Alfried Krupp Fellows 2011/12

1 Inhalt

4 Vorwort 10 Dr. Elena Aronova Professor Dr. Bärbel Friedrich, „The Politics and Contexts of Science Wissenschaftliche Direktorin des Studies During the Cold War: Instituting Alfried Krupp Wissenschaftskollegs the Studies of Science in the U.S.A., Greifswald U.S.S.R, and the U.K. in the 1950s-1970s“

20 Professor Dr. Margarita Balmaceda „Energy rents, energy dependency and politics in the former USSR“

30 Privatdozent Dr. Roswitha Böhm „Krise schreiben. Prekäre Arbeitswelten in der europäischen Gegenwartsliteratur“

42 Privatdozent Dr. Leonhard Fuest „Poetopharmaka: Heilmittel und Gifte in Literatur und Medien“

52 Professor Dr. Karl-Ludwig Kunz „Rechtsstaatlichkeit in der Spätmoderne“

2 62 Professor Dr. Olaf Mörke 120 Abschlussausflug auf die Insel Hiddensee „Die Geschwistermeere: Eine Bezie- der Fellows 2011/12 hungsgeschichte von Ost- und 24. und 25. September 2012 Nordsee“ 124 3. Alumni-Treffen 74 Professor Dr. Birgit Recki 8. und 9. Juni 2012 „Die instrumentelle Dimension der Freiheit. Technik als anthropologisches 128 Alumni-Fellows Radikal“

82 Professor Dr. Folker Reichert Gelehrter Eigensinn: Carl Erdmann im Dritten Reich

92 Dr. Martina Roesner „Organismus – Geschichte – Bewusst sein: Die systematischen Dimensionen des Lebensbegriffs in der Phänomeno- logie Edmund Husserls“

102 Privatdozent Dr. Jörg Schuster „Studien zu einer Kulturpoetik der deutschen Literatur 1930–1960“

114 Fellowlectures der Fellows 2011/12

3 Professor Dr. Bärbel Friedrich

Wissenschaftliche Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald

Vorwort Wieder einmal endete im September das Stu- ausklingen lassen. Wie schon in den Jahren dienjahr der Fellows mit einem Aufenthalt zuvor bot der Abschlussausflug der Fellows auf Hiddensee. Als ich mit der letzten Fäh- ausreichend Gelegenheit, auf die vergange- re in Kloster eintraf, empfingen mich Sturm nen zwölf bzw. sechs Monate zurückzublicken, und Regen, beides war am nächsten Morgen Bilanz zu ziehen und Pläne für die Zukunft zu wie weggeblasen. So konnten wir unsere tra- schmieden. Besondere Freude herrschte un- ditionelle Wanderung zum Leuchtturm auf ter den Fellows über die vielen wissenschaft- dem Dornbusch bei Sonnenschein genießen, lichen Kontakte, die sie in ihrer Kollegzeit einige Attraktionen der Insel erkunden und knüpfen konnten, und die Freundschaften, den Aufenthalt bei einem Strandspaziergang die durch die enge Zusammenarbeit im Kolleg 4 entstanden. Aber auch Wehmut kam ange- da im Kolleg im Rahmen der ukrainistischen sichts des bevorstehenden Abschieds bei den Sommerschule „Greifswalder Ukrainicum“. Fellows auf, der wir durch die Ankündigung des Ausbaus der Fellow-Alumni-Initiative Frau Dr. Elena Aronova aus San Diego teil- und die Aussicht auf zukünftige Besuche im te mit Frau Balmaceda zahlreiche Interessen. Kolleg und in Greifswald ein wenig begegnen Ursprünglich aus Russland stammend, ver- konnten. brachte sie als Juniorfellow nur sechs Monate im Kolleg. Während ihres Aufenthaltes wid- Den längsten Weg nach Hiddensee hatte Frau mete sich die Biologin und Wissenschaftshis- Professor Margarita Balmaceda zurückgelegt. torikerin dem Vergleich der Wissenschafts- Sie war eigens aus Boston nochmals ange- kulturen in den USA, in Großbritannien und reist, wo das Wintersemester an der Harvard der UdSSR, und zwar zur Zeit des kalten Krie- Universität bereits Anfang September begon- ges. Hierzu organisierte sie einen Workshop nen hatte. Ihr Forschungsthema über Ener- im Kolleg, der eine Reihe hoch angesehener giebereitstellung und Energieabhängigkeiten internationaler Gäste zu seinen Referenten in Russland, der Ukraine, Belarus und Litau- zählte. Der Erfolg ihrer Tätigkeit wird durch en war nicht nur wissenschaftlich von hoher eine dreijährige Tätigkeit als Research Fellow Aktualität, sondern auch politisch sehr bri- im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge- sant. Als sprachkundige Politikwissenschaft- schichte in sichtbar, wo sie seit Sep- lerin hatte sie zuvor im osteuropäischen und tember 2012 tätig ist. Wir freuen uns, dass baltischen Raum Recherchen angestellt und Frau Aronova in unserer geographischen dabei aufschlussreiche Erkenntnisse über den Nähe verbleibt und gewiss bald wieder den Transfer und die komplexen Implikationen des Weg nach Greifswald und ins Kolleg finden Energiegeschäftes gewonnen, die ihr zahlrei- wird. che Einladungen zu Vorträgen und Tagungen bescherten. Diese Thematik war dann auch Frau Professor Birgit Recki war durch frühe- Gegenstand von lebhaften Diskussionen im re Teilnahmen an philosophischen Tagungen Anschluss an einen Vortrag von Frau Balmace- des Kollegs und durch Gastvorträge schon 5 wohl bekannt und hat das „geschenkte Jahr“ und Literatur als Heilmittel und auch als Gift – wie sie ihre Fellowzeit nannte – offensicht- stellte er die Frage, inwieweit die revolutio- lich sehr genossen. Mit Elan und Tatkraft nären Veränderungen durch das Internet und widmete sie sich der Frage, inwieweit Technik die neuen Medien bei den Nutzern heilsam die Handlungsoptionen und die Willensfrei- oder vergiftend auf die Rezeption von Lite- heit des Menschen beeinflusst. Darüber hat ratur und den Umgang mit Texten wirken. Er sie mehrfach referiert und Teile ihrer Arbeit veranstaltete im Sommer einen Workshop zur im Rahmen einer Vorlesung im Institut für Thematik seines Projekts, an dem auch die Philosophie der Ernst-Moritz-Arndt-Univer- Fellows Roswitha Böhm und Jörg Schuster, sität Greifswald präsentiert und zur Diskus- ebenfalls Literaturwissenschaftler, sowie Ver- sion gestellt. Birgit Recki hat durch lebhafte treter der Greifswalder Germanistik teilnah- Diskussionsbeiträge bei Abendvorträgen, die men. Herr Fuest war zudem ein wichtiger Dis- aktive Teilnahme an Tagungen und durch kutant und Vermittler in den Diskussionen im kulturelle Anregungen die Kollegaktivitäten Umfeld der Vortragsreihen „Literatur.Kultur. stark befördert und bereichert. Sie war unter Theorie“, die in den vergangenen Semestern den Fellows und im Kreis ihrer Greifswalder zu einer erfolgreichen und vielbeachteten In- Fachkollegen stets eine gefragte Gesprächs- tensivierung der Kooperation zwischen Uni- partnerin. versität und Kolleg beigetragen haben.

Als ein durchaus streitbarer Geist im krea- Im Zentrum der Studien von Frau Privatdo- tiven Sinne zeigte sich auch Herr Privatdo- zentin Dr. Roswitha Böhm stand die Rezep- zent Dr. Leonhard Fuest. Als Literaturwis- tion und Analyse prekärer Arbeitswelten in senschaftler und Thomas Bernhard-Kenner der deutschen, französischen und spanischen hatte er für die Zeit im Kolleg ein Projekt mit Literatur der letzten 20 Jahre. Besonders ver- dem nicht alltäglichen Titel „Poetopharmaka: traut ist Frau Böhm mit der französischen Heilmittel und Gifte in Literatur und Medien“ Sprache und der französischen Kultur. Sie ar- ausgewählt. Ausgehend von den Diskussio- beitete daher im Vergleich zu Quellen aus an- nen in der Antike um die Wirkung von Schrift deren historischen Zeitabschnitten der fran- 6 zösischen Literatur Berührungspunkte und kürzlich mit einem Lise-Meitner-Stipendium Spezifika heraus und legte so den Grundstein ausgezeichnet und arbeitet inzwischen an für eine „Poetik des Prekären“. Die Ergebnisse der interdisziplinären Forschungsplattform ihres Forschungsprojekts diskutierte sie inten- „Religion and Transformation in Contem- siv mit den anderen Fellows und Greifswal- porary European Society“ der Universität der Literaturwissenschaftlern. Insbesondere Wien, wo sie inzwischen mit einem früheren zur Greifswalder Germanistik unterhielt sie Fellow, Herrn Dr. Donecker, kommuniziert. gute Kontakte und beteiligte sich rege am Tagungs- und Vortragsprogramm des Kollegs. Herr Privatdozent Dr. Jörg Schuster war der Frau Böhm schloss in der Zeit ihres Aufent- dritte im Bunde der „Literaten“ in diesem Fel- haltes im Kolleg ihre Habilitation an der Frei- lowjahrgang. Die Ausgangsthese seines auf en Universität Berlin ab, wo sie nunmehr als die neuere deutsche Literatur ausgerichteten Privatdozentin tätig ist. Forschungsvorhabens lautete kurz gefasst, dass moderne literarische Schreibweisen – Auch Frau Dr. Martina Roesner ist durch ein wie sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts besonderes Verhältnis zu Frankreich geprägt. vorherrschen – regressiv in der Zeit von 1930 Ihr Philosophiestudium hatte sie über zahlrei- bis 1960 fortgeführt und auch nach dem che in- und ausländische Stationen schließ- Ende des zweiten Weltkrieges formal als Ge- lich an die Sorbonne geführt, wo sie promo- staltungsmöglichkeiten zur Verfügung ste- viert wurde. Sie erforschte in ihrem Projekt hen. Es gelang ihm, diese These mit zahlrei- den Lebensbegriff aus einer naturphilosophi- chen Beispielen zu stützen und die Resultate schen Perspektive, abgegrenzt von der mo- seiner Arbeit in einem von ihm organisierten dernen Biologie und Evolutionstheorie. Dabei Workshop im Kolleg zum Thema „Die ande- vermag sie auf der Basis ihres tiefgründigen re Moderne“ vorzustellen und zu diskutie- philosophischen Wissens und beeindrucken- ren. Auch Jörg Schuster hat – wie oftmals der Sprachkenntnisse den Bogen sehr weit zu von ihm betont – von den Interaktionen mit spannen. Diese Talente blieben auch andern- Mitgliedern des Wolfgang-Koeppen-Archivs orts nicht verborgen. Martina Roesner wurde und des Instituts für deutsche Philologie der 7 Universität Greifswald sehr profitiert. Dabei Strafrecht, Kriminologie, Rechtsphilosophie, ist anzunehmen, dass diese Wechselwirkung Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der auch synergistische Effekte auf das Institut Universität Bern, hat sich im Sommerhalb- ausübte. jahr mit dem Wandel des Rechtsstaatsbegriffs auseinandergesetzt. Der Souveränität der Die Archivarbeit stand auch im Mittelpunkt aus dem Absolutismus stammenden Natio- des sechsmonatigen Aufenthaltes des Histo- nalstaaten steht nunmehr ein multilaterales rikers Professor Folker Reichert. Seine Recher- Netzwerk von Staaten gegenüber, woraus chen galten der Biographie des bedeutenden Konsequenzen für den Rechtsstaat erwach- deutschen Mediävisten Carl Erdmann, der im sen, die Herr Kunz in seinem Projekt definiert, Gegensatz zu der Mehrzahl der opportunis- analysiert und am Lehrstuhl für Kriminologie tisch agierenden deutschen Historiker in der der Universität Greifswald mit Herrn Profes- Zeit des Nationalsozialismus kompromiss- sor Dünkel und Promovenden diskutiert hat. los seiner wissenschaftlichen Aufrichtigkeit Die Resultate werden Eingang finden in einen treu blieb und damit „Gelehrten Eigensinn“ in Vorbereitung befindlichen Buchtext über bewies. Mit dieser Haltung konnte er we- Rechtsstaat und Moderne. der eine Universitätskarriere machen noch den Krieg überleben. Herr Reichert, selbst Gleichsam als Nachbar aus dem Ostseeraum Mediävist, wird ein lebendiges Bild von Carl durften wir Professor Olaf Mörke von der Erdmann zeichnen, das hoffentlich weite Universität Kiel für sechs Monate im Kolleg Verbreitung findet. Er selbst kann dazu bei- begrüßen. Historiker für Mittlere und Neue- tragen, denn als Gastprofessor war er an ei- re Geschichte und der Nordsee zugewandter nigen asiatischen Universitäten tätig und hat als die Greifswalder Kollegen, richtete sich zahlreiche Kontakte zu diesem Teil der Welt. sein Augenmerk auf die ambivalente Rolle Ich persönlich habe das abendliche Klavier- der Cimbrischen Halbinsel, gegliedert in das spiel seiner japanischen Frau sehr genossen. deutsche Schleswig-Holstein und das däni- sche Jütland. Diese Halbinsel grenzt einerseits Professor Karl-Ludwig Kunz, Ordinarius für zwei maritime Räume ab, stellt andererseits 8 als Landbrücke gemeinsame Räume her. Die Im Juni nahmen die Fellows an dem Tref- Thematik passte vorzüglich in das Graduier- fen der Alumni teil und wurden Zeugen der tenkolleg „Baltic Borderlands“. Herr Mörke Gründung eines Fellow-Alumni-Vereins, den teilte mit dem Kollegen North nicht nur die wir als Beweis einer tiefen Verbundenheit der wissenschaftlichen Interessen, sondern war Fellows mit dem Kolleg und dem Greifswal- ebenso ein passionierter Radfahrer, der die der Umfeld deuten. Wir freuen uns darauf, Greifswalder Umgebung sehr intensiv auf dass gewiss viele Fellows dieses Jahrgangs zwei Rädern explorierte. im kommenden Juni zum nächsten Alumni- Treffen nach Greifswald kommen werden.

9 Dr. Elena Aronova

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2011 bis März 2012

Kurzvita Elena Aronova is a Research Scholar at the for the History of Science and Technology in Max Planck Institute for the History of Sci- Moscow, and M. S. in Chemistry in 1991 from ence (Berlin), which she joined after comple- Moscow State University. ting a Ph.D. in History and Science Studies at the University of California at San Diego in 2012. Before completing her Ph.D. in Histo- ry and Science Studies at the University of California at San Diego, she earned a Ph.D. in Biology/History of Science in 2003 from the Russian Academy of Sciences’ Institute 10 The Politics and Contexts of Science Studies der agenda to offer a renewed, “post-Marxist,” Kurzbericht During the Cold War: Instituting the Studies framework for liberalism, (3) the Salk Institute of Science in the U.S.A., U.S.S.R, and the for Biological Studies, which in the first ten ye- U.K. in the 1950s–1970s ars of its existence, 1962-1972, undertook the bold initiative of launching a sustained inquiry My current research is divided between two into social studies of modern biology; (4) the projects. My first project, The Cold War and the short-lived “philosophical phase” in medical Politics of Science in the U.S., U.K., and U.S.S.R., ethics, marked by medical ethicists’ interest in 1950s-1970s, which was my dissertation at and appropriations from post-positivist philoso- UCSD, investigates the history of Science Stu- phy of science, which I explore by analyzing the dies as it became a distinct area of expertise and series of workshops organized under the auspi- academic inquiry during the Cold War. Using ces of the Hastings Center in the late 1970s and five case-studies, each focused on a confined early 1980s; and (5) a particular mode of reflec- mode of analysis of science that articulated, tion on science and its intellectual foundations evaluated, and rationalized Cold War sensibili- developed by Soviet philosophers in the 1960s– ties and concerns, I show how the promotion of 1970s under the name of “naukovedenie.” the studies of science as a politically relevant While preparing the manuscript for publication area of expertise, undertaken outside academia, as a book I am pursuing research on my new helped to legitimize the disciplinary identity of project, Big Science in the Archive, which exa- science studies in the age of the Cold War. The mines the world-wide data collection initiati- case studies in question are: (1) UNESCO and ves in Cold War America and the Soviet Union, the “transnational” history of science promo- focusing on the history of World Data Centers ted by its two visionary founders, Julian Hux- in the U.S. and U.S.S.R. and tracing it from the ley and Joseph Needham, and implemented in organization of Data Centers during the Inter- UNESCO’s major history of science project, His- national Geophysical Year (IGY) in 1957–58 to tory of Mankind; (2) the Congress for Cultural their reorganization and activities following the Freedom and its quest, in the 1960s and 1970s, end of the IGY. to promote “science studies” as part of its broa- 11 Projektbericht Scientific disciplines are spaces where the Science became institutionalized within aca- political and epistemic dimensions of science demia a decade later. are intrinsically and complexly interconnec- ted. Endorsing the approach that historian Thus, within UNESCO the major prewar frame- Timothy Lenoir has called “the cultural pro- work for the history of science – the rhetoric duction of scientific disciplines,” my project of scientific humanism that emphasized the investigates the history of Science Studies universal character of scientific knowledge - and History of Science as they became pro- was transformed to accommodate the scien- fessionalized and institutionalized in the se- tific and the political concerns of the time. cond half of the 20th century. In my project At the height of the Cold War, two visiona- I shift the focus of a disciplinary history from ry founders of UNESCO, Joseph Needham what Lenoir called the “regimes of the re- and Julian Huxley, modified this rhetoric, in production of knowledge” (focused on such order to promote a new cross-cultural syn- conventional disciplinary markers as profes- thesis by means of documenting the history sional journals, university chairs and profes- of humanity’s scientific and cultural develop- sional societies), to the “regimes of legitima- ment. In their different visions of “scientific tion” of what constitutes authoritative new humanism” they deployed this notion as a knowledge, by examining the activities of powerful rhetoric for translating the notion different organizations that promoted stu- of “internationalism” in terms that accommo- dies of science as a distinct, and politically dated the new, multicultural agenda of the relevant, area of expertise in the aftermath age of decolonization and the human rights of the WWII. I argue that the activities of po- movement. Both visions were implemented werful national and transnational organiza- in UNESCO’s major history project, The His- tions outside academia helped to legitimize tory of Mankind, which sought to offer an the disciplinary identity of science studies account of civilization not written from the and history of science in the age of Cold War, ethnocentric or Euro (or Western)-centric and provided an institutional niche for these perspective, by placing history of science in fields before Science Studies and History of the center of world history. As a transnational 12 effort undertaken with the organization with (a cherished ideal of capitalist system) and considerable structural power, it gave mo- centralized planning (firmly associated with mentum to the reflection on the methodo- Soviet economic system), in the political eco- logy of history of science writing that would nomy of a post-WWII world shaped by the escape the pitfalls of universalist stories. dramatically increased role of science and technology. With its emphasis on “sober,” Within the Congress for Cultural Freedom – sophisticated and dispassionate socio-eco- an influential anti-communist organization nomic analysis of modern industrial societies of elite American and European intellectuals (or, rather, “post-industrial societies,” accor- – “science studies” as a distinct and politi- ding to the CCF-born conceptualization) and cally relevant area of expertise resurfaced at their political systems, the “end of ideology” the very center of the cultural and political turned the studies of science, its organiza- landscape of the Cold War. The quest to pro- tion and its politics into a topic of central mote “science studies” was part of the CCF’s concern. Science, or, more specifically, Big broader agenda to offer a renewed frame- Science – a new mode of scientific research work for liberalism in the age of Cold War. promulgated in the aftermath of WWII – and As a transnational organization, the CCF em- its changing relation to the state and poli- bodied the goals of negotiation and recon- tics, which apparently reconciled conflicting ciliation across political divides, both in its claims for planning and laissez-faire, needed “ideology,” epitomized in two twin concepts to be assessed by social analysts, especially the CCF had promoted – the “end of ideology” with regard of its implications for democracy, and the theory of “post-industrial society” – liberalism, and freedom. The CCF intellectuals and in its transatlantic institutional structure. sought to offer such an assessment, and they The “end of ideology” was as much a norma- did this in a big way. By means of its Study tive position as it was an attempt to secure, Groups, seminars, conferences and scholarly in Michael Polanyi’s words, “a post-Marxian journals such as Minerva, the CCF developed basis for liberalism” – an umbrella term for into an influential forum for examining the various reconciliations of the free market ways Big Science impacted the relations bet- 13 ween science, society, and politics. In this way “one man show” of Bronowski, was expected the CCF provided a “semi-institutional” niche to extend the description of nature offered for the studies of science broadly conceived, by molecular biology to a broader under- helped to legitimate the disciplinary identi- standing of the world, connecting molecu- ty of Science Studies, and contributed to the lar biology to linguistics, philosophy, and the construction of public space in which science humanities in general, through the invitation was reconceptualized as a social activity, of such luminaries as Karl Popper and Roman challenging the universalist ideal of science. Jakobson as “Visiting Fellows” of the Institute. In 1968, the agenda of the humanistic com- The newly created institutions struggling to ponent of the Salk Institute was transformed. establish their reputations and to distinguish The Institute’s new President, Joseph Slater, themselves from the traditional institutional a long-term officer of the Ford Foundation settings also promoted studies of science that International Affairs program, used his con- emphasized the social, political and ethical tacts and the Institute’s scientific standing to dimensions of science. During the first decade involve distinguished scholars, many of whom of its existence, the Salk Institute for Biolo- had been previously associated with the Con- gical Studies developed a wide range of pro- gress for Cultural Freedom, in the Council for grams, many of them pioneering, in order to Biology in Human Affairs, established under examine broader social and political implica- the auspices of the Salk Institute in 1969. The tions of molecular revolution in biology. Bri- Council developed innovative programs fo- tish “scientific humanism” provided the initial cused on studies of the implications of mo- intellectual agenda for what the Institute’s dern biology for the American concerns of founders conceived as the humanistic com- the time: abortion, drug abuse, the threat of ponent of the Salk Institute. Julian Huxley’s biological warfare, the effects of genetic ma- close associate Jacob Bronowski was recruited nipulation upon human society, and the legal, by Jonas Salk to launch what was originally ethical and social implications of the con- called the “Department of Humane Studies.” temporary advances in molecular biology. The The Department, which ended up being a Salk Institute’s initiatives were an important 14 experiment in constructing a public space in alism. In the process, they reconciled ethics, which the relationship between science and medicine, and philosophy of science. Not only the humanities could be debated, discussed, did they hope to discover the “soul in science,” and reformed. they also engaged in “a bit of soul-searching” themselves, as they examined the practical Similarly, The Hastings Center – the world’s policy implications of the epistemology they first institute of bioethics, founded in 1969 endorsed, and political appropriations of their by the Roman Catholic philosopher Daniel work. This forgotten dialogue between medi- Callahan – during its short-lived “philoso- cal ethicists and philosophers of science re- phical phase” promoted an active dialogue veals that the ways in which Science Studies between scientists and physicians, on the one proved vulnerable to political appropriation hand, and philosophers of science, on the had already been identified as potential wea- other, to chart a common ground between knesses when Kuhnian and post-Kuhnian phi- the emerging field of medical ethics and phi- losophy of science was applied to the field of losophy of science in the wake of Kuhn, and medical ethics. exploring, in different ways, the “normative” and ethical dimension of science. In the 1970s On the other side of the Iron Curtain, the new and 1980s, The Hastings Center attracted phi- field called naukovedenie was widely publi- losophers who had a parallel interest in moral cized in the Soviet Union, as a new mode of philosophy and the philosophy of science. In reflection on science, its history, its intellec- their discussion of the validity of Kuhn’s work, tual foundations and its management. In the these philosophically-minded bioethicists 1960s and through the 1980s the naukove- suggested a distinct interpretation of Kuhn, denie project was encouraged and supported emphasizing the elements in his account that by Soviet officials at the highest-level, as part had been independently developed by Micha- of a campaign to formulate more effecti- el Polanyi, and advancing a view of science ve national policies and to mobilize support that retreated from idealizations of scientific for the major decisions of the late 1960s to method without sacrificing philosophical re- early 1970s: to pursue détente and increase 15 East-West trade, foreign credits, industrial Science, as a cultural phenomenon and a par- cooperation agreements and the importation ticular mode of organization of science, was of Western technology. The new political cli- deployed as a resource to debate, negotiate, mate of détente stimulated a theoretically si- and rationalize the concerns and anxieties of gnificant discussion epitomized in the theory the Cold War. Throughout the Cold War, both of Scientific-Technological Revolution (STR) the United States and the Soviet Union advo- – the Soviet counterpart of the notion of Big cated their ability to offer and display diffe- Science in the U.S. The STR theory was one of rent visions of modern industrial society, and the most evident and valuable developments Big Science, with its paradigmatic Manhattan in social theory in the Soviet Union in the Project, played a major role in these power- 1970s and 1980s, a status which legitimized ful Cold War imageries. Reflection by natu- the disciplinary identity of “Soviet science ral scientists and social analysts on the social studies” as a distinct area of expertise within and political consequences of Big Science the social sciences and philosophy. in its relation to state and politics, and the articulation of the need for independent ex- The story of “Soviet science studies” demonst- pertise on science as a social institution and rates that Soviet naukovedy responded to the “political instrumentality” (in the words of same anxieties and concerns of the Cold War Stephen Toulmin) was an important context as their Western counterparts, while adapting for the nascent field of “science studies,” both and transforming them in highly specific and in the United States and in the Soviet Union. often peculiar ways responding to the local On both sides of the Iron Curtain, Big Science economic and political needs of Soviet state had been seen by social and political analysts during the Cold War. In the 1960s, on both as a cultural and political phenomenon: not sides of the Iron Curtain, social theorists pro- merely as a mode of organization of scientific blematized the phenomenon of Big Science, research, but as a complex phenomenon re- articulating the awareness that the large- quiring assessment by social analysts. In both scale growth of science after WWII had signi- political settings, as I argue, the discussion of ficant implications for modern societies. Big the social and political consequences of Big 16 Science provided legitimation for the discip- driven by political developments and political linary identity of science studies as a distinct concerns of the Cold War. – and politically relevant – area of expertise.

In the 1960s and early 1970s, this loosely InternatIonal Workshop March 22 - 24, 2012 connected network of intellectuals, largely in the U.S. and the U.K., helped to construct a Politics and contexts public space in which the relations between science and politics were debated and dis- of science studies cussed. In the process, they helped to invent during the cold War and Beyond a new subject, or set of subjects, reconcep- tualizing science as a social and political ac- tivity, promulgating the view that science is inseparable from politics, and in various ways exploring the science-society nexus. These settings outside academia constituted a semi-

institutional niche for Science Studies befo- Fotos: Karl Popper/wikipedia; Thomas Kuhn/Getty Images re the discipline became institutionalized in

ElEna aronova (San Diegeo, Ca) HanS-JoaCHim DaHmS (vienna) CHriSTian DamBÖCK (vienna) academia during the 1970s and 1980s. ronalD DoEl (Tallahassee, Fl) aanT Elzinga (gothenburg) lU gao (Beijing) PawEl KawalEC (lublin) alESSanDro mongili (Padua) naomi orESKES (San Diego, Ca) gaBor Pallo (Budapest) grEgory raDiCK (leeds) gEorgE rEiSCH (Chicago, il) lEon roCHa (Cambridge) miCHaEl SCHornEr (innsbruck) víTězSlav SommEr (Praha) The visions of history of science and “science CHriSTian SUHm (greifswald) EDwarD SwiDErSKi (Fribourg) SimonE TUrCHETTi (manchester) ConferenCe Chair Dr. elena aronova ConferenCe Venue alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald · Martin-Luther-Straße 14 · D-17489 Greifswald studies” these organizations were promoting inforMation alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald · tagungsbüro · D-17487 Greifswald Abb. 1 Phone +49 (0) 3834 / 86 - 19029 · fax +49 (0) 3834 / 86 -19005 · [email protected] · www.wiko-greifswald.de differed from the science studies we know The International Workshop is funded by the Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen. International Workshop today. Yet, I argue that rather than being a Politics and Contexts of moment of rupture, Science Studies as a legi- Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald Science Studies timate and separate area of expertise within March 22-24, 2012 the human and social sciences grew out of these early projects and intellectual programs 17 18 Aronova, Elena “The Congress for Cultural Aronova, Elena „The Politics and Context of ausgewählte Freedom, Minerva, and the Quest for Insti- Science Studies: Instituting Studies of Sci- Veröffentlichungen tuting “Science Studies” in the Age of Cold ence in the Age of Cold War“ (under review/ War”, Minerva 50/3 (2012): 307-337. Manuscript in preparation).

Aronova, Elena “Big Science and ‘Big Science Studies’ in the Cold War America and the So- viet Union”, In Nation and Knowledge. Science and Technology in the Global Cold War, eds. Naomi Oreskes and John Krige (fort- hcoming).

19 Professor Dr. Margarita Balmaceda

Alfried Krupp Senior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Margarita M. Balmaceda (born in 1965 in has led to active international collaborations, Buenos Aires, Argentina; Ph.D. in Politics, most recently under a European Union Marie Princeton University) is Professor of Diplo- Curie Fellowship at the Aleksanteri Institute macy and International Relations at Seton in Helsinki. She is also an alumna of the Alex- Hall University and Research Associate at the ander von Humboldt Foundation and a mem- Harvard Ukrainian Research Institute. A spe- ber of the “Network of Research Alumni”. cialist on post-Soviet political economy, she has conducted multiple long research stays in the area, including in Ukraine, Belarus, Russia, Lithuania, Hungary and Moldova. Such work 20 Energy rents, energy dependency and poli- ge of their overwhelming energy dependency Kurzbericht tics in the former USSR on Russia. The most important results of the project are two forthcoming books (The Poli- This project “follows the pipeline” – the com- tics of Energy Dependency: Ukraine, Belarus plex web of interconnections that accompa- and Lithuania Between Domestic Oligarchs ny the energy relationship between Russian and Russian Pressure and Living the High Life oil and gas producers, post-Soviet energy- in Minsk: Russian Energy Rents, Domestic poor transit states, and European consumers. Populism and Belarus’ Impending Crisis). In While Russian energy issues have received addition, project results included exploratory significant attention, this project sought to work for two large international projects for break new ground in research on energy’s role which I as Principal Investigator will be ap- in post-Soviet political and economic pro- plying for grants: one on the role of energy cesses. The issue is still dominantly studied and natural resources governance in conflict from the perspective of Russia as an energy and conflict-resolution around unrecognized supplier or “energy superpower;” and from states (South Ossetia, Abkhasia, Nagorno- above, i.e, from the perspective of Moscow Karabakh and Transnistria), and one reasses- or the Kremlin dictating certain policies on sing the first quarter-century of post-Soviet their energy-poor neighbors. Shifting the political development from the perspective paradigm, this project focused on looking at of energy and natural-resources rent-seeking post-Soviet energy issues from the inside out, (application to the European Research Coun- i.e. from below and from the perspective of cil planned for 2014). domestic processes in those post-Soviet sta- tes dependent on Russian energy, analyzing how their domestic political conditions, as well as the ability of domestic economic and political actors to accrue “rents of energy de- pendency” from the relationship from Russia, have affected their responses to the challen- 21 Projektbericht My year at the Alfried Krupp Wissenschafts- Sub-project 1: completion of book on The kolleg was spent working on “Natural Resour- Politics of Energy Dependency: Ukraine, Bela- ce Rents, Foreign Policy and Political Trans- rus and Lithuania Between Domestic Olig- formation in the Former USSR and Eastern archs and Russian Power Europe.” Within this general theme, I comple- ted four sub-projects. Two of these were book I spent the first third of my fellowship period projects, and two where shorter exploratory (October 2011–January 2012) completing a projects setting the foundation for more am- book project I had been working on for the bitious full-fledged projects I hope to pursue past seven years: The Politics of Energy De- in the next years. pendency: Ukraine, Belarus and Lithuania Between Domestic Oligarchs and Russian The next pages describe each of these sub- Power (Toronto: projects in some detail. They are all connec- University of To- ted to the theme of “Natural Resource Rents, ronto Press, forh- Foreign Policy and Political Transformation coming). This book

in the Former USSR and Eastern Europe.” The MargariTa M. BalMaceDa constitutes a basic significance of this area of research is rela- The reassessment of ted to the importance of energy as key ele- PoliTics energy politics in oF ment in Soviet and post-Soviet political and the post-Soviet economic processes. Inexpensive and easily- energy area. It challenges DePenDency available energy resources were an important Ukraine, Belarus, and lithuania between the conventional Domestic oligarchs and russian Pressure, 1992–2012 “glue” that helped keep the Soviet federation view, which has together; conflicts about energy supply and focused mainly on transit have also been crucial in post-Sovi- the supply side of et centrifugal processes, but also as part of the question: Russia’s role as single gas sup- energy-rich Russia’s attempts to re-establish plier to the energy-dependent states, Russia’s some degree of political and economic con- ability to exert pressure on them, and Russia’s trol over the area. energy imperialism. Such external aspects 22 have been, undoubtedly, of great importance. of individual actors in other states. However, this approach does not tell us much about the conditionants in the energy-de- Sub-project 2: completion of book on Li- pendent countries themselves and, in fact, is ving the High Life in Minsk: Russian Energy based in the assumption of these countries Rents, Domestic Populism and Belarus’ Im- as passive recipients of Russian designs. This pending Crisis book is a response to these deficiencies. Rather than focusing only on the external elements I devoted the second third of my fellowship of energy dependency, it analyzes the “black period (January-April 2012) to finishing a se- box” of how domestic factors affect these cond book I had also been working on for states’ energy interactions. The book compa- several years: Living the High Life in Minsk: res Ukraine, Belarus and Lithuania’s responses Russian Energy to the crucial external shock of their sudden Rents, Dome- transformation, virtually overnight, from stic Populism being part of a single energy-rich state to be- and Belarus’ coming separate energy-poor entities heavily Impending Cri- dependent on Russia. It analyzes how each of sis (Budapest: these states’ distinctive political regimes af- Central Euro- fected their responses to energy dependency, pean University and, in turn, Russia’s ability to use energy as Press, forth- a foreign policy tool. This book – based on coming). This extensive field research including previously book is based untapped local sources in Russian, Ukrainian, on extensive Belarusian and Lithuanian1 – also makes an field research important methodological contribution, as it reveals the insights gained by looking at post- 1 Work with Lithuanian materials was based on translations provided by my research assistant, Mr. Thomas Klepsys. Work Soviet development issues not only from a with other materials was completed without outside assis- Moscow-centered perspective, but from that tance. 23 in Belarus, a country I have been actively Belarusian electorate. Russian energy supplies involved in since the time I held a Fulbright and special energy trade conditions – con- Lectureship there in 1997 and 1999. At the ditions which, at their height in the 2000s, Wissenschaftskolleg, I revised the whole gave Belarus a nearly 10% GDP boost per year manuscript, and worked on making it more – provided important material resources for accessible to a broad readership by adding the maintenance of this regime. Their effects, a new chapter on Belarus’ history previous however, were mediated by domestic condi- to its independence in 1991 from the unique tions and Lukashenko’s own policy choices. perspective of the country being “Between Russia and the West, and at the very core In terms of foreign relations, the book focuses of the Soviet System” (title of chapter 2). on the factors explaining Lukashenka’s ability to project Belarus’ power in its relationship This second book project continued the the- with Russia in such a way as to compensa- me of my overall project on the connections te for its objective high level of dependency, between natural resource rents, foreign poli- assuring high levels of energy subsidies and cy and political transformation in the Former rents continuing well beyond the initial wor- USSR by looking at one case where these ener- sening of the relationship around 2004. In gy rents were most directly related to political terms of domestic relations, the book focuses non-transformation: Belarus. It analyzes the on Lukashenka’s specific use of those energy sources of stability and instability in post- rents in such a way as to assure the continu- Soviet authoritarian states through a case ing support of both the Belarusian nomenkla- study of President Aleksandr Lukashenka’s tura and the Belarusian electorate. firm hold on power in Belarus. In particular, it analyzes the role of energy relations, po- Above and beyond its contribution to un- licies, and discourses in the management of derstanding the longevity of the Lukashenko Lukashenka’s relationship with three consti- regime, this book also makes a number of im- tuencies crucial to his hold on power: Russian portant contributions to policy-making and actors, the Belarusian nomenklatura, and the political science. In the policy area, it helps 24 shed light on one of the most difficult policy partner – can help shed light on how weak challenges facing the European Union since states can bargain with more powerful ones. the dissolution of the USSR: how to deal with More specifically, how are states that depend the establishment of a hard authoritarian largely on aid or preferential treatment from regime in the very heart of Europe, e.g., in more powerful partners able to navigate and Belarus. Since 1994, neither sticks nor carrots manipulate these relationships to their own from the West have seemed to produce any benefit? lasting improvements concerning the move- ment to democracy. A nuanced understan- Perhaps most important in term of its contri- ding of the energy rents and profits derived bution to new generations of scholars wor- from a special relationship with Russia can king on Belarus and other non-transparent help us gain a more nuanced understanding post-Soviet societies, the book breaks new of why Belarus was largely resistant to both ground through its extensive use of primary positive and negative pressure from the EU. Belarusian sources, and demonstrates how it The book also makes three broader contribu- is indeed possible to conduct serious research tions to political science. First, it contributes in less-than-transparent states such as Bela- to a better understanding of the sources of rus using, among others, official sources, stability and instability in post-Soviet autho- while keeping a critical perspective on them2. ritarian states and authoritarian states as a whole, in particular concerning the issue of Work on the two books described above be- how such regimes are able to remain in power nefitted greatly from the initiatives develo- using, not only sheer repression, but also the 2 The advise of Belarusian economists of Elena Rako- manipulation of material rewards to specific va and Leonid Zlotnikov, born of their many years of segments of its population. Second, its nuan- experience working with Belarusian statistical sources, ced analysis of Belarus’ relations with Russia – was invaluable in this respect. In May 2012, financed where Minsk seemed to be able to gain much by a grant from the Center of Excellence on Russian Modernization at the University of Helsinki, I spent a more concessions from Russia than would week in Minsk with Dr. Zlotnikov doing a private course be warranted by its relative status as weaker on the use of post-Soviet national account statistics. 25 ped by the Krupp Wissenschaftskolleg and Investigator Award by the European Research the University of Greifswald on this area, in Council (ERC) to be submitted in 2014. This particular the Ukrainicum summer school future project proposes a fundamental rein- and the planned project for a Deutsche For- terpretation of post-Soviet history from schungsgemeinschaft-supported internati- 1991-2014 from a crucial but hitherto un- onal Graduiertenkolleg on Twenty years of explored perspective: while most interpreta- post-Soviet transformation. I look forward to tions of the first two decades of post-Soviet continue developing the synergies between political development – i.e., the most impor- my work and these two unique initiatives in tant formative period for the fifteen states the years to come. that emerged of the Soviet dissolution – have focused on political factors (and, in particular, In addition to completing the two books democratization and the tension between the above, I used my stay at the Alfried Krupp centrifugal forces represented by the post- Wissenschaftskolleg to start developing new Soviet republics’ striving for independence, research ideas which build upon my exper- and the centripetal forces represented by tise on the connections between natural re- Russia’s desire to keep control over the post- sources issues and political transformation in Soviet area) as main driving forces of post- the former Soviet area, but also take it in new Soviet political developments, this project directions. focuses on an important but under-studied issue: the unprecedented economic rent- Sub-project 3: Exploratory project on “The seeking possibilities and opportunities for Arbitrage Gains Years, 1991-2014: Corrupti- corruption that emerged in the region after on Rents and Political Transformation in the 1991, as central driving forces of post-Soviet post-Soviet states: Gas, Oil, Raw Materials” development. It proposes the period (1991 to c. 2014) needs to be assessed as a separate This exploratory project was intended to set historical period marked by its own rules and the basis for a larger and more ambitious phenomena associated with the unpreceden- project and an application for an Advanced ted availability of rent-seeking opportunities 26 for well-situated political actors, itself closely effects of rent-seeking on elite political pro- related to Russia’s role as major supplier of cesses and relations with Russia in the small energy resources fetching much higher prices break-away republic of Transnistria, which in Western European markets than the pro- de-facto seceded from Moldova in 1991- duction costs at home. 1992. I also completed several conference pa- As currently envisioned, this project would in- pers and a journal article on this issue3, and volve an international research team, and case attended a special preparatory seminar and studies of, among others, 1) The rent-seeking advising session for future ERC applicants. boom of the period immediately following the dissolution of the USSR, and its impact Sub-project 4: Exploratory project on “To- on the post-Soviet transition; 2) Rent-seeking wards a Political Economy of Protracted and the emergence of key post-Soviet poli- Conflicts and de facto Statehood: Natural tical actors; 3) Rent-seeking, arbitrage gains Resources Governance and Unrecognized and the establishment of new informal insti- Statehood in the Former Soviet Union” tutions regulating trade between Russia and other post-Soviet states; 4) rent-seeking and This exploratory project set the basis for an post-Soviet centrifugal processes involving application for a c. $1.2 m grant from the secessions and the establishment of de-facto Academy of Finland and the Aleksanteri Insti- states (South Ossetia, Abkhasia, Nagorno-Ka- tute, University of Helsinki4. The project builds rabakh and Transnistria). upon my earlier work on energy and natural resources rent-seeking and corruption, and As part of this exploratory project, I conduc- uses it to seek innovative answers to ques- ted preliminary research on the last topic, e.g., on how rent-seeking processes have af- 3 See my article on “Elite defection, rents and relations fected the establishment of unrecognized, de with patron states: the case of Transnistria, 1991- facto states seceding from the legal territory 2012,” under review at Communist and Post-Studies. of formally recognized post-Soviet republics. 4 I did this by conducting a micro-study of the Submitted September 24, 2012. 27 tions about conflict and conflict-resolution. Summing-up In particular, it seeks to develop a new theory on the political economy of protracted (“fro- As can be seen from this brief report, my one- zen”) conflicts by analyzing the micro-foun- year stay at the Alfried Krupp Wissenschafts- dations of elite incentives leading to conflict kolleg was extremely productive. Most impor- entrenchment or resolution. We plan to do tantly, the Wissenschaftskolleg provided the this by focusing on the interactions between intellectual space and inspiration to not only economic actors in the secessionist entities focus on bringing to completion two concre- and those in parent and patron states, loo- te book projects, but to explore the connec- king specifically at interactions in natural re- tions between these various projects to deve- sources and energy (crucial due to their high lop many new ideas for even more ambitious profitability). Should funding be received, we projects for years to come. This sets my stay plan to use as primary case studies the four at the Wissenschaftskolleg apart from other post-Soviet de-facto states that broke away research stays, and makes me enormously from their officially-recognized “parent sta- grateful for this opportunity. tes”: Abkhazia and South Ossetia (Georgia), Transnistria (Moldova) and Nagorno-Karabakh (Azerbaijan), which will be analyzed by a core group at University of Helsinki led by myself, in addition to research partners in Armenia, Azerbaijan, Georgia, Moldova, as well as in the four unrecognized entities themselves. In doing this, this project – if funded – would also constitute the first in-depth analysis of energy and natural resources governance in the post-Soviet de-facto states.

28 Balmaceda, Margarita „The Politics of Ener- Articles ausgewählte gy Dependency: Ukraine, Belarus and Lithu- Veröffentlichungen ania Between Domestic Oligarchs and Russi- Balmaceda, Margarita “Elite Defection, Rents, an Pressure“, Toronto: University of Toronto and Relations with Patron States: the Case Press, forthcoming. of Transnistria, 1991-2012,” under review at Communist and Post-Communist Studies Balmaceda, Margarita „Living the High Life in (submitted June 4, 2012). Minsk: Russian Energy Rents, Domestic Popu- lism and Belarus’ Impending Crisis“, Budapest: Balmaceda, Margarita “Rent-seeking, seces- Central European University Press, forthco- sion, and de-facto statehood: the case of ming. Transnistria” (in progress).

Balmaceda, Margarita „Russia’s Central and Eastern European Energy Transit Corridor: Uk- raine and Belarus” in Pami Aalto (ed.) Russia’s Energy Policies: National, Interregional and Global Dimensions. (Cheltenham: Edward El- gar, 2011), 136-155.

29 Privatdozent Dr. Roswitha Böhm

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Roswitha Böhm wurde 1966 in Hanau/Main Berlin, wo sie sich 2012 mit einer Schrift zum geboren. Sie studierte Romanistik und Ger- Thema „Auf Spurensuche. Erinnerte Zeitge- manistik in Frankfurt/Main, Berlin und Pa- schichte im europäischen Gegenwartsroman“ ris. 2002 wurde sie mit einer Studie zu den habilitierte. Neben den französisch- und spa- Feenmärchen der Marie-Catherine d‘Aulnoy nischsprachigen Literaturen und Kulturen in Berlin promoviert, für die sie mit dem Ti- des 17. und 20./21. Jahrhunderts gehören burtius-Preis der Berliner Hochschulen aus- Grenzphänomene des Literarischen, Fragen gezeichnet wurde. Zuletzt lehrte und forsch- des Kulturtransfers und der Sprachmigration te sie als Wissenschaftliche Assistentin am sowie der Bereich Medien und Gedächtnis zu Frankreich-Zentrum der Freien Universität ihren Forschungsschwerpunkten. 30 Krise schreiben. Prekäre Arbeitswelten in das vom Arbeitnehmer Anpassung, Flexibilität Kurzbericht der europäischen Gegenwartsliteratur und Engagement fordert, ihm im Gegenzug aber keinen sicheren Arbeitsplatz, kein an- In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich im gemessenes Gehalt und keine Anerkennung Gefolge sozialer Verwerfungen ein neues und mehr bietet. Große Unterschiede weisen die geradezu proliferierendes Wortfeld herausge- einzelnen Texte hingegen in der ästhetischen bildet, denn in den Medien und in aktuellen, Umsetzung des Themas auf. Das Projekt will meist soziologischen Publikationen spricht deshalb unter Berücksichtigung des literar- man über ‚Prekariat’, diskutiert über ‚Preka- historischen Kontextes und mit dem Ziel der rität’ und ‚Prekarisierung’. Zugleich entdecken differenzierenden Abgrenzung zu Vorläu- deutsche, französische und spanische Autor/ ferphänomenen insbesondere die vielfältigen inn/en wie Moritz Rinke und Kathrin Röggla, Berührungspunkte zwischen wirtschaftlichen Émmanuelle Heidsieck und Yves Pagès oder und sprachlich-literarischen Prozessen he- Laura Meradi und Isaac Rosa Ökonomie, Busi- rausarbeiten, um die Spezifika einer ‚Poetik ness und Arbeitswelt als ergiebige literarische des Prekären’ zu ergründen. Die Studie ist Teil Sujets wieder. Anders als in der Angestellten- eines interdisziplinären Forschungsprojekts, literatur der Weimarer Republik oder in der das anhand der europäischen Text- und Bild- ‚Literatur der Arbeitswelt’ der 60er und 70er kultur der ‚extremen Gegenwart’ Formen der Jahre gilt ihr Interesse heute einer technisch ästhetischen und medialen Repräsentation hochgerüsteten Dienstleistungsbranche mit von ‚Prekarität’ untersucht. qualifizierten Mitarbeitern – oder aber im Gegenteil den prekären Arbeitswelten der Minijobs, Überbrückungstätigkeiten und Ak- tivierungsmaßnahmen. Gemeinsam ist den Autoren ein großes Unbehagen angesichts ei- nes von den Anforderungen der globalisierten Finanzwelt fremdbestimmten Arbeitslebens,

31 Projektbericht Die argentinischen Internetaktivisten Icono- ken“. Die politische und zugleich ästhetische clasistas definieren in plakativ simplifizie- Reflexion über die Prekarisierung der Arbeits- render und damit den Befund zuspitzender welt wird jedoch nicht nur bei den hier ex- Bild- und Textsprache das Spezifische prekä- emplarisch herausgehobenen Iconoclasistas, rer Arbeit wie folgt: „Wenn Du schwarz ar- sondern in zahlreichen Text- und Bildmedien beitest. Wenn Du einen flexiblen oder einen der jüngeren Zeit zum Thema erhoben – eine Teilzeit-Arbeitsvertrag hast. Wenn Du nicht Beobachtung, die am Ausgang meiner Unter- sozialversichert bist. Wenn Dir nicht erlaubt suchung zur ästhetischen Repräsentation von wird, eine Interessenvertretung zu organi- Prekarität stand. Da aus literatur- und kul- sieren. Wenn Du tagtäglich mehr arbeitest, turwissenschaftlicher Sicht nicht nur die Be- weniger verdienst und das Ganze unter im- schäftigung mit dem Thema der prekären Ar- mer schlechteren Bedingungen: dann stehst beitswelten an sich, sondern insbesondere die Du in einem prekären Arbeitsverhältnis.“ Die Differenzen in seiner ästhetischen Umsetzung von ihnen unter der ironisierenden Rub- von Interesse sind, stehen in meinem Projekt rik „Agit-pop!“ im Netz zur Vervielfältigung die Berührungspunkte zwischen wirtschaftli- freigegebenen Bilder sind mit der Absicht chen und sprachlich-literarischen Prozessen gestaltet, „[auf den ersten Blick] lesbar zu im Mittelpunkt. sein und dementsprechend effektiv zu wir- Auch wenn die Armut, deren pejorative Grundbedeutung im Laufe der Kulturge- schichte stets aufs Neue von Aufwertungs- konzepten begleitet wurde, das Signet eines jeden Zeitalters ist, so hat sich doch in den letzten beiden Jahrzehnten im Gefolge sozi- aler Verwerfungen ein neues und geradezu proliferierendes Wortfeld herausgebildet. In den Medien und in aktuellen, meist soziolo- Abb. 1 gischen Publikationen wird nicht nur über Trabajo precario ‚Unterschichten‘ und über ‚Neue Armut‘ de- 32 battiert, sondern man spricht man über ‚Pre- Prekarität als transdisziplinäres Konzept kariat’, diskutiert über ‚Prekarität’ und ‚Pre- karisierung’. Doch was verbirgt sich hinter Zu Beginn war die Frage zu klären, was über- diesen Wortschöpfungen? Welches sind die haupt unter Prekarität zu verstehen ist. Dazu Spezifika der ästhetischen und medialen Re- wurde nicht nur die sozial- und kulturwis- präsentation ökonomisch-politischer Krisen- senschaftliche Forschungsliteratur ausgewer- situationen? Wo gibt es diskursive Verflech- tet, sondern im Sinne einer als methodolo- tungen, Überschneidungen, Interaktionen? gische Prämisse das Projekt bestimmenden, Diese Fragen liegen meinem Forschungspro- möglichst großen Stimmenvielfalt auch eine jekt zu Grunde, in dem ich die Repräsentation Recherche im Netz nach einschlägigen Web- von Prekarität anhand des von Literatur und seiten unternommen. Interessante Überle- Kunst geschaffenen Imaginariums untersu- gungen bietet der hier exemplarisch zitierte che. Dabei gehe ich davon aus, dass im politi- Blogger Stéphane Godefroy, der den ambiva- schen oder wissenschaftlichen Diskurs (even- lenten Status der Prekarität reflektiert, indem tuell noch diffus) zirkulierende Sachverhalte er darüber nachdenkt, was ‚ein gewöhnliches im Medium künstlerischer Ausdrucksformen Leben‘ („une vie ordinaire“) von einem ‚pre- bereits zu einer spezifischen Ästhetik finden. kären Leben‘ („une vie précaire“) unterschei- Es werden daher rezente Diskurse und Nar- de. Im Gegensatz zur Armut beziehe sich die rative analysiert, die den ökonomischen und Prekarität auf einen ‚allgemeineren Zustand‘ sozialpolitischen Entwicklungen im Gefolge („un état plus général“), denn sie bezeichne von Globalisierung und Migration um die eine allumfassende Verunsicherung in Bezug Jahrtausendwende künstlerischen Ausdruck auf die Frage nach der Bewahrung oder Wie- verleihen. Der Schwerpunkt des Projekts liegt dererlangung eines bereits erreichten sozialen dabei (zunächst) auf der europäischen Text- Status. Das Paradox der Prekarität bestehe in und Bildkultur des ausgehenden 20. und des ihrer „invisibilité“, ihrer ‚Unsichtbarkeit‘, da beginnenden 21. Jahrhunderts. die davon Betroffenen alles daran setzten, nicht als solche definiert zu werden. Sie seien ‚integrierte Ausgeschlossene‘ („exclus inclus“), 33 denen weniger an einem Protest als an einer Schutz- und Integrationsniveaus (ebd.). Pre- Rückeroberung ihres vormaligen Lebensstan- karität zeichnet sich somit aus durch einen dards gelegen sei. zunehmenden Druck, der auf Arbeiter und Angestellte ausgeübt wird unter grundsätz- lich veränderten gesellschaftlichen Rahmen- bedingungen. Diese beinhalten die zumindest partielle Aufweichung bereits erreichter So- zialstandards – etwa des Arbeitsrechts – wie auch eine Vervielfältigung der Arbeitsformen und des damit einhergehenden Sozialstatus. Damit verbunden sind die Rückkehr sozialer Verunsicherung, ein Ansteigen der Existenz- Abb. 2 ängste sowie eine Infragestellung der gesell- Place de la schaftlichen Kohäsion. Wir haben es also mit Précarité einem Zustand des „entre-deux“, einer Situ- ation des Provisorischen und Transitorischen Die Grundaussage dieser definitorischen An- zu tun, die nicht nur die ‚Armen‘ und bereits näherung an den Begriff der Prekarität weist Ausgegrenzten betrifft, sondern zunehmend Parallelen zu sozialwissenschaftlichen Defi- die sogenannte Mittelschicht, also all jene, nitionsversuchen auf, nach deren Auswer- die sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Zu- tung Folgendes festzuhalten war: Prekarität gehörigkeit und ihrer Ausbildung, auch ihres ist zuallererst eine relationale Kategorie. Sie bisher ausgeübten Berufs eigentlich von Pro- ist nicht identisch mit „vollständiger Aus- zessen der Prekarisierung verschont glaubten. grenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Der aus den Sozialwissenschaften stammende Armut, totaler sozialer Isolation und erzwun- Begriff der Prekarität dient in meinem Projekt gener politischer Apathie“ (Brinkmann u.a. im Sinne von Mieke Bals travelling concepts 2006: 17), sondern bedeutet das Absinken als ein transdisziplinäres Konzept, das in en- eines zuvor generalisierten Einkommens-, 34 ger Verbindung mit den zu analysierenden und Aktivierungsmaßnahmen. Wenn Ge- Objektbereichen – hier: Bildern und Texten – genwartsautor/inn/en nun also Ökonomie, weiterentwickelt wird, um das Einzelwerk in Business und Arbeitswelt als ergiebige Sujets seinen vielfältigen Verflechtungen mit seinem wiederentdecken, richtet sich ihre Aufmerk- kulturellen Entstehungskontext zu betrach- samkeit vor allem auf die abgründigen Kehr- ten. Unter dem von mir geprägten Begriff seiten wirtschaftlicher Euphorie. Gemeinsam einer Poetik des Prekären verstehe ich dabei ist deutschen, franko- und hispanophonen zum einen das Schreiben des Prekären bzw. Autoren und Autorinnen wie Moritz Rinke über das Prekäre. Zugleich beinhaltet er die und Kathrin Röggla, wie Fatou Diome und Frage danach, inwiefern das Schreiben selbst Émmanuelle Heidsieck oder wie Laura Me- prekär wird, wenn es versucht, einer zuneh- radi und Isaac Rosa ein großes Unbehagen mend prekären Realität gerecht zu werden, angesichts eines von den Anforderungen der und ob es angesichts der alle Lebensbereiche globalisierten Finanzwelt fremdbestimmten erfassenden Ökonomisierung einerseits und Arbeitslebens, das vom Arbeitnehmer An- der Krisenerfahrung andererseits noch ein li- passung, Flexibilität und Engagement for- terarisches Antidot bereitstellen kann.

Ästhetische Repräsentation und das Primat ökonomischen Denkens

Anders als in der Angestelltenliteratur der Weimarer Republik oder in der ‚Literatur der Arbeitswelt’ der 60er und 70er Jahre gilt das literarische Interesse heute zumeist einer technisch hochgerüsteten Dienstleistungs- branche mit qualifizierten Mitarbeitern – oder Abb. 3 aber im Gegenteil den prekären Arbeitswel- Mobilité forcée ten der Minijobs, Überbrückungstätigkeiten 35 dert, ihm im Gegenzug aber keinen sicheren in der aktuellen Erzähltextproduktion. Die Arbeitsplatz, kein angemessenes Gehalt und literarischen Texte analysieren die letztlich keine Anerkennung mehr bietet. enttäuschten Hoffnungen einer Teilhabe an ökonomischer Macht und untersuchen die Auch wenn die einzelnen Texte in der ästhe- Zirkulation spezifischer Sprachcodes, etwa tischen Umsetzung des Themas, etwa über der neuen Informationstechnologien. Eine die Wahl von Genre und Schreibweise, gro- solche Sprachkritik ist konstitutiver Bestand- ße Unterschiede aufweisen, so interessieren teil der literarischen Auseinandersetzung mit sich doch alle für die kulturellen und sym- dem Thema der prekären Arbeitswelten. bolischen Implikationen einer veränderten Arbeitswelt. Dominique Viart hat für die lite- Einige Elemente zu einer Poetik des rarische Repräsentation der von wirtschaftli- Prekären chen Prozessen angeregten, häufig als nega- tiv empfundenen Veränderungen des sozialen Meine Analyse ausgewählter Erzähltexte Lebens den Begriff des „réel disloqué“ (Viart zeigt, dass jenseits des wirtschaftswissen- 2005: 210) vorgeschlagen. „Disloquer“ bedeu- schaftlichen Expertenwissens ein anderes tet medizinisch „verrenken, auskugeln, nicht Wissen existiert: ein literarisches Wissen über mehr am richtigen Platze sein“, aber auch Produktion, Distribution und Konsumtion, das „auseinanderfallen, zerrütten, auflösen“; man einen kritischen Blick auf die ökonomischen könnte es also mit „das zerfallene oder das und sozialen Bedingungen eines Angestell- zerfetzte Reale“ übersetzen. Die Realität, von ten- oder Arbeiterlebens der Gegenwart be- der diese Bücher berichten, sei eine, in der inhaltet. Auf die Frage nach der literarischen Subjekt und soziale Bindung zerfallen sind, Repräsention prekärer Realitäten haben die was sich in einer „sich auflösenden Redewei- von mir bisher gesichteten Texte ganz un- se“ widerspiegele. terschiedliche Antworten gefunden, die sich Spuren der engen Wechselbeziehungen zwi- vorläufig in der Form einer formalästheti- schen Sozialem und Individuellem finden schen Typologie prekären Schreibens wie sich in Theater, Film und Kunst, aber auch folgt erläutern lassen. 36 In der Tradition des karnevalesken Schreibens tor liegen. Zugleich liefert sie einen Bericht und einer sich der Parodie annäherenden über das ökonomisierte Effizienzdenken der Sprachkritik steht das bereits erwähnte Pam- Arbeitsagenturen, die dem ‚Kunden‘ ein ‚Pro- phlet von Corinne Maier, Bonjour paresse. dukt‘ anbieten sollen, und ihn deshalb ver- De l’art et de la nécessité d’en faire le moins schärften Vermittlungskriterien unterwerfen. possible en entreprise (2004), die darin die In der Tradition des roman social stehen jene „wahrhaftige Metamorphose ideologieinfi- hybriden Genres, die über die Kombination zierter Sprache“ beklagt. Maiers Pamphlet ist von journalistischer Recherche und ästhe- ein Aufruf zu dem, was man in Frankreich in tischer Gestaltung faktengesättigtes mit li- einem hübschen Paradox ‚le désengagement terarischem Schreiben verbinden. Besonders actif’ nennt, also zur inneren Kündigung. Es relevant sind in diesem Zusammenhang die erzählt von entfremdeter Arbeit, letztendlich Texte von François Bon (Daewoo, 2004), der aber davon, wie man ihr geschickt entgeht. Fragen nach Formen der Weltaneignung und Eine zweite Strömung ist jene der realitäts- -darstellung als eine der Hauptaufgaben zeit- nah beschreibenden, engagierten Sozialre- genössischen Schreibens ansieht und in An- portage, zu der auch Protokolle gerechnet lehnung an Nathalie Sarrautes Suche nach werden können. Bei Le Quai de Ouistreham adäquaten ästhetischen Ausdrucksmöglich- (2010) von Florence Aubenas handelt es sich keiten, um das eigentlich Vor-Sprachliche um den Bericht einer Pariser Journalistin, die fassbar zu machen, grundsätzliche Überle- in die Normandie zieht, sich bei der dortigen gungen zur Wiedergabe von Realität im Ro- Arbeitsagentur einschreibt und nun unter man anstellt. ihrer wahren Identität, allerdings mit einem Die in die Kategorie der Prosaminiaturen ‚berichtigten‘ Lebenslauf auf Arbeitssuche oder microfictions einzuordnenden Texte geht. Mit einem eindeutig aufklärerischen bzw. ihre Autoren wiederum insistieren über Impetus berichtet Aubenas eindringlich von das Changieren zwischen den Genres und die den Arbeitsbedingungen der ihr – teils nur Verweigerung erzählerischer Effizienz auf der stundenweise – vermittelten Stellen, die Instabilität sozialer und literarischer Reprä- ausschließlich im Gebäudereinigungssek- sentation. Zu nennen sind hier die Erzählbän- 37 de Petites natures mortes au travail (2000) fertiggestellt werden soll, publiziert. Einer von Yves Pagès oder Chers Oiseaux (2006) präzisierenden Zuspitzung der Fragestellung und Cendres & Métaux (2006) von Anne We- sowie der Sondierung weiterer Kooperatio- ber, die trotz aller Unterschiede im Detail eine nen diente die gemeinsam mit Dr. Cécile Ko- kongeniale Form der literarischen Reflexion vacshazy (Limoges) durchgeführte Sektion sozialer Fragen im postindustriellen Zeitalter „Précarité. Textes et images de la crise dans la offerieren und deshalb ebenfalls als exemp- culture française contemporaine“ auf dem 8. larische Vertreter einer ‚Poetik des Prekären’ Kongress des Frankoromanistenverbandes im gelten können. September 2012 in Leipzig. Die Tagungsakten werden in französischer Sprache im Herbst Kooperationen und Perspektiven 2013 voraussichtlich beim Gunter Narr Verlag in der Edition Lendemains erscheinen. Während meines Forschungsaufenthalts am Bereits in Planung befindlich ist eine Auswei- Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifs- tung der Sektionsarbeit im Rahmen einer im wald wurde mein Projekt nicht nur im Rah- Frühjahr 2014 stattfindenden internationalen men der Fellow Lecture, sondern auch im und transdisziplinären Tagung zum Thema Forschungskolloquium des Arbeitsbereichs „Neue Armut und Prekarität in den europäi- Neuere Deutsche Literatur von Prof. Dr. Eck- schen Kulturen der Gegenwart. Aktuelle Nar- hard Schumacher sowie während des von PD rative und Diskurse der Krise“, die nicht nur Dr. Leonhard Fuest konzipierten internationa- literatur-, kultur- und medienwissenschaftli- len Workshops „Alexipharmaka: Gegengifte che Fragestellungen verfolgen, sondern sich in Literatur, Theorie und Medien“ vorgestellt darüber hinaus den sozialwissenschaftlichen und diskutiert. Die Ergebnisse meiner Un- Disziplinen öffnen will. Dazu sollen inter- tersuchung werden in Form einer Monogra- essierte Mitglieder der Philosophischen Fa- phie mit dem Titel Krise schreiben. Zu einer kultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Poetik des Prekären in der europäischen Ge- Greifswald geladen werden. Intendiert ist im genwartsliteratur, dessen Manuskript bisher Frühjahr 2013 die Beantragung eines dritt- rund einhundert Seiten umfasst und das 2013 mittelfinanzierten Forschungsprojekts, und 38 zwar bei dem von der Agence Nationale de la Recherche und der Deutschen Forschungs- gemeinschaft getragenen Förderprogramm für gemeinsame deutsch-französische For- schungsprojekte in den Geistes- und Sozial- wissenschaften.

39 40 Böhm, Roswitha, „‚Vous avez fait de ma colère Böhm, Roswitha/Kovacshazy, Cécile (Hg.), ausgewählte une mélodie‘: le monde de travail vu par Anne „Précarité. Textes et images de la crise dans la Veröffentlichungen Weber et Yves Pagès“, in: „Écrire le fiel“, hg. culture francophone contemporaine“, Tübin- von Matteo Majorano, Bari: Edizioni B.A. Gra- gen: Gunter Narr 2013 [im Druck]. phis 2010 (Margini critici/Marges critiques), S. 169-185. Böhm, Roswitha, „Économie et langage dans les romans d‘Emmanuelle Heidsieck“, in: dies./ Böhm, Roswitha, „Vers une poétique du pré- Cécile Kovacshazy (Hg.), „Précarité. Textes et caire: le monde des salariés dans l’œuvre images de la crise dans la culture francopho- d’Anne Weber“, in: „Un retour des normes ne contemporaine“, Tübingen: Gunter Narr romanesques dans la littérature française 2013 [im Druck]. contemporaine“, hg. von Wolfgang Asholt u. Marc Dambre, Paris: Presses Sorbonne Nou- Böhm, Roswitha/Kovacshazy, Cécile, „Dire la velle 2011, S. 197-211. précarité. Quelques réflexions méthodolo- giques“, in: dies. (Hg.), „Précarité. Textes et Böhm, Roswitha, „Weber, Anne. 1964 (Of- images de la crise dans la culture francopho- fenbach, Allemagne)“, in: „Passages et an- ne contemporaine“, Tübingen: Gunter Narr crages en France. Dictionnaire des écrivains 2013 [im Druck]. migrants de langue française (1981-2011)“, hg. von Ursula Mathis-Moser u. Birgit Mertz- Böhm, Roswitha, „Krise schreiben. Zu einer Baumgartner, Paris: Honoré Champion 2012, Poetik des Prekären in der europäischen Ge- S. 859-861. genwartsliteratur“ [in Vorbereitung].

41 Privatdozent Dr. Leonhard Fuest

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Privatdozent Dr. Leonhard Fuest, geboren 1967, fessur vertreten. Er ist Verfasser wissenschaftli- hat sich 1999 am Institut für neuere deutsche cher und nichtwissenschaftlicher Bücher sowie Philologie der Westfälischen Wilhelms-Univer- Mitherausgeber des Netzorgans dekonstrukte. sität mit einer Arbeit über das Werk Thomas de. Wichtigste Buchpublikationen: Kunst- Bernhards promoviert (summa cum laude), wahnsinn irreparabler. Eine Studie zum Werk im Jahre 2008 im Fach Neuere Deutsche Lite- Thomas Bernhards. Frankfurt a.M. u.a. 2000 ratur am Institut für Germanistik II der Uni- (Peter Lang). Poetik des Nicht(s)tuns. Verwei- versität mit einer Arbeit über das gerungsstrategien in der Literatur seit 1800. Nicht(s)tun in der Literatur seit 1800 habilitiert München 2008 (Wilhelm Fink). Die schwar- und hat dort anschließend bis 2010 eine Pro- zen Fahnen von Paris. Hamburg 2010 (Corso). 42 Poetopharmaka: Heilmittel und Gifte in Wort poetopharmakon wird der Fokus auf die- Kurzbericht Literatur und Medien se Problematik insofern verengt, als gefragt wird, was aus dem höchstentwickelten Ela- Was wird aus dem Lesen und Schreiben, da borat des Gutenbergzeitalters, das wirkungs- wir (immer mehr) klicken? Was widerfährt uns ästhetisch recht gut erfasst zu sein scheint – im Zuge der sogenannten Nutzung des Inter- der (gedruckten) Literatur nämlich, eigentlich nets? Solche und andere Fragen verbinden wird, wenn der mediale Kontext und mit ihm medien-, literatur- und kulturtheoretische das Rezeptionsverhalten einer grundlegenden mit neurophysiologischen, psychologischen Veränderung unterworfen sind. und gar pharmakologischen Thesen. Neolo- gistisch gefasst: Es geht um poetopharmaka, poetische Heilmittel, Gifte und Drogen, die vor allem mit Blick auf ihre Medialität und Materialität beschreibbar (und produzierbar) sind. Seine Spezifizierung und Plausibilisie- rung erfährt dieser pharmakopoetologische Zugriff zunächst über den Hinweis auf die seit der Antike vorgenommene Definition der Schrift als pharmakon. Bei Platon wird die These diskutiert, ob die Schrift heilsam oder giftig sei, insofern sie etwa das Gedächtnis des Menschen vor allem entlaste oder aber im Gegenteil verkümmern lasse. Heute befinden wir uns in einer ähnlich radikalen, medialen Umbruchsituation, welche durch das Inter- net markiert ist. Und so steht neuerlich die Diskussion an, inwieweit dieses neue Medium vergiftend oder heilsam sein kann. Mit dem 43 Projektbericht Die These, dass im Zeitalter des Internet nicht Um an letzterer mitzuwirken, habe ich mei- weniger als ein umfassender Umbau der ne Forschungszeit am Alfried Krupp Wissen- conditio humana stattfindet, lässt sich be- schaftskolleg dazu genutzt, möglichst viel reits sehr bescheiden diskutieren anhand der über Wirkungen nachzudenken und diese Frage, wie sich die neuen Medien auf Lese-, Wirkungen fassbar zu machen, indem ich sie Schreib- und weitere Kommunikationskom- an der Schnittstelle von Medium und Mensch petenzen auszuwirken im Begriff sind. Gerade aufgreife – thetisch wie experimentell. Jedes im Verlauf meines Fellow-Jahres sind so viele Medium und damit auch die neuesten Medien drängende (nicht selten noch oberflächliche) als pharmaka, Heilmittel, Gifte und Drogen, Diskussionen zu diesem Thema entstanden, aufzufassen, fußt auf einer über zweitausend dass zumindest die skeptische Frage, ob nicht Jahre alten Arbeitshypothese zur Schrift, de- übertrieben werde, wenn dieser Umbruch als ren erster prominentester Vertreter Platon in einem buchstäblichen Sinne radikal ange- war. Heute können wir gut mit Blick auf die sehen werde, verneint werden kann. Das In- Literatur, die immer auf Wirkungen aus war ternetzeitalter ist in seiner Größenordnung und um sie gewusst hat, nach jener Schnitt- mit dem Gutenbergzeitalter selbst zu ver- stelle von Mensch und Medium fragen. Dazu gleichen. Der akademische Betrieb reagiert habe ich eine neologistische Pointierung vor- auf diese Tatsache, indem er eilends speziel- genommen, indem ich neben dem Begriff le Stellen für Neue Medien (Professuren für der Pharmakopoetik den des poetopharma- das Internet, dessen Technologie und Öko- kon geprägt habe. Mit dieser Prägung wer- nomie) einrichtet. Das ist gut so, birgt aber den Erkenntnisse der Literatur-, Kultur- und die Gefahr, dass mit der Betonung der tech- Medienwissenschaften verknüpft mit solchen nologischen und ökonomischen Aspekte der der Psychologie (Neuropsychologie, Psycho- Netzwelt ganze Disziplinen der Geistes- und therapie) und Pharmakologie. Die Forschung Kulturwissenschaften abgehängt werden, was in Greifswald ist fast vollständig auf die Ord- nicht allein für diese Wissenschaften proble- nung des Feldes seitens der Literatur- und matisch sein dürfte, sondern auch und erst Kulturwissenschaften gerichtet gewesen und recht für eine Netzkultur. hat sich bereits in experimenteller Manier den 44 neuen Medien zugewendet (womit nur ein (Der Aufsatz zum Geheimnis der Pharmakeia bescheidener Anfang gemacht ist). wird noch in diesem Jahr an die Herausgeber Dass diese Forschung relevant ist, konnte ich gehen. Und der Nymphe ist bereits ein ers- schon zu Beginn meiner Fellowzeit daran tes multimediales Denkmal auf dekonstrukte. bemerken, dass eine überarbeitete Fassung de gesetzt worden – und zwar zu Beginn des meines Exposés für das Kolleg seitens der Jahres 2012: Pharmakeia! Anrufung einer Ar- Dresdener Kunstpsychologin Tietze zwecks chisignatorin.) Hereinnahme in einen Sammelband nachge- fragt wurde. (Für eine Pharmakopoetik. Ers- Nicht nur der professionellen Bescheiden- te Fragmente. In: Zeichen setzen im Bild. Zur heit war es im November 2011 zu verdanken, Präsenz des Bildes im kunsttherapeutischen dass ich die Rohheit (vielleicht gar Krudität) Prozess. Hrsg. von Sonja Titze. Dresden 2012. des Neologismus poetopharmakon darzule- (Sandstein Verlag) gen hatte – und zwar im Zuge einer kultur- wissenschaftlichen Tagung in der Schweiz, Solcherart ermutigt, konnte ich im Oktober welche sich mit Lebensmitteln in weitesten 2011 im Zuge eines germanistischen Kon- Sinne beschäftigte. Vielmehr ging es bei gresses in Warschau einen Vortrag halten, der meinem Vortrag Materia Cruda. Zur Essen- zweierlei zu leisten hatte: zum einen dem so tialität des poetopharmakon um die Frage gängigen wie naiven Phantasma der tech- nach dem Wechselverhältnis von Stoff und nischen sowie pragmatischen Kontrolle des Imagination, wie es allererst im alchemisti- Internet mit einer Analyse der programmati- schen Diskurs aufgetaucht ist, um später im schen Verschleierungen und Krypten dessel- 18. und 19. und schließlich 20. Jahrhundert in ben zu begegnen, und zum anderen an der literarischen und medialen Diskursen wieder Pharmakon-Semantik fortzubauen, indem ich zu erscheinen. Dabei geht es also um Phan- die Nymphe Pharmakeia als geschichtsträch- tasien zu den magischen Qualitäten tech- tige und symbolische Gestalt für eine topische nischer Erfindungen, wie sie sich vor allem und utopische Dimension des Heilmittel- und mit der Entdeckung und frühen Nutzung Gift-Diskurses im Netz stark gemacht habe. von Elektrizität und später besonders der 45 Teletechnologien herausgebildet haben – und esten sozial- und neuropsychologischen The- heute angesichts des Internet eine ganz neue sen zum Netz aufzugreifen, die mein Kern- Dimension erlangen. gebiet: das Lesen und Verstehen, betreffen. Danach wird vor den giftigen Auswirkungen Die ganze Thematik hat ihren Niederschlag in des Internets auf die kommunikative Intelli- meiner Arbeit an der von mir initiierten vir- genz gewarnt. Inzwischen geistert schon der tuellen Poetopharmazie (auf dekonstrukte. bestimmt übertriebene Begriff von der „digi- de) gefunden. Parallel zu den Vorträgen und talen Demenz“ (Spitzer) durch die Feuilletons. Aufsätzen habe ich Menüpunkte erstellt und Die Wissenschaft hat die Möglichkeit, hier zu Texte und (bewegte) Bilder nach einer aus der versachlichen. Emblematik bekannten Methode kombiniert – und dies immer auch, um einer Brückentech- Dass Medien berauschen und süchtig machen nologie zuzuarbeiten, die neue Technik mit können, ist und war schon immer zu gewär- literarisch-philosophischer Tradition verbin- tigen. Auch Büchern unterstellte man bis ins det und beide transformiert. Diese intermedi- frühe 20. Jahrhundert entsprechend verführe- ale Transformation hat dann auch eine Rolle rische oder verderbliche Wirkungen. Wie aber während meiner Fellowlecture im Januar 2012 steht es eigentlich um das Wissen der Litera- gespielt. Der Titel des Vortrags lautet: Poeto- tur zu diesem Thema? Diese Frage lässt sich pharmaka. Über wirksame Stoffe und Figuren sehr gut kombinieren mit der Frage nach dem in Literatur und Medien. In diesem Vortrag generellen Drogenwissen der Literatur. Die habe ich in einem ersten Teil die oben darge- großen Haschisch- und Opiumkonsumenten stellten stoffgeschichtlichen Motive vertieft, wie de Quincey, Poe oder Baudelaire haben habe also noch einmal die Materia Cruda des sich nicht nur mit den Drogen im Text, son- poetopharmakon zwischen Mensch und Me- dern auch, zumindest in Ansätzen, mit dem dium verortet. Und im zweiten Teil habe ich Text als Droge beschäftigt. Diesen Konnex ge- auf die experimentellen Einsätze im Rahmen nauer zu beleuchten, habe ich eine Einladung der virtuellen Poetopharmazie verwiesen. zu einem Vortrag an die Universität Bamberg Dies alles ist nicht abgelaufen, ohne die neu- im Januar 2012 angenommen, wo ich mich 46 vor allem auf den Haschisch-Konsum in der ganisatorische Hinweis auf die exzellente literarischen Moderne konzentriert habe. Ein Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen besonders hervorzuhebender Aspekt war ge- und Mitabeitern des Kollegs im Vorfeld und im wiss die Doppelbödigkeit der Thematik, die Laufe der Tagung. Der Fokus der Veranstaltung den Drogenkonsum als künstliches Paradies der Muße einerseits ausstellt und andererseits als Hölle intellektueller Impotenz. Der Titel lautet mithin: Fauler Zauber. Der Müßiggang und die Drogen. (Auch dieser Vortrag wurde wieder von dem neologistischen Entwurf ei- nes neuen Menüpunktes auf dekonstrukte.de unterstützt; hierbei ging es um die Kontami- nation und Transformation der Worte Opium und Trope zu einem Tropium. Und vielleicht darf hier die kleine Anekdote erzählt werden, dass mich wenig später der aus dem TV be- kannte Kabarettist, Piet Klocke, der Erlaubnis Abb. 1 halber anschrieb, während einer Lesung auf Internationaler Workshop diese Tropiate zurückgreifen zu dürfen – ver- Alexipharmaka sprach er sich doch offenkundig eine Wir- 14. bis 15. Juni 2012 kung.) lag auf einem Spannungsbogen von Giften und Gegengiften, krankmachenden Einflüssen und Der zweifelsfreie Höhepunkt meiner wis- therapeutischen Gegenmitteln – und zwar in senschaftlichen Aktivität am Kolleg be- litearischen, philosophischen und neomedia- stand in der Planung und Durchführung des len Kontexten. Workshops Alexipharmaka. Gegengifte in Hervorzuheben ist bestimmt, dass ich zwei Literatur, Theorie und Medien am 14. und Fellows für diese Diskussion gewinnen konn- 15. Juni 2012. Vorauszuschicken ist der or- te. Die erste Kollegin ist die Philosophin Mar- 47 tina Roesner, die so grundlegend wie diffe- den weitreichenden Erklärungsanspruch sei- renziert einen dialektischen Vortrag über nes lebenswissenschaftlichen Ansatzes, wo- die möglichen schädlichen wie förderlichen nach das Wissen und die Gestaltungen der Wirkungen des Philosophierens, bei Avicen- Literatur gleichrangig neben den Erkenntnis- na und Nietzsche, gehalten hat. Damit leis- sen der Naturwissenschaften stehen, insofern tete sie bereits eine Grundlegung für die sie das Leben betreffen. So bildete schon die Diskursabsichten des Workshops selbst, der erste Denkfigur in Ettes Parforceritt durch nicht zuletzt offen war für die metareflexive affektgeladene Texte der Weltliteratur einen Frage, zu welchen wirkungsvollen Zwecken eindrücklichen Beleg dieses lebenswissen- sein eigenes Tun gelangen soll. Eine Antwort, schaftlichen Anspruchs: Nämlich eine auto- und zwar eine kritisch-aufklärerische, lieferte biographische Szene bei Roland Barthes, in der zweite Fellow im Bunde, die Romanistin der es zu so etwas wie einer Impfung eines Roswitha Böhm, indem sie auf das wach- Subjekts mit einer angstbesetzten Erinnerung sende gesamtgesellschaftliche Problem kommt, welche den Effekt einer Erhöhung af- der Prekarität aufmerksam machte, das fektiver Immunität aufweist, ohne freilich die so intensiv und wirksam seitens der zeit- Sensitivität aufzuheben. genössischen Literatur aufgegriffen wird, Tatsächlich war Ettes Vortrag gleichsam ein dass die These nahe liegt, diese Litera- Stärkungsmittel für den ganzen Workshop, tur habe das Zeug zum veritablen Antidot. der am zweiten Tag konsequent die Spiel- Ernst machte auch und besonders der Roma- räume der Literatur und Kunst in therapeu- nist Ottmar Ette, den wir für den öffentlichen tischer Hinsicht nutzte. Dass über giftige Abendvortrag gewinnen konnten, mit der Se- und heilbringende Wirkungen von Literatur mantik des Gegengifts. Seine luziden Ausfüh- und Medien nur zu reden, nie ganz den Ver- rungen zu den Wirkungen von Affekten, wie dacht abzuschütteln vermag, sich hinter dem sie in und durch die Literatur vermittelt wer- Diskurs zu verschanzen, trieb die aus Zürich den – und zwar vor allem der Angst – lasen kommende Künstlerin Wiktoria Furrer und klassische psychologische Konzeptionen ge- den Kulturwissenschaftler Sebastian Dietrich gen den Strich und unterstrichen grosso modo um. Deshalb setzten sie auf sogenannte po- 48 etopharmazeutische Übungen, bei denen die shops bestand für mich persönlich in der Teilnehmenden des Workshops in der Ausei- Zuspitzung der neugewonnenen Erkenntnis- nandersetzung mit bestimmten Medien in se. Nicht nur, dass ich weiterarbeiten konnte Gruppenarbeit nicht nur reflexiv, sondern an dem Menüpunkt auf dekonstrukte.de, der auch aktiv, spielerisch, Antworten finden Alexipharmaka heißt, war da wichtig, son- konnten auf die Frage nach dem heilsamen dern auch die Ausarbeitung eines Aufsatzes bzw. giftigen Umgang mit eben diesen Me- zum Kritik-Begriff in der zeitgenössischen dien. Geisteswissenschaft. Der Titel lautet: Kritik Der Workshop hatte den Mut, den Charakter und Antidot. Oder: Dekonstruktion im Netz. des work in progress ernst zu nehmen. Und Hiermit erreicht der gesamte pharmakon- es war nur konsequent, noch einen Mann der Diskurs seine dezidiert netz- und biopoliti- literarischen Praxis dazu zu bitten: und zwar sche Dimension. den dänischen Schriftsteller Morten Sønderg- Gerade weil solche Überlegungen Gegenwart aard. Er war mit seiner Wortapotheke gekom- und Zukunft betreffen, war es gut, dass mei- men, einem Set von professionell gestalteten ne Fellowzeit mit einer Einladung zu einem Medikamenten bzw. deren Verpackungen, in „Zukunftscamp“ in Hamburg endete, auf dem denen sich Beipackzettel befinden, welche es um die Frage ging, wie wir in Zukunft ver- die Wirkmächtigkeit der Wort-Medikamente netzt leben wollen. Der Titel der Vortrags lau- eindrucksvoll ausstellen. Søndergaard ließ in tete: Aus dem Vergiftungszusammenhang: seinem Vortrag über diese Medikamente kei- Alexipharmaka im Netz. (September 2012) nen Zweifel daran, dass sich Sprache nicht Kurzum: Die Forschung am Alfried Krupp nur diskursiv, sondern auch bereits intuitiv als Wissenschaftskolleg war für mich nicht nur giftig bzw. heilsam erfassen und erfahren las- ertragreich, sondern wirkt nach als Ansporn, se. Die Hamburger Germanistin Julia Boog be- mit den poetopharmaka fortzufahren. Dafür stätigte im Übrigen zum Schluss diese These, danke ich. Aber auch und besonders für die indem sie über aggressive wie schützende Ef- mannigfaltigen Begegnungen mit meinen fekte von Humor, Komik und Witz referierte. Mitmenschen, die ich am Kolleg kennen und Der wissenschaftliche Ertrag des Work- schätzen lernen durfte. 49 50 Fuest, Leonhard, „Für eine Pharmakopoetik. Fuest, Leonhard „Das Geheimnis der Pharma- ausgewählte Erste Fragmente.“, in: Zeichen setzen im Bild. keia. Die Theorie und ihre Gifte.“ Sammelband Veröffentlichungen Zur Präsenz des Bildes im kunsttherapeuti- zum Thema „Zur Dialektik des Geheimnisses“, schen Prozess. Hrsg. von Sonja Titze. Dresden hrsg. von Grazyna Kwiecinska u.a., vorauss. 2012. (Sandstein Verlag) 2013

Fuest, Leonhard, „Pharmakeia! Anrufung ei- Fuest, Leonhard „Magnetic Ladies. Intoxica- ner Archisignatorin.“ (dekonstrukte.de, 2012) tion (by poetopharmaka) in Arno Schmidts Julia, oder die Gemälde.“ Sammelband zum Fuest, Leonhard, „Materia Cruda. Zur Essenti- Thema „The (Modern) Concept of Intoxica- alität des poetopharmakon.“ In einem Sam- tion/Rausch: Aesthetic Articulations – Neuro- melband zu LebensMitteln in den Literatur- physiological Interest – Geopolitical Conflict”, wissenschaften, hrsg. von Ottmar Ette u.a. hrsg. Von Hermann Herlinghaus, vorauss. (vorauss. 2013) 2013.

Fuest, Leonhard, „Kritik und Antidot. Oder: Dekonstruktion im Netz.“ In einem Sammel- band zum Thema Kritik, hrsg. von Ulrich Wer- gin (vorauss. 2013)

51 Professor Dr. Karl-Ludwig Kunz

Alfried Krupp Senior Fellow März 2012 bis August 2012

Kurzvita Karl-Ludwig Kunz (*1947 Saarbrücken) pro- Er hatte verschiedene Gastprofessuren, z.B. an movierte 1976 und wurde im selben Jahr der University of British Columbia (Kanada), Richter. Seine Habilitation erfolgte 1983. Seit in Kansai (Japan) und an der China University 1984 ist er Ordinarius für Strafrecht, Krimino- of Political Science & Law. Karl-Ludwig Kunz logie, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und ist Mitglied des Fachbeirats des Max-Planck- Rechtssoziologie an der Universität Bern. Zu- Instituts für Strafrecht. dem ist Karl-Ludwig Kunz Präsident der Bern School of Criminology und der Berner Gra- duiertenschule für Strafrechtswissenschaft.

52 Rechtsstaatlichkeit in der Spätmoderne Bürger ein. Beide Entwicklungen beeinträch- Kurzbericht tigen die Richtwertfunktion des Rechtsstaats- Das Projekt klärt den Bedeutungsverlust des konzepts. Dieses verliert seine Bedeutung als Rechtsstaats wie die Notwendigkeit eines Leitlinie der Begrenzung von Staatsgewalt alternativen Prinzips, das die Macht auf das und wird zu einer nur noch historisch bedeut- Recht in einem nicht bloß formellen, sondern samen Größe. Die Einsicht in die auch jetzt substantiellen Sinne begrenzen kann. Der unverändert dringliche Notwendigkeit einer Rechtsstaat ist als Kind des 19. Jahrhunderts Verpflichtung gesellschaftlicher Macht auf auf den Nationalstaat bezogen. Das national- das Recht verlangt nach der Suche von alter- staatliche Recht wird heute zunehmend durch nativen zeitgemäßen Lösungen. das transnationale Recht überlagert und teil- weise ersetzt. Dadurch verliert es sein frü- heres Regelungsmonopol. Zudem büßt sogar das nationale, traditionell dem Rechtsstaat verpflichtete, Recht heute seine förmliche Bestimmtheit und Voraussehbarkeit für die 53 Projektbericht Durch Recht aus dem Staat und der Gesell- ten“ Gemeinwesens und der Mittel zu seiner schaft etwas Besseres zu machen und dabei Verwirklichung geerdet. Die „Herrschaft des die staatliche Übermacht gegenüber dem Ein- Rechts“ ist nie völlig erreicht, sondern stets zelnen zu bändigen: Das ist der Antrieb für bestenfalls ein bruchstückhaft verwirklichtes viele zum Studium der Rechtswissenschaft Projekt, dessen Vervollkommnung erstrebens- und zu einer engagierten beruflichen Betä- wert ist. Wegen diesem utopischen Gefälle tigung im Recht. Für diesen Traum stehen zwischen Anspruch und Verwirklichung ha- Begriffe wie Rule of Law, Constitutional Sta- ben die darauf bezogenen Begriffe in ihrer te, Civil Rights, Due Process, Séparation des hohl klingenden Universalisierbarkeit durch- Pouvoirs oder eben Rechtsstaat. Sie bilden aus auch ein ideologisches Potential, insofern gewissermaßen die Essenz des Rechts, welche sie sich dazu eignen, die Menschenrechtsrhe- in der dauerhaft verlässlichen Absicherung torik als Legitimationshilfe für die übliche von konsensfähigen Grundwerten besteht, Machtpolitik zu missbrauchen und bei nahe- die sich auf die Wahrnehmung individueller zu jeglichen soziokulturellen Strukturen die Freiheit in Verantwortung für die Gemein- die Rechtsstaatlichkeit als praktisch (so gut schaft beziehen. Damit drücken diese Begriffe wie) verwirklicht zu behaupten. Die Idee ei- einerseits die universelle regulative Idee einer ner substantiellen Herrschaft des Rechts ist anzustrebenden substantiellen „Herrschaft das Eine, ihre Umsetzung in einem sozioöko- des Rechts“ aus. Andererseits entstammen nomisch und kulturell je bestimmt geprägten sie spezifischen soziokulturellen Kontexten Umfeld ist aber durchaus ein Anderes. und spiegeln diese in all ihren Unzulänglich- Die Unterscheidung zwischen der regulativen keiten und faktischen Defiziten an sozialer Idee und ihrer konkreten Umsetzung ist noch Gerechtigkeit. Es gibt keine perfekte Mani- in einem anderen Sinne aufschlussreich. His- festation der „existierenden Gerechtigkeit“ 1 (G. W. F. Hegel ), sondern nur bodenständi- 1 HEGEL bezeichnet die existierende Gerechtigkeit als die Wirk- ge Gewächse, die nach deren Verwirklichung lichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen und identifiziert dies (in problematischer Wei- streben. Die Wurzeln dieser Gewächse sind in se) mit der Verfassung eines Staates, vgl. (HEGEL 1979), Inneres zeitgeschichtlichen Vorstellungen des „gu- Staatsrecht, § 539. 54 torisch steht das Rechtsstaatskonzept – eben- wirtschaftliche Potenz von Großbanken und so wie seine Entsprechungen im Englischen landesübergreifend tätigen Unternehmen und Französischen – im Zusammenhang mit Machtasymmetrien und Abhängigkeiten. der Bildung souveräner Nationalstaaten und Nach einem sozialen Rechtsstaatsverständ- dem von der Aufklärung gestützten Bedürf- nis gilt es, diese möglichst durch Recht aus- nis nach konkretisierender Begrenzung der zugleichen. Einen Ansatz dazu bietet die sog. Macht des nationalen Souveräns. Das Macht Drittwirkungsthese, wonach Grundrechte limitierende und kontrollierende Anliegen nicht nur nicht bloß als klassische Abwehr- dieser Konzepte wendet sich exklusiv gegen rechte gegen staatliche Willkür zu verstehen den Nationalstaat als Träger uneingeschränk- sind, sondern über Wertentscheidungen des ter Souveränität. Dies hat sich inzwischen Grundgesetzes und wertausfüllungsbedürfti- grundlegend geändert. ge Rechtsbegriffe in die Rechtsbeziehungen Nationalstaaten sind nach heutigem Ver- zwischen Privaten hinein strahlen und diese ständnis keine uneingeschränkt autonomen, zu einer grundrechtskonformen Ausübung mit dem ius ad bellum ausgestatteten Völ- ihrer Rechte verpflichten2. Zum anderen, und kerrechtssubjekte, sondern Partner gleich- entscheidend, gefährden inzwischen neben berechtigter anderer Staaten und Mitglieder den Nationalstaaten transnationale Regel- überstaatlicher Organisationen mit wechsel- werke und internationale Organisationen seitiger Verbundenheit und gegenseitigen individuelle Freiheitsrechte. Darum gilt es Verpflichtungen. Das dem Absolutismus ent- bei unserer Analyse, den semantischen Über- stammende Konzept der absoluten Souverä- schuss des auf den Nationalstaat gemünzten nität passt deshalb auf die Realität der in ein Rechtsstaatsbegriffs zu negieren und das da- bi- und multilaterales Netzwerk eingebun- mit Gemeinte einer Kontrolle und Begrenzung den Nationalstaaten nicht mehr. Mehr noch institutioneller Macht auch auf rechtsetzende zählt, dass die Nationalstaaten nicht mehr die alleinigen Power Player sind, von denen 2 Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht vertritt eine problematische Eingriffe in die Freiheitssphä- (zumindest mittelbare) Drittwirkung der Grundrechte in sei- ren der Bürger drohen. Zum einen schafft die nem Lüth-Urteil, vgl. BVerfGE 7, 198. 55 und -durchsetzende Autoritäten jenseits des Konzept des Rechtsstaats zeitgerecht inter- Nationalstaates zu beziehen. pretieren und damit zu einer neuen Bedeu- Der dem 19. Jahrhundert entstammende tung verhelfen oder künftig durch ein an- Rechtsstaatsbegriff ist durch gesellschaft- deres Korrektiv ersetzen? Hat sich etwa das liche Strukturen geprägt, die inzwischen Verhältnis des Rechtsstaats zur Demokratie weitgehend der Vergangenheit angehören. derart verändert, dass diese inzwischen tra- Der sozioökonomische Wandel, der sich in ditionell rechtsstaatliche Funktionen der Begriffen wie globale Risikogesellschaft der Machtbegrenzung übernommen hat? Was Spätmoderne andeutet, hat die Bezugspunkte sonst wäre ein funktionales Äquivalent? Was verschoben, auf die das Rechtsstaatskonzept folgt aus dem Bedeutungsverlust des Natio- einen ordnenden und kontrollierenden Ein- nalstaats für das Rechtsstaatskonzept? Lässt fluss zu nehmen suchte. Vor allem aber hat sich angesichts der fortschreitenden Globali- der Nationalstaat als Adressat des mit dem sierung die Weltgesellschaft als neuer Garant Rechtsstaatskonzept in seine Grenzen zu wei- von Rechtsstaatlichkeit bestimmen? Oder senden Souveräns an Bedeutung verloren. können sich auf verschiedenen Ebenen über- Angesichts dessen steht zu vermuten, dass lagernde nationale, supra- und internationale das Rechtsstaatskonzept trotz unveränder- Regelungssysteme in ihrer Gesamtheit ange- tem, ja wachsendem Bedürfnis an Gewähr- messene rechtsstaatliche Garantiefunktionen leistung von Grundrechten und Rechtsgleich- übernehmen? heit an Einfluss eingebüßt hat und die ihm Solche Fragen sind von weitreichender poli- zugedachten Aufgaben nur mehr unzurei- tischer Bedeutung und bedürfen, um sach- chend zu erfüllen vermag. Falls dies zutreffen kundig getroffen zu werden, im Kern der wis- sollte, ist eine wertende Positionsbestimmung senschaftlichen Abklärung, was substantielle gefordert, die sich aus der Beantwortung na- Rechtsstaatlichkeit, die über den nationalen mentlich folgender Fragen ergibt: Soll man Souverän hinaus die Macht sämtlicher recht- sich mit der Entwicklung abfinden oder kann setzender und -durchsetzender Akteure in man ihr allenfalls etwas entgegensetzen? der globalen Risikogesellschaft verpflichtet, Lässt sich das in seinem Einfluss geschwächte bedeutet. Es gilt, die Rechtsstaatlichkeit als 56 Richtwert kollektiver Ordnung aufs Neue zu ventionsrepertoire des Staates gegenüber den bestimmen und in ihrer Verpflichtungs- und Bürgern bereit und wird daher traditionell als Begrenzungsfunktion über den Nationalstaat Ausdruck und Prüfstein von Rechtsstaatlich- hinaus auf die Weltgesellschaft und das Ge- keit verstanden. So lässt sich danach fragen, flecht nationaler, supra- und internationa- ob im derzeitigen Strafrecht Indizien für den ler Institutionen zu beziehen. Innerstaatlich Abbau strafrechtlicher Rechtsstaatlichkeit verlangt ein zeitgemäßes Rechtsstaatsver- vorliegen und was deren Ursachen sind. Die ständnis zudem nach einem interkulturellen Qualität des Strafrechts der Spätmoderne in Rechtsdiskurs über Phänomene und Konse- seiner Eignung zur Beförderung materieller quenzen der Globalisierung. Rechtsstaatlichkeit zu analysieren und bei Bei Bemühungen zur Entwicklung eines der festgestellten Defiziten nach Möglichkeiten Spätmoderne adäquaten Verständnisses von zu suchen, die Entwicklung in eine andere Rechtsstaatlichkeit wird juristisch Neuland Richtung zu lenken, erscheint als eine loh- betreten. Zudem gilt es sich gesellschaftsthe- nende Aufgabe. oretisch und politologisch mit Hindernissen Das traditionell auf Rechtsgüterschutz be- auf dem Weg dorthin auseinanderzusetzen. schränkte Strafrecht wird heute zu einem Der Einsatz einer Forscherpersönlichkeit wird Steuerungsmittel der Umwelt-, der Waffen- nicht genügen, um das Thema umfassend zu export-, der Wirtschafts- und der Drogenpo- beleuchten. Ich hoffe jedoch, mit diesem Bei- litik. Um diese neuen Aufgaben zu erfüllen, trag einen Anstoß dafür zu geben, dass das muss das Strafrecht von der punktuellen Re- Thema in seiner grundsätzlicheren Bedeutung pression konkreter Rechtsbrüche zur flexiblen erkannt und von anderen in anderen Aspek- und flächendeckenden Risikosteuerung um- ten weiter verfolgt werden wird. schwenken und dabei seine rechtsstaatlichen Mein Beitrag soll sich auf die skizzierten Fesseln lockern. Es muss sich auf schwer prä- grundsätzlichen Fragen konzentrieren und zisierbare überindividuelle Rechtsgüter (wie die Gültigkeit möglicher Antworten vor allem Fairness des Börsengeschäfts, Reinheit der im Bereich des Strafrechts prüfen. Das Straf- Luft) erstrecken, seine Interventionsschwel- recht stellt das ultimative und härteste Inter- le durch abstrakte und potentielle Gefähr- 57 dungsdelikte, Beweisvermutungen und weit- Das heutige Strafrecht – und mehr noch seine gehende Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens von einer breiten Öffentlichkeit gewünschte vorverlagern, tunlichst auch juristische Per- Veränderung – drückt eine „Zaunhaftigkeit“ sonen für strafbar erklären, fragwürdige Er- des Denkens aus, welche auf Risikominimie- mittlungsmethoden (Telefon- und Videoüber- rung durch Abschottung und Ausgrenzung wachung, V-Personen) und Erledigungsarten setzt und die weltbürgerliche Zivilgesellschaft (Deals) vorsehen. bedroht. Der durch Medien und praktische Der Verlust an rechtsstaatlicher Bindung Politik dramatisierend betriebene Diskurs über wird im Gegenzug nicht durch eine erhöhte die öffentliche Sicherheit gerät angesichts der Effizienz ausgeglichen. Da sogar ein als ge- Unersättlichkeit des Sicherheitsverlangens in sellschaftliches Steuerungsmittel funktionali- einem für viele orientierungslos gewordenen siertes Strafrecht seine starren Prinzipien der Lebensumfeld zu einer publikumsbezoge- Zurechnung, Haftung und Beweislast nicht nen Inszenierung, die latent Ressentiments völlig abstreifen kann, sind seine Hände im- gegenüber Fremdheit und Nonkonformität mer noch zu hölzern, um die neuen Aufgaben bestärkt. Im Widerhall der Medien wird eine wirklich fassen und bewältigen zu können. offensiv-konfrontative Einstellung der ge- Das Strafrecht bleibt so chronisch hinter den schlossen auftretenden Gemeinschaft der gesellschaftlichen Erwartungen an instru- Rechtschaffenen suggeriert, die mit der Me- menteller Effizienz zurück und wird weitge- tapher des Krieges gegen Gesellschaftsfeinde hend symbolisch: Einerseits werden mit ihm eine von Zorn getriebene Kriminalpolitik des verbreitete Unsicherheitsgefühle angespro- harten Durchgreifens betreibt. Unter dem chen und an das Publikum Signale der Ent- Einfluss dessen gabelt sich das Strafrecht in schiedenheit im Kampf gegen das Unrecht seiner Anwendungspraxis zunehmend in ein gerichtet. Andererseits vermittelt das Straf- Bürgerstrafrecht, das Alltagskriminalität dis- recht eine „hohle“ Symbolik, die vermeintli- kret, nicht stigmatisierend und de-eskalierend che Wirkung vortäuscht und systembedingte erledigt, und in ein Feindstrafrecht, das ge- Steuerungsschwächen als prinzipiell über- genüber Terroristen und sonstigen Gewalt- windbare Vollzugsdefizite verharmlost. tätern quasi-kriegsrechtliche Eingriffsbefug- 58 nisse vorsieht und dauerhaft ausgrenzende Wertvorstellungen, die sich nicht einfach Sanktionen verhängt. auf andere Nationen übertragen lassen. So Eine breiter angelegte, mehrere Themen und scheint die freiheitssichernde Idee des Rechts Rechtskreise umfassende Analyse ergibt: Im in der globalisierten Weltgesellschaft im Nie- internationalen und transnationalen Recht ist dergang. Für eine wissenschaftliche Rechts- der Ausbau des Rechtsschutzes von Bürgern politik stellt sich die Frage, ob diese Ent- und Institutionen im Fortschreiten; ob dort wicklung unausweichlich ist oder allenfalls aber je die Schutzstandards eines in sich kon- gebremst oder gar verkehrt werden kann. sistenten nationalen Rechtssystems erreicht Unsere Überlegungen zeigen, dass norma- werden können, ist mehr als fraglich. Das sich tive Konzepte wie der Rechtsstaat in ihrer in allen Rechtsgebieten ausbreitende Risiko- faktischen Ausgestaltung von vorhandenen recht baut schützende Rechtsformen ab. Ein sozio-ökonomischen Strukturen abhängen. populistisch dem Ruf nach Strafhärte folgen- Die gegebenen Strukturen der globalen Ri- des Strafrecht vernachlässigt die Rechtsstel- sikogesellschaft, welche die Rechtsstaatlich- lung des Beschuldigten und die Personwürde keit in die Defensive drängen, sind zu kriti- des Täters. Solche Entwicklungen sind in den sieren, aber kaum zu beeinflussen. Immerhin USA und in Großbritannien deutlicher als in tritt diese Gesellschaftsform der Spätmoder- den deutschsprachigen Ländern ausgeprägt, ne regional in unterschiedlichen Varianten während in den skandinavischen Staaten von auf. Angesichts vorhandener Differenzen dieser Entwicklung vergleichsweise wenig zu des sozio-ökonomischen Systems verschie- verspüren ist. In Skandinavien und begrenzt dener nationaler Rechtskulturen innerhalb auch in deutschsprachigen Ländern vorhan- der spätmodernen Weltgesellschaft lässt sich dene Schutzmechanismen gehen mit der danach fragen, welche Systeme sozialer Ord- Anpassung dieser Länder an das Modell der nung mit welchen mehr oder weniger funk- globalisierten Risikogesellschaft zunehmend tionsfähigen Institutionen, Prinzipien und verloren. Soweit sie noch rudimentär vorhan- Strukturen zur Beförderung oder Behinde- den sind, beruhen sie auf langfristigen sozia- rung von Rechtsstaatlichkeit mehr oder we- len Arrangements und kulturell verwurzelten niger taugen. 59 Es liegt daher nahe, bestehende national- besteht die Hoffnung, die prägenden Eigen- staatliche Gesellschaftsordnungen einiger schaften der so ermittelten konkreten Best hochentwickelter westlicher Länder in ih- Practice in generellen, auf andere Rechtskrei- rer verschiedenen sozio-ökonomischen und se übertragbaren Kategorien zu definieren rechtskulturellen Prägung einer vergleichen- und so eine Art Modell für die Anpassung be- den Betrachtung zu unterziehen. Das Ziel stehender Rechtskreise an die der materiellen dessen besteht darin, die zur Verwirklichung Rechtsstaatlichkeit optimal förderlichen Rah- materieller Rechtsstaatlichkeit vergleichs- menbedingungen zu schaffen. weise am geeignetsten erscheinenden öko- nomischen und rechtskulturellen Rahmenbe- dingungen zu bestimmen. Auf Grund dessen

60 Kunz, Karl-Ludwig, Vorbereitung und Beginn Kunz, Karl-Ludwig, „Die Kulturgebundenheit ausgewählte des Schreibens an Buchtext über Rechtsstaat des Strafrechts und seine Übertragbarkeit in Veröffentlichungen und Spätmoderne (Fellowthema). fremde Rechtskreise“, Vortrag Universität Er- langen, erscheint 2013 im Sammelband der Kunz, Karl-Ludwig, Fellowlecture, erscheint Tagung. 2013 in der Juristenzeitschrift GreifRecht der Universität Greifswald, siehe http://www. Kunz, Karl-Ludwig, „Zur Punitivität“, er- greifrecht.de/. scheint 2013 in Festschrift für Hans-Jürgen Kerner. Kunz, Karl-Ludwig, „Neue Rechtsprobleme von AIDS“, erscheint 2013 in Festschrift für Wolfgang Frisch.

61 Professor Dr. Olaf Mörke

Alfried Krupp Senior Fellow April 2012 bis September 2012

Kurzvita Olaf Mörke, geb. 1952, studierte in Marburg Institute for Advanced Study (Wassenaar/NL). Geschichte, Politikwissenschaft, Germa- 1995 Gastprofessor an der Humboldt-Univer- nistik und Pädagogik (Erstes Staatsexamen sität Berlin. Seit 1996 Professor für Mittlere 1976, Promotion 1983). 1978 bis 1984 Wis- und Neuere Geschichte an der Universität Kiel. senschaftlicher Mitarbeiter am SFB 8 „Spät- 2011/12 Gastprofessor an der Universität St. mittelalter und Reformation“ in Tübingen. Andrews (United Kingdom, Schottland). Ar- 1985 bis 1996 Lehrbeauftragter, Mitarbeiter, beitsschwerpunkte: Reformationsgeschichte, Assistent und Oberassistent am Historischen frühneuzeitliche Stadtgeschichte, Geschichte Institut der Universität Gießen. Dort Habili- der Niederlande sowie die Geschichte politi- tation 1994. 1992/93 Fellow des Netherlands scher Kulturen in Nordwesteuropa. 62 Die Geschwistermeere: Eine Beziehungsge- im Zentrum einer terra septentrionalis, einer Kurzbericht schichte von Ost- und Nordsee nördlichen Welt, die als gegliederte Einheit zunächst in der Fremd- und seit dem Spät- Das Projekt beabsichtigt eine Geschichte der mittelalter auch in der Selbstwahrnehmung beiden Meere und ihrer Anrainer von der An- gesehen wurde. Es entstanden Ideenkonzepte tike bis in die Gegenwart. Es spürt den po- von Nördlichkeit, die in Abwandlungen und je litischen, kulturellen und wirtschaftlichen unterschiedlichen Kontexten bis heute höchst Verbindungs- und Trennungslinien im nord- differente Wirkung entfalten. Die Begriffe europäischen Raum zwischen den Britischen ‚Norden’ und ‚Nördlichkeit’ erfassen die Nord- Inseln im Westen, Russland im Osten, Island und die Ostseeregion gleichermaßen. Um sie im Norden, Polen und Deutschland im Süden auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, ist die im Rahmen einer raumorientierten histori- Entwicklung von materiellen Austauschbezie- schen Analyse nach. Besonderes Augenmerk hungen im Bereich der Wirtschaft ebenso zu gilt dabei der Cimbrischen Halbinsel, heute befragen, wie die im Bereich von Ideen, kultu- politisch gegliedert in das deutsche Schles- rellen Leitbildern, gesellschaftlichen und poli- wig-Holstein und das dänische Jütland. Sie ist tischen Organisationsformen. der Riegel, der sich zwischen zwei maritime Räume legt und beide zu trennen scheint. Sie ist aber mehr noch Landbrücke, die die- se Trennung zugunsten gemeinsamer Räum- lichkeit aufhebt. Die Kartographie als eine wesentliche Basis für die Erzählung verräum- lichter Geschichte gibt Aufschluss nicht nur über Raumeinheiten und deren Ein- bzw Ab- grenzungen, sondern auch und gerade über die normative Füllung von Raum. So positi- onierten Kartographen von der Antike bis in die frühe Neuzeit jene Cimbrische Halbinsel 63 Projektbericht Das Buchprojekt trägt den Titel „Die Ge- Die Integration von Ost- und Nordsee in eine schwistermeere: Eine Beziehungsgeschichte raumorientierte historische Analyse ist folg- von Ost- und Nordsee“. Am Anfang stand die lich sinnvoll. Dabei gilt das besondere Augen- Idee zu einer Geschichte des Ostseeraumes. merk einer Landschaft die zunächst lediglich Trotzdem verweist der hier gewählte Titel auf als ein Teil entweder der Westküste der Ost- einen ganz anderen räumlichen Zuschnitt. see oder der Ostküste der Nordsee gesehen Das bedarf der Begründung. Ost- und Nordsee werden kann. Die seit der Antike unter die- sind seit deutlich mehr als einem Jahrtausend sem Namen bekannte Cimbrische Halbinsel, auf vielfältige, freilich auch in der Intensität heute politisch gegliedert in das deutsche wechselnde Weise miteinander verbunden. Schleswig-Holstein und das dänische Jütland, Drei chronologische und räumliche Eckpunk- schaut aber gleichermaßen zur Ost- und zur te vermitteln einen ersten Eindruck von der Nordsee. Sie ist der Riegel, der sich zwischen Qualität dieser Verbindung. zwei maritime Räume legt und beide zu tren- Da ist zum einen im 8., 9. und 10. Jh. die Sied- nen scheint. Sie ist aber ebenso Landbrücke, lungs- und Herrschaftsexpansion der skan- die diese Trennung aufhebt. dinavischen ‚Wikinger’ in den Nordseeraum. Jene Brückenfunktion lässt sich in der Ver- Auch in den Osten bzw. Südosten Europas kehrswegeentwicklung seit spätestens dem stießen sie vor und wirkten herrschaftsbil- 9. Jh. bis heute kontinuierlich nachweisen. dend. Da ist zum anderen wenige Jahrhun- Den sensiblen Zusammenhang von Politik derte später die Hanse. Sie spannte ihren Ein- und Ökonomie zeigt auch der 1895 eröffnete fluss von London bis Nowgorod, von Brügge Nord-Ostsee-Kanal, die noch immer meistbe- bis Bergen, beschränkte sich also keineswegs fahrene künstliche Wasserstraße der Welt. auf die Ostsee. Da ist zum dritten die aktu- elle Integration fast aller Ostseeanrainer in Die rund 450 Kilometer lange Cimbrische einen europäischen Einigungsprozess, dessen Halbinsel legt Trennendes und Verbindendes ökonomischer Schwerpunkt eher auf die An- zwischen Nord- und Ostsee in aller Deutlich- liegerstaaten der Nord- als auf die der Ostsee keit offen. West- und Ostküste repräsentieren weist. deutlich unterschiedene Landschaftstypen. 64 Abb. 1 Nord-Ostseekanal bei Kiel-Holtenau

Die wenigen größeren Städte vom dänischen für die historische Geographie bedeutsamen Ålborg und Århus über Flensburg und Kiel bis Konzepte zum Umgang mit dem Phänomen Lübeck wenden sich auf den ersten Blick nur ‚Raum’ durchspielen. Jürgen Osterhammel der Ostsee zu. Die politische Geschichte jenes nennt ihrer fünf: Landstriches zwischen Elbe und Skagerrak 1: „Raum als Verteilung von Orten“. stützt die Doppelperspektive von Trennung 2: „Raum als Umwelt“. und Verbindung. Seit dem Mittelalter zeich- 3: „Raum als Landschaft“. nete sich im Prozess der Herrschafts- und 4: „Raum als Region“. Staatsbildung die Absicht ab, Ost- und West- 5: „Raum als Kontaktarena“. küste politisch zusammenzuführen. Offenbar Im Rahmen einer Beziehungsgeschichte von bestand und besteht ein machtpolitisches In- Ost- und Nordsee gehört dem Raum zwischen teresse an der Verbindung beider Küsten und Hamburg und der Nordspitze Dänemarks als damit auch an der Verbindung beider Meere. Kontaktarena besonderes Augenmerk. Aber Dass das mit der Kontrolle von Kommunikati- auch die anderen Konzepte fließen in die onswegen zu tun hatte und hat, liegt auf der Analyse ein. Das gilt nicht nur für die Cim- Hand und wird immer wieder an den Statio- brische Halbinsel, sondern auch für Ost- und nen der Chronologie zu zeigen sein. Nordsee. Jeweils für sich und in toto können Darauf beschränkt sich das Interesse an der sie als Interaktionsraum interpretiert werden, Cimbrischen Halbinsel gleichwohl nicht. ohne die anderen Konnotationen von Raum Vielmehr lassen sich an ihrem Beispiel die auszuschließen. 65 Dass Raum eine vielschichtige analytische Wenn mit Karl Schlögel „das Kartenzeich- Kategorie ist, zählt inzwischen zu den All- nen die erste Form der Skizze, des Manu- gemeinplätzen der Geschichtswissenschaft. skriptes,“ für die Erzählung verräumlichter Dagegen ist nichts einzuwenden, solange der Geschichte(n) ist, dann lohnt der Blick auf die Begriff von umfassender Bedeutung für die Kartographie auch hinsichtlich der hier inter- Klärung historischer Sachverhalte ist. Diese essierenden Gesamt- und Teilräume. Leistungsfähigkeit erwächst gerade aus seiner Vielschichtigkeit. Das gilt sowohl in metho- Ein frühes Beispiel für solcherart Erzählung discher Beziehung, bezüglich der Bedeutung ist die 1539 publizierte Carta Marina des ka- von Raum als analytischer Kategorie der Ge- tholischen schwedischen Geistlichen Olaus schichtswissenschaft, als auch in sächlicher Magnus. Olaus verfasste eine Historia de gen- Hinsicht, bezüglich des physisch greifbaren tibvs septemtrionalibvs, eine Geschichte der Raumes. nördlichen Völker, und, als gleichsam verbild- So zeigen sich drei aufeinander bezogene, in- lichende Vorarbeit dazu, die Carta Marina et teragierende Raumeinheiten. Je nach Frage- Descriptio Septentrionalium Terrarum, eine stellung und –perspektive können sie als ei- Meereskarte und Beschreibung der nördli- genständige, wiederum binnendifferenzierte chen Lande. Teilräume oder als Gesamtraum auftreten. Es zeichnen sich erstens die Konturen eines In- Seine Karte zeigt Ost- und Nordsee mit Anrai- teraktionsraumes ab, der gemeinsam von Ost- nern sowie Teile des Nordatlantiks. Dies stellte und Nordsee konturiert wird. Zweitens bilden offenbar für ihn eine sinnvolle Raumeinheit jedes der beiden Meere und ihre Anrainer In- dar, eben die Septemtrionales Terrae, die teraktionsräume sui generis. Drittens fungiert nördlichen Landschaften. die Cimbrische Halbinsel als Interaktionsraum Nahezu alle Bereiche von Kultur und Natur mit Barriere- und Passagefunktion zwischen werden dem Betrachter vorgeführt, mal er- Ost- und Nordsee, in mancherlei Hinsicht bei- staunlich realistisch, mal sagenhaft phan- den zugehörig und doch, ebenso wie diese, tasievoll anmutend. Die zentrale Nord-Süd- gegebenenfalls eigen. Achse der Carta Marina wird von einem sehr 66 wuchtigen Scandia, der Landmasse des heuti- gen Schweden und Norwegen, sowie er Cim- brischen Halbinsel gebildet. Diese Achse teilt die Karte in eine östliche und westliche Hälf- te, den Ostseeraum einerseits, den Raum von Nordsee und Nordatlantik andererseits. Die Massivität Scandias erscheint mehr als Barriere denn als Passage zwischen Ost- und Nordsee. Durchlässigkeit hingegen signalisie- ren die dänische Insellandschaft und erneut die Cimbrische Halbinsel. Auch die lebhafte Darstellung von Skagerrak und Kattegat deu- tet auf den Passagecharakter. Die Carta Marina führt in ihrem Bild- und Textprogramm ein weiteres Argument ein, das die Zusammenschau von Ost- und Nord- see nahelegt. Die beide Meere säumenden Re- gionen werden nämlich als Septemtrionales Terrae zusammengefasst, als die nördlichen Länder. Dies bedeutet weit mehr als die bloße Abb. 2 Beschreibung eines geophysikalischen Phä- als Peripherie des christlichen Kosmos und Carta Marina nomens. Die neue Forschung hat gezeigt, dass damit als untergeordneten Rand der Zivilisa- die Karte des Olaus Magnus hochgradig ideell tion schlechthin zu begreifen. Vielmehr ent- aufgeladen ist. wickelten sie Argumentationsmuster, die den Olaus nahm eine sich seit dem Spätmittelal- Norden als zumindest gleich-, wenn nicht gar ter abzeichnende Tendenz auf. Humanisten höherwertig erachteten als die klassischen aus dem Raum nördlich der Alpen begannen Kulturzentren, die seit der Antike im Mittel- in dieser Zeit, ihre eigene Welt nicht länger meerraum lagen. 67 Wie der Raum des Nordens geographisch zu ‚Nordischen Rates’. Der englischsprachige In- präzisieren sei, war dabei zunächst weitge- ternetauftritt begründet den Zusammenhang hend offen. Hier griff nun die Kartographie. dieser ‚Nordic countries’ als Wertegemein- Sie setzte seit dem 16. Jahrhundert die mehr schaft: „The region’s five nation-states and oder minder abstrakten Vorstellungen von three autonomous regions share much com- dem, was für den Europäer den Norden um- mon history as well as common traits in their fasste, in das Bild eines geographisch klar respective societies, such as political systems abgrenzbaren Raumes um. Der Schöpfer der and the Nordic model.“ Er hebt auf die lan- Carta Marina tat dies mit einer ungewöhnli- ge gemeinsame Geschichte der Region ab chen Detail- und Informationsdichte. Gleich- und betont den Wertekonnex demokratischer wohl ist sein Werk kein Einzelbefund. Staaten, die sämtlich dem spezifischen Nor- dic model des Wohlfahrtsstaates verpflichtet Von diesem Ausgangspunkt untersucht mein seien. „United by the surrounding waters“ Projekt auch die räumliche und normative seien diese überdies von Beginn an gewesen. Dimension von ‚Norden’. Wie weit sich der Wertetradition und maritim basierte Kommu- Norden Europas erstrecke, ist bis auf den nikation, diese Kombination spielt im Selbst- heutigen Tag nicht vollends klar. In Campes verständnis der Kooperationsgemeinschaft 1809 erschienenen ‚Wörterbuch der Deut- des ‚Nordischen Rates’ die zentrale Rolle. schen Sprache’ heißt es unter ‚Norden’: Ohne historische Kontinuitäten überzustra- „... der nördliche Theil der nördlichen Halb- pazieren, wird doch eine Verbindung zwi- kugel der Erde, besonders der nördliche Theil schen dem Versuch des Olaus Magnus von von Europa, wozu man besonders Rußland, 1539, den Septemtrionales Terrae ein eigen- Schweden und Norwegen rechnet.“ Finnland, ständiges kulturelles Gewicht im Rahmen der Norwegen, Dänemark, Island und Schweden christlichen Ökumene zu verleihen, und der sowie drei autonome Regionen (die zu Dä- Selbstpräsentation des Nordischen Rates im nemark gehörenden Färøer im Nordatlan- 21. Jahrhundert deutlich. tik, Grönland und die finnischen Åland-In- Bei allen Differenzen im geographischen Fein- seln) bilden seit 1952 die Gemeinschaft des zuschnitt dessen, was den ‚Norden’ umfasse, 68 zeichnet sich eines ab: Das Identitätskonzept geophysikalischen Raum der ‚nördlichen Län- von ‚Norden’ bzw. ‚Nördlichkeit’ konstruiert der’ oder - modern gesprochen – Nordeuro- über die sogenannten objektiven Gegeben- pas, mit dem ‚Norden’ als Identitätsregion. heiten von Politik, Wirtschaft und Verkehr hinaus ein kulturelles Band zwischen Ostsee Die Carta marina zeigt freilich nicht nur eine und Nordsee. Identitätsregion, sondern auch eine Schiff- Der ‚Norden’ war nicht nur in der Entste- fahrts- und Wirtschaftsregion, in der wider- hungsepoche der Carta Marina eine Identi- streitende Interessen zu Konflikten führen. tätsregion war, deren Natur und Kultur man Olaus band auch in dieser materiell-ökonomi- bestimmte Eigenschaften, positive wie ne- schen Beziehung Ost- und Nordsee zusammen. gative, zuschrieb. Eine Region, die auch von Freilich zeigt der östliche Rand der Karte, was Außenstehenden, vor allem von ihrem Wind- für Olaus die Identitätsregion ausmachte. rosenpendant, dem ‚Süden’, als höchst anders Auf dem zugefrorenen finnischen Meerbu- wahrgenommen wurde bzw. sich selbst so sen stürmen bewaffnete Reiter von Ost und wahrnahm und noch immer wahrnimmt. West aufeinander zu. Kanonen richten sich an Einstweilen sei festgehalten: Virtuelle Raum- mehreren Orten gen Osten, gen Russland. Er konzepte von ‚Nördlichkeit’ überkuppeln die selbst erklärt dies an einer Stelle damit, „daß Anrainer von Ostsee und Nordsee, sie schaf- die schwedischen Reiter (die dort im Land fen gedachte Einheit. vonnöten sind) gegen die Moskowiter auf Mit dem Umschlag vom geophysikalischen dem Eis Krieg führen, wie sie sich im Som- Phänomen des Nordens zu einem mit wer- mer auf demselben See und anderen Flüssen tenden Adjektiven aufgeladenen Konzept mit ihnen schlagen. Ursache des Krieges ist von ‚Nördlichkeit’ wird eine Ebene von Raum auf beiden Seiten der Zorn darüber, daß die angesprochen, deren Konstruktionscharak- einen zur griechischen, die anderen zur latei- ter offensichtlich ist. Ein Werk wie die Carta nischen Kirche gehören.“ Die Grenzziehung Marina verbindet augenfällig das, was auf zwischen dem orthodoxen Russland und den den ersten Blick selbstverständlich zu sein Gebieten des für Olaus rechten Glaubens scheint, nämlich den konkret benennbaren der römischen Kirche, denen Olaus das der 69 Reformation 1539 schon großenteils zuge- auf den ‚Nordischen Rat’ mag dies einstweilen fallene Nordeuropa in der Hoffnung auf des- hinreichend demonstriert haben. sen baldige Rückkehr in den Schoß der ka- Um diese Idee auf ihre Stichhaltigkeit zu tholischen Rechtgläubigkeit flugs zurechnet, überprüfen, ist die Entwicklung von materi- spielt für seine Konstruktion der Identitätsre- ellen Austauschbeziehungen im Bereich der gion ‚Norden’ eine zentrale Rolle. Solcherart Wirtschaft ebenso zu befragen, wie die im Abgrenzung war kein Spezifikum des schwe- Bereich von Ideen, kulturellen Leitbildern, dischen Theologen aus dem 16. Jh. gesellschaftlichen und politischen Organisa- Die Carta Marina bildete einerseits Gegebe- tionsformen. Inter- und überstaatliche Ver- nes ab. Indem er die so verschiedenen Regi- bünde wie Nordischer Rat und Ostseerat sind onen von Finnland und Livland über Schwe- ein zeitgenössisches Indiz für die Kombinati- den, Norwegen, Dänemark, Norddeutschland on von kulturell gesellschaftlichen Wertvor- bis hin zu den britischen Inseln, Island und stellungen, wirtschaftlichen Kooperationsin- dem sagenhaften Thule in den Rahmen einer teressen und absichtsvoll ins Leben gerufenen Karte einpasste und sie dann gemeinsam als politischen Organisationen. Eines aus der län- ‚nördliche Länder’ – Septemtrionales Terrae – ger zurückliegenden Vergangenheit sind die qualifizierte, erhielt ein ab- und eingrenzba- Bemerkungen des Olaus Magnus zur Bezie- rer Norden, bestehend aus Ost- und Nordsee hung des Deutschen Ordens oder Schwedens sowie den beide Meere säumenden Ländern, gegenüber dem orthodoxen Russland. Sie ein eigenständiges Profil. lassen auch das Gewaltpotential von Ab- und Die Begriffe ‚Norden’ und ‚Nördlichkeit’ erfas- Ausgrenzungsmustern erahnen. sen die Nord- und die Ostseeregion gleicher- maßen. Dies gilt nicht nur für die Carta Ma- Während meiner Zeit am Alfried Krupp rina und die Epoche, in der sie entstanden ist. Wissenschaftskolleg habe ich das skizzier- Wir treffen die Idee vom ‚Norden’ auch heut- te Konzept in der Debatte mit Greifswalder zutage an entscheidender Stelle zur Charak- Historikerkollegen überprüfen und weiter- terisierung eines durch kulturell-gesellschaft- entwickeln können. Dank der hervorragenden liche Werte markierten Raumes an. Der Blick Arbeitsatmosphäre am Kolleg konnte ich so 70 konzentriert schreiben, dass ungefähr die ter den Bedingungen des Universitätsalltags Hälfte des Buchmanuskriptes ‚steht’. Der ge- in absehbarer Zeit wird abgeschlossen werden nius loci Greifswalds und des Kollegs sollte können. die Schaffenskraft so gestärkt haben, dass auch die zweite Hälfte des Manuskriptes un-

71 72 Mörke, Olaf, „‚Declaration of Arbroath’ Mörke, Olaf, „Holstein und Schwedisch-Pom- ausgewählte (1320), ‚Blijde Inkomst’ (1356) und ‚Groot mern im Alten Reich. Integrationsmuster und Veröffentlichungen Privilege’ (1477): Drei spätmittelalterliche politische Identitäten in Grenzregionen“, in: Politikvereinbarungen und ihre (früh-)neu- Jörn, N.; North, M. (Hg.), „Die Integration des zeitliche Wirkungsgeschichte“, in: O. Auge, südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich“, B. Büsing (Hg.), „Der Vertrag von Ripen 1460 Köln, Weimar, Wien 2000, S. 425-472. und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nord- Mörke, Olaf: „In het centrum van Europa: De europa“, Ostfildern 2012, S. 441-461. politieke cultuur van de Republiek“, in: Da- vids, K.; Hart, M. ’ t; Kleijer, H.; Lucassen, J. Mörke, Olaf; Teuber, B.; Ferretti, V.A., „Imagi- (Hg.), „De Republiek tussen zee en vasteland. natio borealis. Para una topografía cultural Buitenlandse invloeden op cultuur, economie de lo ‚nordico’“ in: „La abstracción del paisaje. en politiek in Nederland (1580-1800)“, Leu- Del romanticismo nórdico al expresionismo ven, Apeldoorn 1995, S. 287-302. abstracto“, Madrid 2007, S. 247-251.

Mörke, Olaf, „Die Europäisierung des Nordens in der Frühen Neuzeit. Zur Wirkmächtigkeit von Vorstellungswelten in der politischen Landschaft Europas“, in: Engel-Braunschmidt, A. u.a. (Hg.), „Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart“, Frankfurt am Main 2001, S. 67-91.

73 Professor Dr. Birgit Recki

Alfried Krupp Senior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Birgit Recki, 1954 in Spellen am Niederrhein ge- te liegen systematisch in Ethik, Ästhetik und boren, studierte Philosophie und Soziologie in Anthropologie/Kulturphilosophie, historisch Düsseldorf und Münster. An der Westfälischen in der Philosophie des 18. Jahrhunderts (Kant; Wilhelms-Universität promovierte sie 1984 und Aufklärung) wie in der Moderne des 20. Jahr- habilitierte sich dort 1995. Von 1993 bis 1997 hunderts (Kritische Theorie; Neukantianismus). war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Von 1997 bis 2009 leitete sie die Ernst-Cassirer- Fachbereich Kulturwissenschaften an der Uni- Arbeitsstelle an der Universität Hamburg; sie ist versität Lüneburg; seit 1997 ist sie Professorin Herausgeberin der Gesammelten Werke Ernst für Philosophie in Hamburg. Ihre Schwerpunk- Cassirers (Hamburger Ausgabe). 74 Die instrumentelle Dimension der Freiheit. einander zu trennen sind. Kurzbericht Technik als anthropologisches Radikal Auf der Basis eines ontologisch differenzier- ten und erkenntnistheoretisch vertieften Be- In den zeitgenössischen Debatten um die griffs von Technik gilt es das Bewusstsein von menschliche Freiheit ist die Technik als Ele- deren konstitutivem Anteil an der Entwick- ment einer freien Lebensform noch nicht `an- lung der Menschheit auszuprägen, an dem gekommen´. Bei sorgfältiger Trennung von der konstruktive Charakter einer Kritik der Willensfreiheit und Handlungsfreiheit wird Technik hängt. Von der Auswertung meiner als exponierte Form der letzteren fast aus- Referenztheorien verspreche ich mir mit der schließlich die politische Freiheit thematisiert Aufnahme der Formen technischer Rationali- und dabei vernachlässigt, dass der Anspruch tät in die Phänomenologie der menschlichen auf Freiheit sich, so lange es menschliche Kul- Freiheit zugleich ein Argument zur Überwin- tur gibt, immer auch in der technischen Orga- dung der theoretisch irreführenden wie steri- nisation des Handelns Geltung verschafft hat. len Trennung zwischen Handlungsfreiheit und Bei meinem Forschungsvorhaben, einer frei- Willensfreiheit. heitstheoretischen Untersuchung der Technik anhand der systematischen Auswertung von anthropologischen Theorien, Kulturtheorien und Theorien der Technik seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gehe ich davon aus, dass die Freiheit des Menschen und die Technik als instrumentelle Organisation zur Realisierung seiner Handlungsziele nicht von- 75 Projektbericht Schon zu Beginn meines Fellowjahres in sen zur Differenzierung des Technikverständ- Greifswald war mir aufgrund der zunehmen- nisses vom elementaren Werkzeuggebrauch den Einarbeitung in das Thema seit der For- über die Manufaktur und das Maschinenwe- mulierung meines Antragsexposés bewusst, sen bis in die vernetzten Systeme der elektro- dass das von mir umrissene Projekt in seinen nischen Hochtechnologie und gleichermaßen historischen und systematischen Dimensio- zu einer Klärung des Technikbegriffs. Die Pro- nen eher eine Sache für drei Forschungsjah- tagonisten der philosophischen Anthropolo- re als für eines wäre. Es galt daher vor allem gie des 20. Jahrhunderts kommen bei allem anderen einen sinnvollen Arbeitsabschnitt Unterschied in ihren grundlegungstheoreti- für die Zeit meines Aufenthaltes am Alfried schen Paradigmen (sei es, dass diese wie bei Krupp Wissenschaftskolleg zu definieren. Das Scheler der Theologie entlehnt, sei es, dass Studium jener heute weitgehend vergesse- sie wie bei Gehlen in der Biologie oder wie nen Technikphilosophien, die seit Ernst Kapps bei Cassirer in der Sprachtheorie liegen) da- Philosophie der Technik (1877) im deutschen rin überein, die Technik als anthropologische Sprachraum florierten, sowie die Verfolgung Konstante zu begreifen. Ihr Status als Instru- ihrer Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert ment des effizienzbetonten Herstellens wird machten mir klar, dass ein erstes Segment dabei mit unterschiedlicher Grundsätzlichkeit meiner Arbeit dem Status und der Bewertung und Radikalität auf die menschliche Freiheit der Technik im Rahmen der philosophischen bezogen. In der Einschätzung, dass Technik Anthropologien des 20. Jahrhunderts zu gel- insofern immer auch Instrument der Befrei- ten hätte. ung ist, als sie die Menschen von harter Ar- Die Auseinandersetzung mit der Technik, wie beit und für höherstufige Formen des Einsat- sie in den hier als exemplarisch behandelten zes von Kraft und Zeit entlastet, sind sich die Werken von Max Scheler, Ernst Cassirer, Hel- genannten Denker einig; in unterschiedlichen muth Plessner, Martin Heidegger, Arnold Geh- Graden der Dringlichkeit betonen sie dabei len, Hannah Arendt, Johan Huizinga und Hans zugleich das Problem, das man an der Tech- Blumenberg geleistet ist, führt in der Erörte- nik als ihre ganz eigene Dialektik der Freiheit rung ihrer geschichtlichen Entwicklungspha- markieren kann: Im Maße der Steigerung der 76 Verfügung über Dinge, Zeit und Raum wächst führt bei all ihrer historischen Diversität sys- durch die Ausdifferenzierung der technischen tematisch auf einen Begriff von Technik als Verfahren der Anspruch an die Menschen, der methodisch organisierten und spezia- sich auf der Höhe der in ihnen manifestierten lisierten Verfahren der Problembewältigung Rationalität und Kompetenz zu halten. Be- durch instrumentelle Arrangements, die sich merkenswert sind hier Ansätze zu einer Ent- zum einen in handgreiflichen Hilfsmitteln ver- dramatisierung eben dieses Befundes, der seit dinglichen, zum anderen aber in dauerhaften dem frühen 20. Jahrhundert und bis in un- Praktiken und dem ihnen korrespondierenden sere Tage die zeitgenössischen Kritiker immer Habitus ausprägen. Der Begriff von Technik wieder zu Formen der Dämonisierung und als verselbständigte Methode der Problem- pauschalen Verwerfung des technischen Fort- lösung, wie ihn Blumenberg im Anschluss schritts verleitet hat. Bei Ernst Cassirer anders an einführt, bringt die auch motiviert und kontextualisiert als bei Martin bei den anderen untersuchten Denkern (und Heidegger und wieder anders bei Hans Blu- nicht nur bei ihnen) auffallende Tendenz zu menberg, doch in jedem Fall richtungweisend einem über den geläufigen Sprachgebrauch für eine kritisch-konstruktive Einstellung auf hinausgehenden, entgrenzten Begriff am die technische Dialektik der Freiheit, findet deutlichsten zur Geltung: Während das all- sich die Erwartung artikuliert, dass dasselbe tägliche Sprechen die „Technik“ zu einem se- elaborierte Wissen und Bewusstsein, das in paraten Bereich der Geräte zu verdinglichen die Technik Eingang fand, prinzipiell auch droht, birgt der Husserl-Blumenbergsche Be- die Möglichkeit einer kritischen Aneignung griff die Chance, im Bewusstsein der tatsäch- der vermeinten Eigendynamik technischer lichen Vielfalt von Techniken die Ubiquität Fortschritte und der Behebung technischen der Technik als methodische Vollzugsform der Ungenügens impliziere. Als Mangel an Tech- Kultur wahrzunehmen. nik zu begreifen, was als Mangel der Technik Als erkenntnistheoretische Vertiefung dieser erscheint, lautet hier der pointierte Vorschlag Einsicht dürfen die (kongenialen und kom- Hans Blumenbergs. patiblen) Ansätze bei Ernst Cassirer und Hans Die Auswertung meiner Referenztheorien Blumenberg gelten, durch welche die Ratio- 77 nalität technischen Handelns aus der Form der Mediatisierung durch die instrumentel- menschlichen Bewusstseinsvollzugs abgelei- le Vollzugsform des Denkens. Indem Cassirer tet wird. Cassirer begreift in seinem Aufsatz und Blumenberg derart das Technische an über „Form und Technik“ (1930) die Technik der Technik auf der elementaren Ebene des als eine aus der verobjektivierenden Tendenz menschlichen Bewusstseins erörtern, machen des Denkens selbst hervorgehende Form des sie deren generelle Einschätzung als Medium Gestaltens. Blumenberg legt in einem ganz der Realisierung von Handlungsfreiheit über- ähnlichen Gedanken dar, dass der menschli- haupt erst einsichtig. Nicht allein ist mit die- che Intellekt schon in der elementaren Funk- sem Theorem ein Zusammenhang hergestellt tion der Gegenstandsbildung einen genuinen zwischen Handeln und Denken, indem der Zug zu jener Verselbständigung der instru- immer auch epistemische Status des Technik- mentellen Methode zeige, die das Merkmal gebrauchs, also: das Theoretische am Prakti- aller Technik ist. schen kenntlich gemacht und damit zugleich Auf dieser Folie ist es zu verstehen, dass und die praktische Appetenz des Theoretischen wie beide Denker die Technik wesentlich als herausgestellt ist; auch dürfte in diesem Zu- eine Form der Befreiung begreifen. Anders als sammenhang von Denken und Handeln das vielen anderen der Technikphilosophen und gesuchte missing link zu sehen sein, das in Anthropologen seit dem letzten Drittel des der Bemühung, den zeitgenössischen Dualis- 19. Jahrhunderts geht es ihnen im Begriff der mus von Willensfreiheit und Handlungsfrei- Befreiung nicht allein um den empirischen heit aufzuheben, beigebracht werden muss. Effekt der Entlastung von schwerer Arbeit – sondern auch um den gleichermaßen epi- Nicht nur als historischer Befund, sondern stemologisch wie praktisch fassbaren Effekt auch in der Perspektive zeitgenössischer An- jenes elementaren Verfügungsspielraums im schlussfähigkeit stellen diese Befunde einen Verhältnis zu den Objekten, in dem die Bedin- verbindlichen Ertrag dar. Entstanden ist durch gung der Möglichkeit von Problemlösung aller die Fokussierung auf die philosophischen An- Art zu sehen ist. Dieser Verfügungsspielraum, thropologien des 20. Jahrhunderts ein Ma- so der beiden gemeinsame Punkt, entspringt nuskript im Umfang von rund 200 Seiten 78 (Arbeitstitel: Mensch und Technik), für des- gewinnenden Einsichten ein methodisches sen Ausarbeitung es sehr förderlich war, dass Präparat zunutze machen: die (im Ausgang ich im Rahmen eines Lehrauftrages am Insti- von meinen Referenzautoren noch zu präzi- tut für Philosophie der Ernst-Moritz-Arndt- sierende) Analyse des Zusammenhangs von Universität die Erträge meiner Forschung im Bewusstsein und Handeln; Prospekt einer Vorlesung präsentieren durfte. Ein wichtiger historischer Teil meines Projek- 3. Die Erörterung des Verhältnisses von Natur tes ist damit abgeschlossen. und Kultur am exemplarischen Fall der Tech- Auf der damit erarbeiteten Grundlage bleibt nik, in der es darum gehen muss, die vorherr- Folgendes zu leisten: schende terrible simplification der Entgegen- setzung von Natur und Technik im Blick auf 1. Die entsprechende Untersuchung der tech- deren epistemische, poietische und pragmati- nikphilosophischen Beiträge zwischen 1877 sche Durchdringung zu verabschieden. und den zwanziger Jahren des 20. Jahrhun- derts. Die Lektüre der einschlägigen Autoren Das sehr ertragreiche Jahr im Greifswalder von Ernst Kapp bis Walter Rathenau ist ab- Wissenschaftskolleg hat es mir erlaubt, die geschlossen. Ob die Auswertung ebenfalls wie belastbare Grundlage für diese noch ausste- die der hier vorgestellten Theorien zur Phi- henden Teile meines Vorhabens zu erarbei- losophischen Anthropologie in einer Mono- ten. Ich bin der Stiftung für die Förderung graphie oder angemessener in einem großen meines Forschungsprojektes sehr dankbar, Aufsatz ihren Ort finden soll, muss im Verlauf und ich danke von Herzen der Direktorin des der Arbeit entschieden werden; Hauses, Frau Professor Bärbel Friedrich, dem Wissenschaftlichen Geschäftsführer Herrn Dr. 2. Die Durchführung jener Kritik des Dualis- Christian Suhm und seinem hochmotivierten mus, der sich in der systematischen Trennung Team (Frau Christin Klaus, Herrn Robert Leh- zwischen Willensfreiheit und Handlungsfrei- mann, Frau Siri Hummel, Herrn Markus Hoff- heit geltend macht. Dafür kann ich mir aus mann und Herrn Privatdozenten Dr. Rainer den in der Phänomenologie der Technik zu Cramm) sowie dem Majordomus Herrn Lars 79 Rienow für einen Aufenthalt unter Bedin- gungen einer anregenden Gesprächskultur und bester technisch-pragmatischer Fürsor- ge, in denen die allerbeste Form der Förde- rung wissenschaftlicher Arbeit zu sehen ist.

80 Recki, Birgit, „Freiheit“, Wien 2009. Recki, Birgit, „Proust über die Schönheit der ausgewählte Technik“ (erscheint im April 2013 in einer Veröffentlichungen Recki, Birgit, „Work and Technology in Ernst Festschrift zum 60. Geburtstag eines Kolle- Cassirer: or, The Rehabilitation of Instrumen- gen). tal Reason“, in: „The Way of the World. A Fest- schrift for R. H. Stephenson“ [Cultural Studies Recki, Birgit, „Mensch und Technik, Manu- and the Symbolic Vol. 4], ed. by Paul Bishop, skript“ (Schlussredaktion geplant bis Ende Maney Publishing Leeds 2011, S. 107-124. 2012).

Recki, Birgit, „Auch eine Rehabilitierung der Recki, Birgit, „Cassirer“ (Reihe Grundwissen instrumentellen Vernunft: Hans Blumenberg Philosophie) (erscheint Anfang 2013 bei Re- über Technik und die kulturelle Natur des clam Leipzig). Menschen“, in: „Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthro- pologie Hans Blumenbergs“, hg. von Michael Moxter, Verlag Mohr Siebeck Tübingen 2011, S. 39-61.

Recki, Birgit, „Technik und Moral bei Hans Blumenberg“, in: „Geschichte(n) des Wissens“, hg. von Cornelius Borck u.a. (erscheint 2013).

81 Professor Dr. Folker Reichert

Alfried Krupp Senior Fellow Oktober 2011 bis März 2012

Kurzvita Folker Reichert wurde 1949 in Fürth (Bay- Historiker Deutschlands, der seit 2011 nach ern) geboren und ist seit 1994 Professor für Carl Erdmann benannt ist. Seine Forschungs- Mittlere Geschichte am Historischen Insti- interessen gelten der Geschichte des mittel- tut der Universität Stuttgart. Er studierte alterlichen Weltbilds, des Reisens, der Ent- Geschichte, Germanistik und Latein an den deckungen und der Kartographie sowie der Universitäten Würzburg und , wo Geschichte der Mediävistik im 20. Jahrhun- er mit einer Arbeit zur spätmittelalterlichen dert. Er war Gastprofessor an Universitäten in Verfassungsgeschichte promoviert wurde. Für China, Japan und Thailand. seine Habilitationsschrift „Begegnungen mit China“ erhielt er den Preis des Verbandes der 82 Gelehrter Eigensinn: Carl Erdmann im Wirkungen bis auf den heutigen Tag anhalten, Kurzbericht Dritten Reich sondern mehr noch die zahlreichen Briefe, die in den Nachlässen von Freunden und Kollegen Ziel des Vorhabens ist die Biographie eines erhalten geblieben sind. Diese vermitteln ei- bedeutenden Gelehrten und aufrechten Man- nen lebendigen Eindruck von Erdmanns cha- nes, der die nationalsozialistische Herrschaft rakterlichen Qualitäten, von den intellektuel- nicht überlebte. Carl Erdmann (1898 bis 1945) len Zumutungen, die ihm zusetzten, und von gilt als einer der wichtigsten deutschen Me- der Bereitschaft zum Widerspruch, die ihn diävisten des 20. Jahrhunderts. Da er aber zu auszeichnete. Seine eigenständige Persön- keinerlei Kompromissen mit der nationalsozi- lichkeit machte es ihm möglich, den eigenen, alistischen Geschichtsauffassung bereit war, keiner politischen Meinung verpflichteten wurde er nie auf einen Lehrstuhl berufen. Er Sinn (geschichts-)wissenschaftlicher For- verzichtete auf eine Universitätskarriere und schung auch unter schwierigsten Umständen ging schließlich kurz vor Kriegsende auf dem zu bewahren. jugoslawischen Kriegsschauplatz zugrunde. Man muss Erdmanns Verhalten mit dem sei- nerzeit an den Universitäten grassierenden Opportunismus vergleichen, um zu ermes- sen, wie ungewöhnlich er war. Besonders aufschlussreich ist es, die Ziele und Absich- ten seiner zahlreichen Feinde zu verfolgen. Sogar mit der SS legte er sich an. Überhaupt ist es das Ziel der Biographie, das Leben Carl Erdmanns in die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft, namentlich der Mit- telalterforschung, vor und nach 1933 einzu- betten. Aufschluss darüber geben nicht nur seine wissenschaftlichen Publikationen, deren 83 Historiker im Nationalsozialismus dem Anspruch einer generationellen Erneue- rung der Historikerzunft. Aber auch unter den Die deutschen Historiker haben im Drit- älteren Gelehrten gab es nicht wenige, die an ten Reich keine gute Figur abgegeben. Eine der Neugestaltung des politischen Lebens, wie einigermaßen geschlossene Haltung zur sie sich abzuzeichnen schien, aus nationaler nationalsozialistischen Ideologie hat es nie Empfindung mitwirken wollten. Schließlich gegeben, zu Widerspruch oder gar Wider- hatten die Fachdisziplinen seit dem Ersten stand kam es ganz selten, und allzu viele kol- Weltkrieg gelernt, aus dem Elfenbeinturm laborierten mit „Baal“ (Otto Gerhard Oexle). der Wissenschaften herauszutreten und ihre Dafür lassen sich mehrere Gründe benennen: Expertise in den Dienst der „Volksgemein- Opportunismus war gerade in den Universitä- schaft“ zu stellen. Man mag von Mitläufer- ten weit verbreitet, und die Historikerschaft tum aus nationaler Verantwortung sprechen machte keineswegs eine Ausnahme. Wer die und Percy Ernst Schramms griffige Formel Möglichkeit sah, in herausgehobener Stellung zitieren: „Hinsichtlich der Wiederaufrüstung an der Entwicklung zu partizipieren, war zu (Gleichgewicht der Kräfte) 200prozentiger mancherlei Konzessionen bereit. Die Beispiele Nazi. Hinsichtlich ‘Arbeitsfrieden’, Festigung Wilhelm Mommsen und Willy Andreas stehen des Bauerntums, ‘Kraft durch Freude’ 100pro- für viele. Den Jüngeren eröffnete sich darüber zentiger Nazi. Rassentheorie, Germanen- hinaus die Möglichkeit, an die Stelle der Älte- kult, Bildungspolitik, NS-Weltanschauung: ren zu treten und die eigene Karriere sprung- 100prozentiger Gegner.“ Sogar Hans Rothfels haft zu fördern. Walter Frank gab das promi- hätte sie sich damals zu eigen machen kön- nenteste Beispiel, als er überaus erfolgreich nen. Insbesondere die Geschichtswissenschaft Hermann Oncken attackierte. Auch Günther sah sich gefordert, da sie eine herausgehobe- Franz, Karl August von Müller, Ulrich Crämer, ne, wenn auch missbrauchbare Rolle in der Adolf Rein unter anderem verstanden es, die nationalsozialistischen Ideologie spielte. Man Gunst der Stunde zu nutzen. Karrierismus musste sich fragen, ob sie diese als „Kronzeu- geht über Opportunismus hinaus und verband gin“ oder als „Stiefelknecht“ ausfüllen würde sich in der Frühphase des Dritten Reichs mit (Martin Lintzel). Vom „Kriegseinsatz der Geis- 84 teswissenschaften“ bis zur Mitwirkung am an, da nur so die Möglichkeiten und Verwer- SS-Ahnenerbe reichten die Optionen. fungen des gelehrten Daseins erfasst werden Immerhin gab es einige bemerkenswerte Aus- können. Allerdings kommt es immer auf die nahmen. Die Geheimräte Karl Hampe und geschichtlichen Kontexte an, in denen sich Walter Goetz zogen sich ins Private zurück. dieses entfaltet. Justus Hashagen musste gehen, weil er auf einem kritischen Standpunkt beharrte. Ger- hard Ritter geriet in die Nähe des Widerstands und musste zeitweilig mit dem Schlimmsten rechnen. Martin Lintzel eckte an, wo er nur konnte. Ernst Kantorowicz war ohnehin (und zeitlebens) ein besonderer Fall. Die Älteren hatten es leichter als die Jüngeren, Distanz zu bewahren. In der Emigration dagegen befand sich die Jugend im Vorteil. Die Gemengelage aus Antrieben und Hemmnissen, in der sich jeder Einzelne befand, lässt sich nur mit bio- graphischen Mitteln angemessen beschreiben. Das Genre der Biographie war jahrzehntelang Abb. 1 (nicht in der Öffentlichkeit, wohl aber in der Carl Erdmann Wissenschaft) gering geschätzt worden, weil Carl Erdmann es das Individuum und dessen Subjektivität über Gebühr favorisiere. Aber mittlerweile In diesen Zusammenhang ist die Biographie sind die Formen biographischen Erzählens eines Historikers einzuordnen, der zu den he- nicht nur praktisch rehabilitiert, sondern wer- rausragenden Vertretern seiner Fachrichtung den auch theoretisch reflektiert. Gerade für gehörte, sich aber mit den Verhältnissen im die Universitäts- und Wissenschaftsgeschich- nationalsozialistischen Deutschland nicht an- te bietet sich die biographische Darstellung freunden konnte, auf die ihm zustehende 85 Karriere verzichtete, sich mit einfachsten Erscheinen ins Englische übersetzt. Da Erd- Lebensumständen begnügte und schließ- mann aber nicht einmal ein Lippenbekenntnis lich sehenden Auges an seiner ablehnenden zu Adolf Hitler und der Weltanschauung des Haltung zugrunde ging. Carl Erdmann ge- Nationalsozialismus abgeben wollte, verlor hörte der gleichen Generation an wie Percy er die Lehrberechtigung schon bald. Vorteile, Ernst Schramm, Ernst Kantorowicz oder Otto die sich aus einer eigenartigen Beziehung zu Brunner, durchlief aber eine völlig untypische Walter Frank hätten ergeben können, schlug Laufbahn. Geboren 1898 im baltischen Dor- er in den Wind. pat und aufgewachsen in Blankenburg am Stattdessen machte er sich zahlreiche Feinde. Harz, ging Erdmann – zunächst als Hausleh- Anhand eines von der NS-Dozentenschaft ge- rer, dann zur Sammlung und Bearbeitung der führten Dossiers im Archiv der Humboldt-Uni- mittelalterlichen Papsturkunden – nach Lis- versität lässt sich rekonstruieren, wie und von sabon. 1929 wechselte er an das Preußische wem Erdmann aus der Universität gedrängt Historische Institut in Rom. Wahrscheinlich wurde. Der Landeshistoriker Willy Hoppe, bald hat sein ungewöhnlicher Lebenslauf nicht nur „Führer-Rektor“ der Berliner Universität, war die Originalität seiner Forschungen, sondern der erste, der ihn als Gegner des Nationalsozi- auch seine solitäre Existenz in der deutschen alismus denunzierte. Hermann Christern, un- Mediävistik, fern jeder Schulbildung begrün- mittelbarer Konkurrent um einen bezahlten det. Erst 1934 kehrte Erdmann nach Deutsch- Lehrauftrag, erstellte das erste ausführliche, land zurück und war seitdem als schlecht natürlich negative Gutachten über Erdmann bezahlter Mitarbeiter bei den Monumenta und erhielt bald eine Professur in Greifs- Germaniae Historica in Berlin tätig. Kurz zu- wald. Ludwig Bieberbach, Erfinder der „Deut- vor hatte er sich – durch Vermittlung Paul F. schen Mathematik“ und amtierender Dekan, Kehrs – an der Friedrich-Wilhelms-Univer- brachte ihn um den vergüteten Lehrauftrag. sität mit einer Arbeit über „die Entstehung Oskar von Niedermayer, Professor für Wehr- des Kreuzzugsgedankens“ habilitiert. Sie gilt wissenschaft in Berlin, verlangte unverblümt noch heute als ein Klassiker der Kreuzzugsfor- seinen Rauswurf. Wenzeslaus von Gleispach, schung und wurde 40 Jahre nach ihrem ersten einflussreicher Rechtslehrer und wie Roland 86 Freisler Mitglied der Kommission zur Reform, worten deutscher Geschichtsforscher“ (1935) d. h. Verschärfung, des Strafrechts, vernein- unbeliebt. Ein paar Jahre später forderte er te apodiktisch Erdmanns Verwendung als Heinrich Himmler durch seine Arbeiten über Hochschullehrer. Werner Reese, Jungstar der die Grabstätte Heinrichs I. heraus. Denn dort, Berliner Geschichtswissenschaft und profi- in Quedlinburg, sollte eine Kultstätte der SS lierter Vertreter der Volkstumsforschung im mit jährlichen „Heinrichs-Feiern“ entste- Westen, verwarf schließlich in einem letzten hen. Im „Schwarzen Korps“, dem Organ der Gutachten Erdmanns Forschung als unzeit- SS, wurde ihm einmal ganz persönlich „der gemäß und ihn selbst als politischen Oppo- Kampf angesagt“. sitionellen. Gleichzeitig machte sich Erdmann Trotzdem wurde immer wieder Erdmanns Name genannt, wenn ein Lehrstuhl neu be- setzt werden sollte. Doch ernstlich kam er nicht mehr in Frage. Über seine Zukunft machte er sich keine Illusionen. Er gab sich seiner gelehrten Arbeit bei den Monumenta Germaniae Historica hin und beobachtete gleichzeitig mit dem ihm eigenen Scharfsinn den Berliner Alltag und die Weltlage. Hatte er zunächst dem Interesse Deutschlands jede Priorität eingeräumt, so kam ihm im Laufe des Abb. 2 Krieges auch diese Haltung abhanden. 1943 „Karl der Große wurde Erdmann als 45-Jähriger zum Dienst oder an der Waffe einberufen. Die letzten Kriegs- Charlemagne?“ monate verbrachte er als Dolmetscher auf dem Balkan. Er wusste, dass er von dort nicht bei den Machthabern durch ein von ihm ini- mehr zurückkehren würde. Trotzdem ließ er es tiiertes und organisiertes Gemeinschaftswerk sich nicht nehmen, sich für Land und Leute zu „Karl der Große oder Charlemagne? Acht Ant- interessieren und in Albanien mit primitivsten 87 Mitteln die Landessprache (seine zehnte Spra- unter welchen Voraussetzungen es im Dritten che, wie er stolz schrieb) zu erlernen. Wenige Reich möglich war anständig zu bleiben und Wochen vor Kriegsende starb Carl Erdmann in wie viel dazu Bildung und Wissenschaft bei- Zagreb (Agram) an Fleckfieber. trugen. Sie zu beantworten, ist das abschlie- Erdmann lebte ein Leben von beeindrucken- ßende Ziel der geplanten Biographie. der Geschlossenheit und Konsequenz. Alle, die ihm nahestanden, stimmen in der Wertschät- Erdmanns Briefe als Selbstzeugnisse zung seiner Persönlichkeit überein. Sogar auf weltanschauliche Gegner (z. B. Walter Frank) machte er Eindruck. Er beharrte darauf, dass Wissenschaft einen eigenen Sinn besitzt, der für politische, weltanschauliche und andere außerwissenschaftliche Zwecke nicht zur Dis- position steht. An diesem Standpunkt hielt er fest, auch wenn ihm dadurch nur Nachteile entstanden. Auf diesem Wege wurde er – pos- tum – zu einem der bedeutendsten Mediä- visten des 20. Jahrhunderts, obwohl er – zu Lebzeiten – über keinerlei Ämter und Einfluss verfügte. Er bekannte sich zur Geisteshaltung des Stoizismus und nahm den Verlust seiner universitären Stellung, seiner beruflichen Aussichten, schließlich auch seiner bürger- Abb.3 Feldpostbrief, geschrieben von Carl lichen Existenz ohne Wehklagen hin. Selbst Erdmann am 20. Juli 1944 in der Endphase des Krieges strahlen die von ihm erhaltenen Selbstzeugnisse Humanität Auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 und Gelassenheit aus. Es stellt sich die Frage, wurde das Verhältnis der deutschen Ge-

88 schichtswissenschaft zum Nationalsozia- nach Briefen in den Nachlässen seiner Kor- lismus intensiv und kontrovers diskutiert. respondenzpartner sucht. Erdmann war ein Seitdem ist eine große Zahl von Biographien eifriger Briefschreiber und schrieb – zunächst erschienen, die den in Frankfurt aufgeworfe- hand-, dann maschinen-, als Soldat wieder nen Fragen auf prosopographischer Grundla- handschriftlich – ebenso formvollendete wie ge nachgehen. Mehrere Biographien von Me- inhaltsreiche und persönlich einfühlsame diävisten befinden sich darunter (Hermann Briefe an Kollegen, Freunde und Verwand- Aubin, Karl Hampe, Otto Perels, Percy Ernst te. Es war kein weit gespanntes Netzwerk, Schramm). Weitere werden nachfolgen, an- das er unterhielt, aber nicht wenige seiner deres bleibt noch lange Desiderat (vor allem Korrespondenzpartner waren schon im Na- Hermann Heimpel und Otto Brunner betref- tionalsozialismus oder wurden nach dem fend). Die Lebensläufe der Opfer sind ebenso Weltkrieg so prominent, dass ihre Nachlässe aufschlussreich wie die der Täter und Oppor- in (meistens öffentlichen) Archiven und Bib- tunisten. liotheken zugänglich sind. Vor allem zu Gerd Carl Erdmann wurde in diesem Zusammen- Tellenbach, Walther Holtzmann, Helmut Beu- hang noch nicht in Erwägung gezogen. Denn mann und Karl Jordan bestanden enge per- einerseits war sein Beharren auf gelehrtem sönliche Beziehungen, die durch Briefe Erd- Anstand per definitionem nicht spektakulär, manns dokumentiert sind. Bis jetzt konnten andererseits schienen nicht genügend Unter- etwa 250 Briefe ermittelt werden. Weitere lagen zur Verfügung zu stehen. Man musste Funde sind zu erwarten. Auf dieser Grundla- sich mit Erdmanns veröffentlichten Werken ge wie anhand des wissenschaftlichen Werkes begnügen, ergänzt um die spärliche archi- lässt sich ein Lebensbild zeichnen, das sowohl valische Dokumentation seiner Tätigkeit an dem Menschen wie dem Gelehrten Carl Erd- verschiedenen Orten. Der Person Erdmanns mann gerecht wird. Es ist beabsichtigt, die näher zu kommen, schien nicht möglich, da Biographie Erdmanns durch eine Edition sei- es einen Nachlass Erdmanns nicht gibt. Doch ner Briefe zu ergänzen. der Verlust lässt sich ausgleichen, wenn man Bekanntlich läuft jeder Biograph Gefahr, zum

89 Komplizen des Biographierten zu werden. hat den Verlockungen einer glanzvollen Kar- Dieser Gefahr kann man bei der Lektüre riere widerstanden, sich mit bescheidensten von Erdmanns Briefen erliegen. Ich bin so- Lebensverhältnissen begnügt und sehenden gar bereit, von einem „gelehrten Helden“ Auges seinen Niedergang akzeptiert. Er hat zu sprechen. Zumindest würde dadurch der zweimal öffentlich der nationalsozialistischen Unterschied zu den meisten anderen Univer- Geschichtsauffassung widersprochen und da- sitätshistorikern deutlich. Denn diese haben mit deutlich gemacht, dass Wissenschaft ih- in ihrer großen Mehrheit das praktiziert, was ren eigenen Regeln gehorcht und sich auf die Thomas Mann als „widerstandslose Mitrede- Zumutungen der Politik, zumal einer solchen, rei“ bezeichnet hat. Man kann auch Oppor- nicht einlassen darf. Es ist das, was ich – in tunismus oder Karrierismus oder Leisetreterei des Wortes doppelter Bedeutung – unter „ge- dazu sagen. Carl Erdmann dagegen schrieb lehrtem Eigensinn“ verstehe. einmal in einem Brief an Gerd Tellenbach, er wolle „an einer Hebung des Gefühls für Gesin- nung und Zivilcourage“ mitwirken. Er selbst

90 Reichert, Folker, „Gelehrtes Leben. Karl Ham- Reichert, Folker, „Tod auf dem Balkan. Carl ausgewählte pe, das Mittelalter und die Geschichte der Erdmanns Erfahrung des Zweiten Weltkriegs“ Veröffentlichungen Deutschen“ (Schriftenreihe der Historischen [in russischer Sprache], in: „Vojna v zerkale is- Kommission bei der Bayerischen Akademie toriko-kulturioj traditsii – Der Krieg im Spie- der Wissenschaften 79), Göttingen: Vanden- gel der kulturhistorischen Tradition“, Sankt hoeck & Ruprecht 2009. Petersburg 2012, S. 130-132.

91 Dr. Martina Roesner

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Martina Roesner wurde 1973 in Freiburg ge- Von 2009 bis 2011 war sie Wissenschaftliche boren. Sie studierte Philosophie in Rom, Paris, Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Tübingen und Salzburg und promovierte 2001 der Humboldt-Universität zu Berlin. Gegen- an der Université Paris IV-Sorbonne. Danach wärtig ist sie als Lise-Meitner-Stipendiatin an war sie als Postdoktorandin am Centre Uni- der Universität Wien tätig. Ihre Forschungs- versitaire de Luxembourg sowie als chercheur schwerpunkte liegen im Bereich der Phäno- contractuel am C.N.R.S. / Archives Husserl de menologie, der mittelalterlichen Philosophie, Paris tätig und hatte zugleich einen Lehrauf- der Anthropologie, Religionsphilosophie und trag an der Philosophischen Fakultät der Jo- Metaphysik. hannes Gutenberg-Universität in Mainz inne. 92 Organismus – Geschichte – Bewusstsein: mung wiederum versteht das „Leben“ nicht Kurzbericht Zur systematischen Dimension des Lebens- nur in radikalem Gegensatz zum begrifflichen begriffs in der Phänomenologie Edmund Denken, sondern als irrationales Urprinzip, Husserls das über jede Form von Individualität hinaus- drängt und sie auflöst. In der Philosophie des späten 19. und frühen Edmund Husserl ist nicht der einzige Philo- 20. Jahrhunderts wird das „Leben“ zu einem soph seiner Zeit, der sich gegen den lebens- Leitbegriff, der seine Beliebtheit nicht zuletzt philosophisch motivierten Vernunftrelativis- seiner schillernderen, oft widersprüchlich mus zur Wehr setzt. Die Besonderheit seines anmutenden Bedeutungsvielfalt verdankt. phänomenologischen Ansatzes besteht jedoch Angesichts der modernen Biologie und Evo- darin, dass er das traditionelle philosophische lutionstheorie ist die Philosophie genötigt, Vernunftideal nicht in Abgrenzung von den bestimmte naturphilosophische Grundkate- diversen Manifestationen des Lebens konst- gorien, wie „Lebendigkeit“, „Organismus“ und ruiert, sondern vielmehr die biologische Or- „Entwicklung“, neu zu überdenken, um dem ganizität wie auch das spezifisch menschliche Phänomen der belebten Natur gerecht zu Seelen- und Geistesleben auf das „absolute werden. In deutlicher Abgrenzung von diesem Leben“ des transzendentalen Bewusstseins- biologisch-naturwissenschaftlich konnotier- stroms zurückführt. Die phänomenologische ten Lebensparadigma verwendet die geistes- Philosophie erscheint somit nicht als Negati- wissenschaftlich orientierte Psychologie den on der vorreflexiven Lebensdynamik, sondern Lebensbegriff dagegen in einem spezifisch als eine in diesem Leben angelegte Möglich- anthropologischen Kontext. Das „Erleben“ gilt keit, sich selbst zu thematisieren und dadurch dabei als Synonym für die je eigene Weise, eine neue, auf Selbstbesinnung angelegte Le- in der das menschliche Individuum in einem bensform zu erzeugen. bewussten Weltbezug steht und durch in- nerlich motivierte Wertentscheidungen seine persönliche Entfaltungsgeschichte prägt. Eine dritte, radikal vitalistisch ausgerichtete Strö- 93 Projektbericht Seit der Antike sind Begriff und Phänomen nis strebt. des Lebens immer wieder auf unterschiedli- Diese beiden Grundbedeutungen von „Leben“ che Weise Gegenstand philosophischer Refle- – als belebte Natur einerseits bzw. als spezi- xion geworden. Aristoteles’ Schrift De anima fisch menschliches Ideal vernunftbestimmter stellt die erste systematische Erörterung der Existenzorientierung andererseits – bleiben belebten Natur dar, die sich nicht nur auf eine bis in die Neuzeit hinein ein Gegenstand in- deskriptive Analyse der verschiedenen For- nerphilosophischer Erörterung. Das grundle- men organischen Lebens beschränkt, sondern gend Neue der im 19. Jahrhundert entstehen- die Grundkategorien der Lebendigkeit als sol- den „Lebensphilosophie“ besteht hingegen che (Bewegung, Beseelung, Interaktion mit darin, dass das Leben nicht länger nur als The- der Umwelt usw.) in philosophischer Hinsicht ma, sondern vielmehr als radikales Gegenmo- problematisiert. Neben dieser am empirischen dell zum philosophisch-begrifflichen Denken Phänomenbereich der Lebewesen orientier- aufgefasst wird. Die sich als autonome Natur- ten Herangehensweise wird das „Leben“ bei wissenschaft herausbildende Biologie fängt Aristoteles aber auch schon als metaphysisch an, die Deutungskompetenz der Philosophie konnotierter Grenzbegriff absoluter geistiger mit Blick auf das organische Lebensphäno- Aktivität und vernunftbestimmter Autarkie men prinzipiell in Frage zu stellen. Durch die verwendet. Die vollkommenste Verkörperung zur gleichen Zeit entstehende moderne Ge- dieses Ideals denkerischer Spontaneität und schichtswissenschaft setzt sich außerdem die Bedürfnislosigkeit sieht Aristoteles im Gött- Einsicht durch, dass die menschliche Existenz lichen verwirklicht, das gleichzeitig auch als aufgrund ihrer wesentlich historischen Di- das „ewige und beste Lebewesen“ bezeich- mension durch absolute Individualität und net wird. Der Mensch kann und soll an die- Einmaligkeit gekennzeichnet ist und somit ser höchsten und besten Lebensform dadurch nicht im universalbegrifflichen Medium phi- teilhaben, dass er sich nicht mit bloßer biolo- losophischen Denkens gefasst werden kann. gischer Selbsterhaltung begnügt, sondern im Beiden neuentstehenden Einzelwissenschaf- Rahmen seiner Möglichkeiten nach dem ab- ten, der Biologie wie der Geschichtswissen- soluten Ideal theoretischer Vernunfterkennt- schaft, gilt die philosophische Rationalität 94 somit nicht mehr, wie noch bei Aristoteles, kann. als höchstmögliche Ausprägungsform des Die diversen Strömungen der Lebensphiloso- Lebensparadigmas, sondern vielmehr als Sy- phie verfolgen daher auch nicht die Absicht, nonym für abstrakte Denkschemata, die prin- des Lebens mit philosophischen Mitteln hab- zipiell ungeeignet sind, um die Fluidität und haft zu werden, sondern vielmehr seine prinzi- Dynamik des Lebens im biologischen wie im pielle Unfassbarkeit und Inkommensurabilität individuell-menschlichen Sinne zu fassen. gegenüber der Sphäre des begrifflich-kate- Dadurch wird das bis dahin herrschende Ver- gorialen Denkens zu betonen. Das Spektrum nunftideal des europäischen Denkens, das tra- reicht dabei von Autoren wie Wilhelm Dilthey, ditionellerweise mit dem Anspruch universa- der für die Erkenntnis des Lebensphänomens ler, zeitüberhobener Gültigkeit auftritt, einer lediglich eine an- prinzipiellen Kritik unterzogen. Vor dem Hin- dere Form der wis- tergrund der Biologie, der Evolutionstheorie senschaftlichen und der historischen Geschichtswissenschaft Herangehenswei- erscheint die menschliche Vernunft nicht se, nämlich die länger als apriorische Universalstruktur, son- der immanenten dern nur noch als eine bestimmte Fähigkeit, Hermeneutik des die sich im Laufe der Menschheitsgeschich- Lebens durch das te durch das Zusammenwirken verschiedener Leben selbst, ent- kontingenter Faktoren herausgebildet hat wickeln will, bis und somit bestenfalls eine faktisch-provi- hin zu Philoso- sorische, aber keine notwendige Gültigkeit phen wie Fried- Abb. 1 mehr beanspruchen kann. Die Vernunft wäre rich Nietzsche, Wilhelm Dilthey somit ein zufälliges Produkt des Lebens, das der das Leben als allenfalls eine pragmatische Berechtigung irrationalen Willensdrang versteht und das hat, aber keinesfalls mehr als eigenständiges wissenschaftliche Erkenntnisideal als solches Lebensideal und maßgebliches Deutungskri- zu einer nützlichen, sich über ihre physio- terium der Wirklichkeit insgesamt auftreten logisch-psychologischen Motivationen hin- 95 wegtäuschenden Lüge erklärt. Gemeinsam ist tivität hat zwar den Vorzug, den Lebensbe- all diesen Ansätzen jedoch die Tendenz, die griff nicht als irrationales Residuum abzutun, universalen, institutionell verfestigten Struk- führt andererseits aber dazu, dass die konkre- turen menschlicher Vernunft- und Kulturtä- te biologische tigkeit als veräußerlichte, erstarrte Kristalli- wie psychologi- sationen anzusehen, die keine eigenständige sche Dimension Geltung mehr beanspruchen können, sondern des Lebensphä- nur dann richtig verstanden werden, wenn nomens von die- man ihre innere Verbindung zu der sie her- sem Boden aus vorbringenden, vorrationalen Lebensdynamik kaum noch eine durchschaut. adäquate Deu- Dieser lebensphilosophische Vernunftskep- tung erfahren tizismus und -relativismus bleibt selbstver- kann. ständlich nicht unwidersprochen. Die Vertre- Ähnlich wie die ter der neukantianischen Denkrichtung, wie Vertreter des Hermann Cohen, Paul Natorp und Heinrich Abb. 2 Edmund Husserl Neukantianis- Rickert, reagieren auf diese Entwicklung mit mus ist auch einer doppelten Strategie: Zum einen postu- Edmund Husserl bestrebt, die Universalgül- lieren sie eine prinzipielle Trennung zwischen tigkeit des Vernunftideals gegen irrationa- der empirisch-psychologischen und der tran- listische und relativistische Tendenzen zu szendentalphilosophischen Betrachtungsebe- verteidigen. Aus diesem Grunde wird er ge- ne; zum anderen reklamieren sie den Begriff meinhin als einer der schärfsten Gegner der des Lebens im ursprünglichsten Sinne für die lebensphilosophischen Strömungen seiner produktive Dynamik des reinen Bewusstseins, Zeit dargestellt. Das Grundanliegen meines das seine Gegenstände durch die infinitesi- Forschungsprojektes bestand demgegenüber male Rekonstruktion der sie bestimmenden darin, diesen allzu holzschnittartig konstru- Gesetze hervorbringt. Diese Gleichsetzung ierten Gegensatz zwischen der Husserlschen des Lebens mit der transzendentalen Denkak- Phänomenologie und der Lebensphilosophie 96 auf den Prüfstand zu stellen und zu hinter- an dem sowohl die empirischen Individuali- fragen. täten als auch die sie bestimmenden Wesens- Husserls transzendentalphänomenologischer gesetze in vorbegrifflicher, intuitiver Weise Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er zugänglich werden. auf einzigartige Weise all jene Dimensionen Insofern Husserl die Vernunft nicht als ein und Bedeutungsebenen des Lebensbegriffs feststehendes System kategorialer Begriff- einzuholen und zu integrieren vermag, die lichkeit, sondern als unumschränkte Offen- bei Verfechtern wie Gegnern der Lebens- heit und dynamische Bezogenheit auf ein philosophie als unversöhnliche Gegensätze sich beständig veränderndes Kontinuum von erscheinen. Dem wesentlich performativen Bewusstseinsinhalten und -gegenständen Charakter der phänomenologischen Methode versteht, kann er auf eine nicht nur metapho- gemäß, geht Husserls Philosophieren nicht in risch, sondern wörtlich zu verstehende Weise erster Linie von dem bereits bestehenden Ins- vom „Bewusstseinsleben“ sprechen. Die Ge- trumentarium philosophischer Begrifflichkeit meinsamkeit zwischen einem lebendigen Or- aus, sondern ist bestrebt, die sich dem Be- ganismus und der Struktur des transzenden- wusstsein darbietenden Phänomene in ihrer talen Bewusstseins besteht darin, dass man es größtmöglichen Ursprünglichkeit zu erfassen. in beiden Fällen mit einer qualitativen, nicht Das bedeutet einerseits, dass der Phänome- mathematisierbaren Mannigfaltigkeit zu tun nologe von der Innensphäre seines eigenen hat, in der alle Teile funktional aufeinander bewusstseinsmäßigen Erlebens ausgehen bezogen sind und sich wechselseitig durch- muss; andererseits schließt die unveräußer- dringen. Noch entscheidender ist jedoch die liche Individualität jedes einzelnen Bewusst- Tatsache, dass sich diese Mannigfaltigkeit von seinsaktes sowie des Bewusstseinsstromes als Bewusstseinsinhalten nicht einfach als ein ganzem durchaus die Möglichkeit ein, in die- starres Kontinuum darstellt, sondern letztlich sen individuellen Erlebnissen auf notwendige aus der beständigen Produktion und Selbst- und universalgültige Gesetzmäßigkeiten und konstitution der bewusstseinsimmanenten Strukturen bezogen zu sein. Die Sphäre des Zeitlichkeit entspringt. Der „Heraklitische unmittelbaren „Erlebens“ ist somit jener Ort, Fluss“ des Bewusstseins trägt das Prinzip 97 seiner Bewegung und Veränderung in sich, wieder einer in diesem Zusammenhang nicht- was sich genau mit jener Grundeigenschaft thematisierten Dynamik entspringt, die nicht deckt, die auch die Lebendigkeit biologischer auf derselben, sondern nur auf einer höhe- Organismen ausmacht. Auch dort, wo das ren Reflexionsstufe wieder eingeholt werden Bewusstsein die Form theoretischer, wissen- kann. Dadurch wird der Primat der unthema- schaftlicher Erkenntnis annimmt, sind die von tischen und insofern begrifflich nicht einhol- ihm formulierten Universalbegriffe und Ge- baren Dimension des lebendigen Bewusstseins setzmäßigkeiten daher kein losgelöstes, totes gegenüber jedem objektivierenden Vernunft- Konstrukt, sondern bleiben in die Konstituti- denken betont, ohne doch eine unüberbrück- onsgeschichte des Bewusstseinslebens einge- bare Kluft zwischen den verschiedenen Stu- bettet. fen des Erlebens und ihren je zugeordneten Die vortheoretische Grundhaltung, die für Reflexionsniveaus aufzureißen. das Weltverhältnis der meisten Menschen be- Husserl beschränkt sich jedoch nicht darauf, stimmend ist, zeichnet sich durch ein unre- das Leben als Urstruktur des transzenden- flektiertes „Mitschwimmen“ im Erlebnisstrom talen Bewusstseins zu erweisen, sondern ist aus. Grundsätzlich besteht immer die Mög- bestrebt, auch das Phänomen der organi- lichkeit, zu diesem „naiven“ Welterleben auf schen Leiblichkeit vom phänomenologischen Abstand zu gehen und es als solches zu the- Standpunkt aus einzuholen. Das Ausgehen matisieren. Diese ausdrücklich reflektierende vom Bewusstseinsstrom in seiner wesentlich Haltung ist für Husserl jedoch keine Negation intentionalen wie zeitlichen Grundstruktur der ursprünglichen Form des Lebens, sondern erlaubt es ihm, das reine ego nicht als un- lediglich eine andere Einstellung innerhalb ausgedehnten, inhaltsleeren Punkt aufzufas- desselben Lebensstroms. „Leben“ ist Synonym sen, sondern als „Monade“, d. h. in der vollen für jene nichtthematisierbare Dimension des Konkretion all seiner perzeptiven, weltori- Bewusstseins, die jeder ausdrücklichen, objek- entierten Bewusstseinsinhalte, deren dyna- torientierten Thematisierung zugrunde liegt. mischer Zusammenhang eine je individuelle Das bedeutet, dass auch die Thematisierung Entfaltungsgeschichte bildet. Anders als im des vortheoretischen Welterlebens ihrerseits Neukantianismus wird die „Objektivität“ der 98 Gegenstände der äußeren Wahrnehmung da- als konstitutiver „Leistung“, die innerhalb der bei nicht über die infinitesimale Konstruktion beständig strömenden Vielfalt intentionaler der sie bestimmenden Gesetze, sondern über Inhalte teleologisch motivierte Sinneinheiten ihre prinzipielle Zugänglichkeit für andere stiftet, die innerhalb des Bewusstseinsstromes Wahrnehmungssubjekte definiert. Die „Welt habituell fortwirken und ihm somit eine in- für alle“, der die sinnlich wahrnehmbaren dividualgeschichtliche Struktur verleihen. Vor Naturgegenstände angehören, verweist somit diesem Hintergrund erscheinen auch die ge- immer schon auf eine Fremdsubjektivität, die samtmenschheitlichen Kulturleistungen und – in Analogie zum eigenen, psychophysisch Institutionen nicht als veräußerlichte, ent- verfassten Ich – vermittels der ihr zugehö- fremdete Verfallsformen der ursprünglichen rigen organischen Leiblichkeit die materielle Lebensdynamik, sondern vielmehr als die Natur erfahren und in sie hineinwirken kann. tendenziell unendliche, intersubjektive Fort- Das reine, transzendentale Bewusstsein ist bei setzung jenes sinnstiftenden teleologischen Husserl somit nie von statischer Abstraktheit, Leistungcharakters, der sich bereits als We- sondern dank seiner intentionalen Struktur sensstruktur des einzelnen transzendentalen immer schon mit jener Schicht perzeptiver ego erwiesen hatte. Bewusstseinsinhalte verflochten, die notwen- Bei Husserl ist das „Leben“ somit nicht länger digerweise eine beseelte Leiblichkeit voraus- ein Kampfbegriff, der auf einseitige Weise von setzt. irrational-vitalistischen, geisteswissenschaft- Schließlich gelingt es Husserl vor dem Hinter- lich-geschichtlichen oder transzendentalphi- grund seines spezifischen Ansatzes auch, das losophischen Denkrichtungen vereinnahmt Phänomen der Menschheits- und Kulturge- werden könnte. Vielmehr ist er ein Synonym schichte in einer Weise zu deuten, die dem für jene zunächst unthematische, aber stets historischen Charakter dieser Phänomene aufs neue thematisierbare Vielgestaltigkeit Rechnung trägt, ohne dabei das philosophi- und Beweglichkeit, mit der das Bewusstsein sche Vernunftideal einer historistischen Rela- über all seine Konstitutions- und Leistungs- tivierung zu unterwerfen. Der Schlüssel dazu stufen hinweg seinen Weltbezug verwirklicht liegt in der Deutung der Bewusstseinsaktivität und dabei doch stets auf sich selbst zurück- 99 bezogen bleibt. Das „Leben“ im Husserlschen der urströmenden Lebensdynamik und den Sinne hat keinen Gegenbegriff mehr, sondern von ihr konstituierten Produkten eine kaum ist selbst der unterhintergehbare Spielraum verhüllte Kritik am lebensphilosophischen der Phänomenalität, in dem sich die funktio- Ansatz Henri Bergsons darstellt, der jede Form nalen Bezüge von dynamischer Fluidität und der objektiv-gegenständlichen bzw. kulturell- konstituierter Gestalt, implizit-subjektiver symbolischen Verfestigung und Institutiona- Leistung und objektiv-thematisierter Gegen- lisierung bereits als Abfall von der Fluidität ständlichkeit für das Bewusstsein je neu ent- des ursprünglichen Lebensdranges betrachtet. falten und zur Erscheinung kommen können. Husserl hingegen ist bestrebt, einer solchen Während meines zwölfmonatigen Fellowships dichotomischen Gegenüberstellung des Le- habe ich mich vor allem darauf konzent- bens und seiner wissenschaftlich-kulturellen riert, das Profil von Husserls Lebensbegriff Produkte vorzubeugen und auch die teleolo- gegenüber der aristotelischen Seelenlehre gisch gestifteten, universalen Sinneinheiten und Biologie, dem Diltheyschen Projekt ei- als genuine „Erzeugnisse“ des Lebens selbst zu ner hermeneutischen Geisteswissenschaft verstehen. Insofern stellt eine vertiefte Un- sowie der neukantianischen Konzeption des tersuchung von Husserls Bergson-Rezeption „Bewusstseinslebens“ näher zu bestimmen, einen Aspekt meines Projektes dar, dem ich und habe während dieser Zeit erste Teiler- noch weiter nachgehen werde, um der Viel- gebnisse meiner Arbeit schichtigkeit des Husserlschen Lebensbegriffs bereits im Rahmen von gerecht zu werden. Vorträgen und Ver- öffentlichungen zur Diskussion gestellt. Im weiteren Verlauf mei- ner Forschungen wurde mir außerdem klar, dass Abb. 3 Husserls Deutung des Henri Bergson Verhältnisses zwischen 100 Roesner, Martina, „Zwischen transzendentaler Roesner, Martina Eine Monographie, die einer ausgewählte Genese und faktischer Existenz. Konfigura- Gesamtdarstellung der Lebensproblematik in Veröffentlichungen tionen des Lebensbegriffs bei Natorp, Hus- der Phänomenologie Edmund Husserls ge- serl und Heidegger“, in: „Husserl Studies 28“ widmet ist, befindet sich in Vorbereitung. (2012), S. 61-80.

Roesner, Martina, „Zweierlei Leben in einem Wesen. Die philosophische Anthropologie Alberts des Großen vor dem Hintergrund der aristotelischen Naturphilosophie und In- tellektlehre“, in: Hoffstadt, C. et al., „Huma- na – Animalia. Mensch und Tier in Medizin, Philosophie und Kultur“, Bochum – Freiburg, Projekt Verlag, 2012, S. 59-74.

101 Privatdozent Dr. Jörg Schuster

Alfried Krupp Junior Fellow Oktober 2011 bis September 2012

Kurzvita Jörg Schuster (geb. 1969) ist Wissenschaft- herausgeber der Tagebücher von Harry Graf licher Mitarbeiter am Institut für Neuere Kessler und zweiter Vorsitzender des Marbur- deutsche Literatur der Philipps-Universität ger Literaturforums e.V. Forschungsschwer- Marburg. Er studierte Neuere deutsche Lite- punkte sind Literatur und Ästhetik des 18. ratur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie Jahrhunderts und der Zeit um 1800, Literatur an der Universität Tübingen und war Mitglied und Kultur der Jahrhundertwende 1900, Kul- des DFG-Graduiertenkollegs „Klassizismus turpoetik der deutschen Literatur 1930-1960, und Romantik im europäischen Kontext. Die Gegenwartsliteratur, Lyrik und Lyriktheorie ästhetische Erfindung der Moderne“ an der sowie Briefforschung. Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Mit- 102 Studien zu einer Kulturpoetik der deutschen oder zu magischen bzw. pseudo-religiösen Kurzbericht Literatur 1930-1960 Elementen äußern. Zugleich knüpfen vie- le Texte jedoch an das moderne Prinzip des Zeichnet sich die literaturhistorische Be- Formexperiments an. Offensichtlich können schreibung der ‚Moderne‘ bis ins erste Drittel nach 1933 moderne Schreibweisen gerade in des 20. Jahrhunderts durch die Abfolge von dieser Amalgamierung mit regressiven Mo- Strömungen wie Symbolismus, Expressionis- menten fortgeführt werden und stehen so mus und Neue Sachlichkeit aus, so werden für nach dem Zweiten Weltkrieg als Reservoir die Folgezeit politisch-zeitgeschichtliche Ka- formaler Gestaltungsmöglichkeiten zur Ver- tegorien übernommen (‚Literatur des Dritten fügung. In diesem Sinne kommt es nach 1945 Reichs‘, ‚Exilliteratur‘, ‚Literatur nach 1945‘). – in der hermetischen Lyrik ebenso wie etwa Kontinuitäten, die in formaler und poetologi- in den Romanen Wolfgang Koeppens – nicht scher Hinsicht über die historischen Zäsuren einfach zu einer Reaktivierung von Tenden- 1933/1939/1945 hinaus bestehen, werden zen der literarischen Avantgarde des frühen dadurch häufig ebenso übersehen wie mög- 20. Jahrhunderts. Vielmehr werden Traditio- liche strukturelle Analogien zwischen Texten nen fortgesetzt, die nie völlig unterbrochen der NS-Literatur, der ‚Inneren Emigration‘ und waren. der ‚Exilliteratur‘. Das Projekt widmet sich demgegenüber den Schreibweisen nach den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht um die Etablierung einer neuen Makroee- poche, sondern um die genaue Analyse von Textverfahren und intertextuellen Beziehun- gen innerhalb des literarischen Felds ebenso wie im Hinblick auf außerliterarische Kontex- te. Seit 1930 überwiegen regressive Tenden- zen, die sich in einer Hinwendung zur Natur 103 Projektbericht Es gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen herrschaft auf das gesamte literarisch-intel- der Literaturgeschichtsschreibung, dass es lektuelle Feld offensichtlich sind. Allerdings 1945 in der deutschen Literatur nicht zu ei- werden durch die traditionelle Kategorisie- ner ‚Stunde Null‘, einem ‚Kahlschlag‘ kam. Es rung Aspekte wie literaturpolitische Institu- handelt sich bei diesen Formulierungen viel- tionen oder Autorenbiographien so sehr in mehr um Topoi, die der Selbstversicherung den Vordergrund gerückt, dass sie den Blick und Selbstüberredung der unmittelbar nach auf die literarischen Texte zu verstellen dro- dem Ende des Zweiten Weltkriegs (weiter-) hen. Kontinuitäten, die in formaler und po- publizierenden Schriftsteller dienten. Diese etologischer Hinsicht über den Zeitraum der Einsicht hatte bislang jedoch kaum Einfluss nationalsozialistischen Diktatur hinaus beste- auf Fragen der literaturgeschichtlichen Peri- hen, werden dadurch ebenso übersehen wie odisierung. Zeichnet sich die literaturhistori- mögliche strukturelle Analogien zwischen sche Beschreibung der ‚Moderne‘ bis ins erste Texten der NS-Literatur, der ‚Inneren Emig- Drittel des 20. Jahrhunderts durch die rasche ration‘ und der ‚Exilliteratur‘. Herkömmliche Abfolge literarischer Strömungen wie Sym- Kategorisierungen sind somit in Frage zu bolismus, Expressionismus, Dadaismus und stellen, um durch die Untersuchung spezifi- Neue Sachlichkeit aus, so werden für die Fol- scher literarischer Schreibweisen und inter- gezeit politisch-zeitgeschichtliche Kategorien textueller Bezüge einen genaueren Blick auf übernommen. Zum einen findet eine scharfe diesen Zeitabschnitt der deutschen Literatur Abgrenzung zwischen der Zeitspanne 1933– des 20. Jahrhunderts zu gewinnen. Dabei geht 1945 und der ‚Literatur nach 1945‘ statt; zum es nicht primär um eine neue Periodisierung anderen wird, was die Jahre 1933 bis 1945 be- oder gar darum, eine neue Makroepoche zu trifft, zumeist eine ebenso strenge Einteilung statuieren, wie dies jüngst Gustav Frank und zwischen ‚NS-Literatur‘, sogenannter ‚Innerer Stefan Scherer mit dem Konzept einer ‚syn- Emigration‘ und ‚Exilliteratur‘ vorgenommen. thetischen Moderne‘ hinsichtlich der Zeit- Diese Differenzierungen sind zunächst völlig spanne zwischen 1925 und 1955 unternom- einleuchtend, da die fundamentalen Auswir- men haben. Vielmehr handelt es sich um ein kungen der nationalsozialistischen Gewalt- heuristisches Experiment – um die Frage, wie 104 sich unser Blick auf Texte ändert, zu welchen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. neuen Resultaten man in der Untersuchung Inwiefern, so lautet die zentrale Frage, lässt dieser Texte gelangt, wenn man eine relative sich zwischen 1930 und 1960 eine produktive Kontinuität literarischer Verfahren unabhän- Fortführung und Transformation von Textver- gig von historischen Zäsuren zumindest für fahren der literarischen Moderne feststellen? möglich hält. Von besonderem Interesse ist in diesem Zu- Was die gewählten Eckdaten betrifft, so sammenhang das Spannungsfeld von Regres- markieren die Jahre um 1930, sehr grob ge- sion und Experiment. Seit 1930 überwiegen sprochen, das Ende der ‚Neuen Sachlichkeit‘ regressive Tendenzen, die sich insbesondere und den Einsatz des ‚Magischen Realismus‘ in einer Hinwendung zur Natur und zu ma- als wichtiger, spezifische Textverfahren eta- gischen bzw. pseudo-religiösen Elementen blierender literarischer Strömung (etwa im äußern. Zugleich sind viele Texte jedoch nach Kontext der Zeitschrift „Die Kolonne“, 1929– wie vor in dem Sinne im Horizont der lite- 1932), die, von der Forschung noch immer zu rarischen Moderne zu sehen, dass sie an die wenig beachtet, bis in die 1950er-Jahre von Tradition der für diese konstitutiven Formex- Bedeutung bleibt. Spätestens ab den 1960er- perimente anknüpfen. Dies gilt für die Lyrik Jahren sind in der Literatur der Bundesrepu- des ‚Magischen Realismus’ von Oskar Loerke blik Deutschland dann andere, heterogene über Wilhelm Lehmann bis hin zu Peter Hu- Entwicklungen von der zunehmenden Politi- chel ebenso wie etwa für die Romane Friedo sierung über einen neuen Subjektivismus bis Lampes („Am Rande der Nacht“, 1933, „Sep- hin zu Neo-Avantgardismus und Neo-Dadais- tembergewitter“, 1937), Elisabeth Langgäs- mus zu beobachten. sers („Gang durch das Ried“, 1936) oder Horst Langes („Schwarze Weide“, 1937). Regression und Experiment Zwar ist der Zusammenhang von regressiven und experimentellen Momenten für die Mo- Skizziert wird somit, in einem größeren li- derne seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts teraturgeschichtlichen Rahmen gesehen, konstitutiv. Die Faszinationskraft des Archa- eine Geschichte der Schreibweisen nach den ischen im Rahmen von Primitivismus und 105 Exotismus ist hierfür ebenso ein Beleg wie wie sie für die literarische Moderne seit der etwa die polemische Klage Gottfried Benns: Jahrhundertwende 1900 konstitutiv sind: Zu „Oh, dass wir unsere Ur-ur-ahnen wären. / beobachten sind subtile semiotische Techni- Ein Klümpchen Schleim in einem warmen ken, semantische Übertragungs- und Trans- Moor.“ Allerdings ist der regressive Charakter, formationsprozesse, die eine Autonomie des durch den sich Literatur seit 1930 auszeich- sprachlichen Materials voraussetzen. net, weit von einem solchen provokativen Meine These lautet daher, dass moderne li- Gestus entfernt; spätestens seit 1933 ist die- terarische Schreibweisen gerade in dieser se Entwicklung – mit ihren durchaus beste- Amalgamierung mit regressiven Momen- henden Affinitäten zur völkischen ‚Blut und ten zwischen 1933 und 1945 fortgeführt Boden‘-Literatur – vielmehr staatlich sank- werden und so nach dem Ende des Zweiten tioniert. Beschworen wird denn auch nicht Weltkriegs – neben an den Realismus des 19. mehr die Südseeinsel Palau oder die Faszina- Jahrhunderts anknüpfenden Tendenzen (z.B. tionskraft von ‚Negerplastiken‘; der Thesaurus Heinrich Böll) – als Reservoir formaler Ge- ist vielmehr etwa durch Pflanzennamen der staltungsmöglichkeiten zur Verfügung ste- heimischen Botanik geprägt – evoziert wird hen. In diesem Sinne kommt es nach 1945 eine Welt aus Lavendel, Lolch und Ritornell. – in der hermetischen Lyrik ebenso wie etwa Und auch die ästhetischen Verfahren zeich- in den Romanen Wolfgang Koeppens – nicht nen sich nicht mehr durch expressionistische einfach zu einer Reaktivierung von Tenden- „Zusammenhangsdurchstoßung“ aus, viel- zen der literarischen Avantgarde, wie sie aus mehr wird – gegen die als bedrohlich emp- den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahr- fundene Heterogenität und Dissoziation der hunderts bekannt sind. Vielmehr werden Tra- zivilisatorisch-urbanen Moderne – Einheit, ditionen fortgesetzt, die – auch in der pro- ein magisch-mystisches Aufgehobensein des duktiven Rezeption fremdsprachiger Literatur einzelnen in einem übergeordneten Zusam- (z.B. William Faulkner, Julien Green) – nie völ- menhang textuell hergestellt. Die Art und lig unterbrochen waren. Weise dieses Herstellens, dieser poiesis ist allerdings deutlich an Verfahren orientiert, 106 Fallstudien zu einer ‚anderen Moderne‘ knüpfen‘. Erst seit wenigen Jahren beginnt sich die Koeppen-Forschung jedoch die Frage Es liegt auf der Hand, dass sich eine Untersu- zu stellen, ob es Traditionslinien der Moder- chung, die gegen ‚große‘ literaturgeschicht- ne auch innerhalb des ‚Dritten Reichs‘ gab, liche Erzählungen gerichtet ist, primär auf die zur spezifischen Schreibweise von Koep- Fallstudien zu beschränken hat. In den Blick pens Nachkriegsromanen zumindest beitru- genommen werden Autorinnen und Autoren, gen. So zeichnen sich bereits die von Koep- die Traditionen der Moderne unter extrem pen geschätzten Romane Friedo Lampes aus erschwerten Umständen fortführten und so den 1930er-Jahren, aber auch sein eigener, Vertreter einer ‚anderen‘, nicht kanonisier- von literaturwissenschaftlicher Seite ver- ten und bislang als solche nicht ausreichend nachlässigter Roman „Die Mauer schwankt“ wahrgenommenen Moderne sind. Die Ergeb- (1935) durch eine moderne Simultantechnik nisse der Studie sollen im Folgenden exem- und den Einsatz filmischer Mittel aus, wie sie plarisch anhand von drei Autoren, Wolfgang dann im 1951 veröffentlichten Roman „Tau- Koeppen, Peter Huchel und Günter Eich, vor- ben im Gras“ zu Berühmtheit gelangen. Aller- geführt werden. Alle drei Autoren gehören dings dienen diese formalen Mittel dort nicht der selben Generation an, sie beginnen in den mehr der Evokation einer magisch-visionä- späten 1920er und frühen 1930er Jahren zu ren Allverbundenheit wie in den Texten der publizieren, veröffentlichen im ‚Dritten Reich‘ 1930er-Jahre. Vielmehr ist eine für die Tra- zunächst weiter und bleiben nach dem Ende dierung moderner Erzählverfahren überaus des Zweiten Weltkriegs, sei es im West- oder interessante Entwicklungslinie festzustellen, im Ostteil Deutschlands, literarisch aktiv. die von der atmosphärischen Evokation von Was zunächst Wolfgang Koeppen betrifft, so Einheit bei Friedo Lampe über den Kontrast herrscht in der literaturwissenschaftlichen zwischen mythisch-magischer Vision und ob- Forschung seit langem ein weitgehender soleter gesellschaftlicher Umgebung in „Die Konsens darüber, dass er zu den wenigen Au- Mauer schwankt“ hin zu einer weitgehenden toren zählt, die nach dem Ende des Zweiten Verselbständigung formaler Mittel, durch die Weltkriegs an die literarische Moderne ‚an- die Beziehungslosigkeit und das Chaos in ei- 107 ner Großstadt der Nachkriegszeit darstellt für Dichtung, Kunst und deutsches Leben“ werden, in „Tauben im Gras“ führt. Es handelt „Das Innere Reich“ in unmittelbarer Nach- sich dabei, und das ist das entscheidende, um barschaft zu trivialer völkischer Dichtung. ein Wechselspiel zwischen Kontinuität und Umgekehrt erlaubte aber die Amalgamierung Transformation moderner Textverfahren, das mit regressiven Einheitskonzepten, dass avan- der literaturwissenschaftlichen Forschung ciert-experimentelle Textverfahren, wie sie bislang weitgehend entgangen ist, da es mit Huchels hermetische Lyrik praktiziert, in der der herkömmlichen Periodisierung der deut- literarischen Produktion und Rezeption über schen Literatur des 20. Jahrhunderts nicht die historischen Zäsuren von 1933 und 1945 vereinbar ist. hinaus fortbestanden. Auch bei Peter Huchels Gedichten aus den Zu einem ähnlichen Befund führt die Be- 1930er-Jahren (z.B. „Die dritte Nacht April“, schäftigung mit dem Œuvre Günter Eichs. 1932, „Havelnacht“, 1933) handelt es sich um Zwar beruht der heutige Ruhm des Autors Texte, die einerseits an die literarische Avant- weitgehend auf seiner unmittelbar nach 1945 garde des frühen 20. Jahrhunderts anknüp- entstandenen sogenannten ‚Kahlschlaglyrik’ fen. Dies belegen komplexe Symbole wie die („Inventur“, 1948) sowie auf den Hörspielen, „Sternenreuse“ ebenso wie die Tatsache, dass die in den frühen 1950er-Jahren publikums- etwa die Beziehung zwischen Mensch und wirksame Skandale hervorriefen („Träume“, Natur auf äußerst subtile Weise textuell ins 1950). Bei näherem Hinsehen spielen die Magische transformiert wird. Zugleich enthal- ‚Kahlschlaggedichte‘ in der unmittelbar nach ten die Gedichte andererseits durch das Be- dem Zweiten Weltkrieg im Band „Abgelege- schwören einer einstigen magischen Einheit ne Gehöfte“ (1948) publizierten Lyrik quan- mit der Natur aber ein regressives Moment. titativ aber nur eine verschwindend geringe Die Grenze zwischen magisch-poetischen und Rolle gegenüber Gedichten, die entweder völkisch-nationalsozialistischen Einheitskon- bereits in den 1930er-Jahren einzeln veröf- zepten ist fließend; nicht zufällig erscheinen fentlicht worden waren oder, obwohl zuvor Gedichte Huchels und Eichs in der während noch unveröffentlicht, in ihrer naturmagi- der NS-Diktatur repräsentativen „Zeitschrift schen Konzeption nahtlos an die Vorkriegsly- 108 rik anschließen. Der Gedichtband als ganzer lung von Imaginationen beobachten. Dieses demonstriert somit exakt jene werkbiogra- Moment der poetologischen Reflexion taugt phische und literaturhistorische Kontinuität, dabei zwar nicht als Kriterium dafür, Eichs die ‚Kahlschlaggedichte‘ wie „Inventur“ mit Hörspiele als die – gar in moralischer Hinsicht ihrer Inszenierung eines existentiellen Null- – ‚besseren‘ Texte im Vergleich zu dezidiert punkts negieren. Von einem Bruch im Werk völkischer Propagandaliteratur zu beurteilen. Eichs kann daher nicht die Rede sein. Viel- In literaturgeschichtlicher Hinsicht ist die für mehr zeichnen sich seine Texte seit den frü- Eich – vom „funkischen Versuch“ „Schritte zu hen 1930er-Jahren durch das Zusammenspiel Andreas“ (1935) bis hin zu „Das Jahr Lazer- von regressiven Einheitskonzepten einerseits tis“ (1953) – spezifische, auf die Bedingungen und einer ihnen immanenten Sprachreflexion ihrer sprachlichen Materialität reflektierte und Zeichenkonzeption, die vom poetologi- Fiktion einer Transformation von Sprache in schen Problembewusstsein der literarischen Wirklichkeit aber als Konnex zwischen dem Moderne zeugt, andererseits aus. Erst in den Magischen Realismus mit seinen komplexen 1950er-Jahren, seit dem Gedichtband „Bot- Übersetzungs- und Transgressionsverfahren schaften des Regens“ (1955), erfährt dieses und einer die Kontingenz sprachlicher Be- Problembewusstsein dann eine extreme Radi- nennungen ausstellenden Spätavantgarde zu kalisierung, die in den absurden Prosagedich- sehen. ten „Maulwürfe“ (1968) gipfelt. Eine ähnliche Kontinuität lässt sich in der Genius loci Hörspielproduktion Eichs feststellen, der als einer der erfolgreichsten Funkautoren des Dank der idealen Arbeitsbedingungen im Al- nationalsozialistischen Deutschland bis 1940 fried Krupp Wissenschaftskolleg konnte das ebenso systemkonform wie publikumswirk- Projekt im akademischen Jahr 2011/12 ent- sam „Volksgemeinschaft, Idylle, Blut und Bo- scheidend vorangetrieben werden. Die luxuri- den“ beschwor (Axel Vieregg). Auch im Fall der ösen infrastrukturellen Voraussetzungen von Hörspiele lässt sich jedoch seit den 1930er- den Räumlichkeiten bis hin zur exzellenten Jahren die poetologisch reflektierte Herstel- technischen Betreuung durch Herrn Rienow 109 ermöglichten das konzentrierte Arbeiten in Kontinuität literarischer Verfahren“ durch. völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Diese Zum Abschluss meines Fellow-Jahres konn- wurden aufs Beste ergänzt durch den kolle- te ich im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg gial-freundschaftlichen Austausch mit den Greifswald einen durch die Alfried Krupp von Mitarbeitern des Kollegs und den Fellows Bohlen und Halbach-Stiftung Essen geför- einerseits, durch die akademische Koopera- derten Internationalen Workshop zum Thema

tion, insbesondere an der Universität Greifs- InternatIonale Fachtagung 17. bIs 19. september 2012 wald, andererseits. So konnte ich mein Projekt nicht nur im Rahmen der Fellow Lecture am Wissenschaftskolleg, sondern bereits vorab im Forschungskolloquium von Prof. Eckhard Schumacher (Institut für Deutsche Philologie) vorstellen. Im Wintersemester 2011/12 ermög-

lichte ein von mir am Institut für Deutsche Rzepka) Adam | CNAC-MNAM | (bpk Leinwand“ auf Öl / „Gemälde Kandinsky Wassily und (bpk) „Familienbildnis“ Willrich Wolfgang Abbildungen: Philologie durchgeführtes Hauptseminar zum Die anDere MoDerne? Thema „Magischer Realismus“ die lebendige regression und experiment − Beschäftigung mit meinem Untersuchungs- schreibweisen der deutschen literatur 1930 -1960

gegenstand. Ein besonderer Vorzug bestand bettIna bannasch (augsburg) morItz bassler (münster) Jörg DörIng (siegen) torsten leIne (Konstanz/münster) in der Nutzung des Greifswalder Wolfgang- helmut peItsch (potsdam) peter pohl (greifswald) gerhIlD rochus (augsburg) hubert rolanD (leuven) mIchael scheFFel (Wuppertal) ecKharD schumacher (greifswald) Koeppen-Archivs und in der Betreuung durch Jörg schuster (greifswald/marburg) heIDe VolKenIng (greifswald)

dessen Mitarbeiter. Auf zwei internationalen TAgungSlEiTung Dr. phil. habil. Jörg Schuster TAgungSorT Alfried Krupp Wissenschaftskolleg greifswald · Martin-luther-Straße 14 · D-17489 greifswald inForMATion Alfried Krupp Wissenschaftskolleg greifswald · Tagungsbüro · D-17487 greifswald Fachtagungen konnten Fragestellungen mei- Telefon +49 (0) 3834 / 86 - 19029 · Fax +49 (0) 3834 / 86 -19005 · [email protected] · www.wiko-greifswald.de Die internationale Fachtagung wird gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen. nes Projekts diskutiert werden. Zusammen mit meinen Kollegen Prof. Moritz Baßler (Müns- Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald ter) und Prof. Hubert Roland (Leuven) führte ich im Februar 2012 in Münster die Tagung Abb. 1 Internationaler Workshop „Deutsche Literatur 1920–1960. Zur (Dis-) „Die Andere Moderne“ , 17. bis 19. September 2012 110 „Die andere Moderne? Regression und Experi- Kollegen des Instituts für Deutsche Philologie ment – Schreibweisen der deutschen Literatur der Universität Greifswald, deren eigenstän- 1930–1960“ veranstalten. Auch hier kam es dige Perspektive eine große methodische Be- zum produktiven Austausch zwischen einer reicherung darstellte. Ein aus beiden Tagun- kontinuierlich gemeinsam arbeitenden Kern- gen resultierender Sammelband ist parallel gruppe, Spezialisten zu einzelnen Themenfel- zu meiner eigenen Monographie in Vorberei- dern wie Magischer Realismus, Wolfgang Ko- tung. eppen oder Exilliteratur und Kolleginnen und

111 112 Schuster, Jörg, „Suggestion magischer Einheit Schuster, Jörg, „Veränderte Landschaftslyrik. ausgewählte und moderne Textverfahren – zur (Dis-) Kon- (Günter Eich: Veränderte Landschaft).“, in: Veröffentlichungen tinuität der deutschen Literatur 1930-1960: „Frankfurter Anthologie.“ Redaktion Marcel Wolfgang Koeppen und Peter Huchel.“, in: Reich-Ranicki. „Frankfurter Allgemeine Zei- „Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der tung“, Nr. 204, 1.9.2012, S. 4. Moderne. In Verbindung mit der Internatio- nalen Wolfgang Koeppen Gesellschaft.“ N.F. Jg. 4 (2012), H. 1. S. 185-204.

113 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 14. November 2011 Eintritt frei Eintritt24. frei Oktober 2011 18:30 Uhr 18:30 Uhr Dr. Roswitha Böhm Krise Schreiben. Zu einer Poetik des Prekä- Professor Dr. Birgit Recki ren in Theater und Roman der Gegenwart Zur Ethik des Stiftens In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich im Gefolge sozialer Verwerfungen ein neues und geradezu proliferierendes Wortfeld Es gibt offenkundig ein Ethos des Stiftens – eine praktische herausgebildet, denn in den Medien und in aktuellen, meist so- Einstellung, durch die Personen geneigt sind, ja: sich gar verpflichtet ziologischen Publikationen spricht man über ‚Prekariat’, diskutiert fühlen, ein großes Vermögen institutionell auf Dauer bereit zu über ‚Prekarität’ und ‚Prekarisierung’. Zugleich entdecken deutsche, stellen, um die Projekte anderer in regelmäßiger und methodischer französische und spanische Autor/inn/en Ökonomie, Business und Weise zu unterstützen. Es liegt nahe, in solcher Förderung eine Arbeitswelt als ergiebige literarische Sujets wieder. Ihr Interesse Form der verdienstvollen Wohltätigkeit zu sehen, in der sich die gilt einer technisch hochgerüsteten Dienstleistungsbranche mit Verbundenheit eines Individuums mit seiner Gesellschaft artikuliert. Doch die ethische Einstellung des Stiftens verdient genauere qualifizierten Mitarbeitern – oder aber im Gegenteil den prekären Beschreibung. Ausgehend von einer begrifflichen Erörterung des Arbeitswelten der Minijobs, Überbrückungstätigkeiten und Aktivie- „Stiftens“ und im Seitenblick auf maßgebliche ethische Positionen rungsmaßnahmen. Gemeinsam ist den Autoren ein großes Unbe- der Tradition fragt der Vortrag nach Element und Prinzip einer hagen angesichts eines von den Anforderungen der globalisierten Ethik des Stiftens. In den Fokus rückt dabei die Anerkennung der Finanzwelt fremdbestimmten Arbeitslebens, das vom Arbeitnehmer individuellen Leistung und ihres Anspruchs auf freie Entfaltung Anpassung, Flexibilität und Engagement fordert, ihm im Gegen- im Rahmen einer auf gleicher Freiheit beruhenden Gesellschaft. zug aber keinen sicheren Arbeitsplatz, kein angemessenes Gehalt Die Ethik des Stiftens erweist sich darin als exemplarisch für den und keine Anerkennung mehr bietet. Große Unterschiede weisen tragenden Gedanken einer egalitären Kultur. die einzelnen Texte hingegen in der ästhetischen Umsetzung des Themas auf. Der Vortrag will deshalb einige der vielfältigen Berüh- Birgit Recki hat in Düsseldorf und Münster Philosophie und Soziologie studiert. rungspunkte zwischen wirtschaftlichen und sprachlich-literarischen Nach ihrer Promotion 1984 schloss sich eine Lehrtätigkeit im Fachbereich Design Prozessen herausarbeiten, um die Spezifika einer ‚Poetik des Prekä- der Fachhochschule Münster und an der Kunstakademie Münster an. Von 1985 bis 1997 war sie zudem Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der West- ren’ zu ergründen. fälischen Wilhelms Universität Münster sowie Dozentin im FB Kulturwissen- Roswitha Böhm studierte Romanistik und Germanistik in Frankfurt a.M., Berlin und schaften an der Universität Lüneburg von 1993 bis 1997. Birgit Recki habilitierte Paris. Als Wissenschaftliche Assistentin am Frankreich-Zentrum der Freien Universität sich 1995. Als Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg ist sie Berlin lehrte sie französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft. In seit 1997 tätig und hat dort desweiteren von 1997-2007 die Ernst-Cassirer-Ar- ihrer mit dem Tiburtius-Preis der Berliner Hochschulen ausgezeichneten Dissertation beitsstelle geleitet. Seit Oktober 2011 ist Birgit Recki Präsidentin der Deutschen Wunderbares Erzählen. Die Feenmärchen der Marie-Catherine d’Aulnoy (2003) analysiert sie neben der Rezeptions- und Editionsgeschichte deren inhaltliche, Gesellschaft für Ästhetik. stilistische und narratologische Spezifika. Ihre Habilitationsschrift Auf Spurensuche. Erinnerte Zeitgeschichte im europäischen Gegenwartsroman widmet sich in Moderation: Professor Dr. Bärbel Friedrich vergleichender und kulturwissenschaftlicher Perspektive der Problematik der Literarisierung von Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte.

Moderation: Dr. Christian Suhm AlfriedAlfried Krupp Krupp Wissenschaftskolleg Wissenschaftskolleg Greifswald Greifswald AlfriedAlfried Krupp Krupp Wissenschaftskolleg Wissenschaftskolleg Greifswald Greifswald Greifswald, Martin-Luther-Straße 14 Greifswald, Martin-Luther-Straße 14

Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald · 17487 Greifswald Stiftung Alfried Krupp Kolleg Greifswald · 17487 Greifswald Telefon 03834 86-19001 · Telefax 03834 86-19005 Telefon 03834 86-19001 · Telefax 03834 86-19005 www.wiko-greifswald.de · [email protected] www.wiko-greifswald.de · [email protected]

114 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Montag 9. Januar 2012 30. Januar 2012 Eintritt frei Eintritt frei 18:30 Uhr 18:30 Uhr Privatdozent Dr. Leonhard Fuest Dr. Martina Roesner Poetopharmaka. Über wirksame Alles Denken ist ein Zeugen. Zum Stoffe und Figuren der Literatur Verhältnis des biologischen und des Was tun wir, wenn wir klicken? Was widerfährt uns im Zuge der spekulativen Lebensbegriffs in der sogenannten Nutzung des Internets? Welche Stoffe führen wir uns in welchen Dosen und mit welchen Wirkungen zu Gemüte? Solche und mittelalterlichen Philosophie ähnliche Fragen verbinden medien-, literatur- und kulturtheoretische Seit der sogenannten „Lebensphilosophie“ des 19. und 20. mit psychologischen, neurophysiologischen und pharmakologischen Jahrhunderts hat es sich eingebürgert, die menschliche Aspekten. Neologistisch zugespitzt, wäre von poetopharmaka zu Rationalität als pragmatisch motiviertes Produkt eines sprechen, poetischen Heilmitteln, Giften und Drogen, die vor allem mit Blick auf ihre (neue und alte) Medialität und Materialität vorbegrifflichen Lebensdranges oder sogar als Negation beschreibbar und produzierbar sind. Seine Plausibilisierung erfährt des Lebens schlechthin zu verstehen. dieser pharmakopoetologische Zugriff zunächst über den Hinweis Im Gegensatz dazu interpretiert der mittelalterliche auf die seit der Antike vorgenommene Definition der Schrift als Aristotelismus sowohl die theoretische Denkaktivität als pharmakon. Bei Platon wird die These diskutiert, ob die Schrift auch die organischen Naturprozesse als unterschiedliche heilsam oder giftig sei, insofern sie etwa das Gedächtnis des Ausprägungsformen ein und derselben Lebensdynamik. Menschen entlaste oder aber im Gegenteil verkümmern lasse. Heute Auch die denkerische Begriffsbildung kann somit als befinden wir uns neuerlich in einer radikalen Umbruchsituation, „Zeugung“ begriffen werden, die eine Strukturanalogie zu welche durch das Internet, eine besonders potente Kombination von den biologischen Lebensvorgängen aufweist, ohne sich pharmaka, markiert ist. Der Vortrag versucht, den paradigmatischen auf mechanische Kausalschemata zu reduzieren. Einsatz des poetopharmakon unter besonderer Berücksichtigung der neuen Medien zu spezifizieren. Dies geschieht zum einen, indem Martina Roesner studierte Philosophie in Rom, Paris, Tübingen ein entsprechender Stoff- bzw. Essenzbegriff diskutiert wird. Zum und Salzburg. 2001 promovierte sie sich an der Université Paris anderen soll es um eine Figur gehen, die das Projekt signiert: die IV-Sorbonne. Danach folgten weitere Forschungstätigkeiten am Nymphe Pharmakeia. Centre Universitaire in Luxemburg sowie an den Pariser Husserl- Archiven und am C.N.R.S. Von 2005 bis 2009 war Martina Roesner Leonhard Fuest, geboren 1967, hat 1999 an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Müns- Lehrbeauftragte an der Philosophischen Fakultät der Johannes ter mit einer Studie über das Werk Thomas Bernhards promoviert und 2008 im Fach Neuere Gutenberg-Universität Mainz. Anschließend arbeitete sie bis 2011 Deutsche Literatur am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg mit einer Arbeit über das „Nicht(s)tun“ in der Literatur habilitiert. In Hamburg hat er dann bis 2010 eine Professur als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät vertreten. Neben wissenschaftlichen Monographien und Aufsätzen veröffentlichte er zuletzt der Berliner Humboldt-Universität. Martina Roesner ist Habilitan- auch einen Essayband mit dem Titel Die schwarzen Fahnen von Paris (2010). Überdies ist Fuest din an der Université Paris IV-Sorbonne. Mitherausgeber des Netzorgans dekonstrukte.de, wo sich auch bereits der Grundriss einer virtu- ellen Poetopharmazie findet. Moderation: Professor Dr. Michael Astroh Moderation: Dr. Christian Suhm

AlfriedAlfried Krupp Krupp Wissenschaftskolleg Wissenschaftskolleg Greifswald Greifswald AlfriedAlfried Krupp Krupp Wissenschaftskolleg Wissenschaftskolleg Greifswald Greifswald Greifswald, Martin-Luther-Straße 14 Greifswald, Martin-Luther-Straße 14

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115 Alfried Krupp Fellow Lecture Montag Alfried Krupp Fellow Lecture

6. Februar 2012 Eintritt frei Eintritt frei 18:30 Uhr Montag Dr. Jörg Schuster 27. Februar 2012 18:30 Uhr Deutsche Literatur 1930 bis 1960 – Probleme der Periodisie- Professor Dr. Folker Reichert rung und der Interpretation Gelehrter Eigensinn: Carl Die literarische Moderne zeichnet sich bis in die 1920er-Jahre Erdmann im Dritten Reich durch die rasche Abfolge von Strömungen wie Symbolismus, Expressionismus, Dadaismus und Neue Sachlichkeit aus. Für Die deutschen Historiker haben im Dritten Reich die Folgezeit werden in der Literaturgeschichtsschreibung keine gute Figur abgegeben. Umso bemerkenswer- dagegen politisch-zeitgeschichtlich motivierte Kategorien wie ter sind die Ausnahmen. Der Berliner Mediävist Carl ‚NS-Literatur‘, ‚Innere Emigration‘, ‚Exilliteratur‘ und ‚Literatur Erdmann (1898-1945) galt als großer Gelehrter, dem nach 1945 ‘übernommen. Diese Differenzierungen sind völlig in seinem Fach die Zukunft gehörte. Eine Berufung einsichtig, da die Auswirkungen der NS-Diktatur auf das ge- auf einen Lehrstuhl scheiterte jedoch an seiner kom- samte literarisch-intellektuelle Feld fundamental sind. Doch promisslosen Ablehnung des Nationalsozialismus. stimmen historische und literaturgeschichtliche Entwicklun- Er verzichtete auf eine Universitätskarriere, zog sich gen tatsächlich völlig überein? Bestehen nicht Kontinuitäten auf eine schlecht bezahlte Forschungsstelle zurück in der Schreibweise unabhängig von zeitgeschichtlichen Zäsu- und ging schließlich auf dem jugoslawischen Kriegs- ren? Diese Fragen sollen im Vortrag insbesondere anhand ei- schauplatz zugrunde. Eine exemplarische Biographie niger Werke Wolfgang Koeppens und Peter Huchels diskutiert kann zeigen, welcher Entscheidungen es im Dritten werden. Reich bedurfte, um wissenschaftliche Redlichkeit und menschlichen Anstand zu bewahren. Jörg Schuster (*1969) studierte Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen und Gießen. 2001 promovierte er Folker Reichert (*1949) studierte Geschichte, Germanistik und La- sich an der Universität Tübingen. 2001-2007 war er als Wissenschaftlicher tein in Würzburg und Heidelberg. 1982 wurde er an der Universität Mitarbeiter am Deutschen Literaturarchiv Marbach an der Herausgabe der Heidelberg promoviert. Folker Reichert erhielt 1992 den Preis des Tagebücher von Harry Graf Kessler beteiligt, daneben wirkte er als Lehrbe- Verbandes der Historiker Deutschlands. Seit 1994 ist er Professor für auftragter an der Universität Tübingen. Seit 2008 führte Jörg Schuster an der Universität Münster ein von der DFG gefördertes Habilitationsprojekt mittelalterliche Geschichte an der Universität Stuttgart und war u.a. zum Thema „ Kunst-Leben. Brief und Tagebuch um 1900“ durch, seit 2010 Gastprofessor in Shanghai (China), Yokohama (Japan) und Bangkok ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Marburg. (Thailand).

Moderation: Professor Dr. Eckhard Schumacher Moderation: Professor Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann

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116 Öffentlicher Vortrag im Rahmen der internationales Workshops Alfried Krupp Fellow Lecture „Politics and Contexts of Science Studies during the Cold War and Beyond“ Eintritt frei Freitag Mittwoch Eintritt frei 23. März 2012 30. Mai 2012 15:00 Uhr 18:30 Uhr Dr. Elena Aronova The Politics of Science Studies in the Cold Professor Dr. Margarita Balmaceda War: The Case of the Congress for Cultural Freedom and its Quest for ‘Liberal Studies Between Domestic Oligarchs and of Science,’ 1960s-70s Russian Pressure: The Politics of The Congress for Cultural Freedom (CCF) is remem- Energy Dependency in Ukraine, bered as a paramount example of the “cultural cold Belarus and Lithuania wars.” In my talk I will discuss the history of this influential transnational organization and its quest The energy dependency of post-Soviet states such as Ukraine, to promote “science studies” as a distinct – and po- Belarus and Lithuania has made them easy targets for Russia’s use of energy as a political weapon. While there has been much litically relevant – area of expertise, and part of the talk about such “energy imperialism,” existing research has igno- CCF broader agenda to offer a renewed framework for red crucial domestic factors in the transit states that lie between liberalism. The vision of “science studies” the CCF-as- Russia and EU markets. The presentation examines the domestic sociated intellectuals promulgated was different from political economy of these states’ energy and transit policies, their the science studies we know today. Yet, this alternative interplay with the rent-seeking strategies of domestic and Russian vision, in which the issues of science politics appeared oligarchic groups, and the often explosive effects of this combina- tion on the security of European energy supplies. inseparable from those of science policy, science orga- nization, and science governance, constituted the “pre- A native of Argentina, Margarita M. Balmaceda (PhD, Princeton University; history” of science studies today. Post-Doc Harvard University) is Professor of Diplomacy and International Relations at Seton Hall University and Research Associate at the Harvard Uk- rainian Research Institute in the USA. Her research on energy and politics has Elena Aronova is a Lecturer at the Department of History at the been supported by the Fulbright Humboldt, and other foundations, as well as University of California at San Diego, where she is completing her by a Marie Curie Fellowship from the European Union, and she has conducted second PhD in History having previously earned a PhD in Biology/His- several major projects based in field research in the area. Her books include tory of Science from the Russian Academy of Sciences in 2003. She Energy Dependency, Politics and Corruption in the Former Soviet Union (Rout- was a Fulbright Scholar at the Science Studies Program at UC San ledge 2008) and two forthcoming monographs on the issue. Diego (2004), and a Scholar-in-Residence at the Rockefeller Archival Center in New York (2005). In 2006 she joined the Salk Institute for Moderation: Professor Dr. Alexander Wöll Biological Studies as a Visiting Scientist and UCSD Science Studies Program as a Visiting Scholar. Since 2007 she is with the UCSD His- tory Department.

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117 Alfried Krupp Fellow Lecture Alfried Krupp Fellow Lecture Mittwoch Montag Eintritt frei 16. Mai 2012 Eintritt frei 18:30 Uhr 21. Mai 2012 18:30 Uhr Professor Dr. Olaf Mörke Geschwistermeere. Eine Ge- Professor Dr. Birgit Recki schichte von Nord- und Ostsee Technik als Vermittlung von Natur und Freiheit. Der Vortrag stellt ein Buchprojekt zur Geschichte der beiden Überlegungen zur menschlichen Meere von der Antike bis in die Gegenwart vor. Er spürt den Verbindungs- und Trennungslinien im nordeuropäischen Raum Kultur nach. Die Cimbrische Halbinsel - heute Schleswig-Holstein Keine andere Form menschlichen Wirkens ist so nachhaltiger und Jütland - ist der Riegel, der sich zwischen zwei maritime Skepsis, Ablehnung und Verwerfung ausgesetzt wie die Technik. Die zeitgenössische Kritik an der Technik ist nicht selten pauschal Räume legt und beide zu trennen scheint. Sie ist aber mehr und überschwänglich. Dabei hängt die Kultur in allen ihren noch Landbrücke, welche die Trennung zwischen Ost- und Errungenschaften daran, dass sich die menschliche Freiheit in der Nordsee aufhebt. So positionierten Kartographen seit der Anti- produktiven Tätigkeit und dabei immer auch in der Steigerung ke jene Cimbrische Halbinsel im Zentrum einer terra septentri- ihrer Effektivität Geltung verschafft: in der Technik. Die Freiheit onalis, einer nördlichen Welt. Es entstanden Ideenkonzepte von des Menschen und die Technik als instrumentelle Organisation Nördlichkeit, die bis heute höchst differente Wirkung entfalten. zur Realisierung seiner Handlungsziele sind voneinander nicht zu trennen. Der Vortrag argumentiert gegen die Dämonisierung der Technik und für eine differenzierte Auseinandersetzung mit ihren Olaf Mörke studierte an der Philipps-Universität Marburg Geschich- Möglichkeiten. te, Politische Wissenschaft und Pädagogik. Nachdem er sein Studi- um 1976 mit dem Ersten Staatsexamen abschloss, wurde er 1983 Birgit Recki hat in Düsseldorf und Münster Philosophie und Soziologie studiert. promoviert. 1994 wurde er habilitiert mit einer Schrift zum Thema Nach ihrer Promotion 1984 schloss sich eine Lehrtätigkeit im Fachbereich Design „‚Stadtholder‘ oder ‚Staetholder‘? Die Funktion des Hauses Oranien der Fachhochschule Münster und an der Kunstakademie Münster an. Von 1985 und seines Hofes in der politischen Kultur der Republik der Vereinig- bis 1997 war sie zudem Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der West- ten Niederlande im 17. Jahrhundert“. Von 1986 bis 1996 war Olaf fälischen Wilhelms-Universität Münster sowie von 1993 bis 1997 Dozentin Mörke als wissenschaftlicher Mitarbeiter, wissenschaftlicher Assis- im Fachbereich Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg. Birgit Recki habilitierte sich 1995. Als Professorin für Philosophie an der Universität Ham- tent und Oberassistent an der Universität Gießen tätig. Seit 1996 burg ist sie seit 1997 tätig und hat dort desweiteren von 1997-2007 die Ernst- lehrt er als Professor Geschichte der frühen Neuzeit an der Christi- Cassirer-Arbeitsstelle geleitet. Seit Oktober 2011 ist Birgit Recki Präsidentin der an-Albrechts-Universität zu Kiel. Deutschen Gesellschaft für Ästhetik.

Moderation: Professor Dr. Michael North Moderation: Dr. Christian Suhm

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118 Alfried Krupp Fellow Lecture

Montag Eintritt frei 4. Juni 2012 18:30 Uhr Professor Dr. Karl-Ludwig Kunz Der Rechtsstaat in der Defensive? Die Idee des Rechtsstaats ist Richtwert und Garant für die Gewährleistung individueller Grundfreiheiten. Die Verwirklichung dieser Idee in nationalstaatlichen Rechtsordnungen gelang stets nur begrenzt. Heute hat der Nationalstaat als alleiniger Gestalter des Rechts an Bedeutung verloren. In der sich entwickelnden globalen Weltgesellschaft überlagern sich nationale, trans- und supranationale Rechtsräume und bilden ein uneinheitliches, teilweise widersprüchliches Regelungsgeflecht, in dem schützende Rechtsformen zunehmend flexibilisiert werden. Wie kann die Idee des Rechtsstaats unter diesen schwierigen Bedingungen gerettet werden?

Karl-Ludwig Kunz (*1947 Saarbrücken) promovierte 1976 und wurde im selben Jahr Richter. Seine Habilitation erfolgte 1983. Seit 1984 ist er Ordinarius für Strafrecht, Kriminologie, Rechtsphilosophie, Rechts- theorie und Rechtssoziologie an der Universität Bern. Zudem ist Karl-Ludwig Kunz Präsident der Bern School of Criminology und der Berner Graduiertenschule für Strafrechtswissenschaft. Er hatte ver- schiedene Gastprofessuren, z.B. an der University of British Columbia (Kanada), in Kansai (Japan) und an der China University of Political Science & Law. Karl-Ludwig Kunz ist Mitglied des Fachbeirats des Max-Planck-Instituts für Strafrecht.

Moderation: Professor Dr. Frieder Dünkel

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119 Abschlussausflug auf die Insel Hiddensee gemütlichen, zweieinhalbstündigen Über- der Fellows 2011/12 fahrt nach Kloster brachte. Dort angekom- men, bezogen wir in dem unweit des Hafens gelegenen Hotel „Hittim“ unsere Zimmer und Datum: 24. bis 25. September 2012 gönnten uns eine kleine Ruhepause. Orte: Kloster, Hotel Hitthim Am frühen Nachmittag fanden wir uns wie- der zusammen, um in Begleitung des ehe- Teilnehmer: maligen Lehrers der Schule von Vitte, Herrn Professor Dr. Margarita Balmaceda Jeschek, einen Spaziergang durch den Ort Privatdozent Dr. Roswitha Böhm zu machen und dabei die verschiedenen Se- Privatdozent Dr. Leonhard Fuest henswürdigkeiten der Insel kennenzulernen. Professor Dr. Olaf Mörke Nach der Besichtigung der Kirche und des an- Professor Dr. Birgit Recki grenzenden Friedhofs mit dem Grab Gerhart Dr. Martina Roesner Hauptmanns führte uns unser Weg zunächst Privatdozent Dr. Jörg Schuster zum Bernsteinmuseum, wo wir etliche sehr spektakuläre Exponate bestaunen konnten Hiddensee und von Herrn Jeschek nicht nur viel Wissens- wertes zum Thema Bernstein erfuhren, son- Martina Roesner dern auch erklärt bekamen, was es mit den anderen Schätzen der Ostsee, vor allem den Zum Abschluss unseres Fellowjahres stand am sogenannten „Hühnergöttern“ und „Klapper- 24. und 25. September 2012 der traditionelle steinen“, auf sich hat. Ausflug nach Hiddensee auf dem Programm. Anschließend ging es weiter zum Gerhart- Bei grauem, trübem Wetter, das schon die Hauptmann-Haus. Herr Jeschek führte uns Melancholie des nahen Abschieds vorwegzu- durch die verschiedenen Räume, die – mit nehmen schien, fuhren wir morgens zunächst Ausnahme des Arbeitszimmers – eher schlicht mit dem Taxi von Greifswald nach Stralsund ausgestattet waren. Ein besonders beeindru- und bestiegen dort die Fähre, die uns in einer ckendes Detail im Schlafzimmer waren die 120 121 kurzen Notizen und Satzfragmente, die der hinein in geselliger Runde bei einem Glas Schriftsteller im Laufe der Jahre auf die Wand Wein zusammen. neben seinem Bett geschrieben hatte. Im Anderntags war strahlender Sonnenschein, Keller konnten wir überdies eine imposante und so standen nach dem Frühstück verschie- Sammlung alter Weine bestaunen, die Zeug- dene Aktivitäten in der freien Natur auf dem nis dafür ablegte, dass Gerhart Hauptmann Programm. Die eine Gruppe machte einen auch inmitten der herben Insellandschaft kei- gemütlichen Spaziergang zum Hiddenseer neswegs auf den Rebensaft aus südlicheren Leuchtturm, die andere unternahm derweil Gefilden verzichten mochte. eine Radtour über die Insel und wanderte Während einige der Fellows nach dem Ende quer durch die Heide bis zum Strand. Dort der Führung noch in der angrenzenden Buch- sammelten wir um die Wette Hühnergötter handlung verweilten und es sich anschließend und ließen uns von Dr. Rainer Cramm die in einem Café gemütlich machten, brach der fünf Muschelarten erläutern, die man an den Rest der Gruppe zusammen mit Herrn Jeschek Stränden der Ostsee am häufigsten antrifft. auf, um trotz des regnerischen und windigen Dabei verging die Zeit wie im Fluge, und so Wetters noch bis zur höchsten Erhebung Hid- mussten wir schon bald wieder aufbrechen, densees, dem sogenannten „Dornbusch“, zu um rechtzeitig die Fähre nach Stralsund be- wandern, von wo aus man sogar die Stadtsil- steigen zu können. Während der Überfahrt houette von Stralsund sehen konnte. saßen wir teils in der Kabine, teils an Deck, Abends trafen wir uns im Restaurant des Ho- ließen uns den frischen Wind um die Nase we- tels zu einem feierlichen Abendessen, bei dem hen und verbrachten die Zeit mit angeregten wir zwei schöne Erinnerungsstücke an unsere Diskussionen. Die Rückfahrt nach Greifswald Zeit am Krupp-Kolleg überreicht bekamen. erfolgte wiederum mit dem Taxi, und so ka- Während die einen von uns sich schon vor men wir am frühen Abend wieder am Krupp- Mitternacht von der Tafel zurückzogen, um Kolleg an. Da einige der Fellows gleich am sich vom Rauschen des Regens und der Mee- nächsten oder übernächsten Tag abreisten, resbrandung in den Schlaf wiegen zu lassen, verabschiedeten wir uns voneinander sowie saßen die anderen noch bis spät in die Nacht von den Mitarbeitern des Kollegs und gingen 122 in etwas wehmütiger Stimmung auseinander – die einen, um die letzten Reisevorbereitun- gen zu treffen, die anderen, um die wenigen noch verbleibenden Tage in Greifswald als Abenddämmerung eines wunderbaren Jahres zu genießen.

123 3. Alumni-Treffen Alfried Krupp Wissenschaftskollegs im Innen- hof des „Le Croy“ zum Jahrestreffen 2012 ein. Datum: 8. bis 10. Juni 2012 Neben Wiedersehensfreude und Kennenlern- Orte: Greifswald vergnügen gab es diesmal auch einen orga- Ludwigsburg nisatorischen Programmpunkt, die Gründung Wolgast eines Vereins, in dessen Zeichen der nächste Vormittag stand. Gemeinsam mit den aktuellen Fellows berei- Alumni-Teilnehmer: teten die erschienenen Alumni die Gründung des „Alfried Krupp Alumni Campus“ vor, ei- Juniorprofessor Dr. Gregor Betz nes Vereins, der zukünftig unter anderem die Professor Dr. Hartmut Bobzin jährlichen Treffen der Alumni mit organisie- Dr. Stefan Donecker ren soll. Bereits die Aussprache über den Ent- Professor Dr. Michelle Facos wurf einer Vereinsordnung war Ausdruck der Dr. Martin Hoffmann gewohnt ausgelassenen Produktivität in offe- Hochschuldozent Dr. Marco Iorio ner und guter Atmosphäre über den Dächern Dr. Christian Kuhn Greifswalds. Einigen wird die erkenntnisthe- Professor Dr. Hanna Liss oretische Begründung in Erinnerung geblie- Dr. Anja Reichert-Schick ben sein, lieber von „anwesenden“ als von Professor Dr. Arndt Schmehl „erschienenen“ Alumni zu schreiben. Anderen Dr. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann wird sich die Entgegnung von juristischer Sei- te eingeprägt haben, über die Gründung eines Alumni-Treffen Delegationsausschusses für die Formulierung vereinsrechtlicher Einzelheiten abzustimmen, Christian Kuhn der „ausschließlich aus Germanisten und Phi- losophen“ zusammengesetzt sein sollte. Diese Am sonnigen Abend des 8. Juni 2012 fanden rücksichtsvolle Heiterkeit im wissenschaftli- sich ehemalige und aktuelle Stipendiaten des chen Austausch zwischen den Fakultäten und 124 die anregenden Gespräche sollten während Schloss- demonstrativ als Großküche einer des ganzen Treffens nicht abreißen, das dies- Landwirtschaftlichen Produktionsgenossen- mal ganz im Zeichen der Kunst des im vor- schaft (LPG) genutzt worden war. Die Notsi- pommerschen Wolgast geborenen romanti- cherungsmaßnahmen sind mittlerweile ab- schen Malers Philipp Otto Runge stand. geschlossen und die Restaurierungsarbeiten Runge war mit dem ersten Ziel des Auflugs, ruhen aus dem harmlosen Grund, dass sich dem Schloss Ludwigsburg, eng verbunden. schutzbedürftige Kammmolche in Teilen des Seine Freundschaft mit August von Klinkow- Kellers eingenistet haben. ström, dem Sohn des Eigentümers dieser seit Wesentlich elementarer war Philipp Otto 1577 erbauten Sommerresidenz des Herzogs Runges Leben mit dem heutigen Rungehaus von Pommern-Wolgast, hatte ihn oft hierher hinter der Wolgaster Stadtmauer verbunden, geführt. Von Klinkowström war neben Run- die Besucher der Insel Usedom stets auf Seite ge und Caspar David Friedrich Gegenstand der Innenstadt umfahren. Runge wurde hier der Ausstellung im Landesmuseum „Die Ge- geboren und verbrachte – krankheitsbedingt burt der Romantik“ 2010 gewesen, die die bettlägerig – mehrere Jahre in diesem Haus. bemerkenswerte regionale Konzentration ro- Hier erhielt er Privatunterricht durch den mantischer Kunst in Pommern thematisierte. Landeshistoriker und Religionspädagogen Im Bewusstsein, einen der Orte zu besuchen, Ludwig Gotthard Kosegarten, betätigte sich an denen möglicherweise ein neuer Kunst- jedoch vom Krankenbett aus kreativ. Runge stil entstanden war, erlebten wir die in Re- fertigte Scherenschnitte an, sammelte Mär- staurierung befindlichen Räume des Renais- chen und legte Grundsteine für eine Revolu- sanceschlosses. Zahlreiche Wandmalereien tionierung der Kunst, wie wir im Innenhof bei und seltsamerweise rückseitig bemalte Ta- Kaffee und Kuchen von der Gründungsdirek- peten werden von Klinkowström zugeschrie- torin dieses Museums erfuhren. In den Aus- ben. Diese Werke, ja das Schloss insgesamt stellungsräumen entbrannten nicht nur unter konnte eine Bürgerinitiative nur knapp ret- den KunsthistorikerInnen Diskussionen, wel- ten, nachdem das Schloss jahrzehntelang chen Einfluss Runge wohl auf die von Klin- dem Verfall preisgegeben worden, und die kowström zugeschriebenen Tapetenzeich- 125 nungen in Ludwigsburg gehabt habe, sondern etwa auch, welche Bedeutung freimaureri- sche Symbole in Runges Werken zuzuordnen sei. Beeindruckt von solchen Gesprächen und die durch eine Publikation Johann Wolfgang von Goethes bekannt gemachte Rungesche Innovation einer dreidimensional angelegten Farbpalette traten wir in der Abendsonne die Rückfahrt nach Greifswald an, in Vorfreude auf die zukünftigen Treffen des Krupp Alumni Vereins.

126 127 Alumni-Fellows Professor Dr. Nuhu G. Obaje des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs University in Keffi, Nigeria

Jahrgang 2007/08 Dr. Agnieszka Pufelska Universität Potsdam Dr. Safia Azzouni Humboldt Universität, Berlin Professor Dr. Tilman Seidensticker Friedrich-Schiller-Universität Jena Professor Dr. Hartmut Bobzin Friedrich-Alexander-Universität Professor Dr. Florian Steger Erlangen-Nürnberg Universität Halle-Wittenburg

Privatdozent Dr. Frank Dietrich Dr. Annette von Stockhausen Universität Düsseldorf Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Dietrich von Engelhardt Universität Lübeck Professor Dr. Stefan Voigt Universität Hamburg Dr. Christina Grummt Universität Hamburg Jahrgang 2008/09 Dr. Marina Gurskaya College of San Mateo, USA Privatdozent Dr. Rainer Bayreuther Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Professor Dr. Jan C. Joerden Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder Dr. Andreas Bedenbender Ruhr-Universität Bochum

128 Professor Dr. Michael Bohne Professor Dr. Luise Schorn-Schütte SRH Hochschule für Wirtschaft und Medien, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frank- Claw furt/Main

Professor Dr. Giovanna Brogi Bercoff Professor Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow Universität Mailand Philipps-Universität Marburg

Professor Dr. Jörg Frey Universität Zürich Jahrgang 2009/10

Dr. Martin Hoffmann Professor Dr. Michael Baurmann Universität Hamburg Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Professor Dr. Hanna Liss Juniorprofessor Dr. Gregor Betz Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Universität Karlsruhe

Professor Dr. Marco Iorio Dr. Christian Kuhn Universität Lüneburg Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Professor Dr. Mark A. Meadow Professor Dr. Li Xinrong University of California at Santa Barbara, Chinese Academy of Sciences, Lanzhou, China Universität Leiden, Niederlande Professor Dr. Hans J. Markowitsch Privatdozent Dr. Maria Elisabeth Reicher Universität Bielefeld Universität Graz, Schweiz Dr. Dr. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann Dr. Anja Reichert-Schick Universität Bukarest, Rumänien Universität Trier 129 Dr. Stefan M. Sievert Professor Dr. Michelle Facos Woods Hole Oceanographic Institution Indiana University Bloomington, USA (WHOI) in Massachussetts, USA Professor Dr. Ulrich Falk Dr. Barbara Ventura Universität Mannheim Universität Professor Dr. Alexandra Karentzos Professor Dr. Bettina von Jagow Technische Universität Darmstadt Universität Erfurt Dr. Gideon Reuveni Professor em. Dr. Dr. h.c. Hermann Wagner, University of Sussex, England PhD München Professor Dr. Arndt Schmehl Universität Hamburg

Jahrgang 2010/11 Privatdozent Dr. Martin Wrede Universität Gießen Professor Dr. Bert Becker University of Hong Kong, China Professor Dr. Reinhard Zimmermann Universität Trier Professor Dr. William J. Dodd University of Birmingham, England

Dr. Stefan Donecker Österreichische Akademie der Wissenschaft, Wien

130 Jahrgang 2011/12 Professor Dr. Folker Reichert Freiburg Dr. Elena Aronova Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge- Dr. Martina Roesner schichte, Berlin Universität Wien, Österreich

Professor Dr. Margarita Balmaceda Dr. Jörg Schuster Seton Hall University, USA Universität Marburg

Privatdozent Dr. Roswitha Böhm Frankreich-Zentrum der Freien Universität Berlin

Privatdozent Dr. Leonhard Fuest Universität Hamburg

Professor Dr. Karl-Ludwig Kunz Universität Bern, Schweiz

Professor Dr. Olaf Mörke Universität Kiel

Professor Dr. Birgit Recki Universität Hamburg

131 Abbildungsnachweis Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin: 96, 100 Margarita Balmaceda: 22, 23 Rainer Cramm, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald: 121, Umschlag hinten Deutsches Historisches Museum, Berlin: 95 Christin Klaus, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald: 2, 121, 172 Katja Kottwitz, Stralsund: 17, 47, 110 Arnd Lange: 65 Vincent Leifer, agentur van ryck: 4, 10, 20, 30, 42, 52, 63, 74, 82, 92, 102, 114-119, Umschlag vorne Monumenta Germaniae Historica, München: 85 Folker Reichert: 87, 88 www.flickr.com: 34, 35 www.iconoclasistas.com: 32 www.wikipedia.org: 67

132 133 Impressum Redaktion: Christin Klaus unter Mitarbeit von Rainer Cramm, Lisa Keßler, Lusia Pitschan und Christian Suhm Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Gestaltung: Christin Klaus Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Druck: Druckhaus Panzig, Greifswald

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