärker an Themen der Arbeitsmigration und den damit einhergehenden sozialen Problemen interessiert waren (vgl. 7.1.1). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass weiter- gehende Schritte im Hinblick auf die parteipolitische Inkorporation auch innerhalb der CERES nicht diskutiert wurden. Entsprechend gingen die Maßnahmen der Pa- riser fédération über die verschiedenen Solidaritätsaktionen mit Arbeitsmigranten/- migrantinnen nicht hinaus. Ab 1983 veränderten sich die Mehrheiten innerhalb der Pariser fédération dahingehend, dass der courants um Mitterrand (Mitterrandisten) auf beiden Ebenen dominierte (Nivet und Combeau 2000, S. 308). Entsprechend gab es kaum eine inhaltliche und personelle Eigenständigkeit gegenüber der natio- nalen Führungsebene. Neben der zentripetalen Wirkung der courants bzw. motions hatte auch die spezielle Situation Paris als nationales politisches Zentrum Einfluss auf die Inakti- vität der Pariser fédération. So stellen Philippe und Hubscher fest: „La fédération a beaucoup de mal à exister [...] parce qu’elle souffre d’un mal héréditaire- la proxi- mité de la direction nationale [...]. Comment arriver à créer une identité quand les bons éléments sont aspirés automatiquement par le national [...]?“28 (Philippe und Hubscher 1991, S. 400) Die räumliche Nähe der Pariser Sozialisten zur nationalen Parteienebene er- schwerte deren Emanzipation. Im „Schatten“ der nationalen Ebene konnte nur schwer eine Eigenständigkeit behauptet werden. Verstärkt wurde dieses Ungleich- gewicht auf nationaler Ebene durch die bereits erwähnte machtpolitische Schwäche der Pariser Sozialisten. Die Konservativen regierten unter Führung von Jaques Chi- raques von 1977 bis 1995 auf kommunaler Ebene uneingeschränkt (Kantor et al. 2012, S. 167).29 Angesichts dieser Dominanz fehlten den Sozialisten auf kommu- naler Ebene jegliche Mittel der politischen Einflussnahme, so dass sich ihre Aktivi- täten im Stadtrat auf einen rhetorischen Schlagabtausch reduzierten (Alexander

28 „Für die fédération ist es schwierig als eigenständiger Akteur zu existieren [...], denn sie leidet unter einer Erblast – die räumliche Nähe zur nationalen Parteiführung [...]. Wie kann man eine eigenständige Identität entwickeln, wenn alle guten Ideen automatisch von nationaler Ebene [...] aufgesogen werden?“ 29 1983 und 1989 erreichten die Konservativen sogar die absolute Mehrheit in allen Pariser Arrondissements (Alexander 2007, S. 136). Allein in den östlichen Arrondissements der Stadt verfügten die linken politischen Kräfte über ein Stimmengewicht, wobei hier die Kommunisten und Sozialisten um die Vormachtstellung kämpften (Nivet 1994, S. 161; Nivet und Combeau 2000, S. 266; 283). DIE PARISER SOZIALISTEN | 263

2007, S. 130). Entsprechend gering war der Anreiz von Seiten der parteipolitischen Verantwortlichen, ihr politisches Engagement allein auf die Pariser Lokalpolitik zu konzentrieren. Ein Ausdruck dieser nationalen Dominanz war, dass viele Füh- rungspersönlichkeiten innerhalb der Pariser Sozialisten gleichzeitig auf nationaler Parteiebene und später in Ministerämter tätig waren (Philippe und Hubscher 1991, S. 403; Bachelot 2008, S. 408f.). Ein Beispiel ist Georges Sarre, der von 1969 bis 1971 als Parteichef der Pariser Sozialisten fungierte, von 1971 bis 1992 im Stadtrat von Paris sowie Pariser Abgeordneter von 1981 bis 1992 war (Chambarlhac 2005, S. 178; 184; Nivet 1994, S. 215). Er hatte von 1971 bis 1975 auf nationaler Ebene ebenso die Funktion des Secrétaire national à l’organisation et à l’animation30 (Barboni 2008, S. 106) sowie von 1988 bis 1993 die des Staatssekretärs für Stra- ßenverkehr inne.31 Auch sein politischer Gegner Paul Quilès (Mitterrandist) war von 1983 bis 1995 im Stadtrat von Paris sowie von 1978 bis 1988 Pariser Abge- ordneter der Nationalversammlung (Chambarlhac 2005, S. 181; 184). Parallel hatte er von 1983 bis 1993 mit zweijähriger Unterbrechung unterschiedliche Minister- posten.32 Des Weiteren zeigt sich, dass Parteiverantwortliche, die in Paris verankert waren, sich vor allem auf nationaler Parteienebene im Themenfeld der Migranten- politik engagierten. So war Farine ab 1979 Secrétaire fédéral à la communication (Fédération de Paris 1979, S. 5) sowie von 1983 bis 1989 im Stadtrat von Paris (Chambarlhac 2005, S. 184). Ferner war er Anfang der 1980er Jahre, wie bereits unter 7.2 erwähnt, im Bereich des Secrétariat international auf nationaler Ebene aktiv. Zudem leitete er mit Alain Parmentier, dem Secrétaire de la commission na- tionale immigrée, die Délégation nationale à l’immigration (Premiers Secrétaire 1985, S. 22). Hier stand er auch mit Jospin in Kontakt. Jospin war wiederum von 1977 bis 1986 Pariser Stadtrat sowie von 1981 bis 1986 Pariser Abgeordneter der Nationalversammlung (Chambarlhac 2005, S. 181; 184). Er hatte auf nationaler Parteiebene ab 1975 zunächst das Amt des Secrétaire national aux tiers Monde und 1979 das Amt des Secrétaire aux relations internationales inne. Schließlich war er von 1981 bis 1986 Parteichef sowie ein enger Vertrauter des neu gewählten Präsidenten Mitterrand. Somit konzentrierte sich das Engagement der genannten Personen im Bereich der Migrantenpolitik auf die nationale Parteienebene und nicht auf Ebene der Pariser fédération. Gleichwohl bleibt an dieser Stelle zu fragen, warum die Pariser PS trotz ihrer strukturellen Abhängigkeit die Forderungen der nationalen Ebene im Bereich der

30 Sekretär für Organisation und Parteileben. 31 Vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/11/tribun/fiches_id/2683.asp; letzter Zugriff am 13.04.2014. 32 Vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/tables_archives/paul-quiles.asp; letzter Zugriff am 13.04.2014.

264 | PARTEIEN UND MIGRANTEN parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen nicht stärker umsetz- te. Ein Grund hierfür ist, dass die Dominanz der nationalen Ebene beim Agenda- Setting die eine Seite ist. Die andere Seite betrifft die Implementierung von Vor- schlägen, bei der die fédérations durchaus einen Handlungs- und Ermessensspiel- raum haben – zumal die Forderungen selten in der Form direkter Handlungsanwei- sungen kamen. Bruno Le Roux, einstiger Beauftragter der Partei für Wahlen (Se- crétaire nationales aux éléctions) stellt fest, dass ungeachtet der nationalen Initia- tiven und Absichtserklärungen in Bezug auf die Nominierung von Migran- ten/Migrantinnen der politische Wille auf der Ebene der fédération fehle. Demnach sieht auch er einen Unterschied zwischen nationalen Beschlüssen und deren Um- setzung. Er spricht der föderalen Ebene machtpolitische Interessen und eine Steue- rungsmacht zu, welche die größten Hürden für eine Erneuerung der Partei seien (Branco 2008, S. 59f.). Auch Michon geht in ihren Untersuchungen zur politischen Repräsentation von ethnischen Minderheiten in Paris davon aus, dass der Spitzen- kandidat oder die Spitzenkandidatin für das Bürgermeisteramt Einfluss auf die Nominierungen hat (Michon 2011, S. 69). Insofern gilt zu fragen, warum die Pari- ser fédération sich nicht stärker für eine Implementierung einsetzte.

8.1.2 Der Einfluss einer geringen lokalpolitischen Bedeutung der eingewanderten Bevölkerung

Der Widerstand der Pariser fédération gegen parteipolitische Inkorporationsmaß- nahmen kann durch drei weitere Faktoren erklärt werden. Ein Faktor ist die politi- sche Dominanz der Konservativen, die sich wiederum einer Eingliederungspolitik gegenüber Migranten/Migrantinnen verwehrten. Zweitens muss ein weiterer As- pekt des strukturellen Aufbaus der Partei als hemmender Faktor mit einbezogen werden. Und drittens sind es die fehlende gesellschaftliche Mobilisierung und Ver- ankerung der Migranten/Migrantinnen im lokalpolitischen Kontext, die kaum An- reize für eine parteipolitische Inkorporation geben. Zum ersten Punkt lässt sich zunächst festhalten, dass die Konservativen, wie bereits oben erwähnt, den politischen Wettbewerb auf kommunaler Ebene domi- nierten (Alexander 2007, S. 136; Kantor et al. 2012, S. 167). Bei den Kommunal- wahlen 1983 und 1989 holten sie darüber hinaus die absolute Mehrheit in allen Pa- riser Arrondissements (ebd.). Gleichzeitig verfolgten die Konservativen insbeson- dere Ende der 1970er Jahre eine Gentrifizierungs- und Verdrängungspolitik, indem sie Stadterneuerungsprogramme für jene Stadtteile auflegte, in denen insbesondere Migranten/Migrantinnen wohnten:

DIE PARISER SOZIALISTEN | 265

„To lodge the poorest populations (which now included a significant proportion of labour migrants) that would be displaced by urban renovation, the City of Paris purchased lands in neighbouring municipalities just beyond the péripherique. These were destined for construc- tion of low-cost social housing. [...] Social housing policy thus fulfilled two agendas: dis- tancing the Other and ‚improving‘ his environment.“ (Alexander 2007, S. 135)

Hier spiegelt sich kein aktives Bemühen um die eingewanderte Bevölkerung, son- dern um eine gezielte Auslagerung der Problematiken in die Außenbezirke (ban- lieues). Entsprechend gab es keine Integrationspolitik. Im Gegensatz dazu wurde Anfang der 1980er Jahre diese Verdrängungspolitik mit dem Aufstieg des Front National verstärkt. Chirac setzte nun bewusst auf populistische Töne gegen Mig- ranten/Migrantinnen im Kommunalwahlkampf 1983 und machte gegen illegale Einwanderer/Einwanderinnen sowie eine Konzentration der ausländischen Bevöl- kerung in bestimmten Vierteln mobil (ebd., S. 136; Mahnig 2004, S. 22). Die Pari- ser Sozialisten kritisierten zwar eine solche Politik und unterstrichen im Einklang mit den Zielen der nationalen Ebene die soziale Eingliederung sowie Förderung der politische Beteiligung33 von Migranten/Migrantinnen. Doch konnten die Kon- servativen gerade wegen ihres fremdenfeindlichen Wahlkampfs gegen den Front National punkten und so ihre Macht ausbauen (Michon 2011, S. 65), die sie bis Mitte der 1990er Jahre aufrechterhielten. Entsprechend gab es keinerlei Bemühun- gen, um die Beteiligung der eingewanderten Bevölkerung zu stärken. Während in Berlin ein kommunales Interessenvertretungsorgan für Migranten/Migrantinnen geschaffen wurde (vgl. 5.1.1), das einen regelmäßigen Austausch zwischen Ein- wanderern/Einwanderinnen und den politischen Verantwortlichen ermöglichte, fehlte in Paris eine derartige Einrichtung. Zudem sank der Anteil der Einwande- rer/Einwanderinnen in Paris, was auch an der auf Verdrängung ausgelegten Politk der Konservativen lag. Während 1982 der Anteil der Ausländer_innen noch bei 16,6 Prozent an der Pariser Bevölkerung lag, fiel dieser 1990 auf 15,8 Prozent (Alexander 2003, S. 165; Pinçon und Pinçon-Charlot 2001, S. 44). Insofern ge- wann dieser Bevölkerungsteil zumindest nicht an Bedeutung. Im Hinblick auf die parteistrukturellen Faktoren lässt sich festhalten, dass die fédération trotz des skizzierten hierarchischen Aufbaus eine relativ schwache Posi- tion gegenüber den lokalen Eliten hatte, wenn es um die konkrete Umsetzung von Maßnahmen ging. So sehen Sferza und Knapp die starke Stellung der lokalen Eli- ten als ein wesentliches Merkmal innerhalb der Partei (Sferza 1996, S. 195; Knapp 2004b, S. 160). In diesem Zusammenhang hält Garbaye fest:

33 Sie forderten im Kommunalwahlprogramm 1983 die Einrichtung eines Ausländerbeira- tes auf Stadtebene (Fédération de Paris 1983, S. 17).

266 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„At the local level, the only well-known rule is a motto used as a principle whenever the need arises: la section est souveraine (the section is sovereign). This essentially means that the local branch takes all decisions relative to its internal affairs independently if the party’s upper tiers (mainly the departemental federation).“ (Garbaye 2007, S. 175)

Nach dieser Aussage handelt die unterste Parteigliederung (section), in denen die lokalen Führungsspitzen verankert waren, relativ autonom gegenüber der föderalen Ebene. Im Fall der Pariser fédération verstärkten zwei Faktoren die Position der lokalen Eliten. Zum einen waren diese oftmals, wie oben bereits erläutert, direkt mit der nationalen Ebene verbunden und gehörten nicht zwangsweise zur Füh- rungsriege der fédération.34 Zum anderen stellten die Pariser Sozialisten bis 2001 nicht die Mehrheit im Pariser Stadtrat und den Oberbürgermeister, wodurch die fédération nur über eingeschränkte Ressourcen und politische Macht nach innen verfügte. Vor diesem Hintergrund bildeten sich die Machtzentren um verschiedene Persönlichkeiten, wie Pierre Joxe im 12. Arrondissement, Georges Sarre35 im 11. Arrondissement, Michel Charzat im 20. Arrondissement sowie Paul Quilès im 13. Arrondissement. Die fédération hatte es schwer, sich gegenüber den lokalen Machtzirkeln zu behaupten (Philippe und Hubscher 1991, S. 403). Ferner zeigte sich, dass die Wahlkämpfe von den lokalen politischen Eliten geleitet wurden. So führten beispielsweise Sarre 1977, Quilès 1983 und Joxe 1989 die Listen zur Kommunalwahl an und dirigierten den Wahlkampf (Philippe und Hubscher 1991, S. 403)36. Diese Inselbildung hatte zur Folge, dass es zu einer Entsolidarisierung zwischen den einzelnen Sektionen kam. Entsprechend fehlte die Grundlage für gemeinsame sektionsübergreifende Aktionen und Veränderungen innerhalb der Pa- riser Sozialisten (Philippe und Hubscher 1991, S. 404). Beschlossene nationale Forderungen im Hinblick auf die parteipolitische Eingliederung von Migran- ten/Migrantinnen konnten somit nur schwer sektionsübergreifend durchgesetzt werden, sondern mussten jeweils immer an die lokalen Eliten herangetragen und mit ihnen ausgehandelt werden. Die zögerliche Bereitschaft der lokalen Eliten zur parteipolitischen Inkorpora- tion von Migranten/Migrantinnen kann wiederum durch einen innerparteilichen Malthusianismus und Klientelismus erklärt werden. Nach Weber führt das Ziel des

34 Beispiele sind hier Jospin, Paul Quilès oder Pierre Joxe. 35 Georges Sarre ist darunter der einzige, der als Parteivorsitzender ein führendes Amt in- nerhalb der Pariser PS übernahm. 36 Auch bei anderen Wahlen wechselten die Führungspersönlichkeiten. Jospin führte 1986 die Liste für die Wahlen der Nationalversammlung und des Regionalparlamentes an (16 Mars Magazine 1986, S. 18f.). 1992 war Joxe Spitzenkandidat der Regionalwahlen (Fédération de Paris 2004). DIE PARISER SOZIALISTEN | 267

Machterhalts der lokalen politischen Eliten dazu, dass diese aufgrund des potenzi- ellen Kontroll- und Machtverlustes ungern gewillt sind, sich nach außen zu öffnen und Neumitglieder in die Parteistrukturen aufzunehmen (malthusianisme) (Weber 2003, S. 94). Dies spiegelt sich auch in einem internen Organisationsbericht der Pariser Sozialisten im Jahre 2003 wider: „Les sections sont trop fermées, trop sou- vent composés de 30 personnes autour d’un ‚baron‘ qui règne benoîtement sur son fan-club [...].“37 (Fédération der Paris 2003a, S. 32f.) Die Skizzierung der Sektion als Fan-Club um einen „Freiherren“ verdeutlicht die Verschlossenheit nach außen sowie die hierarchisch strukturierten Machtver- hältnisse. Sferza sieht diesen innerparteilichen Malthusianismus wie folgt begrün- det: „In many federations and sections where power equilibria were vulnerable to marginal shifts in membership, party officials, [...], saw the entry of new members of uncertain factional allegiance as a source of destabilization and a risk not worth taking.“ (Sferza 1996, S. 197f.) Demnach sind vor allem jene Parteigliederungen vom Malthusianismus betrof- fen, in denen die Machtpositionen umkämpft und ein Beitritt von Neumitgliedern mit der Angst verbunden sein kann, dass das Machtverhältnis zwischen den cou- rants ins Wanken gerät. Lefèbvre und Sawicki sehen hier erneut den bereits er- wähnten Einfluss der courants, der bis in die untersten Parteigliederungen reicht (Lefèbvre und Sawicki 2006, S. 201). Ein weiterer Grund für die Verschlossenheit ist der Klientelismus. Hierzu schreibt Weber:

„[...] le clientélisme [...] consiste [...] à ouvrir grand les portes de la section et à recruter par dizaines, non pas des militants mais des alliés et des obligés: parents, amis, employés muni- cipaux, assistés divers, tout un électorat captif, car largement apolitique et dépendant, pre- nant sa carte en contrepartie de services reçus et attendues.“38 (Weber 2003, S. 94)

Demnach geht es lokalpolitischen Eliten weniger darum, Mitglieder zu gewinnen als vielmehr Sympathisanten und potentielle Wahlstimmen. Im Gegenzug werden Gegenleistungen von den Anhängern/Anhängerinnen bzw. gesellschaftlichen

37 „Die Sektionen sind zu verschlossen. Sie bestehen oftmals aus 30 Personen, die sich um einen ‚Baron‘ herum versammeln. Dieser regiert scheinheilig über seinen Fan-Club.“ 38 „[...] beim Klientelismus [...] geht es darum, die Türen der Sektion nicht gegenüber po- tenziellen Mitgliedern, sondern gegenüber Verbündeten und Abhängigen weit zu öffnen und sie zu Dutzenden zu rekrutieren: Eltern, Freunde, Angestellte der kommunalen Verwaltung, verschiedene Empfänger von Sozialleistungen. Es handelt sich dabei um ein leicht zu gewinnende Wählergruppen, da diese oftmals ein geringes politisches Inte- resse aufzeigen und sich mit ihrer Stimme zukünftige Unterstützung sichern.“

268 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Gruppen erwartet, die sich auch in der Nominierung von bestimmten Kandida- ten/Kandidatinnen ausdrücken können. Ein Großteil der Migranten/Migrantinnen spielte aufgrund der eingeschränkten politischen Teilhaberechte in diesem klientelistischem System keine Rolle. Dieses Phänomen wurde dadurch verstärkt, dass Migranten/Migrantinnen ihr Engagement in den lokalen Migrantenorganisationen (organisations communautaires) fokus- sierten, die sich überwiegend parallel zu den einheimischen zivilgesellschaftlichen lokalen Netzwerken entwickelten. Entsprechend gering war die Verankerung in den klientelistischen Netzwerken. Die bisherige Forschungsliteratur unterstützt die Annahme von Parallelstrukturen. Simon stellt beispielsweise in seiner Dissertation für das Stadtviertel Belleville im 19. und 20. Arrondissement Anfang der 1990er Jahre fest, dass die unterschiedlichen Migrantengruppen vor allem in ihren jeweili- gen Migrantenorganisationen (organisations communautaires) aktiv waren. Er er- wähnt für die Gruppe der Maghrebinischstämmigen beispielsweise die l’Asso- ciation des Marocains de France (AMF) oder die Union des travailleurs immigrés tunisiens (UTIT). Auch gibt es die Vereine der Asiatischstämmigen, die von außen schwer zugänglich erscheinen (Simon 1994, S. 399f.). Auch de Rudder stellt für die asiatischstämmigen Migranten/Migrantinnen das Stadtviertel Porte de Choisy im 13. Arrondissement in den 1980er Jahren derartige Doppelstrukturen fest (Rud- der 1984, S. 49). Der Aufbau von Parallelstrukturen bedingte teilweise eine Ab- kapselung und Autonomisierung von den sonstigen zivilgesellschaftlichen Netz- werken innerhalb der Arrondissements. Dies zeigt sich auch am Beispiel des Ver- eins Bellevilloise, der sich aufgrund der Stadterneuerungspläne und Gentrifizie- rungstendenzen 1989 in Belleville gründete (Simon 1994, S. 406). Simon hält im Zusammenhang der maghrebinischen Einwanderer/Einwanderinnen fest, dass diese aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen sowie eines generell schwachen zivil- gesellschaftlichen Engagements in diesem Bereich kaum aktiv wurden (Simon 1994, S. 407). Im Gegensatz dazu war es die zugezogene französische Mittel- schicht, die sich für den Erhalt des Viertels in seiner multikulturellen und sozialen Vielfalt einsetzte und sich als Vermittler und Interessenvertreter zwischen Stadt und Einwanderern/Einwanderinnen sah (Simon 2000, S. 112f.; Rudder 1984, S. 49). Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass Migranten/Migrantinnen in den zivilge- sellschaftlichen lokalen Netzwerken überhaupt nicht aktiv waren. So stellt de Rud- der für das Stadtviertel Alige im 12. Arrondissement fest, dass Einwanderer/Ein- wanderinnen durchaus in verschiedenen Vereinen parallel engagiert waren (Rudder 1984, S. 49; 52). Simon geht ferner davon aus, dass in Belleville ein dichtes Netz an Vereinen und Initiativen Menschen unterschiedlicher Herkunft ansprach (Simon 1994, S. 398). Salzbrunn weist in ihrer Analyse des Viertel Sainte et Marthe im 10. Arrondissement darauf hin, dass Aktive mit Migrationshintergrund durchaus gegen die Gentrifizierungstendenzen Anfang der 1990er mobil machten (Salzbrunn 2011, DIE PARISER SOZIALISTEN | 269

S. 182). Und auch unter den Mitgliedern der Bellevilloise stammten je nach Jahr bis zu 20 Prozent aus Afrika (Simon 1994, S. 408). Überdies waren die Ziele dieser Vereine oftmals sozialer Natur oder konzentrierten sich auf ein spezifisches politi- sches Anliegen, so dass es in diesem Zusammenhang keine Mobilisierung entlang nationaler, religiöser oder ethnischer Kriterien gab. Entsprechend wurden bzw. sa- hen sich die Aktivisten/Aktivistinnen mit Migrationshintergrund selbst primär als Teil der französischen bzw. lokalen Gemeinschaft und nicht als eigenständige Kli- entel, die es im Wahlkampf mit bestimmten Themen anzusprechen galt.

8.2 MOBILISIERUNG UND EINSTELLUNGSWANDEL ÜBER DIE PARTEIFLÜGELGRENZEN HINAUS

Die zweite Phase beginnt mit der Jahrtausendwende. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass parteipolitische Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen inner- halb der Pariser fédération an Bedeutung gewinnen. Dies zeigt sich erstens daran, dass die Repräsentation in Wahlämtern verstärkt von Parteimitgliedern mit Migra- tionshintergrund problematisiert wird und Unterstützung von einer immer breiteren Basis innerhalb der Partei erhält. Zweitens werden einzelne Personen mit Migrati- onshintergrund für bestimmte Positionen gefördert, was zu innerparteilichen Aus- einandersetzungen über die Angemessenheit und Reichweite dieser Maßnahmen führt. Die verstärkte Problematisierung zeigt sich zunächst auf der Ebene der inner- parteilichen Debatten. Bariza Khiari reichte, die aus Algerien stammt und Partei- mitglied im 16. Arrondissement ist, am 27. September 2000 einen Änderungsan- trag für das Pariser kommunale Wahlprogramm ein. Hierin heißt es:

„Si nous voulons montrer que nous prenons en compte leurs enfants qui sont le plus souvent français, mettons déjà les ‚français issus de l’immigration‘ auxquels nous sommes si souvent étrangers, sur nos prochaines listes pour Mars 2001 parce qu’il faudra bien qu’un jour le col- lège des élus s’identifie à la diversité de la population française.“39 (Fédération de Paris 2000-2001).

39 „[...] wenn wir zeigen wollen, dass wir ihre Kinder, die oftmals Französisch sind, mit be- rücksichtigen, dann sollten wir die ‚Franzosen mit Migrationshintergrund‘, denen wir so oft fremd sind, auf unsere nächsten Listen für März 2001 setzen, denn es sollte sich wohl eines Tages die Vielfalt der französischen Bevölkerung unter den Gewählten widerspie- geln.“

270 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

In ihrem Antrag macht Khiari auf die Bedeutung der Nominierung von Menschen mit Migrationshintergrund für die Kommunalwahlen 2001 aufmerksam. Ihre Moti- vation war das Wahlversprechen der Pariser Sozialisten, einen Ausländerbeirat (conseil consultatif des résidents étrangers) auf der Ebene des Pariser Stadtrats einzurichten, in dem Vertreter_innen verschiedener ausländischer Vereine beratend tätig wären. Khiari lehnte diese Form der Beteiligung ab, da es ihrer Auffassung nach dabei nicht um eine politische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen, sondern um die Schaffung politischer Parallelstrukturen gehe (ebd.). Ferner thema- tisierten mehrere Mitglieder der Parteiführungsspitze in einem Zusatzantrag das Problem der Diskriminierung gegenüber jungen Menschen mit Migrationshinter- grund in verschiedenen Bereichen – wie beispielsweise innerhalb der politischen Repräsentation (ebd.). Zwei Jahre später war Khiari an dem bereits erwähnten thematischen Beitrag Lutter contre les discriminations au sein du PS (vgl. 7.4) auf dem nationalen Par- teitag in Dijon 2003 beteiligt, in welchem eine angemessene Repräsentation von Migranten/Migrantinnen auf allen Verantwortungsebenen der Partei sowie aus- sichtsreiche Plätze für parlamentarische Wahlämter gefordert werden (Parti socia- liste 2003a). Der Beitrag selbst wurde unter anderem flügelübergreifend von meh- reren Pariser Sozialisten mit Migrationshintergrund unterstützt, wie beispielsweise Gaspard-Hubert Lonsi-Koko, Faycal Douhane, Faouzi Lamdaoui, Pierre Kanuty und Halima Jemni. Aber auch lokale Führungspersönlichkeiten wie Roger Madec, Bürgermeister im 19. Arrondissement, und Pierre Aidenbaum, Bürgermeister des 3. Arrondissement, setzten ihre Unterschrift unter dieses Dokument (ebd.). Des Weiteren waren von den 174 Erstunterzeichnern des Beitrags Lutter contre les dis- crimination politiques au sein du Parti socialiste auf demselben Parteitag 61 Mit- glieder der Pariser fédération. Auf dem Parteitag von Mans 2005 stammten über die Hälfte der Unterstützer_innen des Antrags Lutte contre les discriminations: Pour un PS à la tête du combat aus der Pariser fédération (Parti socialiste 2005a). Darunter war der Pariser Parteivorsitzende, Patrick Bloche. Ferner ist neben Kader Arif (Secrétaire nationale à la mondialisation) der Pariser Sozialist Faouzi Lamdaoui Hauptantragsteller. Er hatte zu dieser Zeit das Amt des Délégué national chargé de l’égalité des chances et de la lutte contre discriminations40 innerhalb der PS inne. Insofern zeigt sich hier nicht nur die Mobilisierungsbasis von Aktivis- ten/Aktivistinnen mit Migrationshintergrund, sondern auch das Gewicht der Pariser Sozialisten auf nationaler Ebene. Überdies lassen sich Hinweise darauf finden, dass der Migrationshintergrund im Rahmen der Nominierungen für verschiedene Wahlen thematisiert wurde. Ein- zelne Bewerber_innen verwiesen bei den Regionalwahlen 2004 in ihrer Bewer-

40 Beauftragter für Chancengleichheit und für den Kampf gegen Diskriminierung. DIE PARISER SOZIALISTEN | 271 bung erstmals auf das Vorhaben der nationalen Parteiebene, verstärkt Migran- ten/Migrantinnen zu nominieren (vgl. 7.4) (Fédération de Paris 2004). Auch auf die nationale Wahlniederlage 2002 wurde angespielt. So hängte einer der Bewerber einen Flyer mit der Beschriftung an: Ajoutons de la coleur! (Lasst uns bunter wer- den!) (ebd.) an. Er schreibt:

„Notre Parti compte dans ses rangs des militantes et militants issus de lʼimmigration ou de l’outre-Mer [...]. Nous avons fait nos classes et sommes désormais prêts à figurer en position éligible sur toutes les listes électorales. Le danger de cette prochaine élection demeure l’abstention, la dispersion des voix et le vote extrême. Pour lutter contre ce fléau, il nous faut diversifier l’offre politique au sein de notre propre formation et promouvoir de nouvelles pratiques. Cela passe par l’arrivée de personnes issues de l’ensemble de la société [...].“41 (Fédération de Paris 2004)

Damit greift er die Argumente der Debatte des Parteitags in Dijon auf. Zum einen geht er von einer Bereitschaft und Verfügbarkeit von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund aus. Zum anderen werden die Gefahren einer niedrigen Wahlbeteiligung sowie von den rechten politischen Kräften skizziert, die eine stär- kere Repräsentation notwendig machen würden. Es zeigt sich hier, dass im Gegen- satz zu vergangenen Nominierungen explizit der Migrationshintergrund als Legi- timationsgrundlage herangezogen wird, wenngleich andere Eigenschaften wie zi- vilgesellschaftliches und parteiinternes Engagement weiterhin hervorgehoben wer- den (ebd.). Darüber hinaus richtet sich ein Schreiben vom 22.10.2003 des Secrétariat nati- onal erneut an alle Parteichefs der fédérations. Hier heißt es:

41 „Unsere Partei zählt in ihren Reihen Parteimitglieder mit Migrationshintergrund und aus den Überseegebieten [...]. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und sind nun bereit, um auf sicheren Listenplätzen für alle Wahlen zu kandidieren. Die Gefahr dieser Wahl bleibt die niedrige Wahlbeteiligung sowie die Streuung der Stimmen auch zugunsten der Rechtsextremen. Um gegen diese Plage anzugehen, müssen wir unser politisches Ange- bot innerhalb der eigenen Partei breiter fächern und neue Ansätze verfolgen. Der Auf- stieg von Personen mitten aus der Gesellschaft ist einer davon [...].“

272 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Dans le cadre de la constitution des listes régionales, des votes des adhèrent(e)s sur les can- didatures sénatoriales [...], nous te rappelons les principes résultant des textes adoptés lors du congrès de Dijon, [...]. Enfin, les listes des candidat(e)s socialistes devront être représenta- tives de l’ensemble de la société, ce qui nécessite de veiller à la présence de camarades issus de l’immigration et de l’outre-mer dans les positions éligibles.“42 (Rebsamen et al. 2003)

Der Unterschied zu früheren Aufrufen besteht darin, dass es erstens um eine No- minierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund auf aus- sichtsreichen Listenplätzen geht. Zweitens scheint jetzt die fédération diesem Auf- ruf zu folgen. Auf der endgültigen Liste43 der Regionalwahlen lässt sich mit Hali- ma Jemni eine Person ausfindig machen, die auf einem sicheren Listenplatz kandi- dierte (Fédération de Paris 2004). Vergleichbar sieht es bei den im selben Jahr stattfindenden Senatswahlen aus. Hier erreichte Khiairi eine aussichtsreiche Positi- on (ebd.). Vor diesem Hintergrund hält der Pariser Parteichef, Patrick Bloche, in einem Rundschreiben fest:

„[...] Ils [les militants] ont également, par leur vote, exprimé leur volonté de renouvellement et de diversité que les débats du Congrès de Dijon, au printemps dernier, avaient particuliè- rement illustrée. [...] La présence de Bariza Khiari, [...], en deuxième place sur la liste séna- toriale comme celle d’Halima Jemni, élue sortante, en septième place sur la liste régionale est un signe fort de la volonté des socialistes de représenter tous les Parisiens.“44 (Fédération de Paris 2004)

42 „Im Rahmen der Zusammenstellung der Listen für die Regionalwahlen, der Abstimmung der Mitglieder über die Kandidaturen für den Senat [...], erinnern wir dich an die Vorga- ben, die sich aus den verabschiedeten Beschlüssen des Parteitags in Dijon ergeben, [...]. Schließlich müssen die Kandidatenlisten der Sozialisten die Gesamtheit der Gesellschaft widerspiegeln. Entsprechend gilt es, über die Präsenz von Genossen mit Migrationshin- tergrund und aus den Überseegebieten auf aussichtsreichen Listenplätzen zu wachen.“ 43 Es handelt sich dabei um ein Zusammenschluss verschiedener Parteien: Parti socialiste, les Verts (die Grünen), Parti Radical de Gauche und Mouvement Républicain et Citoyen. 44 „[…] Sie [die Mitglieder] haben sich durch ihr Abstimmungsverhalten zu Erneuerung und Vielfalt, wie auf dem Parteitag von Dijon ausdrücklich gewünscht, bekannt. [...] Die Präsenz von Bariza Khiari [...] auf dem zweiten Platz der Kandidatenliste für die Se- natswahlen sowie die von Halima Jemni, scheidende Abgeordnete, auf dem siebten Platz der Liste für die Regionalwahlen ist ein starkes Zeichen der Sozialisten alle Pariser zu repräsentieren.“ DIE PARISER SOZIALISTEN | 273

Erneut nimmt Bloche Bezug auf die Beschlüsse des Parteitags in Dijon und hebt danach die Nominierungen der beiden genannten Persönlichkeiten für einen siche- ren Listenplatz hervor. Bereits für die Kommunalwahlen 2001 wurden in verschiedenen Arrondisse- ments mehrere Bewerber_innen mit Migrationshintergrund nominiert (Fédération de Paris 2001), wovon mehr als in den Jahren zuvor Erfolg hatten.45 Überdies er- nannte Delanoë als neu gewählter sozialistischer Bürgermeister von Paris die alge- risch-stämmige Khadjia Bourcart zur Beauftragten für Integrationsfragen (Adjointe au Maire de Paris, chargée de l’intégration et des étrangers non-communautaires) (ebd.). Während im Jahresbericht der Partei (Rapport d’activité) von 2005 zu lesen ist, dass die diversité des origines bei der Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen für die verschiedenen Wahlen berücksichtigt wurde (Fédération de Paris 2005), sieht Bloche in einem Buchbeitrag zur Geschichte der Pariser Sozialisten weiterhin Nachholbedarf bei der Repräsentation von Migranten/Migrantinnen: „[...] la diver- sité des origines reste encore un objectif insuffissament atteint“46 (Chambarlhac 2005, S. 174). Hier bezieht er sich insbesondere auf die Bereitschaft der Partei, Kandida- ten/Kandidatinnen mit Migrationshintergrund für sichere Wahlkreise im Rahmen der Nationalversammlungswahlen zu nominieren. Die Nominierung von Pau-Langevin für einen sicheren Wahlkreis 2007 zeigt, wie lokale Widerstände mittels gemeinsamer Anstrengungen auf nationaler sowie Pariser Ebene gebrochen wurden. Zunächst reservierte die nationale Führungsebe- ne den Wahlkreis für eine Frau mit Migrationshintergrund. Somit konnte der bishe- rige Wahlkreiskandidat, Charzat, nicht mehr antreten. Er schickte nach Ansicht von Pau-Langevin die algerischstämmige Sophia Chikriou gegen sie ins Rennen (Pau-Langevin 2011, S. 131). Aus ihrer Sicht suchte Charzat mittels der Bewer- bung von Chikriou eine seiner Getreuen durchsetzen. Pau-Langevin gehörte dem Parteiflügel von Hollande an, während Charzat sowie Chikriou dem Flügel von Fabius zugeordnet werden konnten (Fédération de Paris 2007). Laurance und Maxwell gehen in ihrer Untersuchung davon aus, dass Pau-Langevin darüber hin- aus mit der Unterstützung von parteipolitischen Machthabern wie Dominique Strauss-Kahn und Bertrand Delanoë rechnen konnte (Laurence und Maxwell 2012, S. 26). Darüber hinaus zeigte sich, nach Angaben von Pau-Langevin, der Parteisek-

45 So schaffte es Halima Jemni in den Stadtrat von Paris. Bariza Khiari, Messaouda Cha- ruel, Mahor Chiche und Amadou Ba waren jeweils in den Conseil d’arrondissement ge- wählt worden. Daneben gab es erneut eine Reihe an erfolglosen migrantischen Bewer- bungen für einen Listenplatz bei den Kommunalwahlen (Fédération de Paris 2001). 46 „[...] die Vielfalt der Herkunftsorte bleibt ein bisher unzureichend erfülltes Ziel.“

274 | PARTEIEN UND MIGRANTEN retär für Wahlen (Secrétaire national chargé des éléctions), Bruno Leroux, grund- sätzlich offen für ihre Kandidatur in einem sicheren Wahlkreis (Pau-Langevin 2011, S. 121). Angesichts dieser breiten Unterstützung wurde Pau-Langevin gegen den Willen der Parteibasis für den Wahlkreis nominiert (Fédération de Paris 2007). Als Gegenreaktion stellte sich Charzat trotz der gegenteiligen Entscheidung der Partei mit Chikriou als Ersatzkandidatin im Wahlkreis auf, was seinen Parteiaus- schluss zur Folge hatte (ebd.). Auch hier lässt sich das entschiedene Vorgehen der Partei feststellen. Es muss jedoch an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass in anderen Wahl- kreisen mehrere Parteimitglieder mit Migrationshintergrund erfolglos für ein Amt kandidierten (ebd.). Darunter waren auch Personen aus den Überseegebieten, die sich als Kandidat oder Kandidatin de la diversité bewarben (ebd.). Eine Bewerbe- rin beschwerte sich in einem Schreiben an den Pariser Parteichef, dass sie über den Ablauf der Nominierungen im Wahlkreis nicht ausreichend informiert wurde, so dass sie gegenüber dem anderen Bewerber im Nachteil gewesen sei (Fédération de Paris 2007). Insofern zeigt sich hier, dass die Anstrengungen der nationalen und Pariser Ebene auf einen Wahlkreis konzentriert wurden. Für weitere Nominierun- gen reichte der politische Wille nicht aus. Dies änderte sich bei den Nominierun- gen 2012, als neben Pau-Langevin Seybah Dagoma erfolgreich für einen sicheren Wahlkreis nominiert wurde.47 Bei den Kommunalwahlen 2008 wurden nach Erhe- bungen von Michon insgesamt 43 Migranten/Migrantinnen48 der Sozialisten in den Stadtrat oder in den Rat auf Arrondissement-Ebene gewählt (Michon 2011, S. 84f.). Eine gestiegene Repräsentanz von Einwanderern/Einwanderinnen lässt sich auch in Bezug auf die Parteiämter feststellen. So wurde Khiari zur Beauftragten für das Vereinswesen (Secrétaire fédéral à la associative) innerhalb der Pariser Sozia- listen im Jahre 2000 ernannt (Fédération de Paris 2001). Ferner veränderte sich die Zusammensetzung in den verschiedenen Parteiorganen der Pariser fédération. Ich konnte im Conseil fédéral von 2003, d.h. dem Parteienparlament der fédération49, für die unterschiedlichen courants mehrere Nominierte mit Migrationshintergrund ausfindig machen (Fédération de Paris 2003b, S. 3). Darunter waren die meisten

47 Vgl. http://paris10.parti-socialiste.fr/2011/12/18/seybah-dagoma-candidate-; letzter Zu- griff am 13.02.2013. 48 Sie stützt dabei ihre Erhebungen auf Franzosen/Französinnen mit europäischen und au- ßereuropäischen Migrationshintergrund. 49 Hier werden laut Organisationsstatut zwei Drittel der Mitglieder nach dem Proporz der unterschiedlichen courants gewählt. Ein Drittel der Sitze entfällt auf die geographisch ausbalancierte Auswahl an Vorsitzende der einzelnen Sektionen (Parti socialiste 2012a, Artikel 2.4.2.1). DIE PARISER SOZIALISTEN | 275

Unterzeichner des vorher genannten Antrags.50 Auch im Bureau fédéral51 wurden mehrere Personen mit Migrationshintergrund gewählt (Fédération de Paris 2003b, S. 5). Im Secrétariat fédéral52 übernahm Najwa Confaita auf Vorschlag des Pariser Parteivorsitzenden Patrick Bloche53 das Amt für Frauenrechte (Droits des femmes). Unter den Responsable fédéraux54 wurden Sophia Chikirou (Economie solidaire), Malik Salemkour (Droits de l’homme) und Pierre Kanuty (Service d’ordre de Par- ti) ernannt (ebd., S. 6). Diese Anstrengungen spiegeln sich bei der Neubesetzung der Parteifunktionen in der Pariser fédération im Jahre 2006 wider. So wurden bei- spielsweise Soulé Diawara zum Beauftragten für Globalisierung (Secrétaire fédéral Mondialisation) und Malik Salemkour zum Beauftragten für Wohnungsan- gelegenheiten ernannt (Secrétaire fédéral logement) (Fédération de Paris 2006, S. 5).55 Schließlich wurde mit Angèle Louviers eine Beauftragte für Vielfalt und ge- gen Diskriminierung (Secrétaire fédéral diversité et lutte contre les discrimina- tions) eingesetzt, die bis zum Zeitpunkt der Erhebungen noch im Amt war.56 Grundsätzlich bleiben die Verfechter_innen einer stärkeren Repräsentation von Migranten/Migrantinnen gegenüber den Maßnahmen der gegenüber Partei kritisch und bezeichnen die Durchsetzung von einzelnen Kandidaten/Kandidatinnen als „Kosmetik“. Unter den Kritikern/Kritikerinnen ist beispielsweise Louviers, die Mitbegründerin des bereits genannten Zusammenschlusses Équite ist. Sie fordert eine klare Quote für Kandidaten/Kandidatinnen der diversité.57

50 Halima Jemni, Bariza Khiara, Sophia Chikirou, Pierre Kanuty, Lonsi-Koko. 51 Auch hier werden die Sitze proportional zu den jeweiligen Gewichten der courants auf- geteilt. Beim Bureau fédéral handelt es sich um ein Durchführungsorgan des Conseil fédéral, der die Beschlüsse umsetzt (Philippe und Hubscher 1991, S. 171). 52 Hierbei handelt es sich um eine Art Parteivorstand, der für die Führung der fédération zuständig ist. Er wird von dem Conseil fédéral nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, so dass sich unterschiedliche courants zusammenschließen, um eine gemeinsame Liste an Funktionsträgern/Funktionsträgerinnen durchzusetzen. Den Parteienvorsitz (Se- crétaire général) übernimmt meistens eine Person, die der dominanten courant angehört. 53 Vgl. http://najwaconfaits.hautetfort.com/about.html; letzter Zugriff am 26.02.2015. 54 Sie sind dem Secrétariat fédéral unterstellt. Heute gibt es diese Funktion nicht mehr. 55 Im Conseil fédéral sind Adama Daouda Kouadio, Afaf Gabelotaud, Mailka Id-Salah, Halima Jemni, Pierre Kanuty, Ouarda Karrai, Faouzi Lamdaoui, Fatima Lalem, Malik Salemkour, Amine Benyamina, Sophia Chikirou, Soulé Diawara ausmachen. Im Bureau fédéral sind es Afaf Gabelotaud, Ouarda Karrai, Malik Salemkour, Sophia Chikirou so- wie Lonsi-Koko. 56 Vgl. http://www.ps-paris.org/groupe/secretariat-federal; letzter Zugriff am 14.07.2014. 57 Vgl. http://rue89.nouvelobs.com/2009/12/11/des-representants-de-la-diversite-tirent-la- sonnette-dalarme-au-ps-129620; letzter Zugriff am 24.06.2014.

276 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

8.2.1 Personelle Verflechtung und personeller Neuanfang

Ein wesentlicher Erklärungsfaktor für die aufgezeigten Veränderungen ist weiter- hin die machtpolitische Dominanz der nationalen Ebene der Partei sowie die Nähe zum machtpolitischen Zentrum. Wie bereits unter 7.4 ausgeführt, gewann das Thema der parteipolitischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen auf den genannten Parteitagen immer mehr an Relevanz. Vor diesem Hintergrund musste sich auch der Druck auf die Pariser fédération erhöhen. Im Unterschied zu der ers- ten Periode kam es aufgrund zweier innerparteilicher Faktoren zur Durchsetzung der nationalen Forderungen – auch gegen den Widerstand der lokalen Ebene. Es etablierten sich zum einen Parteimitglieder mit Migrationshintergrund innerhalb der Pariser PS sowie innerhalb der nationalen Gremien der Partei. Und zum ande- ren kam zu einem Führungswechsel innerhalb der Pariser Parteispitze. Bereits im vorangegangen Kapitel wurde indirekt deutlich, dass Persönlichkei- ten mit eigener Migrationserfahrung58 auf nationaler wie auf föderaler Ebene der Partei vermehrt aktiv waren und sich für die politische Repräsentation von Migran- ten/Migrantinnen stark machten. Auf diese Weise regten die Pariser Parteiaktivis- ten/-aktivistinnen auf nationaler Ebene die Diskussion an und setzten bestimmte Ziele durch, welche wiederum als Druckmittel auf der Ebene der fédération dien- ten. Aufgrund ihrer verstärkten Verankerung in den Instanzen der Pariser fédérati- on konnten sie auf die innerparteiliche Debatten und Entscheidungen Einfluss nehmen. Ein weiterer Ausdruck dieses parallelen Engagements zeigte sich bei der bereits erwähnten innerparteilichen Gruppierung Equité (vgl. 7.4), die auf nationa- ler Ebene aktiv war und ein Teil ihrer Basis in Paris hatte (Interview mit H). So war beispielsweise Amadou Ba Kommunalpolitiker im 19. Arrondissement und Aktivist bei Equité (Geisser und Soum 2008, S. 120). Ebenso war die oben zitierte Louviers Parteimitglied im 16. Arrondissement. Insofern lassen sich hier Parallelen zur innerparteilichen Mobilisierung von Frauen erkennen, die, wie Forschungen belegen, wesentlichen Anteil an deren parteipolitischen Inkorporation hatten (Caul 2001, S. 1215; Perrigo 1995, S. 409f.). Neben dieser innerparteilichen Mobilisierung kam es Anfang der 1990er Jahre zu einem Führungswechsel innerhalb der Pariser Sozialisten. Der einstige Partei- chef Sarre verließ 1993 die Partei und schloss sich dem von Chevènement gegrün- deten Mouvement des citoyens an. Zu diesem Zeitpunkt war die Partei durch inter- ne Machtkämpfe und einen Flügelstreit geprägt, so dass die PS kurz vor einem Zu- sammenbruch stand. Mit der Führungsübernahme von Delanoë als Fraktionsvorsit- zender der Sozialisten legten sich diese innerparteilichen Spannungen. Ferner setz- te er laut eines Zeitungsberichts auf eine weit weniger ideologisierte Politik. Statt-

58 Genannt seien an dieser Stelle beispielsweise Pau-Langevin, Khiari und Lamdaoui. DIE PARISER SOZIALISTEN | 277 dessen suchte er einen pragmatisch-kritischen Umgang mit den regierenden Kon- servativen (Fédération de Paris 1995). So setzte Delanoë sich bereits im Vorfeld der Kommunalwahlen 1995 für eine Repräsentation der Wähler_innen in ihrer Vielfalt ein, wobei er an dieser Stelle unter Vielfalt unterschiedliche Ideen und Vorstellungen der Wähler_innen verstand sowie eine Stärkung der lokalen Beteili- gungsformen forderte (ebd.). Auch zeigte er sich für die Aufarbeitung des Kolonia- lismus und der Versklavung sensibel und machte sich ab 1995 für die Umbenen- nung einer Straße stark, die nach einem Sklavenhalter benannt worden war (Pau- Langevin 2011, S. 104f.; 110f.). In den Folgejahren setzte er sich verstärkt für ein weltoffenes und antirassistisches Paris ein. Delanoë sagte in einem Interview für die Zeitschrift Les Temps Modernes kurz nach seiner Wahl zum Bürgermeister von Paris:

„C’est moi qui dis les valeurs de Paris. La tolérance, la liberté, la diversité, la générosité [...]. N’oublions pas que l’adversaire était l’extrême droite. [...]. Quand Paris n’est pas arrogant, quand Paris accepte d’être un carrefour pour tous les autres, alors Paris est magnifique.“59 (Delanoë 2001/2002, S. 24)

Das Bekenntnis zu Toleranz und Vielfalt sowie die Abgrenzung zu den Rechtsext- remen verdeutlichen, welche Akzente er setzen will. Es geht ihm darum, Paris als internationale und offene Metropole darzustellen. Hierfür steht folgende Aussage von Delanoë:

„J’ai aussi un petit faible pour Vienne. [...] Je suis allé à Vienne parce que son maire était confronté à la menace de Haider. Au cours de ce meeting, des milliers de Viennois accla- maient Paris et les valeurs de Paris. Mon premier geste, et je le revendique clairement, a donc consisté à représenter Paris dans une bataille contre l’antisémitisme, le racisme, et l’exclusion.“60 (Ebd.)

Mit dem Vergleich zu Wien, das zum damaligen Zeitpunkt den Aufstieg und die Popularität des rechtsextremen Jörg Haider zu spüren bekamen, sieht Delanoë die

59 „Ich lege die Werte von Paris fest. Toleranz, Freiheit, Vielfalt, Großzügigkeit. [...] Wir sollten nicht vergessen, dass unser Gegner die Rechtsextremen waren [...]. Wenn Paris nicht kaltherzig sein will, wenn Paris ein Ort für alle ist, dann ist Paris wunderbar.“ 60 „Ich habe eine Schwäche für Wien. [...] Ich besuchte Wien, da der Bürgermeister sich mit der Gefahr eines politisch erstarkenden Haiders konfrontiert sah. Im Verlauf des Treffens feierten tausende Wiener Paris und dessen Werte. Meine erste Geste, zu der ich mich klar bekenne, bestand darin, Paris als Ort des Kampfes gegen Antisemitismus, Ras- sismus und Exklusion herauszustellen.“

278 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Vorreiterrolle Paris im Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus bestärkt. An dieser Stelle tritt deutlich das Motiv einer Stadt als weltoffene Metropole hervor, die im europäischen Vergleich mit anderen Städten steht und somit gezwungen ist, sich zu wandeln. Delanoë setzte schließlich nach seiner Machtübernahme die Um- benennungen von Straßen durch – auch gegen Widerstände der Konservativen, die darin einen kommunitaristischen Akt sahen (Pau-Langevin 2011, S. 104f.; 110f.). Die Unterstützung der algerischstämmigen Bourcart, die er zu einer seiner Stellver- treterinnen im Bereich Integration und außereuropäische Gemeinschaften machte, kann als ein Zeichen der Veränderung gesehen werden. Zudem stellen Geisser und Soum im Zusammenhang der Kommunalwahlen 2008 fest, dass Delanoë fünf Per- sonen der diversité als Stellvertreter_innen im neuen Stadtrat nominierte (Geisser und Soum 2008, S. 179). Angesichts dieses Engagements erhielt er von der Verei- nigung le CRAN den Preis Prix de la diversité républicaine im Jahr 2008 im Be- reich der politischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen (Avanza 2010a, S. 414).61 Der anhaltende Wahlerfolg verschaffte ihm zudem die nötige Legitimität in seiner Ausrichtung.

8.2.2 Politischer Wettbewerb und die postmaterialistische Wählerschaft

Der bereits angedeutete Wahlerfolg der Pariser PS muss als ein weiterer Grund für den Wandel gesehen werden. So veränderten sich die Machtverhältnisse im Partei- enwettbewerb aufgrund eines Wertewandels innerhalb der Pariser Wählerschaft. Die Konservativen verloren bei den Kommunalwahlen 1995 ihre absolute Mehr- heit in allen Arrondissements und die linken Kräfte stellten in sechs östlichen Wahlkreisen die Mehrheit (Alexander 2007, S. 137; Kantor et al. 2012, S. 167). Um einen Machtwechsel zu ermöglichen, setzte die PS bewusst auf eine Öffnung gegenüber verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Es wurde bewusst mit einer offensiven Integrationspolitik geworben. Es galt, im Kontrast zu den Konservati- ven, ein Bild der Erneuerung zu vermitteln. Hintergrund dieser Strategie bildete ein verändertes Wahlstimmenpotenzial innerhalb der Stadt. Nach Ansicht von Pinçon war diese Veränderung unter anderem62 dem Zuzug einer Mittelschicht und Ab-

61 Vgl. auch http://www.linternaute.com/actualite/politique/article/les-champions-de-la-di versite.shtml; letzter Zugriff am 21.09.2013. 62 Ein weiterer Grund für den Wahlsieg wird in der Spaltung der Konservativen sowie im speziellen Pariser Wahlsystem gesehen, die dazu führten, dass rein rechnerische Mehr- heit der konservativen Kräfte nicht ausreichten, um den Oberbürgermeister zu stellen (Michon 2011, S. 65; Pinçon und Pinçon-Charlot 2008, S. 100). DIE PARISER SOZIALISTEN | 279 wanderung der einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten geschuldet. Diese Gruppe charakterisieren sie wie folgt:

„In Bezug auf ihre berufliche und soziale Stellung, die vor allem auch mit ihrem schulischen und kulturellen Kapital zusammenhängt, unterhält die Life-Style-Elite der so genannten ‚Bo- bos‘ in soziologischer Hinsicht politische Affinitäten zu den linken Politikern in Paris. Die linke Koalition in Paris aus Grünen, Kommunisten und der zahlenmäßig stärksten Fraktion der Sozialisten harmoniert problemlos mit den ökologischen Interessen, der Sorge um die Menschenrechte, einer antirassistischen und libertären moralischen Grundeinstellung [...].“ (Pinçon und Pinçon-Charlot 2008, S. 104)

Angesichts der Verlagerung von einer konservativen zu einer liberaleren Werteori- entierung unter den Wählern/Wählerinnen sahen die Pariser Sozialisten neue Mög- lichkeiten in der Migrantenpolitik. Dabei spielte insbesondere der Aufstieg der Grünen (les Verts) in Paris eine tragende Rolle. Sie gewannen ab Mitte der 1990er Jahre an Zustimmung und zeigten sich offen gegenüber der Inkorporation von Migranten/Migrantinnen (Michon 2011, S. 70). Zudem bildeten sie mit den Sozia- listen und anderen linken Kräften eine Regierungskoalition ab 2001 (Alexander 2003, S. 175). So war die von Delanoë nominierte Integrationsbeauftragte Bourcart Mitglied der Grünen. Auch Geisser und Soum sehen in den Grünen Ende der 1990er die Partei der diversité. Hierfür steht stellvertretend der damalige Partei- sprecher Stéphane Pocrain, der in Paris geboren wurde und dessen Eltern aus Gua- deloupe stammen (Geisser und Soum 2008, S. 33). Mit dem Erfolg bei den Kommunalwahlen 2001 sahen sich die Sozialisten in ihrer Ausrichtung bestätigt, so dass sie einen Paradigmenwechsel in der Migran- tenpolitik einleiteten (Michon 2011, S. 65; Alexander 2007, S. 116; 130). Sie ziel- ten auf eine Stärkung der lokalen Demokratie, bei der sie die verschiedenen gesell- schaftlichen Akteure, wie die Einwanderer/Einwanderinnen, beteiligen wollten (Alexander 2003, S. 193). So wurde beispielsweise die Einrichtung des Conseil de la Citoyenneté des Parisiens non-Communautaire63 nicht nur im Wahlprogramm gefordert, sondern auch 2002 umgesetzt. Des Weiteren war ein Budget in Höhe von einer halben Million Euro für die Integrationspolitik vorgesehen, von denen insbesondere Vereine, die sich für Migranten/Migrantinnen engagierten, profitieren sollten (Alexander 2007, S. 144f.). Entsprechend leitete die PS ab 2001 wesentli-

63 Hierbei handelt es sich um eine Art Beirat für Nicht-EU-Staatsangehörige, der auf Ebene des Pariser Stadtrats angesiedelt ist. Die Mitglieder werden ernannt (vgl. http://www. paris.fr/politiques/citoyennete-et-integration/ccpnc/presentation-du-conseil-de-la-citoy- ennete-des-parisiens-non-communautaires/rub_8079_stand_26064_port_18625; letzter Zugriff am 03.03.2015).

280 | PARTEIEN UND MIGRANTEN che Veränderungsprozesse ein, die direkt oder indirekt die parteipolitische Inkor- poration von Migranten/Migrantinnen förderten.

8.3 ZWISCHENRESÜMEE

Es zeigte sich in der ersten Phase, dass die Pariser PS über Jahrzehnte nur verein- zelt die parteipolitischen Inkorporationsprozesse von Einwanderern/Einwander- innen vorantrieb. Auch waren es vereinzelt Migranten/Migrantinnen aus den süd- europäischen Ländern, die ihren individuellen Aufstieg in der Partei schafften, oh- ne dass dabei ihr Migrationshintergrund eine Rolle gespielt hat. Die erste Phase war durch eine paradoxe Entwicklung geprägt. Einerseits führ- te die politische wie auch parteistrukturelle Schwäche gegenüber der nationalen Ebene (party in central office) dazu, dass sich die fédération im Hinblick auf die parteipolitische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen kaum von nationaler Ebene abheben konnte. Diese Dynamik wurde zusätzlich durch stadtspezifische Rahmenbedingungen verstärkt. Es war die exponierte Lage von Paris als politi- sches Zentrum, welche zentripetale Kräfte freisetzte und eigenständige Zielsetzun- gen der Pariser Gliederung erschwerte. Entsprechend gering war innerhalb der fédération der Anreiz, eigenständige und passgenaue Initiativen zu entwickeln, die sich nach den migrationsspezifischen Entwicklungen in Paris richteten. Andererseits scheiterten die nationalen Initiativen und Forderungen aber am Widerstand der lokalen Eliten in den einzelnen Wahlkreisen (party on the ground). Ursache für diesen Widerstand war, dass die lokalen Vertreter_innen wenig Anlass sahen, sich gegenüber den Anliegen der Eingewanderten zu öffnen. Die Dominanz der Konservativen und ihre auf Verdrängung ausgelegte Stadtpolitik, die eine In- tegrationspolitik gegenüber Einwanderern/Einwanderinnen nicht vorsah, verhin- derte eine höhere politische Beteiligung von und einen Austausch mit Migran- ten/Migrantinnen auf kommunaler Ebene. Ferner waren letztere überwiegend in den organisations communautaires und nicht in den zivilgesellschaftlichen franzö- sischen Gruppierungen aktiv, so dass sie sich nicht gegenüber den klientelistischen Netzwerken der lokalen Politiker_innen als einflussreiche Wählergruppe positio- nierten und Druck ausübten. Verstärkt wurde diese Verschlossenheit durch die Tendenz zum innerparteilichen Malthusianismus. Ein Wandel vollzog sich erst, als der Druck von nationaler Ebene anstieg sowie eine zunehmende Etablierung und Verflechtung von Parteimitgliedern mit Migra- tionshintergrund auf föderaler und nationaler Ebene sich bemerkbar machte, die sich im Bereich parteipolitischer Teilhabe von Migranten/Migrantinnen engagier- ten. Zudem waren es der Führungswechsel innerhalb der Pariser Sozialisten sowie die veränderten Vorzeichen des politischen Parteienwettbewerbs, die auch den Wi- derstand lokaler Eliten brechen konnte bzw. deren Bereitschaft erhöhte. 9 Fallstudie in Paris und Seine-Saint-Denis

Bisher habe ich die Entwicklungen im Hinblick auf die parteipolitische Inkorpora- tion von Migranten/Migrantinnen auf unterschiedlichen Ebenen der Partei analy- siert. Dabei konnte einerseits die Dominanz der nationalen Partei und andererseits die Rolle der lokalen Eliten festgestellt werden. Bei letzteren deutete sich eine ver- haltene Bereitschaft zu parteipolitischen Inkorporationsprozessen an. Unklar blieb bisher, auf welche Art und Weise die Politiker_innen innerhalb einer section mit diesem Thema in ihrer politischen Praxis umgehen. Inwieweit spiegeln sich die oben dargestellten Hemmnisse wider? Inwiefern wirkt sich der verstärkte Druck der nationalen Ebene aus? Bezüglich der Pariser PS hat sich gezeigt, dass bisher vor allem Fragen der politischen Repräsentation von Einwanderern/Einwander- innen thematisiert wurden. Wie sieht es aber im Bereich der Wähler- und Mitglie- deransprache aus? In welchem Maß spielt hier die eingewanderte Bevölkerung ei- ne Rolle? Diesen Fragen wird mittels eines Vergleichs von zwei verschiedenen sections nachgegangen. Im Folgenden skizziere ich kurz das Vorgehen bei der Auswahl der sections sowie die Hürden und den Umfang der Erhebungen. Anschließend gebe ich einen Überblick über den Aufbau des Kapitels. Die eine section ist in Paris (Sektion P) verankert, während die andere sich in einer Vorstadt von Paris (banlieue) befindet (Sektion B). Mit dieser Vorgehens- weise visiere ich eine Kontrastierung an, die es ermöglichen wird, die Relevanz spezifischer Entwicklungen im Pariser Kontext und lokalübergreifende Phänomene herauszuarbeiten. Die Wahl einer section im banlieue basiert auf Erkenntnissen der bisherigen Forschungsliteratur, in der festgestellt wurde, dass es in den banlieues schon früh zu einer Ansprache von Wählern/Wählerinnen mit sichtbarem Migrati- onshintergrund kam (Geisser 1997; Avanza 2010b; Braconier und Dormagen 2007). Insofern ist anzunehmen, dass sich diese Unterschiede auch in den zu unter- suchenden Sektionen widerspiegeln und somit lokalspezifische Einflussfaktoren detaillierter herausgearbeitet werden können. Gleichzeitig sind Gemeinsamkeiten 282 | PARTEIEN UND MIGRANTEN zwischen beiden Untersuchungsfällen nicht auszuschließen. Sie können Rück- schlüsse auf lokalübergreifende Ursachen geben. Neben der räumlichen Verortung achtete ich, wie bei den Fallstudien der Berli- ner SPD, bei der Auswahl der zwei Sektionen darauf, dass beide jeweils in einem Stadtgebiet verankert sind, welches durch Einwanderung geprägt ist und somit ei- nen hohen Anteil an Einwanderern/Einwanderinnen in der Bevölkerung aufweist. Ich analysierte die einzelnen Conseils d’arrondissement für Paris bzw. Conseils municipaux für Seine-Saint-Denis (Gemeinderäte) nach Gewählten mit sichtbarem Migrationshintergrund1. Nur jene Gebiete kamen für mich in Frage, die bereits ein oder mehrere Gewählte mit Migrationshintergrund der PS aufwiesen. Auf diese Weise wollte ich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass parteipolitischer Inkorpora- tionsprozesse ein Thema sein würden. Obendrein bildete der Zugang zu den Sektionen ein wesentliches Kriterium für meine Auswahl. Dieser stellte sich als schwierig heraus. Dies lag zum einen daran, dass die einzelnen Sektionen oftmals keine eigenständige Niederlassung mit regu- lären Öffnungs- oder Präsenzzeiten hatten, so dass sich die Kontaktaufnahme vor Ort schwierig gestaltete. Zudem war die Internetpräsenz der Sektionen lückenhaft bis nicht existent. Vereinzelt fanden sich Email-Adressen von den Parteivorsitzen- den (secrétaire de section) oder anderweitigen Ansprechpartnern/-partnerinnen, die ich anschrieb.2 Gleichwohl musste ich einige Hürden bei den Erhebungen der ausgewählten Sektionen P und der Sektion B hinnehmen. In diesem Zusammenhang ist zu er- wähnen, dass der schwere Zugang zu Parteien einer der Gründe ist, warum es bis- her vergleichsweise wenige Feldstudien in diesem Bereich gibt. In einer der weni- gen Studien, die es im französischen Kontext gibt, wird der Zugang zu und das Er- forschen von Parteien mit einem Haus vergleichen, bei dem es darum gehe, einen Weg hinein zu finden, um von dort aus möglichst viele Bereiche innerhalb des Hauses zu erkunden (Aït-Aoudia et al. 2010, S. 15). Dabei zählen insbesondere der erste Eindruck sowie die jeweils individuellen Eigenschaften bei der ersten Begeg-

1 Grund für diesen Fokus bilden meine bisherigen Erkenntnisse auf nationaler sowie Pari- ser Ebene, die unterstreichen, dass die parteipolitische Inkorporation allein im Fall von sichtbaren Minderheiten thematisiert wird. Zur Identifikation des sichtbaren Migrations- hintergrunds zog ich die Fotos und Namen der Mandatsträger_innen, die auf den jewei- ligen Websites der Gemeinderäte zu finden waren, heran. 2 Im Fall von Paris schrieb ich zwei potentielle Sektionen an, wobei ich nur von einer eine Antwort erhielt. Diese Gelegenheit nutzte ich (Sektion P). Im Fall der Sektion in Seine- Saint-Denis kontaktierte ich die Parteizentrale auf föderaler Ebene. Ein Ansprechpartner empfahl mir drei Sektionen, von denen ich eine auswählte (Sektion B). FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 283 nung mit den Hausbewohnern.3 Ferner hat jedes Haus eine Vorgeschichte. So stell- te sich beispielsweise im Fall der Sektion B heraus, dass kurz zuvor einige Journa- listen/Journalistinnen über die Arbeit dieser Parteigliederung, aus Sicht des Sekti- onsleiters, sehr negativ in einem Buch berichtet hatten, so dass eine gewisse Skep- sis gegenüber meinem Vorhaben vorhanden war. Eine förderliche Rolle mag wie- derum die Tatsache gespielt haben, dass sich linke Parteien in Frankreich generell offener gegenüber Forschungsvorhaben zeigen, als konservative Parteien (Aït- Aoudia et al. 2010, S. 23). Auch blieben mir einige „Räume des Hauses“ verschlossen oder wurden erst geöffnet, als dort keine für mich relevanten Informationen mehr zu erfassen waren. So wurden mir nicht immer alle Veranstaltungstermine oder -orte der Partei mitge- teilt.4 Ferner verging von der ersten Kontaktaufnahme bis zum ersten Besuch einer lokalen Parteiveranstaltung so viel Zeit, dass beispielsweise die Diskussionen über die Nominierung der Wahlkreiskandidatinnen bereits abgeschlossen waren. Neben diesen Hindernissen kam hinzu, dass Parteiveranstaltungen nur sehr sporadisch stattfanden (einmal im Monat). Angesichts dieser Einschränkungen habe ich mich dazu entschlossen, die Beobachtungen von Parteisitzungen nicht direkt in die Ana- lyse miteinzubeziehen, da sie meiner Ansicht nach für eine fundierte Auswertung nicht ausreichen. Im Gegensatz dazu fiel es mir relativ leicht, Interviewpartner/-partnerinnen zu gewinnen. Zwar verlief auch hier die Kontaktaufnahme nicht immer unproblema- tisch, da durch die Wahlkampfphase, in der meine Erhebungen stattfanden, viele politisch Engagierte durch Wahlkampfaktivitäten gebunden und dadurch weniger zu einem Gespräch bereit waren. Durch den persönlichen Kontakt sowie durch persönliche Empfehlungen gelang es mir schließlich, mit zentralen politischen Per- sönlichkeiten Interviews zu führen. Unter zentralen politischen Persönlichkeiten verstehe ich die sozialistischen Bürgermeister_innen, die jeweils die Gemeinde re- gierten, die Vorsitzenden der Sektionen (secrétaire de section) sowie einzelne kommunale Abgeordnete, die in engem Kontakt zum Bürgermeister stehen. Ich in- terviewte auch jeweils eine erfolgreiche Bewerberin mit sichtbarem Migrationshin- tergrund (Sektion P) und eine nicht erfolgreiche Bewerberin (Sektion B) mit sicht-

3 Meine Verankerung an einer gesellschaftlich renommierten universitären Einrichtung, dem Sciences Po, verlieh mir Legitimität als Forscher und schuf so oft Vertrauen. Des Weiteren konnte ich als Person deutscher Herkunft ein gewisses Interesse wecken, das sich durch Neugierde und Offenheit meiner Gesprächspartner_innen zeigte. Ich wurde mehrmals zu der politischen Lage in Deutschland befragt sowie zu der Situation inner- halb der SPD. 4 So kam es vor, dass angesagte Treffen nicht stattfanden oder kurzfristig ohne mein Wis- sen an andere Orte verlegt wurden.

284 | PARTEIEN UND MIGRANTEN barem Migrationshintergrund für die nationalen Parlamentswahlen 2012. Insge- samt führte ich für beide Sektionen zwölf Interviews durch (Sektion P sieben In- terviews; Sektion B fünf Interviews). Wie bereits unter 8.1.2 erwähnt, sind es die lokalen Eliten, die über Entwicklungen innerhalb einer Sektion entscheiden. Ent- sprechend können aus den Aussagen der von mir Befragten, die teils zu diesen Eli- ten zählen, wichtige Einsichten erschlossen werden.5 Schließlich muss betont wer- den, dass, wie im Fall der Berliner SPD, die Aussagen der Interviewten soweit wie möglich anonymisiert werden. Sie werden im Folgenden durchnummeriert. Das Kapitel untergliedert sich in zwei Teile. Die empirischen Ergebnisse der Sektion P (9.1) und der Sektion B (9.2) werden angesichts der Fülle der Materia- lien in zwei getrennten Unterkapiteln dargestellt. Diese Unterkapitel unterteilen sich jeweils in vier Abschnitte, die sich an folgendem Erkenntnisinteresse orientie- ren. Wie im Fall der Parteigliederungen der SPD, geht es mir bei der Analyse um die Beleuchtung unterschiedlicher Aspekte parteipolitischer Inkorporationsprozes- se. Entsprechend werde ich gemäß meiner Definition von parteipolitischen Inkor- porationsprozessen die Relevanz des Migrationshintergrundes im Hinblick auf Wähleransprache, die Mitgliederanwerbung sowie die Nominierung von Kandida- ten/Kandidatinnen analysieren. Des Weiteren sollen die relevanten Aspekte des jeweiligen Themas einerseits durch eine induktive Herangehensweise herausgear- beitet werden. Welche Muster gehen aus den Interviews selbst hervor? Anderer- seits wird deduktiv vorgegangen, indem auf Basis bisheriger Erkenntnisse be- stimmte Punkte näher beleuchtet werden. Durch einen abschließenden Vergleich werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und mittels bisheri- ger Forschungsergebnisse kritisch reflektiert und eingeordnet.

9.1 EINE PARTEIGLIEDERUNG IN EINEM PARISER ARRONDISSEMENT

Die Sektion P befindet sich in einem östlichen Arrondissement6 von Paris. Das öst- liche Paris wurde nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere durch postkoloniale Einwanderung geprägt (Alexander 2007, S. 125). Entsprechend spiegelt sich diese Einwanderung bis heute in den Bevölkerungszahlen wider. So lag der Anteil der

5 Gleichwohl ist an dieser Stelle anzumerken, dass mittels der Interviews nicht die tatsäch- lichen Abläufe innerhalb der Partei nachvollzogen werden können. Es handelt sich viel- mehr um subjektive Interpretationen und Wahrnehmungen der Interviewten. 6 Zur Wahrung der Anonymität wird das Arrondissement nicht genannt. Weitere Angaben sind so gehalten, dass keine direkten Rückschlüsse auf den Ort möglich sind. FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 285

Einwanderer/Einwanderinnen (immigrés) an der Gesamtbevölkerung laut Bevölke- rungsumfrage von 2011 bei über 20 Prozent.7 Die Sektion selbst verfügt nach An- gaben der Befragten etwa über 300 bis 400 Mitglieder, was im Durchschnitt aller Sektionen von Paris liegt.8 Im Zuge der Auswahl der Sektion konnte ich mehrere kommunale Vertreter_innen mit sichtbarem Migrationshintergrund ausmachen, die bei den Kommunalwahlen 2008 für die PS angetreten waren.9 Was den politischen Wettbewerb angeht, ist festzuhalten, dass die PS den Bürgermeister im Arrondis- sement stellt, so dass sie die stärkste politische Kraft auf kommunaler Ebene bildet. Überdies sitzt für den Wahlkreis seit 1997 ein sozialistischer Abgeordneter in der Nationalversammlung. Insofern kann von einer parteiwettbewerblich starken Posi- tion der Sektion P in diesem Arrondissement ausgegangen werden.

9.1.1 Die Konstruktion einer politisch inaktiven Einwanderungsbevölkerung

In einem ersten Schritt geht es mir darum, wie die lokalen Parteiverantwortlichen die eigene lokale Bevölkerung wahrnehmen, wie sie diese beschreiben und mit welchen Assoziationen sie sie in Verbindung bringen. Welche Muster lassen sich erkennen? Kommt es zu einer Verknüpfung bestimmter Bevölkerungsgruppen mit einer politischen Aktivität oder einem parteipolitischem Engagement? Inwiefern spielt der Migrationshintergrund dabei eine Rolle? Die interviewten Personen teilen die Bevölkerung in zwei Gruppen ein. Sie suggerieren dabei, dass es eine Mittel- und Oberschicht und eine sozial benachtei- ligte Schicht gibt. Die erste Gruppe wird mit verschiedenen Begriffen umschrieben sowie mit bestimmten Eigenschaften und Entwicklungen in Verbindung gebracht. So werden sie als bobos bezeichnet, die für die Abkürzung bourgeois-bohème und somit für eine Verbürgerlichung und einen bestimmten Lebensstil stehen. Intellek- tuelle Berufe, Berufe im Kommunikationsbereich sowie Architekt_innen und Künstler_innen werden mit dieser Gruppe assoziiert. Gleichzeitig gelten sie nach Ansicht der Befragten als jung, gebildet, kosmopolitisch, tolerant gegenüber unter- schiedlichen Lebensstilen und -modellen sowie linksalternativ. Sie werden als

7 Vgl. Datenbank von INSEE (http://www.insee.fr; letzter Zugriff am 26.07.2014). 8 Nach dem Rapport d’activité waren es durchschnittlich 396 Mitglieder (Parti socialiste Paris 2012, S. 8). 9 Bei den Kommunalwahlen wird auf Arrondissement-Ebene von den örtlichen Parteiglie- derungen eine Liste von Kandidierenden aufgestellt. Wie bereits erwähnt, wird in höchs- tens zwei Wahlgängen über die Sitzverteilung entschieden (vgl. Fußnote 17). Eine Liste kann von verschiedenen Parteien gebildet werden, so dass Bewerber_innen unterschied- licher Parteien auf einer Liste vertreten sein können.

286 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Ausdruck einer Gentrifizierung des Stadtviertels gesehen, die wiederum mit stei- genden Mieten und damit einhergehender Wohnungsnot verknüpft wird (1-5). In Abgrenzung dazu steht das quartier populaire, das nach den Beschreibungen der Interviewten vor allem in der Vergangenheit die Identität des Arrondissements prägte, die jedoch bis heute noch spürbar sei. Mit ihnen wird eine Mischung aus sozialer Unter- und Arbeiterschicht verbunden (6-11). Auf meine Nachfrage defi- niert ein aktives Parteimitglied den Unterschied zwischen beiden Gruppen wie folgt:

„[...] on peut définir populaire par les revenus ce qui est le meilleur critère. [...] Mais en même temps c’est un arrondissement dans lequel il y a une population, c’est qu’on appelle les fameux bobos, qui ont des revenus, des positionnements idéologique assez différents, as- sez différents des quartiers populaires.“10 (12)

Neben einer Unterteilung in zwei Gruppen fällt auf, dass die eingewanderte Bevöl- kerung indirekt zu dem quartier populaire und nicht zu den bobos gezählt wird. So führt ein Parteimitglied und Mitglied des Kommunalparlamentes auf Arrondisse- ment-Ebene aus: „Donc on peut considérer [...] que l’arrondissement est un arron- dissement populaire dans lequel il y a une mixité relativement forte. Je crois me souvenir qu’on a recensé tout à fait récemment encore la présence de 72-73 natio- nalités dans l’arrondissement.“11 (13) Hier verknüpft er Begriffe wie mixité und arrondissement populaire mit der Bevölkerung aus verschiedenen Ländern. Somit entsteht der Eindruck, dass mit dem arrondissement populaire nicht nur eine mixité sociale, sondern auch eine mi- xité der nationalen Herkünfte verbunden wird. Die Assoziation des Begriffs mixité sowie quartier populaire spiegelt sich auch in folgender Interviewaussage wider:

10 „[...] populaire kann man am besten am Einkommen festmachen. [...] Aber gleichzeitig gibt es in diesem Arrondissement ein Bevölkerungsteil, die berühmten bobos [...], die im Vergleich zu den quartiers populaires über ein höheres Einkommen verfügen und eine ziemlich konträre politische Einstellung haben.“ 11 „Daher kann man das Arrondissement als ein Arbeiterviertel ansehen, in dem es eine starke Durchmischung gibt. Ich glaube, wir haben hier vor kurzem immer noch 72 bis 73 verschiedene Nationalitäten feststellen können.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 287

„C’est un quartier très populaire, mixed, [...] c’est un quartier d’échange. C’est un quartier où il y a beaucoup de primo arrivants à Paris, historiquement c’était toujours le cas – les gens qui venaient des provinces françaises, qui venaient de l’étranger et puis c’était une époque où des gens qui venaient du Maghreb, de la Chine etc [...].“12 (14)

Während der Befragte das quartier populaire einst mit der regionalen Einwande- rung in Verbindung bringt, ist es seine Ansicht nach heute insbesondere die Migra- tion aus dem nicht-europäischen Ausland. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass die Bevölkerung mit Migrations- hintergrund nicht allein auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht begrenzt wird. So wird die eingewanderte Bevölkerung mit dem Begriff des Multikulturalismus assoziiert, welcher mit einem Zusammenleben und der Koexistenz unterschiedlicher Kulturen (cohabitation et coexistence entre les cul- tures) und mit der Vorstellung eines Schmelztiegels (lieu de brassage) in Verbin- dung gebracht und als integrativer Bestandteil des Arrondissements beschrieben wird (15-17). In diesem Zusammenhang werden verschiedene Herkunftsgruppen als Gemeinschaften (communautés) bezeichnet, wie die „Chinesen“, „die Afrika- ner“, „die Maghrebiner“, „die Türken“ und „die Tamilen aus Sri Lanka“ (ebd.). Auffällig ist bei den Beschreibungen, dass diese Herkunftsgruppen nicht mit einem politischen Engagement verknüpft bzw. nicht als politisch aktive Gruppe konzeptualisiert werden. Dies geschieht auf direkte Weise, indem grundsätzlich von einer politischen Passivität von Einwanderern/Einwanderinnen als solche aus- gegangen wird. Ein Parteimitglied merkt im Zusammenhang der Präsenz und Be- teiligung von Migranten/Migrantinnen in den lokalen Quartiersbeiräten (conseil de quartier)13 an:

12 „Das ist ein Viertel, das stark durch das Arbeitermilieu geprägt und gemischt ist, [...] es ist Viertel des Austausches. Es ist ein Viertel, wo sich historisch gesehen schon immer Pariser Neuankömmlinge niederließen – die Leute, die vom französischen Land, aus dem Ausland und schließlich aus dem Maghreb, aus China etc. kamen …“ 13 Hierbei handelt es sich um eine unter Delanoë 2001 eingeführte lokale Bürgerbeteili- gungsplattform, innerhalb der sich die Einwohner_innen eines Stadtviertels unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit engagieren können, um über lokale Anliegen und Proble- me zu diskutieren sowie mit Vorschlägen an die kommunalen Politiker_innen und In- stanzen herantreten können.

288 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„[...] en effet les conseils du quartier ont aussi des priorités qui ne sont pas celles de quelqu’un qui [...] est en France depuis quelques années et dont l’objectif premier n’était pas [...] de vérifier son quotidien en terme de démocratie locale, s’il est complètement accepté, reconnu etc. etc. il a d’autres combats à mener probablement celui-là. [...]. Ça, c’est la pre- mière chose et puis la deuxième, c’est tant que nous ne sommes pas, me semble-t-il, dans la reconnaissance des personnes qui sont installées en France depuis un certain nombre d’années quant à la possibilité de les laisser voter dans les élections locales, on aura toujours cette espèce de différence [...].“14(18)

Hier hebt der Befragte hervor, dass die politische Beteiligung für die Eingewander- ten nicht an erster Stelle stehe („l’objectif premier“), zumal es sich auch bei diesen um eine politisch-rechtlich marginalisierte Gruppe handele. Migranten/Migran- tinnen werden demnach nicht als Einwanderer/Einwanderinnen mit französischer Staatbürgerschaft definiert, sondern als Ausländer_innen, die nicht über das kom- munale Wahlrecht verfügen. Sie sind nicht Teil der politisch aktiven Bevölkerung. Ein Befragter mit Migrationshintergrund weist eine ähnliche Sichtweise auf, wobei die politisch-rechtliche Benachteiligung nicht mehr explizit als Hemmnis genannt wird: „[...] les immigrés pour eux, la politique ne leur appartient pas… c’est un autre univers qui appartient à d’autres gens. [...] Ils n’imaginent pas de faire la po- litique directement ou de participer à des activités militantes. [...] peut-être ils ne sont pas convaincus.“15 (19) An dieser Stelle stellt der Befragte die Politik als etwas Befremdliches für „Einwanderer“ (immigrés) dar. Sie ist demnach eine Welt, die außerhalb ihrer Vor- stellungskraft liegt und unerreichbar erscheint (autre univers). Daran lässt sich fol- gende Aussage anschließen, die die politische Passivität durch die soziale Lage der Migranten/Migrantinnen erklärt: „C’est un de ces quartiers de parisiens [...] de ces quartiers populaires avec effectivement [...] une forte population d’origine étran- ger. [...]. Je pense que ce qui le défini le mieux [...]. Même s’il y a une proportion

14 „In der Tat verfolgen die conseils du Quarties Ziele, die sich nicht mit denen einer Per- son decken, die seit ein paar Jahren in Frankreich ansässig ist, deren Anliegen es nicht ist, zu überprüfen, ob ihr Alltag aus lokaldemokratischer Sicht akzeptiert und anerkannt wird etc. Sie hat wahrscheinlich mit anderen Problemen zu kämpfen als mit diesen. [...] Das ist die erste Sache. Der zweite Grund ist meiner Ansicht nach der folgende: Solange wir nicht dazu bereit sind, jenen Leuten, die sich seit einigen Jahren in Frankreich nie- dergelassen haben, das kommunale Wahlrecht zu geben, werden wir immer diesen Un- terschied haben.“ 15 „[...] für die Einwanderer ist Politik fremd… es ist ein anderes Universum, das anderen Leuten gehört [...] Sie können sich nicht vorstellen, sich an der Politik direkt zu beteili- gen oder sich für eine Partei zu engagieren [...] vielleicht sind sie nicht überzeugt.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 289 de gens, enfin, une proportion d’électeur ou d’habitants qui font partie des classes moyennes et supérieures.“16 (20) Erneut wird hier eine Verbindung zwischen quartier populaire und ausländi- scher Bevölkerung (forte population d’origine étranger) hergestellt, die im Gegen- satz zur Mittel- und Oberschicht (classes moyennes et supérieures) steht. Es fällt dabei auf, dass die Angehörigen dieser Mittel- und Oberschicht explizit als Wähler (electeur) beschrieben werden. Diese Vermutung bestätigt sich umgekehrt in fol- gender Interviewaussage: „[...] les immigrés constituent une grande partie de la classe populaire aujourd’hui. Les classes populaires ne votent pas.“17 (21) Es zeigt sich, dass die interviewten Parteiaktivisten/-aktivistinnen eine gedank- liche Spaltung zwischen politisch Aktiven und politisch Inaktiven innerhalb der lokalen Bevölkerung vornehmen. Auf der einen Seite wird die Mittel- und Ober- schicht mit einem politischen Interesse und einer politischen Aktivität verbunden. Auf der anderen Seite werden Einwanderer/Einwanderinnen in einer diffusen Ver- bindung aus sozialer Marginalisierung und imaginierten Migrationsstatus jenseits des politischen lokalen Raums angesiedelt. Wie sich im folgenden Unterkapitel zeigen wird, spiegelt sich diese Perspektive auch im Hinblick auf die Anwerbung von Neumitgliedern wider.

9.1.2 Wahrnehmung der Mitgliederstruktur als individuelle und soziale Frage

Die Nichtberücksichtigung der Einwanderer/Einwanderinnen als Zielgruppe einer Mitgliederwerbung zeigt sich zunächst indirekt darin, dass alle von mir Befragten im Gespräch Mitglieder mit Migrationshintergrund nicht thematisieren. Sie werden somit nicht als eine gesonderte Zielgruppe wahrgenommen. Erst auf meine Nach- frage hin setzen die Politiker_innen sich mit diesem Aspekt auseinander und legen ihre Sichtweisen dar. Auffällig ist dabei, dass sich in ihren Antworten die oben festgestellten Muster wiederfinden lassen. Es wird auf das fehlende Wahlrecht hin- gewiesen, die den Anreiz für einen Parteienbeitritt der Migranten/Migrantinnen verringere. Ein Befragter gibt zu bedenken:

16 „Das ist eines der sozial benachteiligten Viertel von Paris, das einen hohen Ausländeran- teil an der Bevölkerung hat. [...] Ich glaube, das beschreibt es am besten, auch wenn es einen Anteil an Personen bzw. Wähler oder Einwohner gibt, die der Mittel- und Ober- schicht angehören.“ 17 „[...] die Einwanderer machen einen Großteil der sozial benachteiligten Schicht aus. Die- ser Bevölkerungsteil wählt nicht.“

290 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„En plus il y a en France une barrière – ils n’ont pas le droit de vote. [...]. Ça permettra sans doute de faire entrer des militants d’origine étrangers au sein du Parti socialiste. [...] c’est clair que dans un parti politique, dans une section de parti politique il y a quand même beau- coup d’élections… les élus, la prochaine liste, les prochaines campagnes etc... . Donc, les mi- litants d’origine étrangère [...] qui n’ont pas le droit de vote aujourd’hui, on va parler des choses qui ne les concernent pas.“18 (22)

Die fehlende Möglichkeit zur demokratischen Teilhabe sowie das damit verbunde- ne Mitspracherecht sieht der Zitierte als wesentlichen Grund für deren vermeintli- che Nichtbeteiligung innerhalb von Parteien an. Der Interviewte konstruiert Ein- wanderer/Einwanderinnen als nichteuropäische Ausländer_innen, indem er das fehlende kommunale Wahlrecht als Hauptargument für deren Fernbleiben sieht. Insofern spiegeln sich an dieser Stelle indirekt die Debatten über die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Nicht-EU-Bürger_innen wider, die erneut eine Forderung der PS im Präsidentschaftswahlkampf 2012 ist und eine lange Historie innerhalb der Sozialisten aufweist.19 Des Weiteren reduziert er die Partei als einen Ort der politischen Beteiligung und Einflussnahme. Andere Motive eines Parteibei- tritts für diese Gruppe nennt er nicht. Dies fällt umso mehr auf, als einige Befragte in einem anderen Kontext die Partei als Ort des sozialen Miteinanders beschreiben, an dem nicht alle Mitglieder zwangsweise auf ein politisches Amt zielen (23-25). Das Bedürfnis nach Begegnung und Austausch wird in Bezug auf Einwande- rer/Einwanderinnen angesichts der angenommen wahlpolitischen Benachteiligung gedanklich ausgeklammert bzw. nicht erwähnt. Auch das vorgebrachte Argument, dass ein Parteibeitritt Ausdruck politischer Integration sei, welche als letzte Stufe eines erfolgreichen Eingliederungsprozesses von Migranten/Migrantinnen gesehen werden muss (26), deutet auf eine gedankliche Reduzierung einer möglichen Par- teimitgliedschaft auf die Übernahme von politischer Verantwortung hin. Anders stellt sich das Argumentationsmuster dar, als ich explizit auf Franzo- sen/Französinnen mit Migrationshintergrund zu sprechen komme. So führt dersel- be Befragte zur Unterrepräsentanz von Einwanderern/Einwanderinnen mit franzö- sischer Staatsbürgerschaft aus:

18 „Darüber hinaus gibt es eine Hürde in Frankreich – sie haben nicht das Wahlrecht [...]. Ein solches würde ohne Zweifel den Parteienbeitritt von ausländischen Mitgliedern in die Parti socialiste fördern. [...] es ist klar, dass es in einer politischen Partei, in der Sek- tion einer Partei immerhin viele Wahlen gibt… die Gewählten, die nächste Liste, die nächste Kampagne etc. … Also, für die ausländischen Mitglieder, die nicht über das Wahlrecht heute verfügen, wird man über Dinge sprechen, die sie nicht betreffen.“ 19 Mitterrand forderte bereits im Präsidentschaftswahlkampf 1981 das kommunale Wahl- recht für Ausländer_innen (Wihtol de Wenden 1988, S. 278). FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 291

„Non, fondamentalement pour moi ce n’est pas la même chose parce que quelqu’un qui est né en France, même issus de parents eux-mêmes étrangers… enfin quelqu’un qui est né en France, élevé en France, il parle français quel que soit son nom, sa couleur de peau, mais quelqu’un qui baigne dans la culture française [...]. Par contre, effectivement, ça pose le pro- blème de de la représentativité des militants socialistes par rapport à la société française.“20 (27)

Er konstruiert Franzosen/Französinnen mit Migrationshintergrund als Teil der französischen kulturellen Wertegemeinschaft. Demnach sieht er keinen Unter- schied zu den Franzosen/Französinnen ohne Migrationshintergrund. Diese Per- spektive ermöglicht den gedanklichen Sprung, nach dem die Gründe für die inner- parteiliche Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund allein in gesamtgesellschaftlichen Ursachen zu suchen sind. Daran anschließend sieht er den Hauptgrund für das politische Desinteresse in der sozialen Benachteiligung:

„[...], le Parti socialiste a pu paraître à un certain moment s’éloigner des préoccupations des quartiers populaires. On sait que dans les quartiers populaires, l’abstention est forte. [...] Donc effectivement, la difficulté pour [...] un parti de gauche, c’est de faire venir des gens [...] qui sont sociologiquement les ouvriers [...] et de les faire participer à la vie politique. Mais les gens ne viennent que [...] s’ils voient un intérêt. [...].“21 (28)

Somit kommt es zu einer Gleichsetzung der Problemlagen der Migran- ten/Migrantinnen mit denen der Bevölkerung in den quartiers populaires. Kultu- relle, ethnische oder religiöse Dimensionen werden ausgeblendet. Das geringe In- teresse eines Parteibeitritts wird auf den Arbeiterhintergrund (ouvriers) zurückge- führt. Dies verdeutlicht ebenfalls folgende Passage aus einem weiteren Interview:

20 „Nein, das ist für mich etwas grundlegend anderes, weil jemand, der in Frankreich gebo- ren ist, selbst mit Eltern ausländischer Herkunft… also letztlich jemand, der in Frank- reich geboren, aufgewachsen ist, der Französisch spricht unabhängig von seinem Na- men, seiner Hautfarbe, jemand, der in der französischen Kultur aufgeht [...]. Hier stellt sich tatsächlich das Problem der Repräsentativität der sozialistischen Parteimitglieder gegenüber der französischen Gesellschaft.“ 21 „[...] die Parti socialiste scheint sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von den Sorgen des quartiers populaires entfernt zu haben. Man weiß, dass es dort eine niedrige Wahlbetei- ligung gibt. Tatsächlich ist es für eine linke Partei schwierig Leute, die soziologisch be- trachtet Arbeiter sind, anzuziehen und sie am politischen Leben teilhaben zu lassen [...]. Aber die Leute kommen nicht [...] sie haben kein Interesse [...].“

292 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Je n’ai pas le souvenir d’avoir rencontré quelqu’un… voilà comment-dire… issu de l’immigration [...] il n’y a aucun qui milite au Parti socialiste.

I: „Est-ce que tu as une explication pourquoi c’est comme ça?“

„C’est comme ça, c’est peut-être en raison des difficultés sociales. Je le dis parce que… c’est que je sais voilà quand on n’est pas très aisé et que le but est de gagner de l’argent et d’avoir une vie correcte. Ce n’est pas simple, on n’a pas le temps de militer au Parti socialiste.“22 (29)

Auch hier wird der Grund für die fehlende Präsenz von Menschen mit Migrations- hintergrund in den sozialen Problemen gesehen. Im Gegensatz zu der Gruppe der Besserverdienenden (très aisé) müssten betroffene Menschen vor allem für ihr Einkommen und ein geregeltes Leben sorgen und hätten nicht die notwendige Zeit. Die zweite von den Befragten ausgemachte Erklärung für die Unterrepräsen- tanz von Menschen mit Migrationshintergrund unterstützt die These einer indiffe- renten Wahrnehmung zwischen Franzosen/Französinnen mit und ohne Migrations- hintergrund. Ein Befragter führt an, dass die PS nie eine Massenmitgliederpartei gewesen sei: „Et le PS n’a jamais été par ailleurs un parti de masse, ni un parti po- pulaire. C’était toujours un parti de cadres moyens, d’enseignants et aujourd’hui un parti de beaucoup de jeunes diplômés.“23 (30) Die fehlende Verankerung der Partei innerhalb der classe populaire wird hier als Grund für die fehlende Massenmitgliederpartei (parti populaire) gesehen. Hierdurch sieht der Interviewte auch die Unterrepräsentation von Migranten/Mi- grantinnen unter den Mitgliedern begründet, da diese Teil der classe populaire sei- en. Aus dieser Perspektive wird die soziale Selektion von Mitgliedern, und damit auch die Unterrepräsentation von Einwanderern/Einwanderinnen, als eine Folge parteistruktureller Konfigurationen interpretiert und erklärbar gemacht. An dieser

22 „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemanden… wie sagt man… mit Migrationshinter- grund getroffen zu haben [...] es gibt niemanden, der bei der Parti socialiste sich enga- giert.“ I: „Hast Du eine Erklärung dafür, warum das so ist?“ „Das ist halt so, das ist vielleicht wegen den sozialen Problemen. Ich sage das, weil … soweit ich weiß, jemand der kein gutes Auskommen hat, der Geld verdienen muss und ein ordentliches Leben führen will. Das ist nicht einfach, man hat keine Zeit zu einem Engagement bei der Parti socialiste.“ 23 „Und die PS war übrigens niemals eine Massenpartei, nie eine Arbeiterpartei. Sie war immer eine Partei der Angestellten, der Lehrer und heute ist sie eine Partei junger Studi- enabsolventen.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 293

Stelle spiegelt sich auch der in der wissenschaftlichen Literatur beschriebene Ty- pus einer Funktionärs- und Elitenpartei, deren Mitglieder vor allem aus dem Bil- dungsbürgertum stammen. Des Weiteren wird in den Aussagen die geringe Bedeutung einer aktiven Mit- gliederwerbung hervorgehoben. So wird betont, dass eine Mitgliederwerbung in der Sektion keine Priorität habe, dass es keine spezifischen Aktionen und Bemü- hungen gäbe (31-32). Zudem gelte der Parteibeitritt als eine individuelle Entschei- dung (33-34). Indirekt bestätigen sie diese Annahme, da alle interviewten Personen ihren Beitritt als individuelle Entscheidung darstellen, der kurz vor oder nach Wah- len erfolgte. Zwar erwähnt einer der Befragten, dass er zum Zeitpunkt seines Par- teienbeitritts von einem Bekannten in die Sektion eingeführt wurde. Dabei handelt es sich seiner Auffassung nach aber um eine Praxis, die heute keine Relevanz mehr habe (35). Vielmehr werde der individuelle Beitritt zum einen durch den Auftritt im Internet über die Homepage der PS und die sozialen Medien (36-37) und zum anderen durch das Vorhandensein einer Geschäftsstelle mit Öffnungszeiten er- leichtert (38). Die gedankliche Konstruktion des eigenen Beitritts als eine indivi- duelle Entscheidung bedingt, dass andere potenzielle Beitrittsfaktoren unreflektiert bleiben und somit eine Mitgliederanwerbung jenseits einer individualisierten An- sprache nur schwer denkbar erscheint. Ferner betont eine Interviewteilnehmerin, dass es gerade in Wahlkampfzeiten durch die Präsenz der Kandidaten/Kandidatinnen und etablierten MandatsträgerIn- nen eine individualisierte Ansprache und ein Werben um Neumitglieder gäbe (39). Der Sektionsleiter äußert sich hingegen widersprüchlich dazu:

„Il y a une manière d’essayer d’attirer des nouveaux membres par des campagnes… c’est au moment où on fait campagne où les sympathisants sont invités à adhérer ou à chaque fois qu’on rencontre du monde sur un site. Il n’y a pas d’action spécifique pour essayer d’avoir plus d’adhérents qui seraient d’une certaine communauté, ça ne correspond pas à la vision qu’on a d’un engagement civique. Il peut y avoir des actions sur une base qui est beaucoup plus géographique- par se dire: C’est quoi comme quartier, c’est un quartier populaire. On a [...] peut-être moins d’adhérent à cet endroit-là. Ça serait bien de mettre beaucoup d’action dans cet endroit-là pour essayer de gagner des adhérents, des sympathisants à se endroit-là. Par contre une démarche vis-à-vis d’une communauté pour dire il faudrait militer au Parti socialiste, cela ne correspond pas à notre tradition politique.“24 (40)

24 „Es gibt einen Weg neue Mitglieder anzuwerben… das ist zum Zeitpunkt des Wahl- kampfs, wo Sympathisanten eingeladen werden, der Partei beizutreten oder jedes Mal, wenn wir auf Leute vor Ort treffen. Es gibt keine gezielten Werbemaßnahmen, um neue Mitglieder einer bestimmten Gruppe zu gewinnen. Dieses Vorgehen passt nicht zu unse- rer Vorstellung eines zivilgesellschaftlichen Engagements. Es kann räumlich begrenzte

294 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Hier wird das Tabu der direkten Ansprache von bestimmten Einwanderungsgrup- pen sowohl zu einer innerparteilichen (notre tradition politique) als auch zivilge- sellschaftlichen Norm (vision d’un engagement civique) erhoben, die eine direkte Mitgliederanwerbung von Menschen einer bestimmten Herkunftsgruppe (commu- nauté) unterbindet. Hingegen wäre in Wahlkampfzeiten eine punktuell und räumli- che begrenzte Ansprache in sozial benachteiligten Gebieten möglich (actions dans les quartier populaire). Da Migranten/Migrantinnen als Teil der classe populaire in diese Stadtviertel verortet werden, ist hier eine Mitgliedergewinnung möglich. Eine Parallele zur jahrzehntlangen sozialen Förderungspolitik bestimmter Stadtge- biete in Frankreich, die offiziell keine ethnischen oder religiösen Minderheiten an- visierte, in der Praxis aber insbesondere diese Gruppe betraf (Fysh 2003, S. 210), wird hier sichtbar. Jegliche Thematisierung des Migrationshintergrunds als solcher wird offiziell unterbunden, so dass auch die anfängliche Verschwiegenheit der Be- fragten zu diesem Thema erklärt werden kann. Folgende Situation, von der ein In- terviewteilnehmer aus eigener Erfahrung berichtet, zeugt von diesem Tabu:

„Je prends un exemple anecdotique. Il y avait [...] quelqu’un qui pousse la porte et quelqu’un qui était jeune qui commence à parler avec moi et qui me dit oui- vous le Parti socialiste, vous ne parlez pas, vous n’avez rien à dire aux musulmans. [...] On a [...] quelqu’un qui sa- vait s’exprimer qui avait un haut niveau d’éducation. Mais qu’est-ce qu’il a exprimé. Il di- sait: ‚Voilà moi, [...], je me considère musulman [...]‘. C’était visiblement son premier critère d’identité et il a constaté que le Parti socialiste n’avait rien à dire aux musulmans- ce qui n’est pas faux puisque le Parti socialiste n’a pas de discours spécifiquement dédié aux mu- sulmans, pas plus qu’aux juifs, aux athées ou aux catholiques [...].“25 (41)

Aktionen geben, sich also zu fragen: „Was ist das für ein Viertel, das ist ein quartier po- pulaire. Wir haben, was die Zusammensetzung der Partei angeht, weniger Mitglieder von dort. Es wäre also gut, hier verstärkt Mitglieder und Sympathisanten zu gewinnen. Im Gegensatz dazu entspricht das Werben um Mitglieder einer bestimmten Gemein- schaft nicht unserer politischen Tradition.“ 25 „Ich nehme ein anekdotisches Beispiel. Es gab mal jemanden [...], der zur Tür herein- kam. Er war jung und sprach mich an. Er sagte mir, dass die Parti socialiste nicht zu den Muslimen spreche und diesen nichts zu sagen habe. [...] Es war jemand, der sich ausdrü- cken konnte, der gebildet war. Aber was brachte er zum Ausdruck. Er sagte: ‚Schaut her, ich bin Muslim.‘ [...] Das war offensichtlich sein erstes Identifikationsmerkmal und er stellte fest, dass die Parti socialiste den Muslimen nichts zu sagen hatte – was nicht falsch ist, da die Parti socialiste Muslime nicht mehr als Juden, Atheisten oder Katholi- ken anspricht [...].“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 295

Es fällt bei der Schilderung auf, dass das potentielle Parteimitglied durch drei Ei- genschaften beschrieben wird. Erstens durch sein Alter, zweitens durch sein hohes Bildungsniveau und drittens durch seine religiöse Zugehörigkeit. Während das Al- ter und das Bildungsniveau keinen Anlass zur Diskussion geben, stellen die Identi- fizierung mit dem Islam in Verbindung mit dem Vorwurf an die Partei, keine Poli- tik für Muslime zu machen, einen Tabubruch dar, der beim Adressaten auf kein Verständnis trifft. Ein Entgegenkommen im Hinblick einer religionsspezifischen Ansprache wird hier mit dem Argument abgelehnt, dass keine gruppenspezifische Politik von Seiten der Sozialisten betrieben werde. Die Vermeidung einer gruppenspezifischen Ansprache wird ferner durch die Wahrnehmung von Vereinen durch die Interviewten deutlich. Sie werden nicht als ein Ort der Mitgliedergewinnung gesehen. So äußert ein Parteimitglied, der auf kommunaler Ebene für den Aufgabenbereich Vereinsleben verantwortlich ist, auf die Frage, inwieweit es eine personelle Verflechtung zwischen der Sektion und den zivilgesellschaftlichen Strukturen gebe, wie folgt: „Non, ça on évite au maximum [...]. On essaie de laisser une forme de frontière même si certains peuvent passer l’autre côté parce qu’il y a effectivement des militants socialistes qui sont aussi des militants associatifs [...] Mais on essaie quand même malgré tout de l’éviter [...].“26 (42) Der Zitierte betont eine bewusste Trennung zwischen Partei- und Vereinswe- sen, die als eine Art Barriere zwischen beiden Ebenen wirkt (laisser une forme de barrière). Zwar hebt er die Verankerung einzelner Mitglieder in verschiedenen Vereinen hervor, erklärt diese jedoch als individuelle Angelegenheit. Ein weiteres Mitglied bestätigt die Existenz dieser Barriere:

„Alors, individuellement oui parce que chaque militant, en fonction de ses intérêts, est en re- lation avec des associations, comme les élus aussi. La section elle-même n’est pas un lieu d’échange [...]. On peut participer à des évènements politiques qui sont organisés par des as- sociations… je dirais qu’une assemblée générales de temps en temps, peut faire venir une as- sociation, mais c’est assez rare. C’est-à-dire qu’on a peu d’assemblées générales par an, ce n’est pas formalisé.“27 (43)

26 „Nein, das vermeiden wir, wenn es geht. [...] Wir versuchen, eine Art Grenze zu ziehen, wenngleich einige diese passieren können, denn wir haben sozialistische Mitglieder, die auch Mitglieder in Vereinen sind [...] Aber wir versuchen es trotzdem, so einzurichten [...].“ 27 „Nun, im Einzelfall ja, denn jedes Mitglied hat je nach Interesse Verbindung zu Verei- nen, wie auch die Gewählten. Die Sektion selbst ist kein Ort des Austausches [...] es mag zwar vorkommen, dass wir an politischen Ereignissen, die von den Vereinen organisiert

296 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Ein institutionalisierter regelmäßiger Austausch zwischen Partei und Vereinen wird demnach nicht in Erwägung gezogen. Ferner sind laut Aussage Parteimitglie- der als Individuen in den Vereinen aktiv und nicht als Repräsentanten einer politi- schen Organisation. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine institutionalisierte Anwerbung von Mitgliedern durch gezielte Anwerbeaktionen gegenüber Vereinen nicht legitimieren. Migrantenorganisationen spielen in diesem Kontext keine be- sondere Rolle. Auf meine Nachfrage, inwieweit Migranten/Migrantinnen aus die- sen Vereinen in eine Partei eintreten, sagt der Sektionsleiter:

„[...] pour les gens les plus engagés dans ces associations ils ne franchissent pas souvent le seuil de l’adhésion - on les connait bien, on travaille ensemble – souvent ils ne franchissent pas le cap d’une adhésion à un parti politique, mais c’est un cap qui est plus difficile à fran- chir en France qu’en Allemagne.“

I : „C’est-à-dire ?“

„[...] c’est historique, ça ne concerne pas que le Parti socialiste, ça date de… enfin c’est une histoire politique française avec la séparation des syndicats [...]. Comme le mouvement soci- al en France selon les moments travaille ou non avec le mouvement politique, mais très ra- rement impliquer précisément dedans.“28 (44)

Erneut wird hier nicht auf die spezifische Situation der Einwande- rer/Einwanderinnen und deren Vereine eingegangen, sondern vielmehr eine ge- schichtliche Erklärung herangezogen, um die Distanz zwischen beiden Formen des Engagements zu unterstreichen. Somit werden Migrantenorganisationen wie alle anderen Vereine gesehen, die von den gleichen historischen Bedingungen betrof- fen sind. Eine gezielte Ansprache in diesen Vereinen wird hier mit einem Verweis

werden, teilnehmen [...] und Vereine zu einer Sitzung der Sektion kommen, aber das ist sehr selten. Wir haben wenige Sitzungen pro Jahr und diese sind kaum formalisiert.“ 28 „[...] die engagiertesten Vereinsleute – wir kennen sie gut und wir arbeiten mit ihnen zu- sammen – überschreiten nur selten die Grenze zu einer Parteimitgliedschaft, aber das ist eine Grenze, die in Frankreich schwerer zu übertreten ist als in Deutschland.“ I: „Das heißt?“ „[...] das ist geschichtlich bedingt, das betrifft nicht nur die Parti socialiste, das reicht zurück… kurzum, es hängt mit der politischen Geschichte Frankreichs und der Trennung der Gewerkschaften [Anmerkung: von den Parteien] zusammen [...]. Wie die sozialen Bewegungen, die mal mehr mal weniger mit den politischen Parteien zusammengearbei- tet haben, die selten innerhalb von Parteien agierten.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 297 auf die Geschichte verworfen. Somit spiegelt sich hier die bereits unter (vgl. 8.1.2) festgestellte Distanz zwischen der Pariser PS und den Migrantenvereinen wider.

9.1.3 Nominierungen im Vorfeld der Kommunalwahlen und die Relevanz von diversité

Im Folgenden werde ich auf die Aussagen der Befragten im Zusammenhang der Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen für anstehende Kommunalwahlen eingehen. Welche impliziten und expliziten Voraussetzungen einer Nominierung werden genannt? Inwieweit und auf welche Art wird der Migrationshintergrund von Befragten in diesem Zusammenhang thematisiert? Zunächst kann für die Nominierungen im Vorfeld der Kommunalwahlen fest- gehalten werden, dass eine Mehrheit der Befragten als Voraussetzung für eine Kandidatur das lokale Engagement und die lokale Verankerung sehen (45-47). Sie verbinden damit eine Kontinuität des Engagements (48) sowie einen Bekanntheits- grad im Arrondissement (49-50). Ferner wird von den Interviewten angemerkt, dass eine innerparteiliche Vernetzung wesentlich für eine Nominierung sei (51-52). Ein führender Parteiakteur assoziiert damit ein Bild der Sektion als Familie, wo manche zum Kern gehörten und andere wiederum nicht (53). Eine weitere zentrale Persönlichkeit der Sektion, die zum Zeitpunkt des Interviews bereits verschiedene Partei- und Parlamentsämter innehatte, spricht in diesem Zusammenhang von ihren eigenen Erfahrungen. Sie führt aus:

„Pour ce qui me concerne – c’était une détermination très ancienne et au début très incons- ciente [...]. Je n’ai jamais eu de problèmes à trouver ma place parce que je me suis senti tou- jours à ma place [...] et puis j’ai pris des responsabilités quand elles se sont présentées par- fois facilement parfois en disputant avec d’autres.“29 (54)

Hier wird deutlich, dass sie von einem unbewussten Eingliederungsprozess (dé- termination inconsciente) in die Partei spricht, der ihrer Ansicht nach ein wesentli- cher Grund für ihren Erfolg war. Des Weiteren erklärt sie im Hinblick auf die Vo- raussetzungen einer erfolgreichen Nominierung: „Ça dépend des parcours, c’est les

29 „Was mich betrifft, war es eine sehr frühe Entschlossenheit, die anfangs sehr unterbe- wusst war [...]. Ich hatte niemals Probleme meinen Platz zu finden, weil ich mich immer an meinem Platz gefunden habe [...] und dann übernahm ich Verantwortung, als sich Ge- legenheiten boten, manchmal ohne und manchmal mit Widerständen.“

298 | PARTEIEN UND MIGRANTEN codes, le fonctionnement, les groupes etc. Chacun y rentre comme il peut. Et j’ai eu soit la chance soit aussi c’était mon élément dès le départ. [...].“30 (55) Die Kongruenz individueller Dispositionen mit institutionellen Konfiguratio- nen (les codes, le fonctionnement, les groupes) entscheiden demnach darüber, ob der Prozess des trouver sa place gelingt, wobei gleichzeitig Glück eine Rolle dabei spiele. Überdies definiert sie die codes wie folgt:

„[...] il y a des règles et après il y a des codes – c’est un truc très français… il y a la manière de se conduire les uns avec les autres. Savoir comment parler, comment faire, comment de- mander, des modes de communication entre les uns et les autres. [...] c’est un monde avec son langage, d’une certaine manière. [...] on a des règles, des codes qui ne sont pas écris mais qui existent: prends la parole souvent prends la parole en publique, on a l’habitude de parler, pour certains plus réservés c’est plus difficile, ça aide d’ailleurs, impressionnant. [...] des choses qu’on dit des choses qu’on dit moins, des choses qu’on ne dit pas comme ça.“31 (56)

Mit dieser Aussage wird auf die Fähigkeit und Kapazität des Einzelnen abgezielt, sich an bestimmte ungeschriebene Verhaltensnormen und -regeln zu halten. Ferner gehört zu diesen ungeschriebenen Regeln laut Aussage der Befragten auch die Zu- ordnung der Bewerber_innen zu einer politischen Strömung (courant), welche dar- über entscheide, ob und für welchen Listenplatz ein Bewerber oder eine Bewerbe- rin nominiert wird (57-60). Einige Interviewteilnehmer_innen nennen bei der Listenerstellung das Kriteri- um der gleichmäßigen Aufteilung der Listenplätzen unter Männer und Frauen (pa- rité), die es bei der Nominierung laut gesetzlicher Vorgabe zu befolgen gelte (61- 63). Der Migrationshintergrund als Auswahlkriterium wird indirekt unter dem Be- griff diversité dʼorigines angesprochen (64-65). So betont der Listenführer, der ei- nen zentralen Einfluss auf die Zusammenstellung der Kandidaten/Kandidatinnen für die Liste der Wahl 2008 hatte: „Nous ne nous imaginons plus de présenter une

30 „Das hängt vom Werdegang ab, das sind die Codes, die Arbeitsweise, die Gruppen etc. Jeder bringt sich ein, wie er kann. Und ich hatte zum einen Glück und zum anderen war ich in meinem Element von Anfang an [...].“ 31 „[...] es gibt Regeln und danach die Codes – das ist eine französische Sache… es gibt ei- ne Art sich gegenüber den anderen zu verhalten, zu wissen wie man sich ausdrückt, wie man was macht, wie man etwas verlangt, Kommunikationsarten zwischen den einen und den anderen. [...] Das ist es eine Welt mit seiner eigenen Sprache. [...] wir haben Regeln, Codes, die nicht verschriftlich sind, die aber Bestand haben, wie: Es hilft ungemein das Wort oft in der Öffentlichkeit zu ergreifen, wir sind das gewöhnt – für jene, die schüch- terner sind ist das schwieriger. [...] Sachen die man weniger sagt, Sachen die man nicht auf die Art sagt.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 299 liste où les minorités visibles ne soient pas représentées. C’est une règle qu’on sʼest fixée.“32 (66) Diversité verbindet er mit sichtbaren Minderheiten (les minorités visibles), oh- ne dabei näher ins Detail zu gehen, welche Gruppen er genau darunter fasst. An dieser Stelle trägt der Befragte keine Definitionsprobleme vor, sondern betont vielmehr die Bestimmtheit und Regelhaftigkeit, mit der diese Art von Repräsenta- tion durchgesetzt werde (C’est une règle qu’on sʼest fixée). Im Hinblick auf mögli- che Widerstände gegen eine solche Vorgehensweise führt er aus:

„Parfois, il m’a fallu un petit peu de volontarisme“

I: „Cela veut dire?“

„Mais de - une fois que j’ai été désigné tête de liste- d’obliger à ce que la diversité soit prise en compte, [...] les jeux des courants ne l’auraient pas forcement amenée“33 (67).

Hier ist nicht mehr von einer Regel die Rede, sondern vielmehr einem politischen Willen (il m’a fallu un petit peu de volontarisme) zur Durchsetzung von diversité. Entsprechend ist das Kriterium diversité nicht selbstverständlicher Bestandteil bei der Listenzusammenstellung, sondern hängt vielmehr von der Bereitschaft des Lis- tenführers (une fois que j’ai été désigné tête de liste) ab. Gleichzeitig gehen einige Befragte überhaupt nicht auf diversité im Kontext der Listenzusammenstellung ein (68-70). Dies kann als Indiz dafür gewertet wer- den, dass diversité als Kriterium entweder nicht als relevant erachtet oder umstrit- ten ist. Für erstere Erklärungsvariante spricht folgende Aussage eines Parteimit- glieds, das erst auf meine direkte Nachfrage, ob die diversité bei der Nominierung eine Rolle gespielt habe, wie folgt reagiert: „Alors, il y avait quelqu’un, une candi- date qui est conseillère d’arrondissement qui pouvait représenter, si on le veut voir

32 „Wir konnten uns nicht mehr vorstellen eine Liste zu präsentieren, auf der keine sichtba- ren Minderheiten stehen. Das ist eine Regel, die wir uns gesetzt haben.“ 33 „Manchmal musste ich etwas nachhelfen.“ I: „Das heißt?“ „Na – als ich als Listenanführer nominiert war – dafür zu sorgen, dass die diversité be- rücksichtigt wird, [...] der Wettbewerb zwischen den courants hätte nicht unbedingt dazu geführt.“

300 | PARTEIEN UND MIGRANTEN dans c’est angle-là, la diversité. Mais effectivement, [...] le problème dans une élection locale c’est qu’il faut un enracinement local.“34 (71) Im Nachhinein sortiert er hier eine Kandidatin der diversité zu, relativiert eine solche Zuordnung, indem er sie zwar für denkbar (si on veut le voir dans cette ang- le-là), aber im Vergleich zum Kriterium des lokalen Engagements für weitgehend irrelevant hält. Einen Schritt weiter geht der Listenführer, indem ein Spannungs- verhältnis zwischen lokalem Engagement und diversité benennt:

„Disons que les militants Socialistes sont pour [...] la diversité en théorie. Et à chaque fois ensuite dans le cas particulier ils sont plus réticents – y compris par fidélité à leurs élus parce qu’ils sont les plus impliqués. Ce ne sont pas forcément [...] des personnes immigrés, d’origines étrangères qui se font le plus remarquer. Donc, ils peuvent avoir des sentiments d’injustice.“35 (72)

Demnach sieht er in der Theorie zwar eine Zustimmung zu mehr diversité, die je- doch bei der Umsetzung auf Widerstände stoße, da Menschen mit Migrationshin- tergrund nicht über das notwendige lokale Engagement und die lokale Veranke- rung im Gegensatz zu den bereits Gewählten verfügten. Migranten/Migrantinnen werden somit mit geringem Engagement assoziiert, die gemäß der oben erwähnten impliziten Verhaltensregeln ein Defizit aufweisen würden. Entscheidend ist nun, dass trotz dieses angedeuteten Spannungsverhältnisses drei zentrale Parteiverant- wortliche unterstreichen, dass mit einer Listenwahl die Durchsetzung der diversité möglich sei (73-75). Sie implizieren damit, dass durch das Vorhandensein mehre- rer Plätze Verteilungskonflikte auch unter der Berücksichtigung von diversité ge- löst werden könnten. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass es implizite und explizite Regeln und Kriterien gibt, die bei der Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen auf kommunaler Ebene relevant werden. Dabei wird der Migrationshintergrund impli- zit durch das Kriterium diversité abgedeckt, wobei dieses im Vergleich zu anderen Kriterien scheinbar weniger Relevanz besitzt. Ferner wird diversité im Gegensatz zu lokalem Engagement konstruiert, so dass eine Durchsetzung nur durch politi-

34 „Nun es gab jemanden, es gab eine Kandidatin, die Gemeinderatsmitglied ist und die man unter dem Label diversité fassen könnte. Aber letztlich geht es bei einer kommuna- len Wahl darum, dass es einer lokalen Verankerung bedarf.“ 35 „In der Theorie sind die sozialistischen Parteimitglieder für diversité. Und jedes Mal sind sie im Einzelfall zögerlicher, da sie ihren Gewählten die Treue halten und weil letz- tere mehr engagiert sind. Es sind nicht unbedingt [...] Personen mit Migrationshinter- grund bzw. ausländischer Herkunft, die sich am meisten bemerkbar machen. Daher kön- nen sie [die Mitglieder] das Gefühl von Ungerechtigkeit empfinden.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 301 sche Bereitschaft von Führungsmitgliedern sowie die Verfügbarkeit mehrerer Plät- ze möglich sei.

9.1.4 Die Nominierung einer Wahlkreiskandidatin und die Problematisierung von diversité

Im Zusammenhang der Nominierung einer Wahlkreiskandidatin oder eines Wahl- kreiskandidaten für die Nationalversammlung wird laut Aussagen der Befragten eine Zweiteilung deutlich. Zum einen wird der Fall skizziert, in dem die lokale Ebene des Wahlkreises den Kandidaten oder die Kandidatin auswählt (76-78). Zum anderen gibt es die Möglichkeit, bei der die nationale Parteiführung direkt in den Auswahlprozess eingreift und ihren eigenen Bewerbungsvorschlag durchsetzt. Das letztere treffe für den eigenen Wahlkreis zu (79-82). Entsprechend wird die Definition und Bestimmung von Nominierungskriterien außerhalb ihrer direkten Einflusssphäre und somit als etwas von außen aufoktroyiertes skizziert (ebd.). Gleichzeitig versuchen die Befragten, die Vorgehensweise der nationalen Ebene für sich zu erschließen. In der Art und Weise, wie dieser Eingriff wahrgenommen wird, sollen Einsichten über eine mögliche Thematisierung bzw. Problematisierung des Migrationshintergrundes im Rahmen der Nominierung des oder der Wahl- kreiskandidats/-kandidatin gewonnen werden. In Bezug auf den nationalen Eingriff bei der Nominierungsentscheidung erach- ten die Befragten zwei Aspekte als entscheidungsrelevant. So wird das nationale Anliegen hervorgehoben, nach dem der Wahlkreis für eine schwarze Frau (femme noire) reserviert werden sollte (83-86). In diesem Zusammenhang wird die Haut- farbe als Selektionskriterium betont, welches mit dem Begriff der diversité assozi- iert wird. Ein Interviewpartner erklärt: „Mais ça veut dire quoi la diversité? C’était une diversité qui était fondée objectivement – enfin objectivement non – mais dans les faits sur la couleur de peau.“36 (89) Entscheidend ist für das Verständnis der weiteren Debatte, dass die Befragten beide Kriterien gedanklich voneinander trennen. So ist die Rede von einer doppel- ten Diversität (double diversité), welche einerseits die Hautfarbe und andererseits das weibliche Geschlecht umfasst (90). Des Weiteren betont ein Interviewpartner, dass mit der Nominierung das Ziel der diversité und der parité anvisiert wurde (91), so dass auch hier der Diversitätsbegriffs von der Geschlechtergerechtigkeit getrennt wird. Diese Trennung bietet die Grundlage, um eine Auseinandersetzung mit der nationalen Entscheidung im Hinblick auf das Kriterium „Hautfarbe“ zu konzentrieren und den Aspekt des Geschlechts auszuklammern.

36 „Aber was bedeutet diversité? Das war eine diversité, die nach objektiven Gesichtspunk- ten – nun ja, was heißt objektiv, die augenscheinlich auf der Hautfarbe gründete.“

302 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Zunächst fällt auf, dass es unter den interviewten Parteimitgliedern Verständnis für die Motivation der nationalen Parteiführungsebene gibt: „Je crois que c’est très important, qu’on a des élus, comme on dit, issus de la diversité. Moi, je vais être très clair qu’on a des élus qui ne sont pas tous blancs à l’assemblée. Je pense que c’est vraiment important pour la France qu’on réussisse à représenter sa population mieux [...].“37 (92) Die Befragte sieht hier die Förderung von diversité vor dem Hintergrund einer „weißen“ Nationalversammlung als legitim an. In die gleiche Richtung gehen Aus- sagen, die von einer notwendigen Erneuerung der Partei (rénovation) sowie der Nationalversammlung sprechen (93-95). Darüber hinaus wird auf den nationalen Parteienwettbewerb mit den Konservativen verwiesen und die Rolle Sarkozys im Zusammenhang einer Öffnung gegenüber sichtbaren Minderheiten erwähnt. Diese hätten den Druck auf die Sozialisten erhöht und die nationale Ebene zum Handeln gezwungen (96-97). Somit spiegelt sich hier die unter 7.4 beschriebene nationale Rhetorik wider. Gleichermaßen wird die nationale Entscheidung in zweierlei Hinsicht kritisiert. So gilt die Kritik der ungenauen Definition von diversité und der Art und Weise der nationalen Entscheidungsfindung. Der Sektionsleiter führt hinsichtlich der in- haltlichen Kritik aus:

„[...] la diversité, c’est très compliqué dʼapprécier sur la base dʼune seule personne. C’est-à- dire, dire qu’une liste est globalement peu diversifiée en termes culturels ou d’origines, ça s’a du sens, dire qu’une personne à elle toute seule est la diversité où n’est pas la diversité, ça implique a objectiver les critères qui sont pas toujours clairement dits… .“38(98)

Der Befragte sieht es als problematisch an, dass eine Person ausgewählt wird, die für diversité stehe (qu’une personne à elle toute seule est la diversité où n’est pas la diversité), wenngleich deren Definition nicht eindeutig sei. Im Fall der Listener- stellung stelle sich dieses Problem nicht, da hier mehrere Plätze zu vergeben seien, die im Ergebnis wiederum unterschiedliche Interpretationen von diversité zulassen würden. Ein weiteres Parteimitglied bestätigt diese Perspektive:

37 „Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir Gewählte der sogenannten diversité haben. Ich werde hier deutlicher sein, dass wir Gewählte haben, die nicht weiß sind. Ich denke, das ist für Frankreich momentan sehr wichtig, die Bevölkerung besser zu repräsentieren.“ 38 „[...] die diversité lässt sich nur schwer auf eine Person reduzieren. Das heißt, es macht Sinn zu sagen, dass eine Liste im Hinblick auf die kulturelle und nationale Herkunft we- nig diversifiziert ist. Zu sagen, dass ausschließlich eine Person für die diversité steht o- der nicht steht, bedingt die Entwicklung objektiver Bestimmungskriterien, die nicht im- mer klar geäußert werden… .“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 303

„[...] la perversité de la diversité, c’est qu’on la souhaite et qu’elle est nécessaire. Mais si on commence à s’engager dans sa définition, là on tombe dans les problèmes, parce que la di- versité ce n’est pas que les origines ethniques, c’est les origines sociales, c’est les parcours professionnels, ça peut être tout un tas de chose.“39 (99)

Auch er sieht eine Schwierigkeit bei der Definition von diversité und erweitert die- ses Problem, indem er unter diversité neben einer ethnischen auch die soziale so- wie berufliche Dimension fasst. Eine Reduzierung auf die Hautfarbe oder die eth- nische Herkunft als entscheidendes Selektionskriterium wird somit abgelehnt. In diesem Zusammenhang wird auch die Idee des Republikanismus, nach der es keine Unterscheidung nach Herkunftsgruppen geben darf, vorgebracht, die gegen eine Förderungspolitik auf Basis von derartigen Kriterien spreche (100-101). Der zweite Kritikpunkt richtet sich gegen die Art, wie die Kandidatur der diversité durchgesetzt wurde:

„Qu’est-ce que c’est la diversité ? Est-ce qu’on parle de la couleur de peau, est-ce qu’on parle des nationalités de naissance, est-ce qu’on parle de nationalité de naissance des pa- rents? Voilà, [...] le bureau national du Parti socialiste a dit que cette circonscription sera ré- servée à quelqu’un de la diversité sans être plus précis que ça. [...] Et de fait, les personnes qui à un moment se sont retrouvés candidats auprès du bureau national là-dessus étaient des femmes noires. Mais [...] à trancher entre différentes candidatures, entre des personnes qui ne me connaissaient pas puisque elles n’étaient pas des militantes locaux… alors c’était très difficile et faire tout cela sur le seul critère de la diversité [...]. Et moi, ça m’a heurté très pro- fondément par rapport aux conceptions que j’ai du militantisme, ma responsabilité politique. Je pense que ça n’avait aucun sens.“40 (102)

39 „Das Widersinnige an der diversité ist, dass wir sie uns wünschen, dass wir sie als not- wendig erachten. Aber wenn wir versuchen, sie zu definieren, fangen die Probleme an, denn diversité ist nicht nur die ethnischen Hintergründe, sondern auch die sozialen Her- kunftsorte, die beruflichen Laufbahnen, das können eine Reihe von Dingen sein.“ 40 „Was bedeutet diversité? Sprechen wir über die Hautfarbe, über die eigene ausländische Herkunft oder die der Eltern? [...] die Parteiführung hat gesagt, dass dieser Wahlkreis für jemanden der diversité reserviert ist ohne genauer zu werden. [...] Und am Ende waren es schwarze Frauen, die sich als Kandidatinnen der Führungsebene präsentierten. Aber [...] zwischen verschiedene Kandidaturen zu entscheiden, zwischen Personen, die mich nicht kennen, da sie keine lokalen Parteimitglieder waren… also das war sehr schwer und das aufgrund eines einzigen Kriteriums, das der diversité, [...]. Und daran habe mich wegen meiner Grundüberzeugungen als Parteimitglied, meiner politischen Verantwor- tung sehr gestoßen. Ich denke, das hat überhaupt keinen Sinn gemacht.“

304 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Er assoziiert hier die nationale Entscheidung mit einer Willkür, die im Wider- spruch zur Normvorstellung eines lokalen Parteienengagements (militantisme, responsabilité politique) stehe. Dabei wird die inhaltliche Willkür von diversité mit der Kritik am eigenmächtigen Handeln der Führungsebene verbunden, um die Sinnlosigkeit der Entscheidung zu unterstreichen (ça n’avait aucun sens). Diese Verknüpfung führt dazu, dass diversité ausschließlich mit der nationalen Ebene in Verbindung gesetzt und als Gegensatz zum lokalen Engagement konstruiert wird. Dadurch bleibt ausgespart, dass es, wie mir ein weiterer Interviewteilnehmer auf Nachfrage bestätigte, unter den Bewerberinnen der diversité auch eine lokal veran- kerte Kandidatin gab (103). Sie bleibt gedanklich der nationalen Ebene sowie dem Kriterium der diversité zugeordnet, obgleich sie auf lokaler Ebene aktiv ist. Das bedeutet, dass diversité als entscheidendes Selektionskriterium wahrge- nommen wird und weitere individuelle Eigenschaften, die bei der Nominierung ei- ne Rolle gespielt haben mögen, nicht berücksichtigt werden. Der oben Zitierte antwortet auf meine direkte Nachfrage, ob es weitere Kriterien bei der Nominie- rung der gewählten Kandidatin gegeben hätte:

„La réponse est non. Il faut être clair. [...] – si tu enlèves la dimension-là, XY étant une élue comme les autres, elle est au conseil de Paris, elle a un parcours… voilà. [...] Elle a des qua- lités. En politique la première qualité c’est de se faire remarquer. Donc en ce sens-là, tous ceux qui arrivent effectivement d’aller jusqu’à l’investiture quelques soit le contexte, ont sans doute des qualités. C’est une évidence. [...] C’est la volonté, c’est l’ambition, c’est aussi la chance, aussi sa compte énormément, la chance.“41 (104)

Hier verneint der Befragte einerseits die Frage nach weiteren Kriterien. Anderer- seits verbindet er mit ihrer Person bestimmte Eigenschaften (faire se remarquer; volonté; ambition) sowie die Gelegenheit (la chance), die zu ihrem Erfolg beige- tragen hätten. Indem er letztere als „normal“ darstellt, entsteht der Eindruck, dass einzig das Kriterium diversité bei der Nominierungsentscheidung ausschlaggebend gewesen war. Die kognitive Loslösung von diversité von anderen individuellen und überindividuellen Faktoren im Kontext der Selektion ermöglicht eine Reduzie- rung auf die Hautfarbe als einziges Auswahlkriterium, die als Sinnbild für die nati- onale Willkür gegenüber lokaler Selbstbestimmtheit herangezogen werden kann

41 „Die Antwort ist nein. Man muss hier ehrlich sein. [...] – wenn Du diese Dimension wegnimmst, wäre XY eine Gewählte wie jede andere gewesen, sie ist Mitglied des Stadtrats von Paris, sie hat eine Laufbahn [...]. Sie hat Fähigkeiten. In der Politik ist eine entscheidende Fähigkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Daher hat jeder, der es bis zu einer Kandidatur schafft, diese Fähigkeiten. Das ist eine Tatsache [...]. Das ist die Bereit- schaft, der Ehrgeiz und auch das Glück zählt enorm.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 305 und somit die kritische Haltung legitimiert. Einer der Befragten aus der Führungs- spitze gibt erst auf Nachfrage, inwieweit die politischen Flügel bei der Nominie- rung eine Rolle gespielt hätten, zu:

„[...] comme tous mécanismes politiques – à un moment donné c’était utiliser et détourner pour servir des objectifs politiques, pour servir à un courant particulier [...] – si on voit cha- cun de ces choix individuelles, ils sont toujours contestables selon les points de vues qu’on a. Donc, plusieurs circonscriptions [...] ont été [...] utilisées pour servir un intérêt politique contre un autre. [...] En l’occurrence de ce point de vue-là, la candidature de XY, moi me convient tout à fait en termes de légitimité par le fait qu’elle est adjoint au maire de Paris [...] Et puis, par ailleurs, en termes de ligne politique puisque je partage la ligne politique qu’elle défend si on parle de sensibilité à l’intérieur du PS et de ce point de vue-là elle partage la ligne politique majoritaire parmi les militants de l’arrondissement.“42 (105)

Hier geht er auf den politischen Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Flü- geln ein, die das Kriterium der diversité instrumentalisieren, um ihre eigenen Inte- ressen durchzusetzen. Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle, dass der Be- fragte durch diesen Gedankengang die Kandidatur der Nominierten neu bewertet. Sie ist nun nicht mehr allein eine Kandidatin der diversité, sondern eine auf Pariser Ebene politisch verankerte Persönlichkeit, die der gleichen politischen Strömung angehört wie der ihrer Parteigliederung. Aus dieser Perspektive kommt es zu einer Verschränkung nationaler und lokaler Selektionsmechanismen, die möglicherweise erklären, warum genau diese eine Person sich gegen die anderen Mitbewerberinnen durchsetzen konnte. Stattdessen bleiben diese, wie andere Einflussfaktoren, unhin- terfragt. So eruieren die Interviewten in den Gesprächen nicht, warum beispiels- weise keine Frau maghrebinischer Herkunft oder warum eine schwarze Frau aus einem anderen Arrondissements nominiert wurde. Diese in den Interviews hervortretende Reduzierung fällt umso stärker aus, wenn man folgendem Gedankengang einer erfahrenen Politikerin nachgeht:

42 „[...] wie in allen Parteien wurde sie [die Kandidatur] dazu benutzt, um gewisse politi- sche Ziele durchzusetzen, um einer bestimmten courants zu dienen [...]. Wenn wir uns jede dieser Einzelentscheidungen anschauen, sind sie je nach Perspektive immer frag- würdig. In diesem Sinne wurden mehrere Wahlkreise dazu benutzt, um einem bestimm- ten politischen Interesse zu dienen. Von dieser Warte betrachtet, hat die Kandidatur von XY für mich etwas völlig legitimes, da sie stellvertretende Bürgermeisterin ist und sie auch eine politische Linie vertritt, hinter der die Mehrheit der Mitglieder im Arrondis- sement stehen.“

306 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Pour être élu sur son nom propre c’est beaucoup plus difficile, enfin, il y a une seule place pour un seul poste. Alors là, il y a tout un tas de choses [...] qui peuvent fonctionner ou ne peuvent pas fonctionner. [...] Ce n’est pas une carrière, c’est bien plus risqué qu’une carrière professionnelle. Ça peut s’arrêter du jour au lendemain, [...]. Il faut être là au bon moment où les élections arrivent bientôt. Il faut avoir préparé, bon il n’y a pas vraiment de règles, ça dé- pend des endroits… il y a des endroits où il n’y a pas de places. Alors là, il n’y aucune règle. [...]. A un autre endroit on va peut-être se retrouver au bon moment. Et là, il y a une place et là on l’occupe, on se propose, on gagne devant les autres, on est un peu meilleur, on se fait connaître, mais il n’y a pas de règle vraiment écrite.“43 (106)

In der Beschreibung der Bedingungen für eine erfolgreiche Kandidatur stehen die Akzeptanz von Unsicherheit und Risiko im Mittelpunkt. Folglich seien es haupt- sächlich überindividuelle Faktoren, die über den Erfolg oder Misserfolg einer Kan- didatur entscheiden. Dabei gibt es keine Sicherheiten und keine festgelegten Re- geln, sondern vielmehr unverfügbare Faktoren wie „Chance“ und „Glück“ be- stimmen den Ausgang. Im Fall der konkreten Nominierung werden diese Erklä- rungsmuster in keinerlei Hinsicht verwendet, sondern einzig auf das Kriterium der diversité reduziert. Entsprechend wird die nationale Entscheidung für diversité als unbegründete Willkür empfunden und nicht in einen allgemeineren Rahmen der Nominierungswillkür eingeordnet, was die geäußerte Kritik relativieren würde.

43 „Um ein Gewählter in seinem eigenen Namen zu werden, ist es viel schwieriger – nun, es gibt nur einen Platz für einen Posten. Da gibt es eine Menge an Dingen, die eine Rolle spielen können, [...] die funktionieren oder auch nicht funktionieren. Das ist keine klassi- sche Karriere, es ist mehr als eine berufliche Karriere. Das kann von heute auf morgen enden, [...]. Man muss den richtigen Moment abpassen, dann, wenn die Wahlen bald an- stehen. Man muss vorbereitet sein und es gibt keine wirklichen Regeln, das hängt von den Orten ab… Es gibt Orte, wo es keinen Platz gibt. Also, da gibt es keine Regel. [...] An einem anderen Ort bietet sich die Gelegenheit. Und dort gibt es einen Platz, den man für sich beansprucht, für den man sich vorschlägt und den man gegen die anderen ge- winnt. Man ist ein bisschen besser, man macht sich bekannt, aber es gibt nicht wirklich eine festgeschriebene Regel.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 307

9.2 EINE PARTEIGLIEDERUNG IN EINER STADT IN SEINE-SAINT-DENIS

Die Stadt, in der die Sektion liegt, grenzt unmittelbar an Paris und gehört zum dé- partement Seine-Saint-Denis. Sie kann somit als eine der Vorstädte (banlieues) gelten. Zudem gehört die Stadt zu den größten urbanen Zentren von Seine-Saint- Denis und weist eine lange Einwanderungsgeschichte auf. Seit dem ersten Welt- krieg ist sie vor allem durch südeuropäische Einwanderung geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die postkoloniale Einwanderung ein, die sich durch die bereits erwähnten Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozesse (vgl. 8.1.2) in Paris ab den 1980er Jahren insbesondere auf die banlieues konzentrierte. Entsprechend hoch ist der Anteil der Ausländer_innen (population étrangère) an der Gesamtbe- völkerung. Er liegt laut Bevölkerungsbefragung bei über 30 Prozent. Der Anteil der Einwanderer/Einwanderinnen (Immigrés) an der Gesamtbevölkerung beträgt über 40 Prozent (Stand 2011)44. Die Sektion verfügt nach Aussagen der Befragten über eine kleine Mitgliederbasis, die nicht näher beziffert wurde. Seit ihrem Wahl- sieg bei den Kantonalwahlen 2004 kommt es nach Ansicht der parteipolitisch En- gagierten zu einem Anstieg der Mitglieder. Dieser Erfolg bricht mit der jahrzehnt- langen Vorherrschaft der PCF auf kommunaler Ebene. Insofern befindet sich die Sektion zum Zeitpunkt der Erhebungen an der Macht, hat aber mit den Kommunis- ten einen starken Konkurrenten. Schließlich lässt sich im Zusammenhang der Kommunalwahlen 2008 festhalten, dass nach meinen Erhebungen fast ein Dutzend der Gewählten einen sichtbaren Migrationshintergrund hat.

9.2.1 Sichtbare Minderheiten als sozial und politisch Marginalisierte im lokalen Parteienwettbewerb

Den Ausgangspunkt meiner Analyse bildet erneut die Frage, wie die befragten lo- kalen Parteimitglieder ihre Stadt und deren Bevölkerung wahrnehmen, differenzie- ren und mit welchen Eigenschaften sie sie assoziieren. Auffallend ist, dass vier von fünf Interviewten als erstes die eingewanderte Bevölkerung als charakteristisch für das Stadtviertel beschreiben. So ist die Rede von einer multikulturellen Stadt (une ville multiculturelle) (1), von einer Stadt der sich kreuzenden Wege (une ville car- refour) (2) oder von einer weltoffenen Stadt (une ville ouverte sur le monde) (3). Des Weiteren wird zwischen verschiedenen Einwanderungsgruppen unterschieden.

44 Vgl. Daten der Bevölkerungsbefragung 2011 von INSEE (http://www.insee.fr; letzter Zugriff am 24.03.2015).

308 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Die Gruppe der Afrikaner_innen wird mit Sub-Sahara-Afrika (Afrique noir) und Ländern wie der Elfenbeinküste, Mali oder Mauretanien verbunden (4-6). Überdies findet die Gruppe der Maghrebiner_innen Erwähnung, die mit Marokkaner_innen, Tunesier_innen, Algerier_innen sowie Kabyler_innen verknüpft wird (7-10). Die chinesische Bevölkerungsgruppe (population chinoise) wird mit einer jungen Ein- wanderung verbunden (11-12), während der Anfang der Migrationsgeschichte mit Einwanderern/Einwanderinnen aus verschiedenen Regionen Frankreichs sowie aus Italien, Spanien und Portugal assoziiert wird (13-14). Darüber hinaus werden bestimmte Einwanderungsgruppen mit einem sozialen Umbruch und einer Verarmung der Stadt in Verbindung gebracht. So beschreibt ein Parteimitglied, dessen Eltern aus Italien stammen und in der Stadt aufgewach- sen sind, den Umbruch wie folgt:

„[...] il existait une déclinaison du monde ouvrier, la ville [...] avait un sens, une forme d’équilibre social [...] il y avait une sorte de hégémonie culturelle de la classe ouvrière. Dès lors la classe ouvrière s’est transformée pour l’essentiel en un groupe de personnes au chô- mage, et a été remplacée par des populations étrangères, migrantes que nous accueillons.“45 (15)

Demnach wird das Zusammenbrechen eines intakten Arbeitermilieus in Verbin- dung mit Arbeitslosigkeit und der Ankunft einer ausländischen Bevölkerung ver- knüpft. Es fällt dabei auf, dass er sich als Sohn italienischer Eltern nicht als Teil der ausländischen Bevölkerung sieht. Er fühlt sich einem „wir“ zugehörig, das die Einwanderer/Einwanderinnen aufgenommen habe (nous accueillons). Diese Unter- scheidung macht er im weiteren Verlauf des Interviews noch deutlicher: „Vous avez la population blanche qui s’en va et la population d’origine étranger plutôt maghrébine et africaine qui arrive et même chinoise maintenant.“46 (16) Er bestimmt die Zugehörigkeit der ausländischen Bevölkerung durch die Haut- farbe bzw. Sichtbarkeit, deren Gegenüber die „weiße Bevölkerung“ (population blanche) darstellt. Menschen maghrebinischer, afrikanischer und chinesischer Her- kunft sind somit Bestandteil der ausländischen Bevölkerung. Eine vergleichbare

45 „[...] es gab eine innere Ordnung der Arbeiterwelt, die Stadt hatte einen Sinn, besaß ein soziales Gleichgewicht, [...] es herrschte eine Art kultureller Hegemonie der Arbeiter- klasse. Seitdem hat sich die Arbeiterklasse im Wesentlichen zu einer Klasse der Arbeits- losen gewandelt, ersetzt durch die ausländische und Bevölkerung mit Migrationshinter- grund, die wir aufnahmen.“ 46 „Sie haben eine weiße Bevölkerung, die verschwindet und eine ausländische Bevölke- rung vor allem aus dem Maghreb und Afrika, die ankommt und jetzt sogar Chinesen.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 309

Beschreibung des Wandels lässt sich in der Aussage eines Parteiakteurs ohne Ein- wanderungsgeschichte finden:

„Il y a eu un renouvellement en matière de population qui allait de pair avec intervenant toute une immigration notamment plutôt espagnole et italienne qui s’est quand même bien greffée dans l’histoire communiste. Mais après elle était plutôt maghrébine et puis d’Afrique Noir – là il y a eu quand même des décalages. Et donc ça, à un moment donné, ça crée des fortes tendances qui ont extrêmement paupérisé la ville. C’est la question sociale – les gens qui arrivaient sur le territoire n’étaient socialement déjà pas favorisés.“47 (17)

Hier werden die spanischen und italienischen Einwanderer/Einwanderinnen zwar mit einer Bevölkerungsveränderung assoziiert, jedoch nicht mit einem sozialen Umbruch. Vielmehr scheinen sie sich in die soziale Ordnung, die durch die PCF politisch dominiert wurde, eingegliedert zu haben (bien greffé l’histoire communis- te). Im Gegensatz dazu stehen die Migranten/Migrantinnen aus dem Maghreb und Sub-Sahara-Afrika (Afrique noir) für soziale Umwälzungen und Probleme, die zu einer Verarmung der Stadt beigetragen hätten. Insofern führt die Verbindung von Einwanderern/Einwanderinnen und sozialen Problemen zu einer Fokussierung auf Menschen nicht-europäischer und sichtbarer Herkunft. Gleichzeitig kommt es mit dieser Narration über die eingewanderte Bevölke- rung zu einer Verknüpfung mit dem lokalen politischen Parteienwettbewerb. So wird von den Befragten eine jahrzehntelang verfehlte Politik der regierenden kommunistischen Partei für die sozialen Probleme verantwortlich gemacht. Dabei wird auf den fehlenden Bau von Eigentumswohnungen sowie einer attraktiven Inf- rastruktur verwiesen, welche den Wegzug einer Mittelschicht vorangetrieben und somit zu einer Konzentration der sozial-marginalisierten Bevölkerungsschichten geführt hätten (18-21). In enger Verknüpfung dazu wird eine fehlende bis diskri- minierende Politik der Kommunisten gegenüber Einwanderern/Einwanderinnen gesehen, die zu einer sozialen wie politischen Marginalisierung geführt habe (22- 24). Im Zusammenhang der politischen Marginalisierung merkt ein Befragter an:

47 „Es gab einen Wandel in der Bevölkerungsstruktur, die zunächst mit der spanischen und italienischen Einwanderung einherging, welche sich für die Kommunisten durchaus als eine Bereicherung herausstellte. Aber danach waren die Einwanderer eher maghrebini- scher und schwarzafrikanischer Herkunft – hier gab es doch einige Diskrepanzen. Und zu einem gewissen Zeitpunkt führte dies zu einer starken Verarmung der Stadt, da es sich letztlich um eine soziale Frage handelt – die Menschen, die ankamen, waren bereits sozial benachteiligt.“

310 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„[...] je crois que les communistes qui avaient eu cette ville depuis très longtemps voulaient garder cette ville en ignorant les personnes qui n’avaient pas la possibilité de s’exprimer, [...] le travail des communistes consistait à rien faire ou seulement réagir à la demande de quelque chose pour pouvoir garder l’électorat et pour ne pas faire avancer les choses.“48 (25)

Er unterstellt hier, dass die kommunistische Partei lange Zeit ausschließlich auf die eigene Stammwählerschaft angewiesen wäre und jenen Bevölkerungsteil außer Acht ließ, der über keine Mitbestimmungsrechte verfügte (qui n’avaient pas la possibilité de s’exprimer). Während hier noch nicht deutlich wird, welche Bevöl- kerungsgruppe er genau meint, führt er anderer Stelle des Interviews aus: „[...] c’est une ville multiculturelle [...] et je pense que les communistes [...], ne vou- laient pas ou ne pensaient pas que les choses avançaient avec le monde qui bouge qui intègre la diversité dans le rang politique, culturel etc.“49 (26) Mit der Veränderung der Welt, im Sinne einer imaginierten städtischen Multi- kulturalität, verbindet der Politiker den Anspruch auf eine politische Eingliederung dieser Diversität, denen die Kommunisten nicht gerecht geworden seien. Im Ge- gensatz zur Sektion P, werden Migranten/Migrantinnen hier als politisch zu reprä- sentierender Bevölkerungsteil gesehen. Die Anführung fehlender politischer Rech- te sowie ein unterstelltes politisches Desinteresse der Eingewanderten werden un- ter den Befragten nicht thematisiert. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Konzeptualisierung spezifischer Ein- wanderergruppen als Teil des lokalen Parteien- und Stimmenwettbewerbs auch die Perspektive der Interviewten auf die parteipolitische Inkorporation von sichtbaren Minderheiten beeinflusst.

9.2.2 Die indirekte Relevanz der Mitgliederanwerbung von sichtbaren Minderheiten

Im Hinblick auf die Thematisierung der sichtbaren Minderheiten als aktive bzw. potentielle Mitglieder ist zum einen festzuhalten, dass diese, wie in der Sektion P, nicht direkt als Teil einer Anwerbestrategie konzipiert werden. Zum anderen be-

48 „[...] ich glaube, dass die Kommunisten, die seit langem diese Stadt regierten, ihre Macht erhalten wollten, indem sie über die Menschen, die keine Möglichkeiten hatten sich aus- zudrücken, hinweg regierten, [...] die Arbeit der Kommunisten bestand darin, nichts zu machen oder immer nur soweit, um sich die Zustimmung ihrer Wählerschaft zu sichern, ohne dabei die Dinge zu verändern.“ 49 „[...] dies ist eine multikulturelle Stadt [...] und ich denke, dass die Kommunisten [...] nicht wollten oder nicht daran dachten, dass sich die Dinge in einer Welt änderten, die sich bewegt, die die Diversität in der Politik und in der Kultur integriert.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 311 steht eine indirekte Relevanz der Migranten/Migrantinnen als Mitglieder innerhalb der Sektion. Zum ersten Punkt lässt sich anführen, dass die Interviewten ihre Parteigliede- rung als nicht inklusiv wahrnehmen. Ein Befragter führt aus:

„Je pense que ça c’est un défaut du PS [...] qui reste [...] avant tout un parti d’élus. On a fina- lement une base militante qui est très faible. [...] le PS n’est pas construit comme une organi- sation de masse. Donc, ça veut dire on n’a pas de politique de recrutement très développée, pas de politique de formation très développée.“50 (27)

Wie in der Sektion P kommt es zu einem Verweis auf den Typus einer Partei der Gewählten (parti d’élus), die er mit einem Mangel an Mitgliedern sowie einer feh- lenden Rekrutierung und Ausbildung von politischem Personal verbindet. Darüber hinaus wird eine Skepsis gegenüber Neumitgliedern geäußert, welche als mögliche politische Gegner_innen sowie Bittsteller_innen gesehen werden (28). Ferner wird die schwache Mitgliederbasis als Folge der jahrzehntlangen Dominanz der Kom- munisten in der Stadt gesehen, welche den Anreiz für einen Parteieintritt aufgrund fehlender Aussichten auf Machtbeteiligung verringert habe (29). Zudem gäbe es keine organisationale Verflechtung zwischen der Sektion und lokalen Vereinen, was in einer Barriere zwischen Vereinen und der Partei begründet sei (31-32). Vor diesem Hintergrund fehlen aus Sicht der Interviewten die Anreizstrukturen, um ei- ne aktive Anwerbung von Mitgliedern – ob mit oder ohne Einwanderungsge- schichte – zu betreiben. Gleichwohl werden mit den Wahlerfolgen der Sozialisten seit der Jahrtausend- wende ein Mitgliederzuwachs sowie eine Professionalisierung der Partei festge- stellt (33-34). Neben einer Professionalisierung des Wahlkampfs wird der Umzug der Sektion von einem Kellerverschlag zu einem komfortableren Parteiveranstal- tungsort mit eigener Anschrift genannt. Letzterer diene auch als Kontakt- und Aus- tauschort zwischen Sozialisten und den örtlichen Vereinen (35-38). Insofern zeigt sich hier eine andere Sichtweise zum Verhältnis zwischen der Partei und den Ver- einen. Entgegen der Annahme einer klaren Trennung zwischen beiden Organisati- onsformen kommt es zu einem Austausch zwischen beiden Ebenen. In diesem Zu- sammenhang äußert ein Führungsmitglied der Sektion:

50 „Ich denke, das ist ein Manko der PS [...], die zuallererst eine Partei der Gewählten bleibt. Wir haben letztlich eine Mitgliederbasis, die sehr schwach ist. [...] die PS ist nicht als eine Massenorganisation angelegt. Daher gibt es keine ausgereifte Rekrutierungspoli- tik oder Nachwuchspolitik.“

312 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Le parti communiste dans la ville tient quasiment toutes les associations. [...] historique- ment, c’est qu’on appelle le communiste municipale – c’est une manière de gérer la ville et d’instrumentaliser les associations. Et finalement [...] l’association c’est une manière de créer un collectif autour d’un problème de quelque chose, d’une passion et si on met quelqu’un d’idéologique à la tête de l’association et bien on tient les membres de l’association et on peut les amener à faire voter Pierre, Paul ou Hugo. Et c’est vrai que la majorité des associa- tions sont tenues par les communistes et que nous ne sommes pas assez dans le monde asso- ciatif.“51 (39)

Indem er eine dominierende Stellung der Kommunisten im Hinblick auf die Verei- ne feststellt sowie diese mit einem Wettbewerbsvorteil beim Wahlstimmenfang verbindet, sieht der Politiker indirekt einen Handlungsbedarf von Seiten der Sozia- listen (nous ne sommes pas assez dans le monde associatif). Der Einfluss auf die Vereine wird somit aus seiner Sicht zum Gegenstand des Parteienwettbewerbs. In diesem Kontext stellt ein langjähriges Parteimitglied, das Mitglied des kommuna- len Parlamentes ist, fest:

„[...] on a des liens permanents avec toutes les têtes des réseaux de présidents des associa- tions. [...] Donc, les liens sont très forts. Donc, il y a aucun problème, on a des liens avec le Mali, avec le Sénégal, avec Haïti, avec la Chine. On a des liens avec le Portugal, on a des li- ens avec l’Italie. Donc toutes les associations qui sont chez nous, on a des liens très forts avec elles.“52 (40)

Während der Befragte zunächst enge Verbindungen zu allen Vereinsvorsitzenden erwähnt, hebt er insbesondere den Kontakt zu Vereinen verschiedener Herkunfts- gruppen hervor. Somit löst sich hier die Trennung zwischen der Sektion und den

51 „Die Parti Communiste dominiert quasi alle Vereine. [...] In der Vergangenheit waren es die kommunalen Kommunisten – worunter wir die Art und Weise verstehen, wie eine Stadt geführt und die Vereine instrumentalisiert werden. Und ein Verein ist letztlich eine Art Kollektiv, das sich um ein Problem herum organisiert, das mit Leidenschaft verbun- den ist. Und wenn man nun eine parteinahe Person an die Spitze eines Vereines setzt, dann hat man auch Einfluss auf deren Mitglieder, so dass man diese dazu bringen kann, Pierre, Paul oder Jaques zu wählen. Und es stimmt, das die Mehrheit der Vereine von den Kommunisten gehalten werden und wir dort nicht genug verankert sind.“ 52 „[...] wir haben dauerhafte Beziehungen zu einem Netzwerk an Vereinsvorsitzenden [...]. Daher sind die Verbindungen sehr stark. Wir haben kein Problem, wir haben Verbin- dungen mit Mali, mit dem Senegal, mit Haiti, mit China. Wir haben Beziehungen mit Portugal und mit Italien. All diese Vereine sind bei uns, wir haben sehr starke Verbin- dungen zu ihnen.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 313

Migrantenorganisationen. Auch eine andere sozialistische Gewählte bestätigt die enge Beziehung zwischen der Partei und den kulturellen und religiösen Vereinen der Stadt (41). Darüber hinaus sieht ein Führungsmitglied in seinem langjährigen und persön- lichen Engagement einen Grund für den funktionierenden Austausch:

„[...] lorsque j’étais [...] le leader des Socialistes [...] on avait des liens, j’avais tissé des liens extrêmement étroits avec le tissu associatif et notamment l’association qui représentait les communautés étrangères, pas exclusivement, mais… j’ai beaucoup travaillé avec les associa- tions haïtienne, les associations congolaises avec les associations kabyles… et on avait un lien très étroit, on l’a toujours.“53 (42)

Dieses Engagement kann als eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Einbettung von Migrantenorganisationen in beiden Sektionen gesehen werden. Gleichwohl geht aus den bisherigen Aussagen nicht hervor, ob mit dem Aus- tausch auch ein Parteibeitritt von Migranten/Migrantinnen in die Partei assoziiert wird. Erneut scheint eine gezielte Ansprache von Einwanderern/Einwanderinnen keine Relevanz zu besitzen. Allenfalls implizit wird eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen. So bestätigen einige Befragte auf meine direkte Nachfrage, dass viele Parteimitglieder parallel in Vereinen engagiert seien, was zu einer An- werbung von neuen Mitgliedern aus diesen Vereinen führe (43-45). Ein Parteimit- glied aus Martinique antwortet auf meine Frage, inwieweit es zu einem Übertritt von anderer Gruppen in die Sektion komme, wie folgt: „Absolument, absolument. L’exemple concret, c’est moi. J’ai étais très actif au niveau associatif. Donc, j’étais président de la section de Badminton pendant quelques années [...] Et [...] je suis rentré à la section du Parti socialiste et aujourd’hui je suis élu à la mairie.“54 (46) Er nimmt sich selbst als Beispiel um zu belegen, dass ein Beitritt über die Ver- einswelt in die Partei möglich sei. Unabhängig von der Frage nach einer gezielten Anwerbung zeigt sich, dass die Interviewten meine Frage, ob sich die Stadtbevölkerung in der Sektion widerspie-

53 „[...] als ich der Vorsitzender der Sozialisten war, [...] hatten wir Beziehungen. Ich habe sehr enge Verbindungen mit dem Vereinsnetzwerk geknüpft, insbesondere zu den aus- ländischen Vereinen, nicht ausschließlich aber… Ich habe sehr viel mit haitianischen, kongolesischen und kabylischen Vereinen gearbeitet,… zu denen wir bis heute enge Be- ziehungen haben.“ 54 „Absolut, absolut. Das konkrete Beispiel bin ich. Ich war sehr aktiv in den Vereinen. Al- so, ich war Präsident des Badmintonvereins für einige Jahre [...] Und [...] ich bin der Sektion der Parti socialiste beigetreten und heute bin ich Gewählter im Rathaus.“

314 | PARTEIEN UND MIGRANTEN gelt, bejahen. Die bereits oben zitierte Führungspersönlichkeit (vgl. 42) führt in diesem Kontext aus:

„Oui, je pense que la section c’est la ville, un part non négligeable de la ville. [...] Je crois que l’orientation que j’ai donnée depuis dix ans y est pour quelque chose. [...] cette impul- sion, l’orientation que j’ai donnée à la section en disant que nous devions être dans la popu- lation comme des poissons dans l’eau à la différence des communistes. Je pense que c’est à cause de ça que la section est aussi diverse.“55 (47)

Erneut sieht er sich als Impulsgeber für eine Öffnung der Sektion gegenüber der Stadtgesellschaft (être dans la population comme des poissons dans l’eau) und er- klärt damit die diversité in seinen Reihen, ohne diese genauer zu spezifizieren. Konkreter wird hier ein anderer Befragter, der von einer Mischung (mélange) spricht, wobei er regionale (Bretons) und ausländische Herkunftsgruppen (origi- naire d’Europe et d’Afrique; Marocains) sowie Franzosen/Französinnen mit Mig- rationshintergrund nennt. Mit dem Verweis auf erkennbare unterschiedliche Sprachfähigkeiten dieser Gruppen zeigt er zudem auf die Durchmischung von jün- geren und älteren Herkunftsgruppen (48). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in den Interviews eine direkte Anwer- bung von Migranten/Migrantinnen als zukünftige Mitglieder nicht benannt wird. Im Gegensatz zur Sektion P sehen die Befragten zum einen, dass sich der Partei- enwettbewerb mit den Kommunisten katalysierend auf den Austausch mit Migran- tenorganisationen ausgewirkt habe. Zum anderen wird das Engagement einer zent- ralen Persönlichkeit angeführt, die zu einem Beitritt von migrantischen Vereins- mitgliedern in die Partei geführt habe. Vor diesem Hintergrund werden Migran- ten/Migrantinnen nicht per se als unpolitisch bzw. politisch passiv konstruiert, sondern werden vielmehr durch ihr Engagement in den Vereinen zu einer wertvol- len Ressource im politischen Wettkampf gegen die Dominanz der kommunisti- schen Partei gesehen.

55 „Ja, ich denke, die Sektion ist die Stadt, zumindest ein nicht unerheblicher Teil der Stadt. [...]. Ich denke, dass mein Engagement seit über zehn Jahren zu etwas nützlich war. [...] Ich gab den Anstoß und den Kurs vor, indem ich sagte, dass wir im Unterschied zu den Kommunisten in der Bevölkerung sein müssen wie ein Fisch im Wasser. Ich denke, dass das der Grund für die vielfältige Zusammensetzung der Sektion ist.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 315

9.2.3 Die Listenaufstellung und die Dominanz des Kriteriums des sichtbaren Migrationshintergrundes

Im Zusammenhang der Listenaufstellung für die Kommunalwahlen fällt zunächst auf, dass den Interviewten die PCF als Hauptreferenzpunkt dient, um die Art der Zusammensetzung der Liste zu begründen. Rückblickend erklärt ein Parteiakteur und ehemaliger Sektionsvorsitzender den Wahlsieg der Sozialisten 2008 wie folgt:

„[...] on a changé de formation politique puisque c’est le PC depuis 50 ans qui a géré la ville [...]. Donc, on a changé l’équipe et on a changé la politique, [...] sur notre liste il y avait à peu près un tiers d’anciens élus, les deux tiers était des nouvelles candidatures, donc il y avait de la parité, on a fait un effort particulier de faire en sorte que la liste représente ce qui était la réalité sociologique de la ville aujourd’hui. Un petit exemple: un, deux maires ad- jointes qui sont d’origine africaine, il n’y avait aucun avant.“56 (49)

Hier konstruiert er die Listenzusammenstellung als bewussten Bruch mit der Tradi- tion der kommunistischen Partei. Dabei weist er auf die Erneuerung der Kandida- tenliste (changé l’équipe) hin, die zum einen die gleichmäßige Aufteilung der Lis- tenplätzen zwischen Frauen und Männern (parité) sowie zum anderen eine mög- lichst große Repräsention der Stadtgesellschaft umfasst hätte, die er mit der Prä- senz von Menschen afrikanischer Herkunft assoziiert. Er verbindet zudem den po- litischen Umbruch mit einer politischen Machtbeteiligung dieser Gruppe. Der da- malige Listenführer argumentiert in eine ähnliche Richtung:

56 „[...] wir haben einen politischen Wechsel herbeigeführt, da ja die PC[F] seit 50 Jahren die Stadt regiert hatte [...]. Folglich haben wir die Mannschaft und die Politik geändert, [...] auf unserer Kandidatenlisten gab es ungefähr ein Drittel bereits amtierender Ge- wählte, zwei Drittel waren neue Kandidaturen, dann gab es die parité. Wir haben ein be- sonderes Augenmerk darauf gelegt, dass die Liste die heutige Stadtbevölkerung wider- spiegelt. Ein kleines Beispiel: ein, zwei stellvertretende Bürgermeister sind afrikanischer Herkunft, vorher gab es keinen.“

316 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„On n’est pas une ville où il y a 25 ou 30 pour cent de gens d’origine africaine et parmi les élus aucun. Ça n’a pas de sens, ça n’a pas de sens, ça n’a pas de sens. Donc, ce n’est pas pos- sible de gérer une ville comme ça parce qu’il y a une forme de… finalement de malveillance qui se voit en regardent une liste, une liste qui est composée 100 pour cent de blancs c’était le cas de la liste [Anmerkung des Autors: des communistes]. [...] Il y avait une liste 100 pour cent blanche. 100 percent blanche. [...] je cherchais une tâche noire. Il y a une tache jaune, mais pas de tache noire. Ce n’est pas gérable, ce n’est pas gérable.“57(50)

An dieser Aussage werden zwei Punkte deutlich. Zum einen ist in ihr die Idee ent- halten, dass eine Repräsentation der Stadtbevölkerung nur durch eine Widerspiege- lung sichtbarer Minderheiten möglich sei. Die Unterteilung der Bevölkerung in un- terschiedliche Herkunftsgruppen reduziert der Interviewte bisweilen auf eine ras- sistisch-simplifizierende Sprache (une liste 100 percent blanche, tache noire, tache jaune) und setzt somit Wähler_innen und Kandidaten/Kandidatinnen nach ihrer Hautfarbe gleich. Zum anderen unterstreicht er mit dem Verweis auf den kommu- nistischen Parteikonkurrenten, der bisher keine Kandidaten/Kandidatinnen mit sichtbaren Migrationshintergrund nominiert habe (100 percent blancs c’était le cas de la liste), dass die Strategie der PS auch aus wettbewerblicher Sicht Sinn mache. Ein weiteres Führungsmitglied nimmt eine vergleichbare Position ein:

„[...] il faut un noir, un chinois, un kabyle, un français,... .“

I: „Ah oui?“

„Mais oui, parce que on cherche a parlé à électeur. On cherche à parler à l’électeur. On ne cherche pas à parler au militant socialiste. [...] Il va voter… si on veut capter le vote black, ben il faut qu’il y ait des blacks dans la liste.“58 (51)

57 „Wir sind keine Stadt, in der 25 oder 30 Prozent der Menschen afrikanischer Herkunft sind und unter ihnen kein Gewählter ist. Das macht keinen Sinn, das macht keinen Sinn, das macht keinen Sinn. Folglich ist es nicht möglich, eine Stadt so zu regieren, weil es eine Art Missfallen erzeugt, wenn man sich eine Liste anschaut, die zu 100 Prozent aus Weißen besteht wie im Fall der Liste [der Kommunisten]. [...]. Es gab eine Liste, die 100 Prozent weiß war. [...] ich suchte einen gelben Flecken, einen schwarzen Flecken. Das ist nicht tragbar, das ist nicht tragbar.“ 58 „[...] man braucht einen Schwarzen, einen Chinesen, einen Kabyle, einen Franzosen… .“ I: „Ach, wirklich?“ „Aber ja, wir wollen den Wähler ansprechen. Wir wollen den Wähler ansprechen und nicht das sozialistische Parteimitglied. [...] Er wird wählen… wenn wir die Stimmen der Schwarzen wollen, na dann brauchen wir einen Schwarzen auf der Liste.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 317

Die Hautfarbe der Kandidaten/Kandidatinnen als Identifikationsmerkmal, nach der die Wähler_innen ihre Entscheidungen trufen, unterstreicht die oben angeführte Idee von Repräsentation.59 Des Weiteren zeigt sich an verschiedenen Stellen, wie diese Ausrichtung durch den politischen Konkurrenzkampf mit der PCF legitimiert wird. Der eben Zitierte betont, dass die Sozialisten vergeblich versucht hätten, einen chinesisch-stäm- migen Kandidaten aufzustellen, und verweist gleichzeitig auf die Präsenz eines solchen auf der Liste der Kommunisten (52). Zudem wird dieser Wettbewerb durch die Konstruktion und Problematisierung des Themas „Stadt und Einwande- rung“ (vgl. 9.2.1) unterstützt, nach der die soziale und politische Entmündigung von Einwanderern/Einwanderinnen unter den regierenden Kommunisten erfolgte. Eine Nominierung von Personen, die dieser Gruppe zugeordnet werden, kann so- mit gedanklich nicht nur mit einer Erneuerung des politischen Establishment, son- dern auch mit einem Bruch der bisherigen Politik verknüpft werden. Gleichwohl wird von den Befragten nicht ausschließlich der sichtbare Migrati- onshintergrund als Selektionskriterium genannt. Wie oben schon angedeutet, wird die Einhaltung der parité (53-55) sowie die Berücksichtigung der jeweiligen inner- parteilichen Flügels hervorgehoben (courants) (56-57). Das Alter, der sozio- professionelle Hintergrund oder die Repräsentation zivilgesellschaftlicher Akteure sind weitere Kriterien (58-59), die genannt werden. Es stellt sich die Frage, inwie- weit der Migrationshintergrund vor dem Hintergrund dieser Kriterien problemati- siert wird. Auf meine Frage, welche Konflikte es im Zusammenhang der Listener- stellung gäbe, wird dieses Kriterium nicht angesprochen. Vielmehr sieht der amtie- rende Sektionsvorsitzende die ausreichende Berücksichtigung der Bündnispartner bei der Listenaufstellung sowie Betrugsversuche einzelner Mitglieder als konflikt- behaftet an (60). Auch auf meine direkte Nachfrage, ob die Herkunft der Bewer- ber_innen bei der Listenaufstellung diskutiert wurde, gibt ein Befragter an:

59 Des Weiteren fällt auf, dass der Befragte zwischen Wählern/Wählerinnen und Parteimit- gliedern unterscheidet (On cherche à parler à l’électeur. On ne cherche pas à parler au militant socialiste). Damit suggeriert er, dass diese Art von Repräsentationslogik nicht funktioniert hätte, wenn anstelle der Wähler_innen die Mitglieder hätten angesprochen werden müssen. Somit geht er davon aus, dass die Mitglieder ihre Entscheidung nicht entlang ethnischer oder sichtbarer Kriterien fällen, was die Irrelevanz derartiger Merk- male bei der Mitgliederanwerbung unterstreicht (vgl. 9.2.2 ).

318 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„[...] il n’y avait pas de discussion pourquoi lui et pas moi. Il y avait une discussion sur celui qui a travaillé, qui a apporté quelque chose. [...] il n’y avait pas de discussion sur le problème de mixité sur la liste municipale. C’est venu normalement – il n’y a pas eu de pourquoi on met un jaune ou un jeune arabe. Non, il n’y a pas eu ça.“60 (61)

Demnach wurde eher über die Fähigkeiten und Qualifikationen der Kandida- ten/Kandidatinnen diskutiert als über die Nominierung von Personen mit sichtba- rem Migrationshintergrund. Eine andere Sichtweise hat der damalige Listenführer. Er führt im Interview aus:

„[...] c’était un projet que j’ai … et d’ailleurs j’ai souvent été critiqué par des collèges qui di- saient: Tu es trop orienté vers les ressortissant étrangers et les enfants des ressortissants étrangers. [...] Et la dernière liste électorale que j’ai épluchée [...] elle a confirmé entièrement ce que je pensais. C’est-à-dire qu’il y avait plus de six à sept mille électeurs, électeurs qui étaient née au Maghreb ou en Afrique Noir qui étaient nés… ils étaient des français puisque ils aient le droit de voter [...]. Et ces mêmes électeurs avaient des enfants qui eux étaient nés en France. Ça veut dire, le corps électoral de la population que je viens de délimiter étaient considérable.“61 (62)

Zunächst wird hier deutlich, dass der Befragte die Nominierung und Wahl von sichtbaren Minderheiten eng an seine Person knüpft (c’était un projet que j’ai) und er Kritik auf sich bezieht (j’ai souvent été critiqué par des collèges). Gleichwohl legitimiert er sein Engagement, indem er auf das Ausmaß des Wahlstimmenpoten- tials der Bevölkerung ausländischer Herkunft hinweist. In diesem Zusammenhang resümiert er:

60 „[...] es gab keine Diskussion darüber, warum er und nicht ich. Es gab eine Diskussion darüber, wer was gearbeitet und beigetragen hat. [...] es gab keine Diskussionen über die Durchmischung der kommunalen Liste. Das kam ganz natürlich – es wurde nicht ge- fragt, warum ein Gelber oder ein junger Araber. Nein, das gab es nicht.“ 61 „[...] das war ein persönliches Projekt… und im Übrigen wurde ich oft dafür von Kolle- gen kritisiert. Sie sagten, du richtest dich zu stark an den Ausländern und deren Kinder aus. [...] Und die letzte Wahlliste, die ich zusammengestellt habe [...] hat mich voll und ganz in dem bestätigt, was ich zuvor gedacht habe. Das heißt, es gab über sechs bis sie- bentausend Wähler, Wähler aus dem Maghreb oder Schwarzafrika… sie waren Franzo- sen, da sie das Wahlrecht hatten. [...]. Und genau diese Wähler hatten wiederum Kinder, die in Frankreich geboren wurden. Das bedeutet, dass das von mir eben skizzierte Stim- menpotenzial enorm war.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 319

„[...] Au fur et à mesure de notre victoire électorale, les gens ont compris que l’efficacité électorale était liée aussi à la stratégie politique qu’on proposait. Ils ont compris. Les gens se sont soumis à l’efficacité électorale même s’ils ne le pensaient pas, même s’ils n’étaient pas d’accord avec moi.“62 (63)

Somit sieht der Kommunalpolitiker in den Wahlerfolgen einen Beweis für die Richtigkeit und Wirksamkeit seines Wahlstimmenarguments (efficacité électorale) und als Grund für die Entkräftung innerparteilichen Widerstands. Gleichzeitig deu- tet er an, dass diese Entkräftung nicht das Verschwinden von Meinungsabwei- chungen zwischen ihm und anderen Parteimitgliedern bedeute (même s’ils n’étaient pas d’accord avec moi), sondern allenfalls deren Unterdrückung. Neben dem Effizienz-Argument kann eine weitere Interpretation für seine Durchsetzungsfähigkeit angebracht werden. So führt ein weiteres Führungs- mitglied aus:

„[...] comme dit le maire à qui j’en parle de temps en temps: ‚Ne crois pas que ça fait trente ans que je tiens la section sans avoir tué plus d’une personne qui cherchait à planter notre courant.‘ Donc, je veux dire si le courant social-démocrate, deuxième gauche, Rocardiens est le courant de la section – c’est parce que XY a créé l’espace politique pour faire en sorte que ce soit lui qui représente 80 pour cent du poids de la section et que les autres étaient écartés, tués voilà quoi.“63 (64)

Hier assoziiert er den zentralen Parteiakteur als Führungsfigur des Mehrheitsflü- gels (courants) innerhalb der Sektion (courant social democrate), für dessen Machterhalt er sich gezielt einsetzt. Dieser politische Flügel ist somit eng mit sei- ner Person verknüpft. In diesem Kontext erläutert er weiter:

62 „In dem Maße wie wir den Wahlsieg davon getragen haben, verstanden die Leute, dass der Stimmengewinn mit meiner vorgeschlagenen politischen Ausrichtung zu tun hatte. Sie haben verstanden. Die Leute haben sich dem Argument des Stimmengewinns ge- beugt, auch wenn sie daran nicht geglaubt hatten, auch wenn sie nicht mit mir einer Meinung waren.“ 63 „[...] wie der Bürgermeister immer sagt, mit dem ich manchmal spreche: ‚Glaube nicht, dass ich seit 30 Jahren diese Sektion halte ohne dabei eine Person politisch ausgeschaltet zu haben, die versucht hat unsere courant zu vereinnahmen.‘ Ich will damit sagen, wenn die sozialdemokratische courant, die zweite Linke, Rocardiens, die courant der Sektion ist, dann weil XY dafür gesorgt hat, dass 80 Prozent des Stimmengewichts auf ihnen fal- len und die anderen entfernt und beseitigt wurden.“

320 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

„Je veux dire l’identification au courant ne se fait pas forcement sur une base idéologique. Elle peut se faire sur une base amicale, sur une aventure d’un collectif. Si le leader, il va dans une direction, ce n’est pas forcement parce qu’on est d’accord avec lui qu’on va dans cette direction, c’est parce qu’on fait partie du même collectif.“64 (65)

Er geht davon aus, dass innerhalb eines Flügels eine Solidarität besteht, durch die Entscheidungen der Führungspersönlichkeit trotz individueller Kritik grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Vor diesem Hintergrund muss auch die Durchset- zungskraft des Flügelanführers im Hinblick auf die Entscheidungen der parteipoli- tischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen gesehen werden.

9.2.4 Parité und diversité – ein ungleiches Paar

Im Folgenden werde ich die Aussagen im Hinblick auf die Nominierung der Wahlkreiskandidatin analysieren. Es stellt sich dabei heraus, dass alle fünf Befrag- ten die Reservierung ihres Wahlkreises für eine Frau (parité), die von Seiten der nationalen Parteiführung bestimmt worden sei, kritisieren. Entsprechend wird auf einen vergleichbaren nationalen Eingriff wie in Sektion P hingewiesen – mit dem Unterschied, dass das Selektionskriterium nicht diversité, sondern ausschließlich parité ist. Insofern bietet sich ein Vergleich der Aussagen im Zusammenhang bei- der Entscheidungen an, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Inwieweit lässt sich ein vergleichbares Antwortverhalten wie in Sektion P in Bezug auf diversité feststellen? Des Weiteren soll aufgezeigt werden, wie die Interview- ten der Sektion B die Diskussion über diversité beurteilen. Den nationalen Eingriff führen einige Befragte auf den Neuzuschnitt des Wahlkreises zurück, der es der nationalen Ebene grundsätzlich erlaube, den Wahl- kreis für eine Frau zu reservieren (66-68). Eine Befragte, die sich im Laufe des In- terviews als Gegenkandidatin herausstellte (69), merkt an, dass ein Neuzuschnitt eine Reservierung für eine Kandidatur der diversité nach sich ziehen könne. An- sonsten bleibt im Rahmen der nationalen Entscheidung der Begriff diversité von den Befragten unerwähnt, so dass angenommen werden kann, dass wie in der Sek- tion P eine inhaltliche Trennung zwischen parité und diversité vollzogen wird. Noch ist hier unklar, was die Befragten unter diversité genau verstehen.

64 „Ich will damit sagen, dass die Identifizierung mit einer courant nicht unbedingt über die Programmatik erfolgt. Sie kann auf einem freundschaftlichen Verhältnis, auf einem ge- meinschaftlichen Abenteuer, beruhen. Falls der Anführer in eine Richtung geht, dann folgt man ihm nicht unbedingt, weil man seiner Meinung ist, sondern weil man Teil des Kollektivs ist.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 321

Zunächst lässt sich festhalten, dass sich die Kritik nicht gegen die Kandidatin in ihrer Eigenschaft als Frau richtet, sondern gegen die Art und Weise, wie diese Nominierung von der nationalen Ebene durchgesetzt wurde. Emblematisch steht hierfür das verwendete Wort der parachutage65, welches mit bestimmten Eigen- schaften verbunden wird. So erläutert der Sektionsvorsitzende: „Pour les législa- tives, [...], ça se joue beaucoup au niveau national. C’est des parachutages, l’arbitrage qui se fait en haut. [...]. Il faut être investi par le niveau national. Donc, c’est en haut que ça se décide.“66 (70) Hier wird parachutage mit der Nominierungsentscheidung verbunden, die von der nationalen Führungsebene ausgeht und somit von der lokalen Ebene entkoppelt und nicht nachzuvollziehen ist. Überdies verbindet ein Befragter mit dem Wort pa- rachutage nationale Machtinteressen, bei denen es nur sekundär um eine Erhöhung der Frauenbeteiligung gehe (71). Eine Befragte schildert, dass durch den Neuzu- schnitt mehrere Wahlkreise betroffen waren, so dass einige Abgeordnete um ihre sicheren Mehrheiten fürchten mussten. Davon war angeblich auch die Kandidatin betroffen, die einst in einem Nachbarwahlkreis angetreten war und dort aufgrund des Neuzuschnitts mit einer Mehrheit nicht länger rechnen konnte (72). Hier wird auf die regionalen Aushandlungs- und Machtprozesse verwiesen, die hinter dieser Entscheidung stünden. Zudem gibt sie an, dass die nationale Ebene die Tendenz hätte, alte Amtsinhaber zu protegieren, so dass neue lokale Kandidaten/Kandi- datinnen keine Chance hätten (ebd.). In diese Richtung geht auch folgende Aus- sage des Sektionsvorsitzenden:

„Mais, parce qu’elle a rencontré Martine Aubry, Jospin etc. les leaders du parti au niveau na- tional et que – entre guillemets- elle se fait réserver cette circonscription… alors ils ont fait réserver ‚femme‘ déjà. Alors l’ancien député était un homme donc déjà ça excluait le député en place. [...] Et comme c’est la seule femme éligible sur le 93 [Anmerkung des Autors: Dé- partement Seine-Saint-Denis] tu ne peux pas être contre.“67 (73)

65 Wörtlich bedeutet das Wort den Abwurf eines Fallschirms oder das Absetzen mit einem Fallschirm. Figürlich gesprochen meint es eine plötzliche Beorderung auf einen Posten oder hier die Nominierung für einen Wahlkreis, die von der nationalen Parteiebene aus- geht. 66 „Für die nationalen Parlamentswahlen [...] entscheidet sich vieles auf nationalem Ni- veau. Das sind parachutages, schiedsrichterliche Verfahren von oben [...]. Man muss von der nationalen Ebene nominiert werden. Also, oben entscheidest es sich.“ 67 „Na, weil sie Martine Aubry, Jospin etc., die nationalen Parteispitzen getroffen hat und weil sie sich – in Klammern – den Wahlkreis reservieren hat lassen… zunächst haben sie [den Wahlkreis] bereits für eine Frau reserviert. Da der bisher Gewählte ein Mann war,

322 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Er sagt hier, dass die Kandidatin nicht wegen ihrer Eigenschaft als Frau nominiert wurde, sondern aufgrund direkter Absprachen mit nationalen Parteiführungskräf- ten. Dabei sieht er die Art, wie diese Kandidatur durchgesetzt wurde, kritisch. Die Singularität eines sicheren Wahlkreises für eine Kandidatin delegitimiert seiner Ansicht nach jegliche Einwände. Die Norm der parité wird demnach vom Befrag- ten so bedeutungswirksam eingeschätzt, dass jeglicher Widerspruch unmöglich sei (Et comme c’est la seule femme éligible sur le 93 [...] tu ne peux pas être contre). Ein weiterer Interviewteilnehmer reagiert auf meine Nachfrage, was gegen die Nominierung spreche, vorsichtig:

„Je ne vais pas me défiler sur cette question, [...] alors ce n’est pas parce que c’est une femme. Je suis… loin de là, je crois qu’elle mérite plus de respect pour ça. Ça n’a rien à avoir avec la femme, elle-même. Je crois que c’est que la population n’accepte pas ou à mal digéré ou n’a pas apprécié, à ce qu’on nous a enlevé quelqu’un de valeur qui faisait du bon boulot et qu’on nous a parachuté quelqu’un qui a un peu connaissance de la Seine-Saint- Denis, [...] qui a aucune connaissance sur Y [Stadt, die Teil des Wahlkreises ist].“68 (74)

So bringt er zum Ausdruck, dass er sich zu meiner Frage nicht kritisch äußern möchte (Je ne vais pas me défiler sur cette question). Dabei betont er mehrmals, dass er nichts gegen die Kandidatin als Frau habe. Vielmehr deutet er sie im Ver- gleich zum bisherigen Kandidaten als nicht lokal verankerte Persönlichkeit. Eine ähnliche Interpretation spiegelt sich auch im Antwortverhalten des Sekti- onsleiters wider:

konnte dieser nicht mehr antreten. [...] Und da sie die einzige aussichtsreiche Kandidatin im 93er départment ist, konnte man nicht gegen sie sein.“ 68 „Ich werde mich nicht mit dieser Frage in die Bredouille bringen, [...] es ist nicht, weil sie eine Frau ist. Ich bin weit davon entfernt. Ich denke sie hat Respekt verdient. Das hat nichts mit der Frau an sich zu tun. Ich glaube, was die Bevölkerung nicht akzeptiert, schwer verdaut oder nicht schätzt, ist die Tatsache, dass man uns eine wertgeschätzte Person, die eine gute Arbeit geleistet hat, genommen hat und dafür uns jemanden vor- setzt, der wenig Kenntnisse von Seine-Saint Denis hat, [...] die keine Ahnung von der Stadt Y hat.“ FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 323

„[...]. Comme quoi est-ce qu’elle était parachutée? Comme quelqu’un qui est venu de 17. Ar- rondissement, qui n’habitait pas dans la ville.“

I: „Donc, il y avait aussi d’autres candidats…?“

„Mais, bien sûr. Il y avait d’autres candidats. Mais attend, c’était violent. C’était violent.“69 (75)

Erneut wird hier ihre fehlende lokale Verankerung als Kritik gegen die parachuta- ge formuliert. Durch das Erwähnen weiterer lokaler Kandidatinnen verschärft der Interviewte den Kontrast und assoziiert mit der Entscheidung eine Brutalität (c’était violent). Darüber hinaus klingt eine Kritik hinsichtlich der sozialen Her- kunft der Kandidatin an. So steht das 17. Arrondissement in Teilen für ein wohlha- benderes Viertel in Paris und die politische Elite in Frankreich. Eine Analogie bil- det hier ein Befragter, der generell von einer Entkoppelung der lokalen von der na- tionalen Ebene spricht, die sich darin ausdrücke, dass in der nationalen Führungs- ebene nur Intellektuelle zu finden seien sowie die Parteizentrale ebenso in einem bürgerlichen Arrondissement von Paris stehe (76). Vor diesem Hintergrund wird die Gegenkandidatur einer Frau als Ausdruck des lokalen Repräsentationsanspruchs interpretiert. Einer der Führungspersönlichkeiten der Partei äußert sich wie folgt: „[...] il y a une volonté de présenter contre YZ une candidate [...] qui a fait toute sa scolarité à Y et dont les parents habitent à Y qui sont d’origine kabyle.“70 (77) Er verweist auf ihre schulische Ausbildung sowie die Ansässigkeit der Eltern in der Stadt X. Der kabylische Hintergrund der Eltern wird somit indirekt mit dem Ort verbunden, ohne dass dabei von diversité die Rede ist. Auch die Kandidatin selbst sieht ihre Gegenkandidatur in ihrer lokalen Verankerung begründet, ohne dabei ihren Migrationshintergrund in den Vordergrund zu stellen, geschweige denn von einer Repräsentation der diversité zu sprechen (78). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Nominierungsentscheidung und deren Kritik sich nicht direkt auf das Geschlecht beziehen. Vielmehr wird von den Befragten angeführt, dass dieses Kriterium nur vorgeschoben sei und vor allem

69 „[...] Als was wurde sie von oben ernannt? Als jemand, der aus dem 17. Arrondissement kommt, als jemand, der nicht in der Stadt wohnt.“ I: „Also, gab es andere Kandidaten…?“ „Aber natürlich, gab es andere Kandidaten. Glaub mir, es war heftig. Es war heftig.“ 70 „[...] es war die Bereitschaft vorhanden eine Kandidatin gegen YZ antreten zu lassen [...], die ihre gesamte Schullaufbahn in Y war, wo auch ihre Eltern wohnen, die kabyli- scher Herkunft sind.“

324 | PARTEIEN UND MIGRANTEN regionale und nationale Machtinteressen dahinter stehen würden. Diese werden mit einer gesellschaftlichen Elite assoziiert und als Gegensatz zu den Interessen der lo- kalen Parteibasis konstruiert. Gleichzeitig wird der Begriff der diversité nicht mit diesem Prozess verbunden. Erst auf meine direkte Nachfrage, was die Interviewten von einem Wahlkreis der diversité halten würden, wird die Zentrierung auf die Hautfarbe kritisiert, die Mehrdimensionalität des Begriffs betont sowie die soziale Frage im Gegensatz zur kulturellen Frage in den Vordergrund gestellt (79-81). Ähnlich wie in Sektion P konzentriert sich die Kritik auf das Auswahlkriterium und weniger auf die machtpolitischen Aushandlungsprozesse.

9.3 ZWISCHENRESÜMEE

Insgesamt hat sich anhand der Interviews gezeigt, dass, wie eingangs vermutet, parteipolitische Inkorporationsprozesse von Migranten/Migrantinnen in den beiden Sektionen unterschiedlich konzeptualisiert werden. So wurde deutlich, dass in der Pariser Sektion die Gruppe der Einwanderer/- Einwanderinnen nicht als potenzielle Wähler_innen und Mitglieder wahrgenom- men werden, die es gezielt anzusprechen gelte. Mit dem Verweis auf das fehlende kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Bürgerinnen sowie mit der Zuordnung der Migranten/Migrantinnen zur politisch inaktiven Arbeiterschicht wird eine politi- sche Passivität suggeriert, die eine gezielte Ansprache ad absurdum führen würde. Darüber hinaus wird mittels der Norm des Republikanismus und der Relevanz der sozialen Marginalisierung diese Sicht bestärkt. Der Bezug auf die Nominierung von Kandidaten/Kandidatinnen mit sichtbarem Migrationshintergrund wirkt für die Beteiligten als von außen aufoktroyiert. Der Begriff diversité wird dabei mit einer definitorischen wie parteistrukturellen Willkür assoziiert. Im Gegensatz dazu wurde im Fall der Sektion B deutlich, dass die eingewan- derte Bevölkerung nicht als politisch passive, sondern als aktive Gruppe wahrge- nommen wird. Sie gilt es als Wählerschaft, die mittels eines passenden Personal- angebots, das sich unter anderem nach den sichtbaren Merkmalen bestimmt, zu gewinnen. Dabei stellte sich der politische Wettbewerb mit den Kommunisten als eine wesentliche Motivation heraus. An dieser Stelle bestätigen sich bisherige Un- tersuchungsergebnisse von Geisser, der bereits Ende der 1980er Jahre die Konkur- renz zwischen der PS und der PCF in einer Gemeinde von Seine-Saint-Denis als Grund für die Nominierung eines Kandidaten maghrebinischer Herkunft sieht (Geisser 1997, S. 140). Auch Mascelet thematisiert den Wettbewerb um die Stim- men der Beur zwischen den unterschiedlichen Parteien in Gennevilliers (Masclet 2006, S. 253f.). Zudem zeigt sich in den Aussagen der Befragten von Sektion B, dass dieser politische Wettkampf auch auf den Einfluss lokaler Migrantenvereine bezogen wird und somit eine Ansprache und Aufnahme von Mitgliedern aus diesen FALLSTUDIE IN PARIS UND SEINE-SAINT-DENIS | 325

Vereinen an Relevanz gewinnt. Diese Einsichten stehen im Widerspruch zu den bisherigen Forschungserkenntnissen, nach denen Einwanderern/Einwanderinnen, die in diesen Vereinen tätig waren, eher ein Parteieneintritt und innerparteilicher Aufstieg verwehrt blieb (Garbaye 2003, S. 174f.; Geisser 1997, S. 100). Überdies stellte sich heraus, dass in der Sektion B die angedeuteten Inkorpora- tionsprozesse mit dem persönlichen Engagement eines zentralen politischen Ak- teurs verknüpft werden. Diese Beobachtung deckt sich mit der Analyse von Garbaye (2007), nach der den zentralen lokalen Politikern/Politikerinnen eine ent- scheidende Rolle bei der Förderung und Ablehnung von Kandidaten/Kandi- datinnen mit Migrationshintergrund zukommt. Meine Auswertungen zeigen dar- über hinaus, dass diese herausgehobene Stellung durch das System der innerpartei- lichen courants abgesichert wird. Im Fall der Pariser Sektion lassen sich vergleichbare Argumentationsstrukturen nicht erkennen. Weder der Parteienwettbewerb noch das Engagement einer einzel- nen Persönlichkeit zu einer gezielten Inkorporation von Migranten/Migrantinnen wird hervorgehoben. Grund für diese Zurückhaltung ist insbesondere in der bis heute fehlenden Thematisierung integrationspolitischer Fragestellungen entlang ethnischer bzw. religiöser Linien in Paris zu sehen. Diese hatte, wie gezeigt (vgl. 8.1.2), zur Folge, dass Migranten/Migrantinnen bzw. deren Vereine nicht als rele- vante politische Akteure gesehen wurden. Gleichwohl zeigen sich neben diesen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Sektionen. Migranten/Migrantinnen werden als sichtbare nicht- europäische Minderheiten definiert, die im Hinblick der Nominierung entweder unter dem Begriff diversité oder unter der direkten Nennung sichtbarer Merkmale gefasst werden. Im Zusammenhang der Mitgliederanwerbung findet sich ein derar- tiger Bezug nicht. Vielmehr betonen die Befragten grundsätzlich, dass die Partei keine Mitgliederpartei sei und folglich wenig Gewicht auf die Mitgliederanwer- bung gelegt werde. Somit tritt das Selbstverständnis der Partei als Gewähltenpartei hervor. Allenfalls implizit erfolgt eine solche Anwerbung. Im Fall der Sektion P ist es die gezielte Werbung in benachteiligten sozialen Gebieten, die mit der Bevölke- rung mit Migrationshintergrund in Verbindung gesetzt werden. Auch lassen sich lokalübergreifende Phänomene im Zusammenhang der No- minierung von Kandidaten/Kandidatinnen der diversité für die Wahlen zur Natio- nalversammlung erkennen. Die Interviewten kritisieren in beiden Sektionen die unspezifische Definition des Begriffs sowie die Reduzierung auf den sichtbaren Migrationshintergrund. Diese Beobachtung kann an Beschreibungen der Literatur angeknüpft werden, nach denen diversité im Sinne einer racialisation oder einer sémantique raciale und in ihrer inhaltlichen Ambiguität problematisiert wird (Avanza 2010b, S. 749; Vertovec und Wessendorf 2009, S. 27f.). Eine weitere Gemeinsamkeit bei den Wahlkreisnominierungen ist, dass das weibliche Ge- schlecht zumindest nicht direkt problematisiert wird. Während sich im Fall der

326 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Sektion P die Kritik auf das diversité-Kriterium konzentriert, steht dieses im Fall der Sektion B nicht zu Verfügung, so dass machtstrukturelle und regionale Vorbe- halte zum Tragen kommen.

10 Fazit und Forschungsausblick

Die Fragestellung dieser Arbeit war, ob und inwiefern es zu parteipolitischen In- korporationsprozessen von Einwanderern/Einwanderinnen innerhalb der SPD und PS kommt. Auch wurde nach den Erklärungen für die zu beobachtenden Entwick- lungen im Spannungsfeld nationaler und lokaler Rahmenbedingungen gefragt. Mit- tels einer parteiorganisationsspezifischen Perspektive wurden Antworten auf diese Fragen gesucht. Für beide Parteien lässt sich insgesamt festhalten, dass es im Untersuchungs- zeitraum auf unterschiedliche Art und Weise zu einer verstärkten parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen kam. Die Ausgangsvermutung, dass solche Inkorporationsprozesse aufgrund der nationalen Staatsbürgerschafts- und Integrationsverständnisses früher und ausgeprägter bei der PS stattfinden würden, bestätigte sich jedoch nicht durchgehend. So hat die vorliegende Analyse gezeigt, dass bereits Anfang der 1970er Jahre innerhalb der SPD ausländische Mitglieder angeworben werden sollten, während dies innerhalb der PS zu diesem Zeitpunkt kein Thema war. Dies lag daran, dass eine monolithische Gegenüberstellung unter- schiedlicher Integrationsverständnisse in beiden Ländern nicht anzutreffen war. Es wurde deutlich, dass es Anfang der 1970er Jahre durchaus erste integrationspoliti- sche Debatten innerhalb der SPD gab. Darüber hinaus kamen zwei parteienspezifi- sche Ursachen hinzu. Zum einen führte im Fall der SPD das Selbstverständnis als Mitgliederpartei zu einer gedanklichen Einbeziehung von Ausländern/Ausländer- innen als politische Subjekte und potenzielle Mitglieder. Zum anderen wurde diese Eingliederung durch den innerparteilichen Konflikt zwischen dem linken und rech- ten Flügel der SPD begünstigt. Gerade der linke Flügel sah in der Gewinnung aus- ländischer Mitglieder eine symbolträchtige Handlung im Sinne der internationalen Solidarität, mit der sie die Parteiführung unter Druck setzen konnte. Im Gegensatz dazu thematisierte die PS in den 1970er Jahren die Ansprache von Menschen ohne Wahlrecht nicht. Das Selbstverständnis als Elitenpartei, deren primäres Ziel die Stimmen- und Ämtermaximierung und nicht die Mitgliederge- winnung ist, führte dazu, dass vergleichbare integrationspolitische Debatten in den 1970er Jahre nicht auf eine parteipolitische Beteiligung bezogen wurde. Das feh- 328 | PARTEIEN UND MIGRANTEN lende Stimmrecht vieler Migranten/Migrantinnen zu dieser Zeit bot somit kein An- reiz für die PS, diese Bevölkerungsgruppe anzusprechen und zu inkorporieren. Hierfür spricht auch, dass sich Ende der 1970er Jahre ein Wandel vollzieht, als das Stimmenpotenzial der zweiten Einwanderergeneration aus dem Maghreb steigt und diese Gruppe durch ihre politische Mobilisierung sichtbar wird. Erst ab diesem Zeitpunkt übernimmt die PS gegenüber der SPD eine Art Vorreiterrolle, wenn es um Fragen der politischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in Partei- und Wahlämtern geht. Insofern zeigen diese Ergebnisse, wie Umweltbedingungen und parteitstrukturelle Faktoren zusammengedacht werden müssen. Wie eingangs vermutet, konnte des Weiteren gezeigt werden, dass es spätes- tens ab der Jahrtausendwende zu Angleichungsprozessen zwischen SPD und PS kam. So stehen bei beiden Parteien bis in die jüngste Vergangenheit die Maximie- rung migrantischer Wahlstimmen und die Erhöhung der politischen Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in Parlaments- und Parteiämtern im Vordergrund. Mehrere Gründe konnten dafür ausgemacht werden. Zunächst war die Liberalisie- rung des Staatsbürgerschaftsrechts in Deutschland ab den 1990er Jahren ein we- sentlicher Grund, warum auch die SPD sich verstärkt mit der politischen Inkorpo- ration von Einwanderern/Einwanderinnen beschäftigte. Gleichwohl gab es in bei- den Parteien einen Verstärkungseffekt, der parallel zu dieser Liberalisierung ver- lief. Erwartungsgemäß waren im Fall beider Parteien einschneidende Wahlnieder- lagen und der anhaltende Vertrauens- und Mitgliederverlust Auslöser für einen verstärkten Handlungs- und Legitimationsdruck, der wiederum Öffnungsprozesse gegenüber den eingewanderten Bevölkerungsgruppen begünstigte. In diesem Zu- sammenhang stellte sich entgegen bisheriger Forschungserkenntnisse überra- schenderweise heraus, dass nicht von linksalternativen Parteien der Handlungs- druck auf SPD und PS ausging. Vielmehr war es der Strategiewechsel der konser- vativen Parteien, die sich ab der Jahrtausendwende verstärkt für eine liberalere In- tegrationspolitik aussprachen und Maßnahmen zur Erhöhung der politischen Re- präsentation von Einwanderern/Einwanderinnen durchsetzen konnten. In der Folge zeigten sich in beiden untersuchten Parteien „Besitzstandsängste“, die vor einem Zustimmungsverlust unter Eingewanderten warnten und zum Handeln aufforder- ten. Gleichermaßen muss der Strategiewechsel der Konservativen, wie auch der SPD und PS, vor dem Hintergrund veränderter globaler und europäischer Normen und Diskussionen verstanden werden, die einen veränderten Umgang mit Einwan- derung, Diskriminierung und Integration in beiden Ländern forderten und demnach Parteien und Öffentlichkeit sensibilisierten. Im Fall der Berliner SPD und der Pariser PS zeigten sich vergleichbare Unter- schiede wie auf nationaler Ebene. Ähnliche Divergenzen sind in Bezug auf den Zeitpunkt und die Form der parteipolitischen Inkorporation von Migran- ten/Migrantinnen zu erkennen. Auch kommt es in den letzten Jahren zu Anglei- chungsprozessen. Insbesondere der Einstellungswandel durch Internationalisierung FAZIT UND FORSCHUNGSAUSBLICK | 329 und ein zunehmender Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze zwischen den Metropolen bedingt, dass Einwanderung und Partizipation keine Bürde, son- dern als selbstverständlicher Bestandteil politischer Forderungen gesehen wird. Gleichzeitig wurde deutlich, dass das jeweilige städtische politisch-organisationale Umfeld Einfluss auf die parteipolitischen Inkorporationsprozesse nimmt. Beson- ders erkennbar wird dies an dem Vorhandensein, bzw. Fehlen, lokaler Migranten- organisationen und deren Aktivierung durch eine städtische Integrationspolitik. Ein Netz an sozialdemokratisch ausgerichteten türkischen Migrantenorganisationen sowie ausländischen Studentenvereinen und deren gezielte Förderung im Rahmen der städtischen Integrationspolitik in Berlin begünstigte die Eingliederungsprozes- se insbesondere von türkischstämmigen Einwanderern/Einwanderinnen in die Ber- liner SPD. Innerhalb der Pariser PS war hingegen das Interesse und Verbindung zu lokalen ausländischen Vereinen wenig bis kaum ausgeprägt. Zudem wurden diese Vereine im Rahmen der Stadtpolitik weder explizit angesprochen noch in politi- sche Aushandlungsprozesse einbezogen. Entsprechend gering war der Austausch zwischen den Pariser Sozialisten und den Vereinen. Außerdem wurde diese Passi- vität durch den Aufbau der Partei verstärkt, da die nationale Entscheidungshoheit im Rahmen organisationsspezifischer Fragestellungen lokale Initiativen verhinder- te oder zumindest erschwerte. Im Gegensatz dazu waren in der Berliner SPD sol- che Entwicklungen aufgrund der Eigenständigkeit und der Machtstellung lokaler Parteigliederungen eher möglich. Neben dem Ob und Warum wurde in dieser Arbeit auch der Frage nach dem Inwiefern nachgegangen. Im Hinblick auf die Frage, wer als Migrant_in definiert wird, bestätigte sich die Vermutung, dass die Parteien aufgrund der länderspezifi- schen Migrationsgeschichte verschiedene Gruppen auf bestimmte Art und Weise ansprachen. Während innerhalb der SPD ein starker Fokus auf Migran- ten/Migrantinnen aus den ehemaligen Anwerbeländern, insbesondere den Türkei- stämmigen, und ab Ende der 1980er Jahre auf den Aussiedlern/Aussiedlerinnen lag, zielte die PS auf Menschen aus den ehemaligen Kolonien. Dabei wurde zwi- schen immigrée und den minorités visibles unterschieden, wobei letztere aus den französischen Überseegebiete (DOM-TOM) stammten, die einst Kolonien Frank- reichs waren und heute weiterhin zu Frankreich gehören. Letztere wurden nicht als Einwanderer/Einwanderinnen, sondern als französische Staatsbürger_innen, die Opfer von Rassismus und Diskriminierung sind, gesehen. Entsprechend wurden Inkorporationsmaßnahmen innerparteilich auch mit dem Antidiskriminierungs- kampf begründet. Innerhalb der SPD spielten die Themen „sichtbare Minderhei- ten“ und „Antidiskriminierungskampf“ im Rahmen parteipolitischer Inkorporati- onsprozesse bis in die jüngste Zeit noch keine bemerkbare Rolle. Ferner zeigte sich erwartungsgemäß, dass eine gruppenspezifische Ansprache und Maßnahmen zur Inkorporation von Migranten/Migrantinnen in die Parteien, zum Beispiel durch fremdsprachiges Wahlwerbematerial oder gezielte Unterstüt-

330 | PARTEIEN UND MIGRANTEN zungsmaßnahmen, bei den Sozialdemokraten weniger ein Tabu darstellte als bei den Sozialisten. Im Fall der SPD schlug sich das ethnokulturelle Integrationsver- ständnis insofern durch, als kulturelle Unterschiede bewusst wahrgenommen und akzeptiert wurden. Eine Ansprache unter Berücksichtigung dieser Unterschiede er- schien somit unproblematisch. Im Fall der PS wirkte das republikanische Integrati- onsverständnis, nach welchem verschiedene kulturelle oder religiöse Hintergründe in der Öffentlichkeit nicht akzeptziert werden. Nach außen gerichtete Maßnahmen, wie beispielsweise Wahlwerbungen, beugten sich somit dieser Norm. Gleichwohl ließen sich unterschiedliche Abstufungen feststellen, die zu Beginn der Arbeit nicht erwartet wurden. Im Fall der PS konnten punktuell fremdsprachige Werbematerialien, wenn auch in kleinerem Umfang, Ende der 1970er Jahre gefun- den werden. Darüber hinaus brachte die Untersuchung zu Tage, dass die PS in Be- zug auf Migranten/Migrantinnen nicht immer völlig ohne kulturelle und religiöse Bezüge auskam. Insbesondere in den 1980er Jahren gab es innerparteiliche Strö- mungen, gestützt durch die Beur-Bewegung, die das „Recht auf Andersartigkeit“ (droit à la différence) forderten und somit gruppenspezifische Maßnahmen zur par- teipolitischen Inkorporation maghrebinischer und muslimischer Einwanderer/Ein- wanderinnen unterstützten. Neben den Anliegen der Beur-Bewegung ist der struk- turelle Aufbau der Partei als Grund für die Abweichung vom republikanischen Ide- al zu sehen. So wurden Reformprozesse von den Parteieliten angestoßen (top- down), die sich wiederum im innerparteilichen Machtkampf durchzusetzen ver- suchten und für ihre politischen Projekte Mehrheiten organisieren mussten. Sie stützten ihre Macht auf adhoc-Koalitionen und verschiedenen politischen Strö- mungen, die nicht immer einer ideologischen Linie folgten. Entsprechend fanden unterschiedlichste Gruppen Gehör und Unterstützung mit ihren spezifischen An- liegen. Umgekehrt ließen sich für die SPD Beispiele finden, die zeigten, dass eine ge- zielte Förderung von Menschen aufgrund ihrer Migrationsgeschichte abgelehnt wurde. Die Ablehnung einer Arbeitsgemeinschaft für Einwander_innen wurde lan- ge Zeit mit dem Argument einer zu starken innerparteilichen Aufsplitterung der Partei begründet. Insofern diente die innerparteiliche Norm, bzw. Vorstellung, über einen gewissen Grad an Organisationszusammenhalt als Grundlage zur Verhinde- rung gruppenspezifischer Maßnahmen innerhalb der SPD. Darüber hinaus kam es im Gegensatz zur PS zu keiner Etablierung von Gruppen entlang religiöser und kultureller Hintergründe. Als Ursache kann hier der Kohäsionszwang unter den verschiedenen Einwandergruppen gesehen werden. Letztere mussten Mehrheiten von der Basis aus organisieren und konnten nicht auf die Unterstützung einzelner Parteifunktionäre zählen. Eine Zersplitterung hätte somit die Mehrheitsfindung er- schwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Zumal das Argument des Organisati- onszusammenhalts im Fall einer weiteren Unterteilung noch stärker an Gegenge- wicht gewonnen hätte. FAZIT UND FORSCHUNGSAUSBLICK | 331

Die eingangs formulierte Annahme, dass sich die linken Normen und Werte unterstützend auf die Inkorporation von Einwanderern/Einwanderinnen auswirken würden, ist kritisch zu betrachten. So diente die innerparteiliche Norm der sozialen Gerechtigkeit bis zuletzt als Legitimationsgrundlage, um parteipolitische Inkorpo- rationsmaßnahmen entlang ethnischer, religiöser oder phänotypischer Kriterien ab- zulehnen. Allein die soziale Herkunft galt dabei als Handlungsmaßstab. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass die zunehmende Verwendung des Vielfaltsbegriffs in der offiziellen Rhetorik beider Parteien auch dem Fakt ge- schuldet war, dass unterschiedliche Interpretationen von Herkunft unter den Be- griff gefasst werden konnten. Demnach wurden mit dem Begriff migrantenspezifi- sche wie migrantenunspezifische Maßnahmen gleichermaßen ummantelt und legi- timiert. Mit den lokalen Feldstudien in Berlin und Paris konnte ich zeigen, dass die par- teipolitische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen mal mehr und mal weni- ger thematisiert und in den Handlungen sichtbar wurde. Unerwartet an den Ergeb- nissen ist, dass innerparteiliche Unterschiede deutlicher hervortraten und gleichzei- tig Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien ins Auge fielen. Drei miteinander ver- bundene und parteiübergreifende Faktoren bedingten das Ausmaß der Rolle des Migrationshintergrundes im Rahmen parteipolitischer Inkorporationsprozesse. Ers- tens spielte die Wahrnehmung der politisch Aktiven über die lokale Bevölkerung und Migration eine entscheidende Rolle. Wesentlich war dabei, ob Migran- ten/Migrantinnen nicht nur als eigenständige Gruppe, sondern auch als unterreprä- sentierte politische Subjekte sowie potenzielle Wähler_innen, wahrgenommen wurden.1 Der zweite Faktor war die Perzeption und Interpretation des politischen Wettbewerbs. Wenn andere Parteien vor Ort als Konkurrenten im Kampf um mig- rantische Wahlstimmen konzeptualisiert wurden, kam es zu einer verstärkten The- matisierung. Insbesondere wenn damit ein wesentlicher Machtverlust oder -gewinn mit den nächsten Wahlen verknüpft wurde, wurde die gezielte Förderung von Mig- ranten/Migrantinnen in politischen Ämtern offen angesprochen. Dritten waren die Motivationen der zentralen lokalen Parteifunktionäre entscheidend dafür, ob in ei- ner Parteigliederung die parteipolitische Inkorporation von Einwanderern/Einwan- derinnen Relevanz besaß. Hier konnten der biographische Hintergrund sowie indi- viduelle politische Überzeugungen eine Rolle spielen. Informelle Normen in den Parteigliederungen gewährleisteten wiederum, dass diese Ansichten Gehör und Verbreitung fanden.

1 An dieser Stelle bleibt unklar, auf welche Art und Weise lokalspezifische Konfiguratio- nen in Bezug auf Migration und Bevölkerung tatsächlich die Wahrnehmung beeinfluss- ten. Es konnte ausschließlich festgestellt werden, dass unterschiedliche Wahrnehmungen in verschiedenen Kontexten herrschten.

332 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Zwar ließen sich für SPD und PS Unterschiede im Hinblick auf die Bedeutung der Mitgliederanwerbung und der Rolle lokaler Migrantenorganisationen feststel- len. Nichtsdestotrotz konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politische Praxis, oder zumindest das Reden über sie, weniger durch nationale oder parteispe- zifische Rahmenbedingungen geprägt wurden als vielmehr durch die Wahrneh- mungen und Motivationen der politischen Verantwortlichen vor Ort.2 Somit be- stimmten die skizzierten nationalen Staatsbürgerschafts- und Integrationskonzepte weit weniger das Denken, und somit vermutlich auch das politische Handeln, von lokalen Entscheidungsträger_innen als zu Beginn gedacht. Auch von den innerpar- teilichen Strukturen und Normen vermochte nur begrenzt ein uniformierender Ein- fluss auf die Parteibasis ausgehen. Entsprechend gilt es, sich das Bild loser gekop- pelter Parteienstrukturen nach Lösche und Walter in Erinnerung zu rufen, um diese Erkenntnisse einzuordnen. Sie weisen darauf hin, dass Parteien weder ausschließ- lich top down noch bottom up in ihren Entscheidungen funktionieren, sondern vielmehr zufällig, d.h. im Sinne bestimmter Bedingungskonstellationen, entstehen. Die auf den übergeordneten Parteienebenen getroffenen Entscheidungen und Ab- sichtserklärungen haben keine unmittelbare Relevanz für das Denken und Handeln der lokalen Akteure, sondern scheinen vielmehr im Bedarfsfall als Legitimations- grundlage zu dienen.

Forschungsbeitrag und -perspektive

Insgesamt hat die vorliegende Arbeit einen umfassenden Über- und Einblick in die black box ‚Partei‘ in Bezug auf parteipolitische Inkorporationsprozesse von Mig- ranten/Migrantinnen, d.h. der Thematisierung von Maßnahmen zur Ansprache, Anwerbung und Förderung von Einwanderern/Einwanderinnen als potentielle Wähler_innen, Parteimitglieder oder zukünftiges politisches Personal, für die SPD und die PS gegeben. Unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse ist im Fall der SPD beachtenswert, dass parteipolitische Inkorporationsprozesse nicht al- lein die Türkeistämmigen betrafen. Vielmehr stand auch die Ansprache von Aus- siedlern/Aussiedlerinnen ab Anfang der 1990er Jahre im Mittelpunkt strategischer Überlegungen. Dies ist insofern interessant, als eine in der Literatur oftmals unter- stellte Nähe zwischen dieser Einwanderungsgruppe und der konservativen Partei, die SPD nicht darin hinderte, um diese Gruppe zu werben. Ganz im Gegenteil war es der politische Wettbewerb mit den Konservativen, der wichtige Impulse inner- halb der SPD setzte.

2 Einen Sonderfall bildete dabei die Nominierung von Kandidierenden für die assemblée nationale, wo die Führungsebene der PS direkt intervenierte und Bewerber_innen be- stimmte. FAZIT UND FORSCHUNGSAUSBLICK | 333

Ferner konnte überraschendweise keine herausgehobene Rolle der Gewerk- schaften als Katalysator parteipolitischer Inkorporationsprozesse festgestellt wer- den. Zwar ließen sich immer wieder einzelne Gewerkschafter_innen mit Migrati- onshintergrund innerhalb der SPD identifizieren, die auch auf der Ebene der Bun- despartei aktiv waren. Auf Basis der untersuchten Materialien konnten jedoch kei- ne Hinweise dafür gefunden werden, dass es eine Thematisierung oder gar syste- matische und koordinierte Anwerbung von Gewerkschaftsmitgliedern mit Migrati- onshintergrund von Seiten der SPD gab. Vielmehr hatten die Migrantenorganisati- onen in diesem Zusammenhang eine weitaus aktivere Rolle. Im Hinblick auf die Sozialisten haben sich bestehende Forschungserkenntnisse insofern bestätigt, als dass die 1980er Jahre tatsächlich einen Wendepunkt in der parteipolitischen Inkorporation von Migranten/Migrantinnen innerhalb der PS dar- stellten. Auch der Bedeutungsverlust der Thematik in den 1990er Jahren sowie das Wiedererstarken ab Ende der 1990er Jahre deckten sich weitestgehend mit den ei- genen Ergebnissen. Gleichwohl ließen sich einige inhaltliche und systematische Differenzierungen herausstellen. Während bisherige Forschungen den Beginn der innerparteilichen Thematisierung parteipolitischer Inkorporationsprozesse ab An- fang der 1980er Jahre sehen (vgl. Bouama 1994; Geisser und Soum 2008, S. 25), zeigte die vorliegende Analyse, dass bereits ab Ende 1970er Jahre Einwande- rer/Einwanderinnen aus Italien und Portugal mittels fremdsprachiger Werbemateri- alien zumindest punktuell angesprochen werden sollten. Insofern waren auch ande- re Einwanderungsgruppen kurzzeitig Ziel einer Ansprache. Zudem richten bisheri- ge Forschungen, die die 1980er Jahre analysieren, das Augenmerk auf maghrebi- nisch-stämmige Einwanderer/Einwanderinnen. Wenngleich dies eine wichtige Gruppe darstellte, konnten in der vorliegenden Arbeit Indizien dafür gefunden werden, dass die Führungsebene der PS bereits Ende der 1980er Jahre mit geziel- ten Maßnahmen Menschen aus den Überseegebieten (DOM-TOM) ansprach. Auch wenn in diesem Zusammenhang noch nicht der Kampf gegen Diskriminierung im Vordergrund stand und vereinzelte Persönlichkeiten dieser Herkunftsgruppe den Aufstieg innerhalb der Partei schafften, so war ein wahrnehmbares Bewusstsein über das mögliche Stimmenpotenzial erkennbar. In systematischer Hinsicht hat die Analyse deutlich herausgestellt, wie parteiin- terne und parteiexterne Rahmenbedingungen zusammengedacht werden müssen, um innerparteiliche Entwicklungen in diesem Bereich besser zu verstehen. Bishe- rige Forschungen haben diese Faktoren und deren Zusammenspiel nicht ausrei- chend reflektiert, so dass es meist bei einer Phasenbeschreibung blieb, die vor dem Hintergrund des republikanischen Staatsverständnisses implizit bewertet wurde. Beispielsweise wurde in den 1990er Jahren von einer Instrumentalisierung des Ethnischen oder „Ethnisierung des Politischen“ gewarnt, ohne dabei die Gründe systematisch offenzulegen (vgl. Geisser 1997). Gerade an dieser Stelle bietet sich ein Perspektivenwechsel an, der zeigt, wie der politisch-kulturelle Kontext in In-

334 | PARTEIEN UND MIGRANTEN teraktion mit spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen tritt und auf die po- litische Praxis wirkt. Demnach ist eine „Ethnisierung“ nicht als gezieltes strategi- sches Handeln zu verstehen, sondern vielmehr als Ergebnis innerparteilicher und zwischenparteilicher Konkurrenzen, die wiederum in kontroversen öffentlichen Debatten über Migration und Integration eingebettet sind. Des Weiteren wurde durch die vorliegende Arbeit sichtbar, dass sich die PS aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer inneren Konstitution vor allem auf Fragen der politischen Repräsentation und nicht der Mitgliedergewinnung kon- zentrierte. Bisher blieb diese Perspektive in den vorliegenden französischen Arbei- ten unreflektiert oder wurde implizit vorausgesetzt. Ferner brachte die Analyse in- nerparteilicher Faktoren einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf den Zeitrahmen und Beständigkeit von parteipolitischen Inkorporationsmaßnahmen. So wurden die Inkorporationsmaßnahmen innerhalb der PS aufgrund des Organisationsaufbaus (top-down) oftmals adhoc und vergleichsweise schnell durchgesetzt. Je nach Machtkonstellationen wurden Maßnahmen wieder fallen gelassen und zu einem späteren Zeitpunkt wiederbelebt. Entsprechend redundant und oftmals wirkungslos verliefen bis zuletzt Inkorporationsprozesse. Was die Erkenntnisse lokaler Untersuchungen im Bereich der politischen Parti- zipation und Repräsentation von Migranten/Migrantinnen in Frankreich angeht (vgl. Garbaye 2002, S. 558; Michon 2011), so bestätigt sich auch in der vorliegen- den Arbeit die Beobachtung, dass die lokalen Parteiführungskräfte einen entschei- denden Einfluss hatten und somit parteipolitische Inkorporationsprozesse mal mehr und mal weniger forcierten. Eine weiterführende Erkenntnis ist an dieser Stelle, wie eng die Führungsrolle durch die Struktur der innerparteilichen Strömungen ge- stützt wurde. Umstrittene Positionen konnten somit aufgrund der ausgeprägten Par- teiflügeldisziplin auch gegen Widerstände durchgesetzt werden. Überdies deuten bisherige Studien darauf hin, dass unterschiedliche lokale Kontexte Einfluss auf das Ausmaß der Inkorporation nehmen. Vor allem die Rolle des Parteienwettbe- werbs wird genannt. Die vorliegende Analyse zeigt darüber hinaus, wie entschei- dend die Wahrnehmung über die migrantische Bevölkerung dafür ist, ob überhaupt ein Handlungsbedarf im Bereich der parteipolitischen Inkorporation gesehen wird. Dabei spielte die Interpretation der lokalen Migrationsgeschichte sowie deren Um- brüche eine zentrale Rolle. Dieser Blickwinkel fehlt bei den lokalen Feldstudien zum Thema der politischen Repräsentation und Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Cartier et al 2010; Avanza 2010a, b). Durch diese Ergebnisse lassen sich weitere Forschungslücken und -fragen iden- tifizieren. Es wäre interessant, einzelne Umbruchsphasen genauer zu analysieren, um ein detaillierteres Bild über die Motivationen und das Handeln der politischen Verantwortlichen zu bekommen. In diesem Kontext wäre beispielsweise eine Un- tersuchung der Parteiführungsebene sinnvoll, die nicht zuletzt aufgrund der ange- deuteten Professionalisierungstendenzen an Bedeutung gewonnen hat. Ferner emp- FAZIT UND FORSCHUNGSAUSBLICK | 335 fiehlt sich eine tiefergehende Analyse von einzelnen Parteigliederungen. Während der Fokus bei den Feldstudien überwiegend auf dem „Sprechen über parteipoliti- sche Inkorporationsprozesse“ lag, wäre es vielversprechend, mehr über das konkre- te Handeln in Erfahrung zu bringen. Hierfür würde sich eine Beobachtung auch außerhalb von Wahlkampfzeiten anbieten, da hier ein leichterer Zugang aufgrund eines entspannteren Parteienwettbewerbs zu erwarten wäre. Eine weitere For- schungsarbeit könnte einen systematischen Vergleich der parteipolitischen Inkor- poration von Frauen und Migranten/Migrantinnen zum Ziel haben. Zu fragen wäre, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich finden lassen. Was ließe sich dar- aus generell für benachteiligte Gruppen innerhalb von Parteien lernen? Außerdem würde sich eine eingehende Analyse der gewerkschaftlichen Innen- perspektive in Bezug auf Förderung der politischen Partizipation anbieten. Gibt es hier Initiativen? Oder wird es den einzelnen Gewerkschaftsmitgliedern überlassen, sich parteipolitisch zu engagieren? Von selbst versteht sich, dass auch die zukünftigen Entwicklungen innerhalb von SPD und PS Gegenstand von weiteren Analysen sein sollten, denn es nicht klar, wie sich die parteipolitische Inkorporation von Migranten/Migrantinnen wei- ter entwickeln wird. Zumal nicht nur die kulturelle und religiöse Toleranz, sondern das etablierte Parteiensystem im heutigen Europa angesichts globaler Herausforde- rungen vermehrt unter Druck steht.

Abkürzungsverzeichnis

AAE Amicales des Algériens en Europe ADÜTDF Türkische-Demokratische Idealisten-Vereine in Europa AfA Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer AG Arbeitsgemeinschaft AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AGIAF Arbeitsgruppe Immigranten, Ausländer und Flüchtlingspolitik AGTSF Association Générale des travailleurs Sénégalais en France AL Alternative Liste AMF Association des Marocains de France AsF Arbeitsgemeinschaft für Frauen ATF Amicale des Tunisiens en France BTBTM Türkisches Wissenschafts- und Technologiezentrum BTÖB Türkischer Studentenverein in Berlin e.V. BTT Türkische Bund in Berlin (West) e.V. für Gleichberechtigung BVV Bezirksverordnetenversammlung CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CERES Centre d’études, de recherches et de l’éducation socialiste CFCM Conseil français de culte musulman CFDT Confédération française démocratique du travail CGT Confédération générale du travail CHP Republikanische Volkspartei der Türkei CNESOM Conférence nationale des élus socialistes originaires du Maghreb CRAN Conseil représentatif des associations noires CSCM Cercle des socialistes de culture musulmane CSU Christlich-Soziale Union DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DOM-TOM Départements d’Outre-Mer – Territoires d’Outre-Mer DTU Deutsch-Türkische Union FASTI Fédération des associations de solidarité avec tous-t-es les im- migré-és FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung 338 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

FDP Freie Demokratische Partei FJS Fondation Jean Jaurès FLN Front de Libération Nationale FN Front National FNESR Fédération nationale des élus socialistes et républicains GELD Groupe d’étude et de lutte contre les discriminations HCI Haut Conseil à l’intégration HDB Progressive Volkseinheit der Türkei HLM Habitation à loyer modéré IGI Initiativkreis Gleichberechtigung ‚Integration‘ IG-Metall Industriegewerkschaft-Metall INA Institut national de l’audiovisuel INSEE Institut national de la statistique et des études économiques Juso(s) Jungsozialisten in Deutschland KPD Kommunistischen Partei Deutschlands L’OURS Office universitaire de recherche socialiste LDH Ligue des droits de l’Homme LICRA Ligue internationale contre le racisme et antisémitisme MHP Faschistische türkisch-nationale Bewegungspartei MIT Maison des travailleurs immigrés MJS Mouvement des jeunes socialistes MRAP Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples MRG Mouvement des radicaux de gauche PartG Parteiengesetz PCF Parti communiste français PDS Partei des Demokratischen Sozialismus PS Parti socialiste PSU Parti socialiste unifié RPR Rassemblement pour la République Schwusos Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD SE Section d’entreprise SED Sozialistische Einheitspartei Deutschland SFIO Section française de l’Internationale ouvrière SOEP Sozio-oekonomisches Panel SOFRES Société française dʼenquêtes par sondages SPD Sozialdemokratische Partei Deutschland SZ Süddeutsche Zeitung TBB Türkischer Bund in Berlin TGB Türkische Gemeinde zu Berlin TSD Türkische Sozialdemokraten in Berlin TU Technische Universität (Berlin) UDF Union pour la Démocratie Française ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS | 339

UDR Union des Démocrates pour la République UMP Union pour un Mouvement Populaire UTIT Union des travailleurs immigrés tunisiens

Literatur

Aït-Aoudia, Myriam; Bargel, Lucie; Ethuin, Nathalie Massicard Élise; Petitfils, Anne-Sophie (2010): Franchir les seuils des partis. Accès au terrain et dyna- miques dʼenquête. In: Revue internationale de politique comparée 17 (4), S. 15–30. Alemann, Ulrich von (2010): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Alemann, Ulrich von; Godewerth, Thelse (2005): Die Parteiorganisation der SPD. Erfolgreiches Scheitern?. In: Josef Schmid und Udo Zolleis (Hg.): Zwischen Anarchie und Strategie. Der Erfolg von Parteiorganisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 158–171. Alexander, Michael (2003): Host-stranger relations in Rome, Tel Aviv, Paris and Amsterdam a comparison of local policies toward labour migrants. Amsterdam Study Centre for the Metropolitan Environment, Universiteit van Amsterdam (Dissertationsschrift). Alexander, Michael (2007): Cities and labour immigration. Comparing policy responses in Amsterdam, Paris, Rome and Tel Aviv. Aldershot: Ashgate. Anwar, Muhammad (1986): Race and politics. Ethnic minorities and the British political system. London, New York: Tavistock. Aumüller, Jutta (2009): Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Bielefeld: transcript. Avanza, Martina (2010a): Manières dʼêtre divers. Les stratégies partisanes de la „diversité“ aux élections municipales de 2008. In: Didier Fassin (Hg.): Les nouvelles frontières de la société française. Paris: Éd. la Découverte, S. 403– 425. Avanza, Martina (2010b): Qui représentent les élus de la „diversité“. Croyances partisanes et points de vue de „divers“. In: Revue française de science politique 60 (4), S. 745–767. Bachelot, Carole (2008): „Groupons-nous et demain…“. Sociologie des dirigeants du Parti socialiste depuis 1993. Sciences Po, Paris. CEVIPOF (Dissertations- schrift). 342 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Bade, Klaus (2011): Von der Arbeitswanderung zur Einwanderungsgesellschaft. In: Susanne Stemmler (Hg.): Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungs- land Deutschland. Göttingen: Wallstein-Verlag, S. 154–185. Bade, Klaus (2012): Nach Sarrazin. Hintergründe, Ursachen und Wirkung einer deutschen Debatte. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.): Verhärtete Fronten. Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 119–124. Bade, Klaus; Oltmer, Jochen (2007): Deutschland. In: Klaus Bade, Corrie van Eijl, Marlou Schrover und Michael Schubert (Hg.): Enzyklopädie Migration in Eu- ropa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn, München: Ferdinand Schöningh, S. 141–170. Baillet, Dominique (2001): Lʼengagement chez les jeunes dʼorigine maghrébine. Le passage de lʼidéologique à lʼéconomique. In : Confluences Méditerranée 39 (4), S. 13–25. Barboni, Thierry (2008): Les changements dʼune organisation. Le Parti socialiste, entre configuration partisane et cartellisation (1971–2007). Université Paris I (Dissertationsschrift). Bell, David Scott; Criddle, Byron (1988): The French Socialist Party. The emergence of a party of government. Oxford, New York: Clarendon Press; Oxford University Press. Bergounioux, Alain; Grunberg, Gérard (1992): Le long remords du pouvoir. Le Parti socialiste français (1905–1992). Paris: Fayard. Bergounioux, Alain; Grunberg, Gérard (2005): LʼUnion de la gauche et lʼère Mit- terrand (1965–1995). In: Jean Jacques Becker und Gilles Candar (Hg.): Histo- ire des gauches en France. Paris: La Découverte, S. 275–294. Bernardot, Marc (2008): Loger les immigrés. La Sonacotra, 1956-2006. Bellecom- be-en-Bauges: Édition du Croquant. Bertossi, Christophe; Duyvendak, Jan Willem (2012): National models of immig- rant integration: The costs for comparative research. In: Comparative European Politics 10 (3), S. 237–247. Beyme, Klaus von (1993): Die politische Klasse im Parteienstaat. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beyme, Klaus von (2010): Das politische System der Bundesrepublik Deutschland: eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bird, Karen (2005): The Political Representation of Visible Minorities in Electoral Democracies: A Comparison of France, Denmark, and Canada. In: Nationalism and Ethnic Politics 11 (4), S. 425–465. Bloemraad, Irene; Schönwälder, Karen (2013): Immigrant and ethnic minority re- presentation in Europe. Conceptual challenges and theoretical approaches. In: West European Politics 36 (3), S. 564–579. LITERATUR | 343

Böhmer, Maria (2009): Rede der Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer MdB, am 01.09.2009 beim Treffen mit CDU-Mandatsträgern Konrad-Adenauer- Haus. Bornschier, Simon; Lachat, Romain (2009): The Evolution of the French Political Space and Party System. In: West European Politics 32 (2), S. 360–383. Bouamama, Saïd (1994): Dix ans de marche des Beurs: chronique d'un mouvement avorté. Paris: Desclée de Brouwer. Boucher, Anna (2008): The political participation of Berlinʼs Turkish Migrants in the Dual Citizenship and Headscarf Debates: A multilevel comparison. In: Pojmann, Wendy (Hg.): Migration and Activism in Europe since 1945, Ba- singstoke: Palgrave Macmillan, S. 209–231. Bowen, John; Bertossi, Christophe; Duyvendak, Jan Willem; Krook, Mona (2014): An institutional approach to framing Muslims in Europe. In: John Bowen, Christophe Bertossi, Jan Willem Duyvendak und Mona Krook (Hg.): European states and their Muslim citizens. The impact of institutions on perceptions and boundaries. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1–28. Braconier, Céline; Dormagen, Jean-Yves (2007): La démocratie de lʼabstention: aux origines de la démobilisation électorale en milieu populaire. Paris: Gal- limard. Branco, Rémi (2008): Le recrutement politique du Parti socialiste. Le cas des no- veaux députés élus en 2007. Master de Recherche. Sciences Po, Paris. Institut dʼÉtudes Politiques à Paris. Brandt, Peter; Lehnert, Detlef (2013): „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010. Berlin: Vorwärts Buch. Broder, Henryk (2010): Zur Sache Sarrazin. Wissenschaft, Medien, Materialien. Berlin, Münster, Wien, Zürich: LIT Verlag. Brubaker, Rogers (1992): Citizenship and nationhood in France and Germany. Cambridge: Harvard University Press. Bührmann, Andrea (2015): Die Bearbeitung von Diversität in Organisationen. Plä- doyer zur Erweiterung bisheriger Typologien. In: Edeltraud Hanappi-Egger und Regine Bendl (Hg.): Diversität, Diversifizierung und (Ent)Solidarisierung. Eine Standortbestimmung der organisationalen Diversitätsforschung im deut- schen Sprachraum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 109– 125. Bukow, Sebastian (2009): Parteiorganisationsreformen zwischen funktionaler Notwendigkeit und institutionellen Erwartungen. In: Uwe Jun (Hg.): Die Zu- kunft der Mitgliederpartei. Opladen: Budrich, S. 211–228. Bukow, Sebastian (2013): Die professionalisierte Mitgliederpartei. Politische Par- teien zwischen institutionellen Erwartungen und organisationaler Wirklichkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bundestag (14.06.2006): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: http://www.ge- setze-im-internet.de/agg/index.html; letzter Zugriff 16.10.2014.

344 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Cartier, Marie; Coutant, Isabelle; Masclet, Olivier; Siblot, Yasmine (2010): Promo- tion et margi-nalisation des candidats de la „diversité“ dans une commune de la banlieue parisienne. In: Politix : revue des sciences sociales du politique 91 (3), S. 179–205. Castles, Stephen; Miller, Mark (2003): The age of migration. Basingstoke: Palgra- ve Macmillan. Caul, Mikki (1999): Women’s Representation in Parliament. The Role of Political Parties. In: Party Politics 5 (1), S. 79–98. Caul, Mikki (2001): Political Parties and the Adoption of Candidate Gender Quo- tas. A Cross-National Analysis. In: Journal of Politics 63 (4), S. 1214–1229. Cayrol, Roland (1975): Lʼunivers politique des militants socialistes: une enquête sur les orientations, courants et tendances du Parti socialiste 25 (1), S. 23–52. Cayrol, Roland (1978): La direction du Parti socialiste. Organisation et fonc- tionnement. In: Revue française de science politique 28 (2), S. 201–219. Cédiey, Eric (2007): Que mesure-t-on? Pour quoi? Comment? In: Eric Cédiey (Hg.): La mesure des discriminations liées à lʼorigine. La mesure des discrimi- nations liées à lʼorigine. Lyon, 22.10.2007. ISM Corum, S. 11–14. Chambarlhac, Vincent (2005): Socialiste à Paris. 1905–2005. Paris: Créaphis. Clift, Ben (2003): PS intra-party politics and party system change. In: Jocelyn Evans (Hg.): The French party system. Manchester, New York: Manchester University Press, S. 42–55. Cole, Alistair (1989): Factionalism, the French socialist party and the fifth Re- public. An explanation of intra-party divisions. In: European Journal of Politi- cal Research 17 (1), S. 77–94. Comtat, Emmanuelle (2009): Les pieds-noirs et la politique. Quarante ans après le retour. Paris: Presses de Sciences Po. Dalton, Russell; Bürklin, Wilhelm (2003): Wähler als Wandervögel. Dealignment and the German Voter. In: German Politics and Society 21 (1), S. 57–75. Dalton, Russell; Wattenberg, Martin P. (2000): Parties without partisans. Political change in advanced industrial democracies. Oxford, New York: Oxford Uni- versity Press. Decker, Frank (2011): Parteien und Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer. Decker Frank; Best, Volker; Knorr, David (2014): Rekrutierungswege moderner Volksparteien. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung-Internationale Politikanalyse. Decker, Frauke (1982): Ausländer im politischen Abseits. Möglichkeiten ihrer po- litischen Beteiligung. Frankfurt: Campus-Verlag. Delanoë, Bertrand (2001/2002): Paris capitale. Entretien avec les Temps Moder- nes. In: Les Temps Modernes 57 (617), S. 1–27. DiMaggio, Paul; Powell, Walter (1983): The iron cage revisited. Institutional iso- morphism and collective rationality in organization fields. In: American Socio- logical Review 48 (2), S. 147–160. LITERATUR | 345

Donovan, Barbara (2007): ‚Minority‘ Representation in Germany. In: German Po- litics 16 (4), S. 455–480. Dornis, Christian (2002): Zwei Jahre nach der Reform des Staatsangehörigkeits- rechts. Bilanz und Ausblick. In: Klaus Bade und Rainer Münz (Hg.): Migrati- onsreport 2002. Fakten, Analysen, Perspektiven. Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag, S. 163–178. Downs, Anthony (1968): Ökonomische Theorie der Demokratie. Tübingen: Mohr. Doytcheva, Milena (2010): Usages francais de la notion de diversité. Permanence et actualité dʼun débat. In: Sociologie 1 (4), S. 423–438. Duverger, Maurice (1969): Les Partis Politique. Paris: Armand Colin. Eldersveld, Samuel (1978): The party „stratarchy“. In: David Abbott und Edward Rogowsky (Hg.): Political parties. Chicago: Rand McNally, S. 5–19. Endruweit, Günter (2004): Organisationssoziologie. Stuttgart: Lucius & Lucius. Escrafé-Dublet, Angéline; Simon, Patrick (2009): Représenter la diversité en poli- tique. Une reformulation de la dialectique de la différence et de lʼégalité par le doxa républicaine. In: Raisons politiques (35), S. 125–142. Evans, Jocelyn; Mayer, Nonna (2005): Electorate, new cleavages and social struc- ture. In: Alistair Cole (Hg.): Developments in French politics. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 35–53. Faist, Thomas (2000): The volume and dynamics of international migration and transnational social spaces. Oxford, New York: Oxford University Press. Faist, Thomas (2009): Diversity – a new mode of incorporation. In: Ethnic and ra- cial studies 32 (1), S. 171–190. Faulenbach, Bernd (Hg.) (2008): Das sozialdemokratische Projekt im Wandel. Zur Frage der Identität der SPD. Essen: Klartext. Faulenbach, Bernd (2011): Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Refor- meuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit; die SPD 1969–1982. Bonn: Dietz. Favell, Adrian (1998): Philosophie of Integration. Immigration and the Idea of Ci- tizenship in France and Britain. London: Macmillan Press. Favier, Pierre; Martin-Roland, Michel (1990): Les ruptures. (1981–1984). Paris: Édition du Seuil. Favier, Pierre; Martin-Roland, Michel (1991): Les épreuves. (1984–1988). Paris: Édition du Seuil. Favier, Pierre; Martin-Roland, Michel (1996): Les défis. (1988–1991). Paris: Édi- tion du Seuil. Feldblum, Miriam (1999): Reconstructing citizenship. The politics of nationality reform and immigration in contemporary France. Albany: State University of New York Press. Fijalkowski, Jürgen (2001): Die ambivalente Funktion der Selbstorganisation eth- nischer Minderheiten. In: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen: Leske Budrich, S. 163–182.

346 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Flam, Helena (2007): Migranten in Deutschland. Statistiken, Fakten, Diskurse. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Frey, Martin (1982): Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Fakten aus dem Beschäftigungsbereich. In: Martin Frey, Ulf Müller und Klaus Wippermann (Hg.): Ausländer bei uns, Fremde oder Mitbürger? Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 87–101. Fysh, Peter (2003): The politics of racism in France. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Gallagher, Michael; Marsh, Michael (1988): Candidate Selection in Comparative Perspective – the secret garden of politics. London: Sage. Garbaye, Romain (2002): Ethnic minority participation in British and French ci- ties: a historical-institutionalist perspective. In: International Journal of Urban and Regional Research 26 (3), S. 555-570. Garbaye, Romain (2003): Ethnic minorities, cities, and institutions. A comparison of the modes of management of ethnic diversity of a French and a British city. In: Ruud Koopmans und Paul Statham (Hg.): Challenging immigration and ethnic relations politics. Oxford: Oxford University Press. Garbaye, Romain (2007): Getting into local power. The politics of ethnic minori- ties in British and French cities. Malden: Blackwell. Garraud, Philippe (1978): Discours, pratiques et idéologie dans lʼévolution du Parti socialiste. In: Revue francaise de science politique 28 (2), S. 257–276. Geiling, Heiko (Hg.) (2009): Die Krise der SPD. Autoritäre oder partizipatorische Demokratie. Berlin, Münster: LIT Verlag. Geisser, Vincent (1997): Ethnicité rébublicaine: Dornis les élites dʼorigine maghrébine dans le système politique francais. Paris: Presses de Sciences Po. Geisser, Vincent (2003): La nouvelle islamophobie. Paris: Découverte. Geisser, Vincent; Oriol, Paul (2001): Les français dʼ„origine étrangère“ aux élec- tions municipales de 2001. In: Migrations Société 13 (77), S. 41–54. Geisser, Vincent; Soum, El Yamine (2008): Discriminer pour mieux régner. En- quête sur la diversité dans les partis politiques. Ivry-sur-Seine: Édition de lʼAtelier. Gerdes, Hilke (2009): Türken in Berlin. Berlin: be.bra-Verlag. Gesemann, Frank (Hg.) (2001): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaft- liche Analysen und politische Perspektiven. Opladen: Leske Budrich. Gesemann, Frank (2009): Berlin: Einwanderungspolitik ‚under construction‘? Von der Beauftragtenpolitik zur strategischen Steuerung. In: Frank Gesemann (Hg.): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 311–333. Yurdakal, Gökçe (2006): State, political parties and immigrant elites: Turkish Im- migrant Asso-ciations in Berlin. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 32 (3), S. 435–453. LITERATUR | 347

Gorholt, Martin (2009): Die SPD als Mitgliederpartei. In: Uwe Jun (Hg.): Die Zu- kunft der Mitgliederpartei. Opladen: Budrich, S. 257–260. Grabow, Karsten (2000): Abschied von der Massenpartei. Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Grillo, Ralph D. (1985): Ideologies and institutions in urban France. The represen- tation of immigrants. Cambridge: Cambridge University Press. Grunberg, Gérard; Haegel, Florence (2007): La France vers le bipartisme? La présidentialisation du PS et de l’UMP. Paris: Presses de Sciences Po. Grunden, Timo (2012): Die SPD. Zyklen der Organisationsgeschichte und Struk- turmerkmale innerparteilicher Entscheidungsprozesse. In: Karl-Rudolf Korte und Jan Treibel (Hg.): Wie entscheiden Parteien? Prozesse innerparteilicher Willensbildung in Deutschland. Baden-Baden: Nomos, S. 93–120. Haegel, Florence (2005): Parties and Organizations. In: Alistair Cole (Hg.): Deve- lopments in French politics. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 18–34. Hagedorn, Heike (1998): Wer darf Mitglied werden? Einbürgerungen in Deutsch- land und Frankreich. In: Dietrich Thränhardt (Hg.): Einwanderung und Einbür- gerung in Deutschland. Münster: LIT Verlag, S. 15–64. Hall, Peter; Taylor, Rosemary (1996): Political science and the three new instituti- onalisms. In: Political Studies 44 (5), S. 936–957. Hanley, David (1986): Keeping left? Ceres and the French Socialist Party: a con- tribution to the study of fractionalism in political parties. Manchester: Man- chester University Press. Hannan, Michael; Freeman, John (1977): The population ecology of organizations. In: American Journal of Sociology 82 (5), S. 929–964. Hardouin, Patrick (1978): Les charactéristiques sociologiques du Parti socialiste. In: Revue francaise de science politique 28 (2), S. 220–256. Hargreaves, Alec (1999): Immigration, ‚race‘ and ethnicity in contemporary France. New York: Routledge. Hargreaves, Alec (2012): De la victoire de la gauche la percée de lʼextrême droite. Lʼéthnicisation du jeu électoral francais. In: Histoire@Politique 1 (16), S. 154– 165. Hargreaves, Alec G. (2007): Multi-ethnic France. Immigration, politics, culture and society. New York: Routledge. Harmel, Robert; Janda, Kenneth (1994): An Integrated Theory of Party Goals and Party Change. In: Journal of Theoretical Politics 6 (3), 259-287. Harmel, Robert (2002): Party Organizational Change. Competing Explanations? In: Kurt Richard Luther und Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Political parties in the new Europe. Political and analytical challenges. Oxford: Oxford Univer- sity Press, S. 119–142.

348 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Hartmann, Rainer; Hörsch, Bettina; Neujahr, Joachim (1998): Neukölln – Ein Be- zirk ohne Ausländer? In: Alltag und Politik in einem Berliner Arbeiterbezirk, S. 329–356. Hazan, Reuven; Rahat, Gideon (2010): Democracy within parties. Candidate selec- tion methods and their political consequences. Oxford: Oxford University Press. Heath, Anthony; Fisher, Stephen; Rosenblatt, Gemma; Sanders, David; Sobolwes- ka, Maria (2013): The political integration of ethnic minorities in Britain. Oxford: Oxford University Press. Heise, Arne (2012): Das Ende der SPD … und ihr Neuanfang. Münster: LIT Ver- lag. Herbert, Ulrich (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonar- beiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München: C.H. Beck. Heßler, Manfred (1993): Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Einstel- lungswandel. In: Manfred Heßler (Hg.): Zwischen Nationalstaat und multikul- tureller Gesellschaft. Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundes- republik Deutschland. Berlin: Hitit-Verlag, S. 133–168. Hily, Marie-Antoinette; Geisser, Vincent; Kelfaoui, Schérazade; Martiniello, Mar- co (1998): Tabous et enjeux autour de lʼethnicité maghrébine dans le systéme politique francais. In: Revue européenne de migrations internationales 14 (2), S. 19–32. Hinings, Christopher; Tolbert, Pamela (2008): Organizational institutionalism and sociology. A reflection. In: Royston Greenwood (Hg.): The SAGE handbook of organizational institutionalism. Los Angeles: Sage, S. 473–490. Hunger, Uwe (2003): Party competition and inclusion of immigrants in Germany. In: German Policy Studies 1 (3), S. 302–330. Hunger, Uwe; Thränhardt, Dietrich (2001): Die Berliner Integrationspolitik im Vergleich der Bundesländer. In: Frank Gesemann (Hg.): Migration und In- tegration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen: Leske Budrich, S. 109–125. Inglehart, Ronald (1977): The silent revolution. Changing values and political sty- les among western publics. Princeton: Princeton University Press. Ireland, Patrick (1994): The Policy Challenge of Ethnic Diversity. Immigrant Poli- tics in France and Switzerland. Cambridge: Havard University Press. Ireland, Patrick (1996): Race, immigration and the politics of hate. In: Anthony Daley (Hg.): The Mitterrand era. Policy alternatives and political mobilization in France. Basingstoke: Macmillan, S. 258–278. Jäckel, Eberhard (1969): Sozialdemokratische Wählerinitiative. In: Die neue Ge- sellschaft (16), S. 197–200. Juhem, Philippe (2001): Entreprendre en politique. De lʼextrême gauche au PS: La professionalisation politique des fondateurs de SOS-Racisme. In: Revue française de science politique 51 (1), S. 131–153. LITERATUR | 349

Jun, Uwe (2009): Organisationsreformen der Mitgliederparteien ohne durchschla- genden Erfolg. In: Uwe Jun (Hg.): Die Zukunft der Mitgliederpartei. Opladen: Budrich, S. 187–210. Jun, Uwe (2010): Politische Parteien als fragmentierte Organisationen im Wandel. Eine Einführung. In: Uwe Jun und Benjamin Höhne (Hg.): Parteien als frag- mentierte Organisationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse. Parteien in Theorie und Empirie, Band 1. Opladen: Budrich, S. 11–34. Jun, Uwe (2011): Die Repräsentationslücke der Volksparteien. Erklärungsansätze für den Be-deutungsverlust und Gegenmaßnahmen. In: Markus Linden (Hg.): Krise und Reform politischer Repräsentation. Baden-Baden: Nomos, S. 95– 124. Kantor, Paul; Lefèvre, Christian; Saito, Asato; Savitch, Hank; Thornley, Andy (2012): Struggling giants. City-region governance in London, New York, Paris, and Tokyo. Minneapolis: University of Minnesota Press. Kapphan, Andreas (Hg.) (1999): Paris-Berlin. Formen und Folgen der Migration. Berlin: Centre Marc Bloch. Kapphan, Andreas (2001): Migration und Stadtentwicklung. Die Entstehung ethni- scher Konzentration und ihre Auswirkungen. In: Frank Gesemann (Hg.): Mig- ration und Integration in Berlin. wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen: Leske Budrich, S. 89–108. Kastoryano, Riva (2006): French secularism and Islam. Franceʼs headscarf affair. In: Tariq Modood, Anna Triandafyllidou und Ricard Zapata-Barrero (Hg.): Multiculturalism, Muslims and citizenship. A European approach. London: Routledge, S. 57–69. Kastoryano, Riva; Crowley, John (2001): Citizenship in a local key. A view from Paris. In: Alisdair Rogers und Jean Tillie (Hg.): Multicultural policies and mo- des of citizenship in European cities. Aldershot: Ashgate, S. 173–198. Katz, Richard; Mair, Peter (1995): Changing Models of Party Organization and Party Democracy: The Emergence of the Cartel Party. In: Party Politics 1 (1), S. 5–28. Katz, Richard (2002): The internal life of parties. In: Kurt Richard Luther und Fer- dinand Müller-Rommel (Hg.): Political parties in the new Europe. Political and analytical challenges. Oxford: Oxford University Press, S. 87–118. Katz, Richard; Mair, Peter; Bardi, Luciano; Bille, Lars; Deschouwer, Kris; Farrell, David et al. (1992): The membership of political parties in European democra- cies, 1960–1990. In: European Journal of Political Research 22 (3), S. 329– 345. Kaya, Daniela (Hg.) (2013): Deutschland neu erfinden. Impulse für die Neuaus- richtung sozial-demokratischer Integrationspolitik. Berlin: Rotation. Kelfaoui, Schérazade (1995): Le comportement électoral des Français dʼorigine maghrébine à Saint-Denis. In: Jean-Paul Brunet (Hg.): Immigration, vie poli-

350 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

tique et populisme en banlieue parisienne. (Fin XIXe – XXe siècles). Paris: Édition LʼHarmattan, S. 363–380. Kepel, Gilles (2012): Banlieue de la république. Société, Politique et Religion à Clichy-Sous-Bois et Montfermeil. Paris: Gallimard. Keslassy, Éric (2009): Ouvrir la politique à la diversité. Institut Montaigne. Keslassy, Éric (2010): Quelle place pour les minorités visibles? Retour sur les élec- tions régionales de mars 2010. Institut Montaigne. Kiepenheuer-Drechsler, Barbara (2013): Vielfalt plus Zusammenhalt. Eine ethno- logische Perspektive auf die Praxis Berliner Integrationspolitik. Bielefeld: transcript. Kieser, Alfred; Kubicek, Herbert (1992): Organisation. Berlin: Walter de Gruyter. Kirchheimer, Otto (1965): Der Wandel des westeuropäischen Parteisystems. In: Politische Vierteljahresschrift 6 (1), S. 20–41. Kittilson, Miki; Tate, Katherine (2004): Political parties, minorities and elected office: compar-ing opportunities for inclusion in the U.S. and Britain. Center for the Study of Democracy: https://escholarship.org/uc/item/9j40k1m0#page- 2; letzter Zugriff am 24.05.2015. Klatt, Johanna; Walter, Franz (2009): Politik und Gesellschaft am Ende der Zwei- ten Großen Koalition- und was folgt? Konklusion und Ausblick. In: Felix Butz- laff, Stine Harm und Franz Walter (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel? : Deutschland 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 295– 322. Kleff, Sanem (2009): Stadt der Vielfalt : das Entstehen des neuen Berlin durch Migration. Berlin: Der Beauftrage des Berliner Senats für Integration und Mig- ration. Klopp, Brett (2002): The political incorporation of EU foreigners before and after Mastricht. The new local politics in Germany. In: Journal of Ethnic and Migra- tion Studies 28 (2), S. 239–257. Knapp, Andrew (2004a): Ephemeral victories? Franceʼs governing parties, the eco- logists, and the far right. In: Peter Mair, Wolfgang Müller und Fritz Plasser (Hg.): Political parties and electoral change. Party responses to electoral mar- kets. London: Sage, S. 49–85. Knapp, Andrew (2004b): Parties and the party system in France. A disconnected democracy? New York: Palgrave Macmillan. Knapp, Andrew; Wright, Vincent (2001): The government and politics of France. London: Routledge. Koenig, Matthias (2007): Europeanising the Governance of Religious Diversity: An Institutionalist Account of Muslim Struggles for Public Recognition. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 33 (6), S. 911–932. Kolinsky, Eva (1993): Party Change and Womenʼs Representation in unified Ger- many. In: Joni Lovenduski und Pippa Norris (Hg.): Gender and party politics. London: Sage, S. 127–146. LITERATUR | 351

Koopmans, Ruud; Statham, Paul (Hg.) (2003): Challenging immigration and ethnic relations politics. Oxford: Oxford University Press. Kortmann, Matthias (2011): Migrantenselbstorganisationen in der Integrationspoli- tik. Münster: Waxmann. Kösemen, Orkan (2014): Wenn aus Ausländern Wähler werden. Die ambivalente Rolle der Parteien bei der Repräsentation von Migranten in Deutschland. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Vielfältiges Deutschland. Bausteine für eine zu- künftige Gesellschaft. Gütersloh, S. 217–256. Krick, Eva (2010): Regieren mit Gipfeln – Expertengremien der großen Koalition. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 20 (2), S. 233–265. Kroh, Martin; Tucci. Ingrid (2009): Parteibindungen von Migranten. Parteien brauchen erleichterte Einbürgerung nicht zu fürchten. In: Wochenbericht des DIW Berlin (47): 821–827. Krook, Mona (2004): Gender quotas as a global phenomenon. Actors and strate- gies in quota adoption. In: European Political Science, 3 (3), S. 59–65. Kvale, Steinar (2007): Doing interviews. London: SAGE Publications. Lanz, Stephan (2007): Berlin aufgemischt. Abendländisch, multikulturell, kosmo- politisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt. Bielefeld: transcript. Laplanche-Servigne, Soline (2009): Mobilisation des „minorités visibles“ en France et en Allemagne: la politisation du statut de „victimes de discrimination raciales“ dans des luttes de reconnaissance. In: Valérie Sala Pala, Lionel Arnaud und Sylvie Rétif Sophie Ollitrault (Hg.): Lʼaction collective face à lʼimbrication des rapports sociaux. Classe, ethnicité, genre. Paris: LʼHarmattan, S. 139–158. Laubenthal, Barbara (2006): Der Kampf um Legalisierung. Soziale Bewegungen illegaler Migranten in Frankreich, Spanien und der Schweiz. Frankfurt: Cam- pus-Verlag. Laurence, Jonathan; Maxwell, Rahsaan (2012): Political parties and diversity in Western Europe. In: Terri Givens und Rahsaan Maxwell (Hg.): Immigrant poli- tics. Race and representation in Western Europe. Boulder: Lynne Rienner Pub- lishers, S. 13–32. Lavabre, Marie-Claire; Platone, François (2003): Que reste-t-il du PCF ? Paris: Autrement. Le Garrec, Jean (2006): Une vie à gauche. La Tour dʼAigues: Éditions de l’aube. Le Lohé, Michel (1998): Ethnic minority participation and representation in the British electoral system. In: Shamit Saggar (Hg.): Race and British electoral politics. London: UCL Press, S. 73–95. Lefèbvre, Rémi; Sawicki, Frédéric (2006): La société des socialistes. Le PS aujo- urdʼhui. Belle-combe-en-Bauges: Édition du Croquant.

352 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Lempp, Jakob (2007): Bündis 90/Die Grünen in Berlin. „Grüne Party-Insel im tris- ten Osten“. In: Christian Junge und Jakob Lempp (Hg.): Parteien in Berlin. Berlin: be.bra Verlag, S. 123–139. Lépinard, Eléonore (2008): Gender and multiculturalism. In: Alistair Cole (Hg.): The Developments of French Politics. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 92–110. Lequin, Yves (2006): Histoire des étrangers et de lʼimmigration en France. Paris: Larousse. Levy, Jonah; Cole, Alistair; Galès, Patrick (2008): From Chirac to Sarkozy. A New France?. In: Alistair Cole (Hg.): The Developments of French Politics. Ba- singstoke: Palgrave Macmillan. Leyrit, Claude (1997): Les partis politiques – indispensables et contestés. Paris: Marabout. Linden, Markus (2014): Einschluss und Ausschluss durch Repräsentation. Theorie und Empirie am Beispiel der deutschen Integrationspolitik. Baden-Baden: No- mos. Lösche, Peter (1990): Organisationspolitischer Traditionalismus? Die SPD: Vom Kampfver-band zur Interessenskoalition. In: Hiltrud Nassmacher und Hans- Georg Wehling (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer, S. 44–62. Lösche, Peter; Walter, Franz (1992): Die SPD: Klassenpartei, Volkspartei, Quo- tenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deut- schen Vereinigung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Lovenduski, Joni; Norris, Pippa (Hg.) (1993): Gender and party politics. London: Sage. Lozès, Patrick (2012): The invention of Blacks in France. In: Trica Danielle Keaton, Tracy Denean Sharpley-Whiting und Tyler Edward Stovall (Hg.): Black France. Durham: Duke University Press, S. 103–109. Lueger, Manfred (2000): Grundlagen qualitativer Feldforschung. Methodologie, Organisierung, Materialanalyse. Wien: WUV-Universitäts-Verlag. Luther, Kurt Richard; Müller-Rommel, Ferdinand (Hg.) (2002): Political parties in the new Europe. Political and analytical challenges. Oxford: Oxford University Press. Machnig, Matthias (2001): Von der „Kampa“ zur Netzwerkpartei. Politisches Themenmanagement und Kampagnenarbeit der SPD. In: Claudia Langen und Werner Albrecht (Hg.): Zielgruppe, Gesellschaft. Kommunikationsstrategien für Nonprofit-Organisationen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 123–144. Mahnig, Hans (2004): The politics of minority-majority relations: How immigrant policies developed in Paris, Berlin and Zurich. In: Rinus Penninx, Karen Kraal, Marco Martiniello und Steven Vertovec (Hg.): Citizenship in European cities. Immigrants, local politics, and integration policies. Aldershot: Ashgate, S. 17– 38. LITERATUR | 353

Mair, Peter; van Biezen. Ingrid (2001): Party Membership in Twenty European Democracies, 1980-2000. In: Party Politics 7 (1), S. 5–21. Malik, Serge (1990): Histoire secrète de SOS-racisme. Paris: Édition Albin Michel. Marcus, Jonathan (1995): The National Front and French Politics. The Resistible Rise of Jean-Marie Le Pen. New York: New York University Press. Martelli, Roger (2010): Prendre sa carte 1920–2009. Données nouvelles sur les effectifs du PCF. Bobigny: Conseil général de la Seine-Saint-Denis. Masclet, Olivier (2006): La gauche et les cités : enquête sur un rendez-vous manqué. Paris: La Dispute. Masclet, Olivier (2012): Sociologie de la diversité et des discriminations. Paris: Armond Colin. Matuschek, Peter; Güllner, Manfred (2011): Volksparteien ohne Volk: Der Nie- dergang der Union und SPD auf dem Wählermarkt. In: Oskar Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 221–235. Maxwell, Rahsaan (2012): Ethnic minority migrants in Britain and France. Integra- tion trade-offs. New York: Cambridge University Press. Mayer, Nonna; Perrineau, Pascal; Rémond, René (Hg.) (1989): Le Front national à découvert. Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences Politiques. Mayntz, Renate (1959): Parteigruppen in der Großstadt. Untersuchungen in einem Berliner Kreisverband der CDU. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf- ten. Mayntz, Renate (1963): Soziologie der Organisation. Reinbek bei Hamburg: Ro- wohlt. Mayring, Philipp (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. In: Uwe Flick, Ernst von Kar- dorff und Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 468–475. Meguid, Bonnie (2008): Party competition between unequals. Strategies and elec- toral fortunes in Western Europe. Cambridge: Cambridge University Press. Meier-Braun, Karl-Heinz (1995): 40 Jahre „Gastarbeiter“ und Ausländerpolitik in Deutschland. In: APUZ 35, S. 14–22. Meier-Braun, Karl-Heinz (2002): Deutschland, Einwanderungsland. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Meier-Braun, Karl-Heinz (2013): Migration und Integration in Deutschland. Be- griffe – Fakten – Kontroversen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Meier-Braun, Karl-Heinz; Pazarkaya, Yüksel (1983): Die Türken. Berichte und In- formationen zum besseren Verständnis der Türken in Deutschland. Frankfurt am Main: Ullstein. Meinhardt, Rolf (1984): Türken raus ? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Messina, Anthony (1998): Ethnic minorities and the British party system in the 1990s and beyond. In: Shamit Saggar (Hg.): Race and British electoral politics. London: UCL Press, S. 47–70.

354 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Messina, Anthony (2007): The logics and politics of post-WWII migration to Wes- tern Europe. New York: Cambridge University Press. Meyer, Dominique; Junge, Christian; Lempp, Jakob (2007): Die SPD in Berlin. In: Christian Junge und Jakob Lempp (Hg.): Parteien in Berlin. Berlin: be.bra Ver- lag, S. 59–80. Michalowski. Ines (2007): Integration als Staatsprogramm. Deutschland, Frank- reich und die Niederlande im Vergleich. Münster: LIT Verlag. Michalowski. Ines; Finotelli, Claudia (2012): The Heuristic Potential of Models of Citizenship and Immigrant Integration. In: Journal of Immigrant & Refugee Studies 10 (3), S. 231–240. Michels, Robert (1989): Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demo- kratie. Stuttgart: Kröner. Michon, Laure (2011): Ethnic minorities in local politics. Comparing Amsterdam and Paris. Amsterdam Institute for Social Science Research (Dissertations- schrift): http://dare.uva.nl/document/2/86079; letzter Zugriff am 27.11.2014). Miller, Mark James (1978): The problem of foreign worker participation and re- presentation in France, Switzerland and the Federal Republic of Germany. 2 Bände. University of Wisconsin (Dissertationsschrift). Miller, Mark James (1981): Foreign Workers in Western Europe. An emerging po- litical force. New York: Praeger Publishers. Müller, Helmut (2003): Schlaglichter der deutschen Geschichte. Bonn: Bundes- zentrale für Poli-tische Bildung. Musch, Elisabeth (2011): Integration durch Konsultation? Konsensbildung in der Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland und den Niederlanden. Münster: Waxmann. Nachtwey, Oliver (2009): Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Niedermayer, Oskar (2012): Parteimitgliedschaften im Jahre 2011. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 43 (2), S. 389–407. Niedermayer, Oskar (Hg.) (2013): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Niedermayer, Oskar; Stöss, Richard (1996): Die Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 22.Oktober 1995. Alles beim alten und doch vieles anders. In: Berliner Journal Soziologie 6 (3), S. 407–418. Nivet, Philippe (1994): Le Conseil municipal de Paris de 1944 à 1977. Paris: Publications de la Sorbonne. Nivet, Philippe; Combeau, Yvan (2000): Histoire politique de Paris au XXe siècle. Paris: Presses Universitaire de France. Noirel, Gérard (2006): „Color blindness“ et construction des identités dans lʼespace public francais. In: Didier Fassin und Eric Fassin (Hg.): De la question sociale à la question raciale? Représenter la société française. Paris: La Décou- verte, S. 166–182. LITERATUR | 355

Noiriel, Gérard (2007): Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe- XXe siècle). Discours publics, humiliations privées. Paris: Fayard. Norris, Pippa; Lovenduski, Joni (1993): Gender and Party Politics in Britain. In: Joni Lovenduski und Pippa Norris (Hg.): Gender and party politics. London: Sage, S. 35–59. Norris, Pippa; Lovenduski, Joni (1995): Political recruitment. Gender, race, and class in the British parliament. Cambridge: Cambridge University Press. Opello, Katherine A. R. (2006): Gender quotas, parity reform, and political parties in France. Lanham: Lexington Books. Oppong, Marvin (2011): Migranten in der deutschen Politik. Wiesbaden: VS Ver- lag für Sozialwissenschaften. Özcan, Ertekin (1992): Türkische Immigrantenorganisationen in der Bundesrepub- lik Deutschland. Eine Entwicklung politischer Organisationen und politischer Orientierung unter türkischen Arbeitsimmigranten in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin West. Berlin: Hitit-Verlag. Özcan, Ertekin (1993): Selbstorganisation der türkischen Einwandererminderheit. In: Cord Pagenstecher (Hg.): „ … da sind wir keine Ausländer mehr“. Einge- wanderte ArbeiterInnen in Berlin 1961–1993. Berlin: Berliner Geschichtswerk- statt, S. 66–74. Page Moch, Leslie (2007): Frankreich. In: Klaus Bade, Corrie van Eijl, Marlou Schrover und Michael Schubert (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Ferdinand Schöningh, S. 122–140. Panebianco, Angelo (1988): Political parties. Organization and power. Cambridge: Cambridge University Press. Pau-Langevin, George (2011): Représenter le peuple français. Paris: Dittmar. Perrigo, Sarah (1995): Gender Struggles in the British Labour Party from 1979 to 1995. In: Party Politics 1 (3), S. 407–417. Perrineau, Pascal (1989): Les étapes dʼune implantation électorale. 1972–1988. In: Nonna Mayer, Pascal Perrineau und René Rémond (Hg.): Le Front national à découvert. Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences Politiques. Philippe, Annie; Hubscher, Daniel (1991): Enquête à lʼintérieur du Parti socialiste. Paris: Albin Michel. Pinçon, Michel; Pinçon-Charlot, Monique (2001): Paris Mosaïque. Promenades urbaines. Paris: Calmann-Lévy. Pinçon, Michel; Pinçon-Charlot, Monique (2008): Paris. Soziologie einer Metropo- le. Berlin: Avinus-Verlag. Pitti, Laure (2006): Une matrice algérienne?: Trajectoires et recompositions mili- tantes en terrain ouvrier, de la cause de lʼindépendance aux grèves dʼOS des années 1968-1975. In: Politix: revue des sciences sociales du politique 76 (4), S. 143–166.

356 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Poguntke, Thomas (2003): International vergleichende Parteiforschung, KEPRU Working Papers: http://www.andreasladner.ch/dokumente/Seminar05/Pogunt- ke_2003.pdf; letzter Zugriff am 24.05.2015. Preisendörfer, Peter (2008): Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien und Problemstel-lungen. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. Reichart-Dreyer. Ingrid (2008): Das Parteiensystem Berlins. In: Uwe Jun (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern. Wiesbaden: VS Ver- lag für Sozialwissenschaften, S. 167–192. Reinhardt, Max (2011): Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralisierten Volkspartei. Baden-Baden: Nomos. Reiser, Marion (2014): The universe of group representation in Germany: Analy- sing formal and informal party rules and quotas in the process of candidate sel- ection. In: International Political Science Review 35 (1), S. 55–66. Rich, Paul (1998): Ethnic politics and the Conservatives in the post-Thatcher era. In: Shamit Saggar (Hg.): Race and British electoral politics. London: UCL Press, S. 96–116. Rittstieg, Helmut (2001): Ausländerwahlrecht – Eine Nachlese. In: Gianni DʼAmato (Hg.): Vom Ausländer zum Bürger. Der Streit um die politische In- tegration von Einwanderern in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Münster: LIT, S. 365–371. Rogers, Alisdair (2003): Citizenship, multiculturalism, and the European City. In: Gary Bridge und Sophie Watson (Hg.): A companion to the city. Oxford: Blackwell, S. 282–291. Rogers, Alisdair; Tillie, Jean; Vertovec, Stephen (2001): Introduction. Multicultur- al policies and modes of citizenship in European cities. In: Alisdair Rogers und Jean Tillie (Hg.): Multicultural policies and modes of citizenship in European cities. Aldershot: Ashgate, S. 1–13. Rosenstiel, Lutz von (2012): Organisationsanalyse. In: Uwe Flick, Ernst von Kar- dorff und Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 224–238. Rosenthal, Gabriele (2014): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim: Beltz Juventa. Roth, Roland; Gesemann, Frank (2009): Kommunale Integrationspolitik in Deutschland. Einleitende Bemerkungen. In: Frank Gesemann (Hg.): Lokale In- tegrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen- schaften, S. 11–32. Rudder, Véronique de (1984): Trois situations de cohabitation pluri-ethnique à Pa- ris. In: Espace et sociétés (45), S. 43–59. Rudder, Véronique de; Vourcʼh Francois (2006): Les discriminations racistes dans le monde du travail. In: Didier Fassin und Eric Fassin (Hg.): De la question LITERATUR | 357

sociale à la question raciale? Représenter la société française. Paris: La Décou- verte, S. 183–202. Saggar, Shamit (2000): Race and representation. Electoral politics and ethnic plu- ralism in Britain. Manchester: Manchester University Press. Salzbrunn, Monika (2011): Rescaling processes in two „global“ cities. Festive events as pathways of migrant incorporation. In: Nina Glick Schiller und Ayse Simsek-Caglar (Hg.): Locating migration. Rescaling cities and migrants. It- haca: Cornell University Press, S. 166–189. Salzbrunn, Monika (2014): Vielfalt/Diversität. Bielefeld: transcript. Sartori, Giovanni (1976): Parties and party systems. A framework of analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Sawicki, Frédéric (2005): Les Socialistes. In: Jean Jacques Becker und Gilles Candar (Hg.): Histoire des gauches en France. Paris: La Découverte, S. 27–50. Scarrow, Susann; Gezgor, Burcu (2010): Declining memberships, changing mem- bers? European political party members in a new era. In: Party Politics 16 (6), S. 823–843. Schäfer, Ursel (1989): Regierungsparteien in Frankreich. Die Sozialistische Partei in der V. Republik. München: Vögel. Schain, Martin (1996): French Communism. Party construction and party decline. In: Anthony Daley (Hg.): The Mitterrand era. Policy alternatives and political mobilization in France. Basingstoke: Macmillan, S. 206–224. Schain, Martin (2008): The politics of immigration in France, Britain, and the Uni- ted States. A comparative study. New York: Palgrave Macmillan. Schmidt, Christiane (2012): Analyse von Leitfadeninterviews. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 447–455. Schmidt, Jürgen (2007): Die Geschichte der Parteien in Berlin von 1945 bis 1989. In: Christian Junge und Jakob Lempp (Hg.): Parteien in Berlin. Berlin: be.bra Verlag, S. 35–58. Schönwälder, Karen (1991): Zu viele Ausländer in Deutschland? Zur Entwicklung ausländer-feindlicher Einstellungen in der Bundesrepublik. In: Vorgänge – Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik (4), S. 1–11. Schönwälder, Karen (2001): Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesre- publik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Essen: Klartext. Schönwälder, Karen (2004): Kleine Schritte, verpasste Gelegenheiten, neue Kon- flikte. Zuwanderungsgesetz und Migrationspolitik. In: Blätter für internationale Politik 49 (10), S. 1205–1214. Schönwälder, Karen (2005): Migration und Ausländerpolitik in der Bundesrepub- lik Deutschland. Öffentliche Debatten und politische Entscheidungen. In: Ro- semarie Beier-de-Haan (Hg.): Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005. Wolfratshausen: Edition Minerva, S. 106–119.

358 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Schönwälder, Karen (2010a): Einwanderer in Räten und Parlamenten. In: Aus Po- litik und Zeitgeschichte (46–47), S. 29–35. Schönwälder, Karen (2010b): Germany. Integration policy and pluralism in a self- conscious country of immigration. In: Steven Vertovec und Susanne Wessen- dorf (Hg.): The multiculturalism backlash. European discourses, policies and practices. London, New York: Routledge, S. 152–169. Schönwälder, Karen (2012): Cautious steps. Minority representation in Germany. In: Terri Givens und Rahsaan Maxwell (Hg.): Immigrant politics. Race and re- presentation in Western Europe. Boulder: Lynne Rienner Publishers, S. 67–85. Schönwälder, Karen (2013a): Immigrant Representation in Germany’s Regional States: The Puzzle of Uneven Dynamics. In: West European Politics 36 (3), S. 634–651. Schönwälder, Karen (2013b): Integration – non integration? Worüber das Streiten (nicht) lohnt. In: Migration und soziale Arbeit 35 (3), S. 217–221. Schönwälder, Karen; Sinanoglu, Cihan; Volkert, Daniel (2011): Vielfalt sucht Rat. Ratsmitglieder mit Migrationshintergrund in deutschen Großstädten; eine Stu- die des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethni- scher Gesellschaften. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Schwarz, Thomas (1992): Zuwanderer im Netz des Wohlfahrtsstaats. Türkische Jugendliche und die Berliner Kommunalpolitik. Berlin: Edition Parabolis. Schwarz, Thomas (2001): Integrationspolitik als Beauftragtenpolitik: Die Auslän- derbeauftragte des Berliner Senats. In: Frank Gesemann (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven. Opladen: Leske Budrich, S. 127–143. Scott, Richard (2003): Organizations. Rational, Natural, and Open Systems. New Jersey: Pearson Education International. Sferza, Serenella (1996): The shifting adavantages of organizational formats. Fac- tionalism and the French Socialist Party. In: Anthony Daley (Hg.): The Mitter- rand era. Policy alternatives and political mobilization in France. Basingstoke: Macmillan, S. 189–205. Shukra, Kalbir (1998): New Labour debates and dilemmas. In: Shamit Saggar (Hg.): Race and British electoral politics. London: UCL Press, S. 117–144. Simon, Patrick (1994): La société partagée. Relations interethniques et interclasses dans un quartier en rénovation – Belleville, Pars 20e. École des Hautes Études en Sciences Social, Paris (Dissertationsschrift). Simon, Patrick (2000): The mosaic pattern. Cohabitation between ethnic groups in Belleville, Paris. In: Sophie Body-Gendrot und Marco Martiniello (Hg.): Mino- rities in European cities. The dynamics of social integration and social exclusi- on at the neighborhood level. Basingstoke: Macmillan Press, S. 100–115. Simon, Patrick (2007): Comment lutter contre les discriminations est passée à droi- te. In: Mouvements (52), S. 153–163. LITERATUR | 359

Simon, Patrick (2008a): Les statistiques, les sciences sociales françaises et les rap- ports sociaux ethniques et de „Race“. In: Revue française de sociologie 49 (1), S. 153–168. Simon, Patrick (2008b): The choice of ignorance: the debate on ethnic and racial statistics in France. In: French Politics, Culture & Society 26 (1), S. 7–31. Spier, Tim; Alemann, Ulrich von (2013): Die Sozialdemokratische Partei Deutsch- lands (SPD). In: Oskar Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 439–468. Spier, Tim; Alemann, Ulrich; Hoffmann, Hanna; Klein, Markus; Laux, Annika; Nonnenmacher, Alexandra; Rohrbach, Katharina (2011): Parteimitglieder in Deutschland. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2007): Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergeb- nisse des Mikrozenus 2005. Statistisches Bundesamt. Statistisches Bundesamt (2014): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Einbürgerun- gen. Stenhouse, Timothy (1993): The political participation of ethnic minorities in France. Municipal councillors of Maghrebian origin. Loughborough University (Dissertationsschrift). Stephan, Ina (2001): Aufstieg und Wandel der Parti socialiste in der Ära Mitter- rand (1971–1995). Opladen: Leske Budrich. Stöss, Richard (1986): Parteihandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutsch- land 1945–1980. Sonderausgabe Band 4. Opladen: Westdeutscher Verlag. Strøm, Kaare (1990): A behavioral theory of competitive political parties. In: Ame- rican Journal of Political Science 34 (2), S. 565–598. Thomas, David; Robin Ely (1996): Making Differences Matter. A New Paradigm for Managing Diversity. In: Harvard business Review, September/October 1996, S. 1–14. Thörmer, Heinz; Einemann, Edgar; Wernstedt, Rolf (2007): Aufstieg und Krise der „Generation Schröder“. Einblicke aus vier Jahrzehnten. Marburg: Schüren. Tiberj, Vincent (2013): Values and votes from Mitterrand to Hollande. The rise of the two two-axis politics. In: Parliamentary Affairs 66 (1), S. 69–86. Triadafilopoulos, Triadafilos (2012): Becoming multicultural. Immigration and the politics of membership in Canada and Germany. Vancouver: UBC Press. Türk, Klaus (1978): Soziologie der Organisation. Stuttgart: Ferdinand Enke Ver- lag. Turowski, Jan (2010): Sozialdemokratische Reformdiskurse. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Vermeulen, Floris; Berger, Maria (2008): Civic Networks and Political Behavior. Turks in Amsterdam and Berlin. In: Karthick Ramakrishnan und Irene Bloem- raad (Hg.): Civic hopes and political realities. Immigrants, community orga- nizations, and political engagement. New York: Russell Sage Foundation, S. 160–192.

360 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Vertovec, Stephen; Wessendorf, Susanne (2009): Assessing the backlash against multiculturalism in Europe. Working Paper Series, 4. Göttingen. Vertovec, Steven (1996): Berlin Multikulti: Germany, ‚foreigners‘ and ‚world- openness‘. In: New community: European journal on migration and ethnic rela- tions 22 (3), S. 381–399. Vertovec, Steven (1998): Multicultural policies and modes of citizenship in Euro- pean cities. In: International Social Science Journal 50 (156), S. 187–199. Vertovec, Steven (2007): Super-diversity and its implications. In: Ethnic and racial studies 30 (6), S. 1024–1054. Vertovec, Steven (2012): „Diversity“ and the Social Imaginary. In: European Jour- nal of Sociology 53 (3), S. 287. Walter, Franz (2009a): Die SPD. Biographie einer Partei. Reinbek: Rowohlt. Walter, Franz (2009b): Im Herbst der Volksparteien?: eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration. Bielefeld: transcript. Walter, Franz (2011): Die SPD: Biographie einer Partei. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Walter, Franz; Marg, Stine (2013): Von der Emanzipation zur Meritokratie. Be- trachtungen zur 150-jährigen Geschichte von Arbeiterbewegung, Linksintellek- tuellen und sozialer Demokratie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weber, Henry (2003): Rénovation du PS. Dépasser lʼincantation. In: La Revue Socialiste, Bd. 13, S. 86–99: www.henri-weber.fr/chargement/parti_article/110 _fic1_larevuesocialiste-juillet-aout2003.pdf.; letzter Zugriff am 24.03.2015. Weil, Patrick (2005): La France et ses étrangers. Lʼaventure dʼune politique de l'immigration de 1938 à nos jours. Paris: Gallimard. Westle, Bettina (Hg.) (2009): Methoden der Politikwissenschaft. Baden-Baden: Nomos. White, John Kenneth (2006): What is a political party?. In: Richard Katz und Wil- liam Crotty (Hg.): Handbook of party politics. London: Sage, S. 5–15. Wiedemann, Claudia (2006): Politische Partizipation von Migranten und Migran- tinnen. In: Bea-te Hoecker (Hg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studien-orientierte Einführung. Opladen: Budrich, S. 261– 286. Wiesendahl, Elmar (2006): Parteien. Entstehung und Entwicklung von Parteien, Parteiendemokratie in Modell und Wirklichkeit, Mitglieder und Finanzen der Parteien, Wandlungen in der deutschen Parteienlandschaft. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Wiesendahl, Elmar (2010a): Der Organisationswandel politischer Parteien. Organi- sations- und wandlungstheoretische Grundlagen. In: Uwe Jun und Benjamin Höhne (Hg.): Parteien als fragmentierte Organisationen. Erfolgsbedingungen und Veränderungsprozesse. Parteien in Theorie und Empirie, Band 1, S. 35–61. Wiesendahl, Elmar (2010b): Zwei Dekaden Party Change-Forschung. Eine kriti- sche Bilanz. In: David Gehne und Tim Spier (Hg.): Krise oder Wandel der Par- LITERATUR | 361

teiendemokratie? Festschrift für Ulrich von Alemann. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 92–120. Wiesendahl, Elmar (2011): Volksparteien. Aufstieg, Krise, Zukunft. Opladen: Budrich. Wihtol de Wenden, Catherine (1988): Les immigrés et la politique. Cent cinquante ans d'évolu-tion. Paris: Presses de la Fondation Nationale des Sciences Poli- tiques. Wihtol de Wenden, Catherine de; Leveau, Rémy (2007): La beurgeoisie. Paris: CNRS Édition. Wilson, Frank (1994): The sources of party change. The Social Democratic Parties of Britain, France, Germany and Spain. In: Kay Lawson (Hg.): How political parties work. Perspectives from within. Westport : Praeger. Winock, Michel (2007): Le Parti socialiste dans le système politique francais. In: Vingtième Siècle. Revue dʼhistoire 96 (4), S. 11–21. Wolff, Stefan (2012): Dokumenten- und Aktenanalyse. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Rein- bek bei Hamburg: Rowohlt, S. 502–513. Wowereit, Klaus (2011): Mut zur Integration. Für ein neues Miteinander. Berlin: Vorwärts Buch. Wüst, Andreas M. (2007): Wahlverhalten und politische Repräsentation von Mig- ranten. In: Siegried Frech und Karl-Heinz Meier-Braun (Hg.): Die offene Ge- sellschaft. Zuwanderung und Integration, S. 145–174. Wüst, Andreas M. (2011): Politische Repräsentation von Migranten im Vergleich. Die Rolle der Parteien. In: Orkan Kösemen (Hg.): Wer gehört dazu? Zugehö- rigkeit als Voraussetzung für Integration. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stif- tung, S. 117–135. Wüst, Andreas M.; Heinz, Dominic (2009): Die politische Repräsentation von Migranten in Deutschland. In: Winfried Thaa: Die politische Repräsentation von Fremden und Armen. Baden-Baden: Nomos, S. 201–218. Ysmal, Colette (1990): Le comportement électoral des Français. Paris: La Décou- verte.

Quellen

SPD DOKUMENTE

Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt – SPD Berlin (2012): Kandidaten- check der AG Migration und Vielfalt. Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt (2013): Beschlussbuch der Bundes- konferenz der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt: http://www.spd.de/ spd-webapp/servlet/elementblob/13769588/content; letzter Zugriff am 26.02. 2015. Becker, Achim (1980): Solidarität ist überfällig. Türken in Berlin. In: Berliner Stimme, 13.05.1980, S. 3. Beckers, Peter (1989): Kampagne für das kommunale Wahlrecht. In: Berliner Stimme, 23.09.1989, S. 9. Berliner SPD (1980): Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands am 6. Dezember 1980. Protokoll. Berliner SPD (1990a): Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands, Landesverband Berlin (West). 14. September 1990. Protokoll. Berliner SPD (1990b): „Vereinigungs-Parteitag“ der Berliner SPD am Sonnabend, dem 15. September 1990. Protokoll. Berliner SPD (2009): Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands am 17. Mai 2009. Antragsbuch mit Empfehlungen der Antragskommissi- on. Berliner SPD (2010): Antragsbuch mit Empfehlungen der Antragskommission Teil 2. Landesparteitag der Berliner SPD am 26. Juni 2010. Berliner Stimme (1974): Sonderbeilage. Anträge des Landesparteitags. In: Berliner Stimme, 16.03.1974. Berliner Stimme (1980a): Mit unseren Ausländern leben. SPD Landesparteitag packte heiße Eisen an/Türke als Redner. In: Berliner Stimme, 02.02.1980, S. 3. Berliner Stimme (1980b): Die meisten wollen längerfristig bleiben. Ausländer und Deutsche – eine Umfrage in Berlin. In: Berliner Stimme, 19.04.1980, S. 8. 364 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Berliner Stimme (1980c): „Die Familie ist unsere Heimat“. Türkische Sozialdemo- kraten appellieren an den SPD-Landesparteitag. In: Berliner Stimme, 05.12.1980, S. 3. Berliner Stimme (1980d): Integration – aber wie? Berlins SPD entscheidet über Ausländerfragen. In: Berliner Stimme, 05.12.1980, S. 1. Berliner Stimme (1980e): Von „Zuheirat“ und Kommunalwahlrecht. Strittiges und unstrittiges in der Ausländerfrage. In: Berliner Stimme, 12.12.1980, S. 3–4. Berliner Stimme (1980f): Ausländer-Arbeitskreis. Neueintritte in SPD-Kreuzberg vor allem Ausländer. In: Berliner Stimme, 17.05.1980, S. 9. Berliner Stimme (1980g): Ausländerpolitik aus erster Hand. Vorstoß der Kreuz- berger SPD mit einem neuen Arbeitskreis. In: Berliner Stimme, 26.07.1980, S. 11. Berliner Stimme (1980h): Ein Beispiel für aktive Ausländer-Integration. Türkische und deutsche Sozialdemokraten schufen in Charlottenburg eine Begegnungs- stätte. In: Berliner Stimme, 20.09.1980, S. 9. Berliner Stimme (1980i): Zum Beispiel. Izzetin Karanlik. In: Berliner Stimme, 05.12.1980. Berliner Stimme (1981a): Die Vertrauensfrau. Fatma – die erste türkische Betriebs- rätin. In: Berliner Stimme, 20.11.1981, S. 6. Berliner Stimme (1981b): Das Echo auf den Erlass. In: Berliner Stimme, 27.11.1981, S. 3. Berliner Stimme (1983a): Im Widerspruch zur Politik der Integration. SPD- Landesvorstand zu Baths „Thesen“. In: Berliner Stimme, 05.03.1983, S. 9. Berliner Stimme (1983b): Zum Beispiel… Zafer Ilgar. In: Berliner Stimme, 15.10.1983, S. 9. Berliner Stimme (1984): Serap Yavuz. In: Berliner Stimme, 24.03.1984, S. 9. Berliner Stimme (1989): Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper: „Für multikulturelle Gesellschaft“. In: Berliner Stimme, 10.06.1989, S. 5. Berliner Stimme (1990): „Multikultopia“ im Bahnhof. In: Berliner Stimme, 17.11.1990. Berliner Stimme (1991): Ausländerpolitik aus dem Schattendasein herausholen. Kreuzberger Arbeitskreis stellt Leitlinien vor. In: Berliner Stimme, 24.08.1991, S. 11. Borchers, Andreas (1987): SPD Berlin fordert Wahlrecht auf kommunaler Ebene. „Notwendiger Schritt zur Integration“. In: Vorwärts, 11.07.1987, S. 12–13. Doering, Kai (2013) : Neue Deutsche Vielfalt. In: Vorwärts (6), S. 28. Glaser, Paul (1980): Getarnt als „Idealisten“ und „Kulturvereine“. Ein Tummel- platz für rechts-radikale Moslems. In: Berliner Stimme, (20), S. 3. Glaser, Paul (1983a): „Das ist Rassismus“. H.G. Lorenz bei einer „Bürgerinitiati- ve“. In: Berliner Stimme, 05.03.1983, S. 9. Glaser, Paul (1983b): Türken in Berlin: Neue Töne von beiden Seiten. Von Gast- arbeitern zu Deutschen?. In: Berliner Stimme, 16.04.1983, S. 4. QUELLEN | 365

Gabriel, Sigmar (2010): Rede auf dem Landesparteitag am 26. Juni 2010. Teil 3. HDB (1980): Was ist HDB?. Horb, Ulrich (1989): Kommunales Wahlrecht für Ausländer.„Toleranz einer Welt- stadt beweisen“. In: Berliner Stimme, 07.10.1989, S. 1. Institut für Demoskopie Allensbach (1982): Ausländer in der Bundesrepublik. Jacobs, Uta (1992): Enttäuschung bei Sozialdemokratischen ImmigrantInnen ist gewachsen. AusländerInnen ohne Parteiämter. In: Berliner Stimme, 05.09.1992, S. 11. Kolat, Kenan (1999): Wahlprogramm Team Global. Wahl des Landesvorstandes der Arbeitsgemeinschaft Migration. Kolat, Kenan; Kolat, Dilek (2010): Arbeitsgemeinschaft Migration in der SPD. Arbeitsgemeinschaft Migration oder Deutsch Plus in der SPD. Kolbe, Daniela; Kaya, Daniela (2013): Standpunkt: Migrantenquote in der SPD. Rückschritt oder Fortschritt?. In: Daniela Kaya (Hg.): Deutschland neu erfin- den. Impulse für die Neuausrichtung sozialdemokratischer Integrationspolitik. Berlin: Rotation, S. 133–136. Mappes, Norbert (1987): Ressentiments in Presse und Partei. Die „schöne Grie- chin“. In: Vorwärts (13), S. 21. Müller, Michael (2009): Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD am 10. Oktober 2009. SPD Landesverband Berlin. Berlin, 10.10.2009. Online verfüg- bar unter http://archiv.spd-berlin.de/w/files/spd-parteitage/lpt2009-10-10_rede_ michael_mueller.pdf, zuletzt geprüft am 06.05.2015. Michaelis, Nils (2011): SPD Fachkonferenz zu Migration. SPD will mehr Vielfalt wagen. In: Vorwärts 2011, 28.05.2011: http://www.vorwaerts.de/artikel_archiv /27802/spd-will-mehr-vielfalt-wagen.html; letzter Zugriff am 23.08.2013. Sozialdemokratischer Pressedienst (27.07.1973): SPD fordert: Mehr Rechte für Gastarbeiter. Online verfügbar unter http://library.fes.de/spdpd/1973/730727. pdf.; letzter Zugriff am 13.04.2014. Sozialdemokratische Wählerinitiative (Hg.) (1982): Die Bundesrepublik ist (k)ein Einwanderungsland. Dokumentation – Kongreß der Sozialdemokratischen Wählerinitiative am 14./15. November 1981 in Berlin; Memorandum, Referate, Thesenpapiere. Berlin: Ararat Verlag. SPD (1976): Jahrbuch der Sozialdemokraten Partei Deutschlands. 1974–75. Bonn. SPD (1984): Jahrbuch der Sozialdemokraten Partei Deutschlands. 1982–83. Bonn. SPD (1989): Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Bonn. SPD (1991): Jahrbuch der Sozialdemokraten Partei Deutschlands. 1988–1990. Bonn. SPD (1995): Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 1993–94. SPD (1999): Jahrbuch der Sozialdemokraten Partei Deutschlands. 1997–98. Bonn. SPD (2003): Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 2001–2002. Berlin.

366 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

SPD (2005): Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 2003–2004. Berlin. SPD (2007a): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokrati- schen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. SPD (2007b): Ortsvereinsarbeit. Ein Praxishandbuch für die Arbeit vor Ort. Berlin. SPD (2011a): Beschluss des SPD-Parteivorstandes. Für Gleichberechtigung und eine Kultur der Anerkennung: http://www.spd.de/presse/Pressemitteilungen/ 11972/20110509_beschluss_parteivorstand_gleichberechtigung_anerkennung.h tml.; letzter Zugriff am 27.02.2012. SPD (2011b): Für soziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben – gleiche Bil- dungschancen als Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Leitantrag. SPD (2011c): Kolat: Starkes Signal für mehr Vielfalt in der SPD: http://www. spd.de/presse/Pressemitteilungen/11974/20110509_kolat_signal_fuer_mehr_vi elfalt.html.; letzter Zugriff am 27.02.2012. SPD (2012a): Mach Dich stark. Werde SPD-Mitglied: http://www.spd.de/partei /Mitglied_werden/; letzter Zugriff am 15.07.2013. SPD (2012b): Organisationsstatut, Wahlordnung, Schiedsordnung, Finanzordnung der sozial-demokratischen Partei Deutschlands. SPD (2013): Bundeswahlprogramm. Das wir entscheidet. Berlin. SPD Berlin (2012): Pressemitteilung. Vorschlag Müller für geschäftsführenden Landesvorstand. SPD Beschlüsse (2011): Parteitag in Berlin. 4.–6. Dezember. SPD Bundesparteitag (1980): Protokoll. 9.–10. Juni Essen. SPD Bundesparteitag (1982): Protokoll. 19.–23. April München. SPD Bundesparteitag (1991): Protokoll. Bremen 28.–31. Mai. Bonn. SPD Bundesparteitag (1993): Protokoll. Wiesbaden 16.–19. November. Bonn. SPD Bundesparteitag (2003): Protokoll. Bochum 17.–19. November. Berlin. SPD Bundesparteitag (2005): Beschlüsse. 14.–16. November Karlsruhe. SPD Bundesparteitag (2009): Protokoll. 13.–15. November Dresden. SPD Bundesparteitag (2010): Protokoll. 26. September Berlin. SPD Bundesparteitag (2011): Protokoll. 4.–6. Dezember Berlin. SPD Bundestagsfraktion (1997): Bundeskonferenz sozialdemokratischer Migran- tinnen und Migranten. Zukunft aktiv planen und gestalten. SPD-Landesparteitag (1980): Zusammenleben mit den ausländischen Mitbürgern. Beschluß des Landesparteitages vom 6. Dezember 1980. Beilage zur Ausgabe 51/ 1980. In: Berliner Stimme, 19.12.1980, S. ? SPD Landesverband Berlin (1980): Jahresbericht 1979/80. SPD Landesverband Berlin (1982): Jahresbericht 1980/82. SPD Landesverband Berlin (1983): Jahresbericht 1982/84. SPD Landesverband Berlin (1986): Jahresbericht 1984/86. SPD Landesverband Berlin (1988): Jahresbericht 1986/88. QUELLEN | 367

SPD Landesverband Berlin (1990): Jahresbericht 1988/90. SPD Landesverband Berlin (1992): Jahresbericht 1990/1992. SPD Landesverband Berlin (1994): Jahresbericht 1992–1994. SPD Landesverband Berlin (1996): Jahresbericht 1994–1996. SPD Landesverband Berlin (2000): Jahresbericht 1998/2000. SPD Landesverband Berlin (2002): Jahresbericht 2000–2002. SPD Landesverband Berlin (2004): Jahresbericht 2002–2004. SPD Landesverband Berlin (2006): Jahresbericht 2004–2006. SPD Landesverband Berlin (2008): Jahresbericht 2006–2008. SPD Landesverband Berlin (29.09.2010): Vielfalt fördern – Zusammenhalt stär- ken. Pressemitteilung. SPD Landesverband Berlin (01.11.2010): Podiumsdiskussion. Vielfalt oder Einfalt. SPD Landesverband Berlin (2012a): Jahresbericht 2010–2012. SPD Landesverband Berlin (2012b): Organisationsstatut, Wahlordnung, Schieds- ordnung, Finanzordnung der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. sowie die Geschäftsordnung und ergänzende statutarische Bestimmungen des Lan- desverbands Berlin. SPD Parteivorstand (2010): Leitfaden Zukunftswerkstatt. SPD Parteivorstand (2011): Integration – Auf dem Weg zu einer modernen Integ- rationspolitik. Anregungen zur programmatischen Positionsbestimmung aus der Zukunftswerkstatt Integration 2009–2011. SPDvision (2010): Abschlussrunde der Veranstaltung. „Zukunft Integration“ mit Kenan Kolat und Klaus Wowereit. Ünel, Merih; Weber, Peter (1982): Ausländer in deutschen Parteien. In: Sozialde- mokratische Wählerinitiative (Hg.): Die Bundesrepublik ist (k)ein Einwande- rungsland. Dokumentation-Kongreß der Sozialdemokratischen Wählerinitiative am 14./15. November 1981 in Berlin; Memorandum, Referate, Thesenpapiere. Berlin: Ararat Verlag, S. 79–80. Volkert, Daniel (2011a): AWO-Wahlveranstaltung in Kreuzberg-Berlin. U.a. mit Barbara John und Eckhard Barthel. 08.09.2011. Volkert, Daniel (2011b): Feldnotiz – Workshop, Politische Partizipation von Mig- ranten/Migrantinnen. Ort: Berliner Abgeordnetenhaus, 05.09.2011. Volkert, Daniel (2012): Eigene Erhebungen der Gewählten mit Migrationshinter- grund im Berliner Abgeordnetenhaus (2011) und in der BVV (1992–2006) in Berlin. Vorwärts (1996): Ja – Rot steht uns gut, S. 5. Vorwärts (1998): Aussiedlerfamilien. eine Chance für Deutschland, (3), S. 18. Vorwärts (2004): Aussiedlerarbeit, (4), S. 39. Vorwärts (2005a): Kämpfen und gewinnen, (6), S. 8. Vorwärts (2005b): Künstler für die SPD, (7), S. 13. Wowereit, Klaus (2009): Rede auf dem Landesparteitag der Berliner SPD am 10. Oktober 2009. SPD Landesverband Berlin. Berlin, 10.10.2009: http://archiv.

368 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

spd-berlin.de/w/files/spd-parteitage/lpt2009-10-10_rede_klaus_wowereit.pdf, zuletzt geprüft am 06.05.2015.; letzter Zugriff am 15.11.2013. Wowereit, Klaus (2011): Mut zur Integration. Für ein neues Miteinander. Berlin: Vorwärts Buch.

PS DOKUMENTE

16 Mars Magazine (1986): Ils sont de gauche, ils sont parisiens, ils sont candidats. In: Supplèment lʼUnité, 02.1986, S. 18–19. Backmann, Michèle (06.–12.04.1972): Etre O.s. chez Renault. In: LʼUnité, S. 6–7. Backmann, Michèle (04.02.1972): Immigrés: les soutiers de lʼhéxagone. In: LʼUni- té, S. 20–23. Barrau, Alain (14.04.1983): Discours dʼAlain Barrau. Deuxième conférénce natio- nale jeunesse du Parti socialiste et du Mouvement de la Jeunesse. Bourdeau, Michel (03.1985): Ces étrangers qui font aussi Paris … In: Le Militant de Paris, S. 4–6. Bourdeau, Michel (07.1985): Délégation à l'immigration. In: Le Militant de Paris, S. 16–17. Boutih, Malek; Douhane Facyal; Lamdaoui Faouzi (2008): Égalité, diversité. La diversité et le Parti Socialiste. Contribution thématique. Congrès de Reims. Buffin, Didier (14.04.1972): Les négriers du travail temporaire. In: LʼUnité, S. 20– 22. Combat Socialistes Immigrés (Mai 1978): Supplément de Combat Socialiste. Combat Socialistes Immigrés (Juin 1978): Supplément de Combat Socialiste. Comité directeur (22.03.1986): procès-verbal de la séance (Sitzungsprotokoll), Par- ti Socialiste. Comité directeur (04.07.1987): Procès-verbal de la séance, Parti Socialiste. Comité directeur (02.-03.12.1989): Procès-verbal de la séance, Parti Socialiste. Comité directeur (16.06.1990): Procès-verbal de la séance, Parti Socialiste. Commission aux travailleurs immigrés (1978): Augmenter la participation active des socialistes dans des luttes des immigrés. In: Le Militant de Paris, 05.09.1978, S. 3. Cottin, Christine (02.03.1973): Ceux qui ne peuvent pas voter. In: LʼUnité, S. 13– 14. Délégation aux luttes internationales (1975): Animation des luttes internationales. In: Le Militant de Paris, November 1975, S. 5. Délégation aux travailleurs immigrés (undatiert): Immigration et Europe. Délégation Nationale aux immigrés (1978): Compte-rendu de la 3ème Journée Na- tionale. Problèmes de lʼimmigration. Délégation Nationale aux immigrés (04.04.1979): Brief an Maison des Travail- leurs Immigrés. QUELLEN | 369

Délégation Nationale aux immigrés (05.06.1979): Informations pour la prochaine journée nationale ‚Immigrés‘, 05.06.1979 an Délégués Fédéraux aux immigrés. Délégation Nationale aux immigrés (Octobre 1979): Bilan et perspectives. In: Im- migrés – Supplément de Le Poing et la Rose, S. 5.3. Délégué aux travailleurs immigrés (1977): Immigrés. Controle du controle policier. In: Le Militant de Paris, 20.12.1977, S. 6. Département de lʼAction Sociale (11.04.1996): Commission de travail immigration – intégration, (pro-cès-verbal de la séance). Fabius, Laurent (2005): Motion 2. „Rassembler à gauche“. Congrès de Mans. Farine, Philippe (1983): Notes sur la marche pour lʼégalité et contre le racisme. Fédération de Paris (1973): Statuts. In: Le Miltiant de Paris, 05.10.1973, S. 1–41. Fédération de Paris (1977a): Animation des luttes. Conference fédéral 23. Avril – Bilan du travail sur les associations. In: Le Militant de Paris, 24.03.1977, S. 4. Fédération de Paris (1977b): Animation luttes. Cordination fédérale lutte des travailleurs immigrés. In: Le Militant de Paris, 31.03.1977, S. 2. Fédération de Paris (1979): Composition des instances fédérales élues à lʼocassion du congrès de Metz. In: Le Militant de Paris, 09.05.1979, S. 5. Fédération de Paris (1981): Ergebnisse von Paris für die Nationalversammlung. PS Paris. In den Archivunterlagen herausgetrennte Ergebnisübersichten. Fédération de Paris (1983): Majorité pour Paris. Manifeste Municipale. Pour mieux vivre à Paris pour que Paris vive mieux. Fédération de Paris (1986a): Elargissement élections mars 1986. Fédération Paris. Einzelne ausgefüllte Bewerbungsbögen für die Regionalwahlen 1986. Fédération de Paris (1986b): Questionnaire – Front National. Arbeitsthemen im Zusammenhang der Parlamentswahlen 1986. Fédération de Paris (1989a): Flyer der KandidatenInnenlisten für die Kommunal- wahlen 1989. Fédération Paris. Pro Arrondissement jeweils ein Flyer mit den jeweiligen Kandidaten/Kandidatinnen. Fédération de Paris (1989b): Manifeste Socialiste pour Paris. Fédération de Paris (1990): Organigrame fédération. In: Le Militant de Paris, 05.1990. Fédération de Paris (1991): Liste des candidats socialistes parisiens aux élections régionales 1991 conduite par Pierre Joxe. In: Le Militant de Paris, 06.–07.1991, S. 4. Fédération de Paris (1995): Désignation Municpales 1995 (Liste candidats; resul- tats par section, resultats recapulatifs). Fédération Paris. Verschiedene Materia- lien für die Kommunalwahlen 1995 (Kandidatenliste, Wahlergebnisse, Zei- tungsberichte). Fédération de Paris (1998a): Désignations des instances fédérales de Paris. In: Le Militant de Paris, 12.1997–01.1998. Fédération de Paris (1998b): Régionales 1998. Ordner mit Unterlagen zu den Re- gionalwahlen 1998 (Kandidatenbewerbungen, -listen; Resultate, Flyer etc.).

370 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Fédération de Paris (2000–2001): Paris internationale, ville ouverte sur le monde. Fédération de Paris, P.53. U.a. Anträge zur Reformierung der lokalen Integrati- onspolitik. Fédération de Paris (2001): Élections municipales 2001. Verschiedene Unterlagen (Kandidatenliste, Wahlflyer etc.). Fédération de Paris (2003a): Les cahiers de la Fédération. Synthèse des contributi- ons des militants de la Fédération de Paris. In: Le Militant de Paris, 01.2003, S.32f. Fédération de Paris (2003b): Composition instances fédérales. In: Le Militant de Paris, 08.2003, S. 2–7. Fédération de Paris (2004): Regionales 2004. Fédération Paris. Ordner mit Unter- lagen zu den Regionalwahlen und Senatorenwahlen 2004 (Kandidatenbewer- bungen, -listen; Resultate, Flyer etc.). Fédération de Paris (2005): Congrès de Mans. Rapport d'activité. In: Le Militant de Paris, 11.2005, S. 1. Fédération de Paris (2006): Composition instances fédérales. In: Le Militant de Pa- ris, 04.2006, S. 2–7. Fédération de Paris (2007): Législative 2007. Verschiedene Unterlagen zu den Par- lamentswahlen 2007 (interne Schreiben, Kandidatenlisten, Wahlflyer etc.). Fédération national des élus Socialistes et Républicains (1986): Les élus socialistes s'adressent aux électeurs. 18 lettres types… à diffuser. Ghayet, Ahmed (14.02.1997): Campagne dʼinscription sur les listes électorales. In: LʼHebdo des Socialistes, Rückseite. Gil, Ariane (15.03.2003): Pour un parti de toutes les couleurs. In: LʼHebdo des Socialistes, S. 10. Groupe Parlamentaire de PS (1976): Brief an Jean Le Garrec vom 13.04.1976. Zur Kenntnisnahme für Lionel Jospin. Hazan, Adeline (26.12.1997): Annonciation réunion aux Membres de la Commis- sion Immigration-Intégration. Hollande, François (2003): Pour un grand Parti socialiste. Clarifier, renouveler, rassembler. Contribution générales. L’Hebdo Socialistes, Supplément – Con- grès de Dijon (Cahier 1). 25.01.2003 (260). Hollande, François (2005): Motion 1. Socialistes pour réussir à gauche. Volonté – Vérité – Unité. Hubert, Alain (02.1986): Immigrés. In: Paris Associations-Supplément au Militant de Paris. Jospin, Lionel (1975): Brief an Guy Mauge vom 6. August 1975. Jospin, Lionel (1976): Brief an Sally N'Dongo vom 23. Januar 1976. Jospin, Lionel (1979): Brief an Parti socialiste Val-de-Marne vom 17. Juli 1979. Kandidaten/Kandidatinnen für Kommunalwahlen (1995): Bewerbungsanschreiben von Kandidaten/Kandidatinnen. QUELLEN | 371

La Commission travailleurs immigrés (1977): Immigrés. In: Le Militant de Paris, 08.11.1977, S. 16. Le Foll, Robert (1986): Brief an Premier Secrétaire de la fédération Paris vom 03.02.1986. Le Garrec, Jean (1976a): La commune et les travailleurs immigrés. Un document du P.S. sur l'Immigration. In: Le Poing et La Rose. Le Garrec, Jean (1976b): Brief an M. Franceschi zur Notiz für Lionel Jospin am 13. April 1976. Le Garrec, Jean (06.05.1976): La situation des travailleurs immigrés. In: Le Poing et la Rose, S. 7. LʼHebdo des Socialistes (2010): C’est le moment de mobiliser l’électorat en pro- fondeur, 20.02.2010, Rückseite. Le Militant de Paris (1976): La lutte contre le facisme. Jumelage avec Madrid, 01.1976, S. 1f. Le Poing et la Rose (1979): Extrait du calendrier du Premier Secrétaire, Supp- lément, 10.05.1979 (81), S. 8. Les Socialistes et lʼimmigration (1983). Note sur les échanges dans la campagne des municpales. Mauroy, Pierre (01.12.1989): Priorité à l'intégration. In: Vendredi, S. 3. Morin, Georges (1984): Correspondance et notes sur la situation des Français maghrébins (2 PS 37). N'Dongo, Sally (1976): Brief an Lionel Jospin vom 16. Dezember 1976. Parti socialiste (1971): Statuts. Parti socialiste. Parti socialiste (1973): Congrès de Grenoble. Décision et résolutions. Supplément de Le Poing et la Rose (18). Parti socialiste (1976): Rapport sur Travailleurs Immigrés. Parti socialiste (1979): Je suis un travailleur comme vous Je revendique ma dignité. Le Parti lutte pour les droits des travailleurs immigrés (Wahlplakat). Parti socialiste (1981): Rinascita, Supplèment Combat Socialiste, April 1981, S. 1– 4. Parti socialiste (1985a): Congrès National de Toulouse. 11, 12 et 13 Octobre 1985 (Wortprotokoll). Parti socialiste (1985b): Convention Nationale à Paris. 9 et 10 Novembre 1985 (Wortprokoll). Parti socialiste (1988): Convention nationale extraordinaire – Faire vivre la majo- rité présidentielle dans nos communes. PS Info; Le Poing et la Rose/Special Responsable 19.11.1988 (382). Parti socialiste (1989): Intégration des immigrés. Fraternité chérie (Wahlplakat). Parti socialiste (1993): Réussir sa campagne électorale. Des outils pour la commu- nication. Parti socialiste (1997): Congrès national de Brest. Séance du 22 novembre 1997 (Wortprokoll).

372 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Parti socialiste (2003a): Lutter contre les discriminations politiques au sein du Parti socialiste. Contribution thématiques – Congrès de Dijon (Cahier 2). L’Hebdo des Socialistes, Supplément 25.01.2003 (260). Parti socialiste (2003b): Motion C. Pour un noveau Parti socialiste. L’Hebdo des Socialistes, Supplément, Congrès de Dijon, 22.03.2003 (268). Parti socialiste (2003c): Rapport d'activité. Congrès de Dijon 2003. L’Hebdo Soci- aliste 19.04.2003 (272). Parti socialiste (2005a): Lutte contre les discriminations. Pour un PS à la tête du combat! Contribution thématique – Congrès de Mans. L’Hebdo des Socialistes, Supplément 23.07.2005 (370). Parti socialiste (2005b): Indigènes hier, discriminés aujourdʼhui, citoyens demain? Contribution thématique – Congrès de Mans. L’Hebdo des Socialistes Supp- lément 23.07.2005 (370). Parti socialiste (2010): De la rénovation à lʼinnovation. Parti socialiste (2012a): Statut et règlement intérieur du PS. Parti socialiste (2012b): Une nouvelle génération à l'image de la France. Parité, diversité, renouvellement. Parti socialiste Paris (2012): Rapport dʼactivité fédéral. Spécial Congrès de Toulouse. In: Le Militant de Paris, 10.2012. Pierre, Christian (06.1975): Portugal – An II. In: Le Militant de Paris. Premiers Secrétaire (1985): Rapport statutaires. Congrès de Toulouse 11, 12 et 13 octobre 1985. In: Poing et la Rose, 09.1985(114). Rebsamen, Francois; Le Roux, Bruno; Génisson, Catherine (2003): Constitution des listes ré-gionales. Paris, 27.10.2003 aux Premiers Secrétaires fédéraux. Secrétariat aux rélations extérieures (1977): Rapport dʼactivité. Relations extérieu- res. In: Le Militant de Paris, 27.05.1977, S. 19–20. Secrétariat fédéral (1975): Luttes internationales. Portugal: une délégation du P.S.P. à Paris. In: Le Militant de Paris, 12.1975, S. 6. Secrétariat fédéral (1980): Délégations. In: Le Militant de Paris, 29.09.1980, S. 4. Secrétaire fédéral (1989): Communiqué de Jean Marie Le Guen, 24.02.1989. Secrétariat National (1982): Circulaire N° 956, 17.11.1982 aux Premiers Secrétaire Fédéraux, Membres aux Comités Directeur et aux Parlementaires. Secrétariat National (1988): Circulaire N°1147, 17.11.1988 aux Premiers Se- crétaire Fédéraux, Membres du Comités Directeur et Parlementaires. Secrétariat National (2003): Contribution du secteur Immigration au congrès de Dijon 2003. Secrétariat National aux Questions de Société (02.12.2002): Compte rendu de la table ronde „immigration. Intégration les enjeux dʼune politique de gauche“. Secrétariat International Jean Perraudeau (1981): Gouvernement qui va être mis en place et immigration, 14.05.1981 an Lionel Jospin und Pierre Beregovoy. Secrétariat International Philippe Farine (1983): Marche pour lʼégalité et contre le racisme, 22.11.1983 (Notiz an Lionel Jospin). QUELLEN | 373

Stélio Farandjis (1988): Wahlwerbung. Fédération Paris. Kandidatenwahlwerbung für die Nationalversammlung 1988. Stievenard, Gisèle (1985): Marie Le Pen, 10.12.1985 aux Secrétaires de sections locales et d'en-treprise, membres de la C.E.F. und aux élus. Tranchant, Bruno (02.10.2004): Élections sénatoriales. Bariza, Khiari, un symbole. In: LʼHebdo des Socialistes, S. 11. Vendredi (13.01.1989): Pour réssuir lʼintégration. In: Vendredi, S. 1. Vendredi (27.10.1989): Intégration fait la France. In: Vendredi, S. 1. Vigne, Thèrese (06.1976): Lutte des résidents des foyers Sonacotra. In: Le Militant de Paris, S. 10.

ZEITUNGSARTIKEL

Alberti, Stefan; Wierth, Alke (06.05.2011): Migranten sind Mangelware. In: Ta- geszeitung, S. 21. Alwin, Schröder (2010): Brief zum Fall Sarrazin. Nahles will aufgebrachte SPD- Basis besänftigen. In: Der Spiegel, 03.09.2010: http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/brief-zum-fall-sarrazin-nahles-will-aufgebrachte-spd-basis-be- saenftigen-a-715520.html; letzter Zugriff am 11.10.2014. Bergt, Svenja (28.04.2011): Sarrazin etwas ausgeschlossen. In: Tageszeitung: https://www.taz.de/digitaz/2011/04/28/a0157.archiv/textdruck, letzter Zugriff am 09.02.2015. Bréhier, Thierry (14.06.1988): Paris: retour au chiraquisme. In: Le Monde, S. 14. Dausend, Peter; Lau, Mariam: Interview mit Heinz Buschkowsky und Yasmin Fa- himi. In: Die Zeit, 26.03.2015, S. 4–5. Der Spiegel (1981): Für den 10. Mai droht ein Patt. Spiegel-Umfrage über die poli- tische Situation in Berlin zu Beginn des Wahlkampfes, 30.03.1981 (14), S. 34– 47. Diepes, Volker (1975): Ausländer in deutschen Parteien. SPD, FDP und jetzt auch CDU lassen nichtdeutsche Mitglieder zu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.1975 (174), S. 6. Grunert, Brigitte (08.11.1999): Eines ist sicher: Die neue Fraktion wird ganz an- ders aussehen. In: Tagesspiegel, S. 11. Grunert, Brigitte (16.08.2001): Berlin vor der Wahl. SPD tritt mit Kandidatinnen nicht-deutscher Herkunft an. In: Tagesspiegel. http://www.tagesspiegel.de/ berlin/berlin-vor-der-wahl-spd-tritt-mit-kandidatinnen-nicht-deutscher-herkunft -an/249018.html. Hermann, Rainer (2003): Europakandidat 2003. In: Frankfurter Allgemeine Zei- tung, 17.11.2003, S. 10. Jarreau, Patrick (13.10.1988): Clés politiques. In: Le Monde.

374 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Katenkamp, Silke (17.08.2001): SPD gibt sich multikulturell. Vier Kandidatinnen nichtdeutscher Herkunft bewerben sich fürs Abgeordnetenhaus. Doch nicht alle haben Chancen. In: Tageszeitung, S. 19. Le Figaro (20.06.1995): Les 161 conseillers de la capitale. Le Monde (20.05.1974): La France et le sous-développement. Travailleurs immig- rés: l'égalité des droits un statut particulier? Le Monde (28.05.1974): Le P.S.U.: organiser des assises nationales à gauche. Le Monde (10.05.1979): Au foyer Sonacotra de Chilly-Mazarin (Essonne). Les travailleurs immigrés ne sont pas seuls dans leur combat, déclare M. François Mitterrand. Le Monde (25.04.1990): Selon une enquête de la SOFRES 53% des „Français de gauche“ réclament plus de liberté pour les entreprises. Le Monde (17.10.1995): La composition du secrétariat national. Lohre, Matthias (25.06.2005): Dreikampf in Kreuzberg. In: Die Tageszeitung, S. 25. Medick, Veit (22.04.2011): Parteiausschluss abgeblasen. Sarrazin blamiert die SPD. In: Der Spiegel: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/parteiaus- schluss-abgeblasen-sarrazin-blamiert-die-spd-a-758691.html.; letzter Zugriff am 09.02.2015. Medick, Veit (09.05.2011): SPD: Gabriel drückt Migrantenquote durch. In: Der Spiegel: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-gabriel-drueckt-migran- tenquote-durch-a-761572.html; letzter Zugriff am 09.02.2015. Mishra, Robin (1994): Wanderer zwischen den Welten. Die Bewerber wollen Er- fahrungen aus ihren Heimatländer in die Politik einbringen. In: Süddeutsche Zeitung, 09.06.1994, S. 10. Nirumand, Baham (1994): Die Ochsentour nach oben. Ahmet Iyidirli, Bundesvor- sitzender der Volksvereine türkischer Sozialdemokraten (HDF), über die Brü- ckenfunktion der HDF. In: Tageszeitung, 17.09.1994, S. 31. Nowakowski, Gerd (27.10.2012): Berlins Integrationsbeauftragte Dilek Kolat. Auf dem Weg nach oben. In: Tagesspiegel: http://www.tagesspiegel.de/berlin/ landespolitik/berlins-integrationsbeauftragte-dilek-kolat-auf-dem-weg-nach- oben/7309748.html; letzter Zugriff am 15.05.2015. Reimann, Anna (26.04.2011): Jüdischer Genosse verlässt aus Protest die SPD. In: Der Spiegel: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sarrazin-juedischer- genossse-verlaesst-aus-protest-die-spd-a-758942.html; letzter Zugriff am 09.02.2015. Sauter, Philippe (10.04.2007): „Lʼimportant, cʼest de travailler pour mes valeurs“. In: Le Parisien. Schneider, Christian (1974): Angst vor einem griechischen Flügel. Der Versuch von Gastarbeitern. In großer Zahl einem Ortsverein beizutreten, um einen Par- teibeschluss zu revidieren, verwirrt die SPD. In: Süddeutsche Zeitung, 30.08.1974, S. 3. QUELLEN | 375

Der Spiegel (1973): Jede Person. Jusos wollen Gastarbeiter für die SPD werben- als Gegengewicht zu den rechten SPD-Betriebsgruppen. In: Spiegel 1973, 16.07.1973, S. 36. Der Spiegel (1987): Personalien. Paolo Lavista. In: Spiegel, 30.03.1987 (14), S. 270. Der Tagesspiegel (12.01.1999): „Zukunftskreis“ in der CDU. Konkurrenz für „Union 2000“, S. 11. Der Tagesspiegel (31.08.2001): Die SPD will dynamisch sein. Junge Kandidaten vorgestellt, S. 10. Tageszeitung (17.01.1991): Momper läßt „multikulturell“ streichen, S. 22. Tageszeitung (28.07.2001): Demirbüken soll Steffel beraten, S. 22. Tageszeitung (14.09.2009): Sarrazin bleibt in der SPD.: https://www.taz.de/digitaz/ 2009/12/14/a0121.archiv/textdruck; letzter Zugriff am 24.02.2013. Tageszeitung (16.05.2012): Quote für die SPD. In der SPD wird eine Migranten- quote für den neuen Landesvorstand gefordert, S. 23. Thomsen, Jan; Rennefanz, Sabine (02.09.2010): Fremdsein kann man überwinden. In: Berliner Zeitung: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/wichtig-oder- unnuetz--mittes-buergermeister-hanke-und-der-integrationsbeauftragte- piening-streiten-ueber-das-geplante-integrationsgesetz--fremdsein-kann-man- ueberwinden-,10810590,10739980.html.; letzter Zugriff am 24.05.2013. Winden, Dorothee (01.08.1997): SPD-Migranten machen Druck. Die Arbeitsgrup- pe „Deutsch Plus“ fordert eine stärkere Beteiligung von Migranten. In: Tages- zeitung, S. 18.

INTERVIEWPARTNER_INNEN UND TEILNEHMENDE BEOBACHTUNGEN

Aus Anonymisierungsgründen werden die interviewten Personen nicht namentlich aufgelistet. Es wurden für die SPD insgesamt 11 Personen von Oktober 2010 bis Juni 2013 befragt. Darüber hinaus habe ich zehn teilnehmende Beobachtungen von September 2010 bis Januar 2011 durchgeführt. Für die PS wurden insgesamt 13 Personen von Oktober 2011 bis Dezember 2013 befragt.

Experteninterviews Wissenschaftler_innen (November 2009, Paris und Lyon)

Angéline Escafré-Dublet Romain Garbaye Camille Hamidi Riva Kastoryano

376 | PARTEIEN UND MIGRANTEN

Frédéric Sawicki (09. Dezember 2011 in Paris). El Yamine Soum Vincent Tiberj Catherine Wihtol de Wenden

Sonstige Experteninterviews

Riza Baran (Bündnis90/ Die Grünen – Kreuzberg), am 10.03.2011 in Berlin. Stephan Lanz (Wissenschaftler), am 01.12.2010 in Berlin.

Politikwissenschaft

Torben Lütjen Partei der Extreme: Die Republikaner Über die Implosion des amerikanischen Konservativismus

Oktober 2016, 148 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3609-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3609-7 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3609-3

Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter Pegida Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?

2015, 208 S., kart., farb. Abb., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3192-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3192-4 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3192-0

Alexander Schellinger, Philipp Steinberg (Hg.) Die Zukunft der Eurozone Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten

Oktober 2016, 222 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3636-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3636-3 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3636-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de Politikwissenschaft

Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig (Hg.) PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick

September 2016, 384 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3658-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3658-5 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3658-1

Stine Marg, Katharina Trittel, Christopher Schmitz, Julia Kopp, Franz Walter NoPegida Die helle Seite der Zivilgesellschaft?

März 2016, 168 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3506-5 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3506-9 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3506-5

Dieter Hoff mann-Axthelm Lokaldemokratie und Europäisches Haus Roadmap für eine geöffnete Republik

Oktober 2016, 114 S., kart., 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3642-0 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3642-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de