B 215 75 F zur debatte 6/2010 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

6 12 28 41 Botschafter a. D. Dr. Herbert Honso- Erzbischof Piero Marini schildert die Die Freundschaft von Goethe und Prof. Dr. Ludwig Huber schreibt über witz gibt Hintergrundinformationen Aktualität und Bedeutung der Eucharis- Schiller ist das Thema von Prof. Dr. Kognition und Moral bei Tieren und zum iranischen Atomprogramm tischen Bewegung Rüdiger Safranski Menschen 8 26 31 46 Die Verbindung von persischer Litera- Rabbiner Tom Kućera legt dar, wie der Von großen Frauenfreundschaften weiß Das Werk des Malers Arnulf Rainer tur und iranischer Gesellschaft erklärt Beginn des Lebens im Judentum defi- Dr. Sabine Eickenrodt zu berichten analysiert Prof. Dr. Reinhold Baumstark Dr. Roxane Haag-Higuchi niert wird

„Länder-Revue“ : 31 Jahre Islamische Revolution – Iran vom Gottesstaat zur „Militärdiktatur“ ? Peter Mezger Zur aktuellen Situation in einem Land im Wandel I.

Es war kurz nach 9.00 Uhr am 01. Feb.1979, als die Air-France Sonder- maschine über Teheran auftauchte. An Bord Ajatollah Ruhollah Chomeini, der nach 15-jährigem Exil in seine Heimat zurückkehrte. Als Reporter für die ARD kam ich nach 4 Stunden Fußmarsch ge- rade noch rechtzeitig vom Hotel zum Flughafen in Teheran. Die Stadt war KNA-Bild lahmgelegt. Millionen säumten die Plät- ze und Zufahrtsstraßen zum Flughafen, um einen Blick auf den Revolutionsfüh- rer werfen zu können, der es geschafft hatte, den Schah, den einst mächtigsten Herrscher des Orients, zu entthronen. Nicht nur ich, alle spürten den Hauch eines historischen Moments. Es kamen nicht nur gläubige Untertanen, um ihrem greisen Helden zuzujubeln: Schahgegner, Bürger aller Klassen, Jun- ge und Alte – alle erwarteten von dem Foto: dpa Mann, dem sie bereits den Ehrentitel Weltweit protestierten Menschen gegen Ahmadinedschad brutal niederschlagen „Imam“ gegeben hatten, einen Aufbruch Peter Mezger, langjähriger ARD-Korres- das Verhalten des iranischen Regimes, ließ. Diese Menschen versammelten sich in eine neue, eine bessere Zeit. Auf dem pondent in Teheran, München das Proteste gegen die Manipulation im Juni 2009 in Washington. Weg vom Flughafen zum Friedhof Be- bei der Wiederwahl von Präsident heschte – Sahra, wo er als Erstes die To- ten der bisherigen Kämpfe ehren wollte, riefen ihm alle zu: „Allahu – akbar, Der Iran liefert zurzeit nur negative religiösen und auch kulturellen Situa- Chomeini ist unser Führer” und und vor allem die breite Mittelschicht Schlagzeilen: Scharfe Kritik gibt es am tion des Landes. Landeskundige Ex- „Chomeini, du bist meine Seele“. Der im Iran beruhigen. Zwei Wochen lang Atomprogramm; die Verletzung der perten lieferten bei der Tagung mit Imam eroberte Irans Hauptstadt im Tri- war Teheran Wallfahrtsort. Der Revolu- Menschenrechte und eine aggressive dem Titel „Iran. Zur aktuellen Situa- umphzug. tionsführer sprach nicht viel, mit seinem Anti-Israel-Polemik sind weitere tion in einem Land im Wandel“ wich- Nicht nur ich, auch die meisten ande- langen, weißen Bart wirkte er wie ent- Punkte, die fast überall auf der Welt tige Hintergrundinformationen, die ren Journalisten vor Ort waren überwäl- rückt. Trotzdem oder vielleicht deshalb, scharfe Reaktionen auslösen. In ihrer helfen können, die aktuellen Nach- tigt von der Strahlkraft dieses alten jubelten ihm die Massen unaufhörlich Reihe „Länder-Revue“ befasste sich richten besser einzuordnen. „zur Mannes. Wer ahnte schon, was der Re- zu. Frauen brachen verzückt in Tränen die Akademie am 18. September 2010 debatte“ bringt die überarbeiteten volutionsführer wirklich vorhatte. Im aus, Männer riefen: „Wir sind alle deine mit der politischen, ideologischen, Referate. Exil sprach er viel von Demokratie. Da- Soldaten, Chomeini, nur dir gehorchen mit wollte und konnte er das Ausland wir.“ Ich stand oft mittendrin und wusste nicht, wie ich das einordnen sollte: Ver- III. Endlich einer, der sich traut, das zu rückt, orientalisch oder glücklich. sagen, was er denkt. Die anderen Herr- Mit der Bedrohung von außen innere scher und Konkurrenten Ahmadined- II. Stabilität zu gewinnen, diese über le- schads im Mittleren Osten allerdings Editorial bens notwendige Devise des Regimes wurden immer nervöser, fühlen sich Als der wie ein Heiliger Verehrte kam gerade noch zur rechten Zeit, als von einem immer mächtiger werdenden Liebe Leserinnen und Leser! dann nach Ghom umzog, in die heilige im Sommer 1980 Saddam Hussein, auf- Iran bedroht. Der Machtkampf dreht Stadt, wo er vor seinem Exil als islami- gerüstet von den USA, den Iran angriff. sich um die Vorherrschaft in der Region In der Astrophysik spricht man scher Gelehrter wirkte, wurde Chomeini Es folgte ein 8-jähriger Krieg mit Hun- und da ist der Iran kräftig im Vor- vom „kosmischen Hintergrundrau- deutlicher. Die „Islamische Republik“ derttausenden Toten, darunter zehntau- marsch. Vor allem dank des Fiaskos der schen“, bzw. der „kosmischen Hin- nahm rigorose Formen an. Ihr oberstes sende Kinder, die auf iranischer Seite Amerikaner im Irak und Irans großem tergrundstrahlung“, und meint damit Prinzip: Die „Welajat – e Fakih“, die als Minenauslöser an vorderster Front Einfluss auf die schiitische Mehrheit elektromagnetische Signale, die als „Herrschaft des führenden Rechtsgelehr- eingesetzt worden waren. dieses Nachbarlandes. Ergebnisse des berühmten „Ur- ten“. Eine einmalige Konstruktion, ganz Der Krieg endete mit einem Patt knalls“ den physikalischen Hinweis zugeschnitten auf Chomeini, dessen und hinterließ ein ausgeblutetes Land, IV. darauf geben, wie einmal alles ent- Autorität und Charisma keine Kritik an das keine Kraft mehr hatte, sich mit standen ist. seiner Machtfülle zuließ. Staatsgründer dem Regime auseinander zu setzen. Als Überlagert wird Irans Streben nach Chomeini steht über allem: dem Parla- Chomeini ein Jahr nach Kriegsende der Führungsrolle in der Region von der Mir scheint, nicht die schlechtes- ment, der Justiz, den Streitkräften, den starb, traten zwei Männer sein Erbe an: Nuklearfrage. Irans undurchsichtige ten unserer Akademieveranstaltun- Medien. Er ist außer Gott niemandem Ali Chameni wurde Revolutionsführer, Atompolitik ist nicht nur für seine gen seien jene, die einen „Knall“ Rechenschaft schuldig. Als ich ihn da- also der eigentliche Nachfolger Chomei- Nachbarn besorgniserregend, sie ist von nicht nur direkt reflektieren, so wich- mals in Ghom während eines Interviews nis und Haschemi Rafsandschani Präsi- globaler Bedeutung. Für Ahmadined- tig das bleibt, sondern das „Hinter- fragte, wie das denn mit seinen früheren dent. Beide gingen davon aus, die Num- schad, den Provokateur, war die Atom- grundrauschen“ verdeutlichen, viel- Reden von Demokratie zusammenpasse, mer 1 zu sein. Der eine formal, der an- politik von Anfang an DIE willkommene leicht überhaupt erst spürbar ma- sagt er mir kurz und unbewegt: „Demo- dere faktisch. Der eine ultrakonservativ, Gelegenheit, um international Aufmerk- chen, das verstehen hilft, warum kratie ist westlich, und wir lehnen west- der andere plädierte für größere persön- samkeit erregen zu können. Er be- überhaupt etwas so ist, wie es ist. liche Systeme ab. Das Volk will eine Is- liche Freiheiten, die er jedoch nicht schleunigte die Urananreicherung in be- lamische Republik, keine Demokratie, durchsetzen konnte oder wollte. Dass kannten und geheimen unterirdischen Diesen Eindruck hatte ich z.B. bei wie ihr euch das vorstellt. Wir werden sie das Volk längst nicht mehr hinter Anlagen. Die Kontrolleure der Interna- unserer Tagung über den Iran. Des- uns nicht darum kümmern, ob das dem sich hatten, zeigte sich bei der Präsi- tionalen Atomenergiebehörde in Wien sen umstrittenes Nuklearprogramm Westen passt oder nicht. Hier im Iran, dentschaftswahl 1997. wurden immer vor vollendete Tatsachen oder die Situation der religiösen muss sich alles am Islam orientieren.“ Nicht ihr Kandidat, sondern der Re- gestellt, wurden getäuscht. Zugegeben Minderheiten sind wohl nur richtig So kam es dann auch. Aus der „Isla- former Mohammed Chatami siegte hat der Iran nur das, was nicht mehr zu zu verstehen, wenn man eine Ah- mischen Republik“ wurde ein „Gottes- haushoch. Doch dem sensationellen Er- verheimlichen war. nung bekommt vom „Hintergrund- staat“. Bewaffnete Hezbollahis, Partei- gebnis folgte nicht das, was die Wähler Das iranische Regime hat sich nach rauschen“ der islamischen Revolu- gänger Gottes, wurden auf alle losgelas- erhofft hatten: Weder eine politische Li- diesem Verwirrspiel dem Verdacht aus- tion während der vergangenen 31 sen, die sich nicht den moralischen Vor- beralisierung, noch eine wirkliche Öff- gesetzt, dass es letztlich die Atombombe Jahre. stellungen der Islamisten fügten. Nicht nung des Landes nach Westen. Von bauen möchte. Irans Argument, dass es korrekt islamisch gekleidete Frauen, konservativen Hardlinern beherrschte nur um die friedliche Nutzung der Ein ganz anderes „Hintergrund- Journalisten, Verleger – alle Oppositio- Institutionen, wie Sicherheitsapparat, Kernenergie gehe und schon Revolu- rauschen“ wurde hörbar, als es um nelle oder Andersdenkende wurden Justiz, der allmächtige sog. Wächterrat tionsführer Chomeini die Nuklearwaffe den Eucharistischen Weltkongress verfolgt, verhaftet, gefoltert, viele zum oder der Revolutionsführer selbst, für unislamisch erklärt habe, dies wirkte in München vor 50 Jahren ging. Vie- Tode verurteilt. stoppten alle Reformprojekte, die ihre und wirkt immer noch unglaubwürdig, le (ich auch, junger Ministrant, der Widerstand formierte sich. Die erste Macht hätten begrenzen können. wenn man bedenkt, mit welcher Inten- ich war!) erinnern sich noch inten- größere Krise konnte das islamische Re- sität der Iran immer neue Trägerraketen siv. Damals brach sich ein liturgi- gime mit einer zweiten Revolution über- entwickelt und nach der Meinung der sches, eucharistisches Verständnis winden: Zum selben Zeitpunkt als ge- Er leugnet den Holocaust, meisten Experten in etwa einem Jahr in Bahn, das zwei Jahre später in das mäßigte Kräfte der iranischen Regie- der Lage ist, die Atombombe zu bauen. rung mit Vertretern der USA Kontakt er spricht Israel das Exis- Dass das iranische Regime die Option Konzil mündete und die Form unse- aufzunehmen versuchten, um die Bezie- tenzrecht ab, prophezeit das Atombombe zumindest offenhält, daran rer Gottesdienste bis heute prägt. hungen zu reparieren, stürmten soge- gibt es wenig Zweifel. Am wenigsten bei Auch die unterschiedlichen Ant- nannte revolutionäre Studenten am Ende des jüdischen Staates. den Nachbarn in der für die Energiever- worten von Religionen auf die Fra- 4. November1979, nur 9 Monate nach Um dies zu beschleunigen, sorgung der Welt so wichtigen Region ge, wann denn personales Leben be- Chomeinis Rückkehr aus dem Exil, die finanziert er die Hizbollah am Persischen Golf. ginne, sind nur richtig einzuordnen, amerikanische Botschaft in Teheran. Saudi–Arabien reagiert jetzt mit wenn auf philosophisch-theologi- Unberechenbarkeit gehörte von Anfang im Libanon und die Hamas einem gigantischen Aufrüstungspro- sche Grundoptionen geachtet wird, an zur Islamischen Revolution. 444 in Gaza. gramm, um Irans Vormacht einzudäm- die immer mitschwingen. Ähnlich Tage lang wurden die US-Botschaftsan- men. Für 60 Milliarden Dollar will das wohl im Gespräch zwischen Natur- gehörigen als Geiseln festgehalten. Die- Königreich von den USA moderne ser Bruch des Völkerrechts wurde ganz Nach acht Jahren Chatami und sei- Kampfjets, Kriegsschiffe und Raketen- und Geisteswissenschaften, was bewusst in Kauf genommen. nen mehr oder weniger gescheiterten abwehrsysteme kaufen. Wie bedroht denn bei all den neuen Erkenntnis- Revolutionsführer Chomeini stellte Reformen wollten die wahren Machtha- muss man sich fühlen, um so aufzurüs - sen noch den Menschen vom Tier sich uneingeschränkt hinter die Geisel- ber und vor allem der Revolutionsführer, ten. Das iranische Atomprogramm trenne, oder bei jenen sozialethi- nehmer. Für ihn kam die Kampfansage sich auf kein Experiment mehr einlas- scheint unaufhaltsam zu sein. Jedenfalls schen Problemen, die unsere Gesell- an die USA genau zur rechten Zeit. Er sen. Sie organisierten 2005 die Wahl ei- hatten alle UN-Resolutionen, mit denen schaft umtreiben. konnte damit von eigenen Problemen nes 100% Getreuen. Mahmud Ahmadi- Iran zum Stopp aufgefordert wurde, Wenn sich schließlich Arnulf Rai- ablenken und sein Regime mit Bedro- nedschad gewann dank dieser massiven keinen Erfolg. Eher beschleunigte und ner seit Jahrzehnten mit Übermalun- hungsszenarien mobilisieren. Dies ist Unterstützung haushoch. Kaum im Amt, forciert der Iran seine Urananreiche- gen beschäftigt, dann könnten diese ein immer wieder kehrender Schachzug machte er sich, durchdrungen von Sen- rung nach dem Motto: „Jetzt erst recht im internen Machtpoker. Der soge- dungsbewusstsein, daran, die Islamische und wenn es sein muss, gerne auch ge- Schleier vor den vielleicht allzu di- nannte Kampf gegen den Imperialismus Republik sozusagen in den Endkampf gen den Rest der Welt“. rekten bildlichen Aussagen auch richtete sich nicht nur gegen die USA, mit dem Satan USA, stellvertretend für Auf die vom UN-Sicherheitsrat be- eine Hilfe sein, für die Strahlung, sondern gegen den Westen insgesamt. die westliche Welt, zu führen. Mit seiner schlossenen Strafsanktionen hat Präsi- das Rauschen im Hintergrund der Die ehemalige US-Botschaft in Teheran radikalen Sprache provozierte er bei je- dent Ahmadinedschad meist nur mit Bilder empfänglich zu werden. ist heute eine Kaserne der Pasdaran, der der sich bietenden Gelegenheit. Hohn und Spot reagiert. Er konnte das Bettina von Arnim hatte von der Revolutionswächter. Die meisten Stu- Er leugnet den Holocaust, er spricht vor allem deshalb, weil China und Russ- „Fundamentaltreue“ der Freund- denten von damals sind längst bei den Israel das Existenzrecht ab, prophezeit land als Vetomächte im Sicherheitsrat schaft gesprochen und damit auf Reformern gelandet. das Ende des jüdischen Staates. Um immer dafür gesorgt haben, dass die eine sich durchhaltende Grundent- Mit ihrer Botschaftsbesetzung haben dies zu beschleunigen, finanziert er die Sanktionen dem Iran nicht allzu weh scheidung zweier Menschen gezielt, sie, das sagen einige ganz offen, letztlich Hizbollah im Libanon und die Hamas tun. Dafür werden sie vom Iran mit ge- nur den konservativen Hardlinern einen in Gaza. waltigen Aufträgen belohnt; was der deren hintergründiges Mitrauschen Gefallen getan. Jenen, die ihnen heute Er sieht sich als eine Art Robin Westen nicht mehr liefert, damit verdie- der Basso Continuo echter Freund- als mächtige Gegner gegenüberstehen. Hood, der der ganzen Region zeigt, wie nen jetzt Chinesen und Russen ihr Geld. schaft bildet. Erfahrungen solcher Jenen, die einige der damaligen Bot- man dem Westen die Stirn bieten muss, Die Iraner haben gelernt, mit Eng- oder ähnlicher Fundamentaltreue schafts besetzer wegen ihrer unabhängi- der seiner Meinung nach nur imperialis - pässen umzugehen. Proteste gegen die wünsche auch ich Ihnen von Her- gen Meinung ins Gefängnis geworfen tische Interessen habe und den Iran am Atompolitik und ihre wirtschaftlichen zen! haben. Präsident Ahmadinedschad soll Fortschritt hindern wolle. Jeder Kom- Folgen gab es nicht. Blinder Patriotis- damals als Student auch zum Kreis der promiss mit dem Westen ist für ihn mus ließ keinen Widerspruch zu, ob- Ihr Botschaftsbesetzer gehört haben. Aller- nichts anderes als Selbstaufgabe. Ahma- wohl viele Iraner klar erkannt haben, dings habe er dazu geraten, nicht die dinedschad aggressive Außenpolitik dass Investitionen in die Infrastruktur ame rikanische, sondern die russische gegenüber den USA und Israel ist in des Landes oder in sichere Stromnetze Botschaft zu stürmen. Nach Meinung den Ländern der Region, zumindest sinnvoller wären. Das könnte sich jetzt seiner Gegner zeigt dies, wie unbere- von einem Großteil deren Bevölkerung, allerdings ändern. Die USA und die Dr. Florian Schuller chenbar Ahmadinedschad schon immer mit sicherlich stiller Bewunderung EU haben vor kurzem zusätzliche war. aufgenommen worden. Sanktionen beschlossen und diese

2 zur debatte 6/2010 auf der Straße mit Rufen wie „Tod dem Diktator Chamenei“ verunglimpft wird. Von den 20 Großajatollas sind nur Themen „zur debatte“ noch zwei der Meinung, dass man 31 Jahre nach der Revolution noch einen Editorial 2 Revolutionsführer braucht. Sie sind mit Iran. Zur aktuellen Situation in einem ihrer großen moralischen Autorität ge- Land im Wandel gen das, zur Person Chomeinis viel- Iran: 31 Jahre Islamische Revolution – leicht noch passende, Staatsprinzip mit vom Gottesstaat zur „Militärdiktatur“ ? einem allmächtigen, gottähnlichen Reli- Peter Mezger 1 gionsführer. So schnell wird sich den- Grundlinien iranischer Außenpolitik: noch nichts ändern. Chamenei wird mit zwischen Ideologie und Pragmatismus seiner „Teile- und Herrsche-Politik“, die Walter Posch 4 vielen Gegensätze unter den Machtzen- tren: Präsident, Parlament oder Wäch- Iranisches Nuklearprogramm und internationale Reaktionen terrat, ausnutzen können. Herbert Honsowitz 6 Er muss Rücksicht nehmen, auch auf die Revolutionswächter, deren oberster Persische Literatur heute und Befehlshaber er zwar ist, die jedoch die iranische Gesellschaft Roxane Haag-Higuchi 8 beim weiteren Ausbau ihres militärisch- industriellen Komplexes mehr auf die Islamischer Staat und religiöse Minder- Unterstützung ihres ehemaligen Mit- heiten – das Beispiel der christlichen Minderheiten glieds Ahmadinedschad hoffen können. Harald Suermann 10 Foto: dpa Vieles bleibt unberechenbar. Die Ver- Präsident Ahmadinedschad vor den suche Ahmadinedschads etwa, seinem Der Eucharistische Weltkongress in Porträts des verstorbenen Revolutions- Revolutionsführer ab und zu die Stirn München vor 50 Jahren. führers Chomeini und des Obersten zu bieten. Sei es bei der Ernennung von Die internationalen Eucharistischen Geist lichen Führers Ayatollah Khame- Ministern, oder wie gerade, bei der Ent- Kongresse von Lille (1881) nei. scheidung, eine US-Geisel früher freizu- bis München (1960). lassen, als der Religiöse Führer es für Erneuerung und Aktualität Erzbischof Piero Marini 12 bislang härtesten Strafmaßnahmen schützen sie das Regime vor dem Volk. richtig hielt. Der einstige Zögling zeigt kann Präsident Ahmadinedschad nicht Ihre gefährlichste Waffe sind die ge- sich störrisch. Spannungen zwischen Aspekte aus der Befreiungstheologie mehr als „lästige Schmeißfliegen“, wie fürchteten Basidsch-Milizen. Eine Trup- den beiden sind unübersehbar. Was sie Hermann Schalück 16 er sagte, abtun. Es geht unter anderem pe von jungen Freiwilligen, die, wenn es dennoch letztlich dazu bringen wird, „Es heilt die Wunden der ganzen um die Einfuhr von Benzin. Der Iran sein muss, in Millionenstärke zur Verfü- zusammenzuhalten, das ist ihre gemein- Schöpfung“. Ökologische Zugänge muss 40 % seines Benzins importieren, gung stehen. same Angst vor der Straße. zur Eucharistie da er nicht über genügend eigene Raffi- Gotthard Fuchs 18 neriekapazitäten verfügt. Sollte das VI. VII. Wann beginnt personales Leben? Benzin im Iran, einem Land mit riesi- Perspektiven der Weltreligionen gen Erdölvorkommen, knapp werden, Nach der brutalen Niederschlagung Angst ist ein Eckpfeiler des Regimes. Eine katholisch-theologische Sicht und das wird sich in den nächsten Wo- der Proteste gegen den vermuteten Drei Tage nach der umstrittenen Wahl Konrad Hilpert 20 chen, wenn die Vorräte aufgebraucht Wahlbetrug im letzten Jahr, ist im Iran im letzten Jahr hatte ich ein eindrucks- Wann beginnt personales Leben? sind, zeigen, dann müsste der Benzin- nichts mehr so wie es war. Die Gesell- volles Déja-vu-Erlebnis. Ich stand in Eine Einführung preis steigen. Für einen Liter Benzin schaft ändert sich am Regime vorbei. Teheran unter Millionen friedlich de- Wilhelm Vossenkuhl 21 zahlen die Iraner umgerechnet 8 Cent, Immer mehr führende Kleriker haben monstrierenden Menschen, die nur rie- Eine Annäherung aus der Sicht weniger als für Wasser. Für die Iraner sich vom Regime demonstrativ losge- fen: „Wo sind unsere Stimmen geblie- eines Orthodoxen Theologen ist billiges Benzin wie eine heilige Kuh. sagt, wollen nichts mehr zu tun haben ben?“ Es war die größte Demonstration Athanasios Vletsis 22 Jede Preiserhöhung ist bislang nach grö- mit Herrschenden, die aus der „Islami- seit Beginn der Islamischen Revolution. Eine protestantische Perspektive ßeren Protesten wieder vertagt worden. schen Republik“ eine Diktatur gemacht- Es sind dieselbe Straßen und Plätze wie Klaus Tanner 24 haben. „Diktatur, Militärputsch, Staats- vor 30 Jahren. Für mich herrschte eine V. streich“: das sind Begriffe, die ich oft ge- Stimmung wie damals, als der Schah Die jüdische Sicht hört habe in Teheran als aktuelle Zu- mit solchen Protesten gestürzt wurde. Tom Ku´cera 26 Da mit einem Einlenken des Regimes standsbeschreibung von Chomeinis Re- Damals und heute war auch Zahra Die sunnitisch-islamische Sicht im Atomstreit, um die Sanktionen wie- publik. Der Lack ist ab. Präsident Ah- Rahnavard auf der Straße in Teheran. Thomas Eich 27 der loszuwerden, überhaupt nicht zu madinedschad kann sich praktisch nur Die Frau des Oppositionsführers Mus- Freundschaft – Band fürs Leben rechnen ist, könnte der Benzinpreis sawi hat vor 31 Jahren für Revolutions- Freundschaft großer Geister. wieder eine Welle des Protests entfa- führer Chomeini gekämpft. Sie war un- Am Beispiel von Goethe und Schiller chen. Das Regime steht unter Druck. Auf die Frage, wer die ter den Millionen iranischer Frauen, die Rüdiger Safranski 28 Und wie immer in solchen Situationen für seine Revolution an vorderster Front Macht hat im Iran, gibt es „Unsere Fundamentaltreue“ hofft es, mit Hilfe der Revolutionswäch- marschierten und demonstrierten. (Bettina von Arnim). Romantische ter die Lage in den Griff zu bekommen. selten eine eindeutige Ant- Leider, meint sie heute, hätten die Muster der Frauenfreundschaft Es hofft, jede Art von Protest, wie nach Frauen es damals versäumt, den Herren Sabine Eickenrodt 31 der umstrittenen Wiederwahl Ahmadi- wort. Klar ist nur, dass der und Profiteuren der Revolution klar zu Freundschaft – Freundsein, was ist das? nedschads im letzten Jahr, brutal Geistliche Führer nach der machen, dass endlich Schluss sein müs- Antworten auf eine aristotelische Frage niederschlagen zu können. Die Pasda- se, mit der Diskriminierung der Frauen Klaus-Dieter Eichler 33 ran, Irans Revolutionswächter, sind die Verfassung das letzte Wort im Iran. „Die Frauen sind um eine echte wahren Machthaber im Gottesstaat. Beteiligung an der Macht betrogen wor- Von der Freundschaft zur Liebe. hat. Der spirituelle Weg in den Exerzitien Zwar nur 125.000 Mann stark, haben den“, beklagt sie. Bei den großen De- des Ignatius von Loyola sie alles im Griff. Wirtschaft, Militär, monstrationen gegen Wahlbetrug im Michael Bordt SJ 36 Gesellschaft und Politik, sie lassen Stra- noch auf die Unterstützung der immer vergangenen Jahr waren es wieder die Wie gelingt und woran scheitert ßen bauen und betreiben alle Flughäfen stärker werdenden Revolutionswächter Frauen, die überall in den iranischen Freundschaft? des Landes. Mindestens 100 der 290 und Basidsch-Milizen verlassen. Vor ei- Städten in den ersten Reihen präsent Herbert Will 37 Abgeordneten im iranischen Parlament ner „drohenden Militärdiktatur“ warnte waren. Sie haben damit zwar keine sind ehemalige Revolutionswächter. In Amerikas Außenministerin Hillary Clin- Wiederholung der umstrittenen Wahl Sind „Kontakte“ im Web 2.0 die neuen Freundschaften? Medienwissen- der Regierung stellen sie 13 von 21 Mi- ton schon vor einem halben Jahr. Die erreicht. Doch immerhin konnten sie schaftliche Perspektiven nistern, sowie fast alle der 30 Provinz- Sorge ist sicher gerechtfertigt. ein unübersehbares Zeichen setzen: Alexander Filipoviˇc38 gouverneure. Vorerst jedoch würde ich den Begriff Wir geben nicht auf! Die Pasdaran haben ihren eigenen „Militärdiktatur“ mit einem Fragezei- Drei Wochen Wahlkampf, auch wenn Sozialethik als Bildungsthema Geheimdienst, der, wie ich selbst erlebt chen versehen. Zu kompliziert sind die es schon über ein Jahr her ist, haben Eine Offensive angesichts der habe, vor nichts zurückschreckt. Mit Machtstrukturen, zumindest zurzeit Spuren hinterlassen, bei den Herrschen- Umbrüche des Sozialstaats Schlagstöcken und Elektroschockgerä- noch. Auf die Frage, wer die Macht hat den und bei den Frauen. Der ausschlag- Markus Vogt 39 ten bewaffnet, drängten vier martialisch im Iran, gibt es selten eine eindeutige gebende Impuls dafür kam von Zahra Was trennt den Menschen gekleidete Agenten in mein ARD-Büro Antwort. Klar ist nur, dass der Geist- Rahnavard, einer kleinen, zierlichen in- noch vom Tier? in Teheran. Sie suchten nach unseren liche Führer nach der Verfassung das tellektuellen Professorin für Kunst und Kognition und Moral bei menschlichen Informationsquellen. Nachdem sie letzte Wort hat. Der Nachfolger von Re- Politik. Sie brachte das Regime, für eine und nicht-menschlichen Tieren: homo- nichts finden konnten, nahmen sie zwei volutionsführer Chomeini galt manchen kurze Zeit zumindest, zum Schweigen. loge und analoge Gemeinsamkeiten meiner iranischen Kollegen mit zum als Stellvertreter Gottes auf Erden. Seit Allein durch die Kraft ihrer Worte: „Wir Ludwig Huber 41 Verhör. Nach zehn Stunden mit verbun- seiner vorschnellen Bestätigung der um- haben die Nase voll von der Diktatur“ Das „animal religiosum“ und denen Augen und einer Elektroschock- strittenen Wiederwahl seines Zöglings oder: „Die Sittenpolizei kontrolliert die sein Schöpfer tortur wurden sie wieder freigelassen. Ahmadinedschad ist seine politische Kleidung der Frauen auf dreckigste Art Christian Tapp 44 Die Pasdaran sind zu einer kaum mehr und religiöse Autorität jedoch ge- und Weise“. Arnulf Rainer zu kontrollierenden Macht geworden. schwächt. Sie selbst, die Gattin des Oppositions- Zum Werk von Arnulf Rainer Von Staatsgründer Chomeini einst ins Vor eineinhalb Jahren noch wäre es führers, trägt seit Jahrzehnten einen Reinhold Baumstark 46 Leben gerufen, um die Islamische Revo- beinahe undenkbar gewesen, dass der Tschador, den traditionellen, langen und Presse 11/35 lution vor ihren Feinden zu schützen, Religiöse Führer von Demonstranten schwarzen Umhang. Allerdings freiwillig

6/2010 zur debatte 3 und, als besondere Note, immer mit Um Zahra Rahnavard und ihren Ehe- einem blumenbestickten Kopftuch. In mann Mir Hossein Mussawi ist es ruhig Grundlinien iranischer Außenpolitik: einem ihrer Bücher preist sie die Schön- geworden. Sie trauen sich beide kaum heit des Tschadors in langen und höchs- noch öffentlich aufzutreten. Zuletzt wur- zwischen Ideologie und Pragmatismus ten Tönen. Diese Lobeshymne drängt sie den sie immer wieder von aufgehetzten jedoch anderen Frauen nicht auf. Nur Regimeanhängern provoziert und be- Walter Posch wer sich freiwillig nach sogenannten is- schimpft. Mit Pfefferspray und Elektro- lamischen Vorschriften kleiden will, soll schockknüppeln attackiert konnten sie das ungezwungen tun, ohne Vorschrift. sich manchmal nur in letzter Sekunde in Sie ist überzeugt, dass eine moderne Sicherheit bringen. In den vergangenen Auslegung des Islam möglich und nötig Tagen wurden die Büroräume des Op- ist. „Nicht der Islam tut den Frauen Un- positionsführers mehrmals durchsucht, recht, sondern die ortho doxen Mullahs, Computer beschlagnahmt, Mitarbeiter Die iranische Außenpolitik steht fest die ihn interpretieren“. festgenommen. Warum das Regime ih- auf ideologischen Säulen. Die erste Säu- ren Mann noch nicht verhaftet habe, le ist der politische Islam in der Inter- VIII. pretation Khomeinis, die zweite ist die Dritte-Welt-Ideologie und die dritte der Die Religionsdiktatur habe die Iraner Kaum war Ahmadined- iranische Nationalismus. Diese drei Ele- zu einem Doppelleben gezwungen. schad Präsident, nahm er mente stehen in einem Wechselspiel zu- Die verordnete und von Sittenwächtern einander; so sind der politische Islam überwachte Islamisierung aller Lebens- Frau Rahnavard die Lei- und die Dritte-Welt-Ideologie revolutio- aspekte mit dem Leitmotiv: Alles, was tung der Universität wieder näre Ideologien, die in den 1960er-Jah- Spaß macht, zu verbieten, das, so Zahra ren amalgamiert wurden. Nach der Isla- Rahnavard, habe doch, vor allem bei Ju- weg. Von seinem Frauenbild mischen Revolution benutzten die Ira- gendlichen, dazu geführt, dass alles, was war sie trotz ihres Tschadors ner dieses Konzept und setzten es als verboten ist, erst richtig Spaß macht. Waffe gegen den Westen ein. Dem- Während der kurzen Wahlkampfzeit Welten entfernt. gegenüber steht die traditionelle Reli- war plötzlich alles anders: die Jugend giosität, die die schiitische Identität des bejubelte Frau Rahnavard bereits als Landes betont, was sich wiederum mit First Lady und witterte Morgenluft. das führt Frau Rahnavard nur darauf dem persischen Nationalismus ergän- Es waren drei Wochen, die die An- zurück, dass Ahmadinedschad das Volk zen lässt. Man beachte, dass sich beide hänger der „Grünen Oppositionsbewe- nicht noch mehr provozieren wolle. Elemente widersprechen; Islamismus gung“ als die friedlichsten seit der Isla- Vorerst fehlt der ganzen iranischen und Dritte-Welt-Ideologie sind inhärent mischen Revolution vor 31 Jahren vol- Oppositionsbewegung die Kraft für revolutionär und international ausge- ler Wehmut beschreiben: „21 Tage wie neue Aktionen. Zu stark ist die Macht richtet, Schiismus und iranischer Natio- im Paradies. Als erste Frau wurde Zara der Revolutionswächter in der neuen nalismus sind inhärent selbstbezogen Rahnavard Präsidentin einer iranischen Regierung. Das islamische Regime in und konservativ. Unserer Ansicht nach Dr. Walter Posch, Iran-Experte bei der Universität. Als Kunstprofessorin leitete Teheran geht mit seinem Präsidenten wird dieser ideologische Widerspruch Stiftung Wissenschaft und Politik, sie die AL-ZAHRA-Frauenuniversität Ahmadinedschad davon aus, die Wahl- durch politischen Pragmatismus aufge- Berlin in Teheran und konnte so an führender krise nach einem Jahr nun endgültig löst. Stelle mit dazu beitragen, dass heute überstanden zu haben. Sondertribunale, über 60 % aller Studenten im Iran weib- Folter, Todesurteile und Hunderte Op- Ideologisierung, De-Ideologisierung lich sind. Bestens ausgebildet haben sie positionelle, die immer noch in Haft Gleichzeitig schuf der Krieg soziale jedoch, vorerst zumindest, kaum Chan- sind – all das hat Wirkung gezeigt. In der politischen Praxis unmittelbar Umwälzungen, zu denen eine religiös- cen, Spitzenpositionen in der islami- Doch Zahra Rahnavard betont im- nach dem Sturz des Schahs stand natür- revolutionäre Jugendbewegung gehörte, schen Politik zu erreichen. Für Frau mer wieder: „Eines Tages wird der Sieg lich der Revolutionsexport im Mittel- die in Freiwilligenverbänden (so ge- Rahnavard ist klar, dass die Frauen sich für das Volk kommen“. Immer mehr punkt der iranischen Außenpolitik. Die nannten Basidsch) in Massen an die auf Dauer diese Diskriminierung nicht Geistliche seien bereits dabei, das sin- Islamische Republik verstand sich als Front strömte. Diese Kriegsfreiwilligen gefallen lassen werden. kende Schiff der Hardliner zu verlassen. einzige anti-kolonialistische Kraft in der spielen heute noch eine wichtige Rolle. Kaum war Ahmadinedschad Präsi- Gebe es doch eine tickende demografi- islamischen Welt und machte nun die Ihrem Selbstverständnis gemäß kämpf- dent, nahm er Frau Rahnavard die Lei- sche Zeitbombe: 75 % der 72 Millionen Unterstützung verschiedener Wider- ten sie nicht nur als Patrioten für Iran, tung der Universität wieder weg. Von Iraner sind jünger als 25 Jahre. Diese standsgruppen und Freiheitsbewegun- sondern als Glaubenskämpfer für eine seinem Frauenbild war sie trotz ihres Generation durfte das Regime mit der gen zu ihrer primären Aufgabe. Dazu viel größere Sache: Sie sahen ihren mi- Tschadors Welten entfernt. Ihr politi- umstrittenen Wahl und der brutalen gehörten in erster Linie die Unterstüt- litärischen Kampf als Fortsetzung des sches Credo ließ sie sich nicht nehmen: Niederschlagung der Proteste nachhal- zung für verschiedene schiitische Grup- ideologisch-innenpolitischen Kampfes „Der Kontrast zwischen fortschritt- tig gegen sich aufgebracht haben. Und pen in der Region. für eine wahrhaft islamische, sprich – lichen Frauen in unserem Land und den die politische Klasse, die die Jugend Der unbestrittene Bannerträger aller ihrer Ansicht nach – gerechtere Gesell- veralteten islamischen Gesetzen muss verliert, läuft Gefahr, auch ihre Macht revolutionären Organisationen war bis schaft. Doch die hohen Kosten zwan- aufgehoben werden. Das wissen auch zu verlieren. Auf die Frage, wann das zu ihrer Umwandlung in die „Palestini- gen die politischen Verantwortlichen, die meisten Geistlichen, denen sonst die soweit sein könnte, antwortete Zara an Authority“ die Palästinensische Be- den Realitäten eines Staates im Kriege Gläubigen weglaufen. Der Islam muss Rahnavard nur mit einem persischen freiungsbewegung PLO, bei der wichti- ins Auge blicken: Waffen und Medizin reformiert und neu definiert werden. Sprichwort: Das Kamel schreitet ge Führungskader der Revolutionsgar- wurden dort gekauft, wo man bereit Sonst könnten wir gleich 1400 Jahre zu- langsam voran, dafür aber Tag und den ihre militärische Grundausbildung war, sie zu verkaufen. Das war meistens rückgehen und so leben, wie damals“, Nacht! „ genossen haben. Dennoch gab es gewis- in Europa der Fall, aber auch in den so Frau Rahnavard. se Beschränkungen zur Kooperation. So USA (Iran-Contra Skandal) und sogar sahen die Iraner den Kampf der PLO in Israel. Pragmatismus trat also an die für einen eigenen Palästinenserstaat Stelle von ideologischer „Reinheit“, mo- nicht als nationalistischen Kampf, son- derne Beispiele für diesen Ansatz sind dern betonten den antiimperialistischen das Verhalten Teherans im Hinblick auf Aspekt desselben (daher die Rhetorik Tschetschenien und die Uiguren in Xin- von Israel als „imperialistischer Vorpos- jiang: da es sich bei den Unterdrück ern ten“). Gleichzeitig interpretierten die um Russen und Chinesen handelt, de- Iraner diesen Aspekt quasi-religiös als ren Wohlwollen für Iran in vielen Berei- Kampf der unterdrückten Muslime ge- chen der Außen- und Sicherheitspolitik gen ihre westlichen Peiniger. Aus dieser wichtig ist, sieht die Islamische Repu- Logik musste sich die Leugnung des blik von scharfen Protesten ab. Ein wei- Existenzrechts Israels fast zwangsläufig teres Beispiel dafür ist die Achse Tehe - ergeben, während die Palästinenser ran-Jerewan. Für das kleine, zwischen pragmatischer vorgehen. Überhaupt ge- der Türkei und Aserbeidschan einge- staltete sich die Kooperation mit nicht- zwängte Armenien sind gute Beziehun- schiitischen Gruppen und Bewegungen gen zum Iran (über)lebenswichtig. Für schwierig. So ließen sich kaum sunni- Teheran bedeutet die Partnerschaft mit tische Organisationen oder Staaten mit den Armeniern ein Gegengewicht zu den schiitischen Iranern ein (Ausnah- Aserbeidschan und zum Einfluss der men HAMAS und Sudan). War die Zu- Amerikaner und Israelis in Baku. sammenarbeit mit sunnitischen Grup- pen schon schwer genug, mit marxisti- Konkurrenz mit Saudi Arabien schen Gruppen tat man sich noch schwerer. Ausnahmen wie der ANC Spätestens seit Mitte der 1990er-Jah- oder der diplomatische Rückhalt durch re verfolgt Teheran ideologische Ansät- Bahaeddin Bazargani Gilani, damals Staaten der Blockfreien Bewegung be- ze also nicht als Selbstzweck, sondern iranischer Generalkonsul in München, stätigen nur diese Regel. als Mittel zur Durchsetzung regionalpo- ergriff mehrmals das Wort und die Ge- Der lange Iran-Irak-Krieg (1980-88) litischer Ziele. Demnach würde Iran legenheit, die Position seiner Regierung führte zunächst zu einer Verhärtung der aufgrund seiner kulturellen, militäri- darzulegen. islamistisch-ideologischen Positionen. schen und wirtschaftlichen Bedeutung

4 zur debatte 6/2010 die dominierende Macht am Persischen Armee für mehrere Jahrzehnte in Af- und nicht Marionetten Teherans. Dass einer totalen diplomatischen, politi- Golf werden. Aus Teheraner Sicht lag ghanistan zu binden. die großspurige Rede von der Vernich- schen und wirtschaftlichen Isolierung diese Realität nach dem Abzug der Ira- Irans konventionelle Schwäche und tung Israels und die Leugnung des Ho- der Islamischen Republik gearbeitet, die ker aus Kuwait bereits zum Greifen die damit einhergehende Hemmung sei- locausts der Islamischen Republik mehr sich nur sehr schwer wieder rückgängig nahe. Allerdings wurden – und werden ner regionalpolitischen Ambitionen geschadet als genutzt haben, dürfte machen lassen wird. – Teherans regionalpolitische Ambitio- würden sich jedoch schlagartig ändern, mittlerweile auch im Präsidentenpalast nen regelmäßig von Saudi-Arabien sobald das Land in der Lage ist, ein Nu- verstanden worden sein. Und schließ- Isolation und Notwendigkeit durchkreuzt. klearprogramm aus eigener Kraft zu be- lich heißt der neue Held der arabischen zur Kooperation Auf den ersten Blick scheint sich der treiben oder gar in den Besitz einer Massen nicht mehr Ahmadineschad, Antagonismus zwischen Iran und Sau- Atomwaffe zu gelangen. Die iranische sondern Recep Tayyip Erdogan. Eine Isolation der Islamischen Repu- di-Arabien auf konfessionelle und ideo- Rechtfertigung des eigenen Nuklearpro- Der wirtschaftliche Aufstieg der Tür- blik ist in einem gewissen Ausmaß si- logische Argumente zu begründen. Hier gramms ist eine für Schwellenländer ty- kei und die neuen Akzente in der türki- cherlich möglich. Allerdings beraubt die monarchistischen, reaktionären pische Einstellung: dass Iran wie jedes schen Außenpolitik müssen auf lange sich der Westen dadurch der Möglich- wahhabitisch-sunnitischen Araber ge- Sicht zu Spannungen zwischen Teheran keit, mit den Iranern in jenen sicher- gen die republikanischen, revolutionä- und Ankara führen, aller Kooperation heitspolitischen Bereichen zu kooperie- ren schiitischen Perser. Das ist zwar Bis dato gelang es der Tehe- in wirtschaftlichen und regionalpoliti- ren, die für beide Seiten von großer Be- nicht ganz falsch, verdeckt aber die schen Fragen zum Trotz. Daran ändern deutung sind. Neben der Stabilisierung machtpolitische Natur des Verhältnis- raner Diplomatie nicht, die auch die letzten Irritationen zwischen des Irak und Sicherheitsstrukturen in ses. So ringen Iran und Saudi-Arabien Saudis diplomatisch und re- Ankara und Tel Aviv kaum etwas. Ein der Golfregion ist das v.a. . von Afghanistan und Pakistan, der Bruch der türkisch-israelischen Allianz Dort ist die anfängliche Schadenfreude Golfregion, Irak und natürlich Libanon gionalpolitisch auszubooten. würde für Ankara einen Nachteil be- über die Schwierigkeiten der USA miteinander um Einfluss. Am deutlichs - deuten und die Vorteile der jetzigen Si- längst einer ernsten Besorgnis gewi- ten lässt sich dies anhand des Auffla - tuation, in der sich sowohl Iraner als chen: Zu frisch sind noch die Erinne- ckerns schiitisch-sunnitischer Spannun- andere Land das Recht auf die friedli- auch Israelis um die Gunst der aufstei- rungen an die Taliban-Herrschaft, die- gen in Afghanistan und Pakistan able- che Nutzung der Atomkraft habe und genden anatolischen Regionalmacht be- von den Iranern zu Recht als Bedro- sen, fast immer geht dem eine Ver- der Westen seine eigene Verpflichtung mühen müssen, bei Weitem nicht aus- hung empfunden wurde. Dasselbe gilt schlechterung der bilateralen Beziehun- zum Teilen friedlicher Atomtechnolo- gleichen. aber auch für den Westen: Jede Lösung gen Irans mit Saudi-Arabien voraus. gien mit Dritte-Welt-Staaten nicht ernst Dem gegenüber steht eine klare, für Afghanistan bedarf der Kooperation Der Libanon und Palästina wären ande- nehmen würde. Die politischen Eliten durchdachte Strategie, die – den Roh- der Nachbarstaaten, v.a. Pakistans und re Beispiele für das saudisch-iranische in Teheran sind sich des relativ primiti- stoffreichtum des Landes nutzend – Irans. Obwohl das Problem Afghanistan Ringen um Einfluss und Prestige in der ven Status des eigenen Programms und Iran zur Energiedrehscheibe der Region islamisch-arabischen Welt. Allerdings die rudimentäre Natur der selbstgebau- machen würde und sowohl den europä- hat Teheran hier weit weniger Einfluss, ten Raketen bewusst. Daher die Er- ischen als auch den chinesischen und Eine Isolation der Islami- da die Iraner sich auf international ver- kenntnis, dass ein legitimes, selbst ent- indischen Markt bedienen würde. Die femte lokale Akteure wie Hizbullah und wickeltes Programm für die eigene Si- 20-Jahres-Strategie würde aus Iran ein schen Republik Iran ist in Hamas stützen und zudem auf syrische cherheit von größerer Bedeutung ist als de facto neutrales Land machen, das es einem gewissen Ausmaß Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen ein geheimes. Sie streben daher Waffen- als seine oberste Aufgabe sieht, im In- müssen. Bis dato gelang es der Tehera- fähigkeit statt Waffensystem an. Atom- neren für Wohlstand und Fortschritt zu sicherlich möglich. ner Diplomatie nicht, die Saudis diplo- waffenfähigkeit würde also bedeuten, sorgen und in der Außenpolitik als si- matisch und regionalpolitisch auszu- dass die Islamische Republik als „vir- cherer und vertrauenswürdiger Energie- booten. Das, obwohl es zwischen 2003 tuelle“ Atommacht anerkannt werden lieferant zu fungieren. Zurzeit fehlen je- die Interessen beider Seiten berührt und 2005 so aussah, als ob der Sieges- müsste, ohne zum nuklearen Club zu doch alle Voraussetzungen, um diese und sich daher die Notwendigkeit ira- zug Teherans unaufhaltsam voran- gehören. Das Nuklearprogramm könnte Strategie umzusetzen. So fehlt aus euro- nisch-westlicher Kooperation von selbst schreiten würde: Seine schlimmsten dann, ohne den Atomwaffensperrver- päischer Sicht das notwendige Vertrau- ergeben würde, stehen die Chancen Feinde wurden von den Amerikanern trag zu verletzen, vollkommen legal en in die iranische Fähigkeit, eine dazu nicht zum Besten. Einerseits weil unschädlich gemacht, Verbündete und weiterbetrieben werden und dadurch glaubwürdige energiepolitische Alterna- Iranpolitik in erster Linie Nuklearpoli- Freunde Teherans gewannen die Wah- den iranischen Regionalmachtanspruch tive zu Russland zu sein. Dadurch kann tik bleibt, andererseits weil auf irani- len im Irak und in Palästina, und in Af- unterstützen und die strategische Über- die an und für sich vernünftige Neuaus- scher Seite kein Vertrauen in die Inten- ghanistan gibt es seit dem Sturz der Ta- legenheit Israels einholen. Irans Einlen- richtung der iranischen Außenpolitik tionen und Absichten des Westens be- liban eine pro-westliche Regierung, die ken im Jahr 2003 und später 2004 ist am Energiereichtum des Landes nicht steht. Kritische Stimmen in Teheran se- klug genug ist, die iranischen Sicher- vor diesem Hintergrund zu sehen. stattfinden; – die iranische Energiepoli- hen westliche Politik in Afghanistan in heitsinteressen ernst zu nehmen. Nach den iranischen Präsidentschafts - tik ist daher kaum in der Lage, die Isla- erster Linie als die strategischen Inter- Schließlich trugen die antiisraelischen wahlen von 2005 kehrten mit Mahmud mische Republik und den Westen im essen Saudi-Arabiens und Pakistans be- Ausfälle des neu gewählten Präsidenten Ahmadineschad wieder Polemik und strategischen Sinne annähern zu helfen. dienend. Daher bestünde kein Grund, den Iranern eine Sympathiewelle unter Slogans der Kriegszeit in die Außenpoli- Gleichzeitig treibt die ungeklärte Nu- den Europäern und den Amerikanern den sunnitischen Islamisten in der ge- tik zurück. Gegen Ende seiner ersten klearfrage den Westen und Iran immer den Abzug aus Afghanistan zu erleich- samten islamischen Welt ein. Was aber Amtszeit wurde seine Außenpolitik weiter in Richtung Eskalation, vor der tern. Das einzige Argument, das die Ira- aus saudischer Sicht schwerer wog, war, pragmatischer, da sein Schwerpunkt in in letzter Konsequenz beide Seiten ner von der Ernsthaftigkeit der Euro- dass im Westen die Zunahme der irani- der Innenpolitik liegt. Im Sinne dieser (noch) zurückschrecken. Die letzte päer überzeugen könnte, wäre eine au- schen Macht als Fait accompli akzep- Logik steht jene Rationale, wonach Iran Sanktionsrunde (UNSRR 1929) zielt ßen- und europapolitische Prioritäten- tiert und der Iran zunehmend als Regio- mit den USA zu einem Einverständnis bereits weit über das iranische Atom- setzung, in der Afghanistan eine höhere nalmacht betrachtet wurde. Die Saudis gelangen muss, um den innenpolitischen programm hinaus und trifft die gesamte oder zumindest gleichrangige Bedeu- konterten dies, indem sie die antischiiti- Transformationsprozess hin zum islami- iranische Wirtschaft, offiziell, um die tung wie dem Nukleardossier gegeben schen Ressentiments der überwiegend schen Utopia ungestört durchführen zu Iraner an den Verhandlungstisch zu - werden müsste, was freilich kaum mög- sunnitischen Araber benutzten und von können. (Basidschi-Ideologie!) Mit Ah- rückzubekommen. Gleichzeitig wird an lich sein wird. „ einem „schiitischen Halbmond“ spra- madineschad kamen auch jene Radika- chen, der seinen Einfluss über Gebühr len der zweiten Garnitur an die Macht, auf die arabischen Länder hin ausdeh- die eine gemäßigte Außenpolitik gegen- ne. In Israel und im Westen wurde nicht über dem Westen oder Israel immer ab- nur die Rhetorik vom schiitischen Halb- gelehnt haben. Die Tatsache, dass sie Homepage der Akademie im neuen Gewand mond übernommen, sondern gleichzei- nun selbst politische Verantwortung tra- tig in Gegensatz zum Ausdruck „gemä- gen, führt mittel- und langfristig zu de- ßigte arabische Staaten“ gestellt, womit ren Entradikalisierung und zu mehr Ra- Die Homepage der Katholischen Neu ist, dass Sie direkt über die v. a. Saudi-Arabien und Jordanien ge- tionalismus. Innenpolitisch steuert das Akademie Bayern ist neu gestaltet und Homepage die Programme und die meint waren. Für Saudi-Arabien bedeu- Land freilich einen aggressiven Kurs, der liefert jetzt mehr Informationen über Programmvorschau der Akademie be- tete dies eine wichtige Imagekorrektur allerdings das Regime auch etwas bere- die Arbeit bei uns im Haus. stellen können. Sie können entschei- im Westen, wo seit geraumer Zeit die chenbarer macht. Unter der gewohnten Adresse den, ob Sie die Informationen mit der Tatsache, dass Al Qaida eine überwie- www.kath-akademie-bayern.de finden Post bekommen oder per elektroni- gend saudische Organisation ist, nicht Regionalmacht Iran? Sie jetzt nicht nur wie bisher alle In- schem Newsletter. mehr thematisiert wird. formationen über die kommenden Weitere Bereiche der Homepage Jedenfalls stehen die Iraner in ihrer Akademieveranstaltungen und die An- verraten ihnen, was die „Junge Akade- „Virtuelle“ Atommacht? Außenpolitik vor demselben Dilemma meldemöglichkeiten, sondern auch mie“ alles plant, welche Angebote un- wie die Europäer: Das iranische Nukle- kurze Berichte und Videos über be- ser Tagungszentrum, das „Kardinal In der Tat ist die Frage nach dem ardossier verhindert jegliche normale sonders interessante Tagungen oder Wendel Haus“, hat, wie unser Förder- Status Irans als Regionalmacht weniger Entwicklung und schränkt die eigenen Vorträge der jüngsten Zeit. verein „Freunde und Gönner“ arbeitet eindeutig zu beantworten als landläufig außenpolitischen Handlungsoptionen Ergänzend bieten wir Informatio- und welche vielfältigen Aktivitäten die angenommen, da Iran seiner zugegeben drastisch ein. Außerdem sehen die Ira- nen über unsere Publikationen – Katholische Erwachsenenbildung in großen Bedeutung zum Trotz kaum ner nicht wirklich klar, was sie unter unsere Dokumentationszeitschrift „zur Bayern anbietet. über die militärischen Möglichkeiten „Regionalmacht“ oder „regionaler debatte“ und Bücher – sowie die Na- Schauen Sie doch einmal auf unse- verfügt, seine Macht zu projizieren. Die Supermacht“ verstehen wollen. Den men und Funktionen aller Mitarbeiter. rer Homepage vorbei. Sie sind unter relative militärische Schwäche Irans Persischen Golf können sie aufgrund Auch die Gremienmitglieder und www.kath-akademie-bayern.de herz- wurde 1998 besonders deutlich, als die der amerikanischen Flottenpräsenz Preisträger der Akademie sind in ei- lich willkommen. Islamische Republik im letzten Moment nicht dominieren. Und Irans arabische nem leicht auffindbaren Bereich ver- einen Einmarsch in Afghanistan absagte. Verbündete (Syrien, Hisbollah usw.) zeichnet. Anscheinend fürchtete Teheran, seine sind selbstständige, souveräne Akteure

6/2010 zur debatte 5 wichtigere Artikel 103 der VN-Charta zu dies zwar verlangsamt, aber nicht ver- Iranisches Nuklearprogramm und nennen, welcher den Bestimmungen der hindern können. Die Frage stellt sich, Charta Vorrecht vor allen anderen ver- warum Iran so zäh an einem Programm internationale Reaktionen traglichen Regelungen einräumt. Mit ein- festhält, das nach eigenem Bekunden fachen Worten folgt daraus, dass die Be- rein zivile Zwecke verfolgt, aber zu- Herbert Honsowitz schlüsse der VN-Sicherheitsrates Rechte gleich enorme finanzielle, wirtschaft- aus dem NVV oder anderen Verträgen liche und politische Kosten verursacht. einschränken oder aufheben können. Eine Antwort darauf ist nicht einfach zu An diesem Punkt wird sichtbar, dass finden, denn in Iran gibt es keinerlei öf- sich hinter dem Streit um das Iranische fentlichen Diskurs über den Nutzen Nuklearprogramm Fragen mit globaler und die Gefahren ziviler wie militärisch Dimension auftun. Der NVV ist häufig genutzter Kernenergie. Iranisches Nuklearprogramm als diskriminierender und ungleicher Hinweise auf die Ausstiegspolitik von Vertrag empfunden worden. In Erinne- Deutschland und anderen Ländern wer- 1. rung ist das Verdikt von Franz Josef den mit blankem Unverständnis aufge- Strauß „Super-Jalta“. Die Kritik am nommen. Bei dieser Haltung spielen Im August 2002 gab eine bis dahin NVV ist in dem Maße gewachsen, in Nationalstolz und ein uns naiv anmu- unbekannte iranische Exilorganisation dem deutlich wurde, dass es die Nukle- tender Glaube an die Segnungen von namens „Nationaler Widerstandsrat“, armächte und Ständigen Mitglieder des Technologie und Atomkraft ebenso eine auf einer Pressekonferenz in Washington Sicherheitsrates mit der Maßgabe der Rolle wie die historisch bedingte tiefe Informationen über die bis dato eben- nuklearen Abrüstung nicht so eilig ha- Aversion gegen Druck und Bevormun- falls unbekannte iranische Urananrei- ben. Die Zündung einer nordkoreani- dung anderer Mächte. Als mögliche cherungsanlage Natanz bekannt. Ver- schen Atomwaffe und der Austritt Motive für eine Option auf Nuklear- mutlich war der Rat von einem west- Nordkoreas aus dem NVV haben in waffen werden häufig zwei Elemente lichen Geheimdienst „gefüttert“ worden. Verbindung mit dem Misstrauen gegen genannt. Zum einen die ausgeprägte Seitdem steht das Iranische Nuklearpro- Iran Zweifel an der Haltbarkeit der Pro- Furcht der iranischen Führung vor „re- gramm ununterbrochen auf der Tages- liferationsschwelle neu geweckt. Iran gime change“, der von einem kleinen, ordnung der internationalen Politik. Die hat umgekehrt damit argumentiert, dass aber einflussreichen Teil des politischen Enthüllungen führten zu ausgiebigen dem Land lediglich moderne Energie- Spektrums in den USA seit Jahrzehnten Nachforschungen der Internationalen technologie vorenthalten werden solle. verfolgt wird. Zum anderen sind dies Atomenergieorganisation (IAEO) und Tatsächlich haben die USA bis weit in mögliche Einkreisungsängste. In der zahlreichen Resolutionen des Gouver- die zweite Bush-Administration hinein Nachbarschaft finden sich die Nuklear- neursrates der IAEO, zu bisher sechs auch ein rein ziviles iranisches Nuklear- mächte Pakistan, Israel und Russland, Entschließungen des Sicherheitsrates der programm abgelehnt und Überlegungen die jede für sich ungute Gefühle in Iran Vereinten Nationen und der permanen- zur Verschärfung des NVV lanciert. auslösen. Und schließlich unterhalten ten Befassung in anderen Gremien wie Demnach soll insbesondere das Recht die USA in nicht weniger als zehn irani- z.B. dem Außenministerrat der EU. Die Dr. Herbert Honsowitz, ehemaliger Bot- auf Nukleartechnologie nicht mehr den schen Nachbarstaaten eine Militärprä- Weltpresse berichtet seither nahezu täg- schafter der Bundesrepublik Deutsch- Brennstoffkreislauf einschließen bzw. senz. Ob das iranische Nuklearpro- lich über das Iranische Nuklearpro- land in Teheran, Wien zusätzliche Proliferationsverpflichtun- gramm großen Rückhalt in der Masse gramm. Die 2003 einsetzenden Ermitt- gen wie z.B. das Zusatzprotokoll zum der Bevölkerung findet, wie gelegentlich lungen der IAEO und die Iran abver- Sicherungsabkommen mit der IAEO er- langte erschöpfende Dokumentation sei- forderlich machen. Aus der Sicht vieler ner geheimen Aktivitäten förderten eine Iran mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Staaten, die der Bewegung der Unge- Iran hat umgekehrt damit Fülle von Fakten und Daten zu Tage. Nuklearwaffenprogramm im Laufe des bundenen angehören, ist das iranische Die IAEO wies Iran eine Vielzahl von Jahres 2003 angehalten habe und sich Nuklearprogramm dramatisierend dar- argumentiert, dass dem Verletzungen eingegangener Informa- seither mit einiger Wahrscheinlichkeit gestellt und ein Sanktionskurs gegen Land lediglich moderne tionspflichten nach. Auch wenn die Un- durch das Anreicherungsprogramm die Iran eingeschlagen worden, der inzwi- tersuchungen keine Beweise für ein Nu- Option auf Waffen offen halte. Der Teil schen deutlich über den Proliferations- Energietechnologie vorent- klearwaffenprogramm erbrachten oder des Estimate, der sich mit dem Waffen- bezug hinausgehe. Zusammen mit den halten werden solle. gar die im amerikanischen Sprachge- programm bis 2003 befasst, ist als ge- westlichen Überlegungen über Modifi- brauch berühmte „smoking gun“ zu Tage heim eingestuft und nicht veröffentlicht kationen des NVV hat dies große Be- förderten, besteht seither in der interna- worden und kann daher nicht weiter sorgnisse über eine tektonische Lasten- gesagt wird, möchte ich eher bezwei- tionalen Gemeinschaft weithin der Ver- bewertet werden. Das Papier der US- verschiebung zuungunsten der nuklea- feln. Umgekehrt wird es auch von sol- dacht, dass das iranische Nuklearpro- Geheimdienste ist als Kurskorrektur der ren „have nots“ und eine zumindest chen Kreisen in- und außerhalb Irans gramm der Erlangung zumindest einer Bush-Administration und inhaltlicher oberflächliche Solidarisierung mit Iran unterstützt, die ansonsten dem Regime Nuklearwaffenfähigkeit oder sogar der Übergang zur Politik der Obama-Admi- bewirkt. ablehnend gegenüber stehen. Herstellung von Nuklearwaffen dient. nistration verstanden und insbesondere Unter Iran- und Nuklearexperten Die iranischen Versicherungen, wo- von den Neocons heftig kritisiert wor- 3. wird heute vielfach angenommen, dass nach das Nuklearprogramm ausschließ- den. Vor einigen Monaten erschienen die iranische Führung möglicherweise lich zivilen Zwecken, der Produktion Meldungen, wonach eine Revision des Das iranische Nuklearprogramm geht über die Produktion von Nuklearwaffen von Brennstoff für Kernkraftwerke, der Estimate erfolgen werde. weitgehend auf die Schahzeit zurück. noch nicht definitiv entschieden hat Isotopenherstellung und anderen zivi- Schon damals war eine nukleare Ener- und eher nicht auf die schnellstmögli- len Verwendungen dient, finden weithin 2. gieproduktion von 23 000 Megawatt che Herstellung hinarbeitet, sondern wenig Glauben. Auch eine angeblich mit Hilfe von 20 Kernkraftwerken, dar- eine flexiblere Strategie verfolgt, in der existierende „Fatwa“ des Revolutions- Um die Argumente beider Seiten zu unter Bushehr, geplant worden. Die alle Voraussetzungen für die kurzfristige führers Khamenei, einer verbindlichen verstehen, ist ein kurzer Blick auf die USA installierten einen Forschungs- Produktion geschaffen werden sollen. Rechtsauslegung, wonach der Islam Rechtsgrundlagen nötig. An erster Stelle reaktor in Teheran und belieferten ihn Dazu nötigt die Vorsicht bei dieser oh- Nuklearwaffen nicht mit den religiösen zu nennen ist der Nichtverbreitungsver- mit hochangereichertem Uran. Eine Di- nehin hoch riskanten Politik. Führende Geboten für vereinbar halte, hat wenig trag (NVV) von 1967, den alle Staaten rektive von Präsident Ford billigte die Iraner sind sich über ein allenfalls überzeugt. Gegen die zivilen Ziele außer Indien, Pakistan und Israel ratifi- Einrichtung eines vollen Brennstoff- schwaches Erstschlagspotential und spricht in den Augen westlicher Kritiker ziert haben. Der NVV enthält einen kreislaufes in Iran. Nach der Erinne- eine noch lange Zeit völlig fehlende vor allem, dass Iran das Pferd vom Dreiklang von Rechten und Pflichten. rung von Henry Kissinger haben Proli- Zweitschlagskapazität im Klaren. Selbst Schwanz aufzäumen würde und die Mit Ausnahme der 5 Nuklearmächte ferationsaspekte dabei keine Rolle ge- wenn sich Iran zu einer solchen Aus- Urananreicherung an den Anfang stelle, verbietet der NVV den Besitz, die Her- spielt. Nach der Islamischen Revolution bruchsstrategie entscheiden sollte, wür- obwohl es auf absehbare Zeit mit Aus- stellung oder den Erwerb von Atomwaf- hat das Mullah-Regime zunächst kein de sie aufgrund der IAEO sofort be- nahme von Bushehr gar keine Kern- fen. Den Nuklearmächten legt er zwei- Interesse an der Fortsetzung des Pro- merkt und würde Jahre zu ihrer Reali- kraftwerke besitze. Für Bushehr hat tens auf, Schritte zur nuklearen Abrüs- gramms gezeigt, sich aber 1981 anders sierung benötigen. Russland die Lieferung von Brennstä- tung in gutem Glauben zu verhandeln. besonnen. Ein bei der IAEO beantrag- ben für 10 Jahre vertraglich garantiert. Alle Staaten haben drittens Anspruch tes Programm für Technische Hilfe wur- Internationale Reaktionen Da weder für die eine noch die ande- auf Hilfe zur Herstellung von Nuklear- de von den USA verhindert. Diese Er- re Version öffentliche Beweise vorlie- energie. Die IAEO wird mit der Umset- fahrung hat Iran nach eigenen Angaben 4. gen, ist alles eine Sache des Vertrauens, zung dieser Rechte und Pflichten beauf- zu dem geheimen Beschaffungen und einer Grundkategorie im Verhältnis tragt. Zur Einhaltung der Nichtverbrei- Aktivitäten veranlasst, die erst 2003 von Der Druck auf Iran hatte schon im Ja- zwischen Iran und den westlichen Staa- tung schließt die IAEO sog. Sicherungs- der IAEO aufgedeckt wurden. Eine nuar 2002 zugenommen als Bush das ten. Das Misstrauen auf beiden Seiten abkommen mit allen Unterzeichnerstaa- noch wichtigere Rolle hat vermutlich Land auf der „Achse des Bösen“ ver- in die Absichten der anderen ist tief. ten ab, die der Organisation umfangrei- der Ausbruch des irakisch-iranischen ortete. Im März 2003 erfolgte die US-In- Die wahrscheinlich autoritativste che Kontrollrechte einräumen. Das Sta- Krieges und das Wissen um das Waffen- vasion in Irak. Die im irakisch-irani- Darstellung der Erkenntnisse über das tut der IAEO regelt alle Aufgaben, Rech- programm Saddam Husseins gespielt. schen Krieg so widerstandsfähige Armee Iranische Nuklearprogramm ist im „Na- te und Pflichten der Organisation und Mit Hilfe des Netzwerkes von A.Q. Saddam Husseins brach binnen weniger tional Intelligence Estimate“ der US-Ge- billigt ihr im Falle von Nichteinhaltung Khan hat Iran ein eigenes Anreiche- Wochen zusammen. Die iranische Füh- heimdienste enthalten, das im Dezem- („non-compliance“) des NVV das Recht rungsprogramm entwickelt. Westliche rung verfiel in Schockstarre und beeilte ber 2007 überraschend veröffentlicht zur direkten Befassung des Sicherheits- Anti-Beschaffungsmaßnahmen, Sank- sich dann im Mai über den Schweizer worden ist. Abweichend vom Estimate rates zu. tionen und Sabotageaktionen vornehm- Botschafter in Teheran, Tim Guldimann, des Jahres 2005 kommen die Geheim- Schließlich ist noch der wenig be- lich durch amerikanische und israeli- ein Verhandlungsangebot an Washing- dienste zu der Schlussfolgerung, dass kannte und kaum zitierte, aber umso sche Geheimdienstoperationen haben ton zu richten, das zahlreiche und

6 zur debatte 6/2010 schwerwiegende Konzessionen über die und überwies die Angelegenheit im El Baradei schlug vor, dass Iran einen ț innenpolitisch diskreditieren sie die Nuklearfrage hinaus enthielt. Die USA Februar 2006 an den Sicherheitsrat der erheblichen Teil seines niedrig angerei- Opposition wie Mussavi und Karrubi wollten Iran nicht als Verhandlungs- Vereinten Nationen. cherten Uran nach Russland zur weite- und stärken infolgedessen die radika- partner aufwerten und reagierten nicht. Dort sind seither sechs Entschließun- ren Anreicherung auf 20 % ausführen len Kräfte um Ahmadinejad und die Da erschienen plötzlich neue Akteure gen unter Kapitel VII der VN-Charta sollte, das dann in Frankreich zu neuen Pasdaran, auf der Bühne. Die Außenminister („Bedrohung des internationalen Frie- Brennstäben für den Teheraner Reaktor Deutschlands, Frankreichs und Groß- dens und der Sicherheit“) mit völker- verarbeitet werden würde. Ahmadine- ț außenpolitisch wirken die Sanktionen britanniens, im diplomatischen Sprach- rechtlich für jeden Mitgliedsstaat der jads Unterhändler Jalili stimmte diesem eskalierend. Was bleibt, wenn das In- gebrauch die E 3, reisten im Oktober Vereinten Nationen verbindlichen Plan „im Prinzip“ zu. Andere in Teheran strument verbraucht ist? Eine militä- nach Teheran und rangen Iran einige Zwangsmaßnahmen beschlossen wor- zerredeten ihn wohl mit Billigung Kha- rische Intervention, die politisch und Konzessionen ab. Iran unterzeichnete den. Die USA, die EU und neuerdings meneis mit Gegenforderungen. Als im psychologisch vorbereitet worden ist? das Zusatzprotokoll zum Sicherungsab- auch weitere Staaten haben auf dieser Mai diesen Jahres der türkische und der kommen mit der IAEO, das der Organi- Grundlage noch weitere Sanktionen brasilianische Präsident, gestützt auf Ab- 6. sation zusätzliche Kontrollrechte ein- hinzugefügt. In den Resolutionen des sprachen mit Obama im April einen räumte und suspendierte auf freiwilliger Sicherheitsrates wird vor allem die zeit- neuen Anlauf in Teheran unternahmen Warum wird dennoch eine Politik Basis alle Anreicherungsaktivitäten lich nicht eingegrenzte Suspension aller und überraschend damit Erfolg hatten, mit so nachteiligen Folgen betrieben? während der zu führenden Verhandlun- Anreicherungsaktivitäten Irans als Vor- wurden sie plötzlich ihrerseits von den In den westlichen Demokratien gibt es gen über eine umfassendere Lösung des aussetzung für Verhandlungen und alle USA desavouiert, die sich inzwischen zunächst den Zwang, „etwas“ zu tun. Disputs. Diese Verhandlungen kamen weiteren Schritte verlangt. Diese Be- auf eine weitere und bisher schärfste Der Druck der Medien und der Öffent- nie richtig zustande. Unter anderem stimmung reflektiert in erster Linie die VN-Sicherheitsratsresolution festgelegt lichkeit lässt es nicht zu, einen Konflikt auch deshalb weil die USA Widerstand US-Haltung, die bis zum Ende der hatten, die am 9. Juni verabschiedet auszusitzen oder auch nur günstigere gegen die Teheraner Erklärung und das zweiten Bush-Administration unverän- wurde. Handlungsbedingungen abzuwarten. weitgehend identische Pariser Abkom- dert blieb. Iran hat seinerseits die Reso- Dieses Wechselspiel von wenig sinn- Zum anderen ist die Frustration über men vom November 2004 geltend lutionen des Sicherheitsrats als unrecht- vollen Vorbedingungen, starr vorge- die Halsstarrigkeit der Islamischen Re- machten. Gespräche von Verhandlungs- mäßig bezeichnet und ihre Befolgung brachten Maximalforderungen, unsensi- publik Iran und auch als Folge der eige- führer Ayatollah Rohani mit Bundes- strikt abgelehnt. Während dieser Phase tiver Sprache, tiefem Misstrauen, gerin- nen überzogenen Rhetorik so groß, dass kanzler Schröder und Präsident Chirac weitgehender politischer und diplomati- ger Kenntnisse von der Psyche und den die Verhängung von Sanktionen ein scheiterten letztlich an diesem Um- scher Stagnation hat Iran sein Anrei- politischen Gegebenheiten auf der an- Wohlgefühl erzeugt. Ein renommierter stand. cherungspotential auf über 7000 Zentri- deren Seite verheißen wenig Gutes für US-Iranexperte nannte dies den „feel Im Februar 2005 brachte der Bush- fugen ausgebaut. Noch 2005 hatte Iran einen neuen Verhandlungsversuch über good“-Faktor. Besuch u. a. in Mainz einen Paradig- die Beschränkung auf ein Forschungs- den Forschungsreaktor und die Grund- Darüber hinaus gibt es noch handfes- menwechsel mit sich. Die USA einer- programm mit 20 Zentrifugen ins Spiel fragen, der möglicherweise in den näch- tere Interesse, die dahinter stehen. Es seits und Frankreich und Deutschland gebracht. Nach der Einschaltung des sten Tagen oder Wochen zustande kom- geht vor allem im Verhältnis zwischen andererseits, die sich über die Irak-In- Sicherheitsrates hatte IAEO-Generaldi- men wird. den USA und Iran nicht in erster Linie vasion entzweit hatten, fanden wieder rektor El Baradei die Fixierung auf eine Es ist offensichtlich, dass die Sanktio- um das Nuklearprogramm, sondern um zu einem freundschaftlichen Einverneh- Pilotanlage mit maximal 3000 Zentrifu- nen gegen Iran nicht zur Änderung der ein Ringen über Macht und Einfluss in men. Auch eine Einigung auf einen ge- gen vergeblich vorgeschlagen. Aus die- iranischen Haltung geführt und das dieser überaus wichtigen Weltregion ge- meinsamen Kurs gegenüber dem irani- sen Zahlen wird deutlich, dass die Zeit Aufwachsen des iranischen Nuklearpro- nerell. Niemand sonst fordert die Vor- schen Nuklearprogramm war dabei be- nicht für die westlichen Maximalforde- gramms nicht verhindert haben. Die macht so unverhohlen heraus. Mit der hilflich. Die USA gaben ihre teils schar- rungen gearbeitet hat. Umgekehrt hat finanziellen, wirtschaftlichen und poli- Beseitigung von Saddam Hussein und fe Kritik an den E 3 auf und schwenk- auch Iran wiederholt gute Gelegenhei- tischen Nachteile, die Iran daraus er- der Talibanherrschaft in Afghanistan ten mit ihren Partnern Japan, Kanada ten für die Überwindung der Stagnation wachsen, sind ebenso unübersehbar haben die USA dem natürlichen Ein- und Australien nominell auf den Ver- und Frontstellung verstreichen lassen. und haben langfristige Folgen, über de- fluss Irans, seinem historisch gewachse- handlungskurs der E 3 ein. Inhaltlich Die Obama-Adminstration hatte gleich ren Umfang sich die iranische Führung nen politischen, wirtschaftlichen, reli- setzten sich hingegen die USA mit ihrer zu Beginn ihrer Amtszeit die offensicht- vielleicht nicht ganz im Klaren ist. Es giösen und kulturellem Gewicht, seiner Haltung durch: Drohung mit dem VN- lich obsolete Vorbedingung der vollstän- spricht dennoch wenig dafür, dass sich Gravitationskraft, Tür und Tor geöffnet. Sicherheitsrat, keinerlei Anreicherungs- digen Suspension der Anreicherung auf- Iran weiter steigendem Sanktionsdruck Die Hypothek eines seit der Besetzung aktivität und daher auch keine Kom- gegeben und Obama hatte eine freundli- am Ende beugen wird. der US-Botschaft völlig verkrampften promissformel wie z. B. die Gründung che Botschaft zum iranischen Neujahrs- Warum dann diese Politik, die beiden bilateralen Verhältnisses wiegt ebenfalls eines gemeinsamen Konsortiums (z.B. fest im März 2009 gesandt, auf die der Seiten schadet? Aus westlicher Sicht er- schwer. Unter diesen Umständen er- zwischen Iran und Russland) außerhalb Revolutionsführer umgehend, aber kühl geben sich neben fehlender Wirksam- scheint es als unwahrscheinlich, dass es und erst recht nicht innerhalb Irans. reagierte. Khamenei, von abgrundtiefen keit noch andere Nachteile. Die Sank- gelingen könnte, den Nuklearkonflikt Das einprägsame Kürzel dafür lautete: Misstrauen gegen die USA erfüllt, hielt tionen führen dazu, unabhängig von allen anderen Streitfra- „no centrifuge spins in Iran“! es nun seinerseits für ratsam, Vorbedin- gen zu lösen. Aussichtsreicher erscheint Taktisch spielte dabei die Erwartung gungen für Gespräche zu stellen, näm- ț dass in Iran besonders die Privatwirt- ein sogenannter „grand bargain“, wie er vieler westlicher Akteure eine Rolle, lich die Aufhebung gewisser Maßnah- schaft in Mitleidenschaft gezogen 2003 von Iran ins Spiel gebracht wor- dass Ayatollah Rafsanjani im Juni 2005 men gegen Iran. Er musste wissen, dass wird, während sich die Staatswirt- den war. zum Nachfolger Khatamis als iranischer der neue Obama-Kurs in den USA so schaft, die religiösen Stiftungen und Russland und China tragen clever auf Präsident gewählt werden und zu einer stark umstritten war, dass Vorleistungen die Wirtschaftsunternehmen der Pas- beiden Schultern und sichern sich da- für den Westen vorteilhaften Einigung keinesfalls in Frage kommen konnten. daran eher schadfrei halten können, durch ein Maximum an Konzessionen bereit sein würde. Iranische Lösungs- ț dass sich Iran politisch, wirtschaftlich von den Streitparteien. vorschläge wurden daher ab März gar 5. und kulturell immer stärker dem Israel hat ein fundamentales Interes- nicht mehr erst entgegengenommen. Westen entfremdet und sich immer se an der Hochspielung des Nuklear- Die Fehlkalkulation war beträchtlich Eine weitere Gelegenheit für eine mehr Asien und der Dritten Welt zu- disputs. Es befürchtet in richtiger Ein- und folgenschwer. Revolutionsführer Überwindung der Blockade bot sich im wendet. Vor allem im Energiebereich schätzung der Kräfteverhältnisse kei- Khamenei, der mit der Verhandlungs- Herbst 2009 als sich die Frage stellte, kann dies langfristig fatale Folgen ha- neswegs einen selbstmörderischen Nu- führung Rohanis, einem Vertrauten wie der Teheraner Forschungsreaktor ben. China und Russland profitieren klearangriff Irans, möchte aber mög- Rafsanjanis, immer unzufriedener ge- mit neuem, dringend benötigten, auf von dieser Entwicklung und richten liche positionelle Vorteile, die Iran aus worden war, stellte sich hinter den kras- 20 % angereicherten Brennstoff für die ihre Iran-Politik konsequent daran seinem nuklearen Status ziehen könnte, sen Außenseiter Mahmud Ahmadine- Herstellung von medizinisch verwend- aus, ohne sich zugleich mit den USA verhindern. Die mögliche Gefahr einer jad, verhalf ihm zum überraschenden baren Isotopen versorgt werden könne. anzulegen, wachsenden Auswanderung aus Israel und noch dazu hohen Wahlerfolg und spielt dabei eine Rolle. Und nicht zu- unterstützt seither Ahmadinejads radi- letzt eignet sich der Konflikt mit Iran kalen Nuklearkurs vorbehaltlos. Zwei hervorragend dazu, von der Palästina- Jahre später sollte auch der Nachfolger Frage abzulenken und die konservati- Rohanis als Chefunterhändler, Ali Lari- ven arabischen Regierungen näher an jani, Opfer dieser Konstellation werden. sich zu binden. Die Dinge spitzten sich nun zu. Im Für die Führung der Islamischen Re- August 2005 begann Iran in mit publik Iran ist der Nukleardisput eine der Konversion von verarbeitetem Art Versicherung gegen „regime chan- Uranerz, dem sogenannten „yellow ge“, eine Methode, die Unzufriedenheit cake“ zu gasförmigen Uranhexafluorid, weiter Bevölkerungskreise mit dem Re- UF 6, das seit April 2006 in der Anlage gime durch einen Appell an den Natio- Natanz durch Vermehrung des Isotops nalstolz zu neutralisieren und das Be- U 235 auf einen 3–5-prozentigen Anteil dürfnis nach Aufstieg und Erfüllung des angereichert und damit spaltbar ge- nationalen Ehrgeizes zu befriedigen. „ macht wird. Es kann dann als Brenn- stoff für Kernkraftwerke und ab einem Anreicherungsgrad von ca. 90 % auch für Nuklearwaffen verwendet werden. Der Gouverneursrat der IAEO stellte Eine Waffenausstellung im September daraufhin im September 2005 mit 2010 in Teheran: Die Aufrüstung des Mehrheitsentscheidung die „Nicht-Ein- Landes und die oft undurchsichtige haltung (non-compliance)“ von vertrag- Außenpolitik beunruhigen die Nach- lichen Verpflichtungen durch Iran fest barn des Irans Foto: dpa

6/2010 zur debatte 7 gelten, dass es sich damals um eine ver- Die Autorin Schahrnush Parispur er- Persische Literatur heute und hältnismäßig kleine gebildete Schicht zählt mit „Tuba oder die Bedeutung der handelte, und dennoch: Als das Goe- Nacht“ (Tuba va ma’na-ye schab, 1988) die iranische Gesellschaft the-Institut im Jahre 1977 eine zehn die Geschichte einer Frau von ihrer Ju- Abende dauernde Lesung mit irani- gend bis ins hohe Alter und umgreift Roxane Haag-Higuchi schen Autoren auf dem Gelände der damit die iranische Geschichte vom Residenz der deutschen Botschaft in Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Teheran abhielt, harrten Tausende aus, 1970er Jahre. Alle einschneidenden po- um ihre Dichter zu hören, standen stun- litischen Ereignisse wirken sich auf die denlang im Regen und kletterten auf Schicksale der Familienmitglieder aus. Mauern und Bäume in der Nachbar- Die Geschichte des 20. Jahrhunderts schaft des Geländes, um die Lesungen rankt sich um die Hauptfigur und das I. ihrer Autoren mitzuerleben. Diese zehn Haus, in dem sie lebt und das am Ende Abende sind als ein bedeutsames Ereig- verfällt – ein Symbol für den Iran. Wenn wir heute von persischer nis in die Geschichte eingegangen, die Abbas Maroufi erzählt in „Sympho- Gegenwartsliteratur sprechen, dann ist zu der Revolution hinführte, die damals nie der Toten“ (Semfuni-ye mordegan, die Literatur gemeint, die in den ver- noch nicht „islamische“ hieß. 1989) ebenfalls eine Familiengeschich- gangenen dreißig Jahren, also nach der te, die er um das biblisch-koranische Islamischen Revolution von 1979, ent- III. Motiv des Brüdermords von Kain und standen ist. Die enormen Verwerfungen, Abel entwickelt. Im Zentrum des Ge- die mit dem politischen Bruch von 1979 Mit dieser kurzen Rekapitulation schehens stehen zwei Brüder, deren einhergingen, erfassten natürlich auch wollte ich den Blick auf die große Be- Charaktere als existentielle Gegenent- den kulturellen Sektor. Dass dieses The- deutung der Literatur für die iranische würfe zueinander gestaltet sind: Der ma seinen Platz in einer ansonsten eher Bevölkerung lenken. Die enge Verbin- eine verkörpert den erfolgreichen Ge- politisch ausgerichteten Tagung findet, dung zum Politischen kam auch da- schäftsmann, der andere den Intellek- hat indessen Gründe, die auf die Zeit durch zustande, dass Literatur von so tuellen, Dichter und Mystiker. Am Kon- vor der Islamischen Revolution verwei- vielen Menschen als Kern ihrer Kultur flikt dieser beiden Lebensweisen zer- sen. Die Literatur, genauer: die Dich- wahrgenommen wurde, als ein zentraler bricht die Familie. Auch in diesem Ro- tung in persischer Sprache war die Bereich, der im Hinblick auf die eigene man ist die Familiengeschichte und das wichtigste kulturelle Bezugsgröße in Identität durchaus emotional belegt Schicksal der Familienmitglieder eng Iran über mehr als tausend Jahre. Als war. mit den zeitgeschichtlichen Vorgängen gedachte historische Konstante einer In den letzten beiden Jahrzehnten in der Mitte des 20. Jahrhunderts ver- Kulturnation Iran spielten Literatur und des 20. Jahrhunderts fallen zwei Phäno- woben. Sprache folglich eine wichtige Rolle in mene auf: 1. Die Frauen drängen auf Alle diese Romane nehmen die jün- der Grundlegung des iranischen Natio- die literarische Bühne. 2. Es werden gere Geschichte Irans in die Roman- nalstaats im 20. Jahrhundert. Die enge mehr Romane geschrieben. handlung auf und reflektieren sie darin. Bindung an politische Gegebenheiten PD Dr. Roxane Haag-Higuchi, Privat- Tatsächlich war die Großform der Im Falle Ravanipurs kann man von ei- auf der Ebene der Inhalte, der Sprach- dozentin am Lehrstuhl für Iranistik der Prosaliteratur bis dahin ein Stiefkind ner Abrechnung mit der Pahlavizeit verwendung, der Produktions- und Re- Universität Bamberg des Literaturbetriebs geblieben. In den sprechen, gestaltet um das Motiv des zeptionsbedingungen hat die iranische 1920er und 30er Jahren erschienen ei- zerstörerischen Gegensatzes zwischen Literatur nicht erst seit der Islamischen nige historische Romane, 1969 außer- Tradition und Moderne. In den Roma- Revolution, sondern auf dem ganzen dem ein Bestseller-Roman der Schrift- nen von Parsipur und Marufi ist die Weg in die Moderne bedingt und ge- die ebenfalls der Grundlegung des Na- stellerin , ansonsten jüngere und jüngste Geschichte als exis - formt. tionalstaates diente. Viel Wert wurde bildeten, wie gesagt, Kurzgeschichten tentielle Thematik formuliert. Gemein- Die wesentliche Voraussetzung, die auf das Studium der großen klassischen das dominante Genre. sam ist diesen Romanen die zeitge- Iran für die Etablierung eines modernen Werke der persischen Dichtung aus der Das ändert sich bald nach der Revo- schichtlich-politische Folie, die künstle- Nationalstaats mitbrachte, waren die Zeit zwischen dem 10. – 14. Jahrhun- lution. Nun wurden deutlich mehr Ro- rische Verarbeitung der iranischen Ge- historisch gewachsenen bzw. im 19. dert gelegt. Eine besondere Rolle spielte mane geschrieben und auch gelesen. schichte im 20. Jahrhundert, die in Jahrhunderts etablierten Grenzen. Man in diesem Zusammenhang das nun als Und in diesem Genre tritt auch die mehr oder weniger großen Ausschnitten konnte sich also ohne Weiteres auf eine „Nationalepos“ bezeichnete Schahna- wachsende Bedeutung von Schriftstelle- in den Romanen erfasst wird. Die Pro- feste territoriale Größe namens Iran be- meh von Ferdousi (um 1000), dem er- rinnen zutage. Autorinnen wie Schahr- tagonisten sind in die großen nationa- ziehen – wenn man auch an einigen sten monumentalen Werk in neupersi- nush Parsipur, Goli Taraghi und Moniro len Ereignisse involviert oder werden Stellen die Grenzen unter Berufung auf scher Sprache. Ravanipur werden in den 1980er und von ihnen betroffen, Ereignisse, die für die Geschichte gern etwas nach außen 1990er Jahren bekannt. Man kann sich jeden iranischen Leser hohen Wiederer- verschoben hätte. Abgesehen vom Terri- II. fragen, ob die Stunde der Autorinnen kennungs- und Identifikationswert be- torium erforderte es größere Anstren- auch ohne die Islamische Revolution sitzen: Die Verfassungsrevolution 1905 gungen, um die Konstituenten des Na- Soweit die Literaturgeschichte. Die von 1979 geschlagen hätte – ob sich – 11 (noch vor der Pahlavidynastie), der tionalstaats zu formen und zum Zwecke Literatur aber, die in der ersten Hälfte also darin nur eine Entwicklung logisch Aufstieg Reza Schah Pahlavis, die Be- nationalstaatlicher Ziele zu gewichten. des 20. Jhs entstand, ging neue Wege. fortsetzte, die in den 1960er und 70er setzung Irans durch die Alliierten im Der Vielvölkerstaat Iran musste offensiv Bei den Gedichten nahm man Abschied Jahren begonnen hatte. Denn es er- Zweiten Weltkrieg, der Konflikt um die eine für alle Ethnien und alle Bevölke- von den strengen Regeln, die Reim und scheint ja verwunderlich, dass Frauen in Nationalisierung des Erdöls in der Re- rungsschichten gemeinsame Sprache, Metrum in Gedichten bestimmten, in einem politischen System, in dem ihre gierungszeit Mosaddeghs (1951 – 53), Geschichte und Kultur etablieren, wo- der Prosa entstanden neue Formen von rechtlichen Belange denen der Män- die Präsenz von Briten und Amerika- bei Sprache und Literatur eine entschei- fiktionaler Literatur – Romane und nern deutlich nachgeordnet sind, im Be- nern, die Islamische Revolution und der dende Rolle spielten: Immer mehr stell- Kurzgeschichten wurden zur neuen reich der Kunst und Kultur öffentlich iranisch-irakische Krieg (1980 – 88) mit ten progressive Eliten im frühen 20. Ausdrucksform literarischen Schaffens. Karriere machen. Doch das ist ein eige- seinen unzähligen Opfern. Jahrhundert die Tatsache heraus, dass Die Kurzgeschichte machte als litera- nes Thema, das hier vorerst nur das Nimmt man den letzten Roman von sich das Persische nach der islamisch- rische Form in den 60er und 70er Jah- Phänomen konstatiert werden kann. Mahmud Doulatabadi (Der Colonel, arabischen Eroberung – im Gegensatz ren des 20. Jahrhunderts eine steile Kar- Ganz deutlich zeichnet sich aber ab, 2009) und Shahriar Mandanipurs „Eine zu anderen einheimischen Sprachen im riere. Es gab Schriftsteller, die mit ihren dass sich mit dem Romangenre, das an iranische Liebesgeschichte zensieren“ frühislamischen Großreich – als eigen- Kurzgeschichten individuelle Probleme Boden gewinnt, auch der thematische (dt. 2010) hinzu, so setzt sich die Ten- ständige Sprache erhalten, ja dass es so- psychologisch ausloteten. Doch in vie- Zuschnitt verändert. Am Beispiel eini- denz zur historischen Bilanzierung in gar zu neuer literarischer Blüte gefun- len Werken schlug sich auch die Kritik ger vielgelesener Romane aus dieser den Romanen bis heute fort. den hat. Im Zusammenhang mit diesem an den sozialen und politischen Gege- Zeit wird deutlich, dass sich der histori- 1979 hat eine Revolution im eigent- nationalen Selbstbewusstsein gab es Be- benheiten nieder. Die Autoren und sche Blick zu einer Art Bestandsaufnah- lichen Sinn stattgefunden, ein gewaltsa- strebungen – ab den 1930er Jahren in- Dichter im Mainstream der zweiten me der Pahlavizeit und des 20. Jahrhun- mer Umsturz mit massenhafter Beteili- stitutionalisierte Bestrebungen in Form Pahlavi-Periode (Mohammad Resa derts weitet. gung, der zu einem politischen System- einer Sprachakademie – die persische Schah, 1941 – 1979) schufen Werke, die Ravanipurs Roman „Die Ertrunke- wechsel führte. Dass die knapp 60 Jahre Sprache von Fremdwörtern, vor allem sich kritisch mit der politischen Füh- nen“ (Ahl-e gharq, 1989) spielt in ei- währende Pahlavizeit durch den Um- von arabischen Bestandteilen zu reini- rung und mit den gesellschaftlichen Re- nem abgelegenen Fischerdorf am Persi- sturz als historisch abgeschlossene En- gen. Der Wortschatz des Persischen ent- alitäten im Iran auseinandersetzten. Die schen Golf. Die Bewohner dieses Dor- tität fassbar wurde, hat eine Beschäfti- hält eine umfangreiche, größtenteils allgegenwärtige Zensur wurde zum fes leben in einer mythischen Vorstel- gung mit den zurückliegenden Jahr- völlig integrierte arabische Lexik (viel- komplementären Gegenstück des litera- lungswelt, die von phantastischen Was- zehnten in dieser Form sicherlich be- leicht vergleichbar mit lateinstämmigen rischen Schaffens, das unter diesen Be- serwesen, Nixen und Meeresungeheu- günstigt, in dieser Form vielleicht sogar Wörtern im Englischen), so dass sich dingungen die Kunst der symbolischen ern bevölkert ist. In dieses isolierte erst ermöglicht. das sprachpolitische Programm der Aussage und Verschlüsselung zu hoher Milieu brechen eines Tages hellhäutige, „Purifizierung“ nie ganz durchsetzen Blüte entwickelte. blauäugige Männer ein, und mit ihnen IV. konnte. Die Autoren empfanden sich als hält die moderne Kommunikations- Daneben wurde die Literaturge- Stimme des Volkes, und tatsächlich ha- und Unterhaltungstechnik Einzug. Neben der Geschichtshaltigkeit ist schichte in die modernen staatlichen ben sich viele Menschen in Iran mit ih- Immer mehr wird das Dorf zum Ziel noch ein weiteres literarisches Phäno- Institutionen eingebunden. Persische rer Literatur identifiziert, wenn auch wirtschaftlicher und politischer Interes- men zu beobachten, das zwar nicht neu Literatur wurde Unterrichtsfach an der nicht unbedingt mit den neueren, düste- sen und geht schließlich daran zugrun- ist, sich aber in jüngerer Zeit verstärkt: 1934 gegründeten Teheraner Univer- ren, oft schwierigen Werken. Aber auch de. Am Ende verlassen die Einwohner Der Verweis auf die persische literari- sität, und dafür gestaltete man die Lite- die neuen Autoren hatten ihre Anhän- das Dorf mit seinen ölverpesteten sche Tradition, womit einerseits das raturgeschichte in einer Art und Weise, ger. Natürlich muss die Einschränkung Stränden. Schreiben selbst thematisiert, anderer-

8 zur debatte 6/2010 seits die kulturelle Kohäsion gestärkt schiitischen Interpretation weltlicher Golschiri, „Der König der Schwarzge- Gesellschaften im In- und Ausland viel- wird. Während weltweit verbreitete lite- Herrschaft beim „Volk“ war, für das sie wandeten“. Dieser Text erschien schon fach vernetzt sind. Diese Situation führt rarische Erzählweisen wie der phantas- geschrieben hatten und inmitten dessen 1990 auf Englisch, bevor er im persi- dazu, dass die Gesellschaft im Lande tische Realismus oder postmoderne Er- sie sich zu befinden glaubten. Zudem schen Originial 2001 in einen schwedi- sich unweigerlich globalisiert, die Exil- zähltechniken auch Eingang in die neu- haben diese Autoren nun Themen an schen Exilverlag gedruckt wurde. Weite- Gemeinde wiederum durch den perma- ere persische Literatur finden, vollzieht die offizielle Politik abtreten müssen, die re Beispiele folgten in jüngster Zeit: Der nent aktuell gehaltenen Bezug zum Hei- sich die Anbindung an das indigene lite- vorher unbestreitbar dem Feld der Op- Colonel von Mahmud Doulatabadi er- matland in ihrer Identität bestärkt wird. rarische Milieu über die Bezüge zu den position angehört hatten. Die Priorität schien im vergangenen Jahr auf Deutsch Dass das Internet keinen Freiraum kanonischen Meilensteinen der persi- der armen Massen, die nun nicht mehr in Welterstveröffentlichung, gleiches gilt bie tet, zeigen die Zugriffe auf Dissiden- schen klassischen Literatur. als Proletariat, sondern mit dem korani- für Amir Hasan Cheheltans „Teheran ten und Internet-Blogger durch die So nimmt der im Jahre 2000 verstor- schen Begriff als „Entrechtete“ bezeich- Revolutionsstraße“, ebenfalls 2009 auf iranischen Behörden, die mit ihren Re- bene Schriftsteller Huschang Golschiri net werden, der Kampf gegen die politi- Deutsch erschienen. Und der originelle pressionen einen technisch ausreichend in seiner Novelle „Der König der sche und wirtschaftliche Abhängigkeit Roman von Shahriar Mandanipur „Eine hohen Standard beweisen. Trotzdem Schwarzgewandeten“ (Schah-e Siyah- vom (westlichen) Ausland und die kul- iranische Liebesgeschichte zensieren“ bleiben – eben wegen des internationa- puschan) eine Geschichte aus einem turelle Überfremdung: Dies sind nun (deutsch 2010) wurde auf Anweisung len Charakters der iranischen Gesell- klassisches Epos zur Vorlage: Nisamis Themen, die fest in das politische Selbst- des Autors aus dem Englischen – als schaft – wenigstens eingeschränkte kul- berühmte „Sieben Prinzessinnen“ (Haft verständnis und die öffentliche Inszenie- dem authentischeren Text – ins Deut- turelle und auch politische Publika- peykar) aus dem 13. Jahrhundert. In Ni- rung der Islamischen Republik einge- sche übersetzt. Dieser letzte Roman ist tions- und Kommunikationsfunktionen samis Geschichte wird von einer Him- flochten sind. Der literarischen Partei- aber auch ein Beispiel dafür, dass die bestehen. 2001 schrieb der iranische melfahrt erzählt, einem König, der in nahme für eine politische Richtung ist iranischen Autoren ihren Humor noch Exilautor Reza Ghassemi, der in Paris Himmelssphären in ein Land mit einer der Boden entzogen, und die ideologi- nicht verloren haben. Nicht weniger kri- lebt, den ersten Roman im Cyberspace, märchenhaft schönen Königin gelangt sche Desillusionierung hat den Eifer er- tisch als die Romane von Doulatabadi bei dem er die Leser in interaktiver Ma- und an seiner Begierde scheitert – es ist lahmen lassen, mit dem Autoren sich oder Cheheltan, schreibt Mandanipur in nier am Schaffensprozess beteiligte die Geschichte einer schmerzhaften vormals auf die „richtige“ Seite geschla- einem raffinierten Vexierspiel mit leich- (s. Nima Mina, Blogs, Cyber-Literature Selbsterkenntnis. Golschiris Geschichte gen haben. Die Grenze zwischen politi- terer Hand über literarische Tradition, and Virtual Culture in Iran, 2007). Dar- thematisiert ebenfalls eine Reise, eben- schen Ideologien verschwimmt, denn – politische Unterdrückung und Zensur. über hinaus werden vergriffene und im falls einen Akt schmerzhafter Selbster- ganz gleich im Namen welcher Ideolo- Iran verbotene Romane digitalisiert und kenntnis – jedoch ist es hier der Abstieg gie – es gibt nur Sieger, Verlierer und VI. ins Netz gestellt. in die Hölle, eine Reise in die Kerker Gewalt; die Sieger, die Gewalt ausüben, Auch die Sprache ändert sich im Iran für politische Gefangene. die Verlierer, die sie erleiden. Mit den Erstveröffentlichungen in rasant unter dem Einfluss der Internet- Auf die moderne Klassik verweist Übersetzung verliert die persische Spra- Kommunikation. Wir kennen die Ab- Abbas Marufis „Die dunkle Seite“ (Pey- che ihren Alleinvertretungsanspruch für kürzungen, Akronyme und Codes auch kar-e Farhad, 1995), ein Roman, der In einer seltsamen Parado- die iranische Literatur, und dieses Phä- im Deutschen, doch weist das Persische sich als Antwort auf Sadegh Hedayats nomen – wenn es auch nur vereinzelt einen größeren Abstand zwischen ge- „Blinde Eule“ (Buf-e kur, 1937) ver- xie aktualisieren die neuen auftritt – ist ein Symptom für eine ganz sprochener und geschriebener Sprache steht, einem Schlüsselwerk für die mo- Werke die klassische Litera- neue Haltung bei den Autoren und sig- auf. Die Verschriftlichung umgangs- derne Literatur in Iran. Und der rezente nalisiert vielleicht auch gesellschaftliche sprachlicher Formen weicht auffälliger Roman von Schahriar Mandanipur: tur, stärken die innerliterari- Veränderungen. Bildeten doch die Liebe von der üblichen Schriftsprache ab, als „Eine iranische Liebesgeschichte zensie- sche Kohäsion, während sie zur Sprache und die Hochachtung der es im Deutschen der Fall ist. Das im ren“ (2010 auf Deutsch erschienen) aus diesem Material geschaffenen Internet geschriebene Persisch bedient nimmt wiederum ein berühmtes Liebes - zugleich ihr einzig tragfähi- Kunstwerke einen unauflöslichen Ver- sich der Codes der Jugendsprache, meist paar aus der klassischen Epik auf (Schi- ges Medium, die persische bund, der im Zentrum persischer Kultur in kurzen, oft unvollständigen Sätzen. rin und Farhad aus Nisamis Klassiker Sprache, zurückstufen. und iranischer Identität stand. Die Fra- Auch die iranische Musikszene ist im Khosrou und Schirin). Oder, um ein ge, einen iranischen Roman auf Eng- Internet aktiv, und in Rock-, Blues- und Beispiel aus dem Bereich der Kurzge- lisch für authentischer zu erklären als Hiphop-Formaten finden wir interes- schichten zu nennen: Da irrt in einer Viele Geschichten richten nun den Fo- auf Persisch, hätte noch vor wenigen sante Texte, die wieder zur Basis der Geschichte von Fereschteh Sari mit kus auf das Private, auf individuelle Jahrzehnten nicht zur Debatte gestan- persischen Literatur zurückführen: der dem Titel „Verlorene Zeit“ (Zaman-e Schicksale, oft sind die Hauptpersonen den. In einer seltsamen Paradoxie aktu- Poesie. In Songtexten wie z.B. denen gom-schode) eine Frau zwischen der auch Kinder, die als Protagonisten we- alisieren die neuen Werke die klassische der Band Kiosk, einer 2004 in Teheran Hafis-Straße und der Chayyam-Straße niger zensuranfällig sind. Die Autoren Literatur, stärken die innerliterarische gegründeten Underground-Band, deren umher und verliert sich in magischen werden nicht müde zu versichern, dass Kohäsion, während sie zugleich ihr ein- Mitglieder inzwischen im amerikani- Gassen- und Straßenverläufen. Hafis als sie keine politischen Hintergedanken zig tragfähiges Medium, die persische schen und kanadischen Exil leben, wird der Gaselen-Dichter und Chayyam als hegen, sondern sich ausschließlich als Sprache, zurückstufen. in knapper, lakonischer Form die neue der Verfasser von Vierzeilern markieren Künstler verstehen. Ich möchte behaup- So bahnt sich auch hier die Globali- globalisierte Welt beschrieben. In dieser die Umgrenzungen eines nun kaum ten: Das ist unmöglich. Ein politisches sierung ihren Weg. In den Buchhand- Welt nehmen die globalen Phänomene mehr strukturierten Raumes. Die Litera- Moment ist im künstlerischen Prozess lungen der Hauptstadt fällt in der Belle- zugleich einen spezifisch iranischen Ge- tur als verlässliches kulturelles Grund- schon allein dann unabweisbar, wo es tristik-Abteilung auf, wie sehr Überset- schmack an. Die Welt und Iran treffen muster wird einerseits benannt und auf- eine engmaschige staatliche Zensur gibt zungen von Romanen aus aller Welt in- in kurzen Zeilen aufeinander, nicht im gerufen, andererseits scheint sie zu ver- und das Wissen um den Zensurprozess zwischen die Szene prägen. Auch die Widerspruch, sondern als Ansammlung blassen, zu entschwinden, und als Ord- das künstlerische Schaffen begleitet. weltweite Jugendkultur und experimen- befremdlicher Zustände (www.kiosk - nungsmuster und Sinnstifter nicht mehr Zum Anderen müssen die Geschichten, telle Formate finden Eingang in die ira- theband.com, hier z.B. Eschgh-e sor’at, zu taugen. um Bedeutung zu erzeugen, in einem nische Gesellschaft. In einer Literatur- zu deutsch etwa „tempogeil“). Es fällt auf, wie intensiv sich auch die erkennbaren sozio-kulturellen Umfeld zeitschrift wurde ein Wettbewerb für die neueste Literatur an der Tradition abar- verankert sein, und damit beginnt das beste Kurzgeschichte im SMS-Format VII. beitet. Die großen kanonischen Werke Politische. ausgelobt. Die Vervielfältigung durch sind Autorität, unerlässliche Bezugsgrö- Gedrucktes hat das Primat der Veröffent- In den 30 Jahren seit Bestehen der ße und Inspiration. Zugleich bildet sich V. lichung und Verbreitung verloren. Islamischen Republik hat es in der Lite- durch die Verbindung zwischen den Das Internet als Publikations- und ratur keinen Stillstand gegeben. Die Au- Tex ten aus unterschiedlichen Zeiten ein Die Unvermeidbarkeit, mit der sich Kontaktmedium wirkt in vielfältiger toren schließen sich einerseits weltwei- neuer, ganz spezifischer literarischer politische Bedeutung in jedes künstleri- Weise auf die iranische Gesellschaft. ten Trends an, verwurzeln sich aber Kos mos. Die moderne persische Prosa- sche Schaffen drängt, nimmt seit 2005, Iraner stellen inzwischen eine sehr gro- gleichzeitig fest in der einheimischen li- literatur, die sich unter starkem Einfluss seit der Präsidentschaft Ahmadinez- ße Exilgesellschaft, leben auf so gut wie terarischen Tradition. Diese Verwurze- westlicher Vorbilder entwickelt hat, bin- hads, parallel zur immer stärkeren Re- alle Regionen der Welt verteilt. Der lung geschieht durch die Aufarbeitung det nun ihre indigenen Traditionen in pression freier Meinungsäußerung deut- Umstand, dass ein Teil des engeren Fa- der Geschichte des 20. Jahrhunderts, unterschiedlichster Weise ein: in Moti- lich zu. Als im Frühjahr dieses Jahres milienkreises im Ausland lebt, ist nicht von der in vielen Romanen größere ven, Zitaten, Anspielungen, zuweilen der Friedrich-Rückert-Preis an einen mehr ein High Society Phänomen, son- Zeitabschnitte rekapituliert werden; die auch in stilistischen Analogien. Sie iranischen Dichter oder Autor vergeben dern findet sich in Familien aller sozia- enge Bindung wird außerdem durch in- schaffen eine literarische Heimat, deren werden sollte, musste die Jury feststel- len Schichten. Die großräumige Ver- tensive Bezüge zur persischen klassi- Koordinaten der iranische Leser sofort len, dass alle Shortlist-Kandidaten in- streuung von Familien trifft auf eine schen Dichtung gestärkt. Zugleich rela- erkennt. zwischen im Ausland leben. Da die Gesellschaft, in der feste Familienbande tiviert sich das Primat der persischen Im Vergleich zu den Werken aus vor- Richtlinien des Preises verlangen, dass noch eine wichtige Funktion im sozia- Sprache, wenn Übersetzungen in west- revolutionären Zeiten fällt auf, dass die Übersetzungen des Werkes vorliegen len Gefüge haben. Mit dem enormen lichen Sprachen vor oder anstelle des Zeiten der engagierten Literatur vor- müssen, ist der Kreis der Kandidaten Zuwachs an Kontaktmöglichkeiten und persischen Originals erscheinen. Auch über sind – der Literatur, die sich im natürlich eingeschränkt. Nichtsdesto- Formaten wie Email, Chat und digitale die persische Literatur internationali- Sinne Sartres in die Politik einmischt trotz hat die Zahl von Intellektuellen soziale Netzwerke kann die iranische siert sich in einem Raum, in dem der und Stellung bezieht. Auch die neueren und Künstlern, denen in Iran die Luft Gesellschaft im In- und Ausland ihren Schaffensprozess einerseits durch die Werke beziehen Stellung, aber auf eine zum kreativen Atmen ausgeht, in den kommunikativen Zusammenhalt inten- Zensur eingeengt, andererseits durch ganz andere Weise. Politische Ideolo- letzten Jahren deutlich zugenommen. siv nutzen und fördern. Es ist inzwi- die neuen Medien ausgedehnt wird. gien, welcher Couleur auch immer, ha- Damit entsteht auch ein neues Phäno- schen bekannt, dass die iranischen Dem xenophoben Auftritt des Staates ben ausgedient, es herrscht große Ideo- men: Einige Werke erscheinen in Über- Blogger international zu den aktivsten antworten Gesellschaft und Literatur logieskepsis. Politisch linksorientierte setzung, noch bevor das Original ge - gehören (in einer weltweit geführten Er- auf ihre eigene, grenzüberschreitende Autoren haben ihr Wirkungsfeld mit der druckt wird. hebung im Jahre 2006 gehörte Persisch Weise. Die Literatur findet in neuen Islamischen Revolution weitgehend ver- Der erste Fall, der mir bekannt wur- zu den zehn meistgenutzten Sprachen Formaten neue Wege der Verbreitung. loren. Sie mussten erleben, wie groß das de, war – noch vor Ahmadinezhads Zeit in Webblogs). Damit entsteht eine spe- Und das wiederum ist ein Zeichen der Mobilisierungspotential der islamisch- – die erwähnte Novelle von Huschang zielle iranische Community, in der die Hoffnung. „

6/2010 zur debatte 9 den Umfang aller Grundsätze der Ver- die Vorrangstellung der Muslime und Islamischer Staat und religiöse fassung und anderer Gesetze und Vor- der Status eines Bürgers zweiter Klasse schriften; hierüber wachen die Rechtsge- für die religiösen Minderheiten, wie Minderheiten – das Beispiel der lehrten des Wächterrates“. Laut Artikel auch die Schlechterstellung der Frau 13 sind Zoroastrier, Juden und Christen gegenüber dem Mann. christlichen Minderheiten als Minderheit geschützt. Sie können Dieser Unterschied galt auch für gemäß ihrem Glauben das persönliche Mord und Körperverletzungen. Aller- Harald Suermann Leben gestalten und ihre Riten und Ze- dings wurden im April 2004 die Geset- remonien vollziehen. Dort heißt es, dass ze für das Prinzip der Vergeltung bei sie „vollständig frei ihre religiösen Mord und Körperverletzung ange- Pflichten im Rahmen des Gesetzes aus- glichen, seitdem sind die Höhe des üben können. Die Personenstandsange- Blutgeldes (diyeh) identisch, egal wel- Vorbemerkung legenheiten und die religiöse Erziehung cher Religionsgemeinschaft der Täter erfolgen nach der entsprechenden eige- und das Opfer angehören. Zuvor war Das Thema religiöse Minderheiten nen Religion.“ Weiter heißt es in Arti- für den Mord eines Nicht-Muslims nur im islamischen Staat Iran ist nicht leicht kel 26: „Parteien, Verbände, politische ein Bruchteil der Summe vorgesehen. zu bearbeiten, weil es schwierig ist, soli- und berufliche Vereine, islamische Ver- Halb so hoch ist das Blutgeld bei Mord de und detaillierte Informationen zu er- eine und Vereine der anerkannten reli- an einer Frau. halten oder Informationen zu verifizie- giösen Minderheiten sind frei, vorausge- ren. Viele Betroffene halten sich mit setzt, dass sie die Grundlagen der Un- Zivilgesetz Auskünften zu ihrem eigenen Schutz abhängigkeit, Freiheit, nationalen Ein- zurück. Auch amtliche Informationen heit, die islamischen Prinzipien und die Auch im Zivilgesetz gibt es unter- sind selten und ihre Zuverlässigkeit ist Grundlagen der Islamischen Republik schiedliche Bestimmungen für Muslime zweifelhaft. nicht verletzen. Niemand darf daran ge- und Angehörige der religiösen Minder- Angehörige religiöser Minderheiten hindert oder dazu gezwungen werden, heiten. Hier ist zunächst zu nennen, im Iran leben zum Teil gefährdet, so an diesen teilzunehmen.“ Nicht aner- dass ein Nicht-Muslim keine Muslimin dass zu ihrem Schutz Aussagen anony- kannte Religionen, wie vor allem die heiraten darf, umgekehrt aber keine Be- misiert oder allgemein gehalten sind. Bahai, können ihren Kult nicht frei aus- schränkungen bestehen. Das Erbrecht Diejenigen Informationen, die sich auf üben. Die Regierung verbietet ihnen sah auch eine starke Bevorzugung der konkrete Gemeinschaften beziehen, auch die Lehre und die Predigt. Muslime in einer Erbengemeinschaft sind weitgehend über das Internet be- Gemäß Artikel 14 sind die islamische vor, zu der auch Nicht-Muslime gehör- kannt, somit also öffentlich. Sie wur- Regierung und die Muslime aufgrund ten. Das Recht wurde aber schon 2002 den aber, so weit es mir möglich ist, ge- der Sure 60:8 „verpflichtet, gegenüber zugunsten der Nicht-Muslime geändert. prüft. Nicht-Muslimen nach bester Sitte, mit Allgemein gilt, dass im Zivilrecht die Anstand und unter Wahrung islami- unterschiedlichen Bestimmungen mehr Statistik scher Gerechtigkeit zu handeln und und mehr angeglichen wurden. Prof. Dr. Harald Suermann, apl. Profes- ihre Menschenrechte zu achten. Dieser Weiterhin ist vorgeschrieben, dass Wer sind die religiösen Minderheiten sor für die Wissenschaft vom Christ- Artikel gilt nicht gegenüber denen, die Nicht-Muslime ihren Glauben an den im Iran und wie groß sind sie? Auf die- lichen Orient an der Universität Bonn sich gegen den Islam und die Islamische Eingängen ihrer Läden bekannt geben se Frage kann keine exakte Antwort ge- Republik Iran verschwören und enga- müssen. geben werden. Die Zahlen beruhen auf gieren.“ Die Zahl der nicht-muslimi- Schätzungen, sie geben aber eine Grö- schen Abgeordneten ist in Artikel 64 Die religiösen Minderheiten ßenordnung an. Von den etwa 70 Mill. Die armenisch-katholische und die festgelegt: „Zoroastrier und Juden wäh- Einwohnern des Iran sind etwa 2% Mit- lateinische (römisch-katholische) Kir- len je einen Abgeordneten, assyrische Grundsätzlich muss zwischen den glieder nicht-muslimischer Glaubensge- che haben nur wenige tausend Mitglie- und chaldäische Christen zusammen ei- traditionellen und von dem Koran aner- meinschaften. der. Protestanten, Evangelikale und nen und armenische Christen im Süden kannten religiösen Gruppen und den Zu ihnen gehören die Bahai. Diese Freikirchen sind wahrscheinlich weni- und Norden des Landes je einen Abge- nicht anerkannten religiösen Gruppen Religion entstand im 19. Jh. in Persien ger als 10.000 Personen. ordneten.“ unterschieden werden. Zu den ersteren und lehrt einen eigenen abrahamiti- Die Regierung betrachtet die Sabier / Von folgenden Berufen werden die gehören die Juden, zu den letzteren die schen Monotheismus. Im Mittelpunkt Mandäer als eine christliche Gruppe, sie religiösen Minderheiten laut Verfassung Bahai. Schwieriger ist die Zuordnung steht die Vorstellung von einem trans- sich selbst aber nicht. Ihre Größe wird ausgeschlossen: Präsident der Republik der Christen. Die traditionellen, schon zendenten Gott, der mystischen Einheit mit 5.000 bis 10.000 angegeben. Der (Artikel 115); Befehlshaber in der isla- vor dem Islam existierenden Gruppen aller Religionen und der Menschheit. Ursprung dieser Religionsgruppe ist mischen Armee (Artikel 144) und Rich- gehören zu den anerkannten Religio- Als in dieser Tradition stehend, und sich noch nicht ganz geklärt. Wahrscheinlich ter an einem Gericht (Artikel 163). Es nen. Das Verhältnis der neueren christ- damit auch als Erneuerung oder Über- ist sie im 3. Jahrhundert aus gnostisch- ist auch nicht möglich, dass Mitglieder lichen Bewegungen, wie der Evangeli- windung des Islam verstehend, wird christlichen Richtungen entstanden. Sie religiöser Minderheiten in den Wäch- schen oder Evangelikalen, sowie auch diese Religion von islamischer Seite hef- werden als eine Täufersekte betrachtet terrat aufgenommen werden können. der Freikirchen, zu Staat und Regierung tig als illegitim bekämpft. Die Bahai und leben traditionell vor allem im Süd- Darüber hinaus können sie auch nicht ist schwierig, da sie später entstanden werden auf 300.000 bis 350.000 Mit- irak und den angrenzenden iranischen Direktoren von öffentlichen Schulen sind und vor allem auch Konvertiten in glieder geschätzt und bilden somit Gebieten. werden. ihren Reihen haben. wahrscheinlich die größte Gruppe reli- Die jüdische Gemeinde zählt heute Bestimmte religiöse Minderheiten er- Doch zunächst ein Wort zu den übri- giöser Minderheiten im Iran. etwa 20.000 bis 25.000 Mitglieder. Die halten also eine grundsätzliche Aner- gen religiösen Minderheiten. Die Bahai Auf 100.000 bis 300.000 werden die Ursprünge dieser Gruppe werden im kennung und einen offiziellen Status. sind mit Abstand die am stärksten ver- Christen im Iran geschätzt, von denen Iran zum Teil bis in die Babylonische Allerdings nur in dem Rahmen, in dem folgte Gruppe im Iran. Sie stehen in der die überwiegende Zahl der armenisch- Gefangenschaft zurückgeführt. die Vorrangstellung des Islam und die abrahamitischen Tradition des Juden- orthodoxen Kirche angehört. Etwa 301 Die Regierung gibt die Zahl der Zo- Geltung der islamischen Gesellschafts- tums, des Christentums und des Islam wurde Armenien der erste christliche roastrier mit 30.000 bis 35.000 Mitglie- ordnung nicht in Frage gestellt wird. So und verstehen sich als eine vereinigende Staat. Die Kirche hat im 5. Jahrhundert dern an, während sie sich selbst auf wie der Koran und die Scharia (das isla- Reform dieser drei Religionen. Genau eine eigenständige Entwicklung begon- 60.000 einschätzen. Der Zoroastrismus mische Gesetz) prinzipiell die Grundla- das aber ist der Punkt, der den Islam in nen. Traditionell siedelten die armeni- ist zwischen 1800 v. Chr. und 600 v. ge des islamischen Staates bilden, so ist Frage stellt und herausfordert: Nach is- schen Christen im Norden des Iran, in Chr. in Nordpersien / Afghanistan ent- auch die Behandlung der religiösen lamischem Verständnis ist der Islam die der Nähe ihrer Heimat Armenien. Im standen. Es ist eine monotheistische, in Minderheiten an koranische und scha- unübertreffbare endgültige Offenbarung 17. Jahrhundert wurden viele von ihnen der Frühzeit mit dualistischen Tenden- ria-rechtliche Grundlagen gebunden. Gottes, nach der es keine neue Offen- in Isfahan im Zentrum des Iran angesie- zen versehene Religion. Das gilt grundsätzlich nur für die schon barung und Religion geben kann, es sei delt. Den nördlichen Iran haben sie ver- im Koran als Buchreligion anerkannten denn Häresie. Damit haben die Bahai lassen und die meisten leben heute in Rechtliche Lage Religionen, unter ihnen Judentum, in den Augen der Muslime jeden Schutz Teheran und Isfahan. Christentum und Sabier. Diese korani- verwirkt. Die Mitglieder der Apostolischen Iranische Verfassung schen Grundsätze spiegeln sich zum Die Juden unterstehen dem traditio- Kirche des Ostens, der sog. assyrischen Teil auch im Straf- und Zivilrecht wider. nellen Schutz der islamischen Gemein- Kirche, werden auf 10.000 bis 20.000 Die rechtliche Grundlage für die Be- schaft. Die bekannten verbalen Ausfälle geschätzt. Vormals waren die Mitglieder handlung der Minderheiten und für ih- Strafgesetzbuch Ahmadinedschads gegen Israel sind ge- dieser Kirche als Nestorianer bekannt. ren Status in der iranischen Gesell- gen den Zionismus und den israelischen Diese Kirche nahm früh in Persien, schaft und dem iranischen Staat bildet In einer Reihe von Gesetzen werden Staat gerichtet und beziehen sich nicht außerhalb des Römischen Reiches, eine die Verfassung der islamischen Repu- für Muslime und Nicht-Muslime unter- in erster Linie auf die jüdische Religion. eigenständige Entwicklung. Ihr Stamm- blik Iran. Laut Artikel 12 der iranischen schiedliche Strafmaße festgelegt. Zum Allerdings werden die Juden schnell als gebiet ist im Iran der Norden um den Verfassung ist der Islam Staatsreligion, Beispiel gilt für einen Ehebruch eines Spione des verhassten israelischen Staa- Urmia-See. und zwar in der Interpretation der Muslims mit einer Muslimin die Strafe tes angesehen und entsprechend dann Der katholische Zweig dieser Kirche Zwölferschia. Schon in Artikel 4 heißt von 100 Peitschenhieben, für den Ehe- auch angeklagt. Die gewollte Verbin- nennt sich die chaldäische Kirche. Ihr es: „Alle zivilen, strafrechtlichen, finan- bruch eines Nicht-Muslim mit einer dung des Staates Israel mit dem Juden- Ursprungsgebiet ist das gleiche. Auch ziellen, ökonomischen, administrativen, Muslimin ist die Todesstrafe vorgese- tum führt dazu, dass antizionistische sie hat im Norden noch eine Diözese. kulturellen, militärischen und politi- hen. Für den Ehebruch eines Muslims Äußerungen auch als antijüdisch ver- Ein Großteil der Chaldäer ist aber nach schen sowie alle übrigen Gesetze und mit einer Nicht-Muslimin ist keine Stra- standen werden. Je weiter sich das Re- Teheran gezogen. Ihre Mitgliedszahlen Vorschriften müssen in Einklang mit fe vorgesehen. Ähnliche Gesetze gelten gime von Ahmadinedschad von den ko- werden teilweise mit 10.000 angegeben, den islamischen Maßstäben stehen. auch für homosexuelles Verhalten ranischen Grundlagen des Staates ent- korrekter dürfte heute 3.000 sein. Dieser Artikel bestimmt den Inhalt und zweier Personen. Auch hier zeigen sich fernt und immer mehr Züge einer

10 zur debatte 6/2010 Militärdiktatur annimmt, desto eher dass sie ihre eigenen Bücher schreiben Da aus Vorsicht viele Gemeinden wird auch der koranische Schutzstatus konnten. Diese wurden dann von der Konvertiten nicht zum regulären Got- der Juden verloren gehen. Regierung genehmigt und auf deren tesdienst zulassen, treffen sich daher die Presse Zoroastrier und Sabier-Mandäer le- Kos ten gedruckt und unter den Assy- Konvertiten in Hausgemeinden. Sie ge- ben als „Schutzbürger zweiter Klasse“ rern verteilt. In den Schulen der aner- hen dadurch ein hohes Risiko ein, soll- im Iran. Eine darüber hinaus gehende kannten Minderheiten muss aber mit ten sie von den Beamten oder Reli- weitere Diskriminierung oder Verfol- wenigen Ausnahmen der Direktor ein gionswächtern entdeckt werden. Es Eucharistischer gung ist nicht bekannt. Muslim sein. heißt, die örtlichen Behörden im gan- Der Kult der Christen muss in einer zen Land seien angewiesen worden, Weltkongress Die Christen zurückhaltenden Weise vollzogen wer- hart gegen Hausgemeinden vorzugehen. den. Das betrifft nicht nur öffentliche Diese radikale Politik schwächt weiter Münchner Kirchenzeitung Die Situation der Christen als reli- Prozessionen, sondern auch die Litur- die Möglichkeit, auch trotz Verbot zu 1. August 2010 – Pater Hermann Scha- giöse Minderheit ist nicht einheitlich. gie. Traditionell finden die Gottesdiens - missionieren und die Konvertiten zu be- lück, früherer Missio-Präsident und Ge- Ich gehe zunächst auf die traditionellen te in Armenisch, Syrisch (bzw. Aramä- gleiten. Oft mangelt es den verstreuten neraloberer der Franziskaner, beleuch- Kirchen ein. Zu ihnen gehören im Iran isch) und einer europäischen Sprache Hausgemeinden an guter theologischer tete die Eucharistie aus der Perspektive die Armenier – orthodoxe wie katholi- statt. Versuche, die Liturgie in Farsi, der Begleitung und an Studienmaterialien. der Befreiungstheologie. Sie kritisiere, sche –, die Chaldäer, die Assyrer und Sprache der meisten Iraner zu überset- In 2009 wurde das Missionsverbot dass Liturgie zur Flucht aus der Wirk- die Lateiner. zen, wurden verboten. Des Weiteren verstärkt überwacht. Mitglieder von lichkeit verleiten könne. In den irdi- Christen leben hauptsächlich in den wird den letzten Jahren verstärkt darauf evangelischen Kirchen wurden angehal- schen Realitäten seien jedoch Zeichen Städten. Sie können im Allgemeinen im geachtet, dass kein Iraner eine Kirche ten, Mitgliederkarten bei sich zu führen, zu sehen, ja die Armen seien sogar Iran an der Wirtschaft teilnehmen und betritt, auch nicht für die im Islam doch von denen Kopien an die Behörden ge- selbst Sakramente des Reiches Gottes. haben insgesamt einen relativ hohen recht weit verbreitete Verehrung Ma- geben werden müssen. An den Eingän- Eucharistie sei ohne soziales Engage- Lebensstandard erreicht, und dass ob- riens. gen der Kirchen wurden Ausweise kon- ment und den Durst nach Gerechtigkeit wohl sie offiziell sanktionierte Diskrimi- trolliert. Die Kirchenleitungen sind an- undenkbar. nierung auf Gebieten der Berufsaus- Evangelische Christen gewiesen, neue Mitglieder vor ihrer Zu- Die Eucharistie habe Bedeutung für übung, der Schule und des Eigentums und Konvertiten lassung dem Ministerium für Informa- den Einzelnen, für die Kirche und für erfahren. Um eine Stelle im öffentlichen tion und islamische Führung zu melden. die Welt, betonte der Theologe Gott- Sektor zu erhalten, müssen auch Chris- Für alle Nicht-Muslime ist die Bekeh- Evangelikale dürfen nur sonntags einen hard Fuchs aus Wiesbaden. Sie eröffne ten einen Islam-Test bestehen. Diese rung von Muslimen illegal. Evangeli- Gottesdienst halten. Der Assembly of einen neuen Zeitraum zwischen Erinne- Tests sind auch für alle Universitäts- sche Christen werden von den Behör- God (Pfingstlergemeinde) wurde Anfang rung und Erwartung. Dabei gehe es bereiche obligat, so dass Christen wie den gedrängt, eine Zusage zu unter- 2008 der Sonntagsgottesdienst verboten. längst nicht nur um die sichtbare Welt. auch andere Minderheiten dadurch ei- schreiben, dass sie keine Mission unter Firouz Khandjani, Mitglied in dem Denn in der Eucharistie „sind wir schon nen erschwerten Zugang zu den Uni- den Muslimen betreiben und Muslime Nationalen Kirchenrat Irans, hat in ei- dem himmlischen Gottesdienst zuge- versitäten haben. 15.000 bis 20.000 nicht zu ihren Gottesdiensten zugelas- nem vor kurzem gegebenen Interview schaltet“. Johannes Schießl Christen verlassen jedes Jahr den Iran. sen werden. geäußert, dass es zwei Phasen der Chris - Für Muslime gilt das Konversionsver- tenverfolgung gib: die Zeit nach der Re- Die traditionellen Kirchen bot. Dennoch konvertieren Muslime, volution, als die Christen die Arbeit ver- hauptsächlich treten sie evangelikalen loren hatten (keine harte Verfolgung) Personales Leben Die Mitglieder der traditionellen Kir- oder auch Freikirchen bei. Jedoch ver- und die Zeit seit 2006, in der Christen chen, mit Ausnahme der lateinischen, zeichnen auch die armenisch-orthodo- nicht nur ihre Arbeit, sondern alles ver- Katholische Nachrichtenagentur unterscheiden sich sprachlich und kul- xe, die armenisch-katholische, sowie lieren und Ziel der Operationen der 8. Mai 2010 – Die drei abrahamitischen turell von den muslimischen Staatsbür- auch die chaldäische Kirche Konversio- Sicherheitsorgane sind. Sie dringen in Religionen haben allesamt Hochach- gern. Sie sind alte Kirchen, die schon nen. Sie akzeptieren Muslime aber nur die Häuser ein und konfiszieren alles, tung vor dem menschlichen Leben. Das vor der Entstehung des Islam entstan- zur Taufe, wenn sie von sich aus darauf was sie finden. Es ist eine staatliche ist das Ergebnis einer Veranstaltung der den waren und schon lange in der Re- drängen. Sie betreiben keine aktive Mis- Verfolgung, keine des Volkes, das im Katholischen Akademie. Mit dem The- gion siedelten. Die lateinische Kirche sion. Aufgrund des Missions- und Kon- allgemeinen sehr tolerant ist. ma „Wann beginnt personales Leben?“ wird als die traditionell westliche Kir- versionsverbots werden Konvertiten hatten sich am 4. Mai in München che betrachtet und hat ebenso ein Exis- und Missionare meist verhaftet. Zusammenfassung christliche und jüdische Theologen aus- tenzrecht. Jedoch sind die einheimi- Die Regierung ist über das Wachstum einandergesetzt. Auch die islamische schen Mitglieder zahlenmäßig gering. der Kirche informiert und will es durch Zusammenfassend kann man feststel- Sicht war vertreten. Unterschiedliche Die lateinische Kirche wird hauptsäch- harte Maßnahmen unterbinden. Chris- len, dass die traditionellen Minderhei- Auffassungen gab es bei den Religions- lich als Ausländerkirche betrachtet. ten mit muslimischem Hintergrund wer- ten, die im Koran als Anhänger einer vertretern allerdings über die Einschät- Die Mitglieder der traditionellen Kir- den gesellschaftlich ausgegrenzt. Sie fin- Buchreligion angesehen werden, einen zung, wann menschliches Leben be- chen leben weitgehend friedlich neben den kaum eine Arbeitsstelle oder verlie- gewissen Schutz als Bürger zweiter ginnt. den Muslimen. Sie genießen Kultfreiheit ren ihren Arbeitsplatz, wenn bekannt Klasse genießen. Nicht anerkannte Ge- (keine Religionsfreiheit) und können wird, dass sie Christen geworden sind. meinschaften wie die Bahai oder Min- die Personenstands- und Erbangelegen- Konvertiten mit eigenem Gewerbe man- derheiten, die viele Konvertiten aus Die Tagespost heiten nach eigenem Recht regeln. Die gelt es an Kundschaft. Gefordert wird dem Islam aufnehmen, werden verfolgt, 7. Mai 2010 – Das Judentum, vertreten Rechtskraft des Personenstands- und die Rückkehr zum Islam. Weil es den weil sie den Anspruch des Islam als durch Tom Kuçera, sieht für Embryo- Erbrechts wird eingeschränkt, wenn anerkannten Kirchen verboten ist, ei- letzte und beste Religion in Frage stel- nen, die nicht eingepflanzt werden, kei- Muslime von der Angelegenheit betrof- nem Gläubigen mit muslimischem Hin- len. Unter Ahmadinedschad hat sich die ne moralische Verpflichtung. Der Rab- fen sind. tergrund beizustehen, haben viele tradi- Lage der Minderheiten stark ver- biner an der liberalen Synagoge Beth Auch der traditionelle Alkoholkon- tionelle Gemeinden ihre Unterstützung schlechtert, eine parallele Entwicklung Shalom in München betonte aber den sum und -verkauf ist den traditionellen für Glaubensgeschwister muslimischer zu dem Zurückdrängen der religiösen verantwortlichen Umgang mit dem Minderheiten erlaubt, jedoch nicht in Herkunft zurückgezogen. Autoritäten im Land. „ menschlichen Leben, das als heilig be- der Öffentlichkeit, sondern nur in ihren trachtet werde. Durch seinen Vortrag eigenen Reihen. wurde ersichtlich, dass die heute in Is- Genauso sind die Männer und vor al- rael vorzufindende Praxis stärker von lem die Frauen an die traditionelle isla- der Interpretation religiöser Texte des mische Kleiderordnung gebunden, so- Judentums geprägt worden ist als ver- lange sie sich im öffentlichen islami- gleichsweise die europäische Praxis schen Raum bewegen. In Räumen, zu durch den christlichen Glauben. denen Muslime keinen Zutritt haben, Clemens Mann sind sie nicht an die Kleiderordnung ge- bunden, sondern können den eigenen Sitten folgen. Dies wird vor allem in Münchner Kirchenzeitung den zahlreichen Clubs und Ressorts der 16. Mai 2010 – Im islamischen Recht, Armenier, wie auch in den weniger so der Tübinger Wissenschaftler Tho- zahlreichen der Lateiner und Chaldäer mas Eich, gehe man von der „Beseelung praktiziert. am 120. Tag der Schwangerschaft“ aus. Veröffentlichungen von religiöser Li - Der Münchner Professor für orthodoxe teratur müssen der Zensur vorgelegt Theologie, Athanasios Vletsis, plädierte werden. Dies gilt auch für Schulbücher. dafür, das neue Leben dort beginnen zu Der Religionsunterricht kann in der ei- lassen, wo es „in Empfang“ genommen genen Sprache erfolgen, aber auch die wird. Auch Professor Konrad Hilpert, hierfür verwendeten Bücher müssen ge- katholischer Moraltheologe aus Mün- nehmigt werden. Für diese Genehmi- chen, warb dafür, in der Frage nach gung muss das Textbuch in Farsi über- dem Beginn des personalen Lebens die setzt werden, was oftmals zu horrenden Beziehung des Embryos zur Mutter ein- Kosten führt. Die Armenier sind im All- Foto: dpa zubeziehen. Andreas Schaller gemeinen gut ausgebildet und unterhal- Die Kirche versucht auch mit diploma- Tauran, damals Spitzendiplomat des ten ihre eigenen Schulen. Sie haben tischen Mitteln, Schutz und Anerken- Heiligen Stuhls, in den Iran gereist. Er auch ihre eigene armenisch-sprachige nung für die Christen im Land zu errei- traf sich u. a. mit Präsident Mohammed Zeitung und betreiben mehrere kulturelle chen. 2002 war Erzbischof Jean-Louis Chatami. Vereinigungen. Die Assyrer berichteten,

6/2010 zur debatte 11 Allerheiligsten Sakraments und leitet eine Bitte an den Heiligen Stuhl, damit so ein eucharistisches Apostolat ein, das dieser die Irrtümer unterbinde, die Ge- die „eucharistischen Werke“ bis Ende nerationen von Christen von der Eu- des 19. Jahrhunderts beeinflussen charistie ferngehalten haben: „Der Eu- Der Eucharistische wird. charistische Kongress sehnt auf das Er- gebenste und Lebhafteste den Tag her- 1. Die Eucharistische Bewegung des bei, an dem der Heilige Apostolische Weltkongress 19. Jahrhunderts Stuhl in seiner überlegenen Weisheit den Irrtümern einen letzten Stoß verset- In diesem oben umrissenen sozio-reli- zen möge, da sie in vorigen Jahrhunder- giösen Klima entsteht durch Èmilie- ten dazu beigetragen haben, Generatio- in München Marie Tamisier (1834 – 1910) das „Werk nen von Christen, so auch unsere, vom der internationalen Eucharistischen anbetungswürdigen, eucharistischen Kongresse“, das die Früchte der eucha - Brot des Lebens fernzuhalten.“ ristischen Visionen Eymards, des „Apos - tels der Eucharistie“ (1811 – 1868), und 2. Die Verflechtung mit der Erinnerung, Reflexion, Auftrag anderer herausragender Figuren wie liturgischen Bewegung Antoine Chevrier (1826 – 1879), Lèon Es waren faszinierende Tage im Som- ner Tagung mit dem Titel „Der Eucha- Dupont (1797 – 1876) und Gastin de Fast gleichzeitig mit der Eucharisti- mer 1960. Mehr als eine Million Men- ristische Weltkongress in München vor Ségur aufgreift. Èmilie-Marie Tamisier schen Bewegung zeigen sich, ausgehend schen nahmen damals am Eucharisti- 50 Jahren. Erinnerung, Reflexion, Auf- hatte damit begonnen, Bußwallfahrten von Solesmes die ersten Anzeichen der schen Weltkongress in München teil: trag“ am 20. Juli 2010 bedenken, wie zu Wallfahrtskirchen zu organisieren, in Liturgischen Bewegung. Dom Prosper Ein Massenevent und „ein Markstein das Mysterium der Eucharistie heute denen einige berühmte eucharistische Louis Pascal Guéranger (1805 – 1877) der liturgischen und theologischen zu feiern und zu deuten ist. „zur de- Wunder der Vergangenheit verehrt wur- veröffentlicht seine Institutions liturgi- Entwicklung“, wie der damalige Theo- batte“ veröffentlicht den ins Deutsche den. Sie dachte auch bald daran, ent- ques, ein strategisches Werk, das die logieprofessor Joseph Ratzinger übersetzten, grundlegenden Vortrag sprechende Studientage einzuführen, ja Absicht verfolgt, die französischen Diö- schrieb. 50 Jahre später, in einer radi- von Erzbischof Piero Marini aus Rom regelrechte Kongresse abzuhalten, die zesen zur Einheit der römischen Litur- kal veränderten Lage, wollten die Erz- und kürzere Beiträge, die versuchen, internationale Ausmaße annehmen soll- gie „zurückzuführen“. Das gilt auch für diözese München und Freising und die aus verschiedener Perspektive einen ten. Solche Pläne waren jedoch schwer sein Année liturgique, das in die erken- Katholische Akademie im Rahmen ei- Zugang zur Eucharistie zu erschließen. zu realisieren. Die französische Kirche nende Durchdringung des gefeierten hielt es für unvorsichtig, die Radikalen Mysteriums einführt, wodurch die Be- in der Regierung so offen herauszufor- deutung des Gebets der Kirche wieder dern, indem man auf ein „soziales Reich entdeckt werden soll; dies steht im Christi“ setzte; in Belgien war eine Aus- Gegensatz zu der im 19. Jahrhundert einandersetzung zwischen Kirche und grassierenden individualistischen Fröm- Regierung bezüglich des Schulunter- migkeit. Im Denken Dom Guèrangers, richts in Gang; das katholische Laien- dem „unnachgiebigen Vater“ der Litur- Die internationalen Eucharistischen tum war ausgegrenzt; die religiösen gischen Bewegung, verbindet sich die Kongregationen fürchteten um ihr Über- christliche Erneuerung mit einem star- Kongresse von Lille (1881) bis leben; und Papst Leo XIII. wollte keine ken ultramontanen Einfluss, der für die Initiativen fördern, die die ohnehin aktive Gegenwart der Kirche in einer München (1960). schon angespannten Verhältnisse zu Welt eintritt, die dem christlichen Glau- den Regierungen jenseits der Alpen wei- ben feindlich gegenüber steht. ter verschärft hätten. Neben den Initiativen der Basis, de- Erneuerung und Aktualität In dieser Situation erreichte ein Auf- ren Ziel die Förderung der eucharisti- ruf die Katholiken des französischen schen Frömmigkeit war, sollte auch der Erzbischof Piero Marini Nordens, wo die eucharistischen Werke Einfluss des Heiligen Stuhls erwähnt in voller Blüte standen. Am 25. April werden. Das motu proprio von Pius X. Die neuen theologischen Argumente, 1881 lud ein Komitee, angeführt vom aus dem Jahre 1903 Tra le sollecitudini die bei den Eucharistischen Kongres- Großindustriellen Philibert Vrau aus über die geistliche Musik unterstreicht, sen, 1960 in München, zutage getreten Lille mittels Rundbrief die Katholiken dass die tätige Teilnahme der Gläubigen sind, gründen auf der komplexen Ver- der ganzen Welt zu einem Eucharisti- an der eucharistischen Feier ein ekkle- flechtung von eucharistischer und litur- schen Kongress ein, der in Lille Ende siologisches Prinzip sei. Dies wird erläu- gischer Bewegung, durch welche die Juni stattfinden sollte, um „ein außerge- tert in einem Abschnitt, der später Be- Kirche mit ihren Ausdrucksformen seit wöhnliches, göttliches Eingreifen her- rühmtheit erlangen sollte (ASS XXXVI, Ende des 19. Jahrhunderts in hohem vorzurufen: Nur unser Herr kann unse- Seite 329 ff.). Maße beeinflusst wurde. re Gesellschaft retten.“ Dort sollte es zu Dann folgen binnen weniger Jahre Möchte man diese Fäden wieder auf- „einer Generalversammlung von Vertre- die beiden berühmten Eucharistischen greifen, so muss man zurückgehen zur tern der Werke des Allerheiligsten Sa- Dekrete von Papst Sarto (Pius X.). In geistlichen Bewegung des nachrevolutio- kraments und der in die eucharistische einer Zeit, in der sich die Kommunion nären Frankreich. Hier setzt sich, über Verehrung eingebundenen Personen“ der einfachen Gläubigen häufig auf die die Ablehnung der jansenistischen kommen. „Und da das Böse universal großen Festtage beschränkte, während Strenge sowohl in der Pastoral als auch ist, wird die Versammlung international in Seminaren und Klöstern die wö- in der Theologie hinaus, eine christolo- sein, das heißt, alle Länder werden auf- chentliche Kommunion üblich war, gische Spiritualität in zweifacher Gestalt gefordert, sich dort vertreten zu lassen.“ muss das Dekret zur häufigen Kommu- durch, nämlich in der Verehrung der Eu- Die Teilnahme fiel zwar bescheiden nion als historisches Ereignis für die sa- charistie und des Heiligen Herzens Jesu. aus, übertraf aber doch die Erwartun- kramentale Praxis der Kirche begrüßt Das Verständnis von Eucharistie gen. Zum Kongress in Lille kamen die werden. Das Dokument Sacra Tridenti- wird, den Tridentiner Dekreten zufolge, Vertretungen acht verschiedener Län- na Synodus vom 20. Dezember 1905 mit den Begriffen von Opfer, Realprä- der. Die Initiatoren beschlossen damals, setzt einer rigoristischen Pastoral ein senz, Anbetung, Zentralität des Taber- einen Ausschuss einzurichten, der der Ende, die den Grundsatz, sacramenta nakels dargestellt. Die eucharistische Bewegung einen dauerhaften Charakter pro homines vergessen hatte, und den Verehrung wird auf übertriebene Weise Erzbischof Piero Marini, Präsident des verleihen sollte. Zugleich plante man Getauften von der sakramentalen Kom- ins Zentrum der Aufmerksamkeit ge- Päpstlichen Komitees für die Internatio- den Rahmen für zukünftige Kongresse, munion fernhielt, die fast nur „Heili- rükkt und zum gemeinsamen Nenner nalen Eucharistischen Weltkongresse, in Form von Vorträgen, Berichten, Ple- gen“ vorbehalten schien. jeglicher Art von Spiritualität, indem sie Rom narsitzungen, Andachtsübungen und ei- So wie die Tridentinischen Texte na- viele unterschiedliche Formen annimmt ner feierlichen Schlussprozession. türlich von der Polemik der Gegenre- mit dem erklärten Zweck, die Liebe Diese großen Versammlungen, die formation beeinflusst sind, so stellt auch Christi zu verbreiten und sein „soziales Heiland zugefügt haben, führt zur Ent- einberufen wurden, um die Kirche das Dekret aus dem Jahre 1905 das Er- Reich“ aufzubauen. stehung einer großen Zahl religiöser durch die Eucharistie zu erneuern, und gebnis eines genau beschreibbaren his - Die evangelische Weisheit vieler Hei- Kongregationen „eucharistischer Süh- um die Präsenz von Christen in der Ge- torischen Kontexts dar und hängt von liger und nicht zuletzt die fortschreiten- ne“, zur Gründung verschiedener Verei- sellschaft zu fördern, banden alle Strö- der eucharistischen Bewegung in ihren de Aufnahme der Moraltheologie Li- nigungen, wie beispielsweise der „Liga mungen der Eucharistischen Bewegung positiven und negativen Aspekten ab. guoris führten Mitte des neunzehnten des Gebetsapostolats“ (1861), zur Wei- ein, und verliehen auf diese Weise den Dieses Dekret scheint sich mehr auf die Jahrhunderts, nicht nur in Italien son- he von Einzelpersonen und sogar Staa- so genannten „eucharistischen Wer- Disposition des Einzelnen zu konzen- dern auch in Frankreich, zur Vereinfa- ten zum „Heiligen Herzen“ (Tirol 1796, ken“, die die ganze Bandbreite der eu- trieren als auf das eucharistische Ge- chung einer vertrauensvolleren Spiritu- Belgien 1870, Frankreich 1873). charistischen Verehrung in ihren histo- heimnis als solches; und die Kommu- alität, die sich aus eucharistischer Praxis Eine Vereinigung zur ewigen Anbe- rischen Formen repräsentierten, Sicht- nion kommt darin als wichtiges Ziel und Marienverehrung speiste. Der Vor- tung wird 1810 in Rom gegründet. In barkeit und Koordination. vor, ist aber noch wenig an den liturgi- stellung von einem richtenden Gott Paris entsteht 1839 die Vereinigung zur So entwickelten sich die Eucharisti- schen Vollzug gebunden. Auch nach steht die eines barmherzigen und güti- nächtlichen Anbetung, die schnelle Ver- schen Kongresse mit einer doppelten dem Dekret wird die sakramentale gen Gottes entgegen, der sich im „Her- breitung in Europa und Nordamerika Zielsetzung: Anbetung und Sühne auf Kommunion oft außerhalb der Messe zen Jesu“ offenbart. findet. der einen Seite und häufige Kommu- stattfinden. Der Wunsch nach „Sühne“ der 1856 gründet San Pierre-Julien Ey- nion auf der anderen. Seit dem Eucha- Das zweite Dekret vom 8. August Schmähungen, die die Menschen dem mard die Kongregation der Priester des ristischen Kongress 1881 richtet sich 1910 Quam singulari Christus amore

12 zur debatte 6/2010 Und als dritter Punkt im eucharisti- schen Programm kam hinzu die Kom- munion, die ja, besonders seit Pius X., oft als Kommunionfeier eigens hervor- gehoben wurde, vor allem nun auch als Kinderkommunion, etwa in der Kom- munion der hunderttausend Kinder in Budapest. Aber es war noch einmal eine selbstständige Feier, ganz entsprechend der seit dem 18. Jahrhundert durchge- drungenen Isolierung der Kommunion. Das Festprogramm des Eucharistischen Kongresses drohte in drei Teile zu zer- fallen.“ Die statio urbis könnte, so Jung- mann, ein Vorbild für eine erneuerte Form der Kongresse sein, nämlich als Einberufung einer statio orbis, um auf diese Weise als Höhepunkt des Eucha- ris tischen Kongresses die Communio der ganzen Kirche in der Eucharistie- feier zu erfahren. Übrigens schrieb der damals junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger, als er den Ablauf des Münchner Kon- gresses analysierte, folgendes: „Mit der statio orbis war die Überordnung des Dynamischen der Opfer- und Mahlfeier über die Statik der bloßen schauenden Anbetung [wie man sie dem isoliert be- trachteten Wort vom Weltfronleichnam hätte entnehmen können] eindeutig si- chergestellt. Damit ist der Eucharistische Kongress von München zu einem Markstein der liturgischen und theolo- Foto: kna gischen Entwicklung geworden, weg- Die charakteristische Form des Dachs weisend für die ganze Kirche. Er hat ein über dem Altar beim Abschlussgottes- neues Modell für die Eucharistischen dienst wurde ein Erkennungszeichen Kongresse geschaffen, das von dem bis- des Eucharistischen Weltkongresses in herigen nicht unerheblich abweicht, in München 1960. Zukunft aber nicht mehr wird übergan- gen werden können. Er hat insofern sah für die Erstkommunionkinder die mit den Möglichkeiten einer vereinfach- gestaltung dieser neuen Orientierung zweifellos ein gutes Stück Konzilsvor- 1905 herausgegebenen Bestimmungen ten Umsetzung des neuen päpstlichen konkretisierte sich jedoch erst beim bereitung geleistet und jene gereinigte vor. In einem langen lehrhaften Vor- Dekrets befassen. Münchener Kongress 1960. neue Selbstdarstellung der Kirche mit wort versucht der Papst Theologen und Die Eucharistischen Dekrete zu Be- anbahnen geholfen, die nach dem Seelsorger von der Stichhaltigkeit der ginn des 20. Jahrhunderts bieten der eu- 3. Eine statio weltweit Willen des Papstes als Frucht des Kon- neuen Pastoral zu überzeugen, die ge- charistischen und der liturgischen Be- zils reifen soll.“ gen jeden Rigorismus von den Erstkom- wegung Gelegenheit, aufeinander zu Nachdem man die alten theologi- Die von Jungmann entwickelte Idee munionkindern nur erwartet, dass sie treffen und eine so fruchtbare Symbiose schen Begründungen für die Eucharisti- wurde wohlwollend von Kardinal Wen- eucharistisches von normalem Brot einzugehen, dass die Eucharistischen schen Kongresse nun für überholt hielt, del aufgenommen, der „nicht ruhte bis unterscheiden können und zumindest Kongresse zum Sprungbrett für die wei- bot das Werk des großen jesuitischen Form und Inhalt des Kongresses das Er- eine gewisse Kenntnis vom Mysterium tere Verbreitung von liturgischen The- Liturgiewissenschaftlers, Pater Josef An- kenntnisniveau erreicht hatten, das des Heils haben. Der Nachteil besteht men und Einrichtungen des frühen 20. dreas Jungmann, eine neue Sichtweise. mittlerweile – angefangen mit der Arbeit darin, dass das Dekret sich mit der Erst- Jahrhunderts werden. Er regte an, in diesen weltweiten Feiern der Liturgischen Erneuerung bis zum kommunion von Kindern befasst, aber In der unerschöpflichen Quelle der eine universale Wiederbelebung des al- Stand der gegenwärtigen Theologie – er- den Prozess der christlichen Initiation Akten zu den Eucharistischen Kongres- ten Brauchs der römischen statio urbis zielt worden war.“ in seiner Gesamtheit nicht berücksich- sen lässt sich mancher interessante, ver- zu sehen. Diese moderne Übertragung der alten tigt. Die Erstkommunion auf ein junges tiefende Aufsatz finden: So Dom Besse, Schon 1930, im Rahmen des Eucha- stationes wurde schließlich ermutigend Alter zurückzuführen, ohne sich die der in Wien 1912 seine „L’action du ristischen Kongresses von Kartagina, geprägt von Johannes XXIII., der in ei- Frage nach der Firmung zu stellen, be- prêtre par la liturgie“ präsentiert; Dom hat der österreichische Wissenschaftler nem eigenhändig geschriebenen Brief, deutete, zumindest in einigen Ländern, Beauduin, der 1924 in Amsterdam ei- die Aufmerksamkeit auf diesen Brauch überbracht von seinem Legaten, Kardi- eine Veränderung der Reihenfolge der nen Vortrag zu „La concelebration eu- gelenkt, der bereits für die frühe Kirche nal Gustavo Testa, ausdrücklich die er- Sakramente: Taufe, Erstkommunion, charistique“ hält, der damals wie eine mehrfach belegt ist, aber eine besondere neuerte Gestaltung des deutschen Kon- Firmung. Und es musste ein anderer Wiederentdeckung erschienen sein Entwicklung in der mittelalterlichen gresses bewilligte und empfahl, sie möge Raum gefunden werden für die „feier - muss; oder in Barcelona 1952, wo er Kirche Roms erfährt. Hierbei feierte der einer liturgica statio entsprechen, ähn- liche Kommunion“, die in den franko- aus seiner Sicht die Geschichte von Bischof, insbesondere an Sonntagen lich denen, wie sie in Rom während der phonen Gegenden so beliebt war und „Pie X et le renouveau liturgique“ skiz- und an einigen Feiertagen, die Gottes- Fastenzeit stattfanden. Eine statio, auch in pastoraler Hinsicht geschätzt ziert hat. Unterdessen hatte der Rev. dienste in einer Art pilgernden Ver- unterstrich er, „non urbis sed orbis: Der wurde, da ihr eine lange Katechese vor- Alcunin Deutsch 1926 in Chicago zum sammlung (= statio urbis) an den wich- hochgeschätzte Kardinal und Erzbischof ausging. Thema „The liturgical movement“ ge- tigsten Kirchen der Urbe, um so die Ein- von München und Freising hat bekannt Annahme und Verbreitung der bei- sprochen, und Bernard Capelle hat heit der Ortskirche sichtbar zu machen: gemacht, dass dieser Kongress einem li- den Eucharistischen Dekrete von 1930 in Kartagina einen Vortrag zur eu- Bischof, Klerus, Volk. turgischen Gottesdienst mit Stationen Pius X. wurden systematisch von den charistischen Feier in der afrikanischen Also: „Wie in den stadtrömischen entsprechen soll, so wie jene, die den Eucharistischen Kongressen gefördert, Antike gehalten. Stationsfeiern der Papst oder doch sein Vorschriften gemäß in Rom während die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr- Die zunehmende Wechselwirkung eigens bevollmächtigter Stellvertreter der Fastenzeit gehalten werden, also hunderts stattfanden. Die Eucharistie zwischen Eucharistischen Kongressen die Feier leitete, so steht […] ein Legat keine statio urbis, sondern eine statio war nun nicht mehr ausschließlich und Liturgischer Bewegung führt des Papstes an der Spitze der Feier; um- orbis. Es soll ein Gottesdienst für die Gegenstand der Verehrung, sondern schließlich – nach einer Zwangspause geben von den Bischöfen aus vielen ganze Welt sein, bei dem Mengen Gläu- wurde immer mehr auch als geistliche der Kongresse durch die beiden Welt- Ländern, und von Klerus und Volk aus biger ihre glühenden Gebete für die ec- Nahrung verstanden. kriege – nach dem Zweiten Weltkrieg zu allen Nationen, bringt er der göttlichen clesia militans und für die Bedürfnisse Schon nach dem Eucharistischen echten Neuerungen. Wenn bislang die Majestät das Opfer dar.“ der Welt zum Himmel richten mögen. Kongress von Tournay (1906) wird das Schlussprozession den Höhepunkt einer „Wenn bei früheren Kongressen“, so Wir begrüßen diesen frommen Gedan- Dekret Sacra tridentina Synodus mit erlebten Feier darstellte, seit den Anfän- erläutert Jungmann weiter, „die Veran- ken…“ Begeisterung präsentiert und mehrfach gen einem Weltfronleichnam gleich, so staltung vor allem die Prozession beton- So verlieh die gemeinsame Feier der als eines der „denkwürdigsten“ Ereig- orientiert sich die eucharistische Fröm- te und allen Glanz auf sie konzentrierte Eucharistie, bei der die Universalkirche nisse „der Ruhmesgeschichte der eucha- migkeit zunehmend auf die liturgische – in der sieben Stunden dauernden Pro- erkennbar und sichtbar wurde als mys- ristischen Verehrung“ bezeichnet. Diese Feier selbst. zession in Montreal, in den Schiffspro- tischer Leib Christi, dem Münchner begeisterte Einschätzung wird bis zum Schon beim Kongress in Barcelona zessionen von Malta oder von Buda- Kongress eine besondere Prägung und ersten Weltkrieg bestehen bleiben und (1952) zeigten sich die deutlichen Aus- pest, in der glanzvollen Prozession über hob mit großer Klarheit die Vorrangstel- sich mit der ebenso positiven Annahme wirkungen des gemeinsamen Wachs- den Ring in Wien –, so erschien die lung der Feier gegenüber der eucharisti- des päpstlichen Dekrets zur Erstkom- tums von Liturgischer und Eucharisti- Messe, gerade auch wenn sie in feier- schen Verehrung außerhalb der Messe munion der Kinder verbinden. scher Bewegung, denn die Feier der Eu- lichen Pontifikalämtern sich vollzog, als hervor. Im Kongress von Madrid 1911 wird charistie stellte den absolut zentralen ein zweiter, aber sekundärer Programm- In diesem Sinne markierte der man sich in mehreren Studiensitzungen Augenblick dar. Die vollständige Aus- punkt. Münchner Kongress 1960, wenn auch

6/2010 zur debatte 13 in den Grenzen eines noch traditionel- der Heilige Stuhl durch das päpstliche len Ablaufs, eine wichtige Entwicklung, Komitee empfiehlt. Das eucharistische nicht nur wegen seiner ausgeprägten Mahl stellt so das Zentrum dar, von Sorge um die Ökumene, sondern auch dem aus die „Hefe des Evangeliums“ wegen der Bemühung, den Kongress, Verbreitung findet; es wird zur treiben- der in den charakteristischen Formen den Kraft für die Errichtung der der Volksfrömmigkeit des 19. Jahrhun- menschlichen Gesellschaft und zum derts wurzelte, weitestgehend in die Pfand für das kommende Reich. zeitgenössische liturgische Erneuerung Die Kongresse führen die heilbrin- zu integrieren. gende Dimension der Eucharistie in die „Es hätte keinen Sinn“, unterstrich umfassende Realität der modernen Welt Jungmann, „und auch keinerlei Nutzen, und in die Vielfalt der Kulturen ein: die Pracht der Eucharistie zu verherr- „Die Gläubigen sind dazu aufgefordert, lichen, wenn es nicht das heilige Volk Bewusstsein davon zu erlangen, dass gäbe, das von der Eucharistie genährt eine wahrhaft eucharistische Kirche wird, und dessen Geist gelenkt ist vom eine missionarische Kirche ist. Und in Gesetz des Herrn. Nicht die Eucharistie der Tat ist die Eucharistie Quelle der ist der Zweck dieser Glaubensbekun- Mission. Die eucharistische Begegnung dung, sondern das Volk Gottes.“ … erweckt im Jünger den entschiede- Man kann sagen, dass der Eucharisti- nen Willen, anderen mutig zu verkün- sche Kongress von München „die theo- den, was er gehört und erlebt hat, um logische Uhr weitergedreht hat … im auch sie zu der gleichen Begegnung mit Wachsen des Glaubensbewusstseins“, Christus zu führen. Auf diese Weise öff- indem er der Eucharistie ihren Platz im Foto: kna net sich der von der Kirche gesandte Inneren der liturgischen Feier wieder Auch die Politik war auf dem Kongress sche Ministerpräsident Hans Ehard Jünger einer Mission, die keine Grenzen zugewiesen hat, ihren ursprünglichen präsent. Der österreichische Bundes- (v.l.n.r.) nahmen am Abschlussgottes- kennt.“ und natürlichen Platz. kanzler Julius Raab, Konrad Adenauer, dienst teil. So verdeutlicht der sichtbare Aspekt Dennoch hat die Idee einer statio, der deutsche Kanzler, und der bayeri- der Kongressgemeinschaft, der seinen statio orbis oder nationis die Irritation Ausdruck in der Feier findet, die Not- der Orthodoxie hervorgerufen, insbe- wendigkeit, dass die Eucharistie regel- sondere die des russischen Theologen Innehalten in Eifer und Gebet, zu dem Wenn man all dies voraussetzt, wel- mäßig empor gehoben werden soll wie Nicolai Afanassieff (1893 – 1966) vom die Gemeinschaft die Universalkirche che Aufgabe bleibt dann den internatio- „ein Banner für die Völker, die sehn- Institut de théologie orthodoxe St Serge einlädt, oder eine Ortskirche die ande- nalen oder nationalen Eucharistischen süchtig auf der Suche sind“ (Jes 11,10), in Paris. Afanassieff, ein Vertreter der ren Kirchen der selben Region oder der Kongressen heute noch? dass sie eine angemessene Antwort auf orthodoxen Theologie, hat mehr als alle selben Nation oder der ganzen Welt.“ den Durst nach Wahrheit, nach Erneue- anderen, in den Jahren unmittelbar vor 4.1 Die Eucharistie im Herzen der rung und Leben bietet, den jeder dem Zweiten Vatikanischen Konzil, 4. Aktualität der Eucharistischen Kirche und der Welt Mensch im Herzen trägt. Und das gilt die tiefe Verbindung von Ortskirche Kongresse nicht nur in den Ländern, die traditio- und Eucharistie aufgewertet, und einen Die internationalen Eucharistischen nell Ziel missionarischer Tätigkeit sind, wichtigen Impuls zur Wiederentde- Die neuen theologischen Argumente Kongresse waren fast ein Jahrhundert sondern auch in den Ländern der frü- ckung des eucharistischen Bewusstseins der Kongresse, die in München zutage lang der einzige Ausdruck des „pilgern- hen Evangelisierung. getreten sind, griff man zum großen Teil den Lehramts“ der Kirche. Durch sie Man denke beispielsweise an den eu- in De sacra communione et cultu mys- vereinte man ungeheure Menschenmen- ropäischen Kontinent, wo die Völker Aufgabe der Eucharisti- terii eucharistici extra Missam auf, das gen über die Kontinente hinweg. Sie pil- seit Jahrhunderten von christlicher Kul- schen Kongresse ist es, am 21. Juni 1973 erlassen wurde und gerten von einem Kontinent zum ande- tur geprägt sind, heute aber eine zuneh- die Betrachtung der eucharistischen ren, immer auf die Eucharistie ausge- mende Entfernung von Glaubenswerten inen eigenen Beitrag zur Verehrung nach den Prinzipien des II. richtet. erfahren, eine Entfernung von den ge- neuen Evangelisierung Vatikanums erneuerte. Heute ist dieses „pilgernde Lehramt“ meinsamen Wurzeln des Christentums Im Zentrum des Kongresses steht noch erweitert um die Weltjugendtage, und einen immer größeren Bruch zwi- zu leisten, aber mit ihren nun die eucharistische Feier, und alle die Tage der Familie, der Kranken usw. schen Evangelium und Kultur. Die In- eigenen Mitteln. Andachtsformen, die traditionell diese Dennoch bleibt es notwendiger denn je, kulturation des Glaubens wird zu einem Frömmigkeitsform kennzeichnen (An- dass die Eucharistischen Kongresse in der konstituierenden Elemente der betung außerhalb der Messe, Prozession ihrer erneuerten Gestalt als statio orbis Neu-Evangelisierung, mit der Christus der frühen Kirche gegeben. Er erkannte, …), müssen auf diese Bezug nehmen. weiterhin Zeugnis davon geben, dass und sein Evangelium wieder in den dass die Idee von Pater Jungmann „ei- Das Hauptkriterium aus dem Rituale die Eucharistie Lebensquelle der Kir- Mittelpunkt gerückt werden sollen, da- nen Beitrag von sehr hohem Wert für verdeutlicht dies: „Die eucharistische che, und der unverzichtbare Höhepunkt mit die Kirche ihrer Mission treu bleibe das System der universalen Ekklesiolo- Feier sei das tatsächliche Zentrum und jedes christlichen Lebenswegs ist. und weiterhin Same für die Zukunft gie leistet“, war aber auch der Ansicht, der Höhepunkt der verschiedenen Außerdem zeigen die Handlungen, und das Leben sei. dass seine „Idee einer statio orbis rein Frömmigkeitsformen.“ (Nr. 111) die kennzeichnend für jeden Eucharisti- Schließlich können die Eucharisti- theoretisch ist… Um eine eucharistische Natürlich sollen alle pastoralen und schen Kongress sind, einer zunehmend schen Kongresse auch zu einem geeig- Versammlung zu einer statio urbis wer- katechetischen Aktivitäten, die ebenfalls globalisierten und miteinander verbun- neten Ort für eine bessere und achtsa- den zu lassen, bedürfe es zweier Bedin- zum Kongress gehören, wie etwa die denen Welt das Herz des Glaubens mere Verbindung zwischen Eucharistie gungen: Es müsse sich um eine reale verschiedenen Feiern des Gottesworts, selbst: den auferstandenen Christus, der und Evangelisierung werden, oder an- Versammlung der ganzen Kirche han- die Studiensitzungen zur Katechese, die die Gläubigen in die Dynamik seines ders gesagt, zwischen der zur eucharisti- deln, und sie müsse unter dem persön- Vollversammlungen, „so organisiert Pascha einbezieht und sie in wunderba- schen Versammlung einberufenen Kir- lichen Vorsitz des Bischofs stehen.“ sein, dass sie das vorgeschlagene The- rer Gemeinschaft mit dem Vater im In- che und der ihr von Christus selbst an- Analog dazu erfordere die statio orbis ma vertiefen und die praktischen As - nern einer geschwisterlichen Gemein- vertrauten Mission, das Evangelium die reale Versammlung der ganzen Uni- pekte des Themas selbst verdeutlichen, schaft verbindet. vom Reich Gottes zu verkünden. „Es ist versalkirche und den persönlichen Vor- um so zu einer konkreten Umsetzung offenkundig, dass nur ein Volk Gottes, sitz des Bischofs der Universalkirche. zu gelangen.“ 4.2 Die Verbindung zwischen Eucha- das sich in Einheit und Einigkeit sam- Und Asfanassieff ergänzt, dass es „we- Vor allem „ eine intensivere Kateche- ristie und „Neu-Evangelisierung“ meln ließ, in der Lage ist, die Welt zu der eucharistische Versammlungen der se zur Eucharistie, insofern als diese überzeugen.“ Universalkirche gab noch gibt. Die sta- Mysterium des lebendigen und in der Aufgabe der Eucharistischen Kon- Angesichts des dritten Jahrtausends tio orbis kann nichts anderes sein als Kirche wirkenden Christus ist; eine sol- gresse ist es, einen eigenen Beitrag zur war die Neu-Evangelisierung eine stän- eine Konvention, und der Übergang von che Katechese muss der Aufnahme - neuen Evangelisierung zu leisten, aber dige Herausforderung für die Eucharis- einer statio urbis zu einer statio orbis fähigkeit verschiedener Kreise entspre- mit ihren eigenen Mitteln. In diesem tischen Kongresse und wird es weiter- ist nicht realisierbar. Dieser Übergang chen“. Sinne kann der programmatische Aus- hin sein. Die Kongresse helfen dabei, ließe sich nur vollziehen, wenn die Des Weiteren wird eine „aktivere druck von der „Neu-Evangelisierung“ den Empfang und die Feier der Eucha- Feier der Eucharistie, unter Vorsitz des Teilnahme an der heiligen Liturgie“ her- nichts anderes bezeichnen als, in die- ristie in eine Kraft zu verwandeln, die Papstes als Bischof der Universalkirche, vorgehoben, „die das religiöse Hören sem Fall, die mystagogische Evangelisie- das Herz des Einzelnen und die Gesell- die Versammlung, in der man Eucharis- des Gotteswortes und den geschwister- rung, also jene, die sich in der Gebets- schaft verändern sowie eine Kultur der tie feiert, zu einer universalen eucharis- lichen Sinn der Gemeinschaft fördern schule der Kirche vollzieht; die Evange- Geschwisterlichkeit schaffen kann. Des- tischen Versammlung werden ließ.“ soll“, und im Anschluss erinnert das lisierung ausgehend von der Liturgie halb muss in der Dynamik der Kongres- Die Kritiken, die von orthodoxer Sei- Rituale daran, dass die übrigen Dimen- und durch die Liturgie. se deutlich zu Tage treten, dass die Eu- te kamen, führten zur Wiederherstel- sionen des Sakraments, die der Feier Aber jeder Kongress trägt in sich auch charistie in den Mittelpunkt gestellt lung des vom Osten so geschätzten Ver- entspringen, nicht vernachlässigt wer- den Hauch der Evangelisierung in ei- wird, um das christliche Leben und das hältnisses zwischen Eucharistie und den dürfen. Deshalb muss der Eucharis - nem engeren missionarischen Sinne, gemeinsame Engagement in der Ver- Ortskirche, in dem Teil des neuen Ritu- tische Kongress schon in seiner Vorbe- und das schon seit den zwanziger Jahren breitung des Evangeliums zu formen. ale, der die internationalen Eucharisti- reitungsphase ein „angemessenes Pro- des 20. Jahrhunderts, als in der Zeit des schen Kongresse regelt: „Die Eucharis - gramm von Gebetsversammlungen und Pontifikats Pius’ XI. die Eucharistischen 4.3 Eucharistie und Ökumene tischen Kongresse, die in jüngerer Zeit lange währenden Anbetungen vor dem Kongresse zahlreiche Teilkirchen der Eingang in das Leben der Kirche gefun- ausgesetzten Allerheiligsten in be- fünf Kontinente mit einbezogen. Seit- Innerhalb dieser missionarisch-evan - den haben als besondere Art der eucha- stimmten, für diese Frömmigkeitsübung dem ist das Binom der „evangelisieren- gelisierenden Perspektive nimmt auch ristischen Feier, müssen als eine statio geeigneten Kirchen“ (Nr. 112) fest- den Eucharistiemission“ zu einem festen das ökumenische Engagement größere betrachtet werden, das heißt als ein legen. Bestandteil der Leitlinien geworden, die Bedeutung an. In den Kirchen der

14 zur debatte 6/2010 frühen Evangelisierung ist dieses Enga- 4.4. „Eucharistische Frömmigkeit“ und konziliaren Reform entsprechend – der integrieren sowie all jene Vereinigun- gement immer ein wenig an den Rand kirchliche Gemeinschaft Aufgabe widmen muss, alle eucharisti- gen, die auf unterschiedliche Weise ihre gedrängt worden, sei es aus soziologi- schen Andachtsformen extra missam, Inspiration aus der Eucharistie bezie- schen, ideologischen oder apologeti- Es ist offenkundig, dass der Eucharis - die ihre Wurzeln in der Volksfrömmig- hen (Bewegungen für die ewige Anbe- schen Gründen. Die ersten 37 interna- tische Kongress sich – dem Geist der keit haben, mit einzubeziehen und zu tung, für die nächtliche Anbetung, Bru- tionalen Eucharistischen Kongresse ha- derschaften des Allerheiligsten Sakra- ben sich nie mit dem Thema der Öku- ments etc.). mene auseinander gesetzt. Eine Aus- Alle diese Formen eucharistischer nahme stellt – jedoch nur zum Teil und Verehrung werfen nicht ganz unwesent- auch mit anderer Akzentsetzung als liche Fragen auf. Sie müssen zwar emp- heute – der Kongress von Jerusalem fohlen und gefördert werden, wie das 1893 dar. die Enzyklika Ecclesia de Eucharistia Heute aber ist es nicht mehr möglich, und das postsynodale Dokument Sacra- die wesentliche Verbindung von Eucha- mentum caritatis zu Recht tun. Das ristie und Gemeinschaft der Kirchen au- Problem ist nur, dass man wissen muss, ßer Acht zu lassen. Und in der Tat, wenn in welcher theologischen Form das er- die Eucharistie ihrem Wesen nach die folgen soll. forma ecclesiae zum Ausdruck bringt Alle Formen eucharistische Vereh- und verwirklicht, dann stellt sie nicht rung, die uns überkommen sind, sind nur den Zweck, sondern auch Weg und auf der Basis individualistischer Eucha- Mittel zur Erlangung der sichtbaren Ge- ristietheologie entstanden. Deshalb meinschaft der christlichen Kirchen dar. muss diese eucharistische Frömmigkeit, Interessant ist es beispielsweise auch, die spirituell so fruchtbar ist, in die daran zu erinnern, dass die Einführung übergeordnete Sichtweise einer eucha - der neuen eucharistischen Gebete ins Der Eucharistische Weltkongress dauer- ris tischen Ekklesiologie einbezogen Missale Romanum mit ihren Wand- te vom 31. Juli bis zum 7. August 1960. werden, die auf die Gemeinschaft lungsepiklesen die theologische Annä- Unser Bild zeigt eine Prozession, die (Kommunion) hin orientiert ist und ihr herung an die orthodoxen Brüder er- sich gerade dem Odeonsplatz nähert. so neue Impulse geben kann. leichtert hat; ebenso hat die Aufmerk- All das könnte sich vielleicht erfüllen, samkeit, die dem Wort Gottes im christ- Foto: kna folgte man einer Weisung des Heiligen lichen Gottesdienst geschenkt wurde, Der Eucharistische Weltkongress dauer- Augustinus, der in Ecclesia de Eucha- zur mittlerweile normal gewordenen te vom 31. Juli bis zum 7. August 1960. ristia (Nr. 40) zitiert wird: „Wenn ihr Anwesenheit reformierter Kirchenver- Unser Bild zeigt eine Prozession, die sein Leib und seine Glieder seid, dann treter seit dem Ende der siebziger Jahre sich gerade dem Odeonsplatz nähert. liegt auf dem Tisch des Herrn euer Mys- bei den Eucharistischen Kongressen ge- terium, ja, ihr empfangt das, was euer führt. In den letzten Jahren hat man Mysterium ist (Sermo 272). „Die Aufga- sich bei den Kongresskonferenzen offen be eines Eucharistischen Kongresses mit den Problemen in den ökumeni- wird es, ausgehend von dieser Aussage, schen Beziehungen befasst, einschließ- auch sein, die alten Formen der eucha- lich des Problems der Interkommunion. ristischen Verehrung zu bewahren und In München dann wurden die öku- sie aber auch gleichzeitig zu erneuern, menischen Beziehungen voll und ganz wobei dies aber im Geiste der eucharis- in die Eucharistischen Kongresse einbe- tischen Ekklesiologie des Konzils ge- zogen. Es war die Zeit, in der die Vor- schehen soll.“ So gesehen steht außer bereitungen auf das Konzil den seligen Frage, dass die Eucharistischen Kon- Johannes XXIII. zur Schaffung eines gresse eine Gnade der ständigen Erneu- „Sekretariats zur Förderung der Einheit erung des eucharistischen Lebens der der Christen“ veranlasst hatten. Seit da- Kirche sind. mals sind in der ekklesiologischen Per- spektive des II. Vatikanums die Bemü- 4.5. Ein fruchtbares Erbe hungen um die Einheit der Christen in- tegrierender Teil des Weges der Kirche Die eucharistische Bewegung, aus der geworden, und insofern auch Teil der die Eucharistischen Kongresse hervor- Eucharistischen Kongresse. Natürlich gegangen sind, hat die Geschichte der hängen die ökumenischen und interreli- Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts giösen Beziehungen jedes Kongresses durchlaufen und auf unschätzbare von den Besonderheiten des jeweiligen Weise zur Heiligkeit und zum Wachs - Landes ab, vom sozio-kulturellen Um- tum der Kirche beigetragen. Heute ist feld und von den Umständen, unter de- ihr Erbe nicht einfach wie der Mantel nen der Kongress stattfindet. Foto: kna des Elia übergegangen auf einige wenige All das bedeutet, dass man bei der Kommunionkinder waren beim Vereinigungen, die überlebt haben, Feier der statio orbis die große Heraus- Schlussgottesdienst des Weltkongresses noch ist es beschränkt auf die charisma- forderung der eucharistischen Ekklesio- auf der Theresienwiese gern gesehene tischen Bewegungen, die in den siebzi- logie annimmt, die Wiederherstellung Gäste. Ihnen galt ein besonderes Inter- ger Jahren des 20. Jahrhunderts aufge- des rechten Verhältnisses von Eucharis - esse der Eucharistischen Bewegung. taucht sind, und die eucharistischen tie und Kirche, so wie der Apostel Pau- Verehrungen ins Zentrum ihrer Spiritu- lus es wunderbar im ersten Korinther- alität gestellt haben. Es kann sich auch brief ausgedrückt hat (Kor 11, 18-29). nicht bloß auf das historische Gedächt- Der Apostel sagt darin, während er nis der religiösen Kongregationen be- weitergibt „was er empfangen hat“, dass schränken, die eine außergewöhnliche Spaltungen (SCHISMATA) und Teilun- Rolle auf diesem Gebiet gespielt haben, gen (AIRESEIS) es nicht mehr zulassen ebenso wenig wie auf die Aktivitäten „den Leib des Herrn zu erkennen“ oder der kirchlichen Bewegungen, auf die die besser gesagt, den „Leib“ der zugleich Aufgabe der Evangelisierung zurückzu- kirchlich und eucharistisch ist, wodurch fallen scheint. die Einheit des Neuen Bundes gefährdet Heute überlebt und wächst die eu- würde. So feierte man nicht mehr das charistische Kraft, die schon so dynami- Mahl des auferstandenen Herrn (KYRI- schen Ausdruck in der internationalen AKON DEIPNON), sondern das eigene Eucharistischen Bewegung früherer Zeit Mahl (IDION DEIPNON) und zerstör- gefunden hat, in den Teilkirchen, die in te so das Wesen selbst des eucharisti- der Sonntagseucharistie Ursprung und schen „Gedächtnisses“. zugleich Höhepunkt ihres gemeinsamen Die Eucharistie hilft dem Christen, Weges feiern. Sie überlebt und wächst der Geschichte und ihren Problemen in den Getauften, die nach der Eucha- nicht zu entfliehen, sondern der Realität ristiefeier in die Welt zurückkehren und mit der Kraft zu begegnen, die dem Pa- „den Leib“ Christi in sie hineintragen. scha Christi entspringt: „Der religiöse Sie ist in den Versammlungen, die seit Mensch weiß, dass er angesichts der 2000 Jahren „von all denen“ gehalten Verlockungen des Bösen auf Gott zäh- werden, „die auf dem Land und in den len kann, den absoluten Willen des Gu- Städten wohnen … an dem Tag, den sie ten … um den Mut zu erlangen, auch Erzbischof Piero Marini (li.) beantwor- den Sonntag nennen“, damit die Eucha- den härtesten Schwierigkeiten mit per- tete Fragen auf dem Podium, Akade- ristie weiterhin ihre Lebenskraft entfal- sönlicher Verantwortung zu begegnen, miedirektor Dr. Florian Schuller mode- ten, und Bande der Nächstenliebe ohne Fatalismen oder impulsiven Reak- rierte die Fragerunde. knüpfen kann. „ tionen zu erliegen.“ Übersetzung: Jutta Eckes

6/2010 zur debatte 15 3. Die Armen – Sakramente des deutlichem Verweis auf den „Tisch des Aspekte aus der Befreiungstheologie Reiches Gottes Reiches“ (z. B. Lk 22,15-18; ! Kor 11, 26). Daraus folgte, so die Vertreter der Hermann Schalück OFM Die ThB hat bekanntlich das „Reich ThB, dass wir in der Eucharistie nicht Gottes“ zum zentralen Gegenstand und nur mit Jesus kommunizieren, sondern zugleich Rahmen bzw. Strukturprinzip auch mit seiner transformierenden Bot- ihrer Reflexion gemacht, zu einem Para- schaft vom Gottesreich. In ihr werde digma, das es erlaubt, die Transzendenz nicht nur die Kirche auferbaut, sondern – wie es bereits kurz anklang – in der auch das Hochzeitsmahl des Reiches realen Geschichte zu verankern. Das er- vorweggenommen. Daher sei die Eu- laubt es ihr, Heil und Erlösung in einem charistie nicht von der Liebe und vom gegebenen historischen Kontext, z. B. befreienden Dienst zu trennen, wie ihn 1. Horizontwechsel dem des lateinamerikanischen Konti- etwa Johannes in der Geste der Fuß- nentes zu thematisieren, und d. h. dann waschung (Joh 13) überliefert. Eine Eu- Die Theologie der Befreiung (ThB) auch, die ebenfalls konkret wirksamen charistie ohne Teilen und ohne Diako- hat – wie Victor Codina, einer ihrer „Anti-Reiche“ prophetisch anzuklagen nie sei – wie es Paulus ja bereits nach wichtigsten Vertreter selber sagt – „im und sich zugleich für die Befreiung der Korinth schrieb – kein „Herrenmahl“ ganzen wenig über die Sakramente Armen zu engagieren. Sie will auf die (1 Kor 11,20ff). Gern wird auch auf die nachgedacht“ (901). Von einer Sakra- Hoffnung der Armen antworten und zu- patristische Tradition zurückgegriffen, mententheologie der Befreiung lasse gleich eine befreiende Praxis in Gang die ebenfalls die soziale Dimension der sich, so Codina, kaum sprechen. Und setzen, welche die Geschichte nach Eucharistie unterstrichen habe, auf die weiter: „Falsch wäre es allerdings, die- Gottes Plan umgestaltet, damit sein Gaben der Gläubigen für die Armen, sen Umstand einem mangelnden Inter- Reich darin komme. Dieser Gesamt- die Aufrufe, Sklaven frei zu lassen, die esse an den Sakramenten zuzuschrei- horizont des Reiches wird dann auch Predigt zur Verteidigung der Rechte der ben, so als bezöge sich die Arbeit der selber wieder als „Urmysterium“ bzw. Armen, die liturgische Exkommunika- Befreiungstheologen ausschließlich auf als „Ursakrament“ bezeichnet. Da das tion öffentlicher Sünder bzw. die stren- das Politische und als verbannten sie Reich aber eine unvollendete Aufgabe ge Bußpraxis bzw. die strengen Aufla- die Sakramente in die Ecke der Irrele- der Geschichte ist und nach sukzessi- gen vor der Wiederzulassung öffent- vanz. Tatsächlich haben nämlich die ven geschichtlichen Vermittlungen ver- licher Sünder zur Eucharistie. Auf jeden Autoren, die über dieses Thema schrie- langt, wird in der ThB auch oft die Kir- Fall dürfe die Eucharistie niemals den ben (…..), die Bedeutung des Sakra- che selber als Ursakrament bzw. als österlichen Kontext des Herrenmahles mentalen für die Befreiungsperspektive „Sakrament des Reiches“ bezeichnet. außer Acht lassen: Zum einen ist er be- hervorgehoben: Die Liturgie ist unent- Die Kirche muss sich selber „unablässig stimmt durch das befreiende Andenken behrlich, damit die Befreiung nicht mit zum Reich bekehren, wenn sie wirklich an den Exodus aus Ägypten, zum ande- rein politischer Befreiung verwechselt Kirche der Armen und geschichtliches ren durch das Pascha Jesu selber, der wird und damit die ungeschuldete und Befreiungssakrament sein will“. wegen seiner Ansage des Reiches des transzendente Dimension christlicher Dr. Hermann Schalück OFM, ehem. Innerhalb des Gesamtrahmens vom Vaters und seiner Absage an das Anti- Befreiung nicht in Vergessenheit gerät.“ Präsident von Missio Aachen, ehem. Reich Gottes werden nun die Armen reich ermordet wurde. So müsse sich Gleichzeitig übt Codina wie fast alle an- Generaloberer des Ordens der Franzis- selber auch als „Sakramente“ bezeich- die Eucharistie, die Gabe des Auferstan- deren Vertreter der ThB Kritik an der kaner, München net: Sie sind Opfer des Antireiches und denen, verwandeln in den Keim eines herkömmlichen Theologie und Praxis damit „sub contrario“ Sakramente des neuen Himmels und einer neuen Erde, der Eucharistie: „Kirche und Theologie Reiches, und zwar genau in dem Maße, und zwar nicht nur liturgisch, sondern (sind) in hohem Maße mitverantwort- Brot und Wein begrenzen lasse. Da z.B. in dem sich die Beraubung am Leben, auch geschichtlich. Die Eucharistie feie- lich für die Entfremdung des Volkes, im Dokument von Puebla die Armen als die Sünde der Welt und die Verneinung re nicht kleine historische Siege, son- weil sie eine Liturgie pflegten, die oft die „Lieblingskinder Gottes“ bezeichnet des Reiches zeigt. Der Schrei der Armen dern sei Ansage und Realsymbol der genug Flucht aus der Wirklichkeit war, werden, sei er eben realiter auch in den ist ein Schrei nach dem Reich, eine endzeitlichen umfassenden Befreiung und weil sie eine so einseitige Sicht der Armen gegenwärtig. L. Boff sagt, dass Herausforderung an die gesamte Gesell- alles Geschaffenen im Reich Gottes. sakramentalen Wirkung ex opere opera- Christus in den Armen „dichter als in schaft und theologisch gesehen ein Zei- Daher sei sie eben immer auch eine „ge- to boten, die häufig in ein mechanisches Brot und Wein“ gegenwärtig sei (bei chen der Zeit (GS), das stärkste Zei- fährliche Erinnerung“, aber auch immer und magisches Verständnis der Sakra- Goldstein 55/56). chen der Zeit in unserer heutigen Welt.“ Quelle der Hoffnung und Ansage von mente mündete.“ Die sieben Sakramente sind nun Clodovis Boff beschreibt das so: „Das Veränderung. Eucharistie im Sinne Jesu Es ist also zu Beginn meiner kurzen allerdings für die meisten Vertreter der Sakrament des Armen vermittelt uns sei – so Tissa Balasuryja – übrigens eine Durchsicht zum Thema festzuhalten, ThB besondere ‚Verdichtungen‘ an den den Gott des Willens, nicht den Gott der wenigen Stimmen aus Asien zum dass wir es bei der ThB insgesamt wie Knotenpunkten des Lebens. „Der Eu- der Hilfe. Gott ist da Anruf, nicht Trost, Thema – „essentially action-orientated“ bei ihrer Behandlung der Sakramente charistie als dem Sakrament des Brotes er ist Infragestellung, nicht Rechtferti- (Balasuriya 17). Die Epiklese beschrän- und speziell der Eucharistie weniger mit kommt in einem Kontext von Hunger gung. Angesicht der Armen wird der ke sich nicht auf die Verwandlung der neuen materialen „Inhalten“ zu tun ha- und Ausbeutung ein besonderes Ge- Mensch zur Liebe, zum Dienst, zu Soli- dargebrachten Gaben. Sie verwandle ben, sondern mit der Strukturierung wicht zu: Sie ist Feier von Versöhnung darität und Gerechtigkeit aufgerufen. Es darüber hinaus die ganze Geschichte in und Deutung aus einem neuen Verste- und Solidarität Gottes und der Men- ist ein bitteres Sakrament, das man da den Leib des Herrn (so bei Codina, henshorizont: „Die ThB entwickelt kei- schen“ (Goldstein 196). Erweitert wird empfängt. Und dennoch bleibt es das Goldstein, Taborda u. a.). ne Sakramentenlehre ‚parallel‘ zu der der Begriff des Sakramentalen in der einzige zur Erlösung unbedingt notwen- des kirchlichen Lehramtes. Sie akzep- ThB auch insofern, als – wie weiter un- dige ‚Sakrament‘. Die rituellen Sakra- 5. Brot der Feier – tiert vielmehr die Lehre und die ge- ten noch ausgeführt werden soll – nach mente lassen Ausnahmen zu, und zwar Brot der Gerechtigkeit meinsame sakramentale Praxis der Kir- Auffassung aller führenden Vertreter sehr viele. Dieses aber kennt keine Aus- che, aber wie jede Theologie versucht der ThB eine engagierte Praxis der Ho- nahme. Es ist das unbedingt universale Wenn man nun weiter der spezifisch sie beides von einem letzten Prinzip aus rizont jeder liturgischen und sakramen- ‚Sakrament‘ der Erlösung. Gottes Weg „politischen“ Dimension nachgehen zu systematisieren, das sämtliche Daten talen Feier sein muss: Anders ausge- führt ….über den Menschen, den be- will, welche die Vertreter der ThB der in kohärenter Form ordnet und rang- drückt: Eine wahrhaft christliche Praxis dürftigen Menschen, gleich um welches Eucharistie zuschreiben, dann ist zu- mäßig strukturiert und das im Falle der bedarf des Festes. Oder. „Das Fest feiert Bedürfnis es sich auch handeln mag, ob nächst dies festzuhalten: Das „Brechen ThB dem Schrei des armen und gläubi- die Praxis.“ (Taborda 55). Eine Praxis um das des Brotes oder das des Wortes des Brotes“ geschieht an vielen Stellen gen Volkes zu entsprechen vermag“. ohne Fest ist tödlich ernst, ein Fest (C. Boff/J. Pixley 129). Und Pedro Ca- der Welt in einer in Klassen zerrissenen ohne Praxis ist „sinnlos“. Die in den saldaliga hat den inneren Zusammen- Gesellschaft, in der Unterdrücker und 2. Erweiterung des Herausforderungen des Lebens prakti- hang zwischen der dynamischen und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeu- Sakramentenbegriffes zierte Nachfolge und das in den Siegen umfassenden Sakramentalität des Rei- tete, Folterer und Gefolterte, Reiche und und Niederlagen des Alltags zelebrierte ches Gottes und seiner Verdichtung in Arme einander konfliktiv gegenüberste- L. Boff hat mit seinem Bändchen Fest „markieren den Rahmen, in dem den Armen so formuliert: „Dem Heili- hen. Aber der soziale Bruch spaltet nicht „Kleine Sakramentenlehre“ (1984) den ein befreiungstheologisch geprägtes Sa- gen Geist hat es gefallen, das achte Sa- nur eine Gesellschaft, sondern auch Kir- erweiterten Sakramentenbegriff der kramentenverständnis verwurzelt ist krament zu spenden: die Stimme des chen und lokale Gemeinden. Unter ei- ThB wohl am eingängigsten dargelegt: (Goldstein 195). „Was eine neue Theo- Volkes“ (zit. bei Codina 913). nem soziologischen Gesichtspunkt biete Die irdischen Realitäten und eine von logie auszeichnet“ – so nochmals Codi- die Kirche nicht selten ein Spiegelbild der Nachfolge geprägte Lebenspraxis na – „sind nicht so sehr die von ihr be- 4. Die eigentliche Eucharistiefeier im einer ungerech -ten Gesellschaft. Die Eu- werden in vieler Hinsicht und auf zahl- handelten neuen Themen, sondern der Horizont des Reiches Gottes charistie, die „Bedingungen ihrer Mög- lose Weise zu „Zeichen, die eine andere, theologische Horizontwechsel: Alles lichkeit“, ja ihre Gültigkeit werden in von ihnen zu unterscheidende, in ihnen wird neu gesehen, weil das geistige Pa- Die ThB kann in ihren Ausführungen der ThB unter dem Gesichtspunkt dis- aber präsente Wirklichkeit enthalten, radigma oder Erkenntnismuster sich zur Eucharistie darauf verweisen, dass kutiert, ob sie die vorrangige Option darstellen, an sie erinnern, sie sichtbar wandelt.“ Und weiter: Die ThB sei eben im NT zahlreiche Symbolhandlungen Jesu bzw. seiner Kirche für die Armen machen und vermitteln“ (Soff 22). keine 'Genitivtheologie, die etwa von auf die „Utopie“ des Reiches Gottes ver- zum Ausdruck bringt. Oder anders ge- Wirk lichkeit wird „transparent“. In der Revolution oder der Gewalt han- weisen, so das festliche Essen in den sagt: Eucharistie im Sinne Jesu könne der Immanenz irdischer Dinge wohnt deln würde, sondern „eine Reflexion Gleichnissen (Mt 8,11; 22,1-4; 25,1-13), nur gefeiert werden, wenn dabei das Transzendenz. Alles kann in dieser über das Ganze des christlichen Myste- in der Brotvermehrung (Mk 6,34-44) Verlangen nach der Begegnung mit dem Sicht zum Sakrament werden, zum riums aus dem Blickwinkel der Befrei- sowie auch die Mahlzeiten Jesu mit Herrn sich gleichzeitig artikuliert im Symbol und Zeichnen befreiender Gna- ung der Armen“ (Codina 904). Sündern und Randexistenzen (Mk 2, Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. de. Die ThB spricht davon, dass sich 16; Lk 15,2; Mt 11,19). Im Zentrum Dieser Aspekt wird gern mit der fol- z. B. auch die Realpräsenz Christi nicht steht natürlich das letzte Abendmahl genden Überlegung verdeutlicht: Im auf die eucharistischen Gestalten von Jesu mit den Jüngern, ebenfalls mit Brot der Eucharistie dürfe als dessen

16 zur debatte 6/2010 „Materie“ nicht das Brot der Wirtschaft dürften, findet sich bei einem Vertreter das es sich bei der eucharistischen Gabe dargeboten wird“ (Codina 126). Über- übersehen werden. Das Brot, das die der Frühphase der ThB, Rafael Avila, handelt. Auf einer anderen, tieferen haupt – und damit komme ich zum Gemeinde auf den Altar legt, gilt dabei, der u. a. ausführt: Der „einzig legitime Ebene thematisiert sie sodann das Schluss – lässt sich an der Gestalt und ebenso wie der Wein, als die „materielle Kontext“ für die Feier der Eucharistie „Brot“, das nichts anderes ist als der am Lebenszeugnis von Romero der Verdichtung von Arbeit und Schweiß, sei der der Solidarität mit der Befrei- Leib des Propheten, der sich im Einsatz mögliche Beitrag der ThB zu einem von Produktion und Vermarktung, von ungsbewegung für den Kontinent La- für Gerechtigkeit selber für den Aufbau heutigen Eucharistieverständnis am Naturveränderung und Gesellschaft, teinamerika, in Solidarität mit den aus- des Reiches Gottes darbringt. Überzeugendsten ablesen: von Gerechtigkeit und Geschichte“ gebeuteten Klassen der Gesellschaft. Es handelt sich um den Leib des (Goldstein 55). „Es ist unmöglich, dass wirkliche eucha- Märtyrers als eucharistisches Brot. Ver- ț Die Eucharistie steht vom Wesen und Gern wird in diesem Zusammenhang ristische Gemeinschaft zustande kommt, deutlicht wird dieser Aspekt an Gestal- Ursprung her im Kontext der Exo- Jesus Sirach zitiert. „Das Brot ist das wenn Menschen radikal unterschied- ten wie Bischof Romero: Nochmals Co- dustradition. Sie ist als Heilszeichen Leben der Armen“, bzw: „Wer es ihnen licher politischer Systeme beieinander dina: „Zweifellos ist das Martyrium das eingebettet in die Dynamik und Kon- vorenthält, ist ein Blutsauger und Mör- sind. Eine eucharistische Feier mit Per- klarste prophetische Zeichen dieser fliktivität der Menschheitsgeschichte. der“ (Sir 34,25). sonen gegensätzlicher sozialer Klassen neuen Sakramentalität. Das umfangrei- Sie verkündet in jeder Epoche der Oder aber – etwa mit Verweis auf Mt ist nur denkbar, wenn zugleich jene An- che Martyrologium Lateinamerikas ist Geschichte einen Gott, der befreit. 5,23-24: Wer in der Feier der Eucharis - onymität herrscht, die bisher oft unter ein Blutzeugnis für die Kraft des Geis - Wenn die Kirche heute Eucharistie tie Gott Brot darbringt, das im Kontext Kirchengliedern besteht ... Eine Eucha- tes, der diese lebendigen Symbole des feiert, so der afrikanische Befreiungs- ristie zu feiern, welche bewusst antago- Reiches sprießen lässt. Sie sind eine le- theologe Jean-Marc Ela, wird sie sel- nistische soziale Klassen versöhnen bendige Verheißung des Gottes des Le- ber zum „Sakrament der Gerechtig- Wer kann daran zweifeln, möchte, hieße, die Eucharistie als In- bens inmitten einer Welt des Todes, eine keit und Befreiung“ (Ela 327). strument der Klassentrennung zu benut- Anklage der Ungerechtigkeit und eine dass Leben und Tod Erz- zen ... Es wäre eine Eucharistie im Antizipation der Utopie des Reiches ... ț Die Eucharistie ist einerseits kultische bischof Romeros ein pro- Dienste des status quo ... In einer solch Allein die Tatsache, dass viele durch die Danksagung für bereits geschenktes ‚konziliatorischen‘ Ekklesiologie kön- Hand sogenannter christlicher Regie- Heil. Sie ist darüber hinaus ein pro- phetisches Symbol des Rei- nen Mitglieder aller sozialen Klassen rungen und Bürger zu Tode kamen, phetisches Zeichen für das noch aus- ches sind? Subjekte der Eucharistie sein. Aber in zeigt schon, wie ungenügend es ist, stehende Heil. Sie spiegelt die blei- einer Eucharistiefeier, die es mit einer wenn man sich zur Unterscheidung ein- bende Dialektik von Mystik und Poli- Klassengesellschaft zu tun hat, können fach auf die Kirchlichkeit beruft. Man tik wider. struktureller Ungerechtigkeit durch Subjekte der einen Feier nur die Mit- muss sich vielmehr an das Reich, an die Hungerlöhne, Ausbeutung und Nichtbe- glieder von sozial ausgebeuteten Klas- Nachfolge Jesu halten, um wirklich ț Jesus wurde in seinem Pascha zum achtung von elementaren Menschen- sen und ihre Alliierten sein, dazu ‚Kon- evangeliumsgemäß unterscheiden zu „Brot der Geschichte“. Er brachte sei- rechten „geraubt“ hat, der bringt Gott vertiten‘ aus der Ausbeuterklasse“ (Avi- können, was sakramental ist. Wer kann nen gebrochenen Leib, selbst ein Zei- das Leben dieser Menschen zum Opfer la 104/5). – Nochmals. Im späteren daran zweifeln, dass Leben und Tod chen seines Konfliktes mit dem „Anti- und betreibt darin Götzendienst. Oder mainstream der ThB finden sich Posi- Erzbischof Romeros ein prophetisches reich“ und seines Einsatzes für das nochmals anders gesagt: Zwischen poli- tionen wie diese nicht oder nicht mehr. Symbol des Reiches sind? Das einfache „Reich des Vaters“, für das Leben der tischer Ökonomie und Eucharistie be- Ich führe sie aber an, weil solche und Volk hat das wohl begriffen und sucht anderen dar. steht – so vor allem auch E. Dussel – ähnliche Akzente in den Ohren man- sein Grab auf, um ihn um seinen Bei- eine innere Dialektik: Er nennt das cher kirchlicher Instanzen beharrlich stand zu bitten und ihm für seine Hilfe ț Die Feier der Eucharistie macht deut- „Darbringen“ der Gaben, die ja nicht weiter klingen und die Rezeption der zu danken“ (Codina, a.a.0.). lich, dass Jesus als der auferstandene nur fertige „Produkte“ darstellen, son- genuinen Anliegen der ThB nicht gera- Die Aufforderung, der Repression ein Christus das „Sakrament Gottes“ dern die auch die vorgängigen Lebens-, de befördern. Darum zum Schluss die- Ende zu machen, die Romero am Vor - schlechthin ist: Eines Gottes, der Tote Arbeits- und Menschenrechtsbedingun- ser knappen Ausführungen noch ein an- abend seiner Ermordung (23. 03. 1980) lebendig machen kann. Darin ist und gen widerspiegeln, unter denen sie ent- derer ‚Traditionsstrang‘ aus der ThB, der „im Namen Gottes“ an das Militär rich- bleibt er der Deus semper maior. standen sind, einen „theologal wirt- das Geschehen der Eucharistie auf eine tete, war in dieser Perspektive kein von schaftlichen Akt“. Dussel weiter: „Es gleichermaßen biblische, mystische und außen kommender illegitimer rein poli- ț Zugleich aber ist das Pascha Christi – handelt sich hier um die Identität zwi- politische Weise verdeutlicht. tischer Aufruf, sondern die Stimme ei- und damit die Eucharistie der Kirche schen dem Brot auf dem Altar und dem nes Propheten, zugleich eine klare pro- – in der heutigen evolutiven, konflik- Brot, das das Produkt der täglichen Ar- 6. Propheten und Märtyrer im Dienst phetische Ausrichtung des Sakramenta- tiven, aber sich nach Versöhnung und beit ist, das umgewandelt und ausge- am Reich Gottes len auf das Reich Gottes und seine dar- Befreiung sehnenden Welt, ein sakra- tauscht wird, das man als Produkt des in angesagte Gerechtigkeit. mentales Zeichen des Deus semper anderen respektiert oder raubt. Das Kein anderer als Johannes Paul II. Dass Romero nun sogar während der minor, d. h. für einen Gott, der nicht wirtschaftliche Brot ist das eucharisti- sagte 1981 in einer Predigt zum 1. Jah- Feier der Eucharistie ermordet wurde, auf der Seite der Sieger und der Star- sche Brot, das konsekriert wird. Im Brot restag der Ermordung von Erzbischof machte ihn zum „Brot“ dieses Sakra- ken zu finden ist, sondern in Jesus findet sich das Leben des Arbeiters ver- Romero: „Er wurde am 24. März 1980 mentes der Befreiung: Auch Jesus selber und seiner Hingabe auf der Seite der objektiviert: sein Blut, sein Nachden- getötet, während er die Heilige Messe gab sich als „Leben“ und „Brot“ zum Opfer der Geschichte steht. Die Eu- ken, seine Intelligenz, seine Anstren- zelebrierte. Mit seinem Blut hat er sei- Opfer hin: „Nehmt und esst, das ist charistie ist ein Hoffnungs- und Le- gungen, seine Liebe, seine Erfolge: sein nen Dienst besiegelt, der besonders in mein Leib.“ (Mt 26,26): „Jetzt wird alle benszeichen auf dem Weg der Ge- Ausruhen und sein Genießen, sein seiner Sorge für die Armen und die Körperlichkeit, die Fleischlichkeit, die schichte, Symbol für die Notwendig- Glück, das Reich. Gerade dieses Brot am meisten an den Rand der Gesell- Existenz der Propheten mitten in der keit von Transformationen, für die wird ihm auf ungerechte Weise wegge- schaft Gedrängten bestand. Das war ein Geschichte, in den Klassengegensätzen Verwandlung von Schatten in Licht, rafft, um es Gott darzubieten. Damit höchs tes Zeugnis, Symbol des Leidens zwischen Reich und Arm, in einer ganz für den Einsatz für Frieden in Ge- aber das Brot der eigene „Leib“ des eines Volkes, aber auch ein Grund, auf bestimmten historischen Situation, im rechtigkeit, Symbol eines Friedens „geopferten Lammes“ werde, muss es eine bessere Zukunft zu hoffen“ (zit. bei Wagnis, sich für die Unterdrückten ein- und einer Versöhnung, die keine Brot des Lebens sein, ein Brot, das ge- Dussel 120). Wie weiter oben gezeigt, zusetzen, im Widerstand gegen die menschliche Politik je erreichen sättigt und ernährt hat, das die Vernei- thematisiert die ThB das Brot, das die Herrschenden, ihre Armeen und Waffen kann, weil sie das Werk und Ge- nung, die der Tod, die Notwendigkeit, Frucht des Lebens und das Produkt des ..., jetzt wird alles zum Fleisch des Erlö- schenk eines befreienden Gottes sel- die Herrschaft, die Sünde sind, verneint Wirtschaftens ist sowie das Brot, um sers, das auf dem Altar der Geschichte ber sein wird (Gutierrez, Sobrino). „ hat: ein Brot der Gerechtigkeit.“ Geraubtes Brot zu opfern heißt also, das Blut der Armen opfern. Und dies wäre folglich auch kein eucharistischer Kult, der dem Vater der Güte das Brot der Gerechtigkeit opfert, sondern „feti- schistischer Kult“, Götzendienst. Das wahre eucharistische Brot dagegen ist ein Brot, das dem Vater gefällt und von ihm angenommen wird, zugleich ein Brot, das Bedürftige sättigt, das Ge- meinschaft stiftet und Ausdruck von So- lidarität ist. „Hier stehen wir vor der ur- sprünglichen Form der christlichen Uto- pie, die auch die Utopie des Reiches in seiner endgültigen Gestalt ist. Diese Utopie... ist der Horizont, der uns die Weite gibt, die eine kritische Würdigung eines jeden historischen Wirtschaftssys - tems zulässt.“ Die Gerechtigkeit sei die „praktische Möglichkeitsbedingung da- für, dass eine Eucharistie gefeiert wer- den kann, die wirklich rettet und erlöst“ (Dussel 126). Saßen während der Vorträge und der Haßlberger und Engelbert Siebler sowie Eine radikale Zuspitzung dieser Diskussion in der ersten Reihe: Frie- Dr. Monika Selle, Liturgiereferentin des „politischen“ Deutung der Eucharistie, drich Kardinal Wetter, Erzbischof Rein- erzbischöflichen Ordinariats (von der die meisten Vertreter/innen der hard Marx, die Weihbischöfe Bernhard rechts). ThB nicht oder nicht mehr zustimmen

6/2010 zur debatte 17 Poet aus Nazaret ganz selbstverständ- Eucharistie konkret gefeiert wird, ist of- „Er heilt die Wunden der ganzen lich das Lob der Schöpfung sang und fenkundig. ihre Gaben großzügig neu verteilte, so Schöpfung“. Ökologische Zugänge wie er sich selbst lebend und sterbend 1. freigiebig verschwendete, so erscheint zur Eucharistie. der lebendige Gott in ihm als Geber Mitte des eucharistischen Geschehens und Gabe zugleich. Die Welt ist das ist die Epiklese, die Herabrufung des Gotthard Fuchs Haus Gottes, sein oikos – und deshalb Heiligen Geistes, der ständig die Ge- ist alles, was kirchlich und christlich ge- meinschaft der Glaubenden wirkt – ar- lebt wird, ökologisch wichtig – im Sinne chetypisch versinnbildet in der Hand- der creatio und incarnatio continua. Es auflegung über den Gaben, in den aus- geht um die neue Schöpfung, um ihre gestreckten Armen und Händen des 0. Wandlung und Verklärung, um Wieder- Priesters, der die Luft, das Pneuma herstellung aller Dinge – oder wie im- gleichsam verdichtend herunterpresst „Herr, da ich wieder einmal, nicht mer die Glaubensbilder der Vollendung auf Brot und Wein. Es ist dieser Geist, mehr in den Wäldern der Aisne, son- im Einzelnen heißen mögen. Aber schon der in der Segnung der Gaben schon da- dern in den Städten Asiens, weder Brot, jetzt gilt: überall finden wir „die Initialen bei ist, das Angesicht der Erde zu ver- noch Wein, noch Altar habe, will ich Gottes, und alle geschaffenen Wesen wandeln. Es ist diese göttliche Energie, mich über die Symbole bis zur reinen sind Liebesbriefe Gottes an uns“ (E. die Menschen zu Christen macht und Majestät des Wirklichen erheben und Car denal, Das Buch der Liebe, Wupper- Gruppen von Menschen zu Gemeinden. dir als dein Priester, auf dem Altar der tal 1985, 289). Was die Welt als (gefalle- Es ist der Geist, der also zugleich die ganzen Erde die Arbeit und Mühsal der ne) Schöpfung ist, soll sie allererst wer- Seele der Kirche ist, die Seele im einzel- Welt darbringen. Die Sonne erhellt ge- den. Deshalb „bringen wir in den heili- nen Glaubensleben und in der Vollen- rade dort hinten den äußersten Zipfel gen Gaben die ganze sichtbare Natur dungsdynamik der Schöpfung. Er ist die des ersten Aufgangs. Wieder einmal er- dar, damit sie zur Eucharistie werde“, Gotteskraft der Wandlung, der Verklä- wacht in dem sich bewegenden Feld ih- wie Irenäus von Lyon Ende des 2. Jahr- rung – in allen Dingen. Es ist der Schöp- rer Lichter die lebende Oberfläche der hunderts formulierte (Adv haer V 18,5). fergeist, der alles neu macht, und Eucha- Erde, sie erzittert und beginnt ihre er- In dieser wird dankbar gefeiert, was in ristie als Dank erst begründet und mög- schreckende Mühe. Ich lege auf meine Jesus Christus österlich schon „geglückt“ lich macht. An ihm scheiden sich die Patene, mein Gott, die erwartete Ernte ist und in fortwährender „Eucharisa- Geister gemäß dem Taufversprechen. dieses neuen Bemühens. Ich gieße in tion“ (Teilhard) universal glücken wird Epikletisch geht es also um die Seele der meinen Kelch den Saft all der Früchte, und soll. Der zentrale Ort einer eucha- Kirche und deren ständige Reformation, die heute zermalmt werden. Mein Kelch ristischen Schöpfungslehre und -praxis um die Seele meines Lebens und dessen und meine Patene sind die Tiefe einer ist also Ostern. „Die ganze Welt, Herr Konsekration, um die Seele der Welt als Seele, die allen Kräften weit geöffnet ist, Jesu Christ, … in Deiner Urständ fröh- Schöpfung. und deren Heiligung und die in einem Augenblick sich von allen lich ist“, wie Friedrich von Spee im Sin- Bewahrung. Herrscht der Geist kapita- Punkten des Erdballs erheben und zum Dr. Gotthard Fuchs, Leiter des Referats ne des österlichen Exsultet singt. listischer Ausbeutung und Vernutzung? Geist konvertieren werden. – Kommt Kultur-Kirche-Wissenschaft der Diözese Angesichts der Kürze der Zeit wähle Herrscht der Geist göttlicher Mitleiden- also zu mir, Erinnerung und mystische Limburg, Wiesbaden ich sieben Aspekte aus diesem öster- schaft und christlicher Mitgeschöpflich- Gegenwart derer, die das Licht zu ei- lichen Schöpfungsglauben, der alle eu- keit? Und wie zeigt sich das in Sprache, nem neuen Tag erweckt!“ charistische Realisierung und Resonanz Symbolik und Kommunikativität der So beginnt Teilhard de Chardins be- verdient. Dass diese innerlich zusam - konkreten Eucharistiefeiern? rühmte „La messe sur le monde“. Der immer um die Welt im ganzen, um das men hängen und sich gegenseitig er- Jesuit feiert fernab in der chinesischen Geviert der Wirklichkeit, um das Gan- schließen, liegt auf der Hand. Immer ist 2. Ordos-Wüste 1923 eine, wortwörtlich, ze, das Kat-Holische. Immer ist die die Spannung von Schon und Noch- kosmische Liturgie – nicht zufällig an oikumenische, globale Perspektive „für nicht im Spiel: einerseits wird der ge- Das eucharistische Geschehen eröff- dem für ihn so zentralen Fest der Ver- euch und für alle“ leitend – also das, kommene Christus als kommender be- net einen neuen Zeit-Raum. Die wirkli- klärung, der Metamorphosis Christi. was man heute ökologisch nennt. Stets grüßt, und deshalb gilt das liturgische che und wirkende Gegenwart Jesu Chris- Keiner in der jüngsten Zeit hat in den vorausgesetzt ist dabei der Ist-Zustand ti realisiert sich konkret in der dankba- Westkirchen so wie der zu Unrecht ver- von Zerstreuung und Zerrüttung, von ren Erinnerung an das, was er war und gessene Forscher der Natur und Mysti- Diaspora und Entfremdung, von „ellen- Daraus resultiert der ökolo- tat, und der sehnsüchtigen Erwartung, ker der Schöpfung jene biblischen und de“, wie man im Mittelalter sagte. Ziel dass er endlich wiederkommt, damit altkirchlichen Überzeugungen euchari- ist einzig die Sammlung aus dieser Zer- gische Imperativ, das Stöh- Gott alles in allem sei. Die Eucharistie stisch zur Geltung gebracht, die den Zu- streuung, die Versöhnung des Zertrenn- nen und Seufzen der Krea- ist, in der berühmten Auslegung des sammenhang von Abendmahlsfeier, ten, die heilige Kommunion zwischen Thomas von Aquin, signum commemo- Schöpfungsglauben und Hoffnung auf Gott und Mensch – endlich wieder alles tur zu (er)hören, Verhält- rativum, signum prognosticum und so die Verwandlung der gegenwärtigen in allem. Denn Christus „heilt die Wun- nisse aufzudecken und zu signum repräsentativum. In allen drei Verhältnisse in Christus verbinden. „Wir den der ganzen Schöpfung, richtet auf, Zeitekstasen ist es ein und derselbe danken dir, unser Vater, für den heiligen was darniederliegt und ruft den verlore- verwandeln. Geist, der „das Zeitliche segnet“. Nichts Weinstock Davids, deines Knechtes, nen Menschen in das Reich deines Frie- ist verloren, „und wenn die ganze den du uns offenbart hast durch Jesus, dens“, wie es zweiten Dankgebet von Heute im Perfekt: „Himmel und Erde Schöpfung von der Verderbnis der Sün- deinen Knecht.“ So heißt es in einem Weihnachten heißt. sind (!) von deiner Herrlichkeit (schon) de und des Todes befreit ist, lass uns der ältesten Eucharistiegebete der Chris- Erinnern wir kurz an einige essenti- erfüllt“. Das ist ein Pol der theologi- zusammen mit ihr dich verherrlichen tenheit, wohl um 100 in Syrien geschrie- als der katholischen Schöpfungs- und schen Basisbestimmung, sozusagen der in deinem Reich durch unseren Herrn ben, stark übrigens geprägt von den jü- Sakramententheologie: So wie Jesus in ökologische Indikativ. Andererseits Jesus Christus“. In diesem eucharisti- dischen Berachot am Sabbat. Nach die- seiner Lebenspraxis, in seinem Sterben steht realpräsent alles noch in der mes- schen Rhythmus gibt es weder Fort- sem Segenswort über den Kelch – zuvor und in seiner Auferweckung der Chris- sianisch-adventlichen Sehnsuchtsspan- schrittswahn noch Vergänglichkeits- wurde das Vaterunser gebetet –, ist seg- tus ist, das lebendige Ursakrament, die nung, „bis du kommst in Herrlichkeit“. depression, weder panische Mobilma- nend vom Dank für das Brot die Rede, sichtbare Gestalt des unsichtbaren Got- So lautet der andere Pol derselben chung noch faulen Quietismus, denn „für das Leben, das du uns geoffenbart tes, so wird dies in der Kirche sichtbar Grundbestimmung. Daraus resultiert „mit Gott kannst du nichts versäumen“ hast durch Jesus, deinen Knecht. Wie als Gemeinschaft der Glaubenden, in der ökologische Imperativ, das Stöhnen (Meister Eckhart). Ermöglicht wird Re- dies (Brot) auf den Bergen zerstreut war allen ihren Lebens- und Sterbensvoll- und Seufzen der Kreatur zu (er)hören, alpräsenz, ganz im Hier und Jetzt der und zusammengebracht ein Brot gewor- zügen: Sammlung aus der Zerstreuung Verhältnisse aufzudecken und zu ver- erfüllten und befristeten Zeit. Wiede- den ist, so soll deine Kirche zusammen- schon jetzt, Vorhut der neuen Schöp- wandeln. – Ebenfalls strukturbildend rum ist der Dreiklang zu bedenken: das gebracht werden von den Enden der fung. Das lebendige Ursakrament Jesus für die folgenden sieben Punkte sind je- Seufzen des Geistes in der Kirche, im Erde in dein Reich.“ (Didache 10) Christus wird konkret in der Gemein- weils die drei Dimensionen der einen Menschen und in der Schöpfung – auf- Nach der Sättigung heißt es im weiteren schaft der Glaubenden, der Kirche als Wirklichkeit: es geht nämlich auch in grund der geschehenen Erlösungstat auf Dankgebet: „Du, Herrscher, Allmächti- sacramentum (mysterium) mundi. „Was tiefenökologischen Perspektive 1. um Vollendung hin. Wiederum gilt es, die- ger, hast alles erschaffen um deines Na- an Christus sichtbar war, ist übergegan- das Lebenshaus der Kirche in der Ge- ses „Sakrament der Zeit“ (S. Weil) kon- mens willen, Speise und Trank den gen auf die Sakramente der Kirche sellschaft, sozusagen mesotheologisch, kret zu realisieren in einem Kontext, in Men schen zum Genuss gegeben; uns „– so heißt es dann z.B. bei Leo d. Gr. 2. mikrotheologisch um das Leibhaus dem Zeit Geld ist und entsprechend aber hast du geistliche Speise und Trank (sermo 74, de ascensione 2). Und: des einzelnen Menschen und 3. in ma- „panische Mobilmachung“ zerstörerisch geschenkt und ewiges Leben durch Je- „Christus … setzt im Kreislauf des (Kir- krotheologischer Perspektive um das wirkt (Sloterdijk). sus, deinen Knecht. Für alles danken chen-)Jahres die Wirklichkeitsfülle der Weltenhaus der ganzen Schöpfung. Gegen-wart meint nicht nur zeitliche, wir dir, weil du mächtig bist, Dir die Äonen gegenwärtig“ (Origenes, Zum „Die ganze Welt sollte eigentlich als der sondern auch räumliche Entfaltung des Herrlichkeit in Ewigkeit. Gedenke Herr, Hohenlied III). Nirgends wird dies real- sichtbare Teil eines universalen und Hl. Geistes in allen Dingen. „Makom“, deiner Kirche, dass du sie bewahrst vor symbolisch dichter und konkreter spür- fortwährenden Sakraments betrachtet Raum, ist in der Hebräischen Bibel allem Bösen und sie vollendest in dei- bar als in den Einzelsakramenten; in werden und alle menschliche Aktivität nicht zufällig ein Gottesname, denn im ner Liebe; und führe sie zusammen von deren Zentrum Taufe und Eucharistie als sakramentale göttliche Kommu- Hause Gottes gibt es viele Wohnungen den vier Winden in dein Reich, das du stehen, also Vergebung der Sünden und nion“, wie der orthodoxe Theologe (vgl. Joh 14). Was für alle erhofft wird, ihr bereitet hast…“ Deutlich ist sofort: Gemeinschaft des und der Heiligen. D. Staniloae formuliert. Diese commu- die unendliche Weiträumigkeit Gottes es geht bei der Hl. Eucharistie immer Aber diese Sakramentalität ist christlich nio continua sei also in sieben Aspek- als Heimat von Mensch und Welt, wird wesentlich auch um die Kirche, um ih- die Bestimmung aller Wirklichkeit, ten ökologisch anbuchstabiert. Dass hier und jetzt eucharistisch schon kon- ren bleibenden Grund und ihre ständige denn „Gott erwartet uns in den Din- damit auch selbstkritische Anfragen an kret – im Raum, im Hause, im oikos Gründung – und bei Kirche geht es gen“ (Teilhard de Chardin). So wie der die Art gestellt sind, wie gegenwärtig Gottes. Dem aufgeräumten Geheimnis

18 zur debatte 6/2010 Gottes Raum zu geben, ist Sinn und Verknappung der Güter und der Profit- Bewahrung, Heilung und Vollendung dass das Antlitz Gottes in der Kreatur Auftrag von Kirche. Ihn im eigenen Le- maximierung weniger auf Kosten vie- der Schöpfung im ganzen. Heilsökono- bleibe.“ (Ges.Schr I 282). ben kommen zu lassen, Wirkraum ein- ler). mie und Realökonomie gehören christ- In Teilhards kosmischer Liturgie be- zuräumen, ist das Wunder der Christ- lich zusammen. tet der priesterliche Hirte des Daseins: werdung. Derart die ganze Erde und 5. „Empfange, Herr, diese ganze Hostie, den Welt-Raum als den Ort Seiner stän- 7. die die von Deiner Anziehung bewegte digen Ankunft zu begehen und Ihm Essen und Trinken werden eucharis- Schöpfung Dir im neuen Sonnenauf- „einen Ort sichern“ (M.Delbrel), gehört tisch zu geheiligten Elementarvollzügen „Augen, Mund und Hände täuschen gang darbietet. Dieses Brot, unser Mü- zur eucharistischen Tiefenökologie. des Menschlichen. Schöpfungsgemäße sich in dir, doch des Wortes Botschaft hen, ist aus sich selbst, ich weiß es, nur Entsprechend ist Kirche als Beziehungs- Konvivialität zeigt sich darin, wie jeder offenbart sich mir. Was Gott Sohn ge- ein unermesslicher Zerfall. Dieser Wein, raum das Haus Gottes, und jedes mit und vom anderen lebt und einer des sprochen, nehm ich glaubend an; er ist unser Schmerz, ist erst, leider, nur ein menschliche Leben Sein Tempel – und anderen bedarf – und für alle auf dem selbst die Wahrheit, die nicht trügen auflösender Trank. Doch in die Tiefe dies in Zeiten globaler Wohnungsnot, Tisch des Welthauses genügend gedeckt kann.“ Der Defekt der Sinne, den der dieser unförmigen Masse hast du, des- seelischer Obdachlosigkeit und oft auch ist. Der beschimpfte „Fresser und Säu- thomasische Hymnus benennt („sensu- sen bin ich sicher, weil ich es fühle – ein kirchlicher Heimatlosigkeit. fer“ aus Nazareth ist zugleich der, der um defectui“) erweist im Kontrast die unwiderstehliches und heiligendes Ver- von Gott alles nimmt und empfängt, Sehkraft des Glaubens. Denn dieser be- langen gelegt, das uns alle, vom Ungläu- 3. auch in den Gaben der Schöpfung, und kennt den Schöpfer der Welt nicht nur bigen bis zum Gläubigen, schreien lässt: der alles hingibt und sich verausgabt. im Blick auf das Sichtbare, sondern ,Herr, mache uns eins!‘. Die Urszene der Christ- und Kirche- Essen und Trinken heißt freilich auch auch das Unsichtbare, die Mächte und Oh ja, endlich habe ich so durch das Werdung wird in jeder Eucharistiefeier Verzehren und Töten – um des Lebens Gewalten. Die Eucharistiefeier ist der doppelte Mysterium der universellen real-symbolisch konfiguriert: die Glau- und Überlebens willen. Dem gemeinsa- Ort, wo den Glaubenden hier und jetzt Konsekration und der universellen Kom- benden wissen sich gesammelt in der men Mahl ist das Opfer eingeschrieben, die himmlische Welt der Engel sozusa- munion jemand gefunden, dem ich mit Einladung Christi „Nehmet hin und als entweder erzwungene oder freiwilli- gen schon „zugeschaltet“ ist. „Wenn ganzem Herzen diesen Namen geben esst: das ist mein Leib ..., das ist mein ge Hingabe. Im eucharistischen Tun man in der Messe niederkniet, um kann! Solange ich in Dir (Jesus) nur den Blut, das bin ich, so bin ich für euch“. wird das Lebensgeheimnis dessen kraft- ,sanctus, sanctus, sanctus‘ zu singen, Mann von vor 2000 Jahren, den erhabe- Wohl in keiner Religion wird derart der voll gegenwärtig, der Gewalt und Tö- nimmt man teil am Chor der Stimmen nen Sittenlehrer, den Freund, den Bru- Leib, der Körper und damit die sinn- tung nicht mit Gegengewalt und Tötung des Universums“ (S. Weil, Cahiers IV der zu sehen vermochte oder wagte, ist liche, materielle Welt so gewürdigt. beantwortete, sondern jenes neue, un- 344). Wo aber die Engel, die guten meine Liebe zaghaft und gehemmt ge- „Das Fleisch ist der Angelpunkt des endliche Leben offenbar werden lässt, Mächte, rationalistisch und anthropo- blieben. Haben wir um uns herum nicht Heiles“, formulierte antignostisch Ter- das Tod und Gewalt österlich in sich zentrisch vergessen werden, wird die sehr große, nicht sehr köstliche und nä- tullian. „ Es sündigt das Fleisch, es rei- überwindet. Eucharistisch gelten andere Weltwirklichkeit unter der Herrschaft here Freunde, Brüder, Weise? Und wei- nigt das Fleisch, Gott herrscht, Gottes Tischsitten als sonst, eucharis tisch sähe des Sichtbaren halbiert – und machtvol- ter, kann der Mensch sich ganz einer nur eigenes Fleisch“ , singt der alte Hymnus die Tischgemeinschaft der Menschheit ler agieren die bösen Mächte in Gestalt mensch lichen Natur hingeben? Immer zur Himmelfahrt Christi. Diese inkarna- anders aus. Eucharistisch wird jene global zerstörerischer Teufelskreise. schon hatte die über jedem Element der torische, inkorporierende, theosomati- kommende Mahlgemeinschaft „für euch „Wenn aber die ganze Schöpfung von Welt stehende Welt mein Herz ergriffen, sche Dimension des Christlichen ist und für alle“ sozusagen „aperitifhaft“ der Verderbnis der Sünde befreit ist, lass und niemals hätte ich mich jemand an- fundamental. „Im Gegensatz zur plato- schon voraus realisiert, die sich univer- uns zusammen mit ihr. Dich verherr- derem ehrlich gebeugt. So bin ich also nischen Lehre rettet das Christentum sal allererst durchsetzen muss gegen lichen in deinem Reich durch unseren lange Zeit selbst als Glaubender umher- den Körper.“ (Octavio Paz, Die doppel- alle fressenden Mächte und Gewalten, Herrn Jesus Christus“. geirrt, ohne zu wissen, was ich liebte. te Flamme). Dabei ist durchaus auch die derzeit oft so zerstörerisch wirken. Heute aber, Meister, da du mir durch die die erotische Tönung der leibhaften In einer globalen und individualen Her- Fazit: Offenbarwerdung der suprahumanen Selbst-Hingabe mitzuhören. Das corpus meneutik des Hungers wäre zu entfal- Vermögen, die die Auferstehung dir ver- Christi mysticum meint also a.) Jesus, ten, woran und warum es mangelt, wie Im Fluchtpunkt aller sieben Aspekte liehen hat, durch alle Mächte der Erde den Christus selbst b) die Körperschaft und woher Er-Füllung zu erwarten ist. steht ersichtlich jener nichtpossessive hindurch erscheinst, erkenne ich dich als der Glaubenden, die Eingliederung in Eucharistische Ökologie ist nicht gleich- geschwisterliche Umgang mit allen Din- meinen Herrscher und liefere ich mich den Leib Christi c) den Leib der Erde gültig gegenüber Welthandelspreisen gen, der aus dem Vertrauen auf den dir in Wonne aus.“ und des Kosmos. und globalen Produktions- wie Kon- Schöpfer aller Dinge kommt und die in Dieser Glaube an die Eucharistisa- Entsprechend gehört zur (sokrati- sumptionsgewohnheiten. (Entsprechend Christus vollzogene Versöhnung mit der tion der Welt, in der Gott den Men- schen!) Seel-Sorge also christlich die steht im Synodentext „Unsere Hoff- Welt zum Maßstab nimmt. Im großen schen in allen Dingen um Mitwirkung Leib-Sorge im genannten Dreiklang – nung“ der prophetische Abschnitt „Für Schöpfungsgesang des Johannes vom und Mitleiden bittend schon entgegen im Unterschied zu einer Körperkultur die Tischgemeinschaft mit den armen Kreuz betet deshalb der vom Ego erlös - kommt, lässt Teilhard de Chardin beten: zwischen Selbstsucht und Selbstzerstö- Kirchen“ – und der Welt der Armge- te Mensch in eucharistischem Staunen „Empfange, Herr, diese totale Hostie, rung, aber auch in Selbstkritik von machten.) im Blick auf die Welt: „das alles bist die die von deiner Anziehung bewegte asketistischer Leibfeindlichkeit und Du“ (Cantico espiritual 13/14, 5). Ent- Schöpfung dir im neuen Sonnenaufgang mangelnder Selbstsorge. Diese inkarna- 6. sprechend mahnte Alfred Delp 1941 darbietet. Dieses Brot, unser Mühen, ist tive, „körpertherapeutische“ Sensibilität treffend: Die Kirche hat in diesen Tagen aus sich selbst, ich weiß es, nur ein un- für Schönheit und Verletzbarkeit des Das eucharistische Tun gründet we- die ungeheure Chance, sich dem Ge- ermesslicher Zerfall. Dieser Wein, unser Sinnlichen, des Leiblichen, des Mate- sentlich in Jesu Kritik an der damaligen dächtnis der Kreatur unverlierbar ein- Schmerz, ist erst, leider, nur ein auflö- riellen gilt es, als Konvivialität z.B. fran- Tempelwirtschaft und in dem Mut, eine zuprägen, wenn und weil sie die mutige sender Trank. Doch in die Tiefe dieser ziskanisch zu entfalten. „Wer sich inner- andere Ökonomie des Umgangs mitein- Verteidigung der bedrohten Kreatur unförmigen Masse hast du, dessen bin halb der Welt gedanklich wie existen- ander zu realisieren, in den Mählern war, und es wäre falsch, dies zu sehen ich sicher, weil ich es fühle – ein un- tiell dazu geschult hat, alles Leibliche mit den Armen und Sündern, in der unter dem Gesichtspunkt der zukünfti- widerstehliches und heiligendes Verlan- als ein Gleichnis und Ausdrucksfeld geis - symbolischen Alternative des „Abend- gen faktischen Vorteile. Die Bindung an gen gelegt, das uns alle, vom Ungläubi- tiger Wahrheit zu schauen, der wird die mahls“. Er gibt sich selbst als Lösegeld diese Aufgaben ist eine Bindung aus der gen bis zum Gläubigen, schreien lässt: beste Vorbedingung mitbringen, die ge- für die vielen. Entsprechend sind Güter- Verantwortlichkeit, die wir dafür tragen, ,Herr, mache uns eins!‘ “ „ samte Schöpfung als das Gleichnis und gemeinschaft und Lastenausgleich von Ausdrucksfeld des Schöpfers zu deuten“ früh an konstitutiv für christliches Ver- (v. Balthasar, Theologik I 264). halten: eine Art globales Umschul- dungsprogramm, eine wirkliche Kon- Kommende Akademieveranstaltungen 4. version nicht nur innerlich, sondern in Diese Terminvorschau ist vorläufig. Zu allen Veranstaltungen werden rechtzeitig den realen Währungen. Paulus nennt jeweils gesonderte Einladungen ergehen. „Brot ist der Erde Frucht, doch ist’s die Geldkollekte für die Urgemeinde in mit Licht gesegnet, / und vom donnern- Jerusalem ganz selbstverständlich „Gna- Junge Akademie Forum den Gott kommt die Freude des Weins, dengabe“ und „Eucharistie“ (2 Kr 8-9). Samstag, 6. November 2010 Freitag, 26. November 2010 / darum denken wir dabei auch der Kollekte ist nicht nur die öffentliche Querköpfe, Schrittmacher, Propheten. „Wohlstand durch Wachstum“ – Himmlischen ...“ (Hölderlin, Brot und Sammlung der stillen Einzelgebete der Braucht unsere Gesellschaft noch ein Auslaufmodell? Wein). Welt und Leben als Gabe zu ver- Glaubenden in der Eucharistie durch (christliche) Intellektuelle? stehen, als ständige Einladung zur Ga- den Priester, es ist auch die realistische Junge Akademie benbereitung, kennzeichnet eucharisti- Sammlung der Nahrungsmittel für die Vortrag 3. und 4. Dezember 2010 sche Existenz. Dass der Grund aller Armen in der Gemeinde. Evident ist die Dienstag, 9. November 2010 Nacht. Ein interdisziplinäres Erlebnis Wirklichkeit Hin-Gabe ist und jenseits Analogie von monetären und euchari- Synthetische Biologie Vortrag von Eden aus Ver-Gebung lebt, gehört stischen Bildreden und Sprechhandlun- Montag, 6. Dezember 2010 Reihe „Wissenschaft für jedermann“ in die Mitte des Christlichen. Das „für gen. Die neue Sozial- und Umweltver- Josef – Zweifler und Vorbild. im Deutschen Museum euch und für alle“, das in der Armut des träglichkeit in der Eucharistie und dank Im Spiegel der Künste Mittwoch, 10. November 2010 Menschen Jesus den Reichtum der gött- ihrer resultiert aus einer nicht kapitali- Lasst uns die Erde kühlen! Vortrag lichen Lebensfülle zum Überfließen stischen und nicht konsumistischen Le- Climate Engineering Montag, 13. Dezember 2010 bringt, ist Anlass und Inhalt der Eucha- bens- und Denkform, und fördert diese. Was heißt heute konservativ? ristie. Diese ist das Fest der Zustimmung „Man kann nicht Gott dienen und dem Forum Zur Aktualität einer klassischen zur Treue Gottes in Schöpfung, Erlö- Mammon“, man kann nicht sein Leben Mittwoch, 17. November 2010 Denkform sung und Vollendung. Daraus resultiert hingeben als Lösegeld für die vielen und Mit Demenz leben ein segnender, ein verschwenderischer, in die eigene Tasche wirtschaften. Die Junge Akademie ein mit-teilender Umgang mit allen Din- eucharistische Wandlung ist nicht Mittwoch, 24. November 2010 Donnerstag, 16. Dezember 2010 gen, eine Kultur des Gebens und Neh- trennbar von der Wandlung der persön- Verleihung des Kardinal Wetter Preises Engel. Mittler zwischen Himmel mens (ganz im Gegensatz zur kapitali- lichen, gesellschaftlichen und auch in Eichstätt und Erde stischen Ideologie der künstlichen kirchlichen Verhältnisse – zwecks

6/2010 zur debatte 19 Ab wann betrachten wir einen Embryo und Stadien der Entwicklung gegeben bzw. Fötus als ein menschliches Wesen sind, denen sie dann eine entsprechen- genauso wie du und ich? Denn: Wenn de Bedeutung für das Menschsein im der Embryo eine Person, ein Jemand ist, Gesamten zuschreiben. Eigentlicher Be- Wann beginnt dann verdient er denselben Respekt wie zugspunkt bleibt dabei die Zukunfts- wir ihn für uns selbst erwarten und ein- perspektive des Embryos, eines Tages fordern. geboren zu sein und als Kind und spä- Auf die konkreten Fragen zur Qua- ter als Erwachsener Mensch zu sein, der personales Leben? lität des menschlichen Lebens auch all das tun kann, was einen Menschen schon lange vor der Geburt und in den bzw. was Personsein ausmacht. Alle ersten Anfängen gibt es eine Reihe von Aussagen über den Status des vorge- Antworten aus dem Bereich der Religio- burtlichen menschlichen Lebens sind Perspektiven der Weltreligionen nen. Diese Antworten fallen manchmal von dieser späteren Bestimmung abge- weniger, manchmal aber auch sehr dezi- leitet. diert aus. Ihre Sprecher und Repräsen- In der beschriebenen unterschied- tanten stützen sich bei solchen Antwor- lichen Kompetenz der Naturwissen- ten auf religiöse Überzeugungen und schaften auf der einen Seite und der an- theologische Traditionen. Diesen liegen thropologisch-theologischen Bedeu- Die Frage klingt sehr einfach: „Wann deutlich, welch große Wertschätzung allerdings in der Regel ganz andere, als tungszuschreibung auf der anderen liegt beginnt personales Leben?“ Doch die das werdende menschliche Leben in spekulativ zu charakterisierende Fragen die ganze Not und die Schwierigkeit Statements, die Vertreter verschiede- allen Religionen und Konfessionen ge- zugrunde, etwa die, was der Mensch unserer Frage nach dem Beginn des ner Weltreligionen und christlicher nießt. „zur debatte“ dokumentiert die vor Gott ist und was ihn vor anderen personalen Lebens. Es ist eben keine Konfessionen beim gleichnamigen Fo- überarbeiteten Referate. Ergänzt wird Dingen und Lebewesen auszeichnet. Frage, die sich von selbst beantworten rum am 4. Mai 2010 auf diese Frage die Dokumentation durch eine kurze Oder die Frage, auf welche Weise der würde, wenn man den biologischen Be- abgegeben haben, zeigen zum einen, Einführung, die der Moderator Profes- Mensch von Gott geschaffen sein kann. ginn eines Lebewesens herausgefunden wie unterschiedlich diese Frage beant- sor Dr. Wilhelm Vossenkuhl verfasste. Oder im christlichen Raum die Frage, hat. Aber auch keine Frage wiederum, wortet wird. Andererseits wurde sehr inwieweit das, was über den Menschen die man nach Gutdünken und mit je- zu sagen ist, auch für Jesus Christus dem x-beliebigen biologischen Vorgang zutrifft; und die, wie es denn mit dem verknüpfen könnte oder dürfte, weil Heil von Fehlgeburten und während dann der Anerkennung und dem Re- der Geburt verstorbenen Neugebore- spekt des als Mensch Erkannten die nen, die nicht mehr rechtzeitig getauft Grundlage entzogen wäre. werden konnten, bestellt ist. Das alles Diese Schwierigkeit der zwei Er- aber sind – jedenfalls primär – keine kennt nisperspektiven wird übrigens in ethischen Fragen, sondern – um in der manchen kirchlichen Texten sogar aus- Terminologie der Theologie zu bleiben – drücklich erwähnt. So heißt es bei- dogmatische. Ihre ethischen Konsequen- spielsweise in der 2008 erschienenen Eine katholisch-theologische Sicht zen herauszuarbeiten, ist mit erheblicher Instruktion „Dignitas personae“ der Mühe verbunden, die zugrunde liegen- Glaubenskongregation ganz ausdrück- Konrad Hilpert den Problemstellungen und die Argu- lich, dass das Menschsein des Embryos mente, die die jeweiligen überlieferten (in der Sprache der Tradition: das Vor- Antworten nachvollziehbar erscheinen handensein einer Geistseele) „von kei- lassen, erst einmal zu verstehen. ner experimentellen Beobachtung aus- Könnte man angesichts dieser not- gemacht werden“ könne (nr. 5). Der wendigen Mühen sich diesen kompli- Text beruft sich stattdessen auf „eine zierten Umweg nicht einfach sparen Wahrheit ontologischer Natur“ (nr. 5). und die Frage nach dem Anfang des Das heißt in weiterführender Konse- personalen Lebens beim Menschen ziel- quenz immerhin so viel, dass die von A. Einführung in die Fragestellung führender an die Naturwissenschaften der Kirche in die-ser Frage eingenom- weitergeben, also besonders an Biologie mene Position nicht nur einfach be- Die Frage, die im Mittelpunkt dieses und Medizin? Tatsächlich haben die hauptet oder wiederholt wird, sondern Abends steht, „Wann beginnt personales letzten Jahrzehnte der Forschung den als mit philosophischer Argumentation Leben?“ ist keine Frage, mit der wir es Prozess der Entstehung des mensch- begründbar unterstellt wird. im Alltag zu tun haben. Hier setzen wir lichen Lebens ja bis in den molekularen Und damit sind wir bei der Position die Personalität der Menschen, mit de- Bereich hinein aufklären können. Nir- der römisch-katholischen Kirche. nen wir es zu tun bekommen, immer gendwo wurde so viel detailliertes Wis- schon voraus und versuchen auf der sen über die frühen Stadien des B. Antwort aus katholisch- Basis der Annahme, dass sie denken, menschlichen Lebens gewonnen und theologischer Sicht fühlen, sich ausdrücken und uns ver- angesammelt wie gerade hier, und die stehen können, miteinander auszukom- diesbezügliche Entwicklung ist noch Die Position der römisch-katholi- men. Für Konflikte gibt es moralische lange nicht abgeschlossen. Weshalb also schen Kirche besagt bekanntlich, dass und rechtliche Regeln, die gerade das nicht gleich die Frage nach dem Beginn bereits die befruchtete menschliche Ei- an Selbstbestimmung, Privatheit, Ver- personalen Lebens an die Entwicklungs - zelle eine volle menschliche Person sei sorgung und Sicherheit verbürgen, was biologie bzw. Embryologie richten? und infolgedessen die gleiche unbeding- Personen zusteht, und zwar gleich ob Eigentlich wäre das ganz klar, wäre da te Achtung und den gleichen Schutz sie mit uns verwandt, befreundet, gut nicht das Wort „personal“ bei „mensch- verdiene wie eine erwachsene Person. bekannt oder uns fremd sind, ob sie lichem Leben“. Welche Disziplin ist In der erwähnten Instruktion der Glau- jung oder alt, klein oder groß, schön hierfür zuständig? Biologie und Medi- benskongregation aus dem Jahr 2008 oder hässlich usw. sind. zin können zwar die körperliche Ent- lautet gleich der erste Satz: „Jedem Dennoch wird die Frage, wann per- wicklung detailliert beschreiben. Aber Menschen ist von der Empfängnis an sonales Leben beginnt, seit fünf Jahr- sie können allein nicht entscheiden, ob bis zum natürlichen Tod die Würde zehnten wieder und wieder gestellt und ein Embryo, gar der extrakorporale, ein einer Person zuzuerkennen.“ (nr. 1) die Antworten auf diese Frage meist Prof. Dr. Konrad Hilpert, Professor Mensch ist, weil sie, wenn sie das täten, Diese exakte Angabe zum Anfang heftig diskutiert. Und zwar überall dort, für Moraltheologie an der Universität den Menschen auf das Biologisch-Natu- des menschlichen Lebens findet man – wo es um Themen geht wie Abtreibung, München rale reduzieren würden. Sicherlich ist mit einigen Varianten (z. B. „vom Augen- In-vitro-Befruchtung, Stammzellfor- für die Klärung der Frage, ob und ab blick der Empfängnis an“, „von der Be- schung oder Erzeugung von Klonen. wann der Embryo Mensch ist, die Bio- fruchtung an“, „vom Augenblick der Das alles sind keine Handlungsmöglich- logie auch von größter Relevanz, weil Zeugung an“) – in vielen offiziellen keiten, von denen der durchschnittliche die rechtlich-politische Ausgestaltung der Mensch ja auch Angehöriger der Stellungnahmen der katholischen Kirche. Bürger für sich privat einfach Gebrauch der neuen Handlungsspielräume, die Spezies Mensch ist. Aber er ist eben zu- Allerdings taucht sie so betont erst in machen kann, sondern solche, die von der wissenschaftliche und medizinische gleich mehr als Angehöriger der Spezies, den letzten Jahrzehnten auf. Davor gab Spezialisten entwickelt und realisiert Fortschritt an Wissen und Können er- nämlich auch Individuum und Person, es weder Veranlassung noch Hand- werden, die aber für unser Alltagsleben öffnet. das heißt ein einmalig und frei sich lungsspielräume für die Einzelnen, den einschneidende Folgen haben können. Dieses praktische Interesse gilt selbst bestimmen könnendes Subjekt Zeitpunkt des Menschseins so genau zu Deshalb brauchen sie ethische Reflexion schwerpunktmäßig dem Umgang mit seines Tun und Lassens. Und dafür sind bestimmen und der Öffentlichkeit und rechtliche Regelung. Wenn in die- menschlichen Embryonen und Feten, wiederum Philo-sophie und Theologie gegenüber ins Bewusstsein zu rufen. sem Zusammenhang immer auch die vor allem sehr frühen und auch solchen, zuständig. Und diese können die ge- Man trifft allerdings auch schon davor Frage nach dem Beginn des personalen die extrakorporal entstanden sind. In nannten typisch menschlichen Eigen- immer wieder auf drei Aussagen, näm- Lebens gestellt wird, dann weil man er- den erwähnten Diskussionen taucht schaften und Qualitäten zwar über de- lich erstens auf die Überzeugung, dass wartet, dass die Antwort auf diese Frage deshalb die Frage nach dem Beginn per- ren Manifestation beim geborenen und das Leben ein Geschenk, eine Gabe ist, hilfreich für die Orientierung sein könn- sonalen Lebens meist konkret und bezo- erwachsenen Menschen auf die Zeit vor zweitens, dass die Liebe und Fürsorge te. Das Motiv, die Frage zu stellen, ist gen auf ganz bestimmte Handlungsmög- der Geburt ausdehnen, aber wiederum Gottes um einen Menschen schon weit also in den seltensten Fällen bloße Neu- lichkeiten auf. Sie lautet dann etwa: Ab nicht willkürlich und unbeschränkt, son- vor der Geburt beginnen, und drittens, gier, sondern vielmehr das Suchen nach wann gestehen wir dem Embryo einen dern nur soweit dafür bestimmte ent- dass Abtreibung unmoralisch und des- praktisch-ethischen Anhaltspunkten für moralischen bzw. rechtlichen Status zu? wicklungsbiologische Voraussetzungen halb abzulehnen ist.

20 zur debatte 6/2010 Die mit diesen drei Elementen ver- Dieses Argument hat gleichsam einen bundenen Überzeugungen stehen in schweren „Schlag“ erlitten, seit es den einer theologischen Traditionslinie, die Wann beginnt personales Leben? Zellforschern während der letzten Jahre biblische Wurzeln hat [etwa wenn im gelungen ist, Körperzellen zurückzuver- 139. Psalm gebetet wird: „... Du bilde- wandeln in Zellen, die sich genauso test meine Nieren. Du wobst mich in verhalten wie ein ganz früher Embryo. Diese Frage klingt einfach, ist aber versammelten Referenten haben mit meiner Mutter Leib. Ich preise Dich Dies bedeutet ja, dass im Prinzip jede alles andere als harmlos. Von den Ant- uns über die Frage diskutiert. darüber, dass ich auf eine erstaunliche, Körperzelle eines Menschen das Poten- worten darauf hängen sehr viele ethi- Man mag sich fragen, warum die Ka- ausgezeichnete Weise gemacht bin. ... tial hat, „zu einer Zelle zu werden, die sche und rechtliche Entscheidungen ab. tholische Akademie überhaupt die Fra- Nicht verborgen war mein Gebein vor ihrerseits das Potential hat, zu einem Wir wissen zwar, dass der Zeitpunkt der ge nach dem Beginn des personalen Le- Dir, als ich gemacht wurde im Verbor- lebensfähigen Menschen zu werden“ Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bens auf einer Tagung mit Vertretern genen, gewoben in den Tiefen der Erde. (Bettina Schöne-Seifert in: Ethik in der bei allen Menschen, die geboren wer- unterschiedlicher Religionen und christ- Meine Urform [gemeint ist die ungebo- Medizin, 2009, S. 272). den und wurden, der Beginn ihrer Ent- licher Konfessionen stellt. Ein Teil der rene Leibesfrucht] sahen Deine Augen. c) Das dritte Argument besagt, jeder wicklung im Mutterleib ist. Diese Ver- Antwort ist mit der kurzen Beschrei- Und in Dein Buch waren sie alle einge- Mensch habe sein Leben einmal als schmelzung findet aber auch sehr häufig bung der Vorarbeit im Arbeitskreis für schrieben, die Tage, die gebildet wurden, Embryo begonnen. Bereits dieser Em- statt, ohne dass daraus menschliches Medizinethik gegeben. Der andere Teil als noch keiner von ihnen da war.“ bryo habe das individuelle Genom, das Leben entsteht. Dennoch können wir der Antwort auf die Frage, warum diese (139,13-16),] und natürlich auch durch für den ausgewachsenen Menschen spe- sagen, dass die Verschmelzung der Zell- Tagung überhaupt stattfindet, ist ebenso das antike Christentum geprägt ist, das zifisch sei. (Identitätsargument) kerne die notwendige Bedingung für einfach. Es geht darum, wie Konrad Abtreibung ablehnte und das Recht des Das – so wird diesem Argument ent- das künftige Leben von Personen ist. Hilpert im Begleittext zum Flyer der Ta- antiken Vaters, sein geborenes Kind gegengehalten – trifft fraglos zu, aber Wir wissen aber auch, dass diese Bedin- gung schrieb, die Perspektiven der gro- auszusetzen oder zu töten, bekämpft solche Identität bestehe immer nur im gung nicht hinreichend dafür ist, dass ßen Religionen auf den Beginn persona- und seine Abschaffung à la longue Rückblick; das heißt, wir gehen bei die- wir bereits vom Beginn des personalen len Lebens und die Gründe für die di- durchgesetzt hat. Der Kern all dieser sem Argument von uns als existierender Lebens sprechen können. Viele Fragen vergierenden Überzeugungen kennen Aussagen ist: Die Entstehung eines neu- Person aus und benennen dann einen bleiben zu diesem Zeitpunkt noch of- zu lernen. Dies ist die Aufgabe der Ta- en Menschen ist ein denkwürdiges Ge- Augenblick, wann unser Leben begon- fen. Entstehen mehrere Personen oder gung. Es geht um Aufklärung, nicht um schenk, und Schutz und Sorgfalt gebüh- nen hat. Aber dieser Beginn sei doch nur eine, entsteht überhaupt eine le- Überzeugungsänderung oder gar Relati- ren dem Kind auch schon in der Ent- nicht dasselbe wie wir als neugeborener bensfähige Person? Fragen dieser Art vierung der je eigenen Position. Im wicklung vor der Geburt. Der zeitliche oder als erwachsener Mensch. Vom An- zeigen, dass wir nicht umhin können, Gegenteil, die Gründe für die einzelnen Beginn des individuellen Menschseins fang her gesehen sei das, was später eine Entscheidung über den Zeitpunkt Positionen zu dieser überaus wichtigen selbst aber bleibt für alle Beteiligten im daraus geworden ist, ja immer nur die zu treffen, zu dem personales Leben be- Frage, sollen besser verständlich und in Dunkeln: Der Erwachsene weiß um die Realisation einer Möglichkeit unter vie- ginnt. Die wissenschaftlichen Einsich- ihren Begründungen durchschaubarer Tatsache seines Geborenseins, aber er len anderen. Weder die vorgeburtliche ten über die Entwicklung menschlichen werden. Dann verstehen wir vielleicht kann seinen eigenen Beginn als Mensch Interaktion im Mutterschoß, die dafür Lebens legen allein keinen Zeitpunkt besser, warum die so heftig umstrittene nie mit Bewusstsein realisieren; die ei- verantwortlich sei, dass aus der Mög- zwingend nahe. Forschung mit humanen embryonalen genen Eltern haben zwar irgendwann lichkeit auch eine Realität werde, noch Der Arbeitskreis für Medizinethik der Stammzellen in manchen – auch christ- bemerkt, dass eine Schwangerschaft be- die unzähligen nachgeburtlichen Ein- Katholischen Akademie in Bayern hat lichen – Ländern erlaubt ist, in anderen steht, aber nicht deren Beginn. flüsse, Erwartungen, Anregungen und sich über einen Zeitraum von mehreren nicht. Das ist nur eine der vielen Konse- Die offizielle Position der katholi- Interaktionen mit anderen sind im Em- Jahren intensiv mit der Frage des Be- quenzen, die sich aus den unterschied- schen Kirche „Mensch von der Befruch- bryo selbst schon gegeben. Der bloße ginns personalen Lebens auseinander- lichen Antworten auf die Frage nach tung an“ ist also eine erst unter den Be- Besitz der individuellen genetischen gesetzt. Wir waren neugierig, wie ande- dem Beginn des personalen Lebens er- dingungen der modernen Medizin und Anlage für einen künftigen Menschen re Glaubensgemeinschaften diese Frage geben. Es ist sehr dankenswert, dass die Biologie mögliche zeitliche Präzisierung mache noch nicht diesen ganz bestimm- verstehen und beantworten. Deswegen Katholische Akademie in Bayern das einer theologischen Aussage über die ten Menschen aus. Zudem sei ein Em- luden wir Referenten zu unseren Ge- Forum für diese Frage bietet. Wertschätzung und Achtung des neuen bryo auch phänotypisch noch nicht als sprächen ein, die uns dazu etwas sagen menschlichen Lebens als einer Gabe des der spätere Mensch erkennbar. konnten. Fast alle auf dieser Tagung Wilhelm Vossenkuhl Schöpfers, die angesichts möglicher Ge- d) Schließlich wird darauf verwie- fährdungen durchgehalten werden soll. sen, dass jede Grenze zwischen Be- Das Interesse an der Frage nach dem fruchtung und Erwachsensein irgendwie Anfang des Menschseins bzw. Person- willkürlich sei, was ein eindeutiger seins war für die christliche Theologie Grund dafür ist, ab hier das Personsein über Jahrhunderte hinweg nicht ein na- beginnen zu lassen. Weil eine solche turwissenschaftliches, sondern ein Grenze fehle, müsse man bereits die schöpfungstheologisches. Das Problem, Blastozyste als Person ansehen. (Konti- um das es dabei ging, bestand darin, wie nuitätsargument) und wodurch die Seele in den Men- Gegen die Triftigkeit dieses Argu- schen hineinkommt. Dafür boten sich ments wird mehreres eingewandt, ins- mehrere, unterschiedliche Vorstellungen besondere, dass das Fehlen einer schar- an. Die heute in den Äußerungen der fen Zäsur in der Entwicklung nicht katholischen Kirche zugrunde gelegte, schon ein Beweis dafür ist, dass das, dass Gott in und während der Zeugung was sich entwickelt, auch eine Person gleichzeitig die Seele erschafft und hin- ist. Oder dass in medizinisch schwieri- eingibt, war in der Theologiegeschichte gen Fällen der komplette Ausfall des nur eine Meinung. Eine andere, bis ins Hirns weithin als entscheidendes Anzei- 19. Jahrhundert von vielen Theologen chen für die Überschreitung der Grenze bevorzugte Vorstellung besagt unter zum Tod eines Menschen akzeptiert ist, Rückgriff auf die Philosophie des Aris - Professor Vossenkuhl (re.) – hier zu- woraus spiegelbildlich der Schluss gezo- toteles, dass Beseelung ein prozesshaf- sammen mit Rabbiner Kućera (Mitte) gen wird, dass von einem Menschen ter Vorgang sei, der erst nach 40 bzw. und Professor Vletsis – richtete Fragen auch erst die Rede sein könnte, wenn nach 90 Tagen abgeschlossen ist. Diese an die Referenten des Abends. sich wenigstens eine biologische Struk- Theorie der so genannten Sukzessiv- tur in Gestalt einen Nervensystems ge- beseelung wurde immerhin von einem bildet habe, die als Träger für Bewusst- so großen Theologen wie Thomas von partikular und exklusiv wahrgenommen Der Embryo lebt und er stammt un- sein, Interaktion, Empfinden und Selbst Aquin vertreten und hat etwa bei der werden und für die Gestaltung des posi- zweifelbar von Menschen ab; diese Her- in Frage kommt. Und auch die Tatsa- kirchenrechtlichen Einstufung der tiven Rechts in einem Staat als vernach- kunft ist exklusiv. (Speziesargument) che, dass es auch in anderen Bereichen Schwere von Abtreibung noch bis ins lässigbar erklärt werden. Vielmehr wird Eingewandt wird gegen diese Über- der Wirklichkeit vorkommt, dass es 20. Jahrhundert hinein erhebliche davon ausgegangen, dass die vertretene legung, dass damit noch keinerlei Be- innerhalb eines Kontinuums keinen Rechtsfolgen gehabt. Position vernünftiger Rechtfertigung of- weis erbracht ist, dass die Blastozyste nichtwillkürlichen Punkt gibt und dass Vor diesem theologiegeschichtlichen fen steht. Infolgedessen sind nicht nur eine Person oder wie neuerdings häufig die Extrempunkte trotzdem qualitativ Hintergrund muss man sagen, dass die die Darlegungen der Theologen, son- formuliert wird ein embryonaler deutlich unterschieden werden (z. B. heute vom kirchlichen Amt vertretene dern auch die Dokumente des kirch- Mensch ist. Auch jede andere Zelle des zwischen üppigem Haarwuchs und offizielle Position „personales Leben lichen Amtes intensiv bemüht, die von menschlichen Körpers, etwa die Ei- einer Glatze). vom ersten Augenblick an“ sich aus der ihnen favorisierten Positionen mit Ver- oder Spermienzelle vor der Befruch- Tradition der Theologie und auch der nunftargumenten zu fundieren. tung, ist menschliches Leben. C. Folgerungen kirchlichen Lehre nicht zwingend er- Im Bezug auf den Beginn des perso- b) Ein zweites Argument lautet, aus gibt. Dieser Umstand ist sogar in man- nalen Lebens sind es Hinweise auf bio- einem menschlichen Embryo könne, Was heißt dies alles im Blick auf un- chen der jüngeren amtlichen Dokumen- logische Prozesse und auf deren philo- wenn man ihm nur die entsprechende sere Frage nach dem Beginn personalen te ausdrücklich erwähnt, wenn auch sophische Deutung, die als Argumente Umgebung belässt, ein erwachsener Lebens? Zunächst einmal dies, dass nur am Rande oder in Fußnoten. für die eigene Position angeführt bzw. Mensch werden. Zwar sei der Embryo nicht nur die Naturwissenschaft mit Nach Auffassung des kirchlichen als Einwände gegen konkurrierende noch weniger entwickelt als der er- dieser Frage überfordert ist, sondern Lehramts genügt es aber nicht, religiöse Auffassungen ins Feld geführt werden. wachsene Mensch, aber im Grunde sei dass auch die Theologie auf diese Frage Überzeugungen als von der Tradition Es sind vor allem die folgenden: bereits alles angelegt und vorhanden. keine so vollständige, eindeutige und si- oder gar von Gott selbst vorgegeben zu a) Auch schon beim frühesten (Potenzialitätsargument) chere Antwort geben kann, dass jeder behaupten, mit der zwangsläufigen Fol- menschlichen Embryo handelt es sich Zweifel an den möglichen Antworten ge, dass sie in der Gesellschaft als bloß unzweifelhaft um menschliches Leben. einfach verstummen müsste.

6/2010 zur debatte 21 Gerät damit nun alles ins Rutschen hin) Einförmigkeit demonstrieren will. und wird damit nicht Tür und Tor geöff- Eine Annäherung aus der Sicht Zu der grundlegenden Frage dieses Fo- net für jedwede Verwendung mensch- rums nach dem Beginn des personalen licher Embryonen? eines Orthodoxen Theologen Lebens gelingt es ihr in der Tat, einstim- Die Antwort lautet: Nein, sicherlich mig ihre Meinung zu vertreten, ob- nicht. Denn es bleibt ja erstens die theo- Athanasios Vletsis schon, wie gesagt, nicht durch ein zen- logisch zentrale Aussage, dass Gott mit trales Organ getroffen. Der Beginn des seiner Fürsorge und Liebe schon von menschlichen Lebens wird eindeutig im Anfang an bei dem Menschen ist. Und Moment der Empfängnis gesehen. Die es bleibt zweitens das Verbot, mit Men- Prozedur der Empfängnis wird nicht schen, mit Kindern, mit Ungeborenen, näher in ihren verschiedenen Stadien mit Feten und Embryonen von Men- untersucht oder thematisiert, sondern schen so umzugehen, als seien sie Sa- Hinführung allgemein als die Verschmelzung der Ei- chen, Material oder bloßer biologischer und Samenzelle betrachtet. Die Ver- Stoff. Auch wenn frühe Embryonen Dass die Orthodoxe Kirche und Theo- schmelzung kennzeichnet ein genetisch oder gar die befruchtete Eizelle nicht logie berücksichtigt wird in diesem Fo- einmaliges Wesen, (vorerst die Zygote), bereits als Person und embryonaler rum empfinde ich als ein ermutigendes dem genetische Identität und persönli- Mensch angesehen werden, stammen Zeichen unterwegs zu unserer christ- che Eigenständigkeit beigemessen wird. sie doch von bestimmten Menschen, lichen Ökumene: Der Austausch über Da nun zwischen dem Beginn eines sind eine Gabe und nicht einfach ein und evtl. die Bildung von innerchrist- menschlichen Lebens und dem Beginn Produkt, haben ein Potenzial, das Em- lichen Kriterien zu den bioethischen des personalen Lebens keinerlei Unter- bryonen von anderen Lebewesen eben Fragen kann ein weiteres beredtes Zeug- schied gemacht wird, wird der Schutz nicht haben. Und in all diesen Hinsich- nis von Christen werden, gemeinsam des menschlichen Lebens auf den ersten ten verdienen sie deshalb Achtung, Rechenschaft von ihrer Hoffnung zu ge- Moment seiner Existenz ausgeweitet. Sorgfalt, Schutz, sogar Ehrfurcht. Und ben (hier das Motto des II. ÖKT aufgrei- Dies bedeutet, dass sowohl jegliche Art das können wir Menschen nur so zum fend: „damit ihr Hoffnung habt“). Dann von Abtreibung abgelehnt wird, als Ausdruck bringen, dass wir die Nutzung aber der Austausch in der großen Öku- auch jegliches Experimentieren mit em- beschränken. Das ist vielleicht der ei- mene der Religionen. Dies kann auch bryonalen Stammzellen, das zur Be- gentlich positive Effekt, der von der enorm helfen zu einer gemeinsamen Po- schädigung oder Tötung des Embryos strikten kirchlichen Position der katho- sitionierung von Gläubigen zum ersten führt, als unstatthaft betrachtet wird. lischen Kirche ausgeht, dass sie dieses großen Geschenk, das alle ihrem Gott Ich finde, es wäre jedoch interessant, im gesellschaftlichen Bewusstsein hält. verdanken: dem Leben, insbesondere einerseits die Begründung etwas aus- dem menschlichen, dem personalen. führlicher zu belegen, die zu dieser kla- Ich möchte meinen Ausführungen ren Positionierung von Orthodoxen Kir- Die offizielle Position der eine nicht unwichtige Erläuterung vor- chen führt, als auch vorhandenen Diffe- anstellen. Ich werde nicht nur die Sicht renzierungen zwischen den Orthodoxen katholischen Kirche ist hier meiner Griechisch-Orthodoxen Kirche Prof. Dr. Athanasios Vletsis, Professor Kirchen kurz zur Kenntnis zu nehmen ganz auf den Vorgang der Ihnen präsentieren, sondern die der ge- für Systematische Theologie an der (exemplarisch versteht sich, im Rahmen Zeugung eingeschworen. samten Orthodoxie, soweit zumindest Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe dieses Forums). eine solche panorthodoxe Sicht vorhan- Theologie der Universität München Orthodoxe Theologie pflegt ihre Ent- den ist. (Und dies nicht, weil alles Grie- scheidungen, auch diese zu Fragen der Und es bleibt gerade im Blick auf die chische in der deutschen Medien- und Sozialethik, mit dem Verweis auf ihre vielen praktischen Fragen, die zu Anfang weitgehend auch in der Öffentlichkeits- Stellungnahmen einer Kirche zu wer- alte ehrwürdige Tradition zu untermau- genannt wurden, drittens die Notwen- wahrnehmung in Deutschland in den den, ihre Approbation von den zustän- ern. Wenn zu Fragen der Bioethik kein digkeit bestehen, einen Zeitpunkt festzu- letzten Monaten im Zeichen des Zer- digen Organen der jeweiligen Kirche ausdrücklicher Beschluss einer Synode legen, ab dem dem Embryo bzw. Fötus falls und der Dekadenz begriffen ist ...). benötigen. Das ist in der Regel die Bi- (v. a. einer ökumenischen) vorliegt, ein moralischer Status zugestanden Meine Zugehörigkeit zu einer konkre- schofskonferenz einer jeden Autokepha- dann sucht man Hilfe bei den Werken oder besser: antizipierend zugeschrieben ten kirchlichen Gemeinschaft, das was len Kirche. von Kirchenvätern, die in der orthodo- werden muss. Warum? Weil die Art, wie in Deutschland als Griechisch-Orthodo- Die Russisch Orthodoxe Kiche (ROK) xen Welt weit rezipiert worden sind. Zu wir mit dem vorgeburtlichen mensch- xe Kirche registriert wird, kann nicht ist bis jetzt die einzige, die einen umfang - dieser konkreten Thematik des Beginns lichen Leben umgehen, je stärker die meine konfessionelle Zugehörigkeit als reichen Text zu fast allen Fragen der des menschlichen Lebens pflegt man Menschenähnlichkeit auch wahrgenom- Mitglied der Orthodoxen Kirche (im Sozialethik im Jahre 2000 publiziert gern eine Verbindung zwischen Christo- men werden kann, in Wechselwirkung Singular) „überblenden“. Ich denke, ich hat, abgesegnet von ihren höchsten Or- logie und Anthropologie aufzubauen: steht mit der Art, wie wir mit anderen bin sowohl in meiner Eigenschaft eines ganen (Dank der großartigen Arbeit, die Wenn Jesus Christus als Prototyp auch Angehörigen der Gattung Mensch um- akademischen Theologen (der in sei- die Konrad Adenauer Stiftung geleistet für die menschliche Existenz gilt (oder gehen. nem Fach die gesamte Orthodoxie zu hat, können wir in deutscher Sprache paulinisch gesprochen als der Neue Welcher Punkt aber kann für diese berücksichtigen hat), als auch in meiner sehr gut verfolgen, was die ROK zu Fra- Adam, das Urbild nämlich des eschato- Markierung empfohlen werden, wenn Eigenschaft des orthodoxen Gläubigen, gen der Sozialethik alles gesagt hat. Die logischen-vollendeten Menschen), dann die biologische Entwicklung von sich berechtigt, über die gemeinsame Sicht Orthodoxe Kirche Griechenlands ist kann man die Eigenschaften (und die her ein willkürfreies Kriterium nicht der Orthodoxen Kirche zu sprechen. wiederum die erste, die eine anspruchs- Schlussfolgerungen), die für die gott- hergibt? Die offizielle Position der ka- volle Bioethikkommission seit 1998 menschliche Person Jesu Christi gelten, tholischen Kirche ist hier ganz auf den 1. Die Welt der Orthodoxie und die einberufen hat; diese Kommission hat auch für die Verfassung des Menschen Vorgang der Zeugung eingeschworen. Entscheidungsfindung zu sozial- bereits zu einer Reihe von bioethischen beanspruchen (mutatis mutandis, ver- Der Umstand, dass der gezeugte Em- ethischen-bioethischen Fragen Themen konkrete Stellungnahmen pu- steht sich). Die sehr verbreitete Argu- bryo unrettbar zum Absterben verurteilt bliziert. Zu Fragen der Bioethik liegen mentation, die von einer menschlicher ist, wenn er sich nicht in die Gebärmut- Die Orthodoxe Kirche ist eine Ge- auch von anderen Orthodoxen (Auto- Existenz vom ersten Dasein an – vom ter einer Frau implantieren kann, findet meinschaft von 14 gegenseitig aner- kephalen) Kirchen Stellungnahmen vor, Anfang der Empfängnis – spricht, dabei keine Beachtung. Tatsächlich kannten Autokephalen, d. h. durch ei- die aber eher einen sehr begrenzten kommt aus dem christologischen Voka- braucht aber der Embryo, um weiter- gene Verwaltung selbstständigen Kir- Umfang haben, so z. B. von der Ortho- bular und Argumentationsarsenal: leben und sich entfalten zu können, die- chen, die ihre Einheit in der Glaubens- doxen Kirche Rumäniens. Christus hat nicht später (nach seiner sen Platz für wenigstens fünf bis sechs lehre, der gottesdienstlichen Praxis und Die Notwendigkeit zu den zeitgenös- Empfängnis) eine menschliche Seele be- Monate, den ihm biologisch ausschließ- der kirchenrechtlichen Verordnungen sischen Herausforderungen der medizi- kommen, die sogar für einige als Zen- lich eine Frau bieten kann, die dadurch auf Grund von gemeinsamen Entschei- nischen Wissenschaften Stellung zu be- trum seines personalen Lebens fungiert aber noch einmal Bezugsperson und dungen behaupten. Diese Gemeinsam- ziehen und jedenfalls verbindlich ihr hat (etwa durch die Einwohnung des soziale Mutter wird, dass sie, sobald sie keiten basieren v. a. auf den Beschlüs- Kirchenvolk zu informieren, haben die göttlichen Logos im Menschen Jesus, merkt, dass sie schwanger ist, sich dazu sen der sieben ökumenischen Konzilien Orthodoxen Kirchen doch erkannt: wie eine christologische Häresie be- entscheidet, diese Schwangerschaft (einberufen zwischen 325 und 787), so- Beim letzten großen Treffen ihrer Ober- hauptete), sondern vom ersten Moment auch anzunehmen und die Verantwor- wie auf den Übereinkünften von weite- hirten, im Oktober 2008 in Konstanti- seiner Empfängnis an war er ein voll- tung für das entstehende Kind zu über- ren gemeinsam gehaltenen Synoden, nopel/Istanbul, haben sie beschlossen, ständiger Mensch, d. h. aus Leib und nehmen. Ethisch gesehen ist dies der ei- und dies bis in die neue Zeit hinein. eine panorthodoxe Bioethik-Kommis- Seele zusammengesetztes menschliches gentlich entscheidende Punkt, entschei- Fragen der Sozialethik wurden jedoch sion einzuberufen. Diese Kommission Individuum, wie auch vollkommener dender noch als die Zeugung, die als in diesen alten ehrwürdigen Konzilien wurde bis jetzt noch nicht konstituiert; Gott (in der Sprache der alten Kirche solche ja unbemerkt bleibt und bei der nur am Rande, wenn überhaupt erörtert. insofern ist man vorerst darauf angewie- hat Christus die volle menschliche Na- die Wahrscheinlichkeit, dass die ent- Was konkret die Fragen der Bioethik sen, auf die vorhandenen Positionen tur hypostatisiert in der Person des Lo- standenen Zygoten unbemerkt abgehen, anbelangt, wurden sie bis jetzt (noch) von einzelnen Orthodoxen Kirchen zu- gos und dies vom Anfang seiner Emp- sehr hoch ist. Mir scheint, dass Kirche nicht bei einem panorthodoxen Treffen rückzugreifen, um sich überhaupt zu fängnis an). Dieses christologische Bild und Theologie aus vielen aporetischen konkret thematisiert und selbstverständ- grundlegenden bioethischen Fragen wird nun in die Anthropologie aufge- Konflikten mit einem Schlage befreit lich wurden zu diesen Fragen auch nicht Orientierung zu verschaffen. nommen und damit die Existenz des sein könnten, wenn sie die ausschließ- gemeinsame Beschlüsse gefasst. Einige Menschen als personales Individuum liche Fokussierung auf die biologische Orthodoxe Kirchen haben jedoch be- 2. Wann beginnt das Leben? vom ersten Moment seiner Empfängnis oder wenn man will ontologische Qua- reits eine Kommission beauftragt, sich Die Stellungnahmen von an bekräftigt. Es gibt also keine spätere lität des isolierten Embryos überdäch- mit Themen der Bioethik eingehend zu Orthodoxen Kirchen Beseelung des Menschen. Die Seele – ten und sie in den Kontext der Eltern- befassen. Im Rahmen dieser Kommis- als Zentrum des personalen Lebens und schaft – und das ist ein Verhältnis zwi- sionen werden nun Entscheidungen Die Orthodoxe Kirche ist dafür be- als Inbegriff des göttlichen Bildes im schen Personen – zurückholten. „ getroffen, die aber, um verbindliche kannt, dass sie (zumindest nach außen Menschen – begleitet ab dem ersten

22 zur debatte 6/2010 Moment die Entstehung des Körpers. Mensch aus dem Nichts ins Dasein ge- schaffen für die Existenz neuen perso- als vorrangig und von absoluter Priorität Jede Spaltung in dieser Einheit würde rufen wird. Das menschliche Leben nalen Lebens. Die Christen interpretie- und Dringlichkeit ausgewiesenen For- nicht nur die besondere, unwiederholba- konstituiert und manifestiert sich in Be- ren das Weitergeben von Leben als eine schungsziele dem Prozess der Entfal- re menschliche Existenz in Frage stellen, ziehungen. Der Mensch tritt als Person (als ihre) unmittelbare Beteiligung am tung menschlichen Lebens zugute kom- sondern zugleich (was genauso schwer in unmittelbare Beziehung zu seinen göttlichen Geschenk des Lebens, und men können. Nicht einfach um die Op- wiegt), das Geschenk Gottes, welches Mitmenschen, zu seiner Umwelt und zu als eine (stets neue) Vervollkommnung timierung von peripheren Bedingungen nämlich insbesondere das Leben seinem Schöpfer. Nicht bloß als ein ver- der Gemeinschaft von Personen, die ih- menschlichen Lebens soll es bei der schlechthin und das menschliche im Be- nünftiges Einzelwesen (oder eine geisti- nen Gott (in seiner trinitarischen Peri- Forschung mit (humanen) embryonalen sonderen ist, verachten und zerstören. ge Individualität) (vgl. Boethius: „perso- chorese/Durchdrin gung) als erster an- Stammzellen gehen, sondern um die Interessante Differenzierungen kann na est rationalis naturae individua sub- geboten und ermöglicht hat. Rettung (als Überführung zu einem der vorsichtige Leser doch vernehmen stantia“ = individuelle Daseinsweise ei- Es fragt sich daher, wie von der Wür- neuen Anfang) menschlichen Lebens, aus dem Studium der vorhandenen or- ner vernünftigen Natur, MPL 64, de menschlichen personalen Lebens un- dort wo alle anderen Möglichkeiten thodoxen Stellungnahmen. Ich möchte 1243C) wird die Person innerhalb der mittelbar in jenen Fällen die Rede sein versagt haben. Könnte dann die be- aus einem Vergleich zwischen der russi- kann, wo zwar neues Leben in Vitro ge- wusste und willentliche Beteiligung der schen Sozialdoktrin und den Stellung- zeugt wird, wo jedoch dieses Leben in Spender dieses „genetischen Materials“ nahmen der Orthodoxen Kirche Grie- Als ultimativer biologischer das „Wartezimmer“ einer „medizini- als ihr Beitrag zu einem heilenden Pro- chenlands zwei Beispiele kurz aufgrei- Anfang (menschlichen) Le- schen Sublade“ (z. B. für eine spätere zess interpretiert werden, der eigentlich fen. Die Abtreibung wird in der Sprache Implantation) geschoben wird. Wenn nicht entfremdet wird von Grundfunk- der russischen Sozialdoktrin als Mord bens gilt die Aufnahme/das von menschlichem Leben erst richtig als tionen des Lebens der Natur selbst? dargestellt, was keinerlei Ausnahmen Eindringen der Spermatozoe Leben in personalen Beziehungen die Prinzipiell kann man die Erkennt- rechtfertigt, es sei denn, das Leben der Rede sein kann, wäre es dann nicht nisse, die der Mensch in seinem Durst Frau steht unmittelbar in Gefahr, so in die Eizelle. konsequenter, erst ab dem Moment der nach Wissen und Leben gewinnen will, dass die Kirche dann durch die pastora- Einnistung (Nidation) der befruchteten als einen positiven Schritt nicht nur zur le Fürsorge und Begleitung eines geist- orthodoxen Theologie interpretiert, son- Eizelle im mütterlichen Leib vom Befriedigung menschlicher Neugier be- lichen Vaters aus Milde zustimmen dern als „eine auf etwas anderes bezo- menschlichen-personalen Leben zu trachten, sondern auch (als einen positi- kann. Die Stellungnahme der Orthodo- gene Realität“ (C. Yannaras, Person u. sprechen? Dadurch könnte (u. a.) auch ven Schritt) zu einer kreativen Gestal- xen Kirche Griechenlands dehnt diese Eros, 1982): Die menschliche Person die Rede von Empfängnis ihre Bedeu- tung seiner Stellung im Kosmos – oder Möglichkeit einer nach dem Prinzip der wird konstitutiv auf die Beziehung zum tung buchstäblich entfalten: Empfäng- (zumindest) zur Milderung von negati- Milde/Oikonomia erfolgten Beurteilung Anderen hin „aufgebaut“, damit sie sich nis von neuem Leben entsteht dort, wo ven Wirkungen einer ihm oft fremd er- von Abtreibung auch auf Fälle aus, wo ihrer selbst bewusst werden kann. Nicht das Leben „in Empfang“ genommen scheinenden Umwelt. Als ultimative eine Pränatal- oder Präimplantations - einfach eine bestimmte „Ousia“ (We- wird, als Möglichkeit und Öffnung zu Grenze sollte jedoch gelten: eine un- diagnostik die Abtreibung als medizi- senheit) an sich (das Sein als eine Sum- einer neuen personalen Beziehung. widerrufbare Änderung der Konditio- nisch erforderlich darstellt. Ebenso kann me von notwendig existierenden Ele- Das ikonografische Bild für die Emp- nen, insbesondere von humanem Leben eine klare Akzentverschiebung (zwi- menten) macht den Menschen aus, son- fängnis der Mutter Gottes (sonst eine (z. B. durch die Klonierung mensch- schen den zwei Dokumenten der Rus- dern das Antlitz (das Angesicht) des große Ausnahme, die Empfängnis als lichen Lebens, oder durch seine geneti- sisch- und der Griechisch-Orthodoxen Anderen, auf den hin unsere Person Feier im Kirchenjahreszyklus zu thema- sche Vermischung mit nicht menschli- Kirche) im Fall der extrakorporalen Be- (prosopon > pros + opsin) ausgerichtet tisieren; es wird sonst noch die Emp- chem Leben, was die Gattungsgrenze fruchtung registriert werden. Die wird ist. Nach einer die Mehrheit orthodoxer fängnis von Johannes dem Täufer ge- und nicht nur die biologische Integrität in der Sozialdoktrin gänzlich abgelehnt, Anthropologie prägenden Darstellung – feiert und selbstverständlich die Verkün- unserer Spezies gefährden kann), sowie wobei das entsprechende griechische die hier der Trinitätslehre folgt – ist die digung Marias) zeigt die Eltern Marias, darüber hinaus die unwiderrufbare Zer- Dokument die homologe extrakorpora- Natur Inhalt des personalen Lebens Joachim und Anna, in einer warmherzi- störung von Lebens- und Umwelt-Quel- le Befruchtung ohne großes Bedenken und nicht umgekehrt: Natur wird nicht gen Umarmung. In dieser Umarmung len. Können der Wille und die Freiheit akzeptiert und selbst auch die heterolo- als Abstraktion oder ontologisches Dik- der Liebe der Eheleute, die nicht nur ein des Individuums höher stehen als die ge, wenn auch mit Zurückhaltung, nicht tat erfasst, sie wird v. a. in interpersona- Sinnbild ihrer körperlichen Vereinigung Qualität des Lebens? Der Mensch kann gänzlich ablehnt. Die Tatsache der da- len Beziehungen unmittelbar konstitu- darstellt, sondern auch ihrer gemeinsa- nicht allein in diesem Kosmos überle- bei (nämlich bei der Prozedur einer iert und erfahrbar. Zu welchen konkre- men Verantwortung, das Leben in Emp- ben. Bioethik soll weiterhin mit Um- extrakorporalen Befruchtung) entste- ten Schlussfolgerungen kann eine solche fang zu nehmen, kann erst recht der Be- weltethik, Tierethik, Sozialethik, etc. henden überflüssigen Embryonen führt Darstellung führen, welche Gefahren ginn einer neuen menschlichen Existenz korrespondieren und in einem harmo- also nicht unmittelbar und automatisch birgt sie für eine christliche Bio ethik? erblickt werden, in der die personalen nischen Verhältnis stehen. zu einer Ablehnung dieser Prozedur, Als ultimativer biologischer Anfang Züge klar zu erkennen sind. Bedeutet Insbesondere die Fragen nach dem obschon jegliches Experimentieren mit (menschlichen) Lebens gilt die Aufnah- dies aber, dass die befruchtete Eizelle als Beginn des menschlichen Lebens, aber diesen Embryonen abgelehnt wird und me/das Eindringen der Spermatozoe in frei verfügbares „genetisches Material“ auch nach den Grenzen seiner Belast- ausdrücklich empfohlen wird, so viele die Eizelle. Die Verschmelzung der betrachtet werden kann? barkeit (z. B. durch Krankheit, im Fall Eizelle zu befruchten, wie auch implan- männlichen und weiblichen Vorkerne – von PND-PID), die oft zu Irritationen tiert werden sollen. Man kann – pau- die Befruchtung – ist jedoch ein dynami- 4. Verantwortung für das Leben und Verunsicherung führen, können schal gesprochen – insbesondere für die scher Prozess (was z. B. in der alten bedeutet weder Mechanisierung nicht allein auf der Ebene des medizi- Stellungnahme der Bioethikkommission kirchlichen und gesellschaftlichen Wahr- noch Instrumentalisierung von nisch-technisch Machbaren gelöst wer- der Kirche Griechenlands, eine klare nehmung nicht bekannt war). Dies be- menschlichem Erbgut den. Die Berücksichtigung einer Reihe Zurückhaltung wahrnehmen, jede Ein- deutet zwar, dass das beginnende neue von soziokulturellen, makroökonomi- zelheit im Geist einer juridischen Rege- Leben – der Embryo – ab dem „ersten Wenn diese These (nämlich von der schen und machtpolitischen Faktoren lung vorschreiben zu wollen. Die Rolle Moment“ der Befruchtung („Empfäng- Entstehung personalen Lebens mit der kann erst zu einer ausgewogenen Ent- der Kirche wird vielmehr in der pastora- nis“) unter Schutz zu stellen und seine Einnistung) als Definition vom mensch- scheidungsfindung beitragen, die auch len Betreuung von Menschen gesehen, Entwicklung zum vollen Menschen zu lichen Leben sich konsensfähig erweist, von der Gesellschaft mitgetragen wer- die nach Heilung und Ganzheit suchen. gewähren ist. Das Leben entsteht jedoch dann öffnet sich der Weg, die Forschung den sollte. Dabei kann aus der Sicht ei- nicht durch eine ideale Mischung „gene- mit (menschlichen) embryonalen ner christlich (-orthodoxen) Ethik nicht 3. Erwägungen zum Beginn des tischen Materials“ in einem leeren Raum, Stamm zellen in einem neuen Licht zu einfach die Beachtung der Würde und personalen Lebens aus der Sicht quasi als ein mechanisches Geschehen betrachten. Es sollte dann nicht einfach des Wertes des Lebens abstrakt – im der orthodoxen Anthropologie von Prozessen der (menschlichen) Na- und unmittelbar von Vernichtung Sinne eines individuellen Gutes – als tur. Menschliches Leben wird gezeugt in menschlichen-embryonalen Lebens ge- einziges Kriterium aufgestellt werden; Es stellt sich nach dieser kurzen Hin- der Liebe zwischen Mann und Frau, die sprochen werden. Selbstverständlich zugleich sollte nach der Verantwortung führung die Frage, welcher Spielraum ei- in ihrer personalen Beziehung Raum muss vorerst garantiert werden, dass die (und nach der Realisierung) eines per- nem orthodoxen Theologen bleibt, eine sonalen Lebens in kreativen und das differenziertere Stellungnahme zu den Leben bejahenden Beziehungen hinter- eben dargestellten Positionen zu vertre- fragt werden. Dieses – zweite – Krite- ten. Ohne hier auf die Frage nach der rium kann evtl. zu einer Befreiung von Entscheidungsfindung in der Orthodo- einer abstrakten („ontologischen“ oder xen Kirche einzugehen (was den Rah- „ontogenetischen“) Erfassung von Le- men dieses Beitrages sprengen würde), ben führen, ohne jedoch Tür und Tor je- will ich versuchen, durch die Anwen- ner Freizügigkeit zu öffnen, die das Le- dung von grundlegenden Prinzipien or- ben unwiderruflich negiert oder nach thodoxer Anthropologie die Frage nach egoistischen Kriterien ganz neu defi- dem Beginn des personalen Lebens niert und regelt. doch weiter zu verfolgen. Es versteht Die Orthodoxe Tradition erblickt so- sich, dass die folgenden Ausführungen wieso die Welt der Person in einer dyna- meine ganz persönliche Interpretation mischen Perspektive: Das Geschenk der sind. Sie werden zwar von vorhandenen Gottebenbildlichkeit des Menschen Stellungnahmen meiner Kirche nicht (Kat´eikona) soll noch aktiviert und ent- gedeckt, aber sie erscheinen mir nicht faltet werden unterwegs auf einem lan- unkompatibel zu grundlegenden Prinzi- gen Weg der Angleichung (Ähnlich-Wer- pien orthodoxer Anthropologie. den, Omoiosis, vgl. Gen 1,26) mit Gott. Nach dem christlichen Verständnis Gedankenaustausch der Moraltheolo- Erst in der Fülle eines vollen(de ten) We- ist das Leben ein Geschenk der unend- gen: Professor Hilpert (li.) und Professor ges zeigt sich der Mensch als der, wozu lichen Liebe Gottes, das dankbar emp- Johannes Gründel, der viele Jahre das er berufen ist: Gott der Gnade nach zu fangen oder aber auch abgelehnt und Fach an der Katholisch Theologischen werden. „ negiert werden kann, weil eben der Fakultät in München vertrat.

6/2010 zur debatte 23 II. Die Urteile, die wir auf dem Feld ent- Eine protestantische Perspektive wicklungsbiologischer und molekular- Die Frage nach der Begründung für genetischer Kenntnisse sowie kultur- Klaus Tanner und der Reichweite von Achtung und spezifischer Interpretationen fällen kön- Verpflichtung ist nicht identisch mit der nen, sind Mischurteile. Der Mensch exis- Frage „Wann beginnt menschliches Le- tiert nur leibgebunden. Insofern gehö- ben?“. In naturwissenschaftlicher Pers - ren die biologischen Grundlagen not- pektive betrachtet ereignen sich am Be- wendig mit zu seiner Existenz. Sie sind ginn eines neuen Lebens immer wieder aber keineswegs hinreichend zu seiner die gleichen biochemischen Vorgänge. angemessenen Erfassung. Wie die Fak- Wenn wir vom Beginn einer individuel- toren im einzelnen zu gewichten und len Lebensgeschichte sprechen, be- ins Verhältnis zu setzen sind, ist um- I. zeichnen wir etwas Neues, das sich mit stritten. Beobachten lässt sich immer der biologischen Beschreibungssprache wieder die Tendenz, den sicheren Bo- Vor 10 Jahren veranstaltete die „Na- nicht zureichend erfassen lässt. Die Da- den für die Urteilsbildung in naturwis- tional Bioethics Advisory Commission“ tierung des Beginns eines neuen indivi- senschaftlich erhebbarem und deshalb des damaligen am erikanischen Präsi- duellen Lebens entzieht sich dem direk- „objektiven“ Fakten zu suchen. Jede denten Bill Clinton eine Anhörung zur ten Zugriff naturwissenschaftlicher Ver- solche Heranziehung und Ordnung von Stammzellforschung. Die Veranstaltung objektivierung. Karl Ernst von Baer, ei- biologischen Erkenntnissen verdankt diente dazu, einen Überblick zu gewin- ner der Mitbegründer der modernen sich jedoch einem interpretierenden nen über die „Religious Perspectives“ Embryologie, bemerkte 1822 in einer und wertenden Zugriff. auf das Thema. Aus den beiden großen „Vorlesung über die Zeugung“: „Unter Die Probleme, die sich bei der De- Konfessionen Katholizismus und allen Erscheinungen des Lebens ... hat finition von Schutzansprüchen stellen, Protes tantismus waren je zwei Reprä- man von jeher die Entwicklung eines wurden schon im sog. Warnock Report sentanten eingeladen worden. Margaret neuen lebenden Individuums geheim- von 1984 klar formuliert. Antworten A. Farley (Yale) und Ronald Cole-Tur- nisvoll und wunderbar gefunden ... Vor auf die Frage, wann Leben und Person- ner (Pittsburgh) argumentierten für die allen Dingen suchen wir einen recht be- sein beginnen, seien „complex amal- ethische Legitimität einer Forschung, in stimmten Anfang, eine scharfe Grenze gams of factual and moral judgements“ der menschliche Embryonen/Zygoten zwischen Sein und Nichtsein. Eine sol- (11.9). In einem Beitrag für Science zerstört werden, während Edmund D. che zeigt uns die Natur aber nirgends. vom November 2007 hat Mary War- Pellegrino (Georgetown) sowie und Gil- In jedem Augenblicke hat sie etwas nock im Rückblick auf die von ihr gelei- bert C. Meilaender (Valparasio) sich ge- Neues, immer aber zeigt sich das Neue, tete Kommissionsarbeit nochmals fest- gen solch eine Forschung aussprachen. bei näherer Betrachtung als bloße Um- gestellt: „One of the most difficult tasks Auf dieser Veranstaltung wurde deut- wandlung eines Früheren, nirgends lässt the committee faced, was to get parlia- lich, was sich bis heute beobachten die Natur uns in ihrer Werkstatt eine ment to understand that the status of lässt: In den großen christlichen Glau- Reihe von Arbeiten sehen, die sie ganz the embryo in vitro was a matter not of bensgemeinschaften gibt es keine ein- Prof. Dr. Klaus Tanner, Professor für von vorn anfängt. Man hat daher science but of moral decision. The no- heitliche Position zu der Frage, welche Systematische Theologie und Ethik an Scharf sinn und Phantasie bis zum Über- velty of the embryo in vitro meant that Verpflichtungen wir gegenüber den der Universität Heidelberg maß angestrengt, um diesen Moment there could be no appeal to precedent frühesten Formen menschlichen Lebens aufzuspuren“. or exist ing moral convention or reli- haben und wie diese geschutzt werden Entwicklung, Umwandlung, Neues gious laws“. sollen. sind die Stichworte, die die entscheiden- Wenn in den hitzigen politischen der Frage „Playing God?“ beschäftigt de Rolle der zeitlichen Dimension indi- III. Debatten der letzten Jahre in Deutsch- hatte, sondern auch dezidiert für eine zieren. In der Zeit verändern sich Kon- land der Eindruck erzeugt wurde, in Ermöglichung der Forschung mit hu- stellationen, bilden sich neue Einheiten Wir diskutieren so heftig um Datie- den Kontroversen um Schutzkonzepte manen embryonalen Stammzellen vo- oder lösen sich Einheiten auf, verändern rungen von Lebensbeginn und Ein- für das vorgeburtliche menschliche Le- tierte. sich Relationen zwischen Entitäten, schnitte in der Embryonalentwicklung, ben stehe eine klare katholische Posi- In Deutschland konnte seit der öku- vollzieht sich substantieller Wandel. Be- weil wir ein Schutzinteresse haben. tion gegen protestantische Uneindeutig- menischen Stellungnahme von 1989 wegung, Differenzierung, Auflösung und Solch ein Schutzinteresse ist keine na- keiten, dann ist das eine Verzeichnung „Gott ist ein Freund des Lebens“ der neue Einheitsbildung ereignen sich per- turale, sondern eine kulturelle Gege- des Spektrums an Überzeugungen in Eindruck entstehen, es gebe eine unge- manent im Entwicklungsprozess auf benheit. Die Verpflichtungskraft von den jeweiligen Konfessionen. Sowenig brochene Einmütigkeit in der Frage des zellbiologischer Ebene und ein wichtiger Regeln für den Lebensschutz ist nicht sich die Übereinstimmungen und Dis- Beginns eines umfassenden Lebens- Teil der Forschung zielt auf die präzisere selbstevident, sondern das Ergebnis kul- sense unter uns entlang politischer La- schutzes. Die Koppelung von Kernver- Erfassung der Faktoren, die Wachstums-, tureller Deutungs- und Zuschreibungs- ger ordnen lassen, sowenig lassen sie schmelzungsthese und absolutem Le- Entwicklungs- und Differenzierungspro- prozesse. sich auch entlang konfessioneller bensschutz wurde für etwas mehr als ei- zesse „steuern“. Diese faszinierende Mi- Im Gefälle des Interesses an wirksa- Bruchlinien zuordnen. Der von Konrad nem Jahrzehnt zu einem neuen ökume- schung aus permanentem Wandel und men Konzepten des Lebensschutzes, Hilpert herausgegebene Band „For- nischen Dogma der Kirchenleitungen in Stabilität hat Hans Jonas in folgendes seiner Reichweite und seiner Grenzen schung contra Lebensschutz?“ (2009) Deutschland. Die Begründungslast wird Bild gefasst: „Die Identität eines leben- haben dann auch die theologischen und hat erneut deutlich gemacht, wie diffe- in diesem Text auf die „embryologische den Wesens reitet auf dem Wellenkamm philosophischen Debatten um das Ver- renziert das Meinungsspektrum im Ka- Forschung“ geschoben: Diese For- eines ständigen Austausches“. In Rela- ständnis des Personseins Eingang in die tholizismus ist, welcher enorme Wandel schung habe „zu dem eindeutigen Er- tion zu dem kontinuierlichen Prozess neueren bioethischen Diskussionen ge- in der katholischen Lehrbildung zur gebnis geführt, dass von der Verschmel- der biologischen Entwicklung gibt es funden, als eine Möglichkeit, über die Animation sich de facto in der Neuzeit zung von Ei und Samenzelle an ein Le- Phasen und Einschnitte (z. B. Gastrula- Einführung des Kriteriums „Persona- vollzogen hat und welche Fragen auch bewesen vorliegt, das, wenn es sich ent- tion, Nidation, Geburt) die, wenn sie in lität“ zu einer plausiblen Urteilsbildung durch Lehrschreiben bewusst in einer wi ckelt, gar nichts anderes werden die Prozesse der Güter abwägung in über die Schutzwürdigkeit zu kommen. gewissen Offenheit gehalten worden kann als ein Mensch“4. Konfliktlagen einbezogen werden, eine Der Personbegriff scheint auf den sind. Erinnert sei nur an die immer De facto zeigten sich schon in der Abstufung von Schutzansprüchen er- ers ten Blick einen kommunikativen wieder zitierte Fußnote 19 in der Erklä- Bewertung der Verwendung von Ver- möglichen. Vorteil zu haben. Er ist sowohl in theo- rung der Glaubenskongregation zum hütungsmitteln und in der Diskussion Diese Dimension der Entwicklungs- logischen wie in philosophischen Refle- Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr um Schwangerschaftsabbrüche unter- dynamik wird mit Statusdefinitionen, xionstraditionen verwurzelt. Darüber 1974. schiedliche Profile. 2002 im Vorfeld der die statisch sind, nicht angemessen hinaus lassen sich Prozesse der Identi- Im Zug der emotionalen Verdichtung Entstehung des Stammzellgesetzes plä- wahrgenommen. Dieses Abblenden, das tätsbildung im Gefolge G. H. Meads als von Debatten, in denen es um die dierten evangelische Ethiker für eine schon auf der Ebene der Zelle verzeich- Sozialisationsprozesse auch sozialwis- Schaffung von Strafgesetzen ging, wur- Ermöglichung dieser Forschung. Damit net, verfälscht die Wahrnehmung noch senschaftlich beschreiben. Es ist nicht de die Wahrnehmung im deutschen war auch öffentlichkeitswirksam deut- mehr, wenn es um das bewusste Leben nötig, zum Verständnis des Personbe- Protestantismus selbst und die Außen- lich geworden, dass die kirchenamt- geht. Gerade die Ethik als reflexive The- griffs direkt auf biblische Texte zurück - wahrnehmung stark vereinseitigt auf lichen ablehnenden Stellungnahmen matisierung menschlichen Handelns hat zugreifen, wie das beim Begriff der Stellungnahmen aus Deutschland. Von nicht das ganze Feld protestantischer es immer mit einem Wissen zu tun, das „Gottebenbildlichkeit“ der Fall ist. den intensiven Debatten unter Protes- Urteilsbildung repräsentieren. In der orts- und zeitgebunden ist. Mit der Verwendung des Personbe- tanten um den Lebensschutz in Frank- Argumentationshilfe „Im Geist der Lie- Diese Gewichtung der Wahrneh- griffs vergrößert sich allerdings die Kluft reich, in den nordischen Ländern, in be mit dem Leben umgehen“, die im mungs perspektiven und Beschreibungs- zu naturwissenschaftlichen Deskrip- England, Schottland und den USA wur- Auftrag der EKD in der Kammer für sprachen wurde in der bereits genann- tions- und Aussageformen. „Person“ ist de hierzulande kaum etwas wahrge- öffentliche Verantwortung erarbeitet ten Argumentationshilfe „Im Geist der nichts, was mit Mitteln biologischer nommen. Es hätte die Sehnsucht nach und 2002 veröffentlicht wurde, wurden Liebe mit dem Leben umgehen“ klar Forschung direkt erfassbar ist. Defini- Eindeutigkeit mancher Protagonisten die unterschiedlichen Urteile im Protes - benannt: „Personalität ist nicht das Re- tionen von Personsein sind immer das auch zu sehr gestört, denn die Koppe- tantismus dargestellt. Die Kammermit- sultat komplexer sich ausdifferenzieren- Ergebnis kultureller Interpretations- lung der sog „Kernverschmelzungsthe- glieder wählten diese Darstellung „um der Entwicklungsprozesse von Zellen, und Zuschreibungsprozesse, die ihrer- se“ mit dem Beginn einer absoluten die bestehenden Dissense nicht zu ver- sondern eine Qualität von Menschen, seits Ausdruck menschlicher Freiheit Schutzwürdigkeit bildet keineswegs die schleiern, sondern durchsichtig zu ma- die sich nur in Beziehung und Begeg- sind. Mehrheitsmeinung in den verschiede- chen und um damit einen Beitrag zu ei- nung erschließen kann und die ihrer- Auf den zweiten Blick, bei genauerer nen Protestantismen. Exemplarisch ver- ner möglichst offenen argumentativen seits die Voraussetzung jeder perspekti- Analyse, zeigt sich allerdings dann auch wiesen sei nur auf die Arbeiten des Auseinandersetzung innerhalb der vischen Betrachtungsweise des Men- die christliche und theologische Tiefen- amerikanischen lutherischen Theologen Evangelischen Kirchen zu leisten“. schen, also auch der biologischen und schicht des Personbegriffs. Sie führt ei- Ted Peters, der sich nicht nur früh mit naturwissenschaftlichen ist“. nerseits zurück in die christologischen

24 zur debatte 6/2010 Streitigkeiten der frühen Kirche, in der intensiv um eine präzisere Erfassung des Verhältnisses von Substanz und Re- lation gerungen wurde. Sie führt ande- rerseits auf das Thema der Hochschät- zung unverwechselbarer Individualität, wie sie im christlichen Liebesgedanken intendiert ist. W. Pannenberg hat den Sinn dieser christlichen Tiefendimen- sion des Personbegriffs so zusammenge- fasst: „Das Wort Person bezieht sich auf das ganze Leben eines Individuums. (Es) ... bezieht sich auf das die Gegen- wart des Ich übersteigende Geheimnis der auf dem Wege zu ihrer besonderen Bestimmung noch unabgeschlossenen Totalität seiner einmaligen Lebensge- schichte“. Der Personbegriff hat in der neueren Die Referenten diskutierten unter der über Gemeinsames und Trennendes bei Diskussion seinen Ort zunächst im Be- Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Vossen- der Frage nach dem Beginn personalen mühen um die Präzisierung der Verant- kuhl, Professor für Philosophie an der Lebens. wortung, die Menschen für sich und für Universität München (3. von rechts), andere übernehmen können und sollen. Ablesen lässt sich dies exemplarisch an der Stellung, die der Begriff „Person“ im ethischen und biopolitischen Debatten Im Hinblick auf die Handlungs - „aufheben“, wenn denn nur „richtig“ Werk Kants hat. Er hat eine tragende immer wieder durchklingt. Kant wusste, dimension menschlicher Lebensführung gedacht wurde. Funktion im Kontext der praktischen es bedarf der Bestärkung und des „Mu- waren die Theologen vorrangig interes- Weichen werden gestellt über Vermu- Philosophie und der Rechtslehre: „Per- tes“, sich von dieser „Zumutung“, der siert an der aus Freiheit möglichen Ver- tungen im Hinblick auf die kulturellen son ist dasjenige Subjekt, dessen Hand- regulativen Idee der Freiheit leiten zu pflichtung. Die christlichen Theologien Folgen, die biotechnologische Entwick- lungen einer Zurechnung fähig sind ... lassen17. sind vorrangig ausgerichtet auf die Stär- lungen freisetzen können (Dammbruch- Die moralische Persönlichkeit ist also kung von Bindung und Begrenzung argumente, Instrumentalisierungs- und nichts anderes, als die Freiheit eines IV. menschlicher Autonomie. In diesem Verdinglichungsvorwurf). vernünftigen Wesens unter moralischen Zusammenhang wird dann unter der Weichen werden schließlich wohl Gesetzen ..., woraus dann folgt, dass Die protestantische Theologie der Hand schnell aus der regulativen Idee entscheidend gestellt über unterschiedli- eine Person keinen anderen Gesetzen Neuzeit in Deutschland entwickelt sich menschlicher Freiheit und Würde eine che Freiheitsverständnisse, bzw. Vor- als denen, die sie selbst sich gibt, unter- in positiver Anknüpfung und kritischer konstitutiver Gebrauch gemacht. Die stellungen über die Lebens- und Rechts- worfen ist“. Auseinandersetzung mit Kants Ver- theologischen Texte sind voll von sol- formen, die ein Leben in Freiheit er- In dieser Formulierung klingt das ständnis von Autonomie und Freiheit. chen direkten Identifikationen. möglichen. zentrale Thema an, das den Unter- Zu einem zentralen Anliegen wird es im Die Differenzen unter uns werden grund der Thematik „Person“ bilden: Selbstverhältnis freier Wesen die Di- V. sich nicht einfach „aufheben“ lassen. Freiheit, die konkret wird in der Auto- mension auszuweisen, die auf Transzen- Es wäre kein geringer Beitrag von Kir- nomie, Freiheit als ein Vermögen, sich denz verweist. Welche Faktoren beeinflussen die chenvertretern und Theologen, wenn aus eigener Einsicht zu verpflichten, Im Umgang mit dem Phänomen lässt Unterschiede in der Urteilsbildung, sie in der Art und Weise des Einbrin- Freiheit als das Vermögen, den eigenen sich allerdings eine Unschärfe beobach- wenn wie eingangs festgestellt, diese gens ihre Beiträge in die öffentlichen Horizont zu übersteigen und den ande- ten. Einerseits wurde die Unterschei- nicht entlang konfessioneller Unter- Auseinandersetzungen das deutlich ma- ren Menschen in der eigenen Urteilsbil- dung versucht festzuhalten, die Kant in scheidungslinien verlaufen. Wo sind chen wurden, was Karl Wilhelm Merks dung eine zentrale Rolle einzuräumen. Form seiner transzendentalphilosophi- wichtige Weichenstellungen, an denen im Anschluss an Karl Rahner jüngst Die Begriffe „Pflicht“ wie „Zurechnung“ schen Reflexion ausgearbeitet hat: Frei- sich entscheidet, welche Richtung die nochmals forderte „etwas mehr Be- zeigen an, dass es dabei nicht um ein in- heit ist nichts, was sich direkt an der Urteilsbildung nimmt? scheidenheit bezuglich der eigenen dividualis-tisch eng geführtes Verständ- Empirie ausweisen lässt. Freiheit und Sie werden nicht gestellt über die Denkmodi“. „ nis von Freiheit geht, sondern um die Personsein lassen sich nicht an einfach biblischen Texte und die Lehrtradition Konstitution und Legitimation von Re- mehr oder weniger vorhandenen Eigen- der Kirchen. Den biblischen Text sind geln und Formen des gemeinsamen schaften festmachen. Die christliche nur spärliche Bemerkungen zu entneh- Lebens. Rede von der „Beziehung Gottes zum men über das vorgeburtliche Leben und Nach Kant sind der Grund der Frei- Menschen“ ist Ausdruck dieser nicht- dessen Schutzwürdigkeit. Die Differen- heit wie der Beginn des Personseins im gegenständlichen, das Vorhandene zen brauchen sich nicht auf über unter- Rahmen unseres an Raum und Zeit ge- transzendierenden Dimension. Ande- schiedliche Exegesen. Die Lehrtraditio- bundenen Vorstellungsvermögens nicht rerseits wurde und wird unter dem nen der Kirchen eröffnen einen breite- „theoretisch begreiflich“ zu machen. Es Handlungsdruck erzeugenden Biotech- ren Argumentationsraum als den, der sei uns „unmöglich ... sich von der Er- nologien diese transzendentalphiloso- alle Argumente finalisiert auf die Kern- zeugung eines mit Freiheit begabten We- phische Denkform unterlaufen und ver- verschmelzungsthese. sens durch eine physische Operation ei- sucht, in Raum und Zeit genau datier- Weichen werden gestellt bei dem nen Begriff zu machen“, so wenig wie es bare und lokalisierbare Punkte auszu- Problem, wie biologische Indikatoren möglich sei, sich einen Begriff zu ma- weisen, an denen Personsein beginnen und kulturelle Zuschreibungsprozesse chen, „dass Gott freie Wesen schaffe“. soll. Die naturwissenschaftlich beob- aufeinander zu beziehen sind. Dabei Wenn diese kantische Einsicht richtig achtbaren und interpretierten Vorgänge spielen Theorietraditionen in den Theo- ist, dann lassen sich im Hinblick auf werden direkt mit eine normativen logien eine Rolle. Die lange Tradition Mittwochs von 16 Uhr bis 16.30 Uhr den Beginn des Personseins keine ge- Qualität ausgestattet. der Naturrechtslehren ermöglicht es, Wiederholung samstags nauen Zeitpunkte benennen. Die Rede In den Focus der theologischen In- naturwissenschaftliches Wissen direkter von 12.15 Uhr bis 12.45 Uhr vom „Geheimnis“ hat hier ihren legiti- terpretationsbemühungen rückt zu- in die theologische Argumentation zu men und begrundbaren Sinn. nächst nicht das Interesse an Datierung importieren, als das in protestantisch Themen der Katholischen Akademie In dem spezifisch menschlichen des Beginns. Die theologische Aufmerk- schriftorientierten und auf die revela- Bayern Selbstverhältnis, das durch Freiheit und samkeit konzentriert sich auf das „Ge- tion specialis ausgerichteten Argumen- Selbstbewusstsein gekennzeichnet ist gebensein von Freiheit“, die in der Rede tationsmustern der Fall ist. Das schlägt 3. November 2010 und erfahrbar wird im Herausgefordert- von der Gottesbeziehung, dem Glauben sich in der Kernverschmelzungsthese ZuMutung Glaube sein zum Handeln, zur eigenen Stellung- ihre Darstellung findet. Das Handeln nieder. Wir glauben an den Schöpfer des nahme und Lebensführung, unterschei- des Menschen, seine „Werke“ werden Weichen werden gestellt über die Himmels und der Erde det sich der Mensch nach Kant von al- dabei nicht als Freiheit und Person kon- hermeneutischen Voreinstellungen len anderen Lebewesen, und er ist zu- stituierend, sondern aus diesen folgend in der Frage, wie Prinzipienwissen und 10. November 2010 gleich mit allen andern Menschen ver- gedacht „opus non facit personam“. Auslegung im Einzelfall aufeinander Die Stellung der Frau in den Religionen bunden. Diese Freiheit als Autonomie Freiheit wird zuerst thematisch als Frei- zu beziehen sind und welche Bedeu- ist der Grund für die Zuschreibung von heit von sich selbst, die immer auch tung dabei den Kontexten und circums- 17. November 2010 „Würde“, die „allen anderen vernünf- eine Freiheit von der Angst und Sorge tantiae zugemessen wird. Ein platoni- Auferstehung und Ewiges Leben – tigen Weltwesen Achtung abnötigt“. um sich selbst ist, einer Freiheit die sich sierenden Vernunftideal, wie Karl-Wil- Was sagt die Vernunft Diese Freiheit ist zugleich, weil sie der Mensch selbst nicht geben kann, helm Merks jüngst anmerkte, wird für keine Naturgegebenheit ist, immer be- sondern nur in einer Anerkennungsrela- die Anerkennung der Begrenztheit 24. November 2010 droht. Zu Selbsterfahrung gehört das tion möglich wird. Das was als „Recht- und Brüchigkeit unserer Erkenntnis we- Die Offenbarung des Johannes. Wissen um die Bedrohtheit und Verletz- fertigungslehre“ summarisch umschrie- niger offen sein, wie eine theologische Rätseltext und Trostbuch lichkeit unseres Lebens. Die Kehrseite ben wird, umkreist dieses Problem des Tradition, die mit Hilfe der Sünden- der Freiheit ist die Angst und der Zwei- Gebenseins von Freiheit, ihres passiven lehre der konstitutiven Endlichkeit und 1. Dezember 2010 fel daran, ob wir in der Lage sind, dieser Konstituiertseins. E. Jungel spricht zu- Gebrochenheit menschlicher Erkenntnis Klimawandel und Gerechtigkeit Würde zu entsprechen. Eine moderne sammenfassend in Anknüpfung an Lu- einen höheren Stellenwert gibt. Solch Gestalt solcher Angst ist die Angst vor thers Aussage „Fides facit personam“ ein Vernunftideal kann die Überzeu- 8. Dezember 2010 der Instrumentalisierung und Verzwe - von einer „personkonstituierenden Be- gung bestärken, faktische Differenzen Mit Demenz leben ckung des Menschen, die in vielen bio- deutung“ des Glaubens18. und Brüche ließen sich immer

6/2010 zur debatte 25 20. Jh. dazu, ihre Kriterien fur die thera- Die Tora ordnet an, Kranke zu behan- Die jüdische Sicht peutische Abtreibung neu zu bewerten. deln und zu heilen und eine Krankheit Dies war der Fall der Tay-Sachs-Krank- so weit wie möglich zu besiegen. Da- Tom Kucˇera heit, auf die die frühere Kategorie des durch werden wir zu den Partnern des großen Bedürfnisses (zorech gadol) an- Schöpfers beim Aufrechterhalten des gewandt wurde. Darüber hinaus wurde Geschaffenen. Die traditionelle jüdische für diesen Fall eine neue Abtreibungs- Perspektive betont deswegen, dass das grenze von sieben Monaten erlaubt Potenzial, das menschliche Leben zu (Waldenberg), die jedoch nicht von allen retten und zu heilen, ein integraler Teil akzeptiert wurde (Feinstein). Damit der Hochschätzung des menschlichen wird auch angedeutet, dass die gesetz- Lebens ist. Wir erkennen an, dass dieje- lichen Implikationen im Judentum we- nigen, die gegen die Stammzellfor- I. sentlich vom Einfluss der konkreten schung und ihre Legalisierung sind, dies rabbinischen Autorität abhängen. aufgrund ihrer aufrichtig vertretenen Das Leben, auf Hebräisch Chajim, ist Vom rabbinischen Standpunkt her moralischen Überzeugungen tun. Daher ein im Judentum so grundlegendes Kon- muss jeder Fall mit Vorsicht behandelt unterstützt auch die Union der orthodo- zept, dass man sich sogar beim Ansto- werden, weil jede Entscheidung einen xen jüdischen Gemeinden in Amerika ßen le-Chajim wünscht, zum Leben. Es gesellschaftlichen Einfluss hat. Die diese Legalisierung wegen der aufrichtig ist unumstritten, dass das Leben mit jüdische Tradition erlaubt und fordert vertretenen moralischen und religiösen dem Attribut heilig, kadosch verbunden sogar die Abtreibung im Fall einer Le- Überzeugungen.“ wird. Wenn wir uns jedoch im Lebens- bensgefahr für die Frau, selbst sehr intervall an seine Grenzen bewegen, nahe an der Geburt. Trotzdem würden entstehen entweder ethische oder in- nur wenige, ja selbst liberale jüdische Deswegen soll unsere Ein- haltliche Spannungen. Gesetzgeber behaupten, dass das jüdi- Bei der jüdischen Sicht zum Lebens- sche Gesetz die Abtreibung ohne einen stellung mehr Respekt und anfang soll die chronologische Entwick- genügenden Grund unterstütze. Die an- Wertschätzung gegenüber lung der Quellen betrachtet werden, in dere Auslegungsrichtung der Halacha, der Reihenfolge: die Tora (die ersten jüdische gesetzliche Entscheidung, die der Schöpfung als Herr- fünf Bücher Mose), die rabbinischen nachsichtig ist, unterscheidet sich von schaft und Instrumentalisie- Werke, die sogenannte Mischna, der Tal- der strikten darin, dass sie ein breitere- rung zeigen. mud (die ursprunglichen rabbinischen res Spektrum der annehmbaren Gründe Quellen aus dem zweiten und sechsten für die Abtreibung erlaubt. Gleichzeitig Jahrhundert n.d.Z.), und die Responsa schätzt das Judentum aber das Potential Ich möchte auch eine Meinung der (spätere gesetzliche Entscheidungen). des Lebens. Obwohl eine Abtreibung CCAR (Central Committee of American Aus der Tora muss erstmal der fol- kein Mord ist, stellt sie einen ernsthaf- Rabbis) erwähnen, der (trotz des Adjek- gende Vers zitiert werden (Ex 21:22ff): ten Verlust eines möglichen Lebens dar, tivs) weltweiten Konferenz der Reform- „Wenn Männer miteinander streiten Dr. Tom Kucˇera, Rabbiner der Liberalen das sein Recht hat, geboren zu werden. rabbiner. Die CCAR schreibt überra- und dabei eine schwangere Frau stoßen, Jüdischen Gemeinde Beth Shalom, Auch aus dieser Sicht wäre eine Abtrei- schenderweise in einem Responsum, so dass ihr die Frucht abgeht, und es ge- München bung auf Wunsch, ohne stichhaltigen dass sie die Schaffung von Embryonen schieht kein asson, so soll man ihn be- Grund, nicht erlaubt. Die Annahme, die für wissenschafltliche Zwecke nicht bil- strafen.“ Das Wort asson bedeutet Un- Frau habe Recht, ihren eigenen Körper ligt und begründet dies mit dem Kon- fall, Unglück, Missgeschick. Im Kontext zu kontrollieren und die Abtreibung zu zept der Heiligkeit des Lebens (Kedu- des Textes kann sich dieses Wort nicht festlegen. Ich schicke voraus, dass beide wählen, ist aus jüdischer Sicht nicht an- schat ha-Chajim): das menschliche auf das Embryo oder den Fetus bezie- von der modernen Embryologie nicht nehmbar. Die authentische jüdische Leben soll ab einem gewissen Punkt hen. In der Tat haben schon die mittel- unterstützt werden können. Der erste Tradition beinhaltet die Möglichkeit der außerhalb unserer Kontrolle liegen. alterlichen jüdischen Kommentatoren Grenzpunkt wird mit dem 40. Tag fest- Abtreibung, doch unterstützt sie unter Deswegen soll unsere Einstellung mehr das Wort asson mit der Situation der gelegt, weil vorher nach dem Talmud Umständen nicht. Respekt und Wertschätzung gegen- Frau verbunden. ein Embryo nur wie Wasser ist (Jewa- Auch wenn der Fetus nicht eine völ- über der Schöpfung als Herrschaft und Die Mischna, das erste rabbinische mot 69b). Der zweite Grenzpunkt sind lig legale Person ist, hat er das Poten - Instrumentalisierung zeigen. „Es gibt Werk aus dem 2. Jh. n.d.Z., betont die drei Monate, nach denen der Fetus phy- zial, diese zu werden. Dies lässt sich je- keinen Grund anzunehmen, dass der primäre Position der Frau in einem sisch im Frauenkörper erkennbar ist. doch nicht über den Präembryo, die be- Respekt dem menschlichen Leben ganz konkreten Fall und sagt: „Hat eine Beide Aussagen wurden höchstwahr- fruchtete Eizelle außerhalb der Gebär- gegenüber sich nicht auf die embryona- Frau eine schwere Geburt, kann man scheinlich empirisch getroffen. mutter, sagen, weil er nicht in der Ge- le Stufe beziehen soll, weil sogar hier, das Kind in ihrem Leib zerstören und bärmutter verwurzelt ist. Aus diesem im mikroskopisch fertilisierten Ovum, herausnehmen, weil ihr Leben seinem II. Grund hat der Präembryo einen unter- das Potenzial für das Menschensein Leben vorgeht. Ist der größere Teil her- geordneten Status. Tatsächlich sind sich liegt.“ ausgekommen, darf man es nicht verlet- Somit sieht eine jüdische Einstellung darin die meisten jüdischen Gesetzge- zen, denn man darf nicht eine Existenz einen moralischen und legalen Unter- ber (Poskim) einig und stützen sich da- IV. für eine andere ausgeben.“ (Ohalot 7:6) schied zwischen der befruchteten Eizelle bei auf die talmudische Grenze von 40 Dieser Text stellt eine Hierarchie des (bis zum vierzigsten Tag), dem erkenn- Tagen. Wenn eine Untersuchung einen Auf der anderen Seite ist eindeutig Lebens auf, in der der Fetus niederiger baren Fetus (nach drei Monaten) und genetischen Defekt feststellen würde, der Status der Zygote im jüdischen Ge- als die Frau steht, die in einer für sie le- dem Kind bei der Geburt (nach dem Er- würde die Abtreibung des Embryos in setz niedriger als der des Fetuses, sei es bensbedrohlicher Situation geschützt scheinen des Kopfes). Deswegen setzen den ersten 40 Tagen erlaubt. Aus dem aufgrund des Mischna-Textes, der in ei- werden muss. Die gleiche Situation än- die ursprünglichen rabbinischen Quellen gleichen Grund würde die Zerstörung ner bedrohlichen Situation den Schutz dert sich jedoch nach dem zitierten Text die Abtreibung nicht mit dem Töten des Präembryos erlaubt. Sogar diejeni- des Lebens der Frau als das höhere Gut radikal, wenn der größere Teil des Fetu- gleich, obwohl die späteren Kommenta- gen, die schon mit der Grenze von 40 sieht, sei es aufgrund des Talmud-Textes, ses nicht mehr im Körper ist. Was genau toren auch keine willkürliche Erlaubnis Tagen Probleme haben, sehen keinen der die Grenze von 40 Tagen zieht, vor ist dieser größere Teil? Der Talmud, das Grund zur Unruhe bei der Entsorgung der der Embryo als Wasser angesehen nächste rabbinische Werk aus dem 6. überflüssiger Prä-Embryonen. „Es ist er- wird. Dies weiß auch das CCAR-Res - Jh.n.d.Z, setzt den größeren Teil mit Der erste Grenzpunkt wird laubt, den Überfluss dieser Embryonen ponsum, das fortsetzt: „Deswegen kön- dem Kopf gleich (San 72b). Die mittel- mit dem 40. Tag festgelegt, zu entsorgen. Sie werden nicht in die nen wir die Zerstörung der überflüssi - alterlichen jüdischen Kommentatoren Gebärmutter implantiert, dementspre- gen Embryonen verantworten, die im verstanden es als den Kontakt mit der weil vorher nach dem Tal- chend können sie sich nicht zur unab- Rahmen des IVF-Verfahrens (in vitro Luft der Welt. Ob damit ein Atmen ver- mud ein Embryo nur wie hängigen Existenz entwickeln. Wir ha- fertilisation) produziert würden, und bunden sein muss, ist spekulativ. Jedoch ben keine moralische Verpflichtung die- unter diesen Umständen ihrem Einsatz ist das hebräische Wort für den Atem Wasser ist (Jewamot 69b). sen Embryonen gegenüber. Es ist jedoch in der medizinischen Forschung zustim- (Neschima) sehr nahe am Wort für die verboten, diejenigen Embryonen zu zer- men. Wir akzeptieren jedoch nicht, dass Seele (Neschama). Dieser Spekulation der Abtreibung erteilen. Ich habe er- stören, die für die Einsetzung in die Ge- uns dieser niedrigere Status erlauben nach wurde das Atmen ein Zeichen ei- wähnt, dass sich zwei Schulen im bärmutter gedacht sind. Wir können wurde, Embryonen herzustellen und ner unabhängigen, schutzbedürftigen jüdischen Denken herauskristallisiert nur diejenigen Präembryonen vernich- danach zu zerstören, um einen abstrak- Existenz sein. Dies trifft nach dem Tal- haben. Die eine Schule konzentriert ten, die keine Möglichkeit der weiteren ten therapeutischen Nutzen für eine un- mud nicht zu, wenn der Kopf nicht sich auf die Lage der Frau und ihr Lei- Entwicklung haben.“ (Halevy). Bei die- bekannte Person in der weiten Zukunft sichtbar ist. Gleichzeitig muss man je- den und fordert das Vorliegen eines de- ser Ansicht geht es also mehr um den zu ziehen. Dies zu erlauben wurde be- doch betonen, dass auch dem Fetus finierten und großen Bedürfnisses (zo- Kontext als um die Substanz selber. Die deuten, die Definition der Aufrechter- eine gewisse Lebensform zusteht, weil rech gadol), mag es auch weniger stich- Absicht für die Zukunft beeinflusst die haltung des Lebens (Pikuach nefesch) sein Leben mit dem Leben der Frau ver- haltig sein, zum Beispiel die mentale gegenwärtige Entscheidung. und der Heilung (Refua) zu überschrei - glichen wird. Diese Ambivalenz, genau- Gesundheit der Frau. Die andere Schu- ten. Dies zu erlauben würde auch nicht so wie die Tatsache, dass es sich im ge- le konzentriert sich auf den Status des III. mit unserer Verantwortung für die Ehr- gebenen Fall um eine Krisensituation Fetuses und hebt sein Potenzial zum furcht dem Leben gegenüber (Keduschat im Notfall handelt, beeinflusst das spä- Leben hervor. Eine ähnliche Stimme stellt die Union ha-Chajim) übereinstimmen, da das Le- tere Denken, in dem zwei Schulen als Die Fortschritte moderner Medizin, der orthodoxen jüdischen Gemeinden in benspotenzial schon im embryonalen zwei Richtungen zu erkennen sind. besonders die ziemlich verlässlichen Amerika (UOJCA) dar, die im Juli 2006 Stadium anzusetzen ist. Es kann jedoch Bevor ich sie erwähne, müssen noch diagnostischen Tests für genetische erklärte: „Die jüdische Tradition legt ei- erlaubt werden, ein embryonales Leben zwei Talmudstellen zitiert werden, die Störungen der ungeborenen Feten, nen großen Wert auf das menschliche herzustellen und danach zu zerstören, zwei Grenzpunkte im pränatalen Leben führten einige jüdische Gesetzgeber im Leben und seine Aufrechterhaltung. um Stammzellen zu gewinnen, die für

26 zur debatte 6/2010 eine medizinische Therapie für einen sich der Mensch vom Esel und den an- konkreten Patienten bestimmt sind.“ Die sunnitisch-islamische Sicht deren Tieren unterscheidet, ist, dass er in dieser spezifischen Form und Ausse- V. Thomas Eich hen existiert.“ Diese Aussage trifft Jassas nur wenige Zeilen nachdem er die eben In diesem Responsum sehen wir zitierte Aussage Muhammads wieder wieder eine Denkweise, bei der die Ma- gegeben hat, in der explizit von Besee- xime der Heiligkeit des Lebens (Kedu- lung die Rede ist. Obwohl Jassas also schat ha-Chajim) in Bezug auf das em- das Beseelungskonzept bekannt war, bryonale Leben nicht als eine absolute grenzt er den Menschen durch dessen Aussage, sondern im relativen Kontext spezifische körperliche Form von Tieren verstanden wird. Wichtiger ist darum ab. Diese Aussage dokumentiert also nicht die Substanz selber, sondern das I. den Wandel der islamischen Anthropo- Ziel und der Weg zu diesem Ziel. Ob- logie: das Konzept der Beseelung ist be- wohl das menschliche Leben schon im Die zeitgenössischen islamischen reits bekannt, die damit einhergehende pränatalen Stadium Respekt und Wert- Bioethik-Debatten werden neben ver- Änderung des Menschenbildes hat sich schätzung fordert, ist der Fetus keine schiedenen Einzelakteuren vor allem aber bei Jassas noch nicht vollzogen, völlig legale Person. Darum wurde die von nationalen und internationalen Re- weswegen er sie in seiner Diskussion ligionsgremien geführt. Bei den nationa- von Abtreibung auch nicht berücksich- len Gremien handelt es sich in den Län- tigt: „Wenn also der Abort nichts an Die Abtreibung wurde dern sunnitischer Mehrheitsbevölkerun- menschlicher Form hat, so handelt jedoch nicht erlaubt, um gen um so genannte Fatwa-Behörden. es sich nicht um ein Kind (walad) und Ihre Erlasse sind rein formal nicht er hat gleichermaßen die Stellung der Fetusgewebe für die medizi- rechtlich bindend, jedoch stellen sie im alaqa und nutfa [bei deren Austritt aus nische Forschung zu be- Gefüge nationalstaatlicher Gesetzge- der Gebärmutter keine Rechtsfolgen bung eine bedeutsame Instanz dar. Un- entstehen], denn er ist kein Kind.“ Nicht kommen. ter den internationalen Gremien sind die Beseelung sondern die Form des vor allem die so genannten Islamic Fiqh Ungeborenen ist hier das entscheidende Abtreibung erlaubt, wenn das Leben Academies (IFAs) zu nennen, die je- Kriterium für den Autor. Dieser skiz- und/oder die Gesundheit der Frau im weils zur Islamischen Weltliga mit zierte Wandel der islamischen Anthro- Spiel stehen. Die Abtreibung wurde je- Hauptsitz in Mekka und der Organiza- pologie in den ersten Jahrhunderten is- doch nicht erlaubt, um Fetusgewebe für tion of Islamic Conferences (Jeddah) ge- lamischer Geschichte zeigt sich etwa die medizinische Forschung zu bekom- hören. In diesen Gremien treffen sich auch in terminologischen Veränderun- men. Jedoch das Fetusgewebe, das nach jährlich führende – überwiegend arabi- gen. So beschrieb der Terminus shakhs, der Abtreibung aus zulässigen Gründen sche – Religionsgelehrte, um die Her- der bald die individuelle Persönlichkeit entstand, kann in der Forschung einge- ausforderungen der Moderne im Lichte eines Menschen bezeichnen sollte, ur- setzt werden. Die CCAR stellt sich ab- des sunnitischen fiqh zu diskutieren. Dr. Thomas Eich, Akademischer Rat sprünglich die Silhouette, also die äuße- lehnend gegenüber der Möglichkeit, Fiqh umfasst dabei in hohem Maße am Asien-Orient-Institut, Abteilung re Form, eines Menschen. Embryonen automatisch herzustellen, rechtliche wie auch theologische und für Orient- und Islamwissenschaft der um sie in medizinischen Experimenten ethisch-moralische Fragen. Diese IFAs, Universität Tübingen IV. zu zerstören. Sie erlaubt jedoch diesen die ihre Tätigkeit erst in den 1980er Prozess als einen Teil der medizinischen Jahren aufgenommen haben, genießen Vor diesem Hintergrund lassen sich Therapie für einen konkreten Patienten. inzwischen eine hohe Autorität unter stehen.“ Diese Aussage wurde und wird in der Entwicklung frühislamischer Diese Aussage beinhaltet eine Span- Muslimen weltweit. Ihre Entscheidun- so verstanden, dass das Ungeborene Rechtsprechung zur Tötung vorgeburt- nung, die meiner Ansicht nach die gen müssen aber auf nationalstaatlicher nach 120 Tagen eine kategoriale Verän- lichen Lebens drei Phasen ausmachen. Wahrnehmung der eigenen Verantwor- Ebene nicht umgesetzt werden. derung durchläuft. Aus der Aussage In der ersten Phase bis ca. 800 wurden tung und gleichzeitig den jetzigen Stand Die islamischen Rechtsgelehrten stüt- Muhammads wird geschlossen, dass es weder die Form des Ungeborenen noch der Wissenschaft reflektiert, der sich im- zen sich in ihren Erwägungen auf eine sich dabei um die Beseelung handelt. die Beseelung diskutiert. Bis ca. 1000 mer weiter entwickelt und in vieler Hin- Reihe von Textquellen, von denen drei wurde dann die Formung zum zentra- sicht noch unsicher oder risikobehaftet besonders herausragen: Koran, Sunna III. len Element der Debatte. Bis ca. 1100 ist. Deswegen endet das Responsum mit (Handlungen, Handlungsunterlassun- kam dann noch das Element der Besee- den Worten; „Die Entwicklung vieler gen und Aussprüche überwiegend des Analysiert man jedoch die islam- lung hinzu. Etwa ab diesem Zeitpunkt erfolgreicher Stammzelltherapien liegt Religionsgründers Muhammad) und rechtlichen Diskussionen über Abtrei- entwickelte sich die Abtreibungsdebatte in der weiten Zukunft. In der Zwischen- Rechtsgeschichte. bung etwa bis zum 5. Jahrhundert isla- dann nicht mehr so dynamisch weiter zeit sind wir alle verpflichtet, zu studie- mischer Zeitrechnung (entspricht etwa wie in den vorangegangenen Jahrhun- ren, zu debattieren und die moralischen II. dem 11. Jahrhundert), stellt man fest, derten, vermutlich weil mit der Besee- Implikationen zu erwägen, die mit die- dass erst relativ spät die Verbindung lung ein Element darin Einzug gehalten sem neuen, vielversprechenden medizi- In den islamrechtlichen Diskussionen zwischen der Aussage Muhammads und hatte, das empirisch nicht untersucht nischen Gebiet einhergehen.“ seit den 1980er Jahren hat sich inzwi- Koran 23:12-14 hergestellt wurde. Zu- werden konnte. Mit Blick auf die histo- Damit wird trotz der konservativen schen ein überragender Konsens her- vor wurden Fragen der Embryologie im risch-medizinischen Kenntnisse über Einstellung angedeutet, dass es sich um auskristallisiert, dass personales Leben Zusammenhang mit Abtreibung immer die Ausprägung menschlicher Körper- eine zeitbedingte Einstellung handeln am 120. Tag der Schwangerschaft mit in Bezug auf Koran 22:5 diskutiert: form beim Ungeborenen konnten die mag, die das Gefühl der Verantwortung der Einhauchung der Seele in den Kör- „O ihr Menschen, wenn ihr über die zwei Kriterien „Formung“ und „Besee- sogar dem Lebenspotenzial gegenüber per des Ungeborenen beginnt. Vor die- Auferstehung im Zweifel seid, so be- lung“ lange Zeit nebeneinander existie- behalten möchte. „ sem Zeitpunkt kann eine Abtreibung denket, dass wir euch aus Erde erschaf- ren und ggf. als weitgehend deckungs- bei bestimmten medizinischen Indika- fen haben, dann aus einem Tropfen gleich interpretiert werden. Dies hat tionen erlaubt werden (IFA-Beschluss (nutfa), dann aus einem Blutklumpen sich spätestens im 20. Jahrhundert ent- von 1990). Zentral für die Berechnung (alaqa), dann aus einem Fleischklum- schieden geändert, da nun menschliche der Zahl 120 ist eine in leicht abwei- pen (mudhgha), gestaltet und nicht ge- Form bereits wesentlich früher als am chenden Versionen überlieferte Aussage staltet, um es euch deutlich zu machen.“ 120. Tag der Schwangerschaft erkannt Muhammads. Eine der Versionen lautet Dieser Vers spricht im Unterschied zu werden kann. Ab den 1980er Jahren wie folgt: 23:12-14 von keiner kategorialen Verän- wurden daher die beiden Kriterien von derung des Ungeborenen im Verlauf sei- einander entkoppelt und das alleinige „Wenn einer von euch geschaffen nes vorgeburtlichen Wachstums. Aus Kriterium des 120. Tages setzte sich in wird, so wird er im Leib seiner Mutter diesem Grund hatte bis zum 10. Jahr- der Debatte durch. Stimmen wie etwa vierzig Tage lang zusammengebracht. hundert die Beseelung nur eine margi- die der heute in Staaten des Maghreb Dann ist er dort ebenfalls eine alaqa, nale Rolle in Debatten über den Ab- immer noch dominierenden malikiti- dann ist er dort ebenfalls eine mudgha, bruch vorgeburtlichen Lebens gespielt. schen Rechtsschule, die das Schutzrecht dann wird ihm der Engel geschickt, der Dies hing wesentlich mit einer Verände- des Ungeborenen bereits wesentlich frü- ihm die Seele einhaucht. Und er legt vier rung der islamischen Anthropologie zu- her ansetzt und dabei stärker das Krite- Dinge fest: Er schreibt seinen (späteren) sammen, die sich etwa vom 9. bis 11. rium der Formung betont, wurden im Lebensunterhalt auf, seine Todesstunde, Jahrhundert allgemein durchsetzte. Dar- Zuge dieser Entwicklung an den Rand sein Tun und ,verdammt’ oder ,selig’.” in wird die Frage „Was macht den Men- gedrängt. Jedoch muss klar konstatiert schen aus? Was grenzt ihn bspw. gegen- werden, dass auch die Malikiten die An- Dieser Text wird in Bezug gesetzt zu über Tieren ab?“ durch den Leib-Seele- thropologie des Leib-Seele-Dualismus Koran 23:12-14, wo u.a. zwischen drei Dualismus beantwortet. Zuvor hatte ein akzeptieren und von einer personalen embryonalen Entwicklungsphasen nutfa anderes Konzept überwogen, in dem Existenz des Ungeborenen auch erst (Tropfen), alaqa (Blutklumpen) und der Mensch durch seine spezifische kör- ab dem 120. Tag sprechen würden. „ mudgha (Fleischklumpen) unterschie- perliche Form definiert wurde. Auf- den wird. Zusammen versteht man die- schlussreich hierfür ist ein Text des 981 Eine wesentlich ausführlichere Professor Dr. Gerhard Paal, Neurologe se Texte so, dass jede der drei Phasen 40 gestorbenen Autors Abu Bakr Ahmad Darstellung der historischen Entwick - und Leiter des Arbeitskreises „Ethik Tage dauert, insgesamt also 120 Tage. al-Jassas. In seinem Kommentar zu Ko- lungen findet sich in Thomas Eich, “In- und Medizin“, sprach das Schlusswort Über das Ende dieser Entwicklung heißt ran 22:5 – Koran 23:12-14 lässt Jassas duced miscarriage in early Maliki and und blickte auf ein interessantes Forum es dann in Koran 23:14 „Dann ließen gänzlich unkommentiert – schreibt er Hanafi fiqh”, Islamic Law and Society, zurück. Wir ihn als eine weitere Schöpfung ent- unter anderem: „Der Aspekt, durch den 16 (2009), 302-336.

6/2010 zur debatte 27 den beiden als etwas, das nicht nur je- natürlich anders. Da merkt man, dass weils für beide ihre Kunst, ihr Künstler- etwas hineinwirkt, was auch damals tum entwickelt und gestärkt hat, son- schon da war, nämlich die Gesinnung dern auch insgesamt als ein Stück Le- des Ranking: Wer war nun eigentlich Freundschaft – benskunst. Denn so, wie es hier auch der Größere? Schon damals begann Goethe ausspricht, es zu verstehen, die man damit, weil sie beide ihren epocha- Freundschaft auf jene Seite zu konzen- len Ruhm unmittelbar erleben durften. trieren, an der man wirklich zusammen- Beide Parteien, die Schillerianer und Band fürs Leben hängt und wo sich etwas entwickeln Goetheaner, die dann manchmal gar kann, das verlangt wahrlich Klugheit nicht begreifen konnten, dass beide nun und Weisheit, und darin hatten die bei- auf einmal auch zusammenwirken den nun einen sehr großen Erfolg. Ei- konnten. Wie gesagt: Wer war größer? Aktualität einer besonderen nen so großen Erfolg, dass beide dann Dazu ein kleines bisschen Goethe. In auf die Freundschaft hinblickend gewis- der Zeit der Freundschaft, beginnend Beziehung sermaßen aus der Distanz feststellten, 1794, endend mit dem Tod Schillers, es war eine Freundschaft. Goethe sagt war Schiller natürlich der Größere, es so: „Ich war schon fast der Poesie Schlanke, hochaufragend; in der verloren, und es war Schiller, es war die Zwischenzeit ein richtig schöner Mann, Das Wort Freundschaft wird heute in- 2010 mit dem Titel „Freundschaft – Begegnung mit Schiller, die mich wieder ein Habicht-Apoll, wie man ihn auch flationär gebraucht: Jeder ist schnell Band fürs Leben. Aktualität einer be- zum Dichter gemacht hat.“ Das ist sehr charakterisiert hat. Goethe neigte in ein Freund oder eine Freundin, im sonderen Beziehung“ ging diesen und pointiert gesagt; Goethe hat es eben so dieser Zeit zu Rundlichkeit; er trank ein Internet, in der Politik und auch in anderen Fragen aus der Sicht ver- gesehen. bisschen viel Wein. Er war zum Teil so der Partnerschaft. Doch wo liegt ei- schie dener Wissenschaften nach und Bei Schiller lässt sich das in ähn- rund geworden, dass Frau von Stein, die gentlich das Besondere der Freund- ließ auch die Kunst zu Wort kommen. licher Weise auch beobachten, und ähn- ja nach Goethes Rückkehr aus Italien schaft? Was unterscheidet sie von an- „zur debatte“ dokumentiert die über- lich hat es Schiller auch gesagt. Schiller wenig Grund hatte, sehr positiv über deren Zusammenschlüssen und Bünd- arbeiteten Vorträge und auch State- war, als die Freundschaft begann, tief ihn zu reden, einmal sagte: Der be- nissen? Hat Freundschaft eine Per- ments, die in die Arbeit der Ge- versunken in seinen nun auch genialen kommt ja seine Hände gar nicht mehr spektive? Unsere Tagung am 12. Juni sprächs gruppen einführten. theoretischen Arbeiten über Literatur. in die Hosentaschen. Das war natürlich Er war dabei, die ästhetischen Schriften auch übertrieben. Aber: Schiller der auszuarbeiten, und er war dabei, sich ei- Pfeil, Goethe das Ei, so muss man sie nen großen Namen als Historiker zu sich in dieser Situation eher vorstellen. machen: das große Werk „Abfall der Das Physiognomische war nur ein klei- Niederlande“ und das Werk über den ner Ausflug, um auch von daher gewis- Dreißigjährigen Krieg. Aber er scheute sermaßen einen Gegensatz fühlbar zu sich, nach seinem letzten Stück Don machen. Carlos, 1787 fertiggestellt, wieder zum Die erste Begegnung zwischen den Theater zurückzukehren. Es ist dann in beiden war eigentlich eine Nicht-Begeg- Freundschaft großer Geister. der Zeit der Freundschaft zwischen nung; sie war ganz einseitig von Schil- Goethe und Schiller, dass Schiller so lers Seite. Schiller ist zehn Jahre jünger; Am Beispiel von Goethe und Schiller mächtig zum Theater zurückkehrt. In das ist sehr wichtig. Denn als der Stu- dieser Zeit der Freundschaft arbeitet dent Schiller in der Hohen Karlsschule Schiller am Wallenstein; Goethe hilft, den Preis entgegennimmt, mal wieder, berät, bringt es in Weimar auf die Büh- stehen bei diesem Festakt auf der Büh- Rüdiger Safranski ne. Mit dem Wallenstein vollzieht sich, ne: der Herzog von Württemberg und von Schiller her gesehen, die zweite Ge- daneben der Herzog von Weimar, auf burt des Dichters Schiller, des Dramati- der Durchreise, und daneben eben sein kers, des Theatermanns Schiller. Dann Adlatus, sein Minister, sein Freund folgen in dieser Zeit der Freundschaft Goethe. Diese beiden stehen vor ihm. Die Veranstaltungsregie hat das wirk- Schlag auf Schlag die berühmten klassi- Schiller kniet, nimmt den Preis entge- lich sehr schön und klug gemacht, dass schen Stücke von Schiller, Maria Stuart, gen. Goethe, für die Generation Schiller wir zuerst einmal Montaigne gehört ha- Jungfrau von Orleans, Wilhelm Tell; schon der Inbegriff der erwünschten ben, in dieser berühmten Reflexion über und sie haben einen solch großen Er- Literatur – das war Sturm und Drang, die Freundschaft. Das gibt mir gleich folg, dass Goethe hätte neidisch werden das war der „Werther“, die neue große zwei Ansatzpunkte, um einiges zu die- können. Aber zum Glück hatte Goethe Gefühlskultur in der Literatur – war für ser Freundschaft Goethe-Schiller zu sa- das Gefühl des Neides nicht in seinem Schiller selber, aber auch für seine gan- gen. Wir haben es gehört: Montaigne Repertoire. ze Generation das bewunderte Vorbild. sagt auf dem Höhepunkt dieses Textes, Bei Schiller war das anders; das wer- Goethe wird in dieser Situation keine so etwas hat es vielleicht noch nie gege- den Sie gleich hören. Wenn ich Ihnen weitere Notiz von Schiller genommen ben; so ein Herz und eine Seele, wie in den Verlauf dieser Geschichte kurz haben; der hatte auch noch keinen Na- seiner Freundschaft mit La Boétie. Ein skizziere, werden Sie auch gleich mer- men. Herz und eine Seele: Freundschaft. Und ken: Das Spannende an dieser Freund- Schiller beginnt aber dann seinen dann der zweite zentrale Satz: Warum, schaft ist, dass sie sich über erhebliche Aufstieg. Er hat zu diesem Zeitpunkt fragt er, war die Freundschaft möglich? Widerstände hinwegsetzen musste. Eine der ersten Begegnung seine „Räuber“ Und dann heißt es, auch wieder sehr untergründige Spannung zwischen den schon in der Schublade, arbeitet daran. schön: Weil er er war, und weil ich ich beiden ist natürlich da. Es waren auch Schiller wird dann etwas Ähnliches ge- bin. zu große Unterschiede da, und was ge- schehen, wie es Goethe mit seinem wissermaßen dann die Klassizität dieser „Leiden des jungen Werther“ geschehen I. Freundschaft ausgemacht hat, ist, dass ist, diesem Roman, der, als er heraus- hier wirklich einmal wirklich geworden kam, seinen europäischen Ruhm be- Das sind die beiden Henkel, an de- ist, dass Gegensätze, Yin und Yang, sich gründete. Napoleon will ihn siebenmal nen ich jetzt einmal anfange. Ein Herz anziehen und eine Verbindung einge- gelesen haben, hat Goethe hinterher er- und eine Seele-Freundschaft – da hen können. Dann kann man auch be- zählt. Bei Schiller waren es „Die Räu- muss ich Sie enttäuschen – das war es Prof. Dr. Rüdiger Safranski, Philosoph obachten, wie eine Art psychologisches ber“. Übernacht entstand sein literari- bei Goethe und Schiller nicht. Ich lese und Schriftsteller, Badenweiler Recycling funktioniert, nämlich: Die scher Ruhm, zumindest in Deutschland. Ihnen einmal ein Zitat von Goethe beiden waren über das Gelingen der Dann die Probleme: Er muss vor dem vor. Da schreibt er in der Zeit der Freundschaft so sehr erfreut, und sie Herzog fliehen, der ihm Schreibverbot Freundschaft mit Schiller an den Sohn waren gewissermaßen so stolz darauf, erteilen möchte, auch wegen des rebelli- von Herder: „Wenn wir immer vorsich- Aber es gehört natürlich nun zum dass diese Hochgefühle selber stabilisie- schen Charakters dieses Stückes. tig genug wären und uns mit Freunden Verständnis der Freundschaft zwischen rend auf die Freundschaft zurückwirk- Schiller, der einen außerordentlichen nur von einer Seite verbänden, von den beiden, dass diese Verbindung, wie ten. Ein sehr wichtiger Punkt: Das, wor- Ehrgeiz hat, haftet dann an dem, was der sie wirklich mit uns harmonieren, Goethe schreibt, bei den beiden, Goe- über man sich freut, gibt dem, was der seine literarische Existenz ist. Er will ge- und ihr übriges Wesen weiter nicht in the und Schiller, jene Seite betroffen Anlass der Freude ist, neue Nahrung, wissermaßen den Olymp erobern. Da Anspruch nähmen, so würden die hat, die für jeden die wichtigste war. und es wird noch stärker. So hat sich ist Goethe schon. Dieses „da will ich Freundschaften weit dauerhafter und Das heißt, in dem jeweils für sie wich- von ihrer Freude über die Freundschaft auch hin“ ist ein wichtiges Charakter- ununterbrochener sein. Gewöhnlich tigsten Aspekt ihres Lebens, ihrer Le- selbst die Freundschaft ernährt. Das merkmal bei Schiller. Schiller hatte ge- aber ist es ein Jugendfehler, den wir benswelt waren sie in diesen Jahren der meine ich mit diesem Recycling-System, wissermaßen sportlichen Geist in Bezug selbst im Alter nicht ablegen, dass wir Freundschaft aufs Innigste verbunden das von den beiden installiert worden auf die Literatur, etwas Agonales. Des- verlangen, der Freund solle gleichsam und haben es mit erheblicher Klugheit ist. wegen wird er 1787, als er schon großen ein anderes Ich sein, solle mit uns nur verstanden, störende Interferenzen, stö- Ruhm und große Anerkennung gefun- ein Ganzes ausmachen, worüber wir rende andere Aspekte draußen zu hal- II. den hatte, nach Weimar reisen und dort uns dann eine Zeitlang täuschen, das ten und sie nicht die Freundschaft be- Quartier machen. Er will sich dort an- aber nicht lange dauern kann.“ Sie wer- einträchtigen zu lassen. Da stehen sie nun, die beiden Freun- siedeln. Goethe ist zu der Zeit in Ita- den bemerken, schärfer kann man es Weil das so war, und weil man das de, vor dem Theater in Weimar. Auch lien, aber es sind ja die anderen großen von der Montaigne’schen Definition auch bei beiden so beobachten kann, hier ist Goethe schon ein ganz kleines Geister da. Schiller erlebt, wie in Wei- nicht absetzen. sehe ich diese Freundschaft zwischen bisschen größer als Schiller. Es war mar natürlich alles voll des Geistes von

28 zur debatte 6/2010 Goethe ist. Da macht er aber auch eine eigene Sturm und Drang-Phase, von da heißt es: „Ich muss lachen, wenn ich IV. sehr erfreuliche Erfahrung – ich zitiere der er sich auf seine Weise lösen wollte. nachdenke, was ich dir von und über einmal etwas aus seinem Brief: „Die nä- Kurzum, er hielt ihn sich etwas vom Goethe geschrieben haben mag. Du Und jetzt ereignet sich in der Ge- here Bekanntschaft mit diesen Weimari- Leibe, und es gibt Bemerkungen von wirst mich wohl recht in meiner Schwä- schichte dieser Freundschaft eine sehr schen Riesen, ich gestehe es dir, hat Goethe, wo er sich richtig darüber är- che gesehen und im Herzen über mich bedenkenswerte Wendung, in diesem meine Meinung von mir selbst sehr ver- gert, dass in seiner Umgebung alle Welt gelacht haben. Aber mag es immerhin Falle bei Schiller. Schiller merkt näm- bessert.“ Er merkt also, dass er hier mit- von Schiller redet. Sein Freund Knebel sein; ich will mich gerne von dir kennen lich in dieser Phase – wir sind jetzt im halten kann. Dann schreibt er weiter an liegt ihm in den Ohren, Frau von Stein lassen, wie ich bin.“ Dann charakteri- Jahr 1789 –, dass diese Gefühle von seinen Freund Körner – dem er alle sei- auch. Er geht ganz bewusst auf Distanz, siert er in einem nächstfolgenden Brief Ressentiment, Neid, Ungerechtigkeit ne Geständnisse macht: „Ich habe mich und das hält er dann auch weiterhin so. noch einmal, wie er sich jetzt im Kon- und was alles sonst noch, ihn letztlich selbst für zu klein und die Menschen Diese Begegnung fand im Herbst 1788 trast zu Goethe sieht. Da sagt er dann, lähmen und blockieren. Schiller sagt umher für zu groß gehalten.“ Dann wird statt. Das bleibt so, als Schiller in Wei- wieder in einer solchen Wutwallung: sich, ich muss davon absehen können, er auch noch zu Goethes Geburtstag mar weiterhin ansässig bleibt, in Goe- „Dieser Mensch, dieser Goethe ist mir ich darf mich nicht in diese Gefühle eingeladen, den man in Goethes Abwe- thes Nachbarschaft. einmal im Wege, und er erinnert mich verwickeln und mich von ihnen fesseln senheit feiert. Da soll er reden, was er Da kann Schiller nun erleben, wie so oft, dass das Schicksal mich hart be- lassen. Das allerdings heißt dann für auch tut. Und schreibt an Körner: Es ist die literarische Welt, die nach Weimar handelt hat. Wie leicht ward sein Genie Schiller: Nicht immer vergleichend auf ja so, als würde man mich hier schon kommt, bei Goethe ein- und ausgeht, von seinem Schicksal getragen, und wie Goethe hinblicken, sondern seine eige- als Statthalter von Goethe behandeln. vorgelassen wird usw., und er wird, so muss ich bis auf diese Minute noch nen Dinge im Auge haben, seine Pro- Es geht aber auch das Gerücht, dass muss er das empfinden, richtig geschnit- kämpfen. Aber ich habe noch guten jekte, Verwirklichungsvisionen, seine Goethe gar nicht zurückkommt, son- ten. Sein Zorn wächst, die Enttäu- Mut und glaube an eine glückliche Re- Dichtung, was auch immer. So schreibt dern vielleicht in Italien bleiben will. schung, und dann bricht es in einem volution für die Zukunft.“ er dann auch in einem Brief an Caroli- Tatsächlich hatte Goethe versucht, sei- Brief an seinen Freund Körner Anfang Diesen Satz muss man sich merken. ne, die Schwester seiner Braut: Dann nen Aufenthalt dort zu verlängern; aber 1789 so richtig aus ihm heraus: „Öfters Schiller sieht sich als jemand, der mit kann es ja sein, dass, wenn ich gewis- irgendwann muss er doch zurück, sagt um Goethe zu sein, würde mich unglück- seinem Schicksal kämpfen musste. Das sermaßen auf diese Weise zu Hochform ihm der Herzog. Goethe auf der Rück- lich machen. Er hat auch gegen seine geht wirklich ins Betriebsgeheimnis von auflaufe, es dann eine organische selbst- reise: er fährt recht ungern wieder nach nächsten Freunde kein Moment der Er- Schiller. Deswegen auch Schillers Frei- verständliche Möglichkeit gibt, wo man Deutschland zurück. In seinen Briefen gießung, er ist an nichts zu fassen. Ich heitspathos. Schiller hat das Gefühl, er gemeinsam vielleicht doch zusammen- ist, wenn er von Deutschland schreibt, glaube in der Tat, er ist ein Egoist in un- hat sich gemacht und musste sich zu wirken kann. Also die sehr lebenskluge immer von diesem Nebelland die Rede, gewöhnlichem Grade. Er besitzt das Ta- dem machen, der er ist. Sogar seinem Maxime: Man trifft dann am besten, als würden wir in der Nähe des Nord- lent, die Menschen zu fesseln, aber sich kranken Körper musste er noch Le- wenn man nicht zielt. pols liegen. Er notiert auch bei der Rück- selbst weiß er immer frei zu behalten. benszeit und seine Werke abringen. Er So geschieht es dann. 1794 kommt es fahrt in der Kutsche – bei Goethe hat Er macht seine Existenz wohltätig sieht sich gewissermaßen als Hochleis- nämlich zu jenem Ereignis, das Goethe sich ja fast jeder beschriebene Zettel er- kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich tungsathlet eines Selbstentwurfes, des selber im Rückblick „das glückliche Er- halten, so auch dieser – sich vorberei- selbst zu geben. Ein solches Wesen soll- Selbsthervorbringens der Freiheit. Das eignis“ nennen wird, nämlich die gelun- tend auf den möglichen Unwillen, den ten die Menschen nicht um sich herum ist das Freiheitspathos von Schiller. gene Begegnung. Das ist zunächst ein er in Deutschland haben wird, wenn er aufkommen lassen. Mir ist er dadurch Und Goethe: begünstigt vom Schicksal, Tag, der gewissermaßen in einem positi- da wieder zurückkehrt: „Verbergen des verhasst, ob ich gleich seinen Geist von von der Familie, von seinem Talent. ven Sinne eine Explosion auslöst. Nur gegenwärtigen Zustands, nicht von Ita- ganzem Herzen liebe und groß von ihm Goethe fliegt alles zu. Goethe muss sich ein paar Bemerkungen über das Dazwi- lien vergleichsweise reden, eines jeden denke. Ich betrachte ihn wie eine stolze nur sein lassen; Schiller muss sich ma- schen: Von Schiller her gesehen: Schil- Existenz anzuerkennen, nicht hart und Prüde, der man ein Kind machen muss, chen. Da entsteht bei Schiller ein Ge- ler hatte in diesen Jahren in Jena die kurz angebunden sein“. Mit diesen Vor- um sie vor der Welt zu demütigen.“ fühl von Ungerechtigkeit, auch Neid: Professur als historische Vorlesungen sätzen kommt er zurück. Eine sonderbare Mischung von Hass Goethe hat es eben einfacher gehabt. gehalten, mit sehr großem Erfolg. Es und Liebe, sagt Schiller selber. Es ist Aber da kommt der Schiller’sche Stolz: war Goethe, der ihn nach Jena gebracht III. ihm dann peinlich, was er geschrieben Ich lasse mich nicht be irren, ich gehe hatte. Aber das hat erst einmal noch hat; aber Körner ist ja sein bester meinen Weg. nicht dazu beigetragen, dass sich das Dann kommt es zu der ersten wichti- Freund. Aber er schickt doch gleich Verhältnis von Schiller her gesehen ver- gen Begegnung. Die hatte Charlotte von noch einmal einen Brief hinterher, und besserte, weil Schiller einfach das Ge- Lengefeld eingefädelt, Schillers Braut. fühl hatte, man wolle mit ihm eine gute Er hatte sich in sie verliebt. Auch hier: Akquisition machen, indem man ihn Schiller verliebt sich sozial nach oben, dahin beruft, vor allem deswegen, weil guter alter Reichsadel, während Goethe man ihm kein Honorar geben wollte. in diesem selben Moment – kann sich Mit der Ehre allein konnte er als Be- das auch leisten – sich nach unten ver- rufsschriftsteller nicht weit kommen. liebte, in Christiane Vulpius. Charlotte Deswegen hatte er in Bezug auf Goethe hatte das also eingefädelt: eine große eher vermutet: Der denkt an seine Uni- Gesellschaft, Goethe ist dabei. Sie will versität in Jena, aber er denkt nicht an jetzt ihren Schiller endlich mit Goethe mich. in Verbindung bringen. Aber die Begeg- Aber Schiller gestaltet seine Professur nung verläuft unbefriedigend. Goethe in Jena zu einem großen Erfolg. Damit hat natürlich vieles andere zu tun, beginnt eigentlich die Karriere der Uni- außerdem redet er fast nur über Italien. versität Jena, die dann am Ende des Er hat sich ja vorgenommen, nicht über Jahrhunderts, um 1800, ein Hauptort Italien zu reden Aber deswegen ist er des deutschen Geistes ist. Dort versam- auch nicht richtig zugänglich. Jedenfalls melt sich alles, was Rang und Namen schreibt Schiller nach dieser ersten Be- hat. Die Romantik ist da, die Klassik ist gegnung, die auch wieder keine richtige da. Es ist eine legendäre große Zeit, ein war, enttäuscht an seinen Freund Kör- goldenes Zeitalter des deutschen Geis- ner: „Ich zweifle, ob wir einander je tes, alles mit durch Schiller eingeleitet. sehr nahe rücken werden. Vieles, was Schiller ist jetzt in der Position, dass der mir jetzt noch interessant ist, was ich Verleger Cotta mit ihm zusammen das noch zu wünschen und zu hoffen habe, Projekt ausbrüten kann, die Zeitschrift hat seine Epoche bei ihm durchlebt. Er „Die Horen“ herauszugeben. Das soll ist mir an Jahren weniger als an Lebens- gewissermaßen das Zentral organ des erfahrung und Selbstentwicklung so deutschen Geistes werden; es soll alles weit voraus, dass wir unterwegs nie dabei sein, was Rang und Namen hat. mehr zusammenkommen werden, und Schiller ist jetzt wirklich ganz oben. Er sein ganzes Wesen ist schon von Anfang ist der Herausgeber dieser „Horen“, und her anders angelegt als das meinige. Sei- es ist klar, wenn das Projekt von Erfolg ne Welt ist nicht die meinige. Unsere gekrönt sein soll, muss auch Goethe teil- Vorstellungsarten scheinen wesentlich nehmen. Und so kann Schiller, der Her- verschieden. Indessen schließt sich’s aus ausgeber, Goethe einladen, bei der Zeit- einer solchen Zusammenkunft nicht si- schrift mitzuwirken. Das ist im Früh- cher und gründlicher.“ Er mahnt sich sommer 1794. zur Gelassenheit. Goethe seinerseits hat wieder einmal Nun war es so, dass Goethe nicht dieses Gefühl – das kam immer mal einfach nur durch die Geselligkeit abge- wieder – poetisch auf dem Trockenen lenkt war, sondern er, wie wir aus sei- zu sitzen. Es war auch viel geschehen in nen eigenen Berichten und aus anderen der Zwischenzeit. Er hatte den Herzog Zeugnissen wissen, Schiller zuerst ein- bei den antirevolutionären Feldzügen mal mit Abneigung, nur als den Mode- Foto: akg-images begleitet, über die Kampagne in Frank- autor der „Räuber“ wahrgenommen hat. Das berühmteste Denkmal der beiden Denkmal, das vor dem Weimarer Natio- reich geschrieben. Er ist wirklich auch Das andere war eigentlich noch nicht so berühmtesten deutschen Dichter, die naltheater steht, wurde 1857 geschaffen in Lebensgefahr gewesen; das war kein richtig auf seinem inneren Bildschirm. auch sehr gute Freunde waren. Das von Ernst Rietschel. Kriegstourismus, den er da betrieben Das war ihm alles sehr unsympathisch; hat. Er hat Verwicklungen in der Folge es erinnerte ihn auch zu sehr an seine von Christiane Vulpius erlebt, musste

6/2010 zur debatte 29 aus dem Haus auf dem Frauenplan aus- VI. ziehen. Der Herzog wollte es nicht, dass alles so auf dem Tablett statt fand. Kurz- Nun hatte Schiller den großartigen um, Goethe ist in so viele Dinge invol- Deutungsbrief geschrieben und sich si- viert, dass er jetzt auch das Gefühl hat – cher gewünscht, dass Goethe sich hin- das äußert er in manchen Briefen – dass setzt und auch so ein großes Porträt von die literarische Öffentlichkeit dabei ist, ihm, Schiller, anfertigt. Da wird er dann ihn zu vergessen. Da kommt ihm dieses aber sachte enttäuscht, denn Goethe – Angebot für „Die Horen“ nun gerade das ist auch wieder sehr charakteristisch recht, eine schöne, weithin wirkende für ihn – sagt, sinngemäß: ‚Jetzt haben Plattform zu finden. Außerdem hat er Sie das so wunderbar gemacht; jetzt be- inzwischen sein Bild über Schiller doch schreiben Sie doch sich selbst einmal, erheblich korrigiert. Er hatte auch ande- damit ich Sie besser kenne.’ Schiller re Dinge wahrgenommen, hat vor allem überwindet also seinen kleinen Ärger auch wahrgenommen, wie brilliant und setzt sich hin, am 31. August, und Schiller nun seinerseits seine Verknüp- liefert ein Selbstporträt ab, das auch mit fung mit dem antiken Kunstideal ent- vom Feinsten ist, was wir kennen. Da wickelt hat. Er fühlte sich sehr nahe an schreibt Schiller über sich: „Weil mein Schiller. Kurzum, Goethe stimmt zu. Ja, Gedankenkreis kleiner ist, so durchlaufe er will gerne mit dabei sein bei den ich ihn eben schneller und öfter, und „Horen“. kann eben darum eine kleine Barschaft besser nutzen und eine Mannigfaltigkeit, V. die dem Inhalte fehlt, durch die Form erzeugen. Sie bestreben sich, Ihre große Jetzt steuern wir auf den 20. Juli 1794 Stefan Wilkening las zum Auftakt der glied am Bayerischen Staatsschauspiel Ideenwelt zu simplifizieren; ich suche zu, ein schöner, heißer Sommertag in Tagung aus Michel de Montaigne „Von schaffte es, die Tagungsteilnehmer mit Varietät für meine kleinen Besitzungen. Jena. Goethe ist von Weimar herüberge- der Freundschaft“. Das Ensemblemit- dem Text auf die Tagung einzustimmen. Sie haben ein Königreich zu regieren; kommen zu einem Vortrag in der Na- ich nur eine etwas zahlreiche Familie turforschenden Gesellschaft in Jena. von Begriffen, die ich herzlich gerne zu Schiller ist auch da. Man hört dem Vor- einer kleinen Welt erweitern will.“ Auch trag zu, und hinterher Stühlerücken, besiegelten wir einen Bund, der un- schreibt dann vergleichsweise lakonisch das ist ein Topos, der dann in dieser Be- man geht heraus, man kommt in ein unterbrochen gedauert und für uns und zurück. Er bedankt sich für diesen wun- ziehung bleibt: Goethe (hat) die große Gespräch, jetzt ein richtiges Gespräch. andere manches Gute gewirkt hat.“ derbaren Brief, „in welchem Sie mit Welt; Schiller generiert die große Welt Das nimmt ganz schnell eine Wendung, Diese Erinnerung Goethes ist auch freundschaftlicher Hand die Summe zwischen, wie er einmal schreibt, den die dazu führt, dass Goethe mit außer- deswegen ein höchst charakteristisches meiner Existenz ziehen und mich durch Papierwänden. Er war ja auch durch ordentlichem Engagement spricht. Es Dokument für die Art, wie Goethe sein Ihre Teilnahme zu einem emsigeren und Krankheit behindert, viel mehr zu rei- geht um seine gerade sich in Arbeit be- eigenes Leben in einem hohen Sinne lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte er- sen; er erzeugt es sozusagen aus Bord- findende „Metamorphosenlehre der symbolisch zu verstehen versuchte, mit muntern.“ Die Summe seiner Existenz mitteln. Pflanzen“. Darüber reden sie jetzt. Ich geheimen, wunderbaren Korresponden- und die Ermunterung durch diesen Ver- Ich habe Sie damit gewissermaßen werde Ihnen einmal den Bericht, etwas zen. So auch hier. Die Tatsache, dass sie stehenshorizont, den ihm Schiller auf- auf das Hochplateau dieser Freund- gekürzt, vorlesen, den Goethe selber über die Urpflanze reden, und an die- spannt; die Ermunterung, die Kräfte zu schaft gebracht, die dann von 1794 bis von diesem glücklichen Ereignis ge- sem Punkt auch schon der geistige entfalten. 1805, bis zum Tode Schillers währt. Wie macht hat: Gegensatz der beiden deutlich wird, auf Da kommen wir an den Punkt, der das bei Freundschaften so ist, gab es na- „Wir gingen zufällig beide zugleich die kürzeste Formel gebracht: hier bei von beiden immer wieder ähnlich for- türlich immer wieder auch Talsohlen, heraus. Ein Gespräch knüpfte sich an; Goethe eher eine realistische, erfah- muliert worden ist. Es ist ja so: Sie hel- und dann wieder Höhepunkte. Es gab er schien an dem Vorgetragenen teilzu- rungsgesättigte Lebensanschauung, und fen sich wechselseitig. Oder – ich will nachher in der Zeit, als Schiller von nehmen, bemerkte aber sehr verständig da, bei Schiller, eine idealistische, vom anders beginnen: Es ist nicht eine Jena wieder nach Weimar zog und man und einsichtig und mir sehr willkom- Intellekt her entwickelt, dieser Gegen- Freundschaft, in der der eine versucht, fast täglich beisammen war, natürlich men, wie eine so zerstückelte Art, die satz wird hier schon aufgeblättert, und im anderen herumzumodeln und ihn zu auch das Phänomen der Veralltägli- Natur zu behandeln, den Laien, der sich das war der spannungsvolle Gegensatz erziehen und zu formen. Dazu sind sie chung der Beziehung, mit allem, was gerne darauf einließe, keineswegs an- zwischen beiden. eigentlich als Figuren schon zu fertig. das dann bedeutet. Da gab es manch- muten könne. Ich erwiderte darauf, Dann geht es aber Schlag auf Schlag Nein; es geht hier nicht darum, dass sie mal Durchhänger in dieser Beziehung, dass es doch wohl noch eine andere weiter. Dann wechseln die Briefe und aneinander herumarbeiten, sondern da- aber es gab auch immer wieder diesen Weise geben könne, die Natur nicht ge- werden immer größer; am Anfang sind rum, dass sie sich wechselseitig dabei Aufschwung. Zum Beispiel hatte es eine sondert und vereinzelt vorzunehmen, es Riesenbriefe. Einen ganz berühmten helfen, dass jeder zu seinen besten Mög- Krise gegeben, kurz bevor Goethe sondern sie wirkend und lebendig aus Riesenbrief schreibt Schiller am 23. Au- lichkeiten kommt, die in ihm selbst lie- Schiller den Wilhelm Tell-Stoff überließ. dem Ganzen in die Teile strebend dar- gust; das ist der berühmte Geburtstags- gen: dass er ganz er sein soll und ich Das war wirklich ein großer Freund- zustellen. Er wünschte hierüber aufge- brief an Goethe. Dieser Geburtstags- ganz ich. Da sind wir wieder bei dem schaftsdienst. Goethe wollte selber ein klärt zu sein. Wir gelangten zu seinem brief enthält ein Porträt Goethes, mit ei- schönen Montaigne am Anfang. Da Stück darüber machen. Er merkte, Hause; das Gespräch lockte mich hin- ner der schönsten, eindringlichsten und kann man wirklich bei Montaigne an- Schiller ist eigentlich vom Theatertech- ein. Da trug ich „Die Metamorphose zupackendsten Versuche, das geistige knüpfen: Es ist eine Freundschaft zur nischen her der größere Dramatiker, der Pflanzen“ lebhaft vor und ließ mit Bild Goethes zu deuten. Goethe fand es wechselseitigen Ermunterung, dass überlässt ihm wiederum neidlos diesen manchen charakteristischen Federstri- jedenfalls das beste, was er bisher über- nämlich jeder genau der ist, der er sein Stoff und ist auch wirklich aufs höchste chen eine symbolische Pflanze vor sei- haupt über sich gelesen hat, ist auch kann. erfreut, dass der „Wilhelm Tell“ dann ei- nen Augen entstehen. Er vernahm und glücklich darüber, fassungslos, und nen solch großen Erfolg auf der Bühne schaute das alles mit großer Teilnahme, hat. Er setzt sich auch noch ein Jahr vor mit entschiedener Fassungskraft. Als ich Schillers Tod dafür ein, dass Schiller aber geendet, schüttelte er den Kopf nicht den Ruf nach Berlin annimmt, ein und sagte: ‚Das ist keine Erfahrung; das sehr lukratives Angebot, für 3000 Taler, ist eine Idee.’ Ich stutzte, verdrießlich einfach nur als Sinekure. Das war mehr einigermaßen, denn der Punkt, der uns als das Gehalt von Goethe, muss man trennte, war dadurch aufs Strengste be- bedenken. Aber Schiller bleibt in Wei- zeichnet. Der alte Groll wollte sich re- mar, auch Goethes wegen. Goethe ver- gen; ich nahm mich aber zusammen sucht ihn auch zu halten. und versetzte: ‚Das kann mir sehr lieb Als Schiller stirbt, ist es wirklich ein sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu sehr schwerer Schlag für Goethe. Er wissen, und sie sogar mit Augen sehe.’ wird darüber auch selber krank und Schiller, der viel mehr Lebensklugheit schreibt an seinen anderen Freund Zel- und Lebensart hatte als ich (das ist ter, mit dem die Freundschaft in den doch erstaunlich, was Goethe hier sagt; letzten Jahren begonnen hat, und der R.S.) – und mich auch wegen der ,Ho- der Freund der letzten Jahrzehnte sein ren’ mehr anzuziehen als abzustoßen wird: „Ich dachte, mich selbst zu verlie- gedachte, erwiderte darauf als ein gebil- ren, und verliere nun einen Freund und deter Kantianer. Und als aus meinem in demselben die Hälfte meines Da- hartnäckigen Realismus mancher An- seins.“ „ lass zu lebhaftem Widerspruch ent- stand, so ward viel gekämpft und dann Stillstand gemacht. Der erste Schritt war jedoch getan. Schillers Anziehungs- kraft war groß, und er hielt alle fest, die sich ihm näherten. Seine Gattin, die ich Die Kunst setzte den Schlusspunkt. Flügel begleitet von Benjamin Reiners, von ihrer Kindheit auf zu lieben und zu Christina Gerstberger (Sopran) und Solorepetitor am Gärtnerplatz-Theater, schätzen gewohnt war, trug das ihrige Stefan Sevenich vom Staatstheater am Werke von Bach, Mozart, Weber, Mas- bei zu dauerndem Verständnis. Alle bei- Gärtnerplatz sangen Lieder über die senet und Rossini. derseitigen Freunde waren froh, und so Freundschaft. Sie interpretierten, am

30 zur debatte 6/2010 zurückzugeben oder ihnen diesen gar und die Freundschaft zur jüngeren Bet- „Unsere Fundamentaltreue“ erst zu verleihen. Eine dergestalt über- tina aufgekündigt. legte und ihre ordnende Reflexion Man wird die Frage nicht beantwor- (Bettina von Arnim). Romantische gleichzeitig vertuschende Autorschaft ist ten können, ob die Ursache dieser Di- keineswegs naiv zu nennen: Sie über- stanzierung nun in bloßer Anpassung Muster der Frauenfreundschaft denkt vielmehr den Status dieses Pro- oder in der Abwehr eines allzu symbio- jekts vor dem Hintergrund der Freund- tischen Verhaltens der Jüngeren zu su- Sabine Eickenrodt schaftstopoi, die ihre Muster aus einer chen ist. Fest steht, dass die Günder- männlich geprägten Geschichte der rode sich von einer Freidenkerin lossag- Philosophie bezogen. Mit dem aristote- te, die selbst im engsten Familienkreis lischen Ideal des Freundes als dem „an- als enfant terrible galt, nicht zuletzt deren Ich“ hatten sie eingesetzt und wa- wegen ihrer erfolgreichen Weigerung 1. Reproduktive Phantasie: ren seit Montaignes Individualisierungs- gegenüber nachdrücklichen Forderun- Briefroman zweier Freundinnen konzept (der Erinnerung an den „toten gen, sich doch endlich ernsthaften Stu- Freund“) in der europäischen Literatur dien zu widmen. „Bettine“ zelebriert Gleich am Anfang des 1840 unter vielfältig variiert worden. ihre Bildungsresistenz, spricht in Bezug dem Titel Die Günderode erschienenen auf das öde Studium der Geschichte Briefromans Bettina von Arnims ent- 3. Zitierte Muster der Freundschaft: treffend von dieser „Lüneburger Heid wirft sich die Protagonistin und fingier- Bettina von Arnims gegenläufige der Vergangenheit“. Mir geht es gleich- te Briefschreiberin „Bettine“ als unge- Rezeption wohl nicht um biographische Deutun- bundene Chronistin der eigenen Ver- gen, wie sie etwas Christa Wolf in ihrem gangenheit. Sie konfrontiert ihre Leser Die Motive der Freundschaft, des wegweisenden Essay Ein Brief über die mit Alltagsberichten, die sie strategisch Vertrauens und der Treue in dieser Be- Bettine (1979) nahelegt, wenn sie von gegen das Pathos setzt: Jede Mitteilung ziehung, die sich ja auf keinen Vertrag einer poetischen Zusammenführung von an die Freundin, die stets mit ihrem oder Segen der Kirche berufen können, Bettinas erster und letzter Liebe spricht. Nachnamen, als „die Günderode“, be- werden in diesem Roman buchstäblich Im Folgenden wird vielmehr nach den zeichnet wird, ist Teil einer kunstvollen durchgespielt: Die Autorin evoziert so- Neuinterpretationen der Freundschafts- Komposition, die zum ersten Mal in der wohl das platonische Muster des päda- muster in diesem Brief roman und den Geschichte des deutschen Briefromans gogischen Eros zwischen Schüler und Bildungskonzeptionen gefragt, die die- die Freundschaftskorrespondenz zweier Lehrer als auch das der heroischen sen Mustern zugrunde liegen. Frauen poetisiert. Autorin des Romans Freundschaft der Antike, der Freund- ist die 55-jährige Bettina von Arnim, ge- schaft in Gott, der Blutsbrüderschaft, 4. Lob der Individualität: Plädoyer für borene Brentano, die nach ihrem Best- der christlichen Nächstenliebe ebenso eine Freundschaft zwischen Frauen seller (Goethes Briefwechsel mit einem wie das Muster der narzisstischen Kinde, 1835) und zehn Jahre nach der Selbstliebe, der allgemeinen Menschen- Bereits der Anfang des Romans gibt Pariser Julirevolution erneut auf den liebe. Die Briefschreiberin zitiert das in- den Ton vor: Der Brief der „Gündero- Plan tritt. Ihre Wahl der Adressatin war PD Dr. Sabine Eickenrodt, Privatdozen- dividualisierte Freundschaftscredo des de“ reagiert zunächst auf den Vorschlag zweifellos mehr als ein literarischer tin am Institut für Deutsche Philologie gegenseitigen Sicherkennens in Mon- „Bettines“, für die Freundschaft auf die Schachzug: Die Freundin, Angehörige der FU Berlin, z. Z. Dozentin an der taignes Essay De l’amitié, die Feier des platonische Tradition eines gegenseiti- einer verarmten Adelsfamilie und selbst Comenius-Universität Bratislava sich rückhaltlos verstehenden und er- gen Schüler-Lehrer-Verhältnisses zu- anerkannte Lyrikerin und Dramatikerin schaffenden Blicks: „ – ob ich je aus rückzugreifen, beschreibt dann die in den romantischen Dichterkreisen, dem Licht heraustrete, was Dein leben- Mühe, in „Bettines“ Zimmer Ordnung hatte die Öffentlichkeit mit ihrem poe- grundsätzlich zugestanden. Als Folge ei- dig Aug auf mich strahlt? – denn Du zu schaffen, und fügt eine Beilage zum tisch inszenierten Freitod in Winkel am nes Strukturwandels der Öffentlichkeit kommst mir vor wie ein ewig lebender Brief hinzu: das um 1804 zu datierende Rhein 1806 erschüttert. Der Skandal, ist dies sozialhistorisch erklärbar. Nicht Blick – und als wenn von ihm mein Apokalyptische Fragment Karoline von der dem Ruf dieser unglücklichen zur selten gab es Versuche, späterhin die Leben abhing.“ Günderrodes, eine hoch gestimmte „Griechin“, zur „Sappho“ stilisierten, im weibliche Qualifikation für die Freund- Dichtung, die mit der Aufhebung von Alter von 26 Jahren verstorbenen Dich- schaft selbst wiederum zu ontologisie- Identitätsgrenzen, der Feier des Zu- terin voraneilte, war 1840 zwar ver- ren: Gerade aufgrund dieser histori- Die Motive der Freund- sammenfallens von Zeit und Ewigkeit jährt, aber doch noch in der Erinnerung schen Implikationen war es möglich, so endet: „bleibend im Wandel, ein unend- der Generation der nun Reüssierten in Schleiermachers geneigtem Versuch schaft, des Vertrauens und liches Leben“; ein Fragment, das er- und sich mit der politischen Realität ar- einer Theorie des geselligen Betragens der Treue in dieser Bezie- kennbar durch die intensive Lektüre rangierenden Intellektuellen präsent. (1799), Frauen mit dem Hinweis auf der Dichtungen Jean Pauls, besonders Das Pathos der Freundschaft fühlt ihre besondere Empathie und ihren Sta- hung, die sich ja auf keinen aber durch ihre Schelling-Studien be- sich in diesem Roman nicht dokumen- tus außerhalb des bürgerlichen Berufs- Vertrag oder Segen der Kir- einflusst ist. Der Antwortbrief „Betti- tarischer Überprüfbarkeit verpflichtet: lebens zur dialogischen Form der Gesel- nes“ ist ein emotionales Feuerwerk, ein Bettina von Arnim nimmt sich vielmehr ligkeit für besonders begabt zu halten. che berufen können, werden Lob der Eigentümlichkeit und indivi- die Freiheit, ihre Korrespondenz aus Gleichzeitig konnte man ihnen ihre Be- in diesem Roman buchstäb- duellen Differenz: „[…] und dann sagst den Jahren um 1804 – 1806 zu über- fähigung zu einem vernünftigen Ge- Du noch so was Trauriges“ – so endet arbeiten und in einen Prozess des fin- spräch absprechen, das auf eine gemein- lich durchgespielt. diese Passage – „ ,Ich schien mir nicht gierten Briefgesprächs zu überführen: same Wahrheitsfindung unbedingt ver- mehr Ich und doch mehr als sonst Ich.‘ Tatsachen und vergessene Stimmen sind pflichtet war. Irrationalität, Klatsch- Sie setzt ein mit der antizipierten Meinst Du, damit wär mir gedient?“ – hier verdichtet, in einem poetischen sucht, Ungebildetheit – all dies waren Trauer um die Freundin „Günderode“, Diesem Brief wird schließlich eine An- Verfahren, das die Forschung (in Bezug bekannte Etiketten, die den Freund- deren Tod ja der faktische Ausgangs- lage beigefügt, die auf die Bitte der auf Büchner) „reproduktive Phantasie“ schaften unter Frauen angeheftet wur- punkt dieses Testaments in Briefen ist. „Günderode“ reagiert, ihr doch einen genannt hat. Die Briefe werden neu zu- den und mit denen die fingierte Brief- Es folgt der gleich gestimmte Antwort- philosophischen Aufsatz zu schenken, sammengestellt, verändert und in eine schreiberin souverän zu spielen weiß. brief: „Vor einigen Nächten träumte mir, den diese im zweiten Band des nieder- Gegenwart hineingezogen, die den uto- Bettina von Arnim konnte auf Leitbil- Du seist gestorben, ich weinte sehr dar- ländischen Philosophen (Franz Hem- pischen Geist der Romantiker vom An- der für dieses Freundschaftsprojekt der über und hatte den ganzen Tag einen sterhuis) auf dem Boden liegend in Bet- fang des Jahrhunderts bereits vollends Denkmalsetzung zurückgreifen. traurigen Nachklang davon in meiner tines Zimmerchaos aufgefunden habe: verloren hatte. Hier wird im Zenit der Zu den zeitgenössischen Beispielen Seele.“ Diese Worte werden wiederum „[…] da Dein Widerwille gegen Philoso- Restauration, in der Zensur und politi- gehörte die 1834 erschienene Brief- dann von „Bettine“ im nächsten Brief phie Dich hindert, ihrer zu achten“ – so sche Repressionen die Atmosphäre in Sammlung Rahel. Ein Buch des Anden- aufgegriffen: „Ich auch, liebstes Günde- begründet die Günderrode ihre Bitte – Deutschland bestimmen, ein politisches kens für ihre Freunde. Ein Memorial je- rödchen, würde sehr weinen, wenn ich „so möchte ich diese Bruchstücke Dei- Programm entworfen. Die „Studenten“ doch lehnt die Autorin des Günderode- Dich sollt hier lassen und in eine andre ner Studien wider Willen beisammen und auf Emanzipation ausgerichteten Romans entschieden ab. Nicht gerade Welt gehen; ich kann mir nicht denken, bewahren“. Teile der (männlichen) Jugend, denen freundlich hatte sie sich über „das große daß ich irgendwo ohne Dich zu mir sel- Die Datierung der hier genannten die Autorin ihren Roman dediziert, wer- Buch Rahel“ geäußert, das „den Leuten ber kommen möcht.“ Gleich zu Beginn Lektüre ist authentisch, denn wir wis- den auf eine bessere Zukunft verwiesen. wie eine gebratene Ganz [sic!] ins wird also dieser Freundschaft zwischen sen aus den Exzerpten der Günderode Bettina von Arnim präsentiert (in der Maul“ fliege. In ihrem Buch dagegen zwei Frauen ein bewährtes Muster auf- um 1803/04, dass sie Hemsterhuis in Rolle der jungen Briefschreiberin „Betti- spricht eine Briefschreiberin, die weiß, geprägt, einer Freundschaft, die den der deutschen Übersetzung (von 1782) ne“) diesen Mitadressaten emphatisch dass die Sprache der Freundschaft auf Zeitgenossen übrigens so ideal kaum gelesen hat. Bereits die irritierten zeit- ihr Lebensmuster, hält ihnen eine längst bewährte sprachliche Codes der Inti- vorgekommen sein mag, wie hier sugge- genössischen Leser haben diese Brief- vergangene Freundschaft unter Frauen mität angewiesen ist, wenn sie die ver- riert wird: Der fingierten Briefschreibe- beilagen angesichts einer Romanspra- vor. traute Beziehung zwischen Freundin- rin „Bettine“ geht es offensichtlich da- che, die vor lauter Bildern und Meta- nen thematisieren will. Wir haben es rum, nun gerade den von der histori- phern geradezu explodiert, kurzerhand 2. Die „tote Freundin“: Fingiertes also mit einer reflektierten Stimme zu schen Bettina von Arnim als schmerz- übersehen. Genauer betrachtet jedoch Gespräch oder Nachruf auf eine tun: Die Autorin hat die von ihr heran- haft empfundenen Freundschaftsbruch erhalten diese Blätter eine argumentati- Verstorbene? gezogenen authentischen Texte, zu de- der historischen Günderrode in diesem ve Funktion für den gesamten Text. Die nen auch die überlieferten Briefe der Roman ostentativ auszublenden: Diese hier so kritisch auf den Prüfstand ge- Dieser Roman ist kühn, sowohl in Freundin gehören, wiederholt überar- hatte den eifersüchtigen Forderungen brachte Universalbildung dieser beiden der sprachlichen Realisation als auch in beitet, bis sie den Anschein des spontan des von ihr geliebten Heidelberger Pro- Frauen legt nahe, dass der Name Hems- der kompositorischen Anlage. Frauen Geschriebenen erhielten. Sie scheut kei- fessors, Friedrich Creuzers, sich vom terhuis im Kontext der Freundschafts- wurde erst im Laufe des 18. Jahrhun- ne Mühe, den Briefen aus einer vergan- Brentano-Clan fernzuhalten, ohne er- theorien von der Autorin des Brief- derts die Befähigung zur Freundschaft genen Zeit ihren mündlichen Duktus kennbaren Widerstand Folge geleistet romans programmatisch genutzt wird.

6/2010 zur debatte 31 Herder, eine philosophische Leitfigur Die politische Bettina von Arnim legt der Günderrode, hatte eine berühmte ein großes Überwinterungsprogramm Rezension mit dem Titel Liebe und emanzipatorischer Utopien vor, die um Selbstheit geschrieben. Sie ist eine Aus- 1840 bereits jegliches Fundament ver- einandersetzung mit Hemsterhuis’ Brief loren hatten. Sie orientiert sich dabei Über das Verlangen und paraphrasiert übrigens gerade nicht an der ästheti- das Credo des Philosophen: Auch Frau- sierten Geselligkeitsutopie Schleier- en, so lautet dieses, seien geeignet, machers. Dieser hatte um 1800 noch Freundschaft zu schließen: „[…] es ist einmal auf die Spielformen der Freund- ein stolzes, aber ungereimtes Vorurtheil schaft, auf die Form der Geselligkeit als der Männer, dass nur sie zur Freund- Kunstwerk in den moralphilosophi- schaft taugen. Oft ist ein Weib zu ihr schen Grenzen Kants und Schillers ge- zarter, treuer, vester und goldreiner, als setzt. Zeitgleich mit Schleiermachers eine Reihe schwacher, fühlloser, unrei- Entwurf gab es bereits Stimmen (wie ner Männerseelen“. z. B. die Jean Pauls in der Vorschule der Im weiteren Referat Herders geht es Ästhetik (1804)), die die ausbalancie- dann jedoch nicht um eine Freund- rende Form der Geselligkeit und das schaft zwischen Frauen, sondern um ein Schillersche Pathos der allgemeinen Plädoyer für die Freundschaft in Ehe Menschenliebe in der Ode An die Freu- und Familie. Dort heißt es: „Die ge- de allenfalls als Satireobjekt noch be- meinschaftliche Erziehung der Kinder trachten wollten. ist der schöne leitende Zweck der Freundschaft, der noch im grauen Alter 6. „Inkonsequenz des Geistes“: beide süß belohnet. Als zwei verschlun- Unzurechnungsfähigkeit als Bildungs- gene Bäume stehn sie da, und werden programm dastehn, umringt vom Kranz jugend- lich-grünender Bäume und Zweige.“ Zwar nimmt die fingierte „Bettine“ Auch die hier genutzten Alle gorien wie Schleiermachers Begriff der „Schwebe- die vom Baum der Freundschaft, vom Religion“ für die Freundschaft mit der Frühling, werden in den Briefen des „Günderode“ in Anspruch, aber weder Günderode-Romans von Bettina von geht es in diesem Roman um eine Äs- Arnim variiert, aber zugleich grundsätz- thetisierung der Freundschaft noch um lich in Frage gestellt und ausdrücklich die Einlösung eines Sinnpostulats: „Bet- gegen die Überführung des Freund- tine“ verkehrt hermeneutische Begriffe schaftsideals in familiäre Treue und (der sog. Haupt- und Nebengedanken) Bindung interpretiert. geradezu ins Gegenteil: „Der Mensch ist sich immer eine Hauptnebenabsicht, 5. „Wandel und Treue“: Philisterkritik drum muß er sich ganz verleugnen, 1840 und (narzisstische) Utopie sonst erreicht er sich selber nicht“. Dem organischen Treuemodell des Wandels, Es folgt ein Brief der „Günderode“, das die Günderrode im Anschluss an dem eine poetische Beigabe, ein fingier- Herder in ihrem Brief und im Gedicht tes Gespräch zwischen „Violetta“ und entwirft, korrespondiert vielmehr eine „Narziß“ unter dem Titel Wandel und Verweigerungshaltung der vernünftigen Treue, angefügt wird und der für die Identitätsstiftung, eine Bildungsresis - programmatische Aussage dieses unzeit- tenz, die neue Formen der weiblichen gemäßen Freundinnenprojekts be- Traditionsbildung im fingierten Brief - sonders wichtig ist: gespräch dieser Freundinnen entwickelt Foto: akg-images und diese schließlich an einen politi- Bettina von Arnim lebte von 1785 bis „Wer im ganzen etwas sein kann, der schen Frühling weiterzugeben versucht. 1859. Dieses „Porträt mit Wolldecke“ ist wird sich auch fühlbar zu machen wis- Sie rückt die vor der Zeit beendete eine Zeichnung von Ludwig Emil sen, und so wird der Wandel nirgend Freundschaft mit der Günderrode in den Grimm. anders als bei der Treue heimkehren, Zenit der Geschichte, lässt sie gegen alle denn sie ist die Heimat. Du bist ja auch Vernunft zum historischen Auftrag wer- heute nicht, was Du gestern gewesen, den. Dieser Freundschaftsroman bietet 7. Fundamentaltreue in der Freund- zusammengesetzte Mosaik der Vergan- und doch bist Du eine ewige Folge Dei- jedoch keine Alternativen oder gar eine schaft: Das Leitmotiv des Briefromans genheit kann, gerade weil es durch die ner selbst. […]. Treue wächst in dem neue, weibliche Poetik. Selbstverleug- Nähe der Freundschaft vermittelt ist, Geist auf, der liebt; gedeiht sie zu einem nung ist vielmehr hier als ein Bildungs- Es ist gerade dieser paradoxe poe- der Vergänglichkeit trotzen. Diesem starken Baum, so wird kein Eisen so programm zu verstehen, das keinen an- tische Selbstentwurf einer Un-Dichterin, Programm einer erinnerten Zukunft scharf sein, ihn auszurotten, aber ehe deren Weg als die Negation des Beste- der das Bild des Baums der Treue, der entspricht die langsame Aneignung des die Treue von selbst stark geworden, henden zu denken vermag: Dies zeigt „Fundamentaltreue“ in der Freund- durch die Freundin vorgegebenen Bil- kann man ihr nichts zumuten […]; die Abwehr „Bettines“ angesichts der schaft, aus dem Bereich des Vegeta- des eines „Baums der Treue“. Es wird wenn sie aber einmal vollkommen aus- Zumutung einer Lektüre von Schillers bilischen, der organischen Pflanzenwelt, für die Briefschreiberin nach und nach gebildet ist, dann ist sie kein Verdienst Ästhetik: „[…] ich schleudert’s von mir in den Bereich der Zeit, der Vergangen- zum Leitmotiv, und je stärker dieses in mehr, dann ist sie Bedürfnis geworden, – meinen Geist bilden! – ich hab keinen heit und Zukunft überträgt, es also his- den Vordergrund tritt, desto mehr Lebensatem […]. – Das sei unsre Sorge, Geist – ich will keinen eignen Geist […]. torisiert: Der oben zitierte Frankfurter scheint die zitierte Stimme der „Günde- daß jede Lebensregung eigentümliches, Echte Bildung geht hervor aus Übung Brief endet mit einem erstaunlichen rode“ zu verklingen. organisches Leben werde, das sei unsre der Kräfte, die in uns liegen, nicht Olympia-Bild: „[…] denn da wir so In einer Episode taucht es wieder Fundamentaltreue […]. Bis dahin laß wahr?“ unwillkürlich manchen lebendigen Be- auf, in der „Bettine“ der Freundin von uns einander treffen in ihrem Tempel; Das erstaunliche Vorhaben der bei- griff nur gegenseitiger Berührung zu der Zerstörung und anonymen Abhol- die Gewohnheit, uns da zu finden, ein- den Freundinnen, einander Jünger zu danken haben und ich mehr Dir als Du zung einer „schwankenden Pappel- ander die Hand zu bieten in gleicher werden „in der Unbedeutendheit“ ist mir, so sollte dies organische Inein- wand“ im Garten der Großmutter, So- Absicht, die wird den Baum der Treue also keineswegs als traditionell bewähr- andergreifen uns auch frei machen von phie LaRoches, in Offenbach, berichtet. in uns pflegen, daß er als selbständiges te weibliche Demuts geste misszuverste- jeder kleinlichen Eigensucht, und wir Der Holzfrevel wird als Anschlag auf Leben von uns beiden ausgehe und hen. Neben die Schule der „Unbedeu- sollten wie die Jünglinge, während sie die Wahrhaftigkeit dargestellt, die – wie stark werde.“ tendheit“ tritt hier vielmehr die Feier nach dem Ziel laufen, nicht uns Zeit man sagt – dort zu finden ist, wo man des Unlogischen, der Unzurechnungs- gönnen, an was anders zu denken als das „Herz auf der Zunge“ trägt: Jemand Zweifellos: Dies ist ein utopisches fähigkeit der Kunst, der „Inkonse- im schwebenden Lauf auszuharren.“ habe, so beschreibt Bettine den Frevel, Freundschaftsprogramm, das durch das quenz“ des Geistes (der „eigentlich Flie- Dieses paradoxe Bild verpflichtet den diese Pappelwand „durchgeschnitten!“ angefügte Blatt ausdrücklich mit einer gen“ sei), der Unmöglichkeit, „meine von der „Günderode“ propagierten Und weiter heißt es: „ – ach, es schnei- scharfen Philisterkritik, der Kritik an Pe- Gedanken zu konzentrieren“. Die Heil- Wandel, einen wachsenden Baum der det mir ins Herz – es war, als könnten danterie und Kalkül verbunden wird: losigkeit, der Wahnsinn, die Gesetz- Treue, auf den Moment eines rasenden sie [die Bäume] nicht mehr sprechen, Narziß spricht dies in der poetischen losigkeit der Poesie – nicht wenige die- Stillstands. Aus dieser Perspektive gibt als sei ihnen die Zunge genommen, Brief-Beigabe noch deutlicher aus: „Mir ser Anti-Bildungstopoi beziehen im die Struktur des Anfangs dem gesamten denn sie können ja nicht mehr rau- ist nicht Treue, was ihr also nennet,/ Mir Roman ihre Legitimation aus Berichten Roman eine deutlichere Kontur: Die schen. So war ihr Stummsein eine bitte- ist nicht treulos, was euch treulos ist! – / über den kranken Hölderlin, den die Hemsterhuis-Episode hat der „Günde- re, bittere Klage zu mir, die ich ewig mit Wer den Moment des höchsten Lebens beiden Freundinnen in Homburg zu rode“ die Funktion der Bewahrerin zu- mir herumtragen werde und keinem sa- teilet,/ Vergessend nicht, in Liebe selig besuchen planen (1804). „Bettine“ gewiesen, die „Bettines“ Bildungsfrag- gen als nur Dir.“ weilet,/ Beurteilt noch und, noch be- spricht von ihren „poetischen Unbe- mente wider Willen aus Sympathie und Die zum Schweigen gebrachten Bäu- rechnend, mißt,/ Den nenn ich treulos, merkungen“, die sie „Ungeheuer“ für die Zukunft rettet. „Bettine“ wiede- me, ihre Sprachverstümmelung, zeugen – ihm ist nicht zu trauen […].“ Die ex- nennt. Es tauchen Slogans auf wie: rum transformiert diese Synthese nun vom Ende aller utopischen Verspre- ponierte Platzierung dieser authenti- „Beweislos denken ist frei denken!“ in ein geschichtsphilosophisches Bild chen, die mit dem steten Wachsen des schen Zeilen im Roman gibt den Ton an oder „[E]s ist einzig reine und heilige weiblicher Provenienz. Das durch die „Baums der Treue“ assoziiert worden für die Orientierung der Autorin in den Sprachquelle, die Wahrheit ohne Be- Freundin gestiftete, aus verlorenen und war, zugleich wird die Zeugin dieses tradierten Freundschaftsauffassungen: weis zu führen.“ unbedeutenden Wissensfragmenten Frevels zur Geheimnisträgerin der

32 zur debatte 6/2010 stummen Klage, die sie der Freundin drückte in Deiner Gegenwart, und was sagt. Sofort werden die anonymen Täter mir schwer war; aber eine geheime Freundschaft – Freundsein, was ist das? dieses Frevels typologisiert und im Be- Sehnsucht, Dich Dir selber zu entfüh- griff des Philisters, der über Freund- ren, Dich Dir selber vergessen zu ma- Antworten auf eine aristotelische Frage schaft und Liebe nur „faselt“, namhaft chen“. Die Fortführung des Bildes zeigt, gemacht. Der Frevel an den Pappeln ist dass die Briefschreiberin offenbar das Klaus-Dieter Eichler für sie ein Frevel an der Sprache selbst, biblisch vorgeprägte Muster der „heil - und somit auch an der Überlieferungs- samen Entführung“ (z. B. im Hohenlied geschichte als Wahrung der lebendigen („Komm doch mit mir meine Braut, Tradition. „Bettine“ hängt diesem Brief vom Libanon, / weg vom Libanon und auch dem folgenden „zur Gedächt- komm du mit mir!“) zu einem Möglich- nisfeier“ jeweils eine Beilage an, die sie keitsbild der angestifteten Selbst-Befrei- als zwei Jahre alte Notizen, als Blätter ung aus dem Zustand des Sich-Fremd- I. Der Freund als ein „zweites Ich“ „aus ihrer Pappelbaum-Korrespondenz“ seins uminterpretiert. Nun könnte man ausgibt und auf Ostermontag und einwenden, dass es hier allenfalls um Unbestreitbar ist, dass alle philoso- Pfingst montag zurückdatiert, es sind eine erotisierte Freundschaft ginge. Eine phischen Reflexionen über Freund- Hymnen an die Auferstehung des Früh- solche Lesart würde jedoch ausblenden, schaft ihren Ausgangspunkt bei Aristo- lings im Schatten des Baums und an die dass der Roman von Beginn an als eine teles nehmen. Ausschüttung „segnende[r] Ströme vom dialogische „Religionsstiftung“ angelegt Im aristotelischen Begriff der Freund- Himmel“. „Nachsicht“ und „Verzei- ist: Der Begriff des „Tempels der Freund - schaft (philia) wird Differentes, in der hung“ üben – dies ist die erste Lehre, schaft“ wird in eine politische Mission modernen Diskussion Getrenntes, noch die sie aus den Berichten der Großmut- überführt. Nicht zufällig taucht in der in einer einzigartigen Spannung zu- ter zieht und auf die anonymen Baum- großen Vision, die auf diese Passage sammengehalten. Er erstreckt sich so- frevler überträgt. Die zweite Lehre hält folgt, das Bild des „Lebensatems“ wie- weit wie der Begriff der Gemeinschaft; die verstümmelte Natur für sie bereit: der auf, das die „Günderode“ mit der in jeder ihrer Formen kann man sie fin- Es ist die der Empathie mit den unver- „zwanglos entstehenden Treue“ in Ver- den. Sie besteht im Bereich des Hauses schuldet ins Unglück geratenen Bäu- bindung gebracht hatte, ein Bild, das zwischen Mann und Frau, Eltern und men; und sie kreiert gleichsam mit Hilfe heutigen Lesern antiquiert, politisch Kindern, zwischen Brüdern und Vettern der Tragödienformel aus ihrer Furcht naiv und in seinem Pathos unzeitgemäß aber auch zwischen Reisegefährten und ein auf sich selbst gerichtetes Mitleid: erscheinen mag. Historisch bezeugt es Kriegskameraden, zwischen Geschäfts- Diese Bäume hätten einst sie, „Bettine“, ein radikal-utopisches Denken, das ver- freunden, zwischen Liebhabern und mit ihrem Rauschen bewegt; „davon“, bietet, diese Stimme nur mit der Dis - Geliebten, zwischen Bürgern einer Polis so fährt sie fort, „ist meine Seele wach tanz derer belächeln zu wollen, die sich und Regierenden und Regierten; selbst geworden und ist aufgestiegen und hat durch die Geschichte eines Besseren die verschiedenen guten Polisverfassun- jene Bäume belebt, und sollte diese See- haben belehren lassen müssen: „[…] gen sind Formen der Freundschaft. Die le ihnen jetzt absterben, weil sie irdisch und so werden Flammen aufsteigen, be- Freundschaft in Gestalt der politischen elend sind? – Da würd ich mich ja wegt vom Gesetz Deines Hauchs […] Freundschaft ist das größte Gut der Prof. Dr. Klaus-Dieter Eichler, Professor selbst töten in ihnen. Nein, in jedem und zünden im Herzen jugendlicher Polis und deren Einheit ihr Werk. Die für Philosophie an der Universität Unglücklichen soll man doppelt leben- Geschlechter, die, knabenhaft männlich Erfahrung lehrt, so Aristoteles, dass Mainz dig werden.“ sich deuchtend, nimmer es ahnen, daß Freundschaft die Polis zusammenhält der Jünglingshauch, der ihre Brust er- und die Gesetzgeber sich mehr um sie 8. „Tempel der Freundschaft“: Bettines glüht, niemals erstieg aus Männergeist. als um die Gerechtigkeit bemühen, Mission weiblicher Selbstentfremdung – Was denk ich doch?“ „ denn die Eintracht hat eine gewisse zu sich selbst. Nur wer mit sich selbst in „Ähnlichkeit“ mit der Freundschaft. Übereinstimmung lebt, kann dem Dieses kathartische Bild steht mit ei- Literatur: Worin besteht diese Eintracht? Aris - Freund als einem zweiten Ich begegnen. ner wichtigen Passage in engem Zu- toteles grenzt sie gegen eine niedere Die Freundschaft der Guten ist von sammenhang, es beschreibt die Bezie- Christa Wolf: Nun ja! Das nächste und höhere Form der Gemeinsamkeit wechselseitiger Hochschätzung, gegen- hung zwischen den beiden Freundin- Leben geht aber heute an. Ein Brief ab. Ihre Bestimmung erfolgt einerseits seitigem Wohlwollen und selbstlosem nen. Interessant ist die Selbststilisierung über die Bettine (1979). In: B. v. A.: Die in Absetzung von der homodoxia, der Handeln im Interesse des anderen ge- Bettines in der Redeposition des Ge- Günderode. Mit einem Essay von C.W. zufälligen Gleichheit in den Meinungen, prägt. Zugleich werden alle Formen der liebten/des Liebenden; der angeredeten Frankfurt a. M. 1982, S. 462-497. – Bet- weil diese nicht gegenseitige Kenntnis Freundschaft auch um des eigenen Vor- „Günderode“ wird entsprechend die tina von Arnim: Werke und Briefe in voraussetzt und sich außerdem auf Din- teils willen gepflegt: Das ist deshalb kein Position der geliebten Braut zugeord- drei Bänden. Hrsg. von Walther ge bezieht, die mit den Angelegenheiten Widerspruch, weil das Selbstverhältnis net: „[…] als säh ich eine geschmückte Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. der Polis nichts zu tun haben, anderer- des Vortrefflichen mit seinem Verhältnis Braut, deren priesterliche Gewande Frankfurt a. M. 1986. – Karoline von seits unterscheidet sie sich von der zum vortrefflichen Freund strukturell nicht verraten, daß sie Braut ist, und de- Günderrode: Sämtliche Werke und aus- Freundschaft der Guten und Tugend- identisch ist. In der Freundschaft der ren Antlitz nicht entscheidet, ob ihr gewählte Studien. Historisch-Kritische haften, deren Einklang so groß ist, dass Trefflichen fällt die Hochschätzung des wohl ist oder weh vor Seligkeit“. Diese Ausgabe. Hrsg. von Walter Morgentha- sie im anderen sich selbst erkennen. In anderen mit der selbstbewussten und Verkehrung der Positionen ist zweifel - ler. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1990. – Chri- der politischen Freundschaft geht es um begründeten Hochschätzung der eige- los als neue Perspektive im Roman auf- sta Bürger: „Diese Hoffnung, eines Ta- das allen Zuträgliche. Die politische nen Person zusammen. Dieses Verhält- zufassen: Denn in dieser bietet sich nun ges nicht mehr allein zu denken“. Le- Freundschaft hat Pluralität zur Voraus- nis der gegenseitigen Wertschätzung ist die Chance, das Treuepostulat des Wan- bensentwürfe von Frauen aus vier Jahr- setzung. Ihren Grund hat sie in funda- deshalb berechtigt, weil das, was wir zu- dels, die gelobte „Fundamentaltreue“ hunderten. Stuttgart/Weimar 1996, S. mentalen gemeinsamen Zielen, nicht in gleich an uns selbst und am Freunde lie- zu radikalisieren: „Mir aber liegt ein 116-130. verwandtschaftlichen, auf dem Her- ben, objektiv und vernünftigerweise lie- Schmerz in der Seele, den ich oft unter- kommen beruhenden Affinitäten. benswert ist. Darüber hinaus trägt das Im Unterschied zu einer auf Leiden- Erkennen und Schätzen der Vortreff- schaften und Affekten beruhenden Be- lichkeit im Freund auch zur Entwick- ziehung entspringt die auf Wechselsei- lung und Stabilisierung unserer eigenen tigkeit beruhende Freundschaft der Gu- Vortrefflichkeit bei. ten einer Vorzugswahl, die ihrerseits Zugleich überbietet die Freundschaft einen Habitus zur Voraussetzung hat. die Gerechtigkeit und aufgrund dieser Der Freund will das Gute für den ande- Überbietung ist sie die höchste Form ren um des anderen willen. Das die der Gerechtigkeit. Aristoteles bestimmt Freundschaftsliebe begründende Wollen die Differenz zwischen Freundschaft des Guten für den anderen um des an- und Gerechtigkeit derart, dass die deren willen heißt „Wohlwollen“. Aber Freundschaft nur das Mögliche verlan- Wohlwollen allein ist noch nicht ge, nicht aber das Rechte. In distributi- Freundschaft. Freundschaft fordert ver Hinsicht erhält der Freund also mehr als Wohlwollen, das auch einer mehr, als ihm der Gerechtigkeit nach fremden Person entgegengebracht wer- zusteht, und in retributiver Hinsicht be- den kann; sie erfordert sowohl gegen- hält er mehr, als er der Gerechtigkeit seitige Bekanntgabe der Gesinnung, nach zurückgeben müsste. Freundschaft denn Freunde müssen von der Liebe ist eine freiwillige Ungerechtigkeit zu- zueinander wissen, als auch Umgang im gunsten des anderen. gemeinsamen Leben und ausreichend In der aristotelischen Bestimmung Zeit zum „Vertrautwerden“ im „gemein- der verschiedenen Formen der Freund- samen Zusammenleben“. schaft sind das Öffentliche und politisch So ist Freundschaft mehr als bloße Offizielle auf besondere Weise mit dem Erregung (Eros) oder Zuneigung. Sie be- Privaten verknüpft. Noch ist der Be- ruht auf einem moralischen Können. In reich des Hauses (oikos) nicht der Be- Das Thema Freundschaft macht sicht- der Freundschaft der Tugendhaften ver- reich des Privaten im modernen Sinne. lich Freude: Akademiedirektor Dr. Flo- halten wir uns zum Freund als dem an- Einerseits ist die philia das Band, dem rian Schuller (li.) und Professor Rüdiger deren Selbst so, wie er sich zu sich selbst jegliche Gemeinschaft ihre Kohäsion Safranski auf dem Podium. verhält. Voraussetzung der Freund- und Dauer verdankt, wie die Familie, schaft zu anderen ist die Freundschaft die Dorfgemeinschaft und die Polis, und

6/2010 zur debatte 33 schließlich auch das römische Impe- Freundschaft zur Nebensache. Nur die entge genstellt. Den anderen als seinen süchtigen Jahrhunderts in Deutschland rium, andererseits definiert sie eine Be- geistige Übereinstimmung der Weisen Nächsten zu lieben, der mir auch als der – verschämt, versteckt im Anhang zur ziehung von hoher Ausschließlichkeit ist Freundschaft, und in der Konse- Fernste, wenn nicht gar als Feind begeg- Tugendlehre der Metaphysik der Sitten: und moralischer Vorzüglichkeit. quenz sind alle Weisen Freunde, selbst nen kann, schließt die Trefflichkeit der Freundschaft sei eine „Tugend im klei- Eine solche spannungsreiche Einheit wenn sie einander nicht kennen – die einander Gleichen wie das Einverneh- nen“, eine „Vereinigung zweier Perso- zwischen den verschiedenen Formen soziale und politische Dimension der men zur wechselseitigen Vervollkomm- nen“ durch gleiche „wechselseitige Lie- der Freundschaft zerreißt erstmals in Freundschaft ist hier aufgehoben in die nung gerade aus. Weder Sympathie für be und Achtung.“ Er fügt hinzu, dass der römischen Welt. Zugleich mit dem ideelle Zusammengehörigkeit all derer, die Person des anderen, noch das Ver- man doch leicht sehe, dass sie ein Ideal Zerreißen des Bandes zwischen politi- die vom „gleichen Logos erfüllt“ sind. stehen seiner Eigenheit, sondern allein – der „Teilnehmung und Mitteilung“ am scher und moralischer Freundschaft dif- Von hier aus ist es nicht mehr weit zum wie das Gleichnis vom barmherzigen Wohl eines jeden sei, der sich durch den ferenzieren sich philia und eros. neuplatonischen Idealismus und zur Samariter zeigt – das tätige Erkennen ei- moralisch guten Willen auszeichnet. Die politischen Freundschaften wer- Verchristlichung der Freundschaft im ner Not, in der jeder Fremde zum Nächs- Freundschaft sei eine „Vereinigung“, den bei Cicero zu „unvollkommenen“ Gedanken der Nächstenliebe. ten werden kann, charakterisiert die und wenn sie auch nicht das „ganze Beziehungen. Solche begehre man aus Freundschaft im antiken Sinne war Struktur der christlichen agape. Nächs- Glück des Menschen“ bewirkt, so erhal- Bedürftigkeit und Schwäche, „damit im also gleichzeitig eine auf Tugend basie- tenliebe bedarf keines vorgängigen Ver- te sie doch durch ihre Aufnahme in die Geben und Nehmen von Wohltaten ein rende Beziehung und eine die Sphären stehens des anderen, der ja gerade nicht Gesinnung der miteinander Befreunde- jeder das, was er von sich aus nicht ver- des Gemeinschaftlichen umfassendes um seiner selbst willen, sondern als Bru- ten eine gewisse „Würdigkeit“. Mithin möchte, von anderen erhielte und dafür Phänomen. Sie war aber auch im emi- der und Schwester in Christo geliebt sei Freundschaft eine „Pflicht“ unter Gegendienst leiste.“ (Laelius). Gegen - nenten Sinn eine Angelegenheit des po- werden soll. Damit entsteht die für die Menschen. Sie sei zwar eine „praktisch- über kleinlichen Berechnungen, das litischen Alltags. Dem Bürger eines grie- mittelalterliche Moralphilosophie cha- notwendige Idee“ der Vernunft, die sich Empfangene und das Gegebene gleich chischen Stadtstaates, dem Untertanen rakteristische Entgegensetzung von ami- aber in der Ausübung als „unerreich- zu machen, zeichne sich Freundschaft der hellenistischen Großreiche, dem citia und agape. Um seiner selbst willen bar“ erweist. Definitorisch hält er fest, vielmehr durch ein verschwenderisches „cives Romanus“ der Republik war ein geliebt zu werden, sei Gott allein vorbe- dass Freundschaft „bei der Süßigkeit Tun aus, unbesorgt darum, etwas zu guter Freund das Beste. Ob als „Freund halten; alle anderen Dinge dieser Welt, der Empfindungen“ des bis zum „Zu- verlieren, in einer Weise, dass niemals des Königs“ in Amt und Würden oder die Menschen einbegriffen, sind nur als sammenschmelzen in einer Person sich eine Sättigung eintreten dürfe. Vieles tä- im Geflecht der Patronats- und Klien- Mittel anzusehen, um zum letzten Ziel, annähernden wechselseitigen Besitzes“ ten wir um der Freunde willen, was wir telbindungen, man war durch die der vita beata, zu gelangen. Die Privile- doch zugleich etwas so „Zartes“ sei, unseretwegen niemals tun würden. Sol- Freundschaft vor dem Absturz ins sozi- gierung der auf tugendhaftem Verhalten dass sie keinen Augenblick vor Unter- cherart Hingabe müsste jedoch, so Ci- ale und politische Nichts gesichert. – politische Dimensionen nicht aus- brechung sicher ist – auf alle Fälle aber cero, zugleich von solchen Triebbindun- schließende – basierenden Beziehungs- kann die Liebe in der Freundschaft gen an die Begierden anderer unter- II. Nächstenliebe und Freundschaft form der Freundschaft wird aufgehoben; nicht Affekt sein: weil dieser in der schieden werden, die nicht einmal dem Freundschaft, die ihren Ausgangspunkt Wahl blind und in der Fortsetzung „ver- Kalkül eines Tausches unterworfen sind In der antiken, an Aristoteles orien- in der weltlichen amicitia nimmt, findet rauchend“ ist. Die „Süßigkeit der Em- und „Wahnsinn“ genannt werden müss- tierten Tradition, sind Freunde, wie schließlich ihre letzte Erfüllung in der pfindung“ soll durch Forderungen der ten. Denn „Wahnsinn“ sei es gewesen, man in der Rhetorik nachlesen kann, Gemeinschaft mit Christus. „Achtung“ eingeschränkt werden, um Leute, die Freud und Leid teilen und so zum Ausdruck des „inneren herzlich die gleichen Freunde und Feinde haben. III. Freundschaft als gemeinten Wohlwollens“ zu werden. In der antiken, an Aristote- Die philia bringt man denen entgegen, „innige Verschmelzung“ Freundschaft bewirkt somit potentiell les orientierten Tradition, die dieselben Feinde haben und diesel- nicht mehr das „ganze Glück des Men- ben Leute hassen, wie wir selbst, und Am Beginn des modernen Freund- schen“. Die praktische Glückseligkeits- sind Freunde, wie man in denen, die von den von uns gehassten schaftsverständnisses steht Montaignes beförderung als dem eigentlichen Ziel der Rhetorik nachlesen Menschen gehasst werden. Hier erfolgt Essay De l’amitié. Ein Versuch, die von der Freundschaft wird zum äußeren Be- die Bestimmung der Freundschaft nach Schmerz und Sehnsucht begleitete zeigen des Wohlwollens. kann, Leute, die Freud und dem Freund-Feind Schema. Diese Be- Trauer um den Verlust seines innig ge- Wer sie deshalb weiterhin als eine in Leid teilen und die gleichen stimmung ist exklusiv, sie grenzt von liebten, einzigartigen und deshalb uner- ihrer „Reinheit“ realisierbare Vereini- anderen ab, von einer feindlichen Um- setzbaren Freundes Étienne de la Boéti gung beschreibt und anstrebt, reitet das Freunde und Feinde haben. welt. Die Liebe ist dem inneren Kreis durch innere Reflexion zu überwinden. „Steckenpferd der Romanschreiber“. vorbehalten, nach außen richtet sich Montaigne will den gestorbenen Freund Freundschaft bestimmt Kant als was ein gewisser Caius Blossius einge- der Hass. Hass und Liebe halten sich vorm Vergessen bewahren. Indem er Pflicht zur Mitmenschlichkeit, in der die standen habe, dass er nämlich den Tibe- gegenseitig die Waage, dadurch wird die das verlorene Gegenstück eines freund- Beziehung zum wechselseitigen Glück rius Gracchus so sehr schätze, dass er Freundschaft zu einer abhängigen Vari- schaftlichen Ganzen herauf beschwört, eingeschlossen ist. Sie bleibt jedoch fak- Feuer ans Kapitol legen würde, wenn able der Feindschaft, je größer der Hass bringt es im selben Augenblick auch tisch auf das Verhältnis zwischen ein- dieser das wolle. In solchen Fällen er- auf die Feinde und von den Feinden, den fraglichen Punkt, die wesentliche zelnen beschränkt, unterhalb der Sphä- weist sich das „Band der Freundschaft“ desto größer die Liebe der Freunde. Differenz zu Aristoteles zum Ausdruck. re der gesellschaftlichen Verhältnisse. vielmehr als Hörigkeit bloßer Gefolg- Das Christentum tritt gegen dieses Bei dem, was man gewöhnlich Freunde Die „moralische Freundschaft“ zweier schaft. Gegen solche „Fesseln“ der Hö- Exklusivmodell der Freundschaft an. und Freundschaft nennt, handelt es sich Personen ist die vollkommenste Ver- rigkeit versucht Cicero die Freundschaft In der Bergpredigt wird das auf dem nach Montaigne allenfalls um „nähere wirklichung menschlicher Gesellschaft- von einem selbstgenügsamen, selbstbe- Freund-Feind-Gegensatz beruhende Bekanntschaften“, die bei gewissen An- lichkeit in ihrer Spannung zur mensch- wussten Ich-Ideal her zu begründen. Modell der griechischen Freundschaft lässen oder um irgendeines Vorteils wil- lichen Ungeselligkeit. Einerseits muss Indem von dieser Autonomie her Inter- suspendiert. „Liebet Eure Feinde, tut len geknüpft wurden. Bei der Freund- die Freundschaft der Gesellschaft ent- essenbünde oder kameradschaftliche Gutes denen, die euch hassen und betet schaft hingegen, von der Montaigne gegengestellt werden; denn in ihr „ge- Loyalitäten, Gruppenzwänge und höri- für die, welche euch verfolgen und ver- spricht „verschmelzen zwei Seelen“ und nießt“ der Freund, der sich dem Freund ge Gefolgstreue von der Freundschaft leumden.“ (Matth.5,44) Seine Bekräfti- gehen derart „ineinander auf“, dass sie eröffnen kann, „eine Freiheit, der er in unterscheidbar werden, nimmt die gung hat diese Aufforderung im ersten sogar „die Naht nicht mehr finden, die dem großen Haufen entbehrt“, anderer- Autonomie der wahren Freundschaft Brief des Apostels Paulus an die Korin - sie einte.“ Derart vollzieht sich eine Ver- seits kann sich der Freund zum „Men- den Status eines Ideals an. ther erfahren. Christus, der seine Jünger wandlung der normativen Hinsicht der schenfreund“ überhaupt entfalten – was Von der vollkommenen, quasi inti- und Apostel ausdrücklich mit „Freun- vollkommenen Freundschaft in das Pa- mehr ist als bloße Philanthropie. men, Freundschaft, wie Cicero sie defi- de“ anredet, sah in der Ausgießung des radigma vollkommener Vereinigung: Unter der Perspektive der Pflicht- nierte, denn amicitia leitet sich von „Heiligen Geistes“ die Voraussetzung eine Steigerung der Vertrautheit der ethik, die sich ihrer moralische Prinzi- amare her, sonderten sich allmählich dafür, dass eine andersartige Freund- Freunde zur Intimität einer Seelenver- pien apriorisch zu vergewissern hat, die öffentlichen Wohltaten, die benefi- schaft unter Christen möglich wurde: schmelzung. Die Zahl der Freunde re- nimmt Kant somit das vor allem von cia, ab. Das Zeugnis dafür liefert Sene- Ihr seid in mir, so wie ich in euch bin. duziert sich deshalb auf einen, der der deutschen Aufklärung formulierte ca, der Verfasser von De beneficiis. Er Der „Heilige Geist“ ist das „Worin“ der Freund wird zum Doppelgänger; er ist sozialutopische Glückseligkeitsverspre- nennt einmal die Liebe, „wie sie vor al- Freundschaft und der Liebe, die chias- „kein anderer“. chen der Freundschaft zurück. Kritisch len von den Dichtern beschrieben“ matische Verschränkung einer geistigen Das nunmehr kontingente Selbst ent- wendet er sich somit gegen den, vor wird, eine unwiderstehliche, ja verhee- Gegenseitigkeit. Derart bestimmt, ist die deckt im Verlust des Freundes eine allem in der zweiten Hälfte des 18. Jh. rende Leidenschaft, eine Art Krankheit Freundschaft nicht mehr feindschaftsab- Konstanz, die ihm der Freund verbür- in Deutsch land betriebenen „Freund- des Geistes. Im Unterschied dazu wür- hängig und nicht mehr auf eine ver- gen konnte, und die nun allein nur schafts kult“, der in der Forderung nach digt er die Beziehung zum Freund, in wandtschaftliche Enge beschränkt. Im noch der Akt des Schreibens zu kom- Verbrüderung der ganzen Menschheit der die Einzigartigkeit seiner Person Kapitel 13 des Korintherbriefs heißt es pensieren vermag. Das Fundament der gipfelte. Freundschaft wurde hier zum nicht verloren geht, als intime Form ei- in Bezug auf die Liebe, die sich vom Freundschaft ist nicht mehr die Tugend Surrogat gegenwärtiger und Modell zu- ner exklusiven Gemeinschaft. Ihre Aus- eros, der Geschlechtsliebe, abgrenzt; sie des Freundes, nicht der Nutzen, die künftiger Gesellschaftsgestaltung, quasi schließlichkeit und Intimität lässt sich sei Liebe, die geduldig ist, gütig, neidlos, Freude und die Liebe, die sie beiden eine Alternative zur höfisch-konventio- nur noch schwer mit der politischen Di- nicht aufgeblasen und nicht unschick- verspricht, sondern das Streben nach nellen Lebensform. In der Freundschaft mension Freundschaft vermitteln. Für lich. Sie sucht nicht das Ihre und lässt emphatischer Erfüllung der Zweisam- sollten im Unterschied zur höfisch stän- sie hält Seneca einen dritten Begriff be- sich nicht erbitten. Sie erträgt alles. Sie keit: „Er (der Freund – K.-D. Eichler) dischen Gesellschaft differente Ach- reit; die Gabe der Wohltaten (beneficia), glaubt alles. Sie hofft alles. Sie duldet ist ich.“ Es ist dieser Gedanke der voll- tungskriterien gelten: Sein statt Schein, das meint ein Wohltun, dessen Wert in alles. Sie hört nimmer auf. In der und kommenen Vereinigung der Freunde, Authentizität anstelle von Standeszuge- ihm selbst, in der ihr zugrunde liegen- durch die Liebe kann der Mensch er- der den Bruch mit der Antike markiert. hörigkeit, Kommunikation als Selbst- den Gesinnung liegt. kennen, weil er erkannt ist. Mit Paulus expression statt konversationsgebunde- Bei den Stoikern, mit ihrer Unter- wird die antike Freundschaftsbestim- IV. Eine „kleine Tugend“ ner Schmeichelei und Intrige, Vertrauen scheidung zwischen dem sittlich Guten mung in Frage gestellt. statt Angst. und den adiaphora, den belanglosen Es ist das biblische Gebot der Nächs- Der von der gesellig-ungeselligen Na- Bei Hegel wird nun Freundschaft als Äußerlichkeiten, die ohne ethischen tenliebe, das sich entschieden dem an- tur des Menschen ausgehende Kant, no- Basis sittlichen Handelns obsolet und Wert sind, wird dann die „wirkliche“ tiken Verständnis von Freundschaft tiert – am Ende eines freundschafts- deshalb wird in der Rechtsphilosophie

34 zur debatte 6/2010 der sich in der Ehe und Familie institu- auf den Plan. Bisher war der Mensch, so „gute Freundschaft“ erfordert eine be- tionalisierenden Liebe der Vorzug gege- heißt es im Zarathustra, nur der Kame- stimmte Unterbrechung der Wechselsei- ben. Zwar sei Freundschaft auf der Stu- radschaft fähig. Darüber gilt es hinaus- tigkeit und Gleichheit, einen Bruch mit Presse fe der „Empfindungen“, der exemplari- zugehen. Man kann darüber hinausge- jeder Verwechslung oder Vermischung sche Fall einer Beziehung, an der deut- hen, indem man dem Feind eine „un- von Ich und Du. Die Freundschaft lich wird, inwiefern ein Subjekt erst endliche Gabe“ zuteil werden lässt. „Es könnte somit der Raum sein, in dem die durch „Beschränkung“ auf ein Anderes gibt Kameradschaft, möge es Freund- Singularität der Beziehung zwischen Arnulf Rainer zu vollständiger Freiheit gelangt, aber schaft geben!“ Die Gabe ist es, was die dem Ich und dem Anderen, eine Bezie- ihre Bindung an die Emotionalität Freundschaft gibt, es bedarf der Gabe, hung von Asymmetrie und Alterität, Katholische Nachrichtenagentur macht sie zugleich untauglich zum Pa- soll es Freundschaft geben – jenseits al- größter Vertrautheit und Ferne, das 23. September 2010 – Sein Markenzei- radigma einer dauerhaften und stabilen ler Kameradschaft. Ein solches parado- „Zwischen“ von Ethik und Politik arti- chen sind Übermalungen. Er verändert, rechtlich sanktionierbaren Beziehung. xes Verhältnis besteht für Nietzsche, wie kuliert werden könnte. verfremdet, löscht mit schroffem Pinsel- In der Liebe und der Freundschaft „ist später für Derrida, in der Freundschaft. Es ist die Feststellung Hannah gewirr und macht dabei auch vor christ- man nicht einseitig in sich“, sondern In ihr ist die Verantwortung gegenüber Arendts, dass die Menschheit sich nicht lichen Motiven nicht halt. Christus, Ma- man beschränkt sich gern in Beziehung dem Anderen in seiner Einzigartigkeit in der Brüderlichkeit erweist, sondern ria, Engel und Kruzifixe bearbeitet er auf ein anders, weiß „sich aber in dieser absolut. Der Freund hat das Recht auf in der Freundschaft und dass die bis zur Unkenntlichkeit. Die Rede ist als sich selbst.“ Es ist aber ihr Bezug zur Andersheit, die Freundschaft ist nicht Freundschaft nicht intim persönlich ist, von Arnulf Rainer, dem bekanntesten Emotionalität, ihr ungeregelter und abhängig von einem regelgerechten Ver- sondern politische Ansprüche stellt, d.h. österreichischen Künstler der Nach- durch kontrollierte Eingriffe nicht gene- halten und wird nicht an übergeordne- auf die Welt bezogen bleibt, die zum kriegszeit. (…) Bei den 32 in der Katho- rierbarer Charakter, der sie gegenüber ten Normen gemessen. Nietzsches Ver- Vergleich mit Derrida einlädt. Arendts lischen Akademie ausgestellten Expona- der Familie unterlegen macht. Die Sitt- ständnis der Freundschaft richtet sich politischer Begriff von Freundschaft sig- ten hat Rainers Lebensgefährtin Hanne- lichkeit dürfe nicht die Gestalt der Zu- kritisch gegen das antike Modell der nalisiert – angesichts der Katastrophen lore Ditz mit Blick auf den Ort eine fälligkeit haben, um sie als Realisierung Nähe und der moralischen Vorzüglich- des 20. Jahrhunderts – eine Politik jen- sorgfältige Auswahl getroffen. Schon von Freiheit bestimmen zu können. In- keit des Freundes. Vor allem ist der seits des Brüderlichkeitsprinzips und ih- lange waren in Deutschland nicht mehr sofern scheint es nur konsequent zu rer Privatisierung. Durch die Einbin- so viele Totenmasken aus dem Werk des sein, wenn Hegel in der ersten Sphäre dung der Freundschaft in den Bereich Künstlers zu sehen. „Spätestens auf der Sittlichkeit nur dasjenige Liebesver- Freundschaft muss deshalb des Öffentlichen und Politischen, in An- dem Sterbebett“, sagt sie, „besinnt sich hältnis thematisiert, das im Ehevertrag etwas anderes sein als Bru- lehnung an Aristoteles’ Begriff der poli- jeder seines Glaubens.“ Insofern passen die Form einer rechtlichen Institution tischen Freundschaft, wird jedes natura- die Bilder gut in einen Raum, an dem angenommen hat und der „Hitze der derschaft, auf die sie bisher lisierte Gemeinschaftsmodell, jedes Mo- über Glaube und Religion nachgedacht Leidenschaft“ und der Emotionalität verpflichtet wurde. dell der Abstammung, das auf Herkunft, wird. Daniela Venner der Freundschaft enthoben ist. Geschlecht, Blut und Boden zurück- Damit wird das aristotelische Modell greift, als Modell des Politischen zurück- einer „vollkommenen, ersten Freund- Freund – kritisch gegen Montaigne – gewiesen. Arendt verbindet die Mensch- Sonntagsblatt schaft“ als politisches Modell obsolet. kein „zweites Ich“, sondern der „Ande- lichkeit mit der Freundschaft und nicht 4. Oktober 2010 – Seine Übermalungen Diesen Gedanken formulierte jedoch re“. Man solle in seinem „Feind“ den mit der Verwandtschaft, die Freund- haben den heute 80-jährigen Österrei- Aristoteles schon selbst. „besten Freund“ haben, heißt es nun. schaft mit dem Politischen statt mit dem cher zur Kunstikone der Gegenwart In ihrem Ursprung meint „erste Die Differenz ist primär gegenüber der Privaten. Familie oder Verwandtschaft weltweit gemacht. Arnulf Rainers gesti- Freundschaft“ Freundschaft zwischen Identität. Einsamkeit ist die Vorausset- zum Modell des Politischen zu machen, sche Malerei, die er in den 1950er Jah- zwei Freunden. Je größer die Anzahl zung von Freundschaft. Freundschaft heißt ein natürlich gegebenes Band, ren entwickelte, ist seither zu seinem der Freunde, desto geringer die Chan- manifestiert sich im Widerstreben gegen eine präpolitische Einheit zum Aus- Markenzeichen geworden. Was auch cen einer ersten Freundschaft. Diese ist den Anderen: Nähe heißt nicht nachzu- gangspunkt zu nehmen. Freunde sind immer das eigentliche Anliegen seiner intensiv und nicht extensiv, d. h. es gibt geben, weder der eigenen Sehnsucht Menschen meiner Wahl, Familien Men- Kunst sein mag – es ist jedenfalls noch nicht viele „erste“ und „beste“ Freunde. noch der des Anderen. schen meiner Art. Freundschaften kön- nicht allzu lange her, dass der tiefe Gra- Der unwiderstehliche Trieb oder das Gleichzeitig kann die Freundschaft nen sich auflösen. Sie sind nicht sicher ben zwischen moderner Kunst und Re- Begehren, zusammen zu sein, einander nicht auf ihre Singularität reduziert vor Unterbrechungen und beruhen auf ligion als unüberwindbar galt. Doch seit ständig zu sehen, niemals voneinander werden. Der einzigartige Andere wird individueller und freier Wahl unabhän- den 1980er Jahren richtet Rainer seinen getrennt zu sein, miteinander zu leben, immer auch im Licht allgemeiner Prin- gig von allen vorausgesetzten Bedingun- Künstlerblick vermehrt auf Marien- und resultiert aus einer freien und von Ge - zipien betrachtet. Die notwendige gen und Bestimmungen der Geburt, des Engeldarstellungen und er illustrierte genseitigkeit getragenen Wahl. Die von Wahrnehmung des Anderen im Kontext Geschlechts, der Herkunft und der Reli- Ende der 1990er Jahre für den Weltbild- Aristoteles beschriebene erste Freund- einer moralischen und rechtlichen Ord- gion. Freunde verbindet ein gemeinsa- verlag die Bibel. schaft ist deshalb auch sowohl mora- nung, jenseits der Intimität, hebt aber mes Interesse an etwas außerhalb des Angelika Irgens-Defregger lisch als auch nicht moralisch. Sie ist es, die ursprüngliche Singularität der Be- Persönlichen und Privaten. Der Raum insofern Freunde füreinander all das ziehung nicht auf. In der Freundschaft der Freundschaft öffnet sich im Dialog, tun, was in der Ethik als „gut“ bzw. tu- manifestiert sich somit eine Aporie, die im gemeinsamen Sprechen über die An- gendhaft bewertet wird, sie ist es nicht, sie bei Derrida in seinem großartigen gelegenheiten dieser Welt – ein Spre- da die Motivation der Freunde keine Buch Politik der Freundschaft zum chen, das kein Befehlen und ein Hören, moralische, sondern eine emotionale ist. Muster einer „kommenden Demokra- das kein Gehorchen ist. Wenn Politik Nach Aristoteles ist eine Person dann tie“ werden lässt. nicht zum Sieg des Völkischen gegen - am freiesten, wenn sie nichts braucht Im Mittelpunkt der derridaschen De- über dem Staat degenerieren will – plu- und nicht begehrt, weil sie alles bereits konstruktion des Freundschaftsbegriffs ralitätsfeindlich nach innen und gleich- besitzt. Wahrhafte Selbständigkeit kann steht der von Diogenes Laertios, Mon- heitsfeindlich nach außen – muss die unter Menschen nur dem Tugendhaften taigne, Kant, Nietzsche u. a. immer wie- Pluralität als Prinzip der Politik erhal- zugeschrieben werden. Die vollkomme- der zitierte Satz „O meine Freunde, es ten bleiben. ne Freundschaft ist eine Beziehung zwi- gibt keinen Freund.“ Worum es Derrida Freundschaft fordert statt Verschmel- schen zwei autarken Personen. Deshalb in seiner Relektüre dieses Zitats geht, ist zung die Achtung des Anderen, die stellt sich die Frage, warum derjenige, nichts Geringeres als eine Dekonstruk- Distanz verlangende und aus Distanz re- der glücklich ist, noch des Freundes be- tion des alteuropäischen Modells der sultierende Achtung vor der Differenz. darf? Nicht aus einem Bedürfnis, Man- Demokratie, das von einem spezifischen Die Mehrdimensionalität von Sich- gel oder Defizit sucht jemand einen Freundschaftsverständnis getragen ist. ten, die Unersetzbarkeit von Indivi- Freund, sondern die besten Freunde le- Dessen Erbe könne man in der Gegen- duen, die Unbedingtheit der Individua- zur debatte ben vielmehr im Überfluss. Zu den Tu- wart nur dann antreten, wenn man es lität, die Kontinuität des Gesprächs, das genden des Freundes gehören die Tu- auf seine paradoxen Implikationen hin Interesse an einer gemeinsamen Welt Themen der Katholischen Akademie genden der Großzügigkeit und der Frei- dekonstruiert. Die Demokratie, der der und die Unwiderruflichkeit der selbst in Bayern giebigkeit, die Freundschaft erst stiften. Weg bereitet werden soll, muss offener gewählten Freundschaft steht deshalb Im Bereich des ökonomisch Notwendi- sein für das Heterogene, das Asymme- über jeder Wahrheit. Denn gäbe es die Herausgeber, Inhaber und Verleger: gen ist die Freundschaft nicht anzutref- trische, bereit, die bisher immer in der eine Wahrheit, dann wäre es um die Katholische Akademie in Bayern, München fen. Sie ist ein Surplus zum Ganzen, ein Kakophonie der Vielen untergehende Vielheit der Meinungen, die die Welt Direktor: Dr. Florian Schuller Geschenk, die von jenen gegeben und Stimme des Freundes zu achten und zwischen den Menschen erst entstehen Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser empfangen wird, die schon mehr besit- zu respektieren. Für die alte Klage „O lässt, damit um das Gespräch und damit Layout: Josef Breuer, Augsburg Fotos: Akademie zen als sie brauchen. Nicht der eigene Freunde, es gibt keine Freunde“, die um die Freundschaft und damit um die Anschrift von Verlag u. Redaktion: Mangel, sondern das Sein des Anderen sich im Gegensatz zum Inhalt der Aus- Menschlichkeit geschehen. „ Katholische Akademie in Bayern, löst die Liebe zum Freund aus. Die erste sage in messianischer Erwartung immer Mandlstraße 23, 80802 München Freundschaft gehört nicht in die Domä- noch an die „Freunde der Zukunft“ Postanschrift: Postfach 40 10 08, ne des Tauschs, sie gehört in das Regis - richtet, wird deshalb eine neue Lesart 80710 München, Telefon 089/381020, Telefax 089/38102103, ter der Gabe und des immerwährenden vorgeschlagen: „Es gibt niemals einen E-Mail: [email protected] Geschenks. Damit bricht die Freund- einzigen Freund.“ Druck: Kastner AG – Das Medienhaus, schaft mit der traditionellen Wechsel - Freundschaft muss deshalb etwas Schloßhof 2, 85283 Wolnzach. seitigkeit des Tauschverhältnisses. anderes sein als Bruderschaft, auf die zur debatte erscheint zweimonatlich. Kostenbei- sie bisher verpflichtet wurde. In ihr trag: jährlich € 25,– (freiwillig). Überweisungen V. Freundschaft und Differenz muss die Differenz aufscheinen, die Tat- auf das Konto der Katholischen Akademie in Bayern, bei der LIGA Bank: Kto.-Nr. 2 355 000, sache, dass zwei verschiedene autono- BLZ 750 903 00. Nachdruck und Vervielfältigun- Im Umkreis der Unterscheidung von me Menschen, freiwillig und ohne Si- gen jeder Art sind nur mit Einwilligung des Her- „Freund“ und „Kameraden“ tritt dieses cherheit eines wahren Wissens, ohne ausgebers zulässig. aristotelische Erbe bei Nietzsche wieder Zwang eine Beziehung eingehen. Die

6/2010 zur debatte 35 nicht das erreicht, was man erreichen Anhänger zu gewinnen. Jesus sitzt in Je- Von der Freundschaft zur Liebe. wollte. rusalem in einer anmutigen Gegend, Jede der Betrachtungsstunden ist und versucht auch, Anhänger zu finden. Der spirituelle Weg in den Exerzitien noch einmal in sich genau strukturiert Luzifer sagt, wir müssen die Welt be- und endet mit einem Gespräch, das kämpfen, und schickt seine Mannen des Ignatius von Loyola man halten solle. Im Exerzitienbuch Nr. aus. Jesus sagt, dass der Kampf ganz an- 54 heißt es: „Das Gespräch wird gehal- ders ausschauen wird. Der Kampf wird Michael Bordt SJ ten, indem man eigentlich spricht, so sein, dass wir vom Hochmut zur Demut wie ein Freund zu einem anderen gehen, dass wir in Armut leben, dass wir spricht, oder ein Knecht zu seinem unsere Feinde lieben. Diese christlichen Herrn, indem man bald um irgendeine Ideale werden anhand des Banners Jesu Gnade bittet, bald sich wegen einer etabliert, und als Gegenbild wird der Wenn man über Freundschaft und schlechten Tat anklagt, bald seine Dinge Kampf des Bösen sehr drastisch geschil- Spiritualität nachdenkt, kann man drei mitteilt und in ihnen Rat will.“ dert. Der Exerzitant soll dazu angeleitet verschiedene Fragestellungen voneinan- Das ist ein Gespräch, bei dem der werden, sich die richtigen Ideale zu der unterscheiden: Man kann erstens Exerzitant aufgefordert wird, direkt mit eigen zu machen und sich dem Banner fragen, inwiefern tiefe persönliche Jesus zu sprechen. Man soll sich also Jesu anzuschließen. Es geht auch hier Freundschaften notwendig eine spiri- vorstellen, Jesus stünde einem gegen- vor allem um Freundschaft, um Men- tuelle Dimension haben, zweitens, über, und jetzt solle man mit ihm schen, die sich gemeinsam für die richti- inwiefern tiefe persönliche Spiritualität sprechen, wie man mit einem Freund ge Sache engagieren, gemeinsame Ziele Freundschaften konstituiert und drit- spricht. Hier, in dieser Phase der Exer- verfolgen und sich dabei unterstützen. tens, inwiefern das spirituelle Leben zitien, spielt das Thema Freundschaft Menschen sollen eine Wahl treffen; sie selbst von dem, was Freundschaft ist, eine wichtige Rolle. Jesus ist der Freund sollen sich Gruppen zugehörig fühlen. her verstanden werden kann. und Lebensbegleiter, gegenüber dem Es geht nicht um einen individuellen Es ist die dritte Fragestellung, der ich man sich anklagen kann, der einen ver- Weg. Freundschaft fürs Leben; einer für mich in meinem Referat zuwenden steht und den man um Rat fragen kann. alle, alle für einen! Mit diesem Willen möchte. Ich werde dazu etwas zu den zur Nachfolge, zur Dienstbereitschaft, Exerzitien des Ignatius von Loyola sa- III. zur Freundschaft – Jesus als Freund, der gen, die er in seinem Exerzitienbuch mich begleitet, für dessen Sache ich aufgeschrieben hat. Ich möchte zeigen, Es geht in der zweiten Woche we- mich einsetze – endet die zweite Woche. wie sich im Prozess der Exerzitien für sentlich darum, Jesus kennenzulernen Allerdings gibt es eine charakteristi- denjenigen, der Exerzitien macht, die und ihm nachfolgen zu wollen, in wel- sche Änderung bei den Gesprächen ge- Gottesbeziehung von einer Freund- cher Lebensform auch immer. Diese gen Ende der zweiten Woche. Es ist schaftsbeziehung zu einer Liebesbezie- zweite Woche dient vor allem der Klä- nämlich auf einmal so, dass der Exerzi- hung verändert. Mein Thema ist also, rung der Lebensziele. Der Beter ver- tant nicht nur mit Jesus sprechen soll, dass eine reife, tiefe Vollform der Spiri- sucht, sich seiner eigenen Ideale klar zu sondern auch mit Maria. Er soll ein Ge- tualität, einer Mystik also, nicht adäquat Prof. Dr. Michael Bordt SJ, Professor für werden. Er versucht deutlich zu ma- spräch „zu unserer Herrin führen, auf mit dem Begriff der Freundschaft Ästhetik, Anthropologie und Geschichte chen, was vielleicht an seinen bisheri- dass sie mir Gnade von ihrem Sohn wiedergegeben wird. Ich möchte deut- der Philosophie, Rektor der Hochschule gen Idealen aus der Perspektive der und Herrn erlange, damit ich unter sein lich machen, dass es in der Beziehung für Philosophie SJ, München Botschaft Jesu kritisch zu sehen ist. Er Banner aufgenommen werde“. Hierzu zu Gott nicht um eine Freundschaft, versucht, seine Ideale zu klären und zu soll man ein Ave Maria sprechen, und sondern um eine Liebesbeziehung geht. reinigen, und daraus entsteht dann der dann um das Gleiche den Sohn bitten, „Prinzip und Fundament“ nennt, d.h. es Wille, Jesus nachzufolgen. Am Ende und dann wiederum um das Gleiche I. geht darum, überhaupt erst einmal in dieser zweiten Woche soll der Exerzi- den Vater bitten, damit er es gewähre. den Prozess des Betens und Meditierens tant dann eine Lebenswahl treffen, d.h., Das Exerzitienbuch ist kein Buch, das hineinzufinden. Dann, im zweiten Teil er soll sich überlegen, ob er beispiels- IV. man zur Erbauung lesen kann. Es ist der ersten Woche, wird der Beter mit weise Jesuit werden will oder ob er hei- größtenteils trocken und langweilig ge- der eigenen Sündhaftigkeit konfrontiert. ratet. Dieser Prozess soll nach dieser In der dritten Woche geht es in schrieben. Das Exerzitienbuch ist kein In der zweiten Woche werden zunächst zweiten Woche abgeschlossen sein. den Übungen um die Betrachtung des Lese-, sondern ein Übungsbuch. Das zwei Übungen vorgestellt: Den Ruf des Leidens Jesu. Dabei geht es nicht in Wort ‚Exerzitien‘ kommt auch aus dem Königs, den man vernimmt – und dann erster Linie darum, sich in die grauen- Lateinischen und heißt „Übungen”. So eine Betrachtung über die zwei Banner. Es sind mindestens sieben vollen Szenen der Passion hineinzuver- wie man sportliche Übungen machen An diese beiden Übungen, die jeweils Tage, an denen der Beter setzen, sondern das, was Jesus erlebt muss, wenn man seinen Körper fit hal- einen Tag beanspruchen, schließen sich hat, auf sein eigenes Leben zu beziehen. ten will, so sollte man sich eben auch dann Betrachtungen über das Leben sich mit den verschiedenen Das bedeutet, dass der Beter anhand geistlich-spirituell üben mit dem Ziel – Jesu an. Konkret sieht das so aus, dass Stationen der Passion inten- der Passionsereignisse sich selbst und das ist jetzt eine etwas traditionelle Sie anhand des Neuen Testaments das seinen eigenen Verletzungen, seinem Sprache von Ignatius – „den göttlichen ganze Leben Jesu entlanggehen und siv auseinandersetzt. eigenen Leiden und seiner Sterblichkeit Willen in der Einstellung des eigenen sich anschauen und versuchen zu ver- stellen soll. Das bedeutet für den Pro- Lebens zum Heil der Seele zu suchen innerlichen, wie Jesus reagiert, was er Das Schlussgespräch, das nach den zess der Exerzitien: Nachdem er in der und zu finden“. Vergleichen Sie es mit macht, wie er auf die Leute zugeht usw. Übungsstunden der zweiten Woche zu zweiten Woche seine Ziele und Ideale einem Yoga-Buch. Da denken Sie auch Derjenige, der die Exerzitien macht, halten ist, hat folgenden Text: „Ewiger geklärt hat – und dieser Prozess ist vor zuweilen, um Gottes willen, was sind verbringt die Tage damit, jeweils eine Herr aller Dinge, ich mache mit Eurer allem ein Prozess des Willens, geht es das für komische Übungen; das schaffe oder zwei dieser Geschichten aus dem Gunst und Hilfe Eurer unendlichen jetzt in der dritten Woche um eine Rei- ich ja nie. Sie müssen es machen, und Leben Jesu mit bestimmten Übungshil- Güte und vor Eurer glorreichen Mutter nigung des affektiven Lebens. dann entdecken Sie etwas, was Sie in fen zu meditieren. und allen heiligen Männern und Frauen Die dritte und vierte Woche ist am eine bestimmte Richtung führt. Dann kommt die dritte Woche, die des himmlischen Hofes mein Anerbie- besten verstanden, wenn wir sie als eine Im Exerzitienbuch finden sich ganz dem Leiden und Sterben Jesu vorbehal- ten, dass ich meinerseits will und wün- Schule des Liebenlernens verstehen. unterschiedliche Arten von Texten. Sie ten ist. Es sind mindestens sieben Tage, sche, und es mein überlegter Entschluss Lieben lernen ist aber etwas, das man finden Bibeltexte, Lebensbetrachtungen, in denen der Beter sich mit den ver- ist, sofern dies nur Eurer größeren nur sehr begrenzt lernen kann. Man Übungen aus der Tradition der Stoa schiedenen Stationen der Passion inten- Dienst und Lobpreis ist, Euch darin kann vielleicht üben, sich so verhalten usw. Jemand, der für 30 Tage Exerzitien siv auseinandersetzt. nachzuahmen, alle Beleidigungen und wie jemand, der liebt, aber man kann macht, um für sich auch die Frage zu Darauf kommt die vierte Woche, in alle Schmach und alle sowohl aktuale das Lieben nicht aktiv einüben. Was klären, was er eigentlich mit seinem Le- der es um die Betrachtung der Auferste- wie geistliche Armut zu erdulden, wenn man aber machen kann: Man kann sich ben machen möchte, der begibt sich 30 hungsperikopen geht, und die in einem Eure Heiligste Majestät mich zu einem in die Kehrseite der Liebe einüben, Tage lang in Stille, er redet nicht und eigenen Text von Ignatius gipfelt: „Be- solchen Leben und Stand erwählen und nämlich in das Leiden. Dabei gibt es soll jetzt die Tage damit füllen, dass er trachtungen, um die Liebe zu erlangen“. annehmen will.“ Es geht in der zweiten einen engen Zusammenhang zwischen betet. Die Besonderheit dieses Übungs- Soviel zum Aufbau der vier Wochen. Woche ganz wesentlich darum, das der Leidensfähigkeit und der Liebesfä- buches besteht darin, dass Ignatius diese Ideal des eigenen Lebens – man möchte higkeit eines Menschen, denn oft zeigt 30 Tage sehr genau strukturiert hat und II. reich sein, man möchte berühmt sein, sich, dass Menschen, die leidensfähiger für jeden Tag Übungen vorgibt – es sind man möchte Ehren haben, man möchte sind, auch liebesfähiger werden. Lieben 5mal eine Stunde täglich –in denen sich Das Problem des zweiten Teils der gesund sein, man möchte möglichst lan- und Leiden scheinen wie die beiden der Beter mit den Stoffen auseinander- ersten Woche, den Sündenbetrachtun- ge leben, man möchte irgendwie ange- Seiten einer Medaille zu sein. setzen soll, die er jeweils vorgelegt be- gen also, besteht darin, dass jede Sün- nehm leben – radikal zu konfrontieren Es gibt im Deutschen den treffenden kommt. Ein paar wenige dieser Übun- denbetrachtung sehr leicht egozentrisch mit dem Leben Jesu selbst, also ein Le- Ausdruck: „Ich mag dich leiden“, um gen werden wir kennenlernen. und ich-bezogen sein kann: Ich überle- ben in Armut, ein Leben ohne festes auszudrücken, dass man einen Men- Die Exerzitien sind in vier Wochen- ge mir, was ich in meinem Leben falsch Haus, ein Leben im Ausgeliefertsein. schen sehr gern hat. Dahinter steht der abschnitte gegliedert. Dabei ist das Wort gemacht habe oder welchen Idealen ich Das steigert sich dann natürlich noch in enge Zusammenhang zwischen Liebe ‚Woche‘ insofern nicht ganz zutreffend, nicht gerecht geworden bin. Sich ernst- der dritten Woche. und Leiden. Man ist bereit, die Bezie- weil es nicht immer sieben Tage sind. haft mit derartigen Fragen auseinander- Eine sehr charakteristische Übung für hung zu dem anderen zu halten, auch Man könnte eher sagen, es handelt sich zusetzen, kann zu einer tiefen Trauer die zweite Woche im Exerzitienbuch 136 wenn man in dieser Beziehung unter um vier Einheiten, wobei die erste Ein- oder phasenweise vielleicht sogar zu ist die schon erwähnte Zwei-Banner-Be- der anderen Person leiden wird. Es gibt heit noch einmal deutlich zweigeteilt einer Verzweiflung über sich und sein trachtung zu Beginn dieser Woche. Der auch einen sehr schönen Buchtitel des wird. Es geht am Anfang um das, was Leben führen. Diese Trauer betrifft aber Exerzitant soll sich folgendes vorstellen: Psychologen Horst-Eberhard Richter: man in der ignatianischen Fachsprache einen selbst. Man selbst hat versagt und Luzifer sitzt in Babylon und versucht, „Wer nicht leiden will, muss hassen“.

36 zur debatte 6/2010 Er trifft, was ich sagen möchte. Wer Das zweite: Die Liebe besteht in Mittei- nicht in der Lage ist, auch einen Lei- lung von beiden Seiten, nämlich darin, Wie gelingt und woran scheitert densweg auf sich zu nehmen, wird auch dass der Liebende mitteilt, was er hat, nicht wirklich lieben können. oder von dem, was er hat oder kann, Freundschaft? Die Bitte, die am Anfang der jeweils und genauso umgekehrt der Geliebte fünf Gebetszeiten der dritten Woche vom Liebenden“. Die Idee der 30 Exer- Herbert Will steht, ist dann, das erbitten, was ich will; zitientage ist, dass der Exerzitant am dasjenige, was eigentlich beim Leiden zu Ende dieses Prozesses eben soviel vom erbitten ist: Schmerz mit dem schmerz - Liebenden, also von Gott mitbekom- erfüllten Christus, Zerbrochenheit mit men hat, dass er ein Gespür davon be- dem zerbrochenen Christus, Tränen und kommen hat, was er ihm zu sagen hat, innere Qual über so große Qual, die dass er jetzt darauf antworten kann. Christus für mich erduldet hat. Diese Der Exerzitant soll um das bitten, was II. Texte werden natürlich oft ganz falsch ich will, und das wird sein, „um innere verstanden, als ob es darum ginge, Erkenntnis von soviel empfangenem Jedoch ist es auch die Chance von künstlich Emotionen zu forcieren. Da- Guten bitten, damit ich, indem ich es Freundschaften, dass sie neue und un- rum geht es aber nicht, denn dann wäre gänzlich anerkenne, in allem seine gött- geahnte Lebensperspektiven eröffnen. man nicht bei sich. Es geht um eine ei- liche Majestät lieben und ihr dienen Neu und ungeahnt deshalb, weil Freun- gene innere Reinigung des affektiven Er- kann“. Also eine ganz andere Sprache de verschieden, anders, fremd sind. Die- lebens, und anhand der Passion Chris ti als in der ersten Woche, wo es noch da- se Andersartigkeit (Alterität) der Freun- geht es um diesen eigenen Prozess. rum ging, Gnade vor der göttlichen Ma- de betont Jacques Derrida. Die Ver- jestät zu erlangen. Hier geht es um die trautheit und Ähnlichkeit der Familie V. Liebe. Das Schlussgebet der Exerzitien fehlt. Die familiären Beziehungen legen ist: „Nehmt, Herr, und empfangt meine uns auf Eigenarten, Rollen, Selbstver- In der vierten Woche geht es um die ganze Freiheit, mein Gedächtnis, mei- ständnisse fest. Freunde können uns Betrachtung der Auferstehung und da- nen Verstand und meinen ganzen daraus befreien und unsere persön- mit darum, die Liebe zu erlangen, jetzt Willen, all mein Haben und meinen Be- lichen Entwicklungsmöglichkeiten er- nicht von der negativen Konnotation sitz. Ihr habt es mir gegeben; Euch, weitern. Wir merken und genießen, wie des Leidens her, sondern von der positi- Herr, gebe ich es zurück. Alles ist Euer. anders auch vieles sein kann. Freunde ven her. Hier geht es nicht mehr um Verfügt nach Eurem ganzen Willen. spiegeln uns selbst in den Entwick- Dienst und um Nachfolge, wie noch in Gebt mir Eure Liebe und Gnade, denn lungsphasen unseres Lebens. Wir sehen der ersten und zweiten Woche, sondern dies genügt mir.“ an ihnen, wie wir älter werden, wie wir es geht um Hingabe, und es geht um die Damit komme ich zum Ende meiner uns verändern, wie sie sich verändern. Liebe Gottes. Es geht nicht mehr um sehr groben Skizze. Ich wollte zeigen, Ich möchte noch einen wichtigen die Freundschaft mit Jesus, sondern um dass gegen ein weit verbreitetes Vorur- emotionalen Aspekt erwähnen: die die Liebe Gottes, d.h., die Liebe des teil das Ziel der Spiritualität von Igna- Ambivalenz der Gefühlsregungen. Da- Exerzitanten zu Gott als Antwort auf tius von Loyola nicht darin besteht, den Dr. Herbert Will, Facharzt für Psycho- mit ist gemeint, dass gegenüber ein- Gottes Liebe zum Exerzitanten. Willen zu stärken. Das Ziel der ignatia- therapeutische Medizin und Psycho- und derselben Person Liebe und Hass, Im Zentrum, oder als Höhepunkt am nischen Spiritualität ist die Fähigkeit analytiker, München zärtliche und feindselige Regungen Ende der Exerzitien, stehen die Be- zur inneren Hingabe an Gott, ist das nebeneinander vorkommen – freund- trachtungen, die Liebe zu erlangen. Sie kontemplative Leben. Die Gottesbezie- schaftliche und feindschaftliche Aspekte sehen, wie sich die Sprache hier völlig hung ist keine Freundschaftsbeziehung in einer Beziehung zu einem anderen geändert hat. Die Übung beginnt mit ei- mehr, sondern Liebesbeziehung. „ Menschen. Hier hat die Erkenntnis der ner Vorbemerkung: „Zuerst ist es ange- menschlichen Verhältnisse im Verlauf bracht, auf zwei Dinge zu achten. Das Der Text ist die bearbeitete Abschrift der Geschichte große Fortschritte ge- erste ist, die Liebe muss mehr in die des mündlichen Vortrags von Professor macht. Wir haben gehört, dass in der Werke als in die Worte gelegt werden. Bordt. Antike – Beispiel Aris toteles – Freund- schaft und Zwietracht, Freund und I. Feind aufgeteilt wurden auf unter- schiedliche Menschen und Gruppen. Für unseren Zusammenhang möchte Entweder man ist freundschaftlich mit- ich Freundschaft definieren als eine Be- einander verbunden und hat gemeinsa- ziehung zu einem anderen Menschen, me Feinde oder man ist sich feind. die nicht familiär ist und nicht sexuell – Durch das Christentum tauchte eine im Sinne einer dauerhaften sexuellen ganz andersartige Vorstellung auf. Das Beziehung. Ideal der Nächstenliebe und der Fein- Damit führe ich eine entwicklungs- desliebe führte zu dem Versuch, den psychologische Perspektive ein. Freund- Hass zu überwinden. Oft wurde daraus schaften sind Beziehungen, die anders jedoch der Schluss gezogen, es sei eine sind als die familiären Beziehungen. Sie quasi reine Liebe möglich, die alle eröffnen eine dritte Möglichkeit, Bezie- feindseligen Regungen hinter sich lassen hungen zu erleben und zu gestalten. könnte. Heute wissen wir, dass das völ- Freunde sind anders als Mutter und lig unpsychologisch gedacht ist und die Vater und Geschwister. Die ersten Menschen überfordert. Wir wissen, dass Freundschaften beginnen am Spielplatz es keine menschlichen Beziehungen und im Kindergarten. Deren Ursprungs- gibt, in denen nicht ambivalente Ge- gestalt entwickelt und transformiert sich fühlsregungen gegenüber dem anderen im Lebensverlauf. Wenn es gut geht, ler- vorhanden sind, die also neben Anzie- nen wir Freundschaften zu pflegen und hung auch Abstoßung beinhalten. In zu gestalten. Ihr Ursprung ist aber im- der Primärfamilie ist der Ambivalenz- mer eine Faszination durch die andere konflikt gegenüber den nächsten Ange- oder den anderen. Es muss ein Funke hörigen oft ziemlich hoch. In Freund- überspringen. Was geschieht in einem schaften ist er in der Regel abgemildert, solchen Moment? Erkennen wir etwas die Widersprüche von freundlichen und Wichtiges von uns selbst im anderen feindseligen Regungen können besser wieder, sind wir zugleich von dessen reguliert werden. Wie Hannah Arendt Eigenart fasziniert? richtig bemerkt: Freunde sind Men- Freundschaften werden geprägt schen meiner Wahl, Familie sind Men- durch frühe Muster. Zum einen durch schen meiner Art. Die Tat sache, dass die ersten Kinderfreundschaften, noch wir Freunde wählen können und stärker durch die Primärbeziehungen zu Freundschaften auch beenden können, Eltern und Geschwistern. Diese prägen macht es leichter, miteinander auszu- unsere Beziehungserfahrungen lebens- kommen. „ lang und versehen uns mit Beziehungs- mustern, gemäß derer wir auch unsere Freundschaften spontan gestalten. In ihnen können wir vieles von dem wie- der erkennen, wie wir es in der Familie erlebt haben. Foto: akg-images Der heilige Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens: Dieses Porträt von Jacopino del Conte stammt aus dem Jahr 1556.

6/2010 zur debatte 37 Instant Messaging inzwischen so sehr Text und Körper Sind „Kontakte“ im Web 2.0 die neuen im Alltag der Jugendlichen und jungen Erwachsenen verankert sind, dass eine Ein letzter Kommentar betrifft das Freundschaften? Medienwissenschaft- Teilhabe so etwas wie eine Pflicht ist, Verhältnis von Körperlichkeit und Be- damit man den Anschluss an den ziehungspflege auf sozialen Netzwerk- liche Perspektiven Freundeskreis oder an die Mitschüler plattformen. oder Kommilitonen halten kann. Nicht zu leugnen ist, dass im Internet Alexander Filipović und durch mobile Endgeräte die Men- Kategoriale Explizierung sozialer schen heute einen Großteil ihrer mitt- Beziehungen lerweile unglaublich umfänglichen per- sönlichen Kommunikation körperlos Damit sie am sozialen Leben der führen. Wie sieht es mit der körperli- Einleitung jeweiligen Community überhaupt teil- chen Dimension von Freundschafts-Be- nehmen können, müssen die Nutzer ziehungen aus? Jugendliche, so Tobias Das Thema „Kontakte“ und „Freund- notwendigerweise gewisse Informatio- Kniebe in der SZ vom 28. 11. 2009, schaften“ im Internet wird besonders nen über sich preisgeben. Dazu geben „texten selbst, machen sich gegenseitig relevant in den sogenannten Sozialen die Profilmasken Kategorien vor. Diese messbar, durchsuchbar, evaluierbar. Netzwerken. Einschlägige Netzwerk- starren Kategorien machen das soziale Wer Kontakt finden und Sex haben will, plattformen sind StudiVZ, Facebook, Netzwerk einerseits organisierbar und muss sich erstmal im sozialen Netzwerk Wer-Kennt-Wen oder XING. Diese An- durchsuchbar und dienen letztlich öko- anmelden, muss auffindbar werden, sei- gebote erlauben es ihren Nutzern in nomischen Interessen der Betreiber. Sie ne Träume und Wünsche in Daten ver- unterschiedlicher Art und Weise, Selbst- fördern andererseits aber auch die wandeln.“ darstellung und Beziehungspflege mit- Selbstdarstellungen durch einfache und Diese Diagnose finde ich hoch inter- einander zu kombinieren. Am Anfang leicht verständliche Kategorien. Online- essant, weil sie die Ritualisierung von steht dabei immer eine eigene Profilsei- Freundschaften sind in dieser Hinsicht Beziehungsarbeit durch und im Neuen te mit einem frei wählbaren Foto und durchaus anders als Offline-Freund- Netz treffend auf den Punkt bringt: Die einigen persönlichen Informationen. In schaften: Netzwerkplattformen als da- Umwandlung von Träumen und Wün- eine Kontaktliste nimmt man Freunde tenbankgestützte Anwendungen fordern schen in Daten und die Einbindung die- und Bekannte auf. Durch das Einstellen „eine Explizierung von sozialen Bezie- ser in ein soziales Netzwerk hängt dabei von Fotos und Statusmeldungen teilt hungen“. „Andere Nutzer müssen expli- natürlich von den Möglichkeiten und man diesen Freunden und Bekannten zit als Kontakt bzw. Freund bestätigt den Konventionen einer Plattform ab. das eigene Befinden mit, liest derglei- werden, um erweiterte Kommunika- Freundschaft, lockere Bekanntschaft chen wiederum bei jenen und kommen- tionsmöglichkeiten nutzen oder selekti- und Intimität sterben natürlich nicht tiert z. B. die eingestellten (Urlaubs-, ven Zugang zu Informationen gewäh- aus, aber die neue Symbolwelt sortiert Familien- oder Party-) Fotos. Empiri- ren zu können.“ die Situation in Teilen neu. Dadurch sche Untersuchungen zeigen dabei: Daher bedeutet diese technisch be- wird die Faszination von persönlichen Freundschaften werden im und durch Dr. Alexander Filipović, Akademischer dingte Anforderung, dass die Unterstüt- Geheimnissen und dunklen Stellen nur das Internet nicht entwertet und ver- Rat am Institut für Christliche Sozial- zung des alltäglichen sozialen Umgangs noch größer: Der Vampir Edward aus schwinden auch nicht. Soziale Netz- wissenschaften der Universität Münster durch Blicke, Körperhaltung und Gestik den Twilight-Filmen, so Kniebe weiter werkplattformen stellen ein Hilfsmittel nicht genutzt werden kann. Oder auch (Zitat) „gilt in der Highschool als un- dar, wie Freundschaften und Bekannt- anders: In der Schule oder bei einer Ta- durchschaubar, fremd und asozial, seine schaften durch Kommunikationsmög- gung müssen wir üblicherweise nicht Daten fehlen. Dass man so einem aber lichkeiten unterstützt werden. Mitschüler und Kommilitonen, der Kol- genau festlegen und ausdrücken, welche trotzdem nahekommen und dabei Ge- legen oder der Bekannten aus Vereinen, Qualität die Beziehung zu unserem heimnisse entdecken könnte, die sich Empirische Einsichten Jugendgruppen und Nachbarschaft. kommunikativen Gegenüber genau hat. im Endlos-Chat der modernen Bezie- Freunde aus der Offline-Welt sind ein Wir können je nach Situation die Bezie- hungswelt gerade nicht mehr abbilden Zunächst zu ein paar wesentlichen wichtiger Teil der Online-Kontakte, hung laufen und sich entwickeln lassen lassen; dass hinter all dem Text dann empirischen Einsichten (ARD/ZDF aber eben nur ein Teil. und nutzen dafür sehr intensiv Gestik, doch eine archaische Begegnung wartet, Online Studie) mit dem Fokus auf die Allgemein ist festzustellen, dass die Mimik, Körpersprache und sind sehr dass so etwas herrlich Reales wie Blut Sozialen Netzwerke: Formen der onlinebasierten zwischen- sensibel, welche Informationen in wel- getauscht wird – auch das könnte eine menschlichen Interaktion so vielfältig cher Situation angebracht sind. Freund- Erklärung für das Vampirfieber sein.” ț 2/3 aller 12- bis 24-Jährigen ist täg- sind wie auch außerhalb des Internets: schaften können außerhalb des Inter- Die „herrlich reale“ Begegnung zwi- lich online Die jungen Leute „hängen ab“, sie flir- nets unter Umständen sogar davon le- schen Menschen jenseits des (elektroni- ten und streiten sich, es wird gelästert ben, dass die Art der Beziehung nicht schen) Textes, aber nicht völlig ohne Von den Onlinenutzern ab 14 Jahren und bewundert, in manchen Fällen ausdrücklich zum Thema gemacht wird ihn: eine angemessene und ganz schöne in Deutschland nutzen 13 % täglich eine auch beleidigt oder gemobbt. Für das und anderen dargestellt wird. In sozia- Beschreibung von Freundschaft in Zei- Netzwerkplattform. Mindestens selten Verhältnis von Online- und Offline- len Netzwerken ist diese Freundschafts- ten des Internets. „ nutzen Netzwerkplattformen 81 % aller Freundschaften ist dabei entscheidend, bekundung öffentlich und vom Freun- 14- bis 19-jährigen Onliner; dies tun dass die sozialen Netzwerke und das deskreis einsehbar. auch 67 % der 20- bis 29-Jährigen und noch 29 % der 30- bis 39-Jährigen. Im Vergleich der Daten von 2007 – 2009 zeigt sich in diesem Bereich der Internetnutzung der höchste Zuwachs. Facebook hat am 5. Februar 2010 die 400-Millionen-User-Grenze über- schritten; die StudiVZ Nutzerzahlen in Deutschland im Juni 2010: 9,54 Millio- nen. Durchschnittlich hat ein Nutzer bei Facebook 130 „Freunde,“ ein „nor- maler“ Gymnasiast hat in seiner Buddy- List des Instant Messaging (IM) 200 Personen.

ț Warum nutzen die Menschen Soziale Netzwerke: An deutlich erster Stelle (78 %) steht für die meisten Nutzer der Wunsch, bereits bestehende Kon- takte zu Freunden und Bekannten zu pflegen. 41 % wollen sich mit Men- schen austauschen, die gleiche Inter- essen haben, und jeder Dritte will neue Freunde oder Bekannte finden.

Online- und Offline-Freundschaften

Dies zeigt, dass es bei sozialen Netz- werken im Wesentlichen darum geht, Offline-Beziehungen auch Online abbil- den und führen zu können. Die Kontak- te auf sozialen Netzwerkseiten sind Soziale Netzwerke wie Facebook sind überwiegend eher lose Beziehungen. heute die Plattformen, auf denen viele Auf Netzwerkplattformen artikuliert Freundschaften entstehen. sich also vor allem das erweiterte soziale Netzwerk der aktuellen oder ehemaligen

38 zur debatte 6/2010 zwischen Arm und Reich in Deutsch- Vernetzung in lebensweltliche Zusam- land und weltweit, die Verunsicherung men hänge zu gelingen. Engagement der Familien, die Gerechtigkeitslücken nach dem Muster „global denken, lokal im Bildungsbereich und im Gesund- handeln“ und „Subpolitik“ (U. Beck) jen- Sozialethik heitssystem, die rapide Zunahme prekä- seits der herkömmlichen Institutionen rer Beschäftigung, der Klimawandel politischer Entscheidungsbildung ver- oder die Finanzkrise. Die heutige Form sprechen neue Partizipationschancen. der entfesselten Globalisierung unter- Sozialethisch lässt sich dies mit dem als Bildungsthema gräbt existentielle Menschenrechte und Subsidiaritätsprinzip begründen. Auch Lebenschancen von mindestens einem empirisch lässt sich beobachten, dass Re- Drittel der Menschheit. Im Kern sind gionalbewegungen oft eine unver zicht- dies Entwicklungsprobleme unseres bare Impulsfunktion zukommt. Bürger - Wohlstandsmodells und nicht durch in- schaftliche Mitgestaltung des Lebensrau- dividuelle Moralaufrüstung lösbare De- mes vor Ort macht einen sozialen Mehr- fizite an Tugenden. Wir leben in einer wert lokaler Lebensqualität erlebbar. Umbruchzeit, die auf grundlegenden Ebenen einer ethisch-politischen Neu- (b) Ein Rückgriff auf die Schärfe und orientierung bedarf. Kreativität prophetischer Gesellschafts- Die katholische Soziallehre bietet eine gen Mitgliederversammlung der KEB Vor diesem Hintergrund ist eine so- kritik ist angesichts tief greifender Fehl- Fülle von fundierten Aussagen zu Bayern. Die Vertreter der 129 Mit- zialethische Bildungsoffensive heute entwicklungen angesagt. Gerade in der wichtigen gesellschaftlichen, politi- gliedsorganisationen hatten sich am vielleicht mehr denn je nötig. Ihre Not- Sozialpolitik sollte der spezifisch kirch- schen und wirtschaftlichen Fragen. 2. und 3. Juli 2010 in der Katholischen wendigkeit garantiert jedoch keines- liche Beitrag darin bestehen, über tages- Die Sozialethische Offensive der Ka- Akademie getroffen. „zur debatte“ do- wegs, dass sie auch erfolgreich und at- politische Differenzen hinweg auf tholischen Erwachsenenbildung Bay- kumentiert eine gekürzte Fassung des traktiv ist. Zwischen dem verbreiteten grundlegende ethische und strukturelle ern (KEB) soll helfen, diese Aussagen Vortrags. Der ausführliche Text und Rückzug ins Private und der neuen Zusammenhänge zu verweisen. So wur- auch kompetent vertreten zu können. weitere Informationen, Arbeitsmateri- Dringlichkeit öffentlich-gesellschaftspo- de beispielsweise in der Finanzkrise ein Die KEB will deshalb allen interes- alien, Kontakte, sowie ein Glossar zur litischer Probleme besteht ein Dilemma, Vielfaches von dem an Kapital vernich- sierten Menschen entsprechende In- katholischen Soziallehre finden sich nicht nur für die Bildung, sondern auch tet, was durch alle Kürzungen im formationen und Arbeitsmaterialien auf der Homepage der Katholischen für die Politik. Diese wird zusätzlich da- Sozial etat von Agenda 2010, Hartz IV zur Verfügung stellen. Startschuss der Akademie Bayern unter der Rubrik durch in Bedrängnis gebracht, dass ein bis zu den aktuellen Sparplänen einge- Offensive war der Vortrag von Profes- KEB. großer Teil der aktuellen sozialethi- spart wurde. Es ist ein moralischer sor Dr. Markus Vogt bei der diesjähri- schen Herausforderungen globaler und Skandal, dass sich die Politik beim langfristiger Natur ist. Damit sind die G20-Gipfel in Toronto im Juni d. J. we- Problembearbeitungsmethoden der na- der auf eine Transaktionssteuer für die tionalstaatlich verfassten und in kurzat- Finanzmärkte noch auf eine Banken- migen Wahlrhythmen organisierten De- abgabe einigen konnte. „Den Armen mokratien in prinzipieller Weise über- wird’s genommen, den Banken wird’s Eine Offensive angesichts der fordert. Dies spiegelt sich auch in der gegeben“ scheint die traurige Devise zu kollektiven Mentalität wider: Wir sind sein. Wenn hier kein Kurswechsel ge- Umbrüche des Sozialstaates „Zukunftsatheisten“ – wir wissen zwar, schieht, fehlt die finanzielle Basis für was für eine langfristige Zukunftssiche- eine zukunftsfähige Sozialpolitik. Die Markus Vogt rung nötig wäre, glauben aber mehrheit- sozialethische Offensive muss hartnä- lich nicht mehr an unsere Gestaltungs- ckig auf eine solche Gleichzeitigkeit macht und sehen uns außer Stande, von Armut und Verschwendung in nie dem „Rad in die Speichen zu fallen“ da gewesenen Dimensionen hinweisen. (Bonhoeffer). Selbst die verantwort- lichen Politiker und Wirtschaftsakteure (c) Christliche Gesellschaftskritik scheinen in den Dilemmata der Finanz-, darf keine reine Anklage sein. Notwen- 1. Wie kann eine sozialethische Klima- und Sozialpolitik oft wie Zu- dig ist ein sehr feines Gespür für die Offensive angesichts des verbreiteten schauer, die zwar wahrnehmen, was unterschiedlichen Ebenen von Hand- Rückzugs ins Private gelingen? falsch läuft, sich aber darauf beschrän- lungsspielräumen, Grenzen und Vernet- ken, Tagespolitik zu managen, statt die zungen. Da wir alle Teil des Wirtschafts- Es ist ein Risiko, wenn die katholi- großen Herausforderungen anzugehen. und Finanzsystems sind, braucht es sche Erwachsenenbildung eine sozial- Im Kern ist dies nicht ein Moralver- auch eine Portion Selbstkritik oder ethische Offensive ausruft. Denn für die sagen einzelner Politiker, sondern ein auch Humor und Distanz sowie die Be- Mehrheit der Bundesbürger liegt der Systemdefizit der ausdifferenzierten Ge- reitschaft, sich konstruktiv am Ringen Fokus der Interessen eher im Bereich sellschaft, die keine übergeordneten um konkrete Lösungen zu beteiligen. der privaten Lebensbewältigung, also Steuerungsinstanzen mehr kennt. Über- Eine sozialethische Bildungsoffensive bei individualethischen, spirituellen deckt wird dies lediglich durch die „de- darf nicht von Anklage und Katastro- oder praktischen Themen. Das hat ver- klamatorische Verantwortungsüberlas- phenstimmung geprägt sein, sondern ständliche Gründe: tung“ (H. Lübbe) politischer Verspre- muss trotz allem immer auf Hoffnung chen, die die Volksvertreter (vermeint- ausgerichtet sein, eine Hoffnung jenseits (a) Der Glaube an die großen poli- lich) abgeben müssen, um gewählt zu der großen Versprechungen. Hier kann tischen Utopien, die den Einsatz für spe- werden, deren Umsetzung sie aber oft das christliche Menschenbild, das zifisch sozialethische Themen attraktiv gar nicht leis ten können. Gerade des- Schwächen benennt, sich aber mit Ver- erscheinen lassen und mit der Hoffnung halb ist die Demokratie heute auf eine urteilungen zurückhält, zum richtigen auf grundlegende Veränderungschancen Bildung angewiesen, die öffentliche Tonfall beitragen. Kritisieren, motivie- verbinden, scheint erschöpft. Wir leben Belange als Angelegenheit aller versteht ren, integrieren, das ist eine sozialethi- in einer Gesellschaft, die sich selbst oft und Kompetenzen zur Mitgestaltung sche Formel für dieses erforderliche mit dem Adjektiv „post“ beschreibt – fördert. Gesellschaftliche Selbstverstän- Gleichgewicht. postmodern, postsäkular, postkonziliar, digung ist auf neue Weise nötig, um die postsozialistisch, postkapitalistisch. Resonanzfähigkeit der unterschied- 2. Warum und wie soll Kirche Postmoderne ist das, was von der Mo- Prof. Dr. Markus Vogt, Professor lichen gesellschaftlichen Teilsysteme politisch sein? derne übrig bleibt, wenn sie den Glau- für Christliche Sozialethik an der für Querschnittsprobleme zu erhöhen ben an die Einheit der Vernunft und da- Universität München und so Kommunikationsfähigkeit und Nur durch Privatisierung des Religiö- mit den Glauben an sich selbst verloren Handlungsspielräume herzustellen. sen und seine Abkoppelung von politi- hat. Das Vertrauen in die großen Erzäh- Politische Bildung ist damit Vorausset- scher Herrschaft ließen sich zu Beginn lungen und Utopien ist im 20. Jahrhun- zung für die Mündigkeit in der moder- der Neuzeit die Konfessionskriege in dert tief erschüttert worden. Der Rück- kunst, nicht die Sozialtechnik, also nen Welt und für eine zukunftsfähige Europa friedlich lösen. Ohne die Diffe- zug der Individuen ins Private ist von Glaube und Anspruch, die Gesellschaft Demokratie. renzierung zwischen Politik und Reli- daher durchaus verständlich. Politische verändern zu können. Insbesondere bei Als Ertrag aus den hier nur kurz skiz- gion war und ist ein friedliches und blü- Bildung findet somit eine schwierige Si- den jüngeren Generationen ist die ge- zierten Analysen zum Dilemma zwi- hendes Europa nicht möglich. tuation vor. Eine sozialethische Offen- sellschaftspolitische Dimension eher schen Privatisierung auf der einen Seite Zugleich machen wir die Erfahrung, sive muss von Anfang an ihre Plausibi- schwach ausgeprägt, wofür es mehrere und erhöhtem Bedarf an öffentlicher dass die Privatisierung des Religiösen lität und Relevanz aufzeigen. Ursachen gibt. Darauf muss sich die Er- Theologie und Sozialengagement auf nicht selten zu seiner Neutralisierung, wachsenenbildung, die eine tragende der anderen Seite möchte ich drei Er- zu seiner „Verdunstung“ und Auflösung (b) Das Leben in der spätmodernen Säule im dritten bzw. vierten Bildungs- folgsbedingungen für eine sozialethische in das bloß Subjektive, Individuelle und Gesellschaft ist komplex geworden, so sektor des lebenslangen Lernens ist, in Bildungsoffensive nennen: Innerliche führt. Damit können wir dass viele Menschen Rat und Hilfe su- Zukunft einstellen. Christen uns jedoch nicht zufrieden ge- chen, um die vielschichtigen Anforde- Zugleich ist es jedoch unabweisbar, (a) Sozialethische Bildung ist nur ben. Wo Unrecht geschieht, dürfen wir rungen in Familie, Berufsleben, Ge- dass grundlegende Probleme der gegen- dann attraktiv, wenn das Politische als nicht schweigen und müssen in spezifi- sundheit, Erziehung oder im Umgang wärtigen gesellschaftlichen Entwicklung privat und das Private als politisch erlebt scher Weise „politisch“ werden. Wie mit Medien zu bewältigen. Dabei steht nicht individueller, sondern strukturel- wird. Statt über große Sinn stiftende Uto- aber ist diese politische Dimension des die Anthropotechnik im Vordergrund, ler, also politischer und sozialethischer pien scheint dies eher über eine Wert- christlichen Glaubens genau zu verste- die individuelle Suche nach Lebens- Natur sind, z. B. die zunehmende Schere schätzung der kleinen Schritte und ihrer hen und zu gestalten?

6/2010 zur debatte 39 Glaube und Politik in moderner Verbände sind ein hervorragender Ort zugang und Beteiligung schafft sie die heute für eine präventive Sozialpolitik Gesellschaft für solche Dialoge. Voraussetzungen für mehr Leistung und entscheidende Bedeutung zukommt. Diese Grenzbestimmungen der kirch- mehr Chancenvielfalt. Der Sozialstaat Christlicher Glaube versteht sich lichen Kompetenz in Fragen der Politik, soll nicht die vom Strukturwandel Be- (b) Wir erleben eine „Metamorphose der nicht nur als Privatsache des Einzelnen Wirtschaft und Gesellschaft sind eine troffenen entschädigen, sondern sie in sozialen Frage“ (R. Castel), die sich in seinem Verhältnis zu Gott, sondern unverzichtbare Grundlage, um die kom- die gesellschaftliche Interaktion reinte- prägnant mit dem noch ungewohnten auch als Ermöglichung und Auftrag, plexe Beziehung zwischen Glauben und grieren. Damit ermöglicht er nicht nur und kontrovers diskutierten Begriff der sich solidarisch und befreiend den Mit- gesellschaftlicher Ordnung unter den ein besseres Funktionieren von Markt prekären Arbeit umschreiben lässt. menschen zuzuwenden. Die Reich-Got- Bedingungen der Moderne produktiv zu und Wettbewerb, sondern erhöht die tes-Verkündigung ist immer zugleich gestalten. Statt des Versuches einer di- Lebensqualität einer Gesellschaft. Die- Die Zone der Integration mit ge- Hoffnung und Handlungsauftrag zur rekten Beeinflussung staatlichen Han- ser Integrationsanspruch muss heute schützten Normalarbeitsverhältnissen Mitgestaltung des gesellschaftlichen Le- delns rücken zunehmend die Zivilge- angesichts des globalen Wettbewerbs schrumpft. Die Erosion standardisierter bens. Hierfür gibt es ganz unterschied- sellschaft und damit auch die Rolle der sowie des demografischen Wandels neu Beschäftigung breitet sich in vielfältigen liche Formen. Verbindend ist jedoch, Bildung und der Medien in den Fokus gefunden und durchgesetzt werden. Formen aus und erzeugt hohe indivi- dass die gesellschaftliche Verantwortung der Aufmerksamkeit (vgl. Enzyklika Ca- Das Sozialstaatsgebot ist keineswegs duelle und gesellschaftliche Folgekos- der Kirche mehr ist als Lobbyarbeit für ritas in veritate Nr. 36-39 und 66). Auf- nur in Form von Anspruchsrechten aus- ten. Sie hat inzwischen auch viele Men- bestimmte Interessen. Sie hat ihre Quel- gabe der christlichen Sozialethik im zulegen, sondern ebenso in Form von schen in der Mitte der Gesellschaft er- le in einer Spiritualität, die „Gottes- Rahmen einer Bildungsoffensive ist es, aktiven Beteiligungsrechten der Bürger. reicht. recht“ und Menschenrecht als Einheit die kirchliche Mitgestaltung des öffent- Dazu gehört auch finanzielle Teilhabe, Aus sozialpolitischer Perspektive ist versteht (R. Uertz). lichen Raumes durch eine methodisch die heute für viele Bürger nicht mehr eine der problematischsten Entwicklun- Eine Kirche, die sich auf die ver- kontrollierte Reflexion zu begleiten. hinreichend durch Erwerbsarbeit ge- gen der vergangenen Jahre in Deutsch- meintlichen Kernkompetenzen eines so- währleistet ist. land die rasante Zunahme von extrem zial entkoppelten Sakramentendienstes 3. Gerechtigkeitskonflikte Gerechtigkeit ist ein Prozess, kein er- niedrigen Löhnen, die trotz Vollzeitbe- zurückzieht, dreht sich um sich selbst. im Sozialstaat reichbarer Ordnungszustand. Das Pro- schäftigung kaum zur Existenzsicherung Sie ist so tot wie ein Glaube ohne Werke blem der Gerechtigkeit lässt sich folg- reichen. Die Marktanpassung über An- der Barmherzigkeit. Kirche wird leben- Die Gretchenfrage guter Sozialpolitik lich nicht hinreichend theoretisch lösen. gebot und Nachfrage funktioniert im dig, wenn sie sich von den „Zeichen der Deshalb möchte ich im Folgenden an- Lohnsektor nur unzureichend, da viele Zeit“ ansprechen lässt (vgl. Gaudium et Deutschland ist weltweit Pionierland hand einiger Thesen pointiert zu aktuel- Menschen in einer Zwangslage sind und spes Nr. 4 und Nr. 11). Es sind gerade des Sozialstaates und gehört noch heute len Auseinandersetzungen um den Sozi- unterbezahlte Jobs annehmen müssen, sozialethische Fragen, die in der kom- zu den Ländern mit den besten sozialen alstaat Stellung beziehen. Ich beanspru- um über die Runden zu kommen. Auch plexen Dynamik globaler Gesellschaft Sicherungssystemen. Unser Wohlstand che dafür keine Unfehlbarkeit. Auch wenn der Mindestlohn ein problemati- zunehmend an Brisanz gewinnen und und sozialer Friede ist wesentlich auch kann ich in der gebotenen Kürze keine sches Instrument ist, da er bisweilen sozialwissenschaftlichen Sachverstand ein Produkt dieser Tradition. Ein star- umfassende Begründung mitliefern. Die zum Abbau von Arbeitsplätzen führt, in der Analyse sowie mutige Entschlos- ker Sozialstaat wird von der Mehrheit Thesen können und sollen aber Anlass überwiegen aus meiner Sicht die Pro-Ar- senheit im Engagement herausfordern. der Bevölkerung als Ausdruck der Ge- zur Diskussion sein. gumente. Allerdings sind gleichzeitig na- Der Ruf nach ethischer Orientierung in rechtigkeit anerkannt. Heute steht die tionale und internationale Anstrengun- den aktuellen Veränderungsprozessen Sozialpolitik jedoch vor Herausforde- (a) Der Sozialstaat ist zunehmend mit gen für eine aktive Arbeitsmarkt- und postmoderner Gesellschaft ist Anspruch rungen, die tief greifende Reformen not- Folgeproblemen unzureichender Steuer-, Ausbildungspolitik unverzichtbar. und Chance für eine Kirche, die Hilfe zu wendig machen, wenn die sozialen Er- Familien-, Bildungs- und Arbeitspolitik gelingendem Leben sein will. rungenschaften für die Zukunft erhalten überlastet. (c) Das Gesundheitssystem wird zuneh- bleiben sollen. mend zum Spiegel gesellschaftlicher Grenzen kirchlicher Kompetenz und Für ein reiches Land wie Deutsch- Ungleichheiten – nur ein umfassender Zuständigkeit land ist es beschämend, dass 18 % der Perspektivenwechsel kann aus den Daher muss es ein wesentli- Menschen armutsgefährdet sind (nach Sackgassen herausführen. Ebenso wichtig wie die Verbindung ches Ziel der Sozialreformen EU-Definition: 60 % des bedarfsgerech- von Glaube und Politik ist ihre Unter- ten Nettoäquivalenzeinkommens). Der Zunehmend wird die Verteilung von scheidung. Aus den ethisch-spirituellen sein, die strukturelle Be- Anteil von Kindern ist deutlich überpro- Gesundheit und Krankheit zum Spiegel Impulsen der Bibel ergibt sich nicht nachteiligung von Familien portional (ca. 20 %). Daher muss es ein gesellschaftlicher Ungleichheiten. Be- ohne Weiteres ein kompetentes Urteil wesentliches Ziel der Sozialreformen sonders die schlechte gesundheitliche in den konkreten Einzelfragen politi- in der Erwerbsgesellschaft sein, die strukturelle Benachteiligung Lage von Kindern und Jugendlichen in scher und gesellschaftlicher Kontrover- zu beseitigen. von Familien in der Erwerbsgesellschaft den unteren Schichten der Bevölkerung sen. Ordnungsethik liegt auf einer an- zu beseitigen. Wie der Erste jährliche ist ungerecht und teuer. Prävention deren Ebene als individuelle Spiritua- Bericht zur sozialen Lage in Bayern muss deshalb die Lebenslagen sozial lität und Tugend. Soll christliche Ein- Die schwierigen Zerreißproben einer ausführt: „Kinderarmut ist Elternarmut. Benachteiligter in den Mittelpunkt stel- mischung in gesellschaftliche Fragen zukunftsfähigen und finanzierbaren Ge- Diese können wir nur bekämpfen, wenn len und gezielt zu verbessern suchen. nicht in Selbstüberforderung durch ver- staltung des Sozialstaates angesichts wir Familien materiell absichern und Notwendig ist eine Vernetzung der Ge- meintliche Allzuständigkeit münden von Finanzkrise, prekären Arbeitsver- Kinder bestmöglich unterstützen.“ Ins- sundheitspolitik mit den vorgelagerten und sich nicht im tagespolitischen hältnissen, Kinderarmut und anderen besondere muss für Eltern in den Pha- Handlungsfeldern in der Familien-, Streit der Parteien verlieren, ist eine Problemen sind nicht Einzelfragen der sen der Kindererziehung eine wirkliche Arbeits-, Bildungs- und Sozialpolitik. Grenzbestimmung kirchlicher Kompe- Organisation oder Kontrolldefizite ge- Wahlmöglichkeit zwischen Familien- Dabei ist der Lebensstil ein Schlüssel- tenz nötig. sellschaftlicher Transferleistungen, son- und Erwerbsarbeit bestehen. faktor für vorsorgende Gesundheits- Die Kirche soll nicht offen oder dern eine tiefer liegende Anfrage an un- Nach Maßgabe des Subsidiaritäts- politik. Denn die häufigsten und teuers- hintergründig die Regierungsgeschäfte ser Verständnis von Gerechtigkeit. Man prinzips beginnt eine familienorientierte ten Erkrankungen der westlichen Welt übernehmen, sie soll „Politik möglich muss den Gerechtigkeitsbegriff, der dem Einkommens- und Vermögenspolitik (koronare Herzerkrankungen, Arterios- machen“, indem sie zur Stabilisierung Sozialstaat zugrunde liegt, immer wie- mit Steuergerechtigkeit. Diese bedeutet klerose, Diabetes II) sind lebens- und und steten Erneuerung der vorpoliti- der neu auf seine innere Kohärenz und nicht, dass der Staat großzügig den Fa- arbeitsstilbedingt. Sie hängen wesent- schen moralischen Grundlagen eines Lösungskapazität für aktuelle Heraus- milien soziale Wohltaten gewährt; son- lich mit Ess- und Bewegungsgewohn- freiheitlichen Staates beiträgt. Sie tritt forderungen hin durchdenken. dern vielmehr, dass er – entsprechend heiten sowie psychosozialen Faktoren in theologischer Reflexion, Verkündung Der erhebliche Zuwachs an neuen dem Grundsatz der Besteuerung nach zusammen. Eine präventive Gesund- und Praxis für eine Wertorientierung Risiken erfordert einen starken und ge- Leistungsfähigkeit – die Einkommen heitspolitik muss sich deshalb weit stär- ein, die dem Wohlergehen aller dient. wandelten Sozialstaat. Dabei muss sozi- der Familien, soweit sie für Unterhalt, ker als bisher mit diesen Determinanten Die Zuständigkeit des Lehramtes und alstaatliche Fürsorge jedoch so geleistet Betreuung und Erziehung der Kinder der Entstehung von Krankheiten be- der christlichen Sozialethik in politi- werden, dass Selbstverantwortung nicht erforderlich sind, nicht besteuert. Die fassen. Sie verlagert Investitionen von schen Fragen bezieht sich auf Normen demotiviert wird. Die Gretchenfrage ei- faktische Praxis der Besteuerung auch der Krankheitsreparatur in die Gesund- der Urteilsbildung, nicht auf konkrete ner guten Sozialpolitik lautet also: Wie des Existenzminimums verstößt gegen erhaltung der Gesunden. Dann kommt Sachentscheidungen. kann Solidarität so gestaltet werden, die Verfassung. Das aus Steuermitteln Gesundheitssorge nicht nur als Kosten- Je stärker sich theologische Ethik auf dass sie aus der Abhängigkeit heraus- zu finanzierende Kindergeld hat eine faktor in den Blick, sondern ist heute konkrete Sachfragen einlässt, desto führt, statt sie zu zementieren? flankierende Funktion überall dort, wo auch einer der größten Wachstums- mehr ist die Eigengesetzlichkeit der Solange das Wirtschaftswachstum die Steuerfreibeträge nicht ausreichen. märkte der Gesellschaft, dem eine zu- unterschiedlichen Kultursachbereiche eine zunehmende Verteilung der Über- Es ist Ausdruck einer grundlegenden nehmende Bedeutung für die gesamte zu beachten; denn das Sachwissen aus schüsse erlaubte, wurde der Mangel an Schieflage der Gesellschaft, dass eines Wohlfahrtsentwicklung zukommt. human- und sozialwissenschaftlichen einer normativen Theorie des Sozial- der größten Armutsrisiken bei uns darin Analysen kann nicht durch Ableitungen staates hinsichtlich seiner Kriterien und besteht, Verantwortung für Kinder zu (d) Das Drei-Säulen-Rentenmodell aus dem Glauben ersetzt werden. Begründungen nicht virulent. Heute übernehmen. Die niedrige Geburtenrate der katholischen Verbände ist nach wie „Politikfähiger Glaube“ verbindet gro- muss die Zuordnung der hochkomple- (1,4; davon ca. 1/3 Kinder mit Migra- vor aktuell und ohne gleichwertige ße Hoffnungsperspektiven mit nüchter- xen Kooperations- und Solidaritätssys- tionshintergrund) zerstört die Zukunft Alternative. ner Faktenanalyse und schaut genau teme moderner Gesellschaften neu ges- der Gesellschaft. Der Sozialstaat ist mit hin, was die Situation jeweils erfordert taltet werden. Folgeproblemen der mangelnden Ge- Die schrittweise Erhöhung des ge- und was die Menschen vorrangig brau- Sozialpolitik ist in der Sozialen rechtigkeit für Familien überlastet. Bei setzlichen Renteneintrittsalters auf 67 chen. Deshalb steht die Kirche in sozial- Marktwirtschaft nicht bloß eine nachge- all dem sind Familien nicht nur als Für- Jahre ist gerecht und notwendig. Es ist ethischen Fragen selbst im Lernprozess reichte Entschädigung für die Not, die sorgeobjekte der Sozialpolitik zu be- ein Gebot der Gerechtigkeit, den Gene- und kann ihre Verantwortung nur im im Wettbewerb aufseiten der Verlierer trachten, sondern vor allem als Leis- rationenvertrag so zu gestalten, dass das Dialog mit Wissenschaft und Gesell- entsteht. Sie ist Investition in die Ent- tungsträger anzuerkennen. Verhältnis zwischen Arbeitenden und schaft entfalten. Die kirchlichen Akade- wicklung und Leistungsfähigkeit der Familien-, Bildungs- und Arbeitspoli- Rentnern gleich bleibt. Wenn die Men- mien, Bildungseinrichtungen und Bürger. Durch Risikoschutz, Bildungs- tik sind „Querschnittsaufgaben“, denen schen immer älter werden, müssen wir

40 zur debatte 6/2010 auch länger arbeiten und durch entspre- Bildungszugang den Charakter eines chende Gesundheitsvorsorge, Arbeits- Menschenrechtes. schutz, Bildung und flexible Arbeitsge- Zugleich zeigt die hohe Erwartung staltung dazu befähigt werden, dies mit an Bildung derzeit eine höchst ambiva- Freude zu tun. Allein durch steigende lente Rückseite: ein enormer Druck und Was trennt den Beiträge der Arbeitnehmer lässt sich der eine gesteigerte Angst, etwas zu verpas- demografische Wandel jedenfalls nicht sen. Eltern sind schon im Vorschulalter bewältigen. ihrer Kinder nervös, ob sie bzw. das pä- Ohne tief greifende Reformen wird es dagogische Personal nichts an Förde- Menschen noch nicht gelingen, die Ausbreitung von Al- rung versäumen. tersarmut zu verhindern und die zuneh- In Deutschland lassen sich drei Pha- menden Gerechtigkeitslücken in der sen der Defizitdiagnosen im Bereich der vom Tier? Rentenversicherung zu schließen. Das Bildung unterscheiden: beste Modell ist der Vorschlag der ka- tholischen Verbände, das Drei-Säulen- (a) Ausgelöst durch den Pisaschock Modell (vgl. www.buendnis-sockelren- stand zunächst die Diagnose eines Wis- te.de). Dieses kombiniert eine steuerfi- sensdefizits im Vordergrund. Durch eine Naturwissenschaftliche Provokationen nanzierte Sockelrente für alle mit einer Vielzahl zusätzlicher Prüfungen und beitragsorientierten Arbeitnehmer- Leistungstests hat man den Druck er- Gibt es wirklich einen prinzipiellen man gemeinhin meinte. Eine Tagung Pflichtversicherung (mit wesentlich nie- höht, oft mit zweifelhaftem Erfolg. Unterschied zwischen Mensch und der Katholischen Akademie am 7. und drigeren Beiträgen als in der bisherigen Tier? Oder sind die Unterschiede in 8. Mai 2010 in Passau mit dem Titel gesetzlichen Rentenversicherung) und (b) Dann stand die Diagnose des Ge- der Intelligenz und im Sozialverhalten „Was trennt den Menschen noch vom einer privaten oder betrieblichen Alters- rechtigkeitsdefizits im Zentrum. In nur graduell? Gleichen sich die Fähig- Tier? Naturwissenschaftliche Provo- vorsorge, die allmählich ausgebaut und Deutschland sind die Disparitäten be- keiten beider Spezies also fast? Natur- kationen“ ging diesen Fragen nach. zum Regelfall werden soll. sonders groß, die soziale Herkunft ent- wissenschaftliche Forschungen der „zur debatte“ bringt überarbeitete Fas- scheidet mehr als die Begabung über letzten Jahre lassen vermuten, dass die sungen von zwei dort gehaltenen Refe- (e) Der katholische Ansatz in der den Bildungsweg, was auch der un- Nähe auf jeden Fall viel größer ist, als raten. Sozialpolitik basiert nicht auf Risiko- längst veröffentlichte Erste jährliche Be- aversion, sondern auf einer pluralen richt zur sozialen Lage in Bayern bestä- Vielfalt konkreter Hilfe. tigt.

Ein besonderer Akzent katholischer (c) Seit einigen Jahren steht ein drit- Initiativen ist das ehrenamtliche Enga- tes Deutungsmodell im Zentrum der öf- gement für die Notleidenden, ohne das fentlichen Aufmerksamkeit: Der Bil- Sozialpolitik in vielen Bereichen nie- dungsnotstand ist ein Erziehungsnot- mals gelingen kann. Dieser subsidiäre, stand. Produktive Lernprozesse werden auf gesellschaftliche Initiativen ausge- auch in bürgerlichen Familien durch ei- richtete Ansatz darf aber nicht dazu nen Mangel an Disziplin sowie eine Kognition und Moral bei menschlichen führen, dass der Anspruch der Gerech- psychische Überforderung und Unruhe tigkeit privatisiert wird. Eine solche von Kindern und Jugendlichen durch und nicht-menschlichen Tieren: homo- Fehldeutung des Subsidiaritätsprinzips Computer und Fernsehen blockiert. Wo findet sich auch in Schriften der DBK die Eltern versagen, sollen die Schulen loge und analoge Gemeinsamkeiten (zur Diskussion vgl. M. Vogt, Sozial- zunehmend auch Erziehungsaufgaben staatsgebot, Subsidiarität und Selbstver- wahrnehmen. Ludwig Huber antwortung, in: Verein der bayerischen Wirtschaft u. a. [Hrsg.], Einsichten Leider schließen sich die drei Dia- schaffen Aussichten. Die Zukunft der gnosen nicht wechselseitig aus: Wir ha- Sozialen Marktwirtschaft, Köln 2008, ben zugleich ein Wissens-, Integrations- 74-83). und Erziehungsdefizit. Dem christlichen Der Direktor der Katholischen Aka- Nach offizieller Statistik haben die Ansatz liegt es nahe, den Akzent be- demie in Bayern, Dr. Florian Schuller, katholischen Organisationen nach wie sonders auf Erziehung und Wertever- schreibt im Folder zur Tagung „Wa s vor eine hohe Mitgliederzahl: 6 Millio- mittlung zu setzen. trennt den Menschen noch vom Tier? nen! Wenn sich nur ein kleiner Prozent- Man muss dabei das Verhältnis von Naturwissenschaftliche Provokationen“, satz davon als Aktionsbündnis für die Bildung, Gesellschaft und Moral genau- dass bisherige Selbstverständlichkeiten Durchsetzung des sozialen Kapitalismus er in den Blick nehmen, um nicht fal- bröckeln, wie auch jene, es gebe einen mobilisieren ließe, müsste man seine schen Effekt- und Vermittlungsvorstel- prinzipiellen Unterschied zwischen Sache nicht verloren geben. Die subsidi- lungen zu verfallen. „Bildungsethik“ Mensch und Tier. Indem Forscher di- äre Vielfalt der Strukturen des Wohl- wird erst dann zu einem analytisch verser naturwissenschaftlicher Diszipli- fahrtsmixes gehört zu den unverzichtba- interessanten Thema, wenn man es über nen, allen voran Kognitions-, Neuro- ren Elementen der katholischen Tradi- die wertkonservative Pädagogisierung und Verhaltensbiologie, immer mehr tion des Sozialstaats. Auf sie sollte in eines platonischen Humanismus hinaus Befunde von sog. „intelligenten“ Tieren, den künftigen Auseinandersetzungen sozialethisch erweitert auf die Reflexion immer exaktere Daten über Gehirne um seine Reformen nicht verzichtet der gesellschaftlichen Bedingungsfakto- und immer mehr Einsichten in die werden. ren von Bildung: Die Gesellschaft insge- physiologischen (neuronalen und hor- Der christliche Glaube verspricht samt muss sich auf eine neue Zuord- monellen) Mechanismen des Verhaltens keine Sicherheiten. Er will, dass die nung von Wissen und Verantwortung liefern, fühlen sich immer mehr Philo- Menschen immer wieder Neues wagen einstellen. Aufgrund des gewachsenen sophen und Theologen herausgefordert, und manchmal auch – wie Abraham – technischen und ökonomischen Kön- die „Sonderstellung“ des Menschen ver- in ein ungewisses Land aufbrechen. nens müssen mehr Entscheidungen ge- teidigen zu müssen. Sie fühlen sich of- Dies erfordert Bildung und soziale troffen und die jeweilige ethische Refle- fenbar provoziert, wie man dem Unter- Netzwerke, um unvermeidlichen Wan- xion in gesellschaftliche, wissenschaftli- titel der Tagung entnehmen kann, in ih- del und zeitweise Unsicherheiten durch che und pädagogische Prozesse einge- rer Ehre gekränkt, denn es könnte das kognitive, emotionale und soziale Kom- bunden werden. Das Problem ist also schöne Bild, das sie sich vom Menschen Prof. Dr. Ludwig Huber, Professor für petenzen sowie wechselseitige Hilfe zu nicht Werteverfall, sondern gesteigerter bislang gemacht haben („Ebenbild Got- Kognitionsbiologie an der Universität bewältigen. Moralbedarf durch mehr Freiheit und tes“), zerstört werden. Wien Macht. „Moral ist der Preis der Moder- Wie könnte man daher (objektiv?) 4. Zur Rolle der Ethik in der Bildung ne.“ (O. Höffe). Sie ist Bedingung für entscheiden, wie groß die Differenz die Entwicklungs- und Funktionsfähig- (noch) tatsächlich ist? Und wie könnte Die entscheidende Weichenstellung keit einer offenen Gesellschaft. man feststellen, ob ein (wahrscheinlich den ist, als vielmehr auf das, was ihnen für eine langfristige Sicherung von Bildung ist ein Prozess freier, von in- noch immer bestehender) Unterschied fehlt. Umgekehrt liegt der starken Beto- Wohlstand und sozialer Integration ist nen heraus geprägter Aneignung von „prinzipiell“ ist? Dazu müsste man nung von Gemeinsamkeiten durch Na- Bildung für alle. Sie ist eine Frage der Wissen, Werten und Fähigkeiten. Die wohl einen Maßstab und Kriterien an- turwissenschaftler das starke Bedürfnis Gerechtigkeit. Eine umfassende Bil- Ermöglichung von Freiheit und Souve- geben. Doch dies wird schwierig, wenn zu Grunde, der Vorstellung entgegen- dungspolitik, die auch Schwache von ränität muss an erster Stelle stehen. Die dies objektiv geschehen soll, jemand zutreten, die menschliche Vernunft Anfang an ermutigt statt ausgrenzt und Bereitschaft zu gesellschaftlichem Enga- gewissermaßen „unparteiisch“ zwi- oder die menschliche Moral liege individuelle Begabungen sowie soziale gement kann dann als deren Frucht er- schen Tieren und Menschen entschei- irgendwie quer zu unserer tierischen und kreative Kompetenzen fördert, ist wachsen. Bildung darf in der sozialethi- den müss te. Stattdessen könnte man Herkunft oder gar quer zur Natur über- die Basis eines subsidiären Sozialstaa- schen Offensive nicht zum bloßen Ins- sich darauf konzentrieren, eventuelle haupt. Sie betonen, dass sich die Evolu- tes, der zu Selbstverantwortung befä- trument für gesellschaftliche Verände- Diskontinuitäten in der Evolution des tion nicht in Sprüngen vollzieht: Neue higt. Aufgrund der ständig steigenden rung werden. Persönlichkeitsbildung, (zum?) Menschen aufzuspüren. Das Eigenschaften sind Modifikationen von Anforderungen im Arbeitsmarkt ist Bil- Lust am Lernen und am Leben müssen nun scheint genau das Lockmittel vie- alten, weshalb eng verwandte Spezies dung heute eine lebenslange Aufgabe. zum Zuge kommen – also auch das Pri- ler Geistes- oder Humanwissenschaften sich nur graduell unterscheiden. Selbst Da Menschen ohne Bildung in unserer vate und Persönliche, von dem am An- zu sein, sich weniger auf das zu kon- wenn die menschliche Vernunft und die Gesellschaft zunehmend abgehängt fang die Rede war. „ zentrieren, was bei den anderen Prima- menschliche Moral (Hand in Hand) ei- werden, gewinnt der Anspruch auf ten oder sogar anderen Tieren vorhan- nen bedeutenden Schritt nach vorne

6/2010 zur debatte 41 darstellen, brechen sie kaum mit der Was ist spezifisch am menschlichen sucht die mentalen Leistungen der Tiere die Möglichkeiten der modernen Natur- Vergangenheit. Denken? auf psychologische oder gar physiologi- wissenschaften hatte, die Existenz dieser sche Prozesse zu reduzieren, die ohne mentalen Fähigkeiten oder Ergebnisse Darwin's Kontinuitätshypothese Um die alte anthropologische Frage Begriffe und Urteile stattfinden und kollektiven Handelns bei Tieren zu des Mentalen „Was ist der Mensch?“ zu beantworten, folglich nicht als Denken im eigent- untersuchen. Zwar hatte schon Darwin genügt es nicht, menschliches Denken lichen Sinn bezeichnet werden können.“ selbst Interesse an kognitiven Verhalten Charles Darwin argumentierte im zu analysieren und einen Faktor X zu Nun wäre dieser Einschätzung sicher- von Tieren, bezog aber seine Daten vor- Buch The Descent of Man (1871) deut- bestimmen, der das spezifisch Humane lich zuzustimmen, wenn man vor den nehmlich aus Berichten von Freunden lich gegen die Annahme, dass die Diffe- ausmacht, entsprechend der Formel Begriff „Denken“ noch das Adjektiv (z. B. George Romanes) oder eigenen renz zwischen Menschen und Tieren, so „der Mensch als Tier plus X“. So wurde „menschliches” setzen würde. Natürlich (dilettantischen) Beobachtungen (von klein diese ja offensichtlich im Bereich der Mensch in der Vergangenheit be- können Tiere nicht menschlich denken. Tauben, Hunden usw.). Auch nur in der Morphologie und Physiologie sei, im zeichnet als das vernünftige Tier, das Interessanterweise kommen andere sehr beschränktem Ausmaß trug die be- Bereiche des Geistigen von fundamenta- Tier, das spricht (Aristoteles), Staaten Philosophen zu konträren Schlüssen. havioristische Lernpsychologie etwas ler Größe sei. Er vertritt damit eine bildet (Aristoteles), Hände hat (Aristo- Markus Wild (2008), der sich jüngst bei, da sich diese vorwiegend mit ganz Kontinuitätshypothese des Mentalen: teles), eine Seele hat (Descartes), ver- ausführlich mit den philosophischen wenigen „Modelltierarten“ – wie Taube, „…the difference in mind between man nunftfähig ist (Kant), um seinen Tod Argumenten zur Differenz menschlicher Ratte und Rhesusaffe – beschäftigte. and the higher animals, great as it is, is weiß (Hölderlin), sich an alles gewöhnt und tierischer Kognition befasst hat, Diese Tiere wurden noch dazu nur hin- certainly one of degree and not of kind.” (Dostojewskij), nicht festgestellt ist schreibt: „Die kognitive Ethologie, die sichtlich allgemeinster Lernmechanis- Und an anderer Stelle sagt er: „... if his (Nietzsche), exzentrisch positioniert ist Primatologie, der Darwinismus oder die men – sog. assoziativer Gesetze des Ler- powers had been of a wholly different (Plessner), eine Wahl hat (Heidegger), Tierrechtsbewegung stellen Herausfor- nens wie Pawlowsche und instrumentel- nature from those of the lower animals, etwas stattdessen tut (Marquard) usw. derungen an das menschliche Selbstver- le Konditionierung – getestet. Wenig then we should never have been able to Denn erst im (fairen) Vergleich mit ständnis dar, haben sie doch die Ten- mehr Einsichten in tierisches Denken convince ourselves that our high facul- nicht-menschlichen Wesen kann man denz, Grenzen zwischen Mensch und lieferte die kontinental-europäische ties had been gradually developed. But herausfinden, was nur bei Menschen Tier aufzulösen. ... sind die Fähigkeiten Ethologie, da sie sich wiederum auf in- it can be shown that there is no funda- vorhanden ist. Die Absenz eines Merk- von Sultan, Rico, Koko und Alex schon stinktives Verhalten und die zu Grunde mental difference of this kind.“ mals bei anderen Wesen würde auch sehr beeindruckend, und wir zögern liegenden Motivationen konzentrierte. die Redeweise eines fundamentalen wohl kaum, hier von Denken zu spre- Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhun- Unterschieds rechtfertigen. Weniger ge- chen.“ Er findet sich dabei in bester Ge- derts kam es mit der sog. „kognitiven Manche Philosophen spre- rechtfertigt ist dies, wenn das in Rede sellschaft. „Keine Wahrheit scheint mir Wende“ zu einem Durchbruch. chen Tieren einfach Fähig- stehende Merkmal auch bei anderen Le- offenkundiger, als dass Tiere, genauso bewesen vorkäme, dort allerdings in wie der Mensch, mit Denken und Ver- Kognitionsbiologie – die neue keiten ab, indem sie diese schwächerer Ausprägung oder in einer- nunft ausgestattet sind. Die Gründe Wissenschaft vom tierischen Denken so eng definieren, dass sie anderen Form, möglicherweise nur ana- sind in diesem Falle so offensichtlich, log, also funktionsähnlich. Noch schwie- dass sie nicht einmal dem Dümmsten Der Kognitionsbiologie war es endlich kaum mehr vergleichend riger ist eine Grenzziehung, wenn das und Unwissendsten entgehen.“ Dies gelungen, sich aus der Klammer einer anwendbar sind. Merkmal homolog ist, also auf gemein- sagte keine Geringerer als David Hume. philosophisch verbrämten menschlichen same Vorläufer zurückführbar ist, aber Die Auflösung dieses vermeintlichen Überlegenheit und einer behavioristi- sich in der Funktion geändert hat. Den- Widerspruchs (unter Philosophen) ge- schen „Black Box“-Theorie zu lösen. Sie Obwohl die meisten Biologen heute ken wir etwa an den Kehlkopf, der bei lingt mit dem Verweis auf eine besonde- stellte ihre Vermutungen über die geisti- keinen Zweifel mehr an der Annahme allen Säugetieren vorhanden ist und bei re Form des Denkens, welche für uns gen Fähigkeiten von Tieren auf eine da- eines natürlichen, genealogischen Zu- allen der Lautproduktion dient, aber Menschen charakteristisch ist. Es ist tenbasierte, sachliche Basis, abseits von sammenhangs aller Lebewesen und ih- durch Veränderung der Lage beim Men- dies Denken mit Sprache. Philosophen verniedlichender und vermenschlichen- rer Eigenschaften lassen, ist die Frage schen (gegenüber den anderen Men- wie Donald Davidson meinen, dass die der Attitüde. Mehrere Sammelbände der Entstehung von kognitiven Fähig- schenaffen abgesunken) einen größeren Begriffe des Denkens, Tauschens, Un - (Bekoff et al. 2002, Heyes und Huber keiten inklusive Sprache und Bewusst- Umfang von Lauten (Formaten) und sicherseins, Entscheidens oder Spielens 2000, Shettleworth 1998, Wassermann sein, sowie moralischen Fähigkeiten in- letztlich ein artikuliertes Sprechen er- eigentlich nur auf sprachfähige Wesen und Zentall 2006) belegen eindrucksvoll, klusive Werten und Normen keinesfalls möglicht. zutreffen, nicht aber auf sprachunfähige welche überraschende Einsichten eine trivial. Dagegen gibt es nach wie vor Wie groß eine Differenz ist, bleibt im Wesen. Solche Wesen denken nicht, sie nüchterne, akribische und methodisch enormen ideologischen Widerstand, Wesentlichen eine Frage der Bewertung. haben keinen Geist. saubere Wissenschaft ermöglichen kann, nicht nur von Fundamentalisten. Doch da wir Menschen selbst sowohl Selbst wenn man dieser Position zu- die den oft banalen Alltags-Geschichten Das beständig lodernde Feuer des zu Bewertende sind, als auch die Jury stimmen würde, hielte ich es für ange- über tierische Intelligenz und den seit Widerstands enthält natürlich Nahrung bilden, ist dies klarer Weise kaum ob- bracht, die Differenz von Mensch und der Antike erzählten Fabeln und Speku- durch die Lücken und Probleme des em- jektiv. Manche Philosophen sprechen Tier nicht darauf alleine zu reduzieren. lationen darüber widersteht. pirischen Belegs der Evolution von Tieren einfach Fähigkeiten ab, indem Es würde sich stattdessen lohnen, eine Ohne Zweifel muss auch jeder Kog- „meaning and morality”. Die davon ab- sie diese so eng definieren, dass sie Reihe weiterer mentaler Fähigkeiten nitionsbiologe lernen, der verführeri- hängige Frage, was das spezifisch kaum mehr vergleichend anwendbar vergleichend zu untersuchen, die im schen Gefahr der Intuition und Projek- Menschliche ausmacht, ist daher zwei- sind. Alfred Kroeber (1923) definierte Laufe der Geistesgeschichte für die Ent- tion zu widerstehen. Oft meinen auch fellos berechtigt und benötigt größte An- die Kultur so: „Wir können uns dem, stehung des menschlichen Geistes vor- wir zu vorschnell zu wissen, wie Tiere strengungen auf mehreren wissenschaft- was Kultur ist, annähern, indem wir geschlagen wurden: Selbstreflexion, denken, was sie fühlen oder warum sie lichen Gebieten. Sie erfordert vor allem sagen, sie ist das, was die menschliche Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, so oder so handeln. Diese Intuition – auch Antworten auf die komplementäre Spezies hat und was anderen sozialen Zeitbewusstsein, Denken, Logik, Pla- meist als Anthropomorphismus bezeich- Frage, was nicht spezifisch menschlich Spezies fehlt.“ Ein jüngeres Beispiel lie- nen, Sprache, Technik, Zivilisation, Kul- net – ist geleitet von der menschlichen ist, was also auch bei anderen Lebewe- fert der Philosoph Reinhard Brandt tur, Kunst, Moral, Ethik, Gewissen, Re- Fähigkeit, sich in andere Menschen zu sen in etwa derselben Art – wenn auch (2009): „Natürlich können Tiere nicht ligion. Allerdings blieb dieser Vergleich versetzen, ihre Gedanken zu lesen und nicht unbedingt in derselben Ausprä- denken. Wer diese Gegenthese vertritt, lange Zeit bloß spekulativ, da man nicht ihre Emotionen mitzufühlen. Durch gung – vorkommt. Bereits Darwin wuss - Verallgemeinerung werden dann te um die besonderen Schwierigkeiten manchmal zu arglos menschliche des Nachweises einer kontinuierlicher Selbstverständlichkeiten auf die Tiere Entstehung und Veränderung kognitiver projiziert. In Tieren stecken aber keine Mechanismen. Ein grundsätzliches Pro- kleinen Menschen, sondern umgekehrt. blem ergibt sich durch das Fehlen von Wir Menschen sitzen am Ende eines „Verhaltensfossilien“. Dieser Mangel ist kleinen Zweigleins des großen Baums besonders dann schwerwiegend, wenn des Lebens, der ohne Unterbrechung es nicht nur um den Nachweis bestimm- zurückführt zum Beginn des Lebens auf ter kognitiver Fähigkeiten im Tierreich dieser Erde, aber von einer überwiegen- geht, die man an Hand der lebenden den Anzahl toter Äste geprägt ist. Die- Vertreter der in Frage kommenden Tier- ses kleine Zweiglein vom restlichen gruppen studieren könnte, sondern Baum als fundamental verschieden zu wenn man eine genaue historische Re- trennen, wäre absurd. konstruktion bestimmter Fähigkeiten in Ein besonderes Merkmal der moder- bestimmten evolutionären Linien (zum nen Kognitionsbiologie ist es, durch um- Beispiel in der Hominiden-Evolution) fangreiche Vergleiche mit vielen Tier- zum Ziel hat. Eine weitere Schwierigkeit arten und in verschiedensten Problemsi- liegt in der Rekonstruktion der Umwelt- tuation das Muster von analogen (Kon- bedingungen, welche zu jener Zeit vor- vergenzen) und homologen (Abstam- herrschten, als bestimmte kognitive Fä- mungsähnlichkeit) Merkmalen zu unter- higkeiten entstanden sind bzw. sich un- suchen (Fitch et al. 2010). Es bedarf ter deren selektiven Wirkungen verän- dazu einer richtigen Balance aus Frei- dert haben. Es ist höchst problematisch, landforschung, welche die natürlichen die Funktionsweise bzw. den adaptiven Probleme der untersuchten Tierart spe- Wert für die Spezies an heute lebenden Der Vortragssaal im Haus Mariahilf in zifiziert, und experimenteller Laborfor- Vertretern zu bestimmen und dann in Passau war gut gefüllt. Die Akademie schung, welche das Potential und die die Vergangenheit zu extrapolieren, wie war im „spectrumKIRCHE“ in der Drei- Grenzen der Fähigkeiten unter kontrol- es manche Vertreter der sog. „Evolutio- Flüsse-Stadt zu Gast. lierten Bedingungen auslotet. Es ist nären Psychologie“ gerne tun. auch notwendig, die Theorien mentaler

42 zur debatte 6/2010 Fähigkeiten so zu fassen, dass konkrete beruhen, aber weder genetische noch auch auf bereits existierenden Fähigkei- in Gang zu setzen. Neben den kogniti- Hypothesen ableitbar sind, welche ökologische Ursachen hat, würden eine ten aufgesetzt bzw. diese in Anspruch ven Fähigkeiten der Einschätzung der wiederum hinsichtlich der Voraussagen wichtige Vorstufe zu Kultur darstellen. genommen haben. Man nennt das in Bedürfnisse und Nöte des Anderen klare Entscheidungen ermöglichen. Die Allerdings zeichnet sich menschliche der Evolutionstheorie Exaptation (an- (Hilfe), der Verallgemeinerung morali- Tiere werden dabei in Situationen ge- Kultur durch ihre kumulative Verbesse- statt Adaption). Erst später, nach der scher Werte (Normen) und der Entwick- bracht, wo ihr Verhalten (möglichst) nur rung aus. Im Fall der Evolution der nonverbalen Phase, könnte die Evolu- lung von Mechanismen ihrer Durchset- in einer von zwei Varianten auftreten Steinwerkzeuge von Homo erectus ist tion von vokaler Kommunikation einge- zung (Gesetze), sind hier vor allem die kann. Das bedarf klarer Entscheidungs- dies evident. Gibt es auch eine techni- setzt haben. Vielleicht wurden zuvor die sozialen Verhaltensweisen und ihre kriterien, die wiederum auf präzisen De- sche Kultur bei Tieren? gestischen Zeichen durch Laute unter- emotionalen Begleiter als „Bausteine“ finitionen beruhen müssen. Schon vor vielen Jahren entdeckte stützt, um sie deutlicher und für eine der Moral zu nennen. Unsere morali- Jane Goodall, dass Schimpansen Stö- breitere Öffentlichkeit bemerkbar zu schen Empfindungen beruhen auf origi- Machiavellische Intelligenz und die cke zum Termitenfischen verwenden. machen. Das Auftauchen gemeinsamer när „nicht-menschlichen“ Verhaltens- Entstehung von Kultur Heute weiß man auch, dass sie manch- Aufmerksamkeit findet bei Kindern weisen: Fürsorge, Entwicklung sozialer mal ganze Werkzeugsets (Stöcke ver- während der sog. 9-Monate-Revolution Spielregeln, Strategien ihrer Durchset- Im Fall des sozialen Lernens und der schiedener Dicke und Form) verwen- statt, also lange vor einer ausgefeilten zung, Befähigung zu Bindung und Bildung von Traditionen kommen dabei den. Der kombinatorische Aufwand ist Verbalsprache. Jedenfalls gibt es eine Freundschaft, Konfliktlösung und neuerdings Befunde zu Tage, die im besonders hoch beim Nüsse knacken, Konvergenz verschiedener Theorien aus gegenseitige Hilfe, aber auch „machia- Vergleich zum Menschen eine Vielzahl da hier bis zu drei Steine kombiniert unterschiedlichen Disziplinen (Neuro- vellische Intelligenz“ als Fähigkeit zur tiefgreifender Ähnlichkeiten aufzeigen. werden: ein Stein als Hammer, einer biologie, evolutionäre Anthropologie, Manipulation anderer, schließlich Em- Nicht nur Schimpansen können sich im als Amboss und einer zu Stabilisierung Psychologie) in Richtung eines diesbe- pathie. Wiederum finden wir dies nicht Wettbewerb um begehrtes Futter in an- des unebenen Amboss. In jüngster Zeit züglichen 2-Stufen-Prozesses der Evolu- nur bei Menschenaffen, sondern zum dere hineinversetzen und geeignete Tak- wurden ähnliche Leistungen auch bei tion der Sprache. Beispiel auch bei hochsozialen Vögeln. tiken gegenüber dominanten Tieren Auch viele Tiere kommunizieren, In komplexen Gemeinschaften entstan- wählen, sondern auch Raben. Mein aber nicht rekursiv (obwohl etwa Stare den (emergierten?) weitere Verhaltens- Kollege Thomas Bugnyar hat überzeu- Schon vor vielen Jahren ent- rekursive von nicht-rekursiven Gesang- weisen, die zur Erhaltung und Förde- gende Beweise vorgelegt, dass Raben deckte Jane Goodall, dass mustern unterscheiden können) und rung von Gruppeninteressen beitragen. beim Verstecken von Futter Taktiken ohne ein derartiges flexibles, weil Hier scheinen Gruppen von Individuen ersinnen, die auf dem Wissen, welcher Schimpansen Stöcke zum enorm abstraktes Symbolsystem des als Selektionseinheiten zu funktionie- Artgenosse Zeuge war, beruhen. Raben Termitenfischen verwenden. Menschen. Wir finden auch kaum Bele- ren. Im Laufe der Evolution haben sich folgen den Blicken anderer, können den ge (nur Andeutungen) für echtes Lehren Verhaltensweisen durchgesetzt, die zu Blickwinkel anderer abschätzen, verste- Heute weiß man auch, dass (Vorzeigen unter Berücksichtigung des gemeinsamen Zielen beitragen, indem hen dadurch, was ein anderer gesehen sie manchmal ganze Werk- Kenntnisstandes und der speziellen Be- allgemein akzeptierte soziale Regeln hat, wie er daher sein verstecktes Futter dürfnisse des Schülers) bei Tieren. Wir eingehalten werden. Sozialer Druck, in der Zukunft plündern könnte und zeugsets verwenden. wissen aber andererseits auch nicht, peer pressure, Konformismus und welche Taktiken dieser auf Grund sei- wann dies in der Hominiden-Evolution Streitschlichtung durch unbeteiligte ner relativen Stellung zum Verstecker Neuweltaffen (Kapuzineraffen) ent - entstanden ist. Vielleicht bei Vorläufern Ranghöhere sind hier zu nennen. Bei anwenden würde. Es ist daher gerecht- deckt. Auch sie verwenden Steine zum vom Homo sapiens? Aber wo ist die Schimpansen wurde auch soziale Kon- fertigt, ihnen eine Form der Perspekti- Aufschlagen von harten Nüssen. Und Grenze zwischen Menschen und Nicht- trolle (policing) durch hochrangige venübernahme („Theory of Mind”), wel- sogar Vögel verwenden Werkzeuge. Ne- Menschen, oder – um der Unsicherheit Männer beobachtet. Daher ist wohl che von Psychologen als entscheidender ben den Darwinfinken auf Galapagos des Mensch-Tier-Übergangsfelds gerecht dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Schritt menschlichen Bewusstseins bei sind es Neukaledonische Krähen, die zu werden – zwischen menschlichen Gould Recht zu geben, wenn er fragt: Kindern gesehen wird, zuzugestehen. Stöckchen zum Stochern in Astlöchern und nicht-menschlichen Tieren? „Warum sollte unsere Bösartigkeit das Die kognitiven Werkzeuge im Bereich verwenden. Im Hinblick auf Vergleiche Gepäck einer äffischen Vergangenheit der sozialen Gruppe wurden als Machia- mit Menschen besonders interessant Kulturelle Evolution und unsere Gutartigkeit etwas exklusiv vellischen Fähigkeiten bezeichnet, um ist, dass sie nicht bloß herumliegende Menschliches sein? Warum sollten wir die taktischen Manöver im Umgang mit Äste verwenden, sondern diese entwe- Die kulturellen Leistungen scheinen nicht auch hinsichtlich unserer ‚edlen’ anderen zu beschreiben. Mit erdrücken- der gekonnt modifizieren oder funktio- sich beim Menschen nach derzeitigem Eigenschaften nach Kontinuität mit an- der empirischer Evidenz kann man heu- nale Äquivalente selbst herstellen. Un- Wissensstand parallel zu biologischen deren Tieren suchen?“ Keineswegs soll te behaupten, dass (manche) Tiere in- ter kontrollierten Laborbedingungen Entwicklungen herausgebildet zu ha- damit bestritten werden, dass die Men- tentional, also zielgerichtet handeln, in- konnte nachgewiesen werden, dass die- ben. Menschliches Denken beginnt da- schen die Moral institutionalisiert und dem sie Ziele verfolgen und ihre Konse- se Fähigkeiten auf ganz neues Material her nicht mit Argumentationslogik und internalisiert (Gewissen) haben und quenzen abschätzen, bzw. von mehreren (Draht) angewendet werden können. Urteilsbegründung, sondern baut auf Rechtfertigung sowie Verantwortung Optionen jene wählen, welche in der ge- Ein Individuum hat sogar zur Verbesse- dem Verstehen und Nutzen der physi- ganz neue Dimensionen erreicht haben. gebenen Situation die größten Erfolgs- rung der Angel-Fähigkeit das Ende des kalischen Umwelt, auf Fähigkeiten der Es soll bloß darauf hingewiesen werden, aussichten haben. Wir Menschen setzen Drahtes zu einem Haken gebogen. vorsprachlichen Begriffsbildung (Kate- dass wir in dem Maße unsere Mitge- dafür Bewusstsein ein. Tun dies auch Heiß umstritten ist zurzeit unter gorisierung) und den flexiblen, koope- schöpfe respektieren und ihnen Schutz Tiere? In den klassischen Spiegelversu- Kognitionsbiologen, ob Tiere die rativen sowie konkurrenzbedingten angedeihen lassen sollten, wie wir sie chen an Schimpansen wurde das schon Weitergabe von Wissen so kontrollie- Strategien des sozialen Umgangs auf. als bewusste, intentionale und leidens- vor 40 Jahren gezeigt. Heute gibt es ren können, dass eine schrittweise Ver- Dabei spielen zwar auch logische Prin- fähige Wesen erkennen können. Möge Nachweise des Erkennens des eigenen besserung ermöglicht und ein Rückfall zipien eine Rolle, so etwa bei polymor- unser Nachdenken über die Gemein- Gesichts oder auch anderer Körperteile auf frühere, einfachere Lösungen ver- phen, also mannigfaltigen Merkmals- samkeiten und Differenzen zwischen im Spiegel bei Delphinen und bei Ele- hindert wird. Dieser Sog. „Wagenheber- regeln zur Repräsentation von Objekt- Tieren und Menschen zur entsprechen- fanten, selbst bei Elstern (Huber 2010). effekt“ scheint ein besonderes Charak- klassen, bei Ausschlussprinzipien zum den Sensibilisierung beitragen. „ Selbstbewusstsein scheint auch nötig teristikum menschlicher Kultur zu sein. Auffinden versteckter Nahrung und zu sein, um sich selbst in Zeit und Ort zu Allerdings dürfen wir nicht übersehen, beim Schlussfolgern zur schnellen Er- versetzen. Bei dieser Zeitreise projiziert dass etwa die Verbesserung der Stein- fassung von Dominanzhierarchien. man das eigene Erleben in die Vergan- werkzeuge von den ersten Anfängen bis Allerdings ist diese Art der Logik nicht genheit oder Zukunft. Rückwärts gerich- zu den speziell hergestellten Faustkei- vergleichbar mit der aristotelischen Lo- tet spricht man von autobiografischem len tausende Generationen nötig wa- gik zum Zwecke des richtigen Argu- Nachrichten oder episodischem Gedächtnis, womit ren. Möglicherweise haben Schimpan- mentierens und Urteilens, welche erst Fünf neue Mitarbeiter arbeiten seit man das Was, Wann und Wo in Erinne- sen erst vor (erdgeschichtlich) kurzer im Rahmen einer verbalisierten, Anfang September in der Akademie. rung ruft. Ausgeklügelte Experimente Zeit begonnen, mit Steinen Nüsse zu komplexen Sprache entstehen konnte. Sie ersetzen Kolleginnen und Kolle- konnten zeigen, dass sogar Blauhäher knacken. Vielleicht sind es auch unvor- Logik bei Tieren kann jedoch die Stufe gen, die im Sommer ausgeschieden dazu in der Lage sind. Sie erinnern sich, hersehbare ökologische Bedingungen der sogenannten Popper-Logik errei- sind. Dr. Markus Hörmann, Theolo- wann sie welches Futter wo versteckt oder selten auftretende Zufallsentde - chen, die schon Konrad Lorenz als den ge, organisiert als Wissenschaftlicher haben. Vor kurzem konnte man sogar ckungen, die eine Technik verbessern Inbegriff von Denken charakterisiert Mitarbeiter Tagungen und kümmert nachweisen, dass sie Bedürfnisse des lassen. Jüngste Beobachtungen eröff- hat: Handeln im Vorstellungsraum. sich um die Katholische Erwachse- nächsten Tages einschätzen und entspre- nen den Raum für wage Indizien für Nach Karl Popper hat diese imaginati- nenbildung. Als Jahrespraktikantin chende Vorkehrungen treffen. Zukünfti- kumulative Verbesserung von Werk- ve Fähigkeit, Handlungen zuerst im zur Ausbildung als Hauswirtschafts- ge Forschungen werden zeigen, wie weit zeugen und sogar „industrielle“ Ferti- Geist durchzuspielen, den Vorteil, dass leiterin verstärkt Ann-Kathrin Glück, Tiere vorausplanen bzw. zukünftige Er- gungsabläufe bei Neukaledonischen die Vorstellung sterben kann, während gelernte Konditorin, das Team der eignisse vorausahnen können. Krähen. ihr Besitzer am Leben bleibt. Hauswirtschaft. Genauso wie Edwina Ein Vorteil des Lebens in individuali- Es ist sehr plausibel anzunehmen, sierten sozialen Gruppen ist das Lernen dass die Weitergabe von Wissen mithilfe Die ethischen Implikationen Koch, die in der Hauswirtschaft als vom anderen. Anstatt einzeln durch eines komplexen, flexiblen Symbolsys - der Kognitionsbiologie Auszubildende mitarbeitet. Auch zu Versuch und Irrtum zu lernen, können tems enorm verbessert und beschleunigt ihrer dreijährigen Ausbildung – sie die von einem Mitglied gemachten Er- werden kann. Durch die Symbolisie- Schließlich sei noch auf den ethi- will Köchin werden – kam Deborah fahrungen und Innovationen abge- rung kann Wissen abstrahiert und ge- schen Aspekt der Kognitionsbiologie Filacchione neu in die Akademie. schaut und weitergegeben werden. Dies gen Verfälschung immunisiert werden. verwiesen, der sich besonders bei der Und schließlich ist da noch Manuel trifft allerdings nicht nur auf praktische Den Beginn dafür könnten Gestik, Mi- Reflexion von sozialer Intelligenz auf- Herzog. Er absolviert bis zum kom- Belange, wie dem Finden und Erschlie- mik und Zeichnung gemacht haben. drängt (siehe auch Huber 2007). Die menden Sommer sein Freiwilliges ßen von Nahrung, zu, sondern auch auf Die se erste Form der Symbolisierung kognitiven Fähigkeiten im sozialen Mi- Ökologisches Jahr (FÖJ), bei dem er soziale Spielregeln, Grußgesten und ri- und Referenz könnte die Evolution von lieu haben es ermöglicht, bereits vor die mannigfaltigen Umweltaktivitäten tualisiertes Verhalten. Solche Verhal- kombinatorischem und logischem Den- dem Entstehen der menschlichen Zivili- der Akademie unterstützt. tenstraditionen, die auf sozialem Lernen ken beschleunigt haben. Es könnte aber sationen moral-ähnliche Entwicklungen

6/2010 zur debatte 43 der naturwissenschaftlich nicht zugäng- Gott, der ihn zwar zum Guten geschaf- Das „animal religiosum“ lich ist. Und er hat nahezu unwiderlegli- fen, zum Bösen aber frei gelassen hat; che Gründe für eine differenzierte, die Erfahrung eines Bundes mit Gott, und sein Schöpfer nicht-empiristische Hermeneutik der den Menschen umfängt und an- biblischer und anderer Texte der theo- nimmt; die befreiend-erlösende Begeg- Christian Tapp logischen Tradition. Wie man diese nung mit Gott in Jesus Christus; und Voraussetzungen präzisieren könnte, schließlich die Religiosität als Weise, in darüber kann man streiten. Ich möchte der das Geschöpf sich in Beziehung zu aber über diesen Streit hinauskommen seinem Schöpfer zu setzen, ihn zu lie- und dazu einladen, diese Voraussetzun- ben, zu verehren und sich ihm zu nä- gen wenigstens einmal hypothetisch hern versucht. mitzumachen. 1. Möglichkeit einer positiven Dann eröffnet sich die spannende 3. Methodisch-begriffliche Zuordnung von Theologie und Frage, ob und, wenn ja, was der Theo- Überlegungen zum „Zurückweisen“ Naturwissenschaften loge vom Naturwissenschaftler lernen von Hypothesen kann – und ob dies auch etwas von In den aktuellen Debatten um den theologischer Bedeutung sein kann. Die- Wenn es heißt, dass die Naturwissen- Naturalismus und den sogenannten se Frage ist wohl weniger alltäglich und schaften gewisse theologische oder an- „Neuen Atheismus“ werden Theologie verdient unsere Aufmerksamkeit. thropologische Behauptungen „zurück- und Naturwissenschaften meist in einen gewiesen“ hätten, kann das Verschiede- schlichten konfrontativen Gegensatz 2. „Essentials“ der theologischen nes heißen. Ich möchte zwei Arten von gebracht: Was man früher theologisch Lehre vom Menschen „etwas zurückweisen“ unterscheiden: „pseudo-erklärte“, bekomme heute eine Nach der einen Art weist man eine Hy- „echte“, naturwissenschaftliche Erklä- Jede systematische theologische pothese zurück, falls die betreffende Sa- rung; die Gotteshypothese habe man Lehre steht auf dem Boden der Heiligen che in den eigenen Perspektiven und durch wissenschaftliche Hypothesen Schrift und der übrigen Traditionen des mit den eigenen Methoden unzugäng- ersetzt und als überflüssig nachgewiesen Glaubens und entfaltet deren Überlie- lich bleibt. So stellt der Physiker viel- usw. Theologie und Naturwissenschaf- ferungsgehalte mit den Mitteln der leicht fest, dass seine Theorien ihm ten bewegen sich nach diesem Modell philosophischen Reflexion und in Aus- nicht helfen, wenn er eine Reise nach auf derselben Ebene und treten in Kon- einandersetzung mit den Erkenntnissen Passau plant und mit dem Tarifsystem kurrenz zu einander („Konkurrenz- anderer wissenschaftlicher Disziplinen. der Deutschen Bahn ringt. Oder der modell“). Bei der Lehre vom Menschen ist die Theologe erkennt, dass die Frage, ob Das Konkurrenzmodell erklärt die Philosophie nicht nur als Instrument, Pädophilie therapierbar ist, nicht theo- historischen Konfrontationen zwischen sondern auch in Bezug auf die Inhalte logisch entscheidbar ist. In solchen Fäl- Religionsvertretern und Wissenschaft- einflussreich geworden. Philosophische len sondert man eine Frage aus einem lern. Für manchen Theologen scheint Theorien über Seele und Leib, über Per- bestimmten Bereich aus, weil sie in die- es den weiteren Vorteil zu haben, dass Prof. Dr. Dr. Christian Tapp, Juniorpro- sonen und Handlungen, über Gerech- sem Bereich keinen Sinn macht oder die Immunisierung gegenüber naturwis- fessor für Philosophisch-Theologische tigkeit und Unsterblichkeit u. v. a. m. mit den Kenntnissen und Methoden senschaftlichen Fakten eine grob ver- Grenzfragen an der Universität Bochum sind mit den christlichen Glaubensge- dieses Bereichs nicht entschieden wer- einfachende Bibellektüre zulässt (als halten amalgamiert worden. Es ist da- den kann. Diese Zurückweisung von historischen Bericht) – was mühsame her kaum mehr möglich, philosophische Fragen könnte man „Zurückweisung hermeneutische Arbeit erspart. Das und religiöse Lehren sauber voneinan- wegen Nichtzuständigkeit“ nennen. Konkurrenzmodell hat aber auch ge- nicht Teil der empirischen, „irdischen“ der zu trennen. Trotz dieser Schwie - Die andere Weise etwas zurückzu- wichtige Nachteile: Es wird dem Fak- Wirklichkeit ist und deshalb auch nicht rigkeit will ich versuchen, nach den weisen liegt hingegen dann vor, wenn tum vernünftig scheinender religiöser in den Objektbereich der Naturwissen- christlichen „essentials“ zu fragen: eine Behauptung im eigenen Gebiet Personen nicht gerecht und ebnet die schaften fällt. Naturwissenschaften ma- Was macht eigentlich das spezifisch Sinn macht, jedoch im Konflikt mit offenkundigen Unterschiede zwischen chen keine Aussagen über Gottes Exi- Christliche am christlichen Menschen- Erkenntnissen dieses Gebiets steht. So typisch religiösen und typisch natur- stenz und sind daher prinzipiell sowohl bild aus? haben die Biologen die Behauptung zu- wissenschaftlichen Aussagen ein. mit theistischen als auch mit atheisti- Die erste Aufmerksamkeit muss na- rückgewiesen, dass man ein direktes, Außerdem läuft das Modell mehr oder schen Weltbildern (z. B. dem Natura- türlich dem Zeugnis der Bibel gelten. mirakulöses, außerhalb des sonstigen weniger auf einen Naturalismus hinaus, lismus) kompatibel. Dies gestaltet sich allerdings schwierig, Naturzusammenhanges stehendes Er- d. h. auf die Überzeugung, dass alle (re- D. h. auf der anderen Seite aber denn: „das biblische Menschenbild gibt eignis annehmen muss, um sich die Ent- levanten) Bereiche der Wirklichkeit na- nicht, dass alle faktischen theologischen es nicht“ (C. Frevel in: Biblische An- stehung des Menschen zu erklären. Und turwissenschaftlich erklärbar sind – Aussagen mit allem und jedem, was die thropologie, Freiburg 2010, S. 35). Die die Astronomen haben die Behauptung eine kaum stichhaltig begründete, welt- Naturwissenschaften herausgefunden biblischen Texte sind der Niederschlag zurückgewiesen, dass unsere Sonne der anschauliche These. haben oder noch herausfinden könnten, der Lebenserfahrungen der Väter und einzige Stern mit Planetensystem ist. Es Die wichtigsten dieser Nachteile ver- kompatibel sind. Im Gegenteil könnte Mütter des jüdisch-christlichen Glau- muss dabei nicht immer einen direkten meidet das sog. „Zwei-Ebenen-Modell“. die Kompatibilitätsforderung für den bens und spiegeln die gesamte Ambiva- Widerspruch zu den gesicherten Er- Es geht davon aus, dass Theologie und Theologen so etwas wie ein Lackmus- lenz dieser Erfahrungen wider. So spre- kenntnissen einer Disziplin geben, son- Naturwissenschaften zwei verschiedene Test sein bei seinem Versuch, die Glau- chen sie vom unverrechenbaren Wert dern es kommen auch Indizien und Bereiche der Wirklichkeit thematisie- bensaussagen der Tradition zu inter- und der Würde des Einzelnen, aber Widersprüche zu gut belegten Hypothe- ren. Den Naturwissenschaften gehe es pretieren: Stellt sich heraus, dass ein auch von seiner Niedrigkeit und seinem sen in Frage. In diesen Fällen könnte um das Empirisch-Faktische, den Theo- bestimmter Interpretationsvorschlag Elend, ja davon, dass er nur Staub und man von einer „Zurückweisung wegen logen hingegen um Sinn, Moral oder gesicherten naturwissenschaftlichen Asche ist. Sie artikulieren den Glauben Widerspruchs“ sprechen. Religiosität. Erkenntnissen widerspricht, so kann daran, dass der Mensch gut und zum Ein solches „Zwei-Ebenen-Modell“ er nicht richtig sein. Ein solcher Lack - Guten geschaffen ist, beschreiben aber 4. Der Mensch als „Krone der erklärt die Verschiedenheit bereichs - mus-Test funktioniert bestens etwa bei zugleich den Hang zur Sünde. Sie be- Schöpfung“ typischer Aussagen und schafft durch der ersten Schöpfungserzählung: Die wegen sich nicht selten in einer Per- die klare Bereichsabgrenzung (trügeri- biblizistische Lesart, nach der diese spektive radikaler Diesseitigkeit, und Die christlich-anthropologische sche?) Ruhe. Es überbeansprucht aber Erzählung einen Bericht von einem fak- tragen doch erste Spuren einer Hoff- Aussage vom Menschen als „Krone der wohl die Erklärungskraft von Missver- tischen Geschehen gibt, widerspricht nung auf ein Leben nach dem Tod. Schöpfung“ bezieht sich v. a. auf die ständnissen, wenn alle Konflikte zwi- unseren gesicherten Erkenntnissen über Schon in den biblischen Texten be- Aussagen der beiden Schöpfungserzäh- schen Naturwissenschaften und Theolo- die Entstehung unserer Welt, besonders gegnen uns die spezifischen Glaubens- lungen am Anfang der Bibel. Während gie als Missverständnisse wegerklärt deren zeitlicher Dimension. So kann inhalte nicht in Reinform, sondern die zweite Schöpfungserzählung sich werden sollen – auch wenn viele dieser naturwissenschaftliche Erkenntnis den verwoben in ein Netz aus Alltagserfah- um den Menschen als ihren Mittelpunkt Konflikte sicher auf Missverständnissen Blick freigeben für die eigentlichen In- rungen, allgemeiner Lebensweisheit, dreht (Gen 2,4b-25), stellt die erste die beruhten. Der bedeutendste Nachteil tentionen des religiösen Texts. vorwissenschaftlicher Welterklärung Erschaffung der Welt als einen mehr- dieses Modells ist aber die Gefahr der Eine positive Zuordbarkeit von Theo- und vielerlei kulturellen Rahmenbedin- schrittigen Prozess dar, in dem der Entkoppelung der zwei Ebenen vonein- logie und Naturwissenschaften setzt gungen. Was eine Basisaussage der Mensch als letzte der Kreaturen er- ander. Dadurch werden Aussagen auf allerdings auf beiden Seiten etwas vor- biblischen Anthropologie ist, wird man schaffen wird (Gen 1,1-2,4a). Er soll, der Sinn-Moral-Religionsebene vor aus: beim Theologen die Offenheit, über daher ohne hermeneutische Vorgaben so heißt es, über die ganze Erde herr- wissenschaftlicher Kritik immunisiert. die Welt, die er als Schöpfung Gottes nicht sagen können. Die wichtigste schen und sie sich unterwerfen (Gen Womöglich wird sogar ihr sprachlicher ansieht, auch von den Naturwissen- Vorgabe wird sein, die Bibel als Zeugnis 1,26.28). Bezug gefährdet. Eine Ebenentrennung schaftlern zu lernen. Er darf nicht aus des Glaubens ihrer Urheber zu lesen: Im Gegensatz zu früheren Interpreta- ist unplausibel: Moralische Aussagen einer überlegenen Position heraus re- als Zeugnis des Glaubens an Gott, den tionen, die diese Stelle zur Legitimation etwa hängen immer mit empirisch-fakti- den, als besäße er längst die ganze Schöpfer des Himmels und der Erde, eines ungezügelten und rücksichtslosen schen Aussagen zusammen – schon Wahrheit und hätte die Kenntnisnahme und (darin eingeschlossen) daran, dass Umgangs mit der Natur missbrauchten, über ihre Anwendbarkeitsbedingungen. weiterer Wahrheiten aus den Naturwis- der Mensch ein Geschöpf Gottes ist. hat sich heute ein dem Text näheres Ver- Ein drittes Modell könnte man „Kom- senschaften nicht nötig. Und es setzt auf Von dieser Zentralaussage her struk- ständnis durchgesetzt, das hier einen be- patibilitätsmodell“ nennen. Religiöse Seiten des Naturwissenschaftlers voraus, turieren sich die weiteren „essentials“ sonderen Kulturauftrag des Menschen Aussagen über den Menschen und sein nicht vorschnell die Reichweite der eige- einer theologischen Anthropologie: begründet sieht. Der Mensch soll die Verhältnis zu Gott sind danach weltbild- nen Methoden zu den Grenzen des Ver- die Gottebenbildlichkeit, die besondere „naturgegebenen“ Ordnungen einhalten, artig. Sie setzen den Menschen auf be- nünftigen überhaupt zu erklären. Der Stellung in und Verantwortung für die besonders die Sabbat-/Sonntagsruhe. stimmte Weise in Beziehung zu Gott Theologe mag mit guten Gründen einen Schöpfung („Krone der Schöpfung“); Die Bilder von „Herrschen“ und „Unter- und damit zu etwas, das ausdrücklich Bereich der Wirklichkeit annehmen, ferner die Freiheit des Menschen vor werfen“ spielen auf das Ideal einer

44 zur debatte 6/2010 weisen Königsherrschaft an, die den ers ten Menschen aus einem Vorgänger- Man muss also festhalten, dass die des Übels ziehen. Das theologische Pro- Autoren als das Paradebeispiel fürsorg- primaten oder gar ohne jeden Vorgän- biologischen Theorien und Einzeler- blem des Übels besteht darin, wie man licher Machtausübung gilt. Der Mensch ger ist keine gute Alternativerklärung. kenntnisse, auch wenn sie von sich aus die Existenz eines allwissenden, all- soll nicht beherrschen und zerstören, Es kann naturwissenschaftlich nur zu- keinen Schluss auf eine Teleologie zu- mächtigen und allgütigen Wesens mit sondern bewahren und umsorgen. rückgewiesen werden. lassen, mit der Annahme, dass der ent- der Existenz und dem Ausmaß des Damit ist allerdings eine Rangfolge Auch zur Erklärung und Vorausbe- sprechende Naturvorgang intentional Übels in der Welt vereinbaren kann. vorausgesetzt, nach der der Mensch rechnung anderer Naturphänomene abläuft, verträglich sein müssen. Dieses Problem hat (mindestens) zwei „über“ den Tieren und diese „über“ den wird Gott nicht benötigt – und sollte Wie kann man nun die konkrete Seiten: Die logische Seite besteht darin, Pflanzen stehen. Eine entsprechende auch dafür nicht in Anspruch genom- Spannung auflösen zwischen der theo- ob es überhaupt möglich ist, dass ein Aussage war in der Evolutionsbiologie men werden (vgl. das zweite Gebot). logischen Aussage, dass Gott den Men- Gott mit den genannten Eigenschaften lange Allgemeingut und wurde erst in Es spricht auch viel dafür, dass Na- schen gewollt hat, und der biologischen existiert und es dennoch unerträgliche jüngerer Zeit zurückgewiesen. Man turgesetze ausnahmslos gelten. Selbst Aussage, dass der Mensch aus einem Übel gibt. Dieses logische Problem lässt hatte ohne viel Federlesens Evolution der Papst setzt sich nur in Flugzeuge, „zufälligen“ Prozess der Evolution her- sich relativ leicht mittels der Zusatzan- als eine Höherentwicklung verstanden die nach den Erkenntnissen der Physik vorgegangen ist? Drei Möglichkeiten nahme lösen, dass das Leid in der Welt und eine entsprechende Rangordnung und den Regeln der Ingenieurskunst ge- seien kurz erwähnt. Die erste be- irgendwie einem größeren Gut dient. unter den Organismen vorausgesetzt. baut und entsprechend gewartet worden schränkt sich auf die Vermeidung des Dann wäre das allmächtige Wesen, das Mit der Entdeckung von mehr und sind – und ich vermute, nicht nur aus scheinbaren Widerspruchs zwischen von diesem größeren Gut weiß, mora- mehr Ähnlichkeiten zwischen ver- dem theologischen Grund, dass man einem Wollen Gottes und einer freien lisch gerechtfertigt oder u. U. sogar ver- meintlich höheren und vermeintlich Gott nicht auf die Probe stellen soll. Evolution. Ein solcher ergibt sich näm- pflichtet, diese Übel zu Gunsten des niedrigeren Lebewesen wurde diese Heißt das nun aber, dass Gott über- lich erst unter gewissen Zusatzannah- höheren Gutes zuzulassen. Die bloße Rangfolge fraglich und die Theorie ei- haupt nicht in die Schöpfung eingreift? men, etwa dass der göttliche Willensakt logische Möglichkeit, Gott und Übel ner Aufwärtsentwicklung unplausibel. Dass die biblischen Geschichten von ei- dem empirischen Ereignis zeitlich miteinander zu vereinbaren, ist schon Das Moment der Wertung und das nem Handeln Gottes an seinem erwähl- vorausgeht. Ein ähnliches Phänomen damit gegeben. Moment der Gerichtetheit der Ent- ten Volk Israel überhaupt keinen histo- diskutiert man als „foreknowledge di- Noch nicht gegeben ist allerdings eine wick lung schienen biologisch nicht ge- risch greifbaren Hintergrund haben lemma“ in der Analytischen Religions- plausibilisierende Einsicht darin, was deckt. Stattdessen spricht die Biologie können? Dass die Rede von Offenba- philosophie. Dabei geht es darum, ob dieses höhere Gut sein kann, auf welche von besserer oder schlechterer Umwelt- rung in der Person Jesu Christi sich bloß unsere Handlungen frei sein können, Weise das Übel in der Welt zu diesem anpassung oder „Fitness“ in Bezug auf noch auf subjektive Konstrukte bezie- wenn Gott sie vorherweiß. In beiden Gut beiträgt und dass das Gut nicht auf die Umweltgegebenheiten, wobei dieses hen kann? Fällen kann eine elaborierte Konzep- anderen, weniger üblen Wegen realisiert „besser“ und „schlechter“ danach zu tion von zeitloser Ewigkeit die uner- werden kann. beurteilen ist, was sich durchgesetzt 6. Der Mensch – von Gott gewollt? wünschten Folgerungen unterbinden. Möglicherweise könnten Theologen hat. Die Biologie wies also die Hypo- Eine zweite Lösung könnte beim Be- hier etwas von der Biologie lernen. these einer Höherentwicklung von Eine konkrete Schwierigkeit zwi- griff der „Zufälligkeit“ ansetzen. „Zufäl- Wenn der Mensch durch Evolution ent- Arten zurück. In der oben eingeführten schen naturwissenschaftlichen Erkennt- ligkeit“ in der Biologie meint nicht die standen ist und seine Existenz ein hohes Terminologie ist dies jedoch eine Zu - nissen und theologischen Aussagen Abwesenheit kausaler Faktoren. Dass Gut darstellt, so wird dadurch eine ge- rückweisung aus Nichtzuständigkeit über den Menschen besteht in der Auf- Mutationen „zufällig“ sind, heißt nicht, wisse Menge Leid in der Natur „vor“ und keine Zurückweisung aus Wider- fassung, dass nach kirchlicher Lehre der dass sie wirklich kausal indeterminiert dem Menschen gerechtfertigt. Das Fres- spruch. Das sieht man schon daran, Mensch das einzige Geschöpf ist, das sind, sondern nur, dass die physikali- sen und Gefressenwerden im Tierreich, dass sich fast jeder vernünftige Biologe Gott „um seiner selbst willen gewollt schen Ursachen (wie UV-Einstrahlung) das uns Menschen häufig so brutal und für den Tierschutz stark machen würde, hat“ (GS 24,3). Wie verhält sich dieses im Einzelnen nicht bekannt sind oder sinnlos vorkommt, erschiene uns besser obwohl er eher skeptisch wäre gegen - Wollen Gottes, das sich direkt auf die für die biologische Theorie keine Rolle gerechtfertigt, wenn es sich als notwen- über juristischen Vorstößen, den Entstehung eines Menschen richtet, zu spielen. „Zufällig“ steht hier also für „in dige Voraussetzung für die Evolution strafrechtlichen Schutz von Tieren der Ungerichtetheit und Zufälligkeit des diesem Zusammenhang unbestimmt“ komplexerer Organismen wie den Men- demjenigen des Menschen vollständig Evolutionsprozesses, aus dem der und nicht für „generell unbestimmt“. schen herausstellen würde. Wenn die anzugleichen. Es gibt also für den Mensch nach allem, was wir wissen, Es ist also mit der biologischen Theorie Natur so ist, dass der Mensch nicht auf Biologen wie für jeden anderen hier hervorgegangen ist? durchaus vereinbar, dass ein bestimmtes andere Weise entstehen konnte, dann einen bedeutsamen Unterschied und es Diese Frage ist ein Spezialfall des Evolutionsereignis kausal determiniert könnte das Hervorbringen des Men- ist vielleicht nur nicht klar, woran er Problems einer Teleologie der Naturent- ist, obwohl es nicht aus der biologi- schen eine Rechtfertigung für denjeni- biologisch festgemacht werden könnte. wicklung. Entwickelt sich die Natur auf schen Theorie allein prognostizierbar gen Anteil tierischen Leids sein, der In der modernen Biologie wird zwar ein Ziel hin? Folgt sie gar den Intentio- wäre. Eine Konzeption des Handelns dafür unabdingbar notwendig ist. In häufig behauptet, dass der Mensch nen eines intelligenten Wesens? Wir Gottes durch die Einrichtung bestimm- den entsprechenden Fachtermini könn- nichts anderes als ein bestimmtes Tier streifen hier die Intelligent-Design- ter Naturgesetze und Festlegung von te man davon sprechen, dass eine Theo- sei. Dabei geht es aber nicht darum, Theorie, die nach meiner Einschätzung Anfangsbedingungen des Universums dizee so auf einen größeren Bereich des Menschen und nicht-menschliche Tiere letztlich unwissenschaftlich ist: Man etwa wäre damit ohne Weiteres kompa- malum physicum ausgedehnt werden gleichzusetzen. Es sind ja schon rein weiß, was am Schluss herauskommen tibel. könnte. biologisch genügend Spezifika des Men- soll, und tut so, als ob man aufgrund Beide Lösungsansätze betreffen aller- schen bekannt: vom aufrechten Gang voraussetzungloser Wissenschaft darauf dings nur die Entwicklung hin zum 8. Schluss über die Gehirngröße bis hin zu Indivi- gekommen wäre. Ich denke nicht, dass Menschen. Offen bleibt, ob es nach dem dual- und Sozialverhalten und ganz zu man berechtigterweise von empirischen Menschen eine Fortsetzung der eigent- Der Philosoph Wolfgang Welsch hat schweigen von Sprache, Kultur, Technik Beobachtungen ausgehend zwingend lichen Evolution geben wird. Auf biolo- behauptet, dass uns die Evolutionäre usw. Aus verschiedenen Gründen kann auf eine Intelligenz schließen kann, die gischer Seite spricht dagegen, dass wir Anthropologie habe „verstehen lassen, auch die prozentuale Übereinstimmung die Welt entsprechend eingerichtet hat. Menschen unser Verhalten (besonders wie wir Menschen nicht durch göttliche des Genoms von Mensch und verschie- Aber man darf, denke ich, das Kind das moralische) z. T. konträr zu den Begabung, sondern infolge evolutionä- denen Tieren diesen Unterschied nicht auch nicht mit dem Bade ausschütten. „natürlichen“ Selektionsmechanismen rer Veränderungen den Weg zur Kultur einebnen. Das berechtigte Anliegen der Es ist nämlich keineswegs absurd anzu- eingerichtet haben. Allgemein scheint gefunden haben“ (http://www2.uni- Biologie ist wohl eher, dass sie das nehmen, dass gewisse biologische Pro- man in der Biologie heute mehr und jena.de/welsch/EMERGENZ.pdf, Recht hat, den Menschen in ihre Erklä- zesse so ablaufen, wie sie ablaufen, weil mehr von einer neuen Stufe der Evolu- 17.05.2010). Ich denke, dass es sich hier rungssystematik einzubeziehen. Dage- jemand es so wollte. Das ist etwas ande- tion, der sogenannten „Kulturellen Evo- um eine falsche Gegenüberstellung han- gen ist, meine ich, nichts zu sagen. Im res als Intelligent Design: Es ist nicht lution“ auszugehen. Von daher ist es delt, die den alten Fehler theologischer Gegenteil: Biologische Erkenntnisse der Versuch, zwingend zu zeigen, dass vielleicht nicht biologisch zwingend, die Einmischung in naturwissenschaftliche über den Menschen, seine Abstam- es so ist, sondern es ist nur die Behaup- Annahme einer rein biologischen Evo- Forschung nur mit umgekehrtem Vor- mung, seine genetische Verwandtschaft tung der Vereinbarkeit von biologischer lution nach dem Menschen zu fordern. zeichen repetiert. mit anderen Lebewesen, seine physiolo- Erkenntnis und teleologischer Deutung. Auf der anderen Seite müsste man auch Das Erfolgsrezept der Naturwissen- gischen Strukturen u. v. a. m. können Auch wenn tragfähige Rückschlüsse prüfen, ob es theologisch überhaupt schaften war und ist die strenge Be- uns zum Beispiel helfen, medizinische auf eine erzeugende Intelligenz grund- zwingend ist, unter „Krone der Schöp- schränkung auf eine präzise Methodik. Hilfen zu entwickeln – und dazu sind sätzlich nicht möglich sind, bleibt davon fung“ einen Abschluss zu verstehen. Wenn man diese Strenge und Beschrän- wir christlich in der Pflicht. Außerdem die Kompatibilität biologischer Beob- Könnte es theologisch vertretbar sein, kung auch beibehält, wenn es um die lassen sie uns etwas über uns selbst er- achtungen mit der Annahme einer er- dem Text von Gaudium et spes ein Reichweite der so erzielten Resultate fahren und (in religiöser Perspektive) zeugenden Intelligenz völlig unberührt, „bislang“ hinzuzufügen: der Mensch ist geht, dann spricht von Seiten der Na- etwas über unseren Schöpfer und darü- und das muss sie auch, wenn sie mit un- bislang das einzige Geschöpf, das Gott turwissenschaften meines Erachtens ber, wie er uns erschaffen hat. seren Alltagsüberzeugungen kompatibel um seiner selbst willen gewollt hat? nichts gegen Versuche, das Entstehen sein will. Nicht-intentionale Erklärbar- Hier müssten weitere Überlegungen an- und Vergehen in der Natur als Teil des 5. Handeln Gottes und Naturgesetze keit bedeutet nicht intentionale Nicht- geschlossen werden. Sie wären nicht göttlichen Schöpfungsplans zu interpre- Erklärbarkeit. Die nicht-intentionale Er- nur als Zukunftsspekulationen interes- tieren. Die Naturwissenschaften erklä- Bekanntlich hat die Evolutionsbiolo- klärbarkeit vieler Naturphänomene darf sant, sondern auch, weil sie die Rede ren uns im Rahmen eines geordneten gie uns Erklärungen dafür geliefert, wie nicht darüber hinwegtäuschen, dass vie- von der „Krone der Schöpfung“ näher Theoriezusammenhangs, wie Welt und der Mensch aus gemeinsamen Vorfah- le Phänomene in der Natur nur intentio- bestimmen würden. Mensch funktionieren, wie sie entstan- ren mit anderen Primaten entstanden nal erklärt werden können – da es sich den sind und sich entwickeln. Dies kön- ist. Diese Erklärungen sind zwar noch um Resultate von menschlichen Hand- 7. Das Problem des Übels nen wir im Rahmen einer religiösen nicht vollständig, aber sie sind so über- lungen handelt. Und die Beteiligung Weltanschauung als ein „Lesen der Ge- zeugend und können so viele Einzel- nicht-intentionaler, zufälliger Faktoren Wenn die Theologie von den Natur- danken Gottes“ auffassen. Aber das ist phänomene erklären, dass man sie zum an einem Gesamtsystem ist durchaus wissenschaften tatsächlich etwas darü- eben eine religiöse Interpretation der gesicherten Erkenntnisstand rechnen damit verträglich, dass das Gesamtsys- ber lernen würde, wie Gott in der Naturwissenschaften und keine Natur- muss. Ein Eingreifen Gottes im Sinne tem (auch) auf intentionalen Faktoren Schöpfung handelt, so könnte man dar- wissenschaft. „ einer mirakulösen Erschaffung eines beruht. aus gewisse Schlüsse für das Problem

6/2010 zur debatte 45 werke aus den achtziger Jahren des vo- Zügen des Malers. Es ist, als durchziehe rigen Jahrhunderts, aufgeklebt auf einen ein Kreuzweg das gesamte Schaffen Ar- größeren Bildträger, dabei bedrängt, ja nulf Rainers. geradezu überwältigt von Farberuptio- Arnulf Rainer nen, sowie neunzehn Überzeichnungen III. und Zumalungen von Schwarz-Weiß- Fotografien von Totenmasken und Lei- Es konnte nicht ausbleiben, dass eine chengesichtern, aber auch wiederum solche Fixierung auf das Kreuz an dem christlicher Motive, allen voran dem Reichtum der Vorstellungswelt gemes- Kruzifix, sämtlich aus den Jahren 1978 sen wurde, die sich mit diesem Be- bis 1980. Dennoch werden selbst in die- kenntniszeichen des Christentums seit ser kleinen Auswahl Grundzüge des nun zweitausend Jahren verbindet. Werke Arnulf Rainers sind von beson- in das Werk des Künstlers ein. „zur Schaffens von Arnulf Rainer deutlich, Doch religiösen Dimensionen, theologi- derer Aussagekraft, wirken aber durch debatte“ dokumentiert den überarbei- erscheint wie in einem Mikrokosmos schen Erwägungen weicht Arnulf Rai- ihre Radikalität oft verstörend. Gerade teten Vortrag, zeigt drei besonders em- das Anliegen seiner Kunst mit der ihr ner aus. Er will keine sakrale Malerei die Übermalung und die Verfremdung blematische Werke Rainers und bringt innewohnenden Drastik, aber auch aller fertigen, sieht sein Werk nicht in deren von Kunstwerken, Gegenständen, aber einige Bilder, die die Atmosphäre auf Beredsamkeit. Tradition. Er malt nicht für den Sakral- auch von religiösen Symbolen machen der Vernissage wiedergeben sollen. Aus der Fülle der Anknüpfungsmög- raum sondern für den profanen Bereich es dem Betrachter nicht einfach. Bei Die Ausstellung ist bis zum 19. No- lichkeiten will ich hier nur zwei Aspek- von Museum, Ausstellungshalle, Galerie der Vernissage am 20. September 2010, vember 2010, jeweils montags bis frei- te herausgreifen, einen thematischen und das häusliche Ambiente des Samm- bei der Arnulf Rainer anwesend war, tags, von 9 bis 17 Uhr zu sehen. Der Gesichtspunkt und eine Frage der lers. Die Kreuze und Kruzifikationen führte Professor Reinhold Baumstark Eintritt ist frei. Kunstproduktion, aber weder verfolgt Arnulf Rainers sind daher zunächst un- der eine Weg den einer ikonographi- ter dem Aspekt der elementaren Sinn- schen Untersuchung noch beschränkt lichkeit des Malakts zu deuten, den sie sich der andere auf maltechnische Be- zu perpetuieren suchen. Die damit er- sonderheiten. Vielmehr verbinden sich fahrenen Gegenwart der Hand des beide zu einem Interpretationsmodell, Künstlers in seinem Werk intensiviert das dem Forum einer Katholischen sich durch das Fixieren der ungestümen Akademie angemessen ist. Gestik einer Malerei, deren Radikalität sich auch darin äußert, dass das seit al- II. ters her vertraute, geschlossene Recht- Zum Werk von Arnulf Rainer eck des Bildfeldes, die ikonische Urform Zunächst ist der Umstand festzuhal- an sich, aufgehoben wird, um sich nun Reinhold Baumstark ten, dass sich in dem nun eine Spanne zweier kreuzender Malflächen mit di- von sechzig Jahren umfassenden Werk vergierendem Richtungsverlauf zu be- Arnulf Rainers eine thematische Kons - dienen. Doch bei aller Distanz, die Ar- tante herausgebildet hat, die das Schaf- nulf Rainer zwischen seine Bilder und fen des Künstlers geradezu wie ein Ner- dem dogmatischen Gehalt des Kreuzes venstrang durchzieht. Es ist das Urthe- zu legen sucht, können weder der Maler ma des Kreuzes, vor zweitausend Jah- wie schließlich auch der Betrachter die ren ein Skandalon, seither das Zeichen Augen vor der Wirklichkeit der fortwir- von Heil und Erlösung einer christ- kenden Kraft eines Zeichens schließen, I. lichen Welt. Dem Kreuz ist Arnulf Rai- das zunächst zu Spott und Schande ner nicht ausgewichen. Es hat es ge- diente, dann aber zum Symbol des Das Werk von Arnulf Rainer erfreut sucht, attackiert, unter Farbschleiern Heils schlechthin aufstieg. Arnulf Rai- sich in diesem Sommer und Frühherbst verdunkelt, mit Farbkaskaden getränkt, ner bedient sich dieser Bedeutungsfülle hoher Konjunktur, es feiert den 80. Ge- ihm mit Pinsel und Hand Hiebe ver- etwa, wenn er der Malerei seiner Ver- burtstag des Künstlers. Die Alte Pinako- setzt. Doch was zunächst wie bilder- hüllungen des Kreuzes fotografische Re- thek in München zeigte bis vor kurzem stürmische Aggression wirkt, ist ohne produktionen eines Kruzifixes unterlegt, eine Auswahl bedeutender, bislang jede Schmähung, will weder Zerstörung um so mit Ablagerungen von Farbe das kaum bekannter Werke aus dem gesam- noch Ausmerzung, sondern umfängt das Christushaupt zu überdecken, es unter ten Schaffensbereich unter dem Titel altehrwürdige Zeichen bei allen ihm zu- Zumalungen zu entrücken. Fern einer „Arnulf Rainer. Der Übermaler“, das gefügten Verletzungen mit Ergriffenheit, biblischen Theologie reift so Spiritua- Arnulf Rainer-Museum in Baden bei zudem der Einsicht in die Passion von lität, allein geformt aus Malerei, be- Wien, der Geburtsstadt des Künstlers, Gebrochenheit, Scheitern und Tod. In- wahrt in einem Malakt, der das Kreuz präsentiert unter dem einzigen Wort dem Arnulf Rainer das Kreuz der Obhut aufrichtet, selbst unter Verhüllung und „Kreuz“ eines der Kernthemen Arnulf einer Malerei anvertraut, die Grenzen Verfinsterung, inmitten von Katarakten Rainers in vielfacher Verästelung, und niederreißt, nutzt er ein Instrument des rinnender Farbe, kraft ekstatischer Hie- nun fügt die Katholische Akademie in Halts angesichts von Anarchie, bindet be von Pinsel und Hand. Bayern zeitweilig Werke des Künstlers er sich wie Odysseus an den Mastbaum in ihre Räume ein, in kleiner Zahl zwar, inmitten des auf ihn einstürzenden IV. jedoch von besonderer Aussagekraft. Chaos. Nun kann man diese Häufung von Kreuze und Kruzifikationen durchzie- Vor den Werken Arnulf Rainers wird Veranstaltungen dem Ruhm des Künst- hen das gesamte Werk des Künstlers, daher erkennbar, wie grundsätzlich sich lers zurechnen, der Bedeutung, die er nicht als ein Kernthema, aber doch mit die Botschaft eines Bilds zunächst in der zweifellos für die Kunst unserer Zeit ge- stets gegenwärtiger Möglichkeit erneu- Faktur ausspricht, wie fundamental sich wonnen hat. Doch es bleibt auch Ver- Prof. Dr. Reinhold Baumstark, ten Zugriffs, des unablässigen Ringens der Prozess des Umgangs mit Farbe und wunderung, ja Staunen über ganz Generaldirektor a. D. der Bayerischen um eine omnipräsente Form. So reiht Stift selbst in Ebenen der Bedeutung außergewöhnliche Konstellationen. Die Staatsgemäldesammlungen, München sich bei Arnulf Rainer Kreuz an Kreuz, hineinschreibt. Das Wort von Arnulf Alte Pinakothek, der Tempel Alter Meis - als müsse er sisyphosartig, und damit nie Rainer als dem Übermaler bietet daher ter, der Maßstab für den Kanon des seit endend, Stein um Stein bewegen. Es gab nicht nur die Erklärung eines Malpro- Langem bewährten, überzeitlich Gülti- Zeiten, die fünfziger und sechziger Jahre zesses, sondern deutet das Ringen um gen in der höchsten Region der Kunst zuschreibt und den für jedermann deut- des vorigen Jahrhunderts, in denen eine Haltung gegenüber den vom eige- öffnet ihre Säle für einen Maler unserer lich erkennbaren Graben zwischen der mächtige, roh zusammengefügte Kreuze nen Werk umschlossenen Kräften an. Zeit, der für Viele geradezu verstörend zeitgenössischen Kunst und der Kirche entstanden, überdeckt und verhüllt mit Als ein Übermaler hat Arnulf Rainer in mit radikaler Geste über Altes hinweg- noch dadurch vertieft, indem er fordert, Schichten dunkelster Zumalungen bis den frühen fünfziger Jahren begonnen, geht, Zeugnisse Alter Kunst übermalt, beide sollten sich derzeit mehr aus der hin zur Verfinsterung, dann wiederum, Farbschichten über schon Gemaltes, mit der Kaligraphie seiner Pinselhiebe Ferne begegnen und grüßen, sonst wür- in den achtziger und neunziger Jahren, Pinselhiebe über scheinbar Vollendetes und Kreidekritzel zudeckt, ja nahezu de es für alle Beteiligten peinlich. wurden rüde Farbwürfe auf das Kreuz – zu setzen, um dabei – wie er selber sagt. auslöscht. Das Museum in Baden bei Sind nun diese Präsentationen in zumeist nicht mehr mit dem Pinsel, son- – nicht zerstörend, sondern in seinen Wien, das in dem Baudenkmal einer hi- derart ungewöhnlichem Rahmen Provo- dern den bloßen Händen des Malers – Augen vervollkommnend das Gespräch storischen Badearchitektur eingerichtet kation? Wollen und sollen sie brüskie- geschleudert, ergossen sich Farbströme mit dem Werk zu suchen. Ein solcher ist, zeigt Kreuze, gemalt und gezeichnet ren, um so Aufmerksamkeit zu stimulie- über photographische Reproduktionen Prozess konnte über Jahre laufen und von Arnulf Rainer, und damit das Sig- ren? Oder müssen die Schroffheit und von Werken älterer Kunst. Neben diese dabei – nach den Worten des Malers – num des christlichen Glaubens, inmit- Wildheit in Gestik wie Intention als die Eruptionen einer ungestümen Gestik alle billigen oder kostbaren Effekte aus- ten einer eleganten, mit Marmor inkru- eigentlichen Türen der Erkenntnis erst traten luzide Verschleierungen von löschen. Dabei entwickelte sich zu- stierten Wellness-Landschaft des Jahres durchschritten werden, um dann vor Farbflüssen als ein Vexierspiel der Poly- nächst über den eigenen Werken, später 1821 wie in einem profanierten Baptis- dem Werk Arnulf Rainers zu ästheti- chromie. Und wie ein ständiger Beglei- dann auch über Vorlagen älterer Kunst terium. schen Erfahrungen von bestürzender ter taucht das Kreuz als Durchstrei- oder aufrüttelnden Fotografien eine Und nun die Katholische Akademie Wucht zu gelangen? chung bei von Arnulf Rainer vorgenom- Haut von zumeist rüder, schroffer Ei- in Bayern: Sie gewährt Gastfreundschaft Eine Antwort hierauf kann sich nicht menen Übermalungen oder Überzeich- genwilligkeit. Die hier versammelten einem Künstler, der sich immer wieder allein auf die Werke stützen, die seit nungen von Reproduktionen auf, etwa Werke der achtziger Jahre belegen, dass auf seine Distanz zur Kirche beruft, sein heute in diesem Raum versammelt sind, auf Fotos der Hiroshima-Katastrophe Arnulf Rainer dabei mit einer Vitalität, Werk keinesfalls dem christlichen Be- sechs Übermalungen von Schwarz- oder den Face Farces, Erkundungen der ja Radikalität vorgeht und selbst das kenntnis oder gar einem Missionseifer Weiß-Reproduktionen christlicher Bild- Physiognomie, darunter den eigenen Werkzeug des Pinsels verschmäht, um

46 zur debatte 6/2010 mit in Farbe getauchten Händen den V. Bildern Schläge zu versetzen, wobei die Spuren der streifige Bahnen ziehenden Wir müssen hier nun einhalten, um Finger geradezu seismographische Kur- von dem Moment des Malaktes und vaturen der inneren Eruption nach- den darin spürbaren Kräften des Schaf- zeichnen. Und eine Haut seiner Kunst fensprozesses auf die eigentümliche legt Arnulf Rainer auch über die hier Thematik des Übermalens überzuwech- gezeigten Fotografien von Gesichtern seln. Es ist dies ein Verhüllen, nicht ein Sterbender und Totenmasken, darunter Auslöschen, ein – wenn auch scho- von Beethoven und Bruckner, Heinrich nungsloses – Bedecken, nicht ein Zer- Heine und Friedrich Nietzsche, ja selbst stören. Seit alters her kennt die Liturgie von Blaise Pascal. Rüdes Strichwerk der katholischen Kirche den Vorgang überdeckt das Antlitz des Todes, die des Verhüllens eines unter einem Tropfen eines blassen Rots zerplatzen Schleier zu behütenden, höchster Ver- über Gesichtszügen, in die sich das ehrung würdigen Gegenstands. Sterben eingezeichnet hat.

Dr. Corinna Thierolf, Oberkonservatorin der Alten Pinakothek (Mi.), wollte sich der Pinakothek der Moderne und Kura- auch die Ausstellung in der Akademie torin der großen Rainer-Ausstellung in nicht entgehen lassen.

Die rund 250 Besucher der Vernissage Arnulf Rainer (re.) im Gespräch mit füllten den Vortragssaal der Akademie Professor Reinhold Baumstark. und fanden genug Zeit, sich die Bilder in Ruhe zu betrachten.

Der Münchner Galerist Karl Pfefferle Akademiedirektor Dr. Florian Schuller eins der Freunde und Gönner, dessen im Gespräch mit Arnulf Rainer. (re.) saß längere Zeit mit dem Künstler finanzielle Zuwendungen es der Akade- und Prof. Dr. Willibald Folz zusammen. mie ermöglichen, Ausstellungen zu ver- Professor Folz ist Vorsitzender des Ver- anstalten.

6/2010 zur debatte 47 ISSN 0179-6658

Das Velum über dem Altargerät, das „Rainer schafft Vorhänge“ das Verhül- verhüllte Kreuz in der Karfreitags-Litur- len in seiner Malerei als einen Akt des gie sind noch heute in Gebrauch. Frü- Überdeck ens dessen beschrieben, was her wurden in der Karwoche selbst Al- unaussagbar ist. Arnulf Rainer, so Otto targemälde mit violettem Stoff verdeckt, Mauer, „strebt der Gewissheit zu, dass und in der alten Pontifikalliturgie Mitra die Vorhänge, hinter denen wir unsere und Stab dem Bischof nur mit verhüll- Hoffnungen verbergen, nicht Nichts be - ter Hand gereicht, Letzteres ein Fortle- decken, sondern das Eigentliche, das zu ben der antiken Würdeformel aus dem jeder Zeit noch aussteht.“ Die Über- Kaiserritual, der manus velata. Das Ver- macht im Verborgenen zu erspüren, hüllen als eine Form demütiger Vereh- dies entspricht einer Überlieferung seit rung, das Einschränken des Blicks als den Tagen des Alten Testaments. Dem- ein sich Bescheiden auf eine Sicht, die nach kann man sich der Wahrheit, die nicht letzte Wahrheiten ergründen kann die irdische Welt umhüllt, nur im – dürfen wir derartige Gedanken auf die Schleier der Reflexion eines Spiegels Übermalungen Arnulf Rainers übertra- nähern, die eigentliche Erkenntnis gen? Dürfen wir die Tropfenbahnen der bleibt dagegen erst künftigem Schauen Verfinsterung, die Schleier dunklen von Angesicht zu Angesicht vorbehal- Farbflusses über den Bildern des Ge- ten. kreuzigten, über den Zügen der Toten- In diesem Sinn bietet ein Kunstwerk bilder, dem Antlitz des Sterbens, über keine Abbildung sondern die weitere Fa- den grauenvollen Visionen der Hiroshi- cette eines großen Spiegels der Welt. Da ma-Katastrophe, auch ganz allgemein dies auch für die Werke Arnulf Rainers über den Werken alter Kunst, dürfen gelten darf, sind die Bilder hier an den wir dieses Zumalen als einen Schleier Wänden der Katholischen Akademie in über dem Abgrund der Wahrheit deu- Bayern kein noch so kostbarer ten? Wir wissen es nicht, und auch kei- Schmuck, sondern treten als raue, sper- nes der vielen Selbstzeugnisse des Ma- rige, aufrüttelnde Boten auf, die selbst lers bestärkt uns in einer derartigen einem theologischen Nachdenken Er- Interpretation. Und dennoch ist es be- kenntnisgewinn versprechen. Sie sind merkenswert, dass der erste Interpret nicht Folie, nicht Hintergrund, sondern des noch jungen Arnulf Rainer ausge- dienen als Wegzeichen und Richtungs- rechnet ein Theologe war, Monsignore weiser für Debatten, die in den kom- Otto Mauer, der in Wien während der menden Wochen und Monaten in die- frühen fünfziger Jahren die hohe Bedeu- sem Raum geführt werden. „ tung eines beginnenden Werks unter den Spuren der Anarchie und Wildheit dieses Künstlers erkannte und Arnulf Rainer in seiner „Galerie zunächst St. Stephan“ ausstellte. 1960 hat er In den Jahren 1983/84 entstand dieses dann in einem Aufsatz unter dem Titel mit Ölkreide und Öl gemalte Bild.

Die Totenmaske Heinrich Heines, über- malt und dadurch verfremdet. 1978 schuf der Künstler dieses Werk, indem er mit Tusche auf ein Foto malte.

„Kreuz“ heißt dieses Werk Rainers, das zurzeit in der Kapelle der Akademie hängt. Es stammt aus den Jahren 1992/93, misst 122 auf 122 Zentimeter und ist mit Leinfarbe auf Holz gemalt.

48 zur debatte 6/2010