AUSGABE FÜNFZEHN CLINT EASTWOOD MAX COCKTAILS MIT des Streit’sdes Filmtheater Die GeschichteDie 1960ern den Kiez aufmischten Kiez den 1960ern DIE WEIBLICHEN Wie The Liverbirds inden BEATLES DER VERGESSENE HAMBURGER FOTOGRAF HAMBURGER VERGESSENE DER WERKMEISTER Porträt des Künstlers WOLFGANG WOLFGANG als Sammler als

ISBN 978-3-946677-60-4 2021-1 € 9,80

HAMBURG HISTORY LIVE Editorial

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER,

vor Ihnen liegt eine neue Ausgabe von His- tory Live, deren Beiträge wieder einmal faszinierende Orte und Aspekte der Hamburgischen Geschichte beleuchten und zugleich neue Ausstellungsprojekte der Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) vorstellen. Gerade Letzteres mag Sie vielleicht überra- schen, denn zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes hat es die Covid-19-Pandemie den Museen in unserer Stadt – wie vielen anderen Kultureinrichtun- gen und Branchen auch – leider noch immer nicht möglich werden lassen, ihre Türen dauerhaft wieder für das Publikum zu öffnen. Trotzdem wirken in den Über den Dächern von Hamburg: Prof. Dr. Hans-Jörg Czech auf dem Turm Einrichtungen der SHMH, wie ebenfalls in zahllosen des Museums für Hamburgische Geschichte anderen Betrieben, alle Teams konstant und motiviert an den verschiedensten Aufgabenstellungen. Selbstredend gestaltet sich die museale Arbeit „hinter den Kulissen“ auch bei uns völlig anders, als in früheren Zeiten. Hygiene- und Arbeitsschutzstan- dards, digitale Kommunikation und mobiles Arbeiten im Homeoffice – all das ist längst eingeübte Praxis machen. Aus diesem Grund haben wir die Direktorin und verlangt den Beteiligten zuweilen viel zusätzli- Bettina Probst sowie Kolleginnen und Kollegen ihres chen Einsatz ab. Trotzdem ist es unser Ehrgeiz, auch Teams gebeten, einmal ihre Erwartungen, Wünsche weiterhin den Ausbau der digitalen Angebote auf der und Herausforderungen bei diesem anspruchsvollen SHMH-Website voranzutreiben und voller Optimis- Projekt zu schildern. mus neue Sonderausstellungsprojekte zu realisieren, Gut 50 Jahre vor der Eröffnung unseres größten damit unser Publikum dann, wenn der ersehnte Tag stadthistorischen Museums im Jahre 1922 erlebte der dauerhaften Wiederöffnung endlich da ist, ein Hamburg mit der Gründung des Deutschen Kaiserrei- spannendes Portfolio aus schon bekannten, aber auch ches 1871 einen Prozess der Dynamisierung und Mo- völlig neuen Ausstellungsangeboten vorfinden kann. dernisierung, der zum Teil bis heute seine tiefen Sehnlichst auf Besucherinnen und Besucher war- Spuren hinterlassen hat. Wie sich Hamburg in dieser tet im Museum für Hamburgische Geschichte (MHG) Zeit verändert hat und wie sich die republikanische etwa die neue Sonderausstellung über den Fotografen Mentalität der Hansestadt mit einer Bewunderung für Max Halberstadt, dem die Titelstory dieses Heftes ge- die kaiserliche Politik verbinden ließ, erfahren Sie in widmet ist. Es würde mich freuen, wenn wir Ihre einem Beitrag, der durch die Augen des damaligen Neugier durch die Lektüre wecken können. Im Jenisch Dokumentarfotografen Georg Koppmann eine Zeitrei- Haus steht die persönliche Sammlung von Gemälden se ins späte 19. Jahrhundert unternimmt. sowie historischen und zeitgenössischen Druckgrafi- Ich hoffe, dass es gelingt, mit diesen und den wei- ken aus dem Besitz des Hamburger Künstlers Wolf- teren Beiträgen des Heftes Ihr Interesse an den vielfäl- gang Werkmeister zur Besichtigung bereit. Als Ein- tigen Facetten der Hamburgischen Geschichte erneut stimmung finden Sie im Heft einen Artikel, der ihn zu beleben und wünsche Ihnen und mir, dass wir uns und seine umfangreiche Sammlung eindrucksvoll recht bald wieder in den Räumlichkeiten unserer Mu- porträtiert. Einen Vorausblick auf eine für den Herbst seen begegnen können. Dass Museen selbst unter 2021 im Altonaer Museum geplante Ausstellung zu pandemiebedingt notwendigen Einschränkungen ei- Hamburg als Film- und Kinostadt bietet schon jetzt nen sicheren und inspirierenden Aufenthalt für Besu- ein Beitrag über die Geschichte des ehemaligen cherinnen und Besucher gewährleisten können, ist in Streit’s Kinos am Jungfernstieg, in dem zahlreiche den Öffnungsphasen der letzten zwölf Monate nicht Filmstars einst glamouröse Premieren feierten. nur in Hamburg demonstriert worden. Zu den laufenden Aufträgen an die SHMH mit hoher Dringlichkeit zählt auch die Modernisierung Viel Vergnügen bei der Lektüre!

FOTO: MATTHIAS SEEBERG MATTHIAS FOTO: der Haupthäuser. Das MHG wird hier den Anfang Ihr Hans-Jörg Czech

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4 INHALT

EDITORIAL 03

FUNDSTÜCK 06 Pest-Amulett & Impf-Ampulle

BUCHTIPPS 08 14 Gute Lektüre aus Hamburg DIE SHMH 12 Zahlen und Fakten

TITELGESCHICHTE 14 Der vergessene Fotograf: Max Halberstadt

STADTBILD 32 Siegfried Wedells’ Villa am Dammtor

KÜNSTLER UND IHRE WERKE 42 Der Schriftsteller Wolfgang Hegewald

76 HISTORISCHE EREIGNISSE 54 Hamburg im Kaiserreich

DER BESONDERE BLICK 66 Künstler und Sammler: Wolfgang Werkmeister

KULTUR IM WANDEL 76 Das Filmtheater in Streit’s Haus

LEBENSLINIEN 88 Mary Dostal und The Liverbirds

HINTER DEN KULISSEN 98 Das Museum für Hamburgische Geschichte

TERMINKALENDER 108 Ausstellungen bis Herbst 2021

SERVICE 111 Register und Impressum

ZEITZEUGNIS 112 Das Tagebuch eines PEKING-Fahrers

STADTGESICHTER. EINE KOLUMNE 114 Oscar und Gertrud Troplowitz FOTOS: JÉROME GERULL (2), SHMH/SINJA HASHEIDER, SHMH, JAKOB BÖRNER, VG BILD-KUNST, BONN 2021, SPEICHERSTADT MUSEUM, HORST JANKE/ARCHIV AKKERMANN JANKE/ARCHIV MUSEUM, HORST BONN 2021, SPEICHERSTADT BILD-KUNST, BÖRNER, VG SHMH, JAKOB HASHEIDER, (2), SHMH/SINJA GERULL JÉROME FOTOS:

5 FUNDSTÜCK Gestern

DAS PEST-AMULETT Im ausgehenden Mittelalter wurde die als Schwarzer Tod bekannte Pestilentia häufi g noch als Strafe Gottes interpre- tiert, da über den eigentlichen Erreger, das Bakterium Yersinia pestis, noch nichts bekannt war. Um sich gegen die Pest zu wappnen, wurden unter anderem reich verzierte Medaillen als Amulett gegen die todbringende Krankheit getragen. Der Glaube an die Wirkung dieser Pest-Amulette erwuchs aus einer Erzählung aus der Exodus-Geschichte des Alten Testaments: Als die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste ungeduldig wurden und sich undankbar gegenüber ihrem Gott zeigten, schickte ihnen dieser zur Strafe feurige Schlangen. Als Moses um Vergebung für sein Volk bat, erwiderte ihm Gott, sie sollten eine bronzene Schlange an einem Stab aufrichten und deren Anblick könne die Bisse der feurigen Schlangen heilen. Von der Abbildung dieser Szenerie auf den Amuletten versprach man sich eine ebensolche heilende Wirkung von der Pest. Verstärkt wurde die Wirkung noch durch den Granat, der die Amulette schmückte und der ebenfalls als Heilmittel gegen die grassierende Seuche galt. Der abgebildete Pesttaler aus der Sammlung des Museums für Hamburgische Geschichte stammt aus dem damaligen Joachimsthal in Tschechien und wurde vermutlich in der Zeit zwischen 1526 und 1529 von dem aus Sachsen stammenden Münzmeister Ulrich Gebhart angefertigt. (R.) GERULL SHMH (L.), JÉROME FOTOS:

6 FUNDSTÜCK Heute

DIE IMPF-AMPULLE Historische Museen sind zwar überwiegend auf die Vergangenheit fokussiert, aber trotzdem immer auch an spannenden Objekten aus der Gegenwart interessiert. Mit Beginn der Corona-Pandemie entstand im Museum für Hamburgische Geschichte unter dem Titel #CoronaCollectionHH ein Sammlungsprojekt, in dem möglichst viele signifikante Artefakte zusammengetragen werden, die für eine Dokumentation des Alltags in der Pandemie von Relevanz sind. Eines der bisherigen Highlights dieser Sammlung ist die Ampulle der ersten in Hamburg verwendeten Impfdosis, die am 27. Dezember 2020 im Hospital zum Heiligen Geist in Poppenbüttel zum Einsatz kam. Es handelt sich um ein Fläschchen, in dem der Impfstoff der Firma BioNTech enthalten war, den die Mainzer Firma in Kooperation mit dem New Yorker Pharmaunternehmen Pfizer entwickelt hat. Das Impfstoff-Fläschchen wurde dem Museum für Hamburgische Geschichte im Januar dieses Jahres von der Hamburger Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration für das Sammlungsprojekt #CoronaCollectionHH übergeben. In einem beiliegenden Schreiben hat Senatorin Dr. Melanie Leonhard bestätigt, dass dieses Injektionsfläschchen das erste gewesen ist, das in Hamburg geöffnet wurde.

7 BÜCHER

BESONDERE ZEICHEN Im Kopf gibt’s keine Ausgangssperre: Buchtipps für die geistige Durchlüftung

EIN ECHTER HAMMA Ihr verdankt die Elbmetropole ihren Namen – der Hamma­ burg. Wohl schon im 8. Jahr­- hundert als sogenannte ­Niederungsburg entstanden, fungierte die Anlage, die sich laut Ausgrabungen im Jahr 2014 auf dem heutigen Domplatz direkt am Speersort befand, als Handelsplatz für den Norden des Karolingi­ schen Reiches. Um diesen Ursprungsort des heutigen Hamburg ranken sich seit eh und je Mythen und Legen­ den. Der Comiczeichner und Karikaturist Jens Natter hat die wahre Geschichte aus Hamburgs frühesten Jahren nun kongenial in eine Graphic Novel verpackt. Er schildert mit feinem Strich und ebenso feinem Witz die Mission des Benediktinermönches Ansgar, die Hammaburg gegen die einfallenden Wikinger zu verteidigen und die wilden Heiden zu friedlichen Christen­ menschen zu bekehren. Wer hier an Abenteuer denkt, liegt goldrichtig, kann sich aber auf gesicherte historische Erkennt­ nisse verlassen. Als fachliches Gütesiegel ist der Band mit ei­ nem Vorwort von Rainer-Maria Weiss versehen, dem Direktor des Archäologischen Museums Hamburg. Jens Natter: „Hammaburg“, Ellert und Richter Verlag, 96 Seiten, 16,95 Euro

8 PER BAHN DURCH HAMBURGS KULTURGESCHICHTE Die Literatur über Hamburgs Kulturgeschichte ist so vielfältig wie diese selbst. Doch Jan Bürgers „Zwischen Himmel und Elbe“ bildet allein schon mit seinem topografischen Erzähl­ prinzip eine echte Besonderheit. Der Schriftsteller erkundet die kulturelle Entwicklung der Hafenstadt in seinem klugen und wohltuend unterhaltsamen Buch entlang der städtischen U- und S-Bahn-Linien. Auf dieser überraschungsreichen Reise begegnen einem bei der Lektüre Musiker und Maler, Schrift­ steller und Gelehrte, Exzentriker und bodenständige Hansea­ ten aus verschiedenen Jahrhunderten. Dabei sorgen gerade Bürgers bewusster Verzicht auf chronologische Strenge und seine Fokussierung auf den jeweiligen Genius Loci der betreffenden Stadtviertel für immer neue Einblicke in die Historie der Kulturmetropole Hamburg. Jan Bürger: „Zwischen Himmel und Elbe. Eine Hamburger Kulturgeschichte“, C. H. Beck Verlag, 384 Seiten, 24 Euro

DIGITAL IST BESSER VÖGEL SEHEN DICH AN! „Omnia mutantur“ stellte schon „Du siehst aus, wie ich mich fühle“ heißt eine Rubrik in der der antike Dichter Ovid in seinen Wochenzeitung „Die Zeit“, in der oft sehr kuriose Fotos von oft „Metamorphosen“ fest. Doch eine sehr kuriosen Tieren als Spiegel unserer Stimmungen dienen. disruptive Dynamik, wie sie uns die Der Hamburger Fotograf Tom Krausz hat diese Idee anhand Digitalisierung beschert, konnte er von zahlreichen Vogelporträts zu einem künstlerischen Projekt nicht voraussehen. Zum Abschluss gemacht, das in diesem Prachtband zusammengefasst ist und der erfolgreichen Veranstaltungs­ von humorvollen Geschichten der Schriftstellerin und Journa­ reihe eCulture-Salon, die von listin Elke Heidenreich und dem Schweizer Ornithologen Urs der Stiftung Historische Museen Heinz Aerni sowie einem Essay des Literaturwissenschaftlers Hamburg (SHMH) gemeinsam Dietmar Schmidt eingerahmt wird. Vögel wie dem Andenkondor, der Harpyie, dem Spatz mit der Behörde für Kultur und und dem Schuhschnabel begegnen wir in diesem Buch als faszinierende Individuen, die Medien organisiert wurde, sind die in ihrem mal skeptischen, mal verletzlichen und mal kämpferischen Ausdruck an Anwälte, wichtigsten Grundsatztexte über Mafiosi und Hausfrauen, aber auch an Charmeure, Punks und strenge Gelehrte erinnern. Strategien und Ideen zur Digitali­ Tom Krausz, Elke Heidenreich, Urs Heinz Aerni: „Aves – Vögel. Charakterköpfe“, Dölling sierung im Kulturbereich in einem und Galitz Verlag, 176 Seiten, 32 Euro Sammelband erschienen. Unter dem Titel „Transformation“ versam­ melt das von der SHMH heraus­ gegebene Buch in vier Kapiteln ein UNERFÜLLTER SÜDSEETRAUM breites Spektrum an Reflexionen zu „Raus aus diesem Wilhelm-Zwo-Reich, diesem Schweine­ einem der derzeit meist diskutier­ laden“, ruft Hans seinem Freund Erwin zu, nachdem er ten Themen, darunter Beiträge von von der Insel Kabakon gehört hat. Dort, im fernen Deutsch- Hamburgs Kultursenator Carsten Neuguinea, lebt der Nürnberger Apothekengehilfe August Brosda, „Zeit“-Feuilletonist Hanno Engelhardt als Anführer einer lebensreformerischen Nudis­ Rauterberg und des Soziologen tenkolonie, die für die beiden schwulen Jungs aus Kiel zum Harald Welzer. Selbstverständlich Sehnsuchtsziel wird. Nur auf Kabakon, glauben Hans und ist der Band auch als E-Book Erwin, können sie ein freies Leben jenseits der Prüderie des erhältlich. Deutschen Kaiserreichs führen. Spannend, atmosphärisch „Transformation. Strategien und und mit viel Zeitkolorit erzählt Jörgen Bracker, der lang­ Ideen zur Digitalisierung im Kul- jährige Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte, eine Kriminalgeschichte aus turbereich“, Transcript Verlag, der Kaiserzeit, in deren Mittelpunkt zwei junge Männer und deren tragische Suche nach 178 Seiten, 25 Euro einem selbstbestimmten Leben stehen. Jörgen Bracker: „Jenseits der Nebelwand. Der Traum von Kabakon“, Elbaol Verlag, 340 Seiten, 13,99 Euro

9 BÜCHER

VERSTECKTE KUNST HIER KNALLT’S! LET THERE BE COMICS Die ausgebildete Archäologin Vor knapp 20 Jahren entstanden Im Jahr 1995 setzten Tocotronic Annett Rensing tut das, was die „Schwarzen Hefte“ des „Ham­ mit ihrem Debütalbum „Digital sie am besten kann: Schätze aus­ burger Abendblatt“ – eine Reihe ist besser“ einen Meilenstein der graben. Für „111 Hamburger Meis­ von Regionalkrimis in der Tradition Hamburger Pop­Geschichte, terwerke, die man gesehen haben von Groschenheften. Wie passend, voller Slogans für Häuserwände. muss“, hat die gebürtige Osna­ denn nicht nur bietet die Hanse­ Stichwort: „Ich möchte Teil einer brückerin die Hansestadt mit dem stadt mit ihren sehr unterschiedli­ Jugendbewegung sein“. Ein Fahrrad erkundet, um ihren Lesern chen Stadtteilen, von Blankenese Vierteljahrhundert später hat die versteckte und eher unbekannte bis Wilhelmsburg, von Volksdorf konsequent anti­deutschtümelnde Schmuckstücke abseits der gän­ bis Billstedt, genau die richtige Band lyrische und musikalische gigen Touristenpfade zu zeigen. Auswahl an Milieus für Kriminal­ Metamorphosen durchlaufen – Zum Beispiel das motorbetriebene geschichten. Auch hatte sie stets dementsprechend vielseitig ist Gemälde vom Alsterpanorama, jede Menge bekannter und talen­ dieses Comicbuch. In „Sie wollen das in Bewegung gerät. Oder das tierter Autoren von Krimis am Start: uns erzählen“ arbeiten zehn Co­ Wandgemälde von Anita Rée in Gunter Gerlach, Robert Brack, mic­Künstler Songs der Band zu John Neumeiers Ballettschule. Klaus Kempe, Carmen Korn, Birgit illustrierten Kurzgeschichten aus. Oder auch den „Faulenzer“ in Lohmeyer, Petra Oelker und viele Mit dabei sind unter anderem Jim Volksdorf, eine Bronzeskulptur des mehr. Die „Abendblatt“­Krimi­Reihe Avignon, Julia Bernhard, Tine Fetz Hamburger Künstler Karl Heinz begann mit „Rentner in Rot“ von und Sascha Hommer. Eine schöne Engelin (1924–1986), die Volks­ Frank Göhre, insgesamt 63 Storys Zugabe: Tocotronic­Schlagzeuger dorfs Gemütsruhe zum Ausdruck erschienen im Laufe der Jahre. In Arne Zank hat einen Comicstrip bringt. Darüber hinaus hat Rensing diesem Best­of­Band sind über das Kennenlernen der Band­ fast zugewucherte Skulpturen in 15 besonders schöne Geschichten Mitglieder beigesteuert. Und Sänger der City Nord oder beeindruckend versammelt. Dirk von Lowtzow hat die ausge­ kunstvolle Jugendstilfenster in der „Alstertod und Hafenmord. Das wählten Songs mit Statements und Kunsthochschule entdeckt. große Hamburg-Krimi-Lesebuch“, Anmerkungen versehen. Annett Rensing: „111 Hamburger Junius Verlag, 612 Seiten, 18 Euro „Sie wollen uns erzählen. Zehn Meisterwerke, die man gesehen Tocotronic Songcomics“, Ventil haben muss“, Emons Verlag, Verlag, 128 Seiten, 25 Euro 240 Seiten, 16,95 Euro

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Corona-einJahr_1-1.indd 1 30.03.21 16:22 DIE SHMH Zahlen und Fakten NUMEROLOGIE Das Museum für Hamburgische Geschichte ist eines der drei Haupthäuser der SHMH – und wird bald umfassend modernisiert. Eine gute Gelegenheit, sich einen kleinen Überblick zu verschaffen … 9

Standorte in Hamburg, diesmal: Museum für Hamburgische Geschichte

Altonaer Museum

Museum der Arbeit

Jenisch Haus Hafenmuseum Hamburg 1263 Glasscheiben wurden 1989 für den Bau des Glasdaches über Speicherstadtmuseum Hamburg dem Innenhof verbaut. Aus Denkmalschutzgründen durfte nur ein möglichst geringer Eingriff in die historische Bausubstanz Kramer-Witwen-Wohnung erfolgen. Deshalb kam nur eine sehr leichte, aber widerstandsfähige Dachkonstruktion in Frage, die ausreichend Witterungsschutz Millerntorwache bietet, um den Innenhof für Ausstellungen nutzen zu können

Heine Haus

+ 1 Deutsches Hafenmuseum

. 530Sammlungsobjekte befinden sich als Zeugnisse der000 Geschichte in den Magazinen des Museums. Seit 2008 wurden rund 140.000 Objekte digital erfasst. Eine kleine Auswahl der meist unbekannten und doch hochrangigen Sammlungen findet sich nun auf Wikimedia Commons

12 Originalgröße

Jahre Hamburger Geschichte bildet der historische Rundgang Millimeter Durchmesser misst das ab – von der Mittelal- kleinste Objekt in der Sammlung: ter-Abteilung „Hamme, 5ein Gold-Dukat aus Nürnberg, um Burg und Hansestadt“ 1700. Mit gerade mal 0,1 Gramm bis hin zur jüngst ist es übrigens auch das leichteste eröffneten Abteilung „Taktgeber Hafen“ 1200

18.600 Kilogramm Leergewicht: der Personenzugwagen XU 1259 DRM, gebaut von Van der Lüppen und Charlier Deutz. Es ist das schwerste Objekt in der Sammlung des Museums 260 Weichen und 1200 Meter Gleislänge bilden die Spur 1-Modellbahnanlage im zweiten Stock ILLUSTRATION: FREEPIK, EIKE HAHN ILLUSTRATION:

13 M

Selbstporträt mit Kamera Das Foto mit vorgesetztem Gelbfilter ist mit dem Lumière’schen Autochrom- Verfahren entstanden TITELGESCHICHTE Max Halberstadt M

HALBERSTADTA

Max Halberstadt war in den 1920er-Jahren einer der bekanntesten Porträtfotografen Hamburgs. Große Popularität erlangten die Aufnahmen von X seinem Schwiegervater Sigmund Freud. Doch trotz der ikonografischen Porträts, ist Halberstadt heute fast vergessen. Eine Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte ruft sein Leben und Werk wieder in Erinnerung

FOTO: SAMMLUNG SPANGENTHAL, ENGLAND SPANGENTHAL, SAMMLUNG FOTO: TEXT: ROLF SACHSSE

15 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Das Porträt von Sigmund Freud als bärtigem Herrn mit distanziertem Blick und einer Zigarre in der Hand – die meisten haben dies vor Augen, sobald der Name des berühmten Psychoanalyti­ kers fällt. Wie bei Van Goghs „Sonnenblumen“ ist es nicht nur ein Bild, das Berühmtheit erlangt hat, sondern eine Gruppe ähnlicher Varianten. Freud wird einmal von links oder von rechts gesehen, er steht oder sitzt, hält eine Zigarre in der Hand oder nicht, trägt eine Brille aufgesetzt oder nicht. Aber alle Bilder des weltberühmten und hoch umstrittenen Psychiaters eint ein Element: der feste, durchdringende Blick, der mit ernster Mi­ Dmik einhergeht. Für diesen Eindruck ist die ganz spezifische Beleuchtung, die Max Halberstadt seinem Schwiegervater zukommen lässt, ein ganz wesentliches Element. Mit einem weichen Hauptlicht aus der so genannten Traut­Lampe, einer Erfindung des Münchner Theaterfotogra­ fen Henry Traut, wird an einer nahen Wand ein ebenso weicher Schatten erzeugt, der deutlich macht, dass das Bild in einem Studio entstanden ist, also den Rang eines Artefakts beansprucht. Die Fotografie resultiert aus einer gemeinsamen Anstrengung von Fotograf und Fotografiertem und vermittelt auch ein wenig von dem Eindruck, den der Fotograf als Schwiegersohn auf den Wis­ senschaftler gemacht hat. Und der ihn einst als „zärtlicher, feiner und doch nicht schwacher Mensch“ beschrieb. Kraftvoll startete Max Halberstadt in seine Karriere. Nach dem Realgymnasium gleich ein Volontariat und die Ausbildung beim damals bes­ USA ROSENTHAL, / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT FOTO: Bratwurststand auf dem Altonaer ten Hamburger Porträtfotografen Rudolph Dühr­ Fischmarkt, undatiert koop; es folgt eine vier­ bis fünfjährige Wander­ zeit durch eine Reihe deutscher Fotoateliers. Schließlich meldet er sich 1907 in Hamburg als Fotograf an und bezieht 1908 sein erstes Atelier an der Bleichenbrücke, Ecke Neuer Wall. Kurz vor der Hochzeit mit Sophie Freud wird 1912 ein neu­ es großes Atelier am Neuen Wall bezogen. Ein klares Signal: Hier etabliert sich ein Fotograf u

16 TECHNISCH IST HALBERSTADT EIN ALLROUNDER, WIE ER IM BUCHE STEHT

17 Ikonografi sch: Eines der be- rühmten Porträts von Halberstadts Schwiegervater Sigmund Freud, undatiert

18 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

FREUD ÜBER HALBERSTADT: „... EIN ZÄRTLICHER, FEINER UND DOCH NICHT SCHWACHER MENSCH“

blättert. Wer sich so zeigt, will die Großen und Mächtigen porträtieren, ganz gleich ob in Blei­ stift, Tempera und Öl oder mit dem Fotoapparat.

EIN TECHNISCHER ALLROUNDER So kommt es denn auch: Die Porträts von Sig­ mund Freud stehen pars pro toto für das gesamte lichtbildnerische Werk, das 1920 in einer Sonder­ nummer der Zeitschrift Photofreund gefeiert wird. Da es zu dieser Zeit in Hamburg eine ganze Reihe von Fotografen gibt, die dem gesellschaft­ lichen Porträt frönen, hebt Max Halberstadt sehr geschickt ein spezielles Gebiet hervor, das ihn in Hamburg nahezu einzigartig macht: das Kinder­ bild. Eine herausfordernde Aufgabe, die psycho­ logisches Feingefühl erfordert. Denn zum einen muss Halberstadt die Kinder im Ambiente des Fotostudios mit großen Lampen und Apparaten

Buchveröff entlichung von 1930, die Max Halberstadt fröhlich und ungezwungen wirken lassen. Zu­ auf dem Titel als Porträtisten nennt dem muss er dafür sorgen, dass sie möglichst stillhalten, um eine klare Aufnahme zu erhalten. Die zwei kleinen Nackten der Familie Wolff sind schon eine Herausforderung, aber kein Pro­ blem. Selbst die Herkulesaufgabe, ein Gruppen­ bild des Rabbiners Joseph Carlebach mit seinen neun Kindern aufzunehmen, bewältigt Max Halberstadt mit Leichtigkeit. Wann immer der Por trätist Max Halberstadt gelobt wird – und mit der Ambition auf großes Ansehen in der das passiert oft in den Fachzeitschriften der Hamburger Gesellschaft. Wie stark diese Ambiti­ 1920er­ Jahre, – kommt neben der Erwähnung on schon vor der Geschäftseröffnung war, macht der einen oder anderen Berühmtheit seine be­ eine kleine Serie von Selbstporträts deutlich, die sondere Be fähigung und Qualität im Kinder ­ Max Halberstadt 1902 während eines sonst nicht bild zur Sprache, ganz wie bei seiner New Yorker näher bezeichneten Aufenthalts in Frankfurt am Kollegin Gertrude Käsebier, damals eine welt­ Main aufnahm: Eine eher zurückhaltende Drei­ berühmte Kinderfotografin. viertel­Standansicht vom Knie aufwärts im Sonn­ Technisch ist Max Halberstadt ein Allroun­ tagsanzug mit Gehstock und Handschuhen, da­ der, wie er im Buche steht – er ist in dieser Hin­ neben ein durchaus flottes Bild vom fleißigen sicht moderner als viele seiner Zeitgenossen und Handwerker im gestärkten Kittel mit der linken richtet seine Arbeit stärker an internationalen Hand an der Hüfte und der rechten entschlossen Trends der Bildverarbeitung aus als deutsche Kol­ um den Druckluft­Auslöser geballt. Und schließ­ legen. Selbstverständlich hat er bei Dührkoop lich ein sehr modernes Bild vom rauchenden jun­ und während seiner Wanderschaft gelernt, wie

FOTOS: MAX HALBERSTADT / SAMMLUNG SPANGENTHAL, ENGLAND (L.), SAMMLUNG WEINKE (R.) ENGLAND (L.), SAMMLUNG SPANGENTHAL, / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT FOTOS: gen Mann, der in einem illustrierten Magazin man die sogenannten Edeldrucke herstellt, die u

19 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

aus jedem fotografierten Porträt eine Art druck­ werden muss und nicht kopiert werden kann. Ein grafisches Kunstwerk machen. Solche Bilder pro­ weiterer Grund für die ökonomische Unbrauch­ duzieren die Kollegen Bieber und Schallenberg in barkeit dieses Verfahrens ist die Belichtungszeit Hamburg mit großem Erfolg. Aber schon das be­ – sie ist rund 20 Mal länger als bei den gebräuch­ rühmteste Bild von Max Halberstadt, das Bildnis lichen Schwarz-Weiß-Platten; für sein Selbstpor­ von Sigmund Freud, kommt als Foto daher, ist trät dürfte Halberstadt rund acht Sekunden still­ schlicht auf einem guten, eher technischen gehalten haben. Barytpapier abgezogen und wird in dieser Weise zur Illustration von Zeitschriften und Büchern HAUS-ALBEN ZUR SELBSTDARSTELLUNG weiterverarbeitet; so haben es Alfred Stieglitz Seine großen technischen Qualitäten kann Max und die New Yorker Protagonisten der „straight Halberstadt bei einem weiteren Genre einsetzen, photography“ vorgemacht. Auch mit der Farbe das er bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit ei­ im Foto hat sich Halberstadt beschäftigt, wieder nigem Erfolg anbietet: Er fotografiert die Villen ausschließlich im Sinn einer fotografischen Echt­ und Wohnhäuser Hamburger Familien, vor­ heit – sein farbiges Selbstporträt mit Kamera nehmlich der gut betuchten. Aus seinen Bildern samt vorgesetztem Gelbfilter ist mit dem Lu­ von Wohn­ -, Schlaf-, Gästezimmern und Küchen mière’schen Autochrom-Verfahren entstanden. werden kleinere und größere Alben zusammen­ Ein solches Bild ist zum Verkauf denkbar un­ gestellt, die nicht nur den Architekten der Häuser geeignet, denn es entsteht ein Diapositiv, das zur Werbung dienen können, sondern vor allem durch einen speziellen Betrachter angesehen den Hausbesitzern als repräsentatives Element

20 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Interieurs aus einer vergangenen Zeit: Innenaufnahmen einer Villa in Hamburg-Win- terhude, undatiert

der Selbstdarstellung zur Verfügung stehen. Die probe, denn da kann er noch ein wenig Einfluss Alben sollen zeigen, dass man sich durchaus auf die Lichtregie nehmen, die sonst in den meis­ nach den Vorbildern aus dem englischen The ten Fällen für das damals lieferbare fotografische Furnisher & Decorator oder mindestens nach der Material zu kontrastreich ist; die Emulsionen Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration einzu­ konnten starke Unterschiede von Licht und richten wusste. Bilder von Max Halberstadt kön­ Schatten noch nicht darstellen. Bei solchen Gele­ nen neben Arbeiten von berühmten Kollegen wie genheiten sind dann vermutlich auch die Schau­ Harry Bedford Lemere aus London oder Walde­ spieler­Porträts entstanden, die die Hamburger mar Titzenthaler aus Berlin bestehen. Es passt Illustrierte Zeitung auf die Titelseite ihrer Ausgabe zur aktuellen Wiederentdeckung von Max Hal­ vom 1. April 1926 montiert. Alles lacht über einen berstadt, dass die sogenannten Haus­Alben über gelungenen Scherz; fünf von sechs Bildern stam­ fast 100 Jahre vergessen waren und in den letzten men aus der Kamera von Max Halberstadt. Einige Jahren vermehrt als familiäre Fund­ oder Muse­ Wochen später wird die lächelnde Operetten­ umsstücke wieder auftauchen – man sollte auf sängerin Emmy Sturm noch einmal zum Star des dem eigenen Dachboden danach suchen. Titelbilds, wieder mit einem Foto von Max Hal­ Im Verlauf der 1920er­Jahre verändert sich berstadt, der damit zum Bildlieferanten der neuen die Welt, auch die der Hamburger Fotografie. illustrierten Presse – mit ihren Bild­ statt Text­ Max Halberstadt macht weiter Kinderbilder und geschichten – geworden ist. Neue Drucktechni­ geht zudem viel ins Theater. Dort fotografiert er ken, neue Formen der Bildmontage machen ab

FOTOS: MAX HALBERSTADT / PRIVATBESITZ MAX HALBERSTADT FOTOS: die Schauspieler, meist während der Kostüm­ Mitte der 1920er­Jahre ganz neue, moderne u

21 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Gestaltungen möglich – auch optisch sind Kaiser­ reich und bürgerliche Behäbigkeit überwunden, zumindest in den neuen Medien.

KUNSTVOLLE FOTOMONTAGEN Wieder einmal erweist sich Max Halberstadt als einer, der in seinem Fach ausgesprochen vielsei­ tig ist: Für einen „November­Almanach“ der „Hamburger Gruppe“ – einem Zusammen­ schluss von Künstlern verschiedenster Genres – produziert der Fotograf optische Charakterisie­ rungen in Form von Fotomontagen. Sei es für den Architekten Fritz Höger oder für den Orgel­ bauer und Schriftsteller Hans Henny Jahnn, im­ mer wird ein Porträt mit Aufnahmen und Reproduk tionen aus dem eigenen Werkzusam­ menhang kombiniert. Bei Jahnn sind es Porträt, Glocke, Orgelpfeifen, ein Spielwerk und eine Theaterszene, die eine genuin fotografische Kombination bilden. Bei Höger verschwindet das Porträt hinter Zeichnungen und Fotografien, wo­ bei der Duktus der schweren Kohlezeichnungen das expressionistische Element seiner Architek­ tur hervorhebt. Die Illustrationen des „Novem­ ber­Almanach“ zeigen das enorme Können des Fotografen allein dadurch, dass er es schafft, sämtliche damals bekannten Formen der Foto­ Klare Botschaft: montage in einem Bild zu vereinen: Collage, Ne­ Max Halberstadt gativmontage, Reliefierung und Beschriftung ge­ präsentiert sich auf diesem hen eine ebenso unauflösliche wie undurch­ Selbstporträt als dringliche Mischung ein. selbstbewussten, Dass Max Halberstadt gewillt ist, sein techni­ ambitionierten Fotografen sches Können gewinnbringend einzusetzen, zei­ gen zwei Eigenwerbungen aus den 1920er­Jah­ ren, die der Form nach als Anzeigen in hochwer­ tigen Publikationen wie Messe­ und Ausstel­ lungskatalogen oder industriellen Festschriften zu finden sein sollten. Eine Anzeige mit dem Ti­ tel „Ihr Mitarbeiter. Der Photograph Max Hal­ berstadt“ zeigt ihn hinter einem Trockengestell für entwickelte Glasplatten; eine davon hält er wie zur Prüfung ihrer Qualität hoch – es ist ein Negativ, das die Toreinfahrt einer Fabrik zeigt, AUCH MIT mit Lastwagen, Fabrikhalle und einem hohen Kran auf der rechten Seite. Halberstadt preist EIGENWERBUNG sich hier als Industriefotograf an. Seine Witwe wird später einige Unternehmen nennen, für die WUSSTE HALBERSTADT er gearbeitet hat, gut möglich, dass das gezeigte SEIN KÖNNEN Negativ aus einem solchen Auftrag stammt. Das zweite Arbeitsfeld, für das sich Max Halberstadt GEWINNBRINGEND mit einer kleineren, querformatigen Anzeige an­ preist, garantiert das moderne Leben schlecht­ EINZUSETZEN hin: die Werbung, damals noch Reklame gehei­

22 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Kunstvoller Kommerz: eine Vorlage für Werbeanzeigen ßen. Geschickt verdichtet der Fotograf hier sein Name und die Adresse so notiert sind, wie man es Angebot in einem Bild; in der unteren Bildhälfte von Filmstandbildern her bereits kennt. sieht man eine panoramatische Ansicht eines Fa­ Ganz offensichtlich waren diese Selbstanzei­ brikgeländes als fotografischem Abzug, den zwei gen erfolgreich, denn die Witwe von Max Hal­ Hände mit Zirkel und zwei Retuschemessern be­ berstadt listet in Erinnerung an die Geschäftstätig­ arbeiten – wer ganz genau hinschaut, kann er­ keit eine edle Reihe von Klienten auf: die Deutsche kennen, dass die Schabemesser Gebäudekontu­ Vakuum Oil (später MobilOil), Reemtsma, Darbo­ ren, die im Schatten liegen, hervorheben. Die ven, Dralle und auch die Deutschen Werkstätten obere Bildhälfte der Anzeige besteht aus einem aus Dresden-Hellerau. Wenige Bilder aus diesen Winkeleisen, einem Objektiv für Reproduktions­ Aufträgen haben die Zeiten überlebt, und von vie­ kameras und dem Schriftzug „Reklame-Photos“ len wird man erst einmal nicht erfahren, dass Max aus dreidimensionalen Buchstaben. Die ganze Halberstadt sie gemacht hat: Ein Urheberrecht an Szenerie wird von links unten beleuchtet, sodass dokumentarischen Fotografien gibt es zu jener Buchstaben, Objektiv und Winkeleisen starke Zeit noch nicht, und nur im Porträtfach hat der Fo­ Schlagschatten werfen. Die Anzeige wird von tograf jenen Prominentenstatus, der seine Na­

FOTOS: MAX HALBERSTADT / SAMMLUNG SPANGENTHAL, ENGLAND SPANGENTHAL, / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT FOTOS: schwarzen Schriftfeldern gerahmt, auf denen der mensnennung unter den Bildern garantiert. u

23 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Blick durch das Hauptportal des Hamburger Rathauses, undatiert

24 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

NACH DER EMIGRATION ZEHREN DIE MÜHEN DES NEUANFANGS AN SEINER GESUNDHEIT

Neben den Firmen­Ansichten gehört zur Werbung die Objektfotografie im Studio. Ein Bei­ spiel weist Max Halberstadt einmal mehr als Ken­ ner des Neuen Sehens in der Fotografie aus: Eine Reihe frisch gebackener Rundstücke und Crois­ sants zieht sich diagonal durch das Bild, sie lie­ gen auf weißem Grund und sind von links oben so beleuchtet, dass sie starke Schlagschatten wer­ fen und damit ihr Volumen hervorgehoben wird – wie es sich für frische Backwaren eben gehört. Der Fotograf hat genau erfasst, was die neue Dar­ stellung in der Werbung ausmacht: Das Produkt ist industriell in unendlichen Mengen verfügbar, also gibt es weder einen Anfang noch ein Ende der Reihung, seine Form ist wichtiger als seine Oberfläche, und seine Inszenierung muss mit ei­ nem passenden Text unterstützt werden, also gibt es große Freiflächen im Bild. So haben es Kollegen wie Albert Renger­Patzsch oder Hans Finsler vorgemacht, so wurde es in Jahrbüchern und Fachzeitschriften vorgeführt – und auch hier versteht Max Halberstadt sein Handwerk. Mit der Weltwirtschaftskrise sind einige Ar­ beitsbereiche des Fotografen bedroht, vor allem das großbürgerliche Porträt im repräsentativen Atelier. Die Ausflüge in die Werbefotografie gehö­ ren schon zur Erschließung neuer Geschäftsfel­ der, aber sicher auch die Überlegung, mit journa­ listischen und touristischen Bildern ein wenig Geld zu verdienen. Nach dem Vorbild des damals sehr bekannten Foto­Reiseschriftstellers Kurt Hielscher sind schon einige Bilder in Venedig ent­ standen, sicher erst für das eigene Erinnerungs­ album, wie es das auch bei August Sander und an­ deren Fotografen gibt. Aber Max Halberstadt setzt nun ähnliche Bilder in seiner Heimatstadt um: eine Barkasse im Hafen bei durchaus aufgewühl­ tem Wasser oder ein verträumter Blick vom Kai

FOTO: MAX HALBERSTADT / SAMMLUNG ROSENTHAL, USA ROSENTHAL, / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT FOTO: auf Kräne und Schiffe bei tief stehendem u

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Vermutlich ein Reklamefoto: im Stil des Neuen Sehens inszenierte Backwaren

­Sonnenlicht – da darf neben zwei Damen auch gen, Gemälden. Vergrößerungen jeder Art auch der lässig an den Pfeiler gelehnte Mann mit dem nach vergilbten oder beschädigten Originalen. Fuß auf dem Poller nicht fehlen, der den Blick des Reproduktionen, Aufarbeitung von vergangenen Fotografen aufs Wasser trägt. Marktatmosphäre Daguerreotypien“. All das wird von potenziellen fangen Halberstadts Fotografien vom Altonaer Auswanderern gebraucht, für die Halberstadt Fischmarkt­ ein, das Bild des Bananenverkäufers, noch ebenso arbeiten darf wie für die jüdische aber auch die Aufnahme vom Bratwurststand, an Kultusgemeinde. 1934 erscheint ein Jubiläums­ dem sich auch modisch gekleidete Vertreter des band für die Gemeindesynagoge Kohlhöfen mit Hamburger Bürgertums drängen. Einen weiteren zwei seiner Fotografien.­ Doch leben kann die Fa­ touristischen wie majestätischen Blick gewährt milie von diesen kümmerlichen Resten des gro­ der Blick aus dem Inneren des Rathauses in die ßen Ateliers nicht mehr, er sucht einen Ausweg Stadt hinein, wobei quer vor dem Tor eine große durch Emigration und stellt einen Antrag auf Limousine abfahrbereit wartet. Ausreise nach Johannesburg in Südafrika. Zu ei­ nem niedrigen Preis, der kaum die Reisekosten FLUCHT VOR DEN NAZIS sichert, werden die Geschäftsräume und das Ar­ Ein neues Kapitel beginnt für Halberstadt im Ja­ chiv zum 1. April 1936 an zwei junge Fotografin­ nuar 1933 mit der Machtübernahme durch die nen verkauft – der Vorgang wird später die zyni­ Nationalsozialisten. Im April beginnt ihre Kam­ sche Bezeichnung „Arisierung“ tragen. Zwei pagne gegen jüdische Geschäfte. SA-Wachen hin­ Hamburger Fotografenkollegen schenken dem dern Kunden am Betreten von Geschäften, Be­ Emigranten noch eine Leica, ebendiese hat für die hörden und Firmen weisen ihre Mitarbeiter an, jetzige Ausstellung gerade erst ihre Rückreise aus nichts mehr bei jüdischen Unternehmen zu be­ Johannesburg nach Hamburg angetreten. Der Architekt stellen. Auch Max Halberstadt ist betroffen, er Max Halberstadt arbeitet in Johannesburg Fritz Höger (1877–1949) in fügt nun zu seinem Portfolio hinzu: „Reproduk­ zunächst im Werbestudio der „Transvaal Adverti­ einer Collage aus tionen nach wichtigen Dokumenten, Zeichnun­ sing Contractors“ – etwa dem, was heute eine u dem Jahr 1928

26 FOTO UND COLLAGE: MAX HALBERSTADT / SAMMLUNG WEINKE / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT UND COLLAGE: FOTO

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Mit Blick fürs Detail, man beachte zum Beispiel den Hund: eine typische Szenerie an den St. Pauli-Landungsbrücken, undatiert FOTOS:

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Full Service Agentur genannt wird. Seine Frau und Tochter können im August 1936 zu ihm nachkommen, im November 1938 eröffnet Hal­ berstadt wieder ein eigenes Fotostudio in der In­ nenstadt. Die Arbeitsproben an der Wand zeigen, was er anbietet: Porträts, Hochzeits- und Kinder­ fotos. Auf dem Kaffeetisch mit Zigaretten und Aschenbecher liegen offensichtlich Arbeitspro­ ben aus der Werbeagentur. Alles wie zuvor in Hamburg? Nein: Die Mühen des Neuanfangs zehren an Halberstadts Gesundheit: Am 30. De­ zember 1940 stirbt er, gerade einmal 58 Jahre alt, und wird im Januar 1941 in Johannesburg beer­ digt. Letztlich ist die Wiederentdeckung von Max Halberstadt seiner Tochter zu verdanken, die sich 1999 an den Exil-Forscher Wilfried Weinke wandte, darüber verwundert, dass ihr Vater in sei­ ner Heimatstadt so vollkommen vergessen ist. Statt eines Schlussworts eine persönliche Er­ innerung des Autors dieser Zeilen: Auf einer Wer­ bekarte ist das Johannesburger Atelier von Max Halberstadt abgebildet: Rechts ein Sofa mit Vor­ hang, links eine kleine Sitzgruppe, hinten links ein Schminktisch mit Stuhl und Spiegel, an der Wand einige gerahmte Bilder als Beispiele gelun­ gener Auftragsarbeit, ganz rechts ein weiches Hauptlicht aus drei Lampen mit einem Diffusor­ stoff davor, ganz links ein eingeschaltetes Spot­ light, normalerweise für Spitzlichter auf dem Haar und in den Augen genutzt. Mit wenigen Handgrif­ fen ist dieses Atelier in ein Wohn-­Schlafzimmer umzubauen – genau so sah das erste Atelier mei­ nes Vaters in Bonn im Jahr 1951 aus, und ich war als Kind froh, wenn der letzte Kunde gegangen war, denn dann durfte in diesem Multifunktions­ raum das normale Familienleben stattfinden. Bei meinem Vater war dies der Anfang einer Fotogra­ fenkarriere, bei Max Halberstadt leider das trau­ rige Ende.

Der Fotograf Max Halberstadt: „...eine künstlerisch begabte Persönlichkeit“, eine Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte, bis 15. November 2021

ROLF SACHSSE war bis 2017 Professor für Designgeschichte und Medientheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken. Er ist Autor des Buches „Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat“,

FOTO: MAX HALBERSTADT / SAMMLUNG ROSENTHAL, USA ROSENTHAL, / SAMMLUNG MAX HALBERSTADT FOTO: erschienen bei Philo Fine Arts

29 Dr. Wilfried Weinke hat Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte Hamburgs, zur Exil- literatur und -foto- grafi e veröff entlicht. Zuletzt erschien von ihm „Wo man Bücher verbrennt…“

„ES GIBT EIN GROSSES DEFIZIT IM UMGANG MIT HAMBURGS FOTOGESCHICHTE“ Im Interview erzählt Wilfried Weinke, Kurator der Max Halberstadt-Ausstellung, wie und warum er dem zu Unrecht vergessenen Hamburger Fotografen ein würdiges Andenken in dessen Heimatstadt verschaffen will

INTERVIEW: MATTHIAS SEEBERG

Herr Weinke, ein wesentliches Ziel dazu bei, dass bestimmte Namen, ins­ Photographie, die Max Halberstadt im Ihrer Ausstellung ist es, überhaupt besondere von Fotografen jüdischer November 1920 ein Sonderheft wid­ wieder an den Fotografen Max Hal- Herkunft, in Vergessenheit gerieten. mete. Zu dem Zeitpunkt konnte Hal­ berstadt zu erinnern. Wie konnte es Ein aktiver Prozess, der sich leider bis berstadt erst auf 13 Jahre beruflicher passieren, dass der Schöpfer des bis in unsere Gegenwart fortsetzt. Tätigkeit als Fotograf zurückblicken, heute maßgeblichen Porträtfotos war aber schon für seine Arbeiten von Sigmund Freud fast vollständig in Was zeichnet Ihrer Meinung nach das auch auf internationalen Fotoausstel­ Vergessenheit geraten ist? Schaffen von Max Halberstadt aus? lungen ausgezeichnet worden. Schon „In Vergessenheit geraten“ klingt so Was macht Halberstadt Ihrer Mei- damals würdigte der Photofreund die harmlos. Gewiss, Dinge, aber auch nung nach zu „einer künstlerisch be- unterschiedlichen Facetten seiner Menschen geraten in Vergessenheit. gabten Persönlichkeit“, wie im Aus- Arbeit als Porträt­ und als Landschafts­ Die Nationalsozialisten wollten Men­ stellungstitel zitiert wird? fotograf sowie als Fotograf von Kin­ schen, die Erinnerung an sie und ihre Dieses Zitat stammt aus der Hambur­ dern. All dies – aber auch seine inno­ Namen auslöschen. Nach 1945 trugen ger Zeitschrift Photofreund, einer vativen Collagen – präsentieren wir in

aber auch Fotohistoriker ihren Anteil Halbmonatsschrift für Freunde der der Ausstellung. URSULA WAMSER FOTO:

30 TITELGESCHICHTE Max Halberstadt

Daneben finden sich in Halberstadts schen Loge. Wie stark seine Bindun­ mehr: die Rekonstruktion eines viel­ Werk auch zahlreiche Hamburger gen ans Judentum waren, muss seitigen Fotografen-Lebens. Stadtansichten. Was erfahren wir in ­dennoch unbeantwortet bleiben. diesen Fotografien über die Stadt, Welches Objekt in der Ausstellung ist was wir so vielleicht noch nicht Halberstadt ist am 30. Dezember für Sie persönlich das spannendste? gesehen haben? 1940 an den Strapazen seiner Flucht Wo soll ich anfangen? Es gibt mehrere Wir kennen nicht den gesamten Be­ vor der Verfolgung durch das NS­ Objekte, die mich begeistern: Beson­ stand des Nachlasses von Max Hal­ Regime im Exil in Johannesburg ge- dere Qualität besitzt das aus London berstadt. Die Corona-Pandemie ver­ storben. Wie ist es gelungen, seinen entliehene Autochrom, ein farbiges hinderte Reisen zu seinen Enkeln in Nachlass zu bewahren und in einer Selbstporträt Halberstadts. Die Me­ den USA und in England. Zudem solchen Breite in der Ausstellung zu daillen, die ihm schon vor 1914 für muss davon ausgegangen werden, zeigen? seine fotografische Arbeit verliehen dass der größte Teil der Fotografien, Es ist dies zuerst ein Verdienst seiner worden waren. Das von Sigmund die Halberstadt in Hamburg erstellt Witwe Bertha und seiner Tochter Eva Freud signierte Freud-Porträt. Berüh­ hat, durch seine Emigration nach Süd­ in Johannesburg, die Medaillen, Foto­ rend ist auch die Leica-Kamera, die afrika verschollen sind. Gleichwohl alben, Visitenkarten, Dokumente und ihm von Kollegen zum Abschied aus präsentieren wir bestechende Fotogra­ signierte Fotografien von Max Hal­ Hamburg im April 1936 geschenkt fien von der Hamburger Innenstadt berstadt bewahrt haben. Später erhiel­ wurde. Ich kann nur dazu auffordern, bei Nacht, Ansichten aus dem Ham­ ten die Enkel diese Erinnerungs­ selbst auf Entdeckungsreise zu gehen. burger Hafen, vor allem aber atmo­­- stücke, deren historischer Wert im­ s­phärisch dichte Aufnahmen vom mens ist. Ohne die freundschaftliche, Im Altonaer Museum ist gerade eine Altonaer Fischmarkt und dem Fisch­ vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ausstellung mit den Bildern des Ar- verkauf an der Wasserkante. ihnen wäre diese Ausstellung nicht beiterfotografen Fide Struck zu se- möglich, zu unserer gemeinsamen hen. Auch er war bis vor wenigen Jah- Halberstadt hatte enge Verbindun- Freude ein nicht nur geografischer ren geradezu vergessen. Erleben wir gen zur jüdischen Gemeinde, hat viel Brückenschlag. gerade die Wiederentdeckung einer für sie fotografiert. Welche Spuren vergessenen Fotografen-Generation? jüdischen Lebens können wir aus sei- Max Halberstadts Geschichte ist fa- Lassen Sie es mich pointiert ausdrü­ nen Bildern rekonstruieren? cettenreich und von vielen typischen cken: Die Hamburger Fotogeschichte Von besonderem Interesse bleibt eine Aspekten der 1920er- und 1930er- ist bis zum heutigen Tag unterbelich­ undatierte Fotoserie vom Jüdischen Jahre geprägt. Wie übersetzt man tet! Es gibt ein großes Defizit bei der Friedhof in Hamburg-Altona, vermut­ diese Komplexität in die Gestaltung Auseinandersetzung mit der Fotoge­ lich eine Auftragsarbeit. Zudem ist einer Ausstellung? schichte der Stadt. Den Zivilisations­ gewiss, dass viele Familien aus dem Zuallererst braucht es einen ideenrei­ bruch, der mit dem Januar 1933 be­ jüdischen Bürgertum sein Atelier auf­ chen Gestalter, den ich in Uwe Fran­ gann, gilt es auch bezogen auf die Ver­ suchten, um ihre Kinder von ihm foto­ zen vom Atelier Handwerk gefunden treibung jüdischer Fotografinnen und grafieren zu lassen. Nach der Macht­ habe. Mit ihm ist eine gemeinsame Fotografen aus Hamburg darzustel­ übertragung an die Nationalsozialis­ kreative Umsetzung des recherchier­ len. Bezogen auf Max Halberstadt geht ten konnte er wegen seiner jüdischen ten Materials von Fotos, Dokumenten, es mir darum, dem Fotografen, der bis Herkunft nicht mehr für die Tages­ Büchern und Zeitschriften in eine 1936 in Hamburg lebte und arbeitete, presse arbeiten und seine Fotografien inszenierte Ausstellung möglich. der seine Geburtsstadt keineswegs nur noch in jüdischen Periodika veröf­ ­Interaktive AV-Medien bieten zusätz­ freiwillig verließ, den ihm gebühren­ fentlichen. Halberstadt war verwandt­ liches Blättern in den präsentierten den Platz in der Fotogeschichte zu schaftlich mit den traditionsreichen historischen Fotoalben. Um nicht zu verschaffen. Hamburger Familien Bernays und viel zu verraten: Besucher von klas­ Carlebach verbunden, ließ sich 1923 sischen Fotoausstellungen müssen auch in der Neuen Dammtor-Synagoge nicht auf die Aura des Originals ver­ trauen und war Mitglied einer jüdi­ zichten. Doch die Ausstellung bietet

31 Links: Eine verglaste Kassetten- decke spendet Licht für das Vestibül und das Treppenhaus zu den oberen Geschossen. Rechts: Blick auf die Außen- fassade des Hauses Wedells, das heute in den Gebäudekomplex der HanseMerkur Versicherungs- gruppe integriert ist FOTOS: Der Unternehmer Siegfried Wedells (1848–1919) vermachte seine Stadtvilla am Dammtor mitsamt seiner vernachlässigt Erbe jüdischen des dem bis HanseMerkur die – Kunstliebhabers einhauchte Leben neues Kunstsammlung der Stadt Hamburg. Doch viele Jahrzehnte wurde das prächtige Gebäude ERWECKTE SCHÖNHEIT ERWECKTE TEXT: SVANTE DOMIZLAFF FOTOS: JÉROME GERULL FOTOS: JÉROME TEXT: SVANTE DOMIZLAFF STADTBILD Haus Wedells 33 s gibt noch blinde Flecken in Hamburgs Stadtbild und Geschichte. Gemeint sind Orte und Menschen, die hier einstmals eine wichtige Rolle gespielt ha- Eben, aber nie wirklich wahrgenommen wurden oder längst in Vergessenheit geraten sind. In vielen Fällen geht es dabei um jüdische Familien, deren Namen in der Zeit des Nationalsozialismus getilgt wurden und deren Hinter- lassenschaften irgendwann an die Stadt fielen, die sich lan- ge nicht mit der Aufarbeitung des Erbes beschäftigte. Ein Beispiel dafür sind Siegfried Wedells und sein Haus Ecke Neue Rabenstraße/Alsterglacis, schräg gegenüber dem Dammtorbahnhof. Siegfried wer? Siegfried Wedells (1848–1919) war ein Hamburger Großkaufmann und Kunstmäzen, der sich am letzten Tag des Jahres 1871 in St. Petri christlich taufen ließ und 1890 seinen jüdischen Familiennamen Wedeles in We- dells änderte. Nach Plänen des Rathausarchitekten Martin Haller (1835–1925) baute sich Wedells an der Neuen Raben- straße 31 einen Renaissance-Palazzo, den er 1896 bezog. Dieses „Haus Wedells“ gibt es heute noch, so prächtig wie einstmals – ein kleines Wunder. Aber man muss schon sehr genau hinsehen, um dieses Das Haus Wedells kurz vor der Renovierung Anfang der 1990er-Jahre Schmuckstück im Stadtbild zu entdecken. Dem Betrachter

34 Links: Das Treppenhaus zum 1. Stock mit einem Original-Gobelin von 1895 als Wand- schmuck. Rechts: Die reich verzierte Tür am Eingang zum großen Salon zeigt das Haus nur die reich geschmückte Kalksteinfassade scher und moderner Architektur, wie im Erdgeschoss zum Dammtor hin, mit ihrem von Säulen flankierten Altan es sich kaum ein zweites Mal in Ham- und der seitlichen Toreinfahrt zum rückwärtig liegenden burg findet. Hof. Zur Rechten bietet das Alsterglacis, eine der meistbefah- Was im Zusammenhang mit dem renen Hamburger Verkehrsachsen, kaum eine Möglichkeit erst 2016 von dem jungen Architek­ zum Verweilen und Schauen. Zur Linken ragt, gletscherweiß, tenteam Querkopf hinzugefügten De- ein gezacktes Stück „Kunst am Bau“ aus Acrylstein über die sign des unmittelbar an dem histori- Gebäudeflucht hinaus – und versperrt so die Blickachse von schen Gebäude liegenden Hauptein- der Alsterterrasse, dem einzigen Weg, über den Passanten gangs zum Versicherungskonzern zu- Zugang zu diesem historischen Kleinod finden. nächst irritieren mag, ist eine Meister- Die seitlichen Fassaden und die rückwärtige Ansicht leistung der Architektengemeinschaft des Palazzo mit ihrem filigranen gelb-roten Backstein­ APB, der Architekten Beisert, Find­ mauerwerk liegen verborgen unter dem schützenden Hal- eisen, Galedary, Grossmann-Hensel lendach eines modernen Bürokomplexes. Anfang der Wilkens. 1990er Jahre wurde das vorher vernachlässigte Haus We- Im Auftrag der HanseMerkur – dells restauriert und ist seither Bestandteil eines 8900 Qua- unter ihrem langjährigen Vorstands- dratmeter umfassenden Gebäudeensembles, in dem sich vorsitzenden Dr. Gerd-Winand Imeyer die Hauptverwaltung des HanseMerkur-Versicherungskon- – gelang es den Hamburger Architek- zerns niedergelassen hat. So ist das Haus Wedells heute für ten, alle nach dem Krieg verbliebenen die Öffentlichkeit nicht unmittelbar zugänglich. historischen Stadtvillen am Alstergla- Der weitläufige, verglaste Innenhof mit der Kulisse des cis unter einem Dach zu integrieren, Hauses ist eine Halle, die gern auch für kulturelle Veran- mit dem Wedells Palazzo als Kronju-

FOTO: STAATSARCHIV HAMBURG/SABINE GANCZARSKY (U.L.) GANCZARSKY HAMBURG/SABINE STAATSARCHIV FOTO: staltungen genutzt wird: Ein imposantes Amalgam histori- wel. Doch bis dahin war es ein langer u

35 STADTBILD Haus Wedells

Weg, auf dem sich Hamburg nicht eben mit Ruhm gen, das es ihm ermöglichte, für sein bekleckert hat. Bauvorhaben nicht nur den ersten Ar- Über den Bauherrn Siegfried Wedells weiß man so gut chitekten der Stadt zu beschäftigen, wie nichts. Bis auf sein Testament, in dem er der Stadt sondern auch eine herausragende pri- Hamburg sein Haus, eine der bedeutendsten privaten vate Sammlung Alter Meister italieni- Kunstsammlungen seiner Zeit und eine große Summe Bar- scher, niederländischer und deutscher geld vermachte, sind keine schriftlichen Zeugnisse überlie- Provenienz aufzubauen. fert, auch kaum biografische Daten. Er war nie verheiratet, Nach der Gleichstellung der jüdi- und er hat keine direkten Nachfahren hinterlassen. Wie schen Bevölkerung von Hamburg und dieser Mann gedacht und gefühlt haben könnte, lässt sich der Aufhebung der Torsperre 1860 allein an seinem Beruf, seinem Kunstverständnis und der konnte das unbebaute Gelände jen- Architektur seines Hauses erzählen. Sein Innenleben aber seits des Dammtors erschlossen wer- bleibt ein Geheimnis. den. Vor allem wohlhabende jüdische Siegfried Wedells wurde im Revolutionsjahr 1848 in Familien nutzten die Chance, sich ent- Hamburg geboren. Sein Vater war aus Böhmen in die Han- lang der Alster anzusiedeln. Am stadt- sestadt gekommen, wo er die Tochter eines Kleinhändlers nahen Alsterglacis, zwischen der heu- am Großneumarkt heiratete. Er muss beruflich sehr erfolg- tigen Warburgstraße und der Neuen reich gewesen sein, denn als er 1865 verstarb, hinterließ er Rabenstraße, entstand ein Quartier seinem Sohn Siegfried ein Haus in bester Lage am Neuen von Villen fast ausschließlich für die Jungfernstieg, dazu ein beträchtliches Barvermögen. Mit jüdische Oberschicht. Hier erwarb diesem soliden Startkapital baute Siegfried Wedells ein in- Siegfried Wedells 1885 das Haus Neue ternational tätiges Im- und Export-Geschäft mit Genussmit- Rabenstraße 31 von den Erben des teln des gehobenen Bedarfs auf. Frankreich galt sein beson- Kaufmanns Louis Samuel Levy. Er ließ deres Interesse. In Paris besaß Wedells eine eigene Nieder- Levys Haus abreißen und beauftragte lassung und eine Zweitwohnung. Sein erstes eingetragenes Martin Haller mit dem Entwurf eines Warenzeichen war ein Bierflaschenetikett mit der Auf- Neubaus. Seine Bauten, wie etwa der Das Bild der „Flora“ schrift „Bière Allemande de première Qualité – Best Ger- Sitz der Hamburg-Amerika Linie am von Jan Massys (1500 – 1550), das 1921 man Beer“. Mit Luxusgütern brachte er es zu einem Vermö- Ballindamm und die Laeiszhalle am in der Inventarliste Johannes-Brahms-Platz, prägten die mit 175.000 Mark veranschlagt wurde, Hansestadt. Auch beim Bau des Rat- befindet sich heute hauses war Haller der führende Kopf. in der Sammlung Über sein eigentliches Interesse sagte der Hamburger Kunsthalle er: „Mein Spezialfach ist Privat- und Luxusarchitektur. Das entspricht mei- nem Charakter, meinem Geschmack.“ Wedells und Haller lagen da ganz auf einer Wellenlänge. In einem Beitrag für das Buch „Menschen und ihre Häuser vor dem Dammtor – Eine Adresse in Ham- burg“ (Hamburg, 2001) beschreibt der Kunsthistoriker Martin Kinzinger Hal- lers Entwurf für die Neue Rabenstraße 31 folgendermaßen: „Moderne, tech- nisch aufwändige Bauprogramme ver- packte Haller in einem Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten histori- schen Baustil. Die Ornamentierung folgte dem Repertoire der Renais­ sance, genauer gesagt einer Ausprä- gung, die ihre Vorbilder in der italieni- schen Hochrenaissance suchte. Haller

selbst betonte, wie beeindruckt er von (L.) KUNSTHALLE/BPK ELKE WALFORD/©HAMBURGER FOTO:

36 FÜR DEN BAU SEINES HAUSES ZAHLTE WEDELLS UMGERECHNET RUND EINEINHALB MILLIONEN EURO

geschoss mit seinen Gesellschaftsräu- men als Sockelgeschoss aus. Der pri­ vate Wohnbereich des Hausherrn im 1. Obergeschoss ist durch Schmuck wie Fensterverdachungen und ornamen- tierte Rahmen noch einmal hervorge- hoben. Das oberste Stockwerk erinnert entfernt an ein Mezzaningeschoss. Aus dem Villenneubau stammt das Ein Türgriff mit Löwenmotiv aus Messing Motiv der offenen, säulenbestandenen Veranda mit Terrasse und Freitreppe zum Vorgarten. Als einziges Fassaden­ element durchbricht ein Torbogen vor der Durchfahrt zum Hinterhof die sonst strenge mittensymmetrische Gliederung. Der eigentliche Eingang zum Haus wurde in die Durchfahrt den römischen Stadtpalästen, etwa dem Palazzo Farnese verlegt. Sie wurde dafür aufwändig ge- (ab 1513, Umbau ab 1546 durch Michelangelo)­ war.“ schmückt. Im Hinterhof, heute Teil Das Haus Wedells plante Haller als dreigeschossiges des Versicherungsneubaus, befanden Reihenhaus mit einem nahezu kubischen Baukörper, wie sich ursprünglich ein separat angeord- sie an der Neuen Rabenstraße üblich waren. Eine breit gela- netes, zweigeschossiges Kutscherhaus gerte, fünfachsige Vorderfassade vereinheitlicht den Bau- und ein weiterer kleiner Garten.“ körper. Das Haus Wedells sticht vor allem wegen seiner Ma- Sämtliche Räume, Halle und Auf- terialwahl, der bemerkenswerten Verarbeitung und der fahrt sind verschwenderisch ausgestat- Renaissance-Ornamentik heraus. Verwendet wurden wert- tet: Viel Stuck, Türen mit Messingklin- volle Naturmaterialien, hauptsächlich Cottaer Sandstein, ken, wertvolle Holzvertäfelungen, ver- ein für Hamburg keineswegs typisches Material. Kinzinger zierte Holzbänke, Standuhren, Wand- schreibt diesbezüglich: „Die Ornamentierung der Fassade schränke, herrschaftliche Kaminein- ist maßvoll. Sie verleiht dem Ganzen eine besondere fassungen, geschnitzte Treppengelän- ­Würde. Rustika – Mauerstein aus Quadern – weist das Erd- der, romantische Deckengemälde u

37 STADTBILD Haus Wedells

und eine Bibliothek zeugen bis heute von Liebe zum Detail. Ästhetik auch im stillen Örtchen: die Toilette des Sie entsprechen der heutigen Vorstellung von einem han­ Herstellers „The Glenlias seatisch-großbürgerlichen Haushalt am Ende des 19. Jahr- Washout closet“ hunderts. Diesen Eindruck vermitteln auch die Waschräu- me und die gekachelte Wirtschaftszone mit ihren Spülbe- cken, Wandschränken, einem Silbersafe, dem Marmorfuß- boden und den Fliesen. Ein 1895 aus England importiertes Wasserklosett für die Gäste ist heute noch in Betrieb. Für den Bau seines Hauses zahlte Wedells 120.000 (Gold-) Mark, umgerechnet rund eineinhalb Millionen Euro. Bei der Bestandsauf- nahme des Hauses 1985 kam das Denkmalschutz- IN DER ZEIT ZWISCHEN amt zu folgender Beurtei- 1921 nahm der Senat das in eine Stif- lung: „Als Werk des in sei- tung übertragene Erbe den Wünschen DEN KRIEGEN GING ES ner Bedeutung für Ham- des Testaments entsprechend an. Die burg im ausgehenden 19. Stadt investierte sogleich 235.000 MIT DEM HAUS WEDELLS Jahrhundert kaum zu über- Mark in die Herrichtung des Hauses. RASCH BERGAB schätzenden Architekten Die Gesellschaftsräume im Erdge- besitzt das Haus mit seinem schoss nutzte der Senat zu Repräsenta- Reichtum und dem Um- tionszwecken, Wedells’ Privaträume fang seiner Erhaltung innen wurden als Stadtwohnung für den Ers- und außen und mit seinem ten Bürgermeister genutzt. Der hieß Zubehör ­einen einzigartigen Rang.“ Wie Wedells in seinem Arnold Diestel (1857–1924) und nutzte Haus lebte, welche Gäste er empfing, welche Vorlieben er die Räume gern, da er privat im fernen pflegte – auch das ist leider nicht bekannt. Bekannt ist nur, Wohldorf wohnte. dass er bis zu seinem Tode die bedeutendste Sammlung al- Am 15. Januar 1922 öffnete die ter niederländischer, flämischer, italienischer und deut- Ausstellung im 1. Stock für Besucher, scher Meister in Hamburg zusammentrug, die er vermut- die sich für 1 Mark Eintrittsgebühr an lich vor allem in Frankreich erwarb. den klassischen Gemälden von Alten Siegfried Wedells starb 1919. Bis auf ein Legat an seine Meistern wie Peter Paul Rubens, Paris Cousine Martha Cohn, geb. Wedeles, in Höhe von 140.000 Bordone, Boccacino, Jan van Goyen, Mark, vermachte er sein gesamtes Vermögen seiner Hei- Adriaen Isenbrant, Jan Gossaert, Hans matstadt. Einen bedeutenden Silberschatz, der heute im Fries, Francia Gonzales Coques, Mar- Rathaus aufbewahrt wird, hatte er dem Senat bereits 1913 co Palmezzano, dem Meister der Ur­ gestiftet. Wedells’ Testament wurde am 27. Juni 1919 vom sula-Legende, Ernest Delahaye, Jean- Amtsgericht Hamburg eröffnet. Darin heißt es: „Ich verma- Jacques Henner, Bernardo Bellotto, che der Freien und Hansestadt Hamburg mein Grundstück Emile Meret oder Virgilio Díaz de la Neue Rabenstraße 31 mit Gebäuden und den bei meinem Peña erfreuen konnten. Kunstsachver- Ableben darin befindlichen Kunstschätzen sowie ein Kapi- ständigen würde die Aufzählung die- tal von 400.000 Mark und zwar mit der Auflage, die Ge­ ser Künstlernamen die Sprache ver- bäude nebst den dauernd darin belassenen Kunstschätzen schlagen. Solche Meisterstücke möch- der öffentlichen Besichtigung sowie dem Studium der te man in den Uffizien von Florenz Künstler und Gelehrten unter dem Namen ‚Haus Wedells‘ vermuten – aber in Hamburg? Das offen zu halten. Die Zinsen des vermachten Kapitals (…) nach dem Vorbild Florentiner Palazzi sollen zur Vermehrung der Gemäldesammlung durch den des 16. Jahrhunderts erbaute Haus Erwerb von Gemälden aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert Wedells bot den richtigen Rahmen. verwendet werden.“ Die Stadt beschränkte die Ausstel- Die Auswahl der zu erwerbenden Gemälde sollte ein lungsfläche auf lediglich drei Räume, dreiköpfiges Kuratorium bestimmen, das schloss allerdings in denen sich nur ein kleiner Aus- den Direktor der Hamburger Kunsthalle Gustav Pauli schnitt der Sammlung von ursprüng- (1866–1938) ausdrücklich aus, und zwar „im Hinblick da­ lich 106 Meisterstücken zeigen ließ. rauf, dass er in erster Linie moderne Kunst zu fördern hat“. 1952 nahm der verbliebene Teil, u

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Leuchter (o. r.), Türschmuck (o. l.) und Holzvertäfelung (u. l.) aus den Räumlichkeiten im Erdgeschoss. Unten rechts: Blick auf die Rückseite des Hauses mit der Durchfahrt zur Halle

40 STADTBILD Haus Wedells

SOLCHE MEISTERSTÜCKE MÖCHTE MAN IN DEN UFFIZIEN VON FLORENZ VERMUTEN – ABER IN HAMBURG?

etwa die Hälfte von Wedells’ stolzem ­Bildererbe, dann den Virgilio Díaz de Peña und die „Dame“ Weg in die Hamburger Kunsthalle. Dort hängt heute eines von Jean-Jacques Henner, beide aus der Hauptwerke der Sammlung, Jan Massys’ (1509–1575) der Sammlung Wedells. Das Haus We- erotische „Flora“. Und wo ist die andere Hälfte der Samm- dells verdämmerte die folgenden Jahr- lung verblieben? 22 Gemälde wurden nach dem Krieg an zehnte als „Haus der Frau“ mit Lehr- einen in London lebenden Großneffen von Siegfried We- küche und Elternberatungsstelle des dells restituiert, einige Bilder gingen in Auktionen, der gro- Referats „Familie und Frau“ der Ju- ße Rest ist spurlos verschwunden. gendbehörde. Erst 1991 küsste die be- Mit dem Haus Wedells ging es in der Zeit zwischen den nachbarte HanseMerkur das „Haus Kriegen rasch bergab. In der Inflation verbrannte Wedells’ der Frau“ und erweckte es zu neuem finanzielles Erbe. Das Interesse am Besuch der arg ge- Leben. 2001 gab die HanseMerkur ein schrumpften Sammlung ließ bald nach und erlosch voll- Buch heraus, in dem zum ersten Mal ständig, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. die Geschichte des Haus Wedells er- Am 31. Oktober 1938 schrieb Senatsdirektor Paul Linde- zählt wurde. 2003 entschloss sich der mann (1896–1955) an den Reichsstatthalter Karl Kauf- Senat daher, den Platz vor der Neuen mann: „… ebenso erscheint es zweifelhaft, ob noch länger Rabenstraße 31 in Siegfried-We- das Haus Wedells so genannt werden kann. Wedells war dells-Platz umzubenennen und das in- Volljude und hieß ursprünglich Wedeles. Wenn der Name teressante, aber völlig verwilderte verschwinden soll, würde man am besten einfach vom Grabmal des Siegfried Wedells auf ‚Haus Neue Rabenstraße 31‘ sprechen.“ Und so geschah es. dem Ohlsdorfer Friedhof (Planquadrat Der Name Wedells wurde getilgt, sogar die Gravuren auf N 23/O 23) mit großzügiger Hilfe der dem Rathaussilber verschwanden. Das Haus Neue Raben- HanseMerkur zu renovieren. Die straße 31 wurde fortan für kleinere Veranstaltungen des Grabstelle hatte der in Berlin arbeiten- braunen Senats genutzt. de Bild­hauer Walther Schmarje (1872– Bei Kriegsende war das im Bombenkrieg unbeschädigt 1921) nach dem Wunsch Wedells’ aus gebliebene Haus kurzfristig von der britischen Besatzungs- Granit geschaffen. Man sieht eine zwi- macht beschlagnahmt worden, fiel dann an den Senat zu- schen zwei Reliefs ruhende Frauenge- rück, der es zu seinem offiziellen Gästehaus herrichten ließ, stalt, die „Mutter Erde“, oder „Mutter jedoch kaum nutzte. Im Frühjahr 1953 war Bundeskanzler Natur“ symbolisierend, neben sich ein Konrad Adenauer aus Anlass eines CDU-Partei­tages zu Be- stehendes und ein umstürzendes Was- such in Hamburg. Mit seiner Tochter Lotte verbrachte er die sergefäß, darunter die Inschrift: „Aus Nacht an der Rabenstraße 31. Hunderte Mitglieder der Jun- mir fließt alles, kehrt zu mir zurück. gen Union kamen mit Fackeln zum Haus und skandierten: So Tod wie Leben, Menschenleid und „Und wird es dir auch noch so sauer, lass dich noch einmal Glück.“ sehen, Adenauer!“ Der erschien zweimal auf dem Balkon und ließ sich huldigen. Die Bundestagswahl einige Monate später gewann Adenauer mit absoluter Mehrheit. SVANTE DOMIZLAFF Als 1965 Königin Elizabeth II. zum Staatsbesuch in ist aufgewachsen an der Elbchaussee, über die Hamburg weilte, nächtigte sie im neuen, extra für sie herge- er mit seinem Buch „Menschen und Häuser an richteten Gästehaus des Senats am Feenteich. Von ihrem Hamburgs großer Straße“ ein Standardwerk verfasst hat. Dem Schönen und dem in Ver- königlichen Bett im Großen Staatsschlafzimmer fiel ihr gessenheit geratenen weniger Schönen seiner Blick auf zwei Gemälde im Goldrahmen: die „Nymphe“ von Heimatstadt gilt sein besonderes Interesse

41 NACH HAMBURG! NACH HAMBURG!

42 KÜNSTLER UND IHRE WERKE Wolfgang Hegewald

ODER DIE KUNST DER WAHLHEIMAT Seine Entscheidung, die DDR zu verlassen, bezeichnet der Schriftsteller Wolfgang Hegewald als das Fundament seiner Existenz. Porträt eines Lebens voller Freiheitsdrang, Grenzüberschreitungen und Sprachlust

TEXT: ULRICH THIELE FOTOS: JAKOB BÖRNER

Der Stadtpark kann als Synonym für den Autor gesehen werden: ein gehegter, ins Urbane überführter Wald, ein Hegewald eben. Zudem ist er für ihn FOTOS: fußläufi g erreichbar – ein Glücksfall für den passionierten Spaziergänger

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m 24. September 1983, einem Samstag, „JAZZ, DIE SEHNSUCHT SICH reist Wolfgang Hegewald mit einem One-Way-Ticket von Leipzig nach Ham- AUSZULÖSCHEN, ENTGRENZTER Aburg. Dass es eine Abreise auf Nimmer- LEBENSRAUSCH, DIE SPRACHE wiedersehen sein könnte, nimmt er in Kauf, die- ser Preis steht in keinem Verhältnis zu seinem DER EINGEWEIDE, DER Freiheitsbegehren. Er ist nun 31 Jahre alt, nicht INTELLEKT DER SCHENKEL“ mehr ganz jung, noch nicht alt, seine Lebenszeit ist befristet und so will er nicht dahinleben. Beige ist die alles dominierende Farbe im Zug. Wie alle Interzonenzüge wird auch dieser vor allem von Rentnern – sie genießen in der DDR Reisefreiheit – genutzt. Scheu streifen ihre Blicke den Mann, der nicht ins Raster passt, der von einem „Erkenntnisschock“ getroffen, wie er offenbar nicht vorhat, zurückzukehren. Hegewald sagt, weil Arendt in der ihr eigenen Luzidität ei- hat keinen Pfennig Geld bei sich, weder Ost, noch nen politisch-philosophischen Freiheitsbegriff West, dafür einen ranzigen Zettel, der ihm die auf den Punkt bringt, der schon lange vor der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR Lektüre in seinen Gedanken und Texten präfor- attestiert – der bewilligte Ausreiseantrag, für ihn muliert ist. So wie in dieser Passage, in der ein nicht mit Geld aufzuwiegendes Wertpapier. Arendt festhält: „Von allen spezifischen Freihei- Ausreiseantrag, das klingt so harmlos. Nach ten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn freiwilliger Emigration, die einem freundlicher- wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungs- weise gewährt wird. Der Wahnsinn, der dahinter- freiheit nicht nur die historisch älteste, sondern steckt, die Schikanen, der Kräfteverschleiß, wenn auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, man der Willkür der Machthaber ausgesetzt ist – wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde all das verschleiert dieses Wort. Oder die Unge- des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung wissheit nach der Antragstellung: Wird man ihn, der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbe- wie so viele, ins Gefängnis stecken, um im Rah- dingung der Versklavung war.“ men des Tauschmodells mit der Bundesrepublik die Ablösesumme in die Höhe zu treiben? Ir- SEHNSUCHT NACH GEGENWELTEN gendeinen Vorwand würden sie schon finden, Wer eine Ahnung davon bekommen will, welche „Staatshetze“ zum Beispiel. Oder werden sie ihn Einschränkungen junge Menschen in der DDR zehn Jahre lang warten und versauern lassen, ehe dazu antrieb, das Wagnis Ausreiseantrag einzu- mal eine Antwort kommt? gehen, der möge Hegewalds erstes Buch lesen. Es Fast 40 Jahre nach seiner Übersiedlung, im heißt „Das Gegenteil der Fotografie“, ist 1984 bei März 2021, sitzt Wolfgang Hegewald in seiner S. Fischer erschienen und das einzige seiner pu­ Wohnung in Barmbek-Süd und konstatiert: „Die blizierten Bücher, das er noch in der DDR ge- Entscheidung, mich mit dem Monstrum Aus­ schrieben hat. Es lässt sich als Stimmungsbild reiseantrag herumzuschlagen und ins Offene zu einer politischen Resignation lesen: Für die Pro­ gehen, ist die Freiheitstatsache meines Lebens tagonisten Anja und Friedrich sollte es ein schö- schlechthin. Sie ist bis heute ein Fundament mei- ner Urlaub werden. An einem späten Augusttag ner Existenz und meines Schreibens, weil sie mit Ende der 1970er-Jahre zieht es die beiden gen der elementaren Erkenntnis verbunden ist, dass Süden, vielleicht, weil ihre „Träume vorschnellten billige Freiheit nichts wert ist.“ in südliche Üppigkeit“. Nahe einer südböhmi- Es ist ein schöner Zufall, dass ausgerechnet schen Talsperre, nicht weit von Bayern und Öster- seine Wahlheimat Hamburg ebenjene Stadt ist, reich entfernt, sind sie zu nahe an die Grenze ge- in der Hannah Arendt am 28. September 1959 raten, der Verdacht der sogenannten „Republik- Wahlheimat statt anlässlich des Lessing-Preises ihre berühmte flucht“ steht im Raum. Nun sitzen sie getrennt Herkunftskitsch: Die Fixierung auf Verwur- Rede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zei- voneinander in Untersuchungshaft und werden zelung sieht Hegewald ten“ gehalten hat. Als Hegewald 1983 die Grenze verhört. Während ihrer Haft fabulieren sie, resü- als „biographischen Holzweg und einen in den Westen überquert, kennt er die Rede noch mieren ihre bisherigen Enttäuschungen und um- groben Irrtum über die nicht, er wird sie erst 25 Jahre später lesen und kreisen ihre Wünsche nach einer Wirklichkeit u eigene Natur“

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45 Als Hegewald ein Kind ist, wird ihm fälschlicherweise ein Herzfehler diagnostiziert. Das Organ wird im Laufe seines Lebens immer wieder eine wichtige Rolle einnehmen. Sein Roman „Herz in Sicht“ ist autobiografisch inspiriert von einer Operation am offenen Herzen. Dem Roman stellt er ein Zitat von Hannah Arendt voran: „Das Herz ist ein komisches Organ; erst wenn es gebrochen wird, schlägt es seinen eigenen Ton; wenn es nicht bricht, versteinert ist. Der Stein, der einem vom Herzen fällt, ist fast immer der, in welchen sich das Herz fast verwandelt hätte.“

jenseits von grauer Provinzialität. Spiel, Sommer, Strenge, Jazz, heilige Zärtlichkeit und unbefleckte Farbenpracht, Transzendenz und Lebenslust wer- Abtreibung, der Charme einer Bahnhofstoilette, den evoziert, oder eher: die Sehnsucht danach. die Entfernung von geilem Bürgergrinsen, (…) Eine Stelle, an der Anja den Jazz als Gegenwelt Jazz, das Hinüberweisende, da hinüber.“ zum DDR-Muff zelebriert, beschreibt diese Sehn- Ihre Sehnsucht nach anderen Wirklichkei- sucht und gleichzeitig die ganze Tragik ihrer Un- ten, in der Sprache, in der Musik, im Alkohol, terdrückung mit poetisch-präziser Wucht in ei- wird vom Wirklichkeitsdiebstahl der Diktatur nem furiosen Benennungsrausch voller Ambi- sowie von Friedrichs und Anjas eigener Ohn- guitäts- und Nuancensensibilität: macht erstickt. Am nächsten Tag werden sie aus „Jazz, da berührten sich endlich Spiel und der Haft entlassen, doch eine Entlassung in die Existenz, da verließ meine Biographie ihre fatale Freiheit ist es nicht. Als Erkenntnis bleibt, dass Richtung, Jazz, die Rückkehr zur rauchgeschwän- geistige Freiheit ohne mobile Freiheit wertlos ist. gerten Höhle und die Zukunft des Jagdzaubers, Arendt dixit. animalische Gier und der Ekel vorm feucht sau- „Morgen werden wir wieder zu Hause sein; genden Leben zugleich, Jazz, die Sehnsucht sich das ist beinah unvorstellbar, denn so vergehen die auszulöschen, entgrenzter Lebensrausch, die Jahre“, lautet das Fazit ihres Urlaubs. Wer will, Sprache der Eingeweide, der Intellekt der Schen- kann etwas von Hegewalds Freiheitsbegehren kel, (…) die trunkene Zeugung, sentimentales darin wiedererkennen, das ihn auch als Ergebnis Kunststück, wahre Lüge, Wahnsinn, der sich einer biografischen Zuspitzung zur Ausreise selbst formuliert, Exorzismus von puritanischer drängt – wenngleich man sich hüten sollte, seine

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Texte auf autobiografische Hinweise zu veren- Hegewald ist Teil einer Gruppe von jungen gen. Jene Zuspitzung hat einen langen Anlauf, Autoren, die sich gegenseitig ihre Texte vorlesen. sie beginnt in Hegewalds Grundschulzeit. Eines Tages haben sie einen öffentlichen Auftritt in der Dresdner Jugendbibliothek. Lesungen, KINDHEIT muss man dazu sagen, haben einen sensationell Als die Mauer errichtet und er in eine Diktatur subversiven Rang in der DDR. An diesem Abend eingekesselt wird, ist er neun Jahre alt. Wolfgang liest Hegewald einen Text, in dem Monteure im Hegewald wird am 26. März 1952 in Dres- Keller eines Hauses Rohre austauschen. An genau den-Klotzsche geboren. Seine frühe Kindheit ist dieser Stelle stehen mehrere Männer auf. Hier noch ungetrübt. Landschaftlich idyllisch einge- finde gerade eine Konterrevolution statt, sagen sie. bettet, wächst er am Stadtrand an den Ausläufen Die Spitzfindigkeit der Zensur sieht in den Roh- der Dresdner Heide auf. Die Familie wohnt im ren ein Synonym für Leitungen, ergo den Text als oberen Geschoss eines Zweifamilienhauses mit Parabel über den Austausch der politischen Füh- Garten, der ein Urelement seiner Kindheit ist. rung. Tumultartige Szenen, die Lesung wird u Die Schulzeit ist bedrückend. Den Einschnitt be- kommt er abrupt zu spüren, als die Gleichschal- tung beginnt. Ein Glück, dass es Literatur gibt. Als er elf Jahre alt ist, diagnostiziert ein Arzt fälschlicher- weise einen Herzfehler. Ein Jahr muss er wegen Vor der Abreise am der Fehldiagnose im Bett liegen. Er nutzt die Zeit Leipziger Bahnhof. zur Lektüre, aus ihm wird ein hingerissener Le- Nach seiner Ankunft in Hamburg kommt ser. Die Märchen der Brüder Grimm und die er zunächst bei einer Abenteuergeschichten von Karl May – in der Bekannten in Winsen/ DDR verbotene Schmuggelware – haben es ihm Luhe unter. Als Sozialhilfeempfänger angetan, sie sind Gegenwelten zum stickigen verrichtet er dort eine Alltag. Die ersten Maßstäbe zum Autorensein Zeit lang gemein- werden gesetzt, diffus und noch ungeordnet regt nützige Arbeit – eine erdende Tätigkeit, sich der Wunsch, Schriftsteller zu sein in ihm. findet Hegewald Umso schmerzhafter ist es für ihn, dass sei- ne liebsten Texte im Deutschunterricht „mit dem schartigen Besteck des sozialistischen Realismus malträtiert“ werden, so Hegewald rückblickend. So will er nicht behandelt wissen, was er liebt. Er entscheidet, literarischer Autodidakt zu bleiben und nicht Literatur zu studieren.

STUDIUM Was also tun? Ein Brotberuf ist, gerade in der DDR, das beste Mittel, um sich künstlerischen Freiraum zu schaffen. Hegewald, schon immer naturwissenschaftlich interessiert, studiert ein damals noch neues Fach, Informationsverarbei- tung, an der TU Dresden. In dieser vierjährigen Studienzeit verkehrt er bereits in literarischen Kreisen, auf der Suche nach so etwas wie Öffent- lichkeit entdeckt er zudem die Kirchenräume als Refugium. In der Evangelischen Studentenge- meinde öffnet sich ihm ein Raum demokrati- scher Mitbestimmungsmöglichkeiten und aus- Heitere Tage: Silves- differenzierter pluralistischer Interessen – und er ter 1987 in der Villa Massimo in Rom mit entdeckt die Bibel als poetische, also genuin am- Ulrike Greve. 1988

FOTOS: PRIVAT FOTOS: bivalente Lebens- und Freiheitslektüre für sich. heiratet das Paar

47 DIE KIRCHLICHE HOCH- SCHULE IN LEIPZIG IST EINE „INSEL IM ROTEN MEER“

unterbrochen, das Publikum nach Hause ge- schickt. Einige Wochen später kommen zwei Her- ren zu Hegewald nach Hause, er lebt noch bei sei- nen Eltern, und fordern ihn auf, den Text schrift- lich zu widerrufen. Hegewald widerruft nicht, wo- mit er durchkommt, allerdings wird ihm nach Ab- schluss seines Diploms wegen seines Engage- ments ein Promotionsverbot auferlegt. Es folgen drei Pflichtjahre in einem stink­ langweiligen Industriejob im VEB Kraftwerksan- lagenbau Radebeul. „Kasernierte Arbeitslosig- keit“, sagt Hegewald heute dazu, vier Diplom­ ingenieure sitzen in einem Barackenzimmer und haben oft monatelang nichts zu tun als Fachzeit- schriften zu lesen. Eine frustrierende Lebenspha- se, aber immerhin, nachts schreibt er. Das Promotionsverbot ist einer von mehre- ren Brüchen in Hegewalds Biografie. Nachdem er die Pflichtjahre abgesessen hat, muss er zuse- gärtner, er ist kein Student, aber weil seine Ver- hen, wie es für ihn weitergeht. Ein zweites staatli- bindung zur Dresdner Studentengemeinde nicht ches Studium wird ihm nicht gestattet. Aber es abgerissen ist, erhält er eine Einladung zu einem gibt noch die kirchlichen Räume, sie waren ihm, Wochenende im Erzgebirge. Dort begegnet er am der nicht besonders religiös erzogen wurde, bis- 19. März erstmals dem Schriftsteller Franz Füh- her eine Zuflucht, und ohnehin, die Geisteswis- mann, der für die Studenten liest. Fühmanns senschaften fehlen ihm noch. Bis zum Semester- Texte begeistern Hegewald nachhaltig: „Was ich beginn überbrückt er noch ein halbes Jahr als bislang von Fühmann gelesen hatte, entzückte Friedhofsgärtner in Dresden, dann beginnt er mich und den Schriftsteller, der ich werden woll- sein Studium der Theologie an einer kirchlichen te. Mich begeisterte der Erscheinungsreichtum Hochschule in Leipzig. Was für eine Insel der dieser Prosa: statt syntaktischer Einfalt und plot- unabhängigen Gelehrsamkeit! Endlich mal etwas gesteuerter Linearität ein präzise überbordendes anderes als Marx und Lenin: Wittgenstein, Kier- Spiel mit Perioden und Kadenzen, die kontrollier- kegaard, was für eine geistige Durchlüftung! te Lust an der Abschweifung und die in Sprache Nach zehn Semestern auf dieser „Insel im roten modellierten Hologramme, die Verschränkung Meer“ schließt Hegewald sein Studium mit einer von Prägnanz und Virtuosität“, schreibt Hege- Arbeit über „Poesie und Predigt“ ab. wald in einem Erinnerungsessay. An Fühmann entzündet sich seine „Liebe für hybride Formen. FÜHMANN, DER FÖRDERER Wahrnehmungsminiaturen und Mikroessays; In diese Zeit fällt eine prägende Begegnung. Im Denkbilder, Maximen und Reflexionen; poetolo- März 1977, Hegewald arbeitet noch als Friedhofs- gische und geschichtsphilosophische Exkurse;

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übermütige Ausflüge in die Konkrete Poesie; folglich seine Texte keinem Westverlag anbietet. Nachdenken über Mythos, Märchen und Mathe- Im Café Corso, wo er seine Honorare ausgibt, matik als spezifische Erkenntnisregionen, die breitet sich bei Jazz und Literatur, Promiskuität Fühmann seit jeher interessierten.“ und Suff ein Lebensgefühl aus, das in einem Fühmann ist nicht nur ein bemerkenswerter Slogan Ausdruck findet: „Resignation ist noch zu Schriftsteller, er ist auch ein enthusiastischer För- viel Engagement“, lautet er. „Wir fristeten unser derer junger Schriftstellerinnen und Schriftstel- Dasein hoch- und übermütig in einem Verhäng- ler. In einem Land ohne Öffentlichkeit für Texte, nis, für das wir uns ganz und gar nicht verant- in dem jeder Bereich des privaten Lebens über- wortlich wähnten, hineingeboren eben“, erinnert wacht wird, legt Fühmann Fürsprache bei Verla- sich Hegewald. gen ein und interveniert bei der Zensurbehörde, Hannah Arendt spricht in ihrer Lessing-Re- die sich nicht Zensurbehörde nennt. Zwischen de von den Parias, den Insassen von Diktaturen, Fühmann und Hegewald beginnt eine fruchtbare die anstatt im Licht der Aufklärung in beheizten Korrespondenz, eine wertschätzende Verbin- Wärmestuben zusammenrücken und ihre dung. Fühmann liest Hegewalds Texte, kritisch schreckliche Weltlosigkeit durch Ohnmachts­ und handwerklich auf sie einwirkend – und er fantasien kompensieren: „Die Menschlichkeit setzt sich für den jungen Schriftsteller auf Ver- der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde lagssuche ein. der Befreiung noch niemals auch nur um eine Ab September 1977, Hegewald studiert also Minute überlebt. Das heißt nicht, dass sie nichts Theologie in Leipzig, scheint erstmals seine sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar; Hoffnung auf eine Schriftstellerexistenz konkre- aber es heißt, dass sie politisch schlechterdings tere Formen anzunehmen. Was der VEB Hin- irrelevant ist.“ storff Verlag mit ihm treibt, ist indes nur ein zyni- Arendt beschreibt ebenjenes Ohnmachtsge- sches Spiel mit dem Prinzip Hoffnung. Über fühl, an dem auch Anja und Friedrich aus „Das Jahre hält der Verlag ihn hin, setzt Verträge für Gegenteil der Fotografie“ leiden. Ihr Rückzug in die Rechte an Büchern auf, die nie erscheinen, die private Intimitätsblase ist das Gegenteil von zahlt ihm Honorare für fiktive Buchauflagen aus. Arendts politischem Freundschaftsbegriff, der Freundschaft als öffentliches Ereignis begreift, AUSSICHTSLOSIGKEIT UND AUSREISE als existenziell-politische Konstruktion, als ge- Jahre, in denen ein Vergeblichkeitsgefühl wächst, meinsames Gespräch über die Welt – und die auch, weil Hegewald sich stur an sein Diktum Welt als Gegenstand, der diese Freundschaft be- hält, nur dort zu publizieren, wo er auch lebt und lebt und ihr einen Ort gibt. u

SEINE WERKE Eine Auswahl

„Fälle und Fallen“, „Lexikon des Lebens“, „Herz in Sicht“, „Die eigene Geschichte“, „Fegefeuernachmittag“, Wallstein, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, Matthes & Seitz, 79 Seiten, 16 Euro 367 Seiten, 28 Euro 285 Seiten, 19,90 Euro 176 Seiten, 14,80 Euro 256 Seiten, 19,80 Euro

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Im Jahr 2000 ruft Hegewald den Italo-Svevo-Preis ins Leben. Die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung honoriert „literarische Spielarten des ästhetischen Eigensinns“. Hegewald: „Ein Preis, der methodisch die blinden Flecken der Betriebswahrnehmung nach Erstklassigem­ durchmustert. Der Italo-Svevo-Preis denkt an den Leser von morgen, indem er ein literarisches Werk ehrt und fördert, dessen Rang sich bereits abzeichnet, dem es jedoch vorerst am breiten Zuspruch der Zeit mangelt. Er ist ein Solitär.“

Es reicht. Im Jahr 1982 ist Hegewald 30 Jahre sen. Seine Bücher darf er mitnehmen, wenn- alt. Höchste Zeit, die Verantwortungslosigkeit hin- gleich unter aberwitzigen Bedingungen. Er muss ter sich zu lassen. Zumal ein Ende dieser Zustände eine Bücherliste vorlegen, die belegt, dass er kei- nicht absehbar ist, keiner kann sich vorstellen, ne „den Frieden störenden Schriften“ hat. dass die Mauer fällt. Im Juni 1982 bringt er seinen Ein Teil seiner Freunde lehnt seine Entschei- Ausreiseantrag in Leipzig-Reudnitz zur Post. dung, das Land zu verlassen, ab. Sie träumen Die Schikanen folgen unweigerlich: Über noch immer von der besseren DDR. Hegewald Nacht zieht, behördlich lizensiert, ein Ex-Knacki lässt ihr „Wir bleiben hier!“ nicht gelten, jenes als Mitbewohner in die Zweizimmer-Mansarden- Kollektivierungsgebot, das sich anmaßt, „in mei- bude in einem abrissreifen Haus ein und pisst in ne persönliche Lebensentscheidung hineinzure- den Emailleabfluss in der Küche, die einzige den und mich zum entbehrlichen Hobelspan des Wasserstelle. Da bietet ein Freund, der Jazz­ Fortschritts zu deklarieren“. posaunist Frieder W. Bergner, Hegewald Asyl in Andere reagieren mit Verständnis. Ein Vo- seiner Wohnung an. Insgesamt geht das „Mons­ tum seines engen Vertrauten Jürgen Israel, eines trum Ausreiseantrag“ für Hegewald aber glimpf- Germanisten, nach einer anderthalbjährigen Ge- lich aus. Kein Gefängnis, kein zehn Jahre andau- fängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung erndes diffuses Warten. Rund 15 Monate nach faktisch mit Berufsverbot belegt, wird Hegewald seiner Antragstellung erhält er einen Brief, er nie vergessen: „Ich werde einen meiner besten solle die DDR innerhalb von vier Wochen verlas- Freunde verlieren und vermissen. Aber für dich

50 ist die Entscheidung richtig und notwendig; du gehst sonst hier kaputt“, sagt er. Auch Franz Fühmann, sein Förderer, der an seinem Versuch, der Poesie in der DDR einen Raum zu schaffen, immer mehr verzweifelt, zeigt bei allem Bedauern Verständnis. Ein Schriftsteller trage allein die Verantwortung für sein Werk, nie- mand sonst, sagt Fühmann ihm. Und niemand sonst, so der Schriftsteller weiter, habe das Recht, ihm Vorschriften zu machen, wie er dieser Verant- wortung nachkomme. Wenige Wochen vor seiner Abreise besucht Hegewald den an Krebs Erkrank- ten, der schwer gezeichnet in der Berliner Charité liegt, und verabschiedet sich. Es ist ein Abschied für immer, Fühmann stirbt im Juli 1984.

PUBLIKATIONEN IN DER BUNDESREPUBLIK Im Westen hat er einen guten Start: 1984 gewinnt er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Kla- genfurt den Preis der Kärntner Industrie. Im sel- ben Jahr veröffentlicht S. Fischer sein Debüt. Ein Jahr später folgt schon „Hoffmann, Ich und Teile der näheren Umgebung“, 1987 sein Roman „Ja- kob Oberlin oder Die Kunst der Heimat“. Insge- samt 14 Bücher hat er bis heute publiziert. Sie alle durchzieht eine übersprudelnde Sprachlust. Das 2017 bei Matthes & Seitz erschie- nene „Lexikon des Lebens“, sein vielleicht wich- tigstes Werk, ist so etwas wie die Summe seines Schreibens – und, nebenbei bemerkt, sein phy- Oben: Hegewalds Ausgabe von Franz sisch mit Abstand schönstes Buch. Zwei weitere Fühmanns „Zweiund- Künstler haben daran mitgewirkt: Die Bilderzäh- zwanzig Tage oder Die lerin Anke Feuchtenberger hat 27 Kohlezeich- Hälfte des Lebens“, die dieser ihm bei ihrer nungen beigesteuert, der Typograf Jovica Veljović ersten Begegnung sig- hat das Buch mit der eigens erfundenen Schrift Außerdem: Komik im existenziellen Sinne. niert. Unten: Im Herbst Agmena bibliophil gestaltet. Wie so oft, greift Seine 2020 bei Wallstein unter dem Titel „Fälle 2021 erscheinen Hege- walds Aufzeichnungen Hegewald darin autobiografische Versatzstücke und Fallen“ veröffentlichten Capriccios sind Sze- aus dem Jahr 2020 auf, verwandelt sie in einem Spiel, das immer nen, in denen, so Hegewald, „Elemente des Alltäg- – wohlgemerkt: kein Corona-Tagebuch – im auch Identitätskritik wider den grassierenden lichen, Burlesken, Grotesken, Skurrilen und Wallstein Verlag. Titel: Authentizitätskitsch ist, fügt, wahrnehmungs- Phantastischen sich zu Tableaus verquicken, in „Tagessätze / Roman süchtig und weltneugierig, wie er ist, Alltagsbe- denen sich auf ästhetische Weise ein Aufklärungs- eines Jahres“ obachtungen und essayistische Exkurse ein. Pro- interesse zu erkennen gibt. Aufklärungsinteresse grammatisch für Hegewalds Lexikon steht ein auch an dem, was kategorisch unaufklärbar ist“. Bonmot von Jean Cocteau, laut dem „auch ein In „Eine kleine Feuermusik“ aus dem Jahr gelungener literarischer Text nichts ist als ein in 1994 erzählt Hegewald von einem Brandstifter, Unordnung gebrachtes Alphabet“. Und die an dessen uneindeutiger Motivlage das Gericht Grammatik ist, wie Hegewald in dem 2020 bei verzweifelt. Heinz Ludwig Arnold sieht darin in Wallstein herausgekommenem Sammelband einem Nachwort eine „Werbung für das Rätsel „Literarische Werkstattgedanken“ schreibt, ein Mensch“ und fasst Hegewalds Programmatik „Kosmos kombinatorischer Unendlichkeit, (…) folgendermaßen zusammen: „In einer nach ein- eine elementare Schöpfungstatsache, ein Satzge- deutigem Sinn gierenden Welt widerstehen He- nerator, der zu zaubern beginnt, wenn er in die gewalds ,Helden‘ solcher gewünschten Ein-Deu- richtigen Hände fällt“. tigkeit, indem sie sich deren Allanspruchs u

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suchtsort stilisiert hat, wird seine Wahlheimat. Und was für schöne Zufälle und wie viel Genug- tuung die Hansestadt birgt: Hier lernt er 1986 seine Frau, die Theologin und angehende Pasto- rin Ulrike Greve, kennen. Die Stadt Hamburg er- möglicht ihm 1987 ein einjähriges Stipendium in LITERATUR IST FÜR der Villa Massimo in Rom, wo seine Erzählung HEGEWALD IN SPRACHE „Verabredung in Rom“ entsteht. „Die Stadt, das Licht, die Farben, die Märkte – sie haben mir end- MODELLIERTE gültig das ostzonale Grau aus den Augen gewa- MENSCHENERFAHRUNG schen. Eine existentielle Reinigung“, sagt Hege- wald. 1989 nominiert ihn die Literaturredaktion der Zeit als Fellow für den German Marshall Fund. Im Rahmen einer vierwöchigen Rundreise ist er zu Besuch in der Literaturredaktion der New York Times, im Haus von William Faulkner in Oxford, Mississippi und in der Kongressbiblio- thek in Washington, D.C. Last, but not least: 22 Jahre nach dem Promo- konsequent wie eines unsittlichen Antrags er- tionsverbot in der DDR, beruft die Fachhoch- wehren. Statt dessen errichten sie ihre eigene schule Hamburg (später Hochschule für Ange- Wirklichkeit, leben nach selbstgesetzten Regeln, wandte Wissenschaften) Hegewald im Herbst die einer so auf Eindeutigkeit fixierten Außen- 1996 auf eine Professur in einem Fach, das er nie welt unverständlich bleiben müssen. (…) Den studiert hat. Er wird für 22 Jahre, bis zu seiner sinnlos gewordenen Sinn in Frage zu stellen, Emeritierung im Jahr 2018, Professor für Poetik, statt ihn zu fixieren (…) und somit einen alten, Rhetorik und Creative Writing am Department verschollenen Sinn mit literarischen Zauberwor- Design. Ein Wahlpflichtfach, das künftigen Illus- ten wieder in die Erinnerung und vielleicht sogar tratoren, Comiczeichnern, Fotografen, Typogra- ins Leben zu rufen – so lautet das Programm von fen, Graphic-Novel-Erzählern, Werbetextern und Wolfgang Hegewald.“ Game-Entwicklern hilft, „methodische Erfahrun- Literatur ist für Hegewald in Sprache model- gen beim eigenen Erzählen zu sammeln, die lierte Menschenerfahrung, und die ist nie ein- Hellhörigkeit in allen Belangen des Wortlauts zu deutig. Im „Lexikon des Lebens“ heißt es einmal: verfeinern, mit Weltliteratur in Berührung zu „Poesie teilt nicht umstandslos etwas mit, Poesie kommen und Poesie als einen eigenständigen informiert nicht, Poesie gibt uns existentiell zu Erkenntnismodus zu entdecken“, wie Hegewald denken, denn wir hängen bis ins Mark der Seele seine Aufgabe als „Schriftsteller im öffentlichen am mehrdeutigen Wort.“ Dienst“ beschreibt. Den Wert der Irritationen, im besten Sinne, Bereits vor seiner Tätigkeit an der HAW etab- die Hegewald mit seinen Grotesken bisweilen liert Hegewald an der Uni Tübingen von 1993 bis auslöst, sieht er darin, dass die Leser „für die 1996 das „Studio Literatur und Theater“, einen Dauer ihrer Lektüre einmal das Gängelband ihrer Modellversuch, der Studenten aus allen Fakultä- Sprachkonventionalität lockern und beginnen zu ten eine Sprache der Kritik vermittelt, eine Spra- staunen. Wir sind alle von Kindheit an sprach- che der nuancierten Unterscheidungskunst. He- dressiert und auf Bedeutung und Sinn getrimmt gewald begreift Sprache als Schöpfungs- und und wenig darin geübt, den schönen Eigensinn „Hochpräzisionsinstrument“, Schreiben als von Worten und Sätzen zu entdecken.“ „Kulturtechnik im Dienste eines Existentials“. Ein Schreiben, das nichts mit Genieästhetik zu WAHLHEIMAT HAMBURG tun hat, sondern das erlernt werden kann wie in Zurück zu Hegewalds Biografie, genauer: nach einer Werkstatt, weshalb er gerne von seiner Hamburg. Es gibt ein paar Umwege, über Win- „Werkstatt der Wörtlichkeit“ spricht, die auch ein sen/Luhe, Bremerhaven und Tübingen unter an- Ort der Aufklärung und der Herzensbildung ist. derem, doch Hamburg, die Stadt, in die er immer Man könnte dieses Porträt mit einem wohli- wollte, die er schon in Leipzig zu seinem Sehn- gen Gefühl beenden, von einem, der ins Offene

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Ein Zwischenstadium, in dem die Landschaft verschwimmt: genau das richtige Wetter für Hegewald, der sich stets Eindeutigkeiten verweigert zog und Erfüllung fand. Es wäre ein unehrliches dio Theater und Literatur“ an der Universität Tü- Ende in Zeiten, in denen das Offene, dessen vehe- bingen soll zum kommenden Wintersemester menter Verfechter Hegewald ist, zunehmend be- auslaufen. droht erscheint: „Stürmische Zeiten. Weltweite Eine elementare Erkenntnis aus Hegewalds Latenz eines Populismus, der die Demokratien zu Leben und Werk findet heute unter umgekehrten verfinstern beginnt. Schichtenunabhängige Asozi- Vorzeichen ihre Geltung: dass mobile Freiheit alität. Authentizitätsfuror bei zunehmend totalitä- ohne geistige Freiheit, die nicht zuletzt im rer Konsenskonditionierung. Verschwörungstheo- sprachlichen Nuancenreichtum liegt, wertlos ist. rien, die sich aufklärerisch gerieren. Fake News und notorische Denunziation des Komplexen.“ Weltverwahrlosung, davon ist Hegewald überzeugt, beginnt mit der Sprachverwahrlo- ULRICH THIELE sung. Werkstätten der Wörtlichkeit, die der Ver- ist Redakteur und Literaturressortleiter finsterung mit Aufklärungslicht begegnen, fallen beim Szene Hamburg Stadtmagazin und der seit einigen Jahrzehnten voranschreitenden Projektleiter von Hamburg History Live. Er ist jetzt so alt wie Hegewald bei seiner Radikalökonomisierung zum Opfer. Unter die- Ausreise. Zuletzt überquerte er die Gren- sen Umständen eine Hiobsbotschaft: Das „Stu- ze zwischen Niendorf und Norderstedt

53 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

Tabula rasa: Um Platz für den Freihafen zu schaff en, nimmt der Senat den Verlust ganzer Wohnquartiere in Kauf. Das 1885 entstandene Foto zeigt einen Blick über die Straße „Auf dem Sande“. Links ist die Hauptkirche St. Katharinen zu sehen, rechts der 1879 fertiggestellte Kaispeicher B, in dem sich heute das Internationale Maritime Museum befi ndet

54 FOTOS: NEUE WELTSTADTNEUE Widerstrebend, aber mit ungeahntem Erfolg in eine neue Ära: Wie radikal sich Hamburg im Kaiserreich hat modernisiert DES KAISERS KAISERS DES TEXT: MATTHIAS GRETZSCHEL

FOTO: SPEICHERSTADT MUSEUM 55 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

m Anfang hat Georg Koppmann Mühe, überhaupt durchzukommen. Zu groß ist das Gedränge in den schmalen Gän- Agen, die sich schließlich zu einem Hof öffnen. So ganz wohl ist dem Mann im dunklen Anzug nicht zumute, als er sich an diesem Tag im Jahr 1883 mit schwerem Gepäck zum Kehrwieder aufmacht. Das ist bekanntermaßen keine gute Gegend. Das hölzerne Monstrum, das er samt Stativ über dem Rücken trägt, weckt nicht nur das Interesse der Kinder, die ihn schon die ganze Zeit laut lachend begleiten, sondern auch mancher Erwachsener. Bei so viel Lärm ist das kein Wun- der. Überall in den altertümlichen zwei- bis drei- stöckigen Fachwerkhäusern werden jetzt die Fenster der Wohnungen nach außen geöffnet und manchmal sind es betrunkene Männer, öfter aber mürrische Frauen, die hinausschauen und ihm derbe Bemerkungen zuwerfen. Es riecht streng, wonach, das will er gar nicht wissen. Wie soll ich bei diesem Tumult nur arbeiten, fragt sich Kopp- mann, der schließlich innehält und sein Gepäck auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster des In- Großer Bäckergang um 1900 nenhofs abstellt. Als er sich wieder aufrichtet, wird es plötzlich still, denn ein Konstabler taucht auf, dem die Kinder scheu Platz machen. Der Fotograf ist erleichtert, denn der Ord- nungshüter wird ihm helfen, schließlich handelt er in offiziellem Auftrag. Als der Polizist vor ihm steht, stellt er sich als Georg Koppmann vor. Er sei Anweisung hält, stillzustehen und sich nicht zu Lichtbildner und mache hier im Auftrag der Bau- rühren. Nur die Bettwäsche, die auf einer Leine deputation fotografische Aufnahmen. Nachdem rechts hängt, bewegt sich während der langen er aus seiner Anzugtasche auch noch ein Beglau- Belichtungszeit leicht im Wind. bigungsschreiben hervorgeholt und dem Schutz- Ob die Menschen schon wissen, dass sie ihr mann präsentiert hat, sorgt dieser augenblicklich Zuhause bald verlieren werden, fragt sich der Fo- für Ordnung. So kann Koppmann seine Plattenka- tograf, während er – nun schon wieder von neu- mera aus dem Futteral nehmen, auf das hölzerne gierigen Kindern umringt – seine Kamera vom Stativ schrauben und ein schwarzes Stofftuch da- Stativ schraubt, sie wieder einpackt und anschlie- rüberlegen. Er schlüpft unter das Tuch, was die ßend den Hof im Kehrwieder eilig verlässt. Eine Kinder mit schallendem Gelächter quittieren, halbe Stunde später ist Georg Koppmann zurück kommt aber gleich wieder hervor, um die Bewoh- in seinem Atelier am Neuen Wall Nummer 5, wo ner zu bitten, ein paar Schritte zurückzugehen. er noch einmal die lange Liste der Motive durch- Gleich darauf drängt sich die Menschenmenge im sieht, die er in behördlichem Auftrag fotografie- hinteren Bereich des Hofs. Nur ein junger Mann ren soll. Er erinnert sich noch gut daran, wie Bau- bleibt vorn stehen, steckt die Hände in die Ta- direktor Carl Christian Zimmermann ihm erklärt schen und blickt neugierig in Richtung Kamera. hat, worauf es bei seiner Arbeit ankommt. „Wir Koppmann ist das recht, es passt zum Motiv, zu- alle sind Zeuge davon, dass sich Hamburg so stark mal sich der Mann wie die meisten anderen an die und radikal verändert, wie in keiner Ära davor,

56 Die Brooksbrücke im Festschmuck: An diesem Hauptübergang vom Freihafen zur Stadt legt Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober 1888 den Schlussstein.

nicht einmal nach dem Großen Brand. Und Sie Doch schauen wir noch einmal zurück auf die sorgen dafür, dass man sich später noch an all Zeitenwende des Jahres 1871, mit der durch die jene Gebäude erinnern wird, die schon bald ver- Gründung des Deutschen Reiches auch für Ham- schwunden sein werden“, hat Zimmermann ge- burg die Weichen neu gestellt werden. Manchem sagt und ihm die Pläne der backsteinernen Spei- gehen die Veränderungen, die schon bald nach cher gezeigt, die schon bald dort stehen werden, Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzen, nun aber wo jetzt noch Menschen wohnen. Das sind nicht immer mehr Fahrt aufnehmen, viel zu schnell. nur arme Schlucker wie die Hafenarbeiter mit ih- Wo soll das nur alles enden, fragen sich einige der ren Familien, die er eben am Kehrwieder fotogra- meist schon betagten Ratsherren mit den spani- fiert hat. Bald beginnen die Abrissarbeiten auch schen Halskrausen, die feststellen müssen, dass am Wandrahm. Dort stehen keine ärmlichen Be- sich die Souveränität der Hansestadt wohl auf hausungen, sondern die stattlichen, oft mit reprä- Dauer nicht bewahren lassen wird. Schon für den sentativen Portalen und reich geschmückten Beitritt zum Norddeutschen Bund hat man 1866 Giebeln versehenen Häuser von wohlhabenden trotz mancher Vorteile einen hohen Preis gezahlt, Kaufleuten. Für Koppmann ist es ein Wettlauf der den Stolz manches Hanseaten ganz empfind- gegen die Zeit, denn die Abrissunternehmen sind lich kränkt: So sind die Hamburger Konsulate in schnell, schließlich müssen sie Platz schaffen für aller Welt aufgelöst worden, denn Außenpolitik ist die Anlage des Freihafens, mit dem sich Hamburg nun Bundesangelegenheit. Außerdem hat man

FOTOS: STAATSARCHIV HAMBURG (O.L.), VINTAGE (O.R.) VINTAGE (O.L.), HAMBURG STAATSARCHIV FOTOS: gerade neu erfindet. die Hoheit über das Post- und Telegrafenwesen u

57 INNERHALB WENIGER JAHRZEHNTE STEIGT HAMBURG ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS ZU EINER INTERNATIONALEN METROPOLE MIT MODERNER INFRASTRUKTUR AUF

58 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

Für Majestät scheut man keinen Aufwand: Als Wilhelm II. am 19. Juni 1895 anläss- lich der bevorstehenden Einweihung des Nord-Ostsee-Kanals in Hamburg eintrifft, überrascht man ihn mit einer künstlichen Insel auf der Binnenalster, auf der sogar ein 23 Meter hoher Leuchtturm steht

Georgsplatz zusammengesessen, um schließlich zähneknirschend zu beschließen, dass anlässlich der Reichsgründung in Hamburg 101 Salutschüs- se abgefeuert werden. Gegen 14 Uhr betreten die beiden Herren durstig und mit knurrendem Ma- gen einen Weinkeller an der Deichstraße. „Kaiser hin, Kaiser her, aber unsere Zollhoheit, die lassen wir uns von den Preußen nicht auch noch neh- men“, sagt der Ältere, als beide ihre Aalsuppe be- stellt haben und die mit Rotspon fast randvoll ge- füllten Gläser erheben. „Nein, nein, in dieser Sa- che muss Kirchenpauer gegen diesen furchtbaren Bismarck auf jeden Fall hart bleiben. Dem wird man in Hamburg niemals ein Denkmal setzen. Schlimm genug, dass er Ehrenbürger werden soll“, antwortet ihm sein jüngerer Kollege, nach- dem man sich zugeprostet hat. Dabei wissen die verloren und – was besonders schmerzt – das ei­ beiden Senatoren nur zu gut, dass ihr Kollege gene Militär. Gustav Heinrich Kirchenpauer, der beim Bundes- Zwei befreundete Senatoren schlendern im rat in Berlin die Hamburger Interessen vertritt, Januar 1871 in der Mittagszeit Richtung Deich­ keinen leichten Stand hat. Denn Bismarck, der straße. Die Passanten erkennen sie, grüßen ehrer- nun nicht mehr nur preußischer Kanzler, sondern bietig und machen ihnen auf dem Trottoir höflich Reichskanzler ist und damit der starke Mann im Platz. Doch die beiden Herren wirken mürrisch, neuen Staat, will die Zollprivilegien von Hamburg sind nach einer schier endlosen Sitzung ganz und und Bremen möglichst bald beenden. Die beiden gar nicht in Feierlaune. Viel zu lange hat man im Senatoren, die ja selbst Kaufleute sind, reden sich

FOTOS: SHMH FOTOS: Haus von Bürgermeister Hermann Goßler am bei ihrem ausgedehnten und Trinken im u

59 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

WÄHREND EINE MODERNE CITY ENTSTEHT, MÜSSEN ZAHLLOSE MENSCHEN UNTER ERBÄRMLICHEN UMSTÄNDEN LEBEN

gemütlichen Weinlokal an der Deichstraße die Köpfe heiß, denn sie wissen nur zu gut, dass sich ihr Reichtum auf den Freihandel gründet. Ihnen ist aber auch bewusst, dass sie die neue Zeit nicht aufhalten können und dass die Stimmung unter den Hamburgern mehrheitlich patriotisch ist. Auf den Straßen und den Plätzen wird das frisch ge- gründete Kaiserreich bejubelt. Das werden die Senatoren in nächster Zeit noch öfter erleben. Am 17. Juni 1871 zum Beispiel, als die beiden Batail­ lone des preußischen, nun aber in Hamburg stati- onierten Infanterie-Regiment 76 siegreich heim- kehren. An diesem sonnigen Frühsommertag ist der noch unfertige Rathausmarkt schwarz vor be- geisterten Menschen. Mittendrin hat man Kaiser Wilhelm bereits ein monströses Reiterdenkmal errichtet, das zwar noch ein Provisorium ist, aber bald durch ein Bronzestandbild abgelöst werden wird. „Ein Preußen mitten in Hammonias Her- zen“, manchem Senator stößt das übel auf. Nicht alles hat erst mit der Reichsgründung begonnen, so sind die Würfel für den Bau eines großen, international konkurrenzfähigen Tide­ hafens schon vorher gefallen. Doch mit dem ­Wirtschaftsboom, der 1871 einsetzt, nimmt die Entwicklung von Stadt und Hafen so richtig Fahrt auf. Und Bismarck setzt Hamburg in Sachen Zollanschluss so stark unter Druck, das Kirchen- pauer sein Amt als Hamburgs Bevollmächtigter beim Bund 1880 schließlich hinschmeißt. Sein Nachfolger wird Johannes Georg Versmann, der ist flexibler und wohl auch mit größerer Weitsicht und mehr Verhandlungsgeschick gesegnet. Und er weiß auch, dass es in Hamburg starke Kräfte gibt, die den von Berlin geforderten Zollanschluss

unbedingt wollen. Und so einigt er sich Anfang u SHMH FOTO:

60 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

Für den Bau der Mönckebergstraße, die den Hauptbahnhof mit dem Rathausmarkt verbindet, müssen ganze Quartiere weichen. Orientierung bieten die Türme von St. Jacobi, St. Nicolai, St. Petri und der neue Rathausturm (v. l.)

61 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

MIT 40 MILLIONEN MARK BETEILIGT SICH DAS REICH AN DEN KOSTEN FÜR DEN FREIHAFEN

1881 mit dem Reichskanzler auf eine Lösung, die wohl der Zollanschlussvertrag, der das alles be­ so genial ist, dass man sich eigentlich wundern inhaltet, am 25. Mai 1881 unterzeichnet wird, ist muss, dass man nicht eher darauf gekommen ist: die Kuh noch lange nicht vom Eis, denn in der Hamburg stimmt dem Zollanschluss an das Reich Bürgerschaft gibt es enormen Gegenwind. Mit zu, erhält aber einen Freihafen, der sich auf ein ­ Engelszungen erklärt Versmann den Herren Ab- 16 Quadratkilometer großes Terrain beiderseits geordneten die Vorteile des Deals, sodass Ham- der Norderelbe erstreckt, das Zollausland bleibt, burgs Stadtparlament der Vereinbarung am 15. der hamburgischen Zollverwaltung untersteht Juni schließlich mit 106 gegen 46 Stimmen doch und über die Unterelbe zollfrei erreichbar ist. noch zustimmt. ­Außerdem beteiligt sich das Reich mit stolzen Die Arbeitskolonnen mit der Abrissbirne und 40 Millionen Mark an den Erschließungsarbeiten. den Spitzhacken bekommen jetzt noch viel mehr Das klingt gut, und wirkt sich für Hamburg zu tun. Und damit auch Georg Koppmann, denn wie ein großes Konjunkturprogramm aus, trotz- der Fotograf kommt bald kaum noch hinterher, all dem sind nicht alle gleich davon überzeugt. Ob- jene Gebäude aufzunehmen, die schon in Kürze

62 Dieses am 4. Mai 1905 entstandene Foto zeigt die enorme Dimension des im Bau befindlichen Hauptbahnhofs. verschwinden werden. Binnen weniger Jahre ent- Monarchisten gewesen wären. Und auch Bis­ Mit 73 Metern steht die Speicherstadt, die mit ihren Türmchen, marck ist inzwischen enorm populär. Spannweite entsteht hier eine der größten Erkern und Zinnen fast mittelalterlich anmutet, Mit seiner Seefahrts- und Marinebegeisterung freitragenden in Wahrheit aber eine supermoderne Umschlags-, kommt Wilhelm II. in Hamburg gut an. Man er- Bahnhofshallen Lager- und Transportinfrastruktur bietet, die weist ihm eine Ehrerbietung, die manchmal schon Europas Hamburg auch gegenüber den englischen Häfen absurde Blüten treibt und mit hanseatischer Nüch- konkurrenzfähig macht. ternheit nichts mehr zu tun hat. Als der Kaiser zum Und auch jenseits des Hafens profitiert die Beispiel am 19. Juni 1895 anreist, anlässlich der Hansestadt von der enormen wirtschaftlichen Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals, der ursprüng- Dynamik innerhalb des Deutschen Reiches. Im lich selbstredend Kaiser-Wilhelm-Kanal heißt, er- Lauf von wenigen Jahrzehnten entstehen moder- baut man ihm mitten auf der Alster eine 6000 ne Kontorhäuser mit elektrischem Licht, Rohrpost Quadratmeter große künstliche Insel mit Pavillons und Paternostern. An breiten Straßen werden re- und einem 23 Meter hohen „Leuchtturm“. präsentative Gebäude wie die Post am Stephans- Aber auch unabhängig von diesem vergängli- platz errichtet und als der erst vier Monate zuvor chen Pomp verändert sich Hamburg in der Kaiser- inthronisierte Kaiser Wilhelm II. am 29. Oktober zeit dramatisch, überall entstehen neue Gebäude 1888 nach Hamburg reist, um die Speicherstadt und breite Straßen, auf denen erst die Pferde- und feierlich einzuweihen, ist der Jubel riesig. Längst später die Straßenbahn verkehrt. Welthafen, Fa­ haben sich viele Hanseaten in Kaiser-Fans ver- briken, Hochbahn, Bahnhofspaläste, Luxushotels wandelt, die sich im Reich gut aufgehoben fühlen – binnen weniger Jahrzehnte wird das bis Mitte

FOTO: SHMH FOTO: und so tun, als ob sie schon immer begeisterte des 19. Jahrhunderts noch ein bisschen behäbige u

63 „MODERNE METROPOLE MIT DEMOKRATIEDEFIZIT“ Der Anschluss Hamburgs an das Kaiserreich sorgte für politische und soziale Spannungen. Ein Gespräch mit dem Historiker Prof. Dr. Franklin Kopitzsch über den ambivalenten Wandel zur Weltstadt

INTERVIEW: MATTHIAS GRETZSCHEL

ranklin Kopitzsch war bis 2013 Wäre die dynamische Entwicklung Professor für Sozial- und Wirt- Hamburgs zur Metropole mit Welt­ Fschaftsgeschichte am Histori- hafen auch ohne Reichseinigung in schen Seminar der Universität Ham- dieser Weise möglich gewesen? burg. Er ist Leiter der Arbeitsstelle für Da kann man nur spekulieren. In der Hamburgische Geschichte und seit Entwicklung Hamburgs zur Metropo- 1997 im Vorstand des Vereins für le und zum Welthafen war die Reich- Hamburgische Geschichte. seinigung nur ein Faktor unter ande- ren, bedeutender war die stark zuneh- Herr Kopitzsch, wie groß sind mende weltwirtschaftliche Verflech- die Vorbehalte in der politischen tung in einer Ära der Globalisierung. Klasse Hamburgs gegen die Reichs-­ gründung gewesen, die ja mit einem Wie kam es, dass sich stolze Verlust an Souveränitätsrechten Hanseaten so schnell in Anhänger der verbunden war? Mo­narchie verwandelt haben, die Ein beachtlicher Teil hatte erhebliche Welche sozialen Auswirkungen für dem Kaiser zujubelten? Vorbehalte. Vor allem für die „Alt- die Stadt hatte der Wirtschaftsboom, Ein wachsender Teil der Hamburger Hamburger“ war die Reichseinigung der nach 1871 einsetzte? verband „Bürgerstolz und Kaiser- ein „Amputationsprozess“, der „1867 Die sozialen Spannungen und Kon- treue“ (Renate Hauschild-Thiessen). mit dem Beitritt zum Norddeutschen flikte vergrößerten sich im Zuge des Auf der anderen Seite wuchs die Bund begann und 1881 mit der Unter- Wachstums der Stadt, des Hafens und ­Sozialdemokratie, die 1890 alle drei zeichnung des Zollanschlussvertrages der Industrie. Der größte Wachstums- Reichstagswahlkreise der Stadt gewin- endete“, wie dies die Hamburger schub erfolgte allerdings nach dem nen konnte. In einer neuen Genera­ ­Historikerin Renate Hauschild-Thies- Zollanschluss von 1888. Gewerkschaf- tion fand, wie der spätere Erste Bürger- sen (1929–2020) einmal treffend be- ten und Arbeitgeberverbände organi- meister (1897–1986) schrieben hat. sierten sich. Der Hafenarbeiterstreik 1948 festhielt, „eine geistige Assimi­ 1896/97 war ein Höhepunkt dieser lation an wilhelminische und pseudo-­ War die Zustimmung zur Reichs­ Auseinandersetzungen. nationale Denkweisen“ statt – Impe­ einigung bei der breiten Bevölkerung rialismus, Kolonialismus und auch größer und einhelliger als bei den Gab es nach Unterzeichnung Antisemitismus waren nicht zu über- wohlhabenden Kaufleuten? des Zollanschlussvertrages noch sehen. Im Kaiserreich wurde Ham- Begrüßt wurde die Reichseinigung vor Konflikte zwischen Senat und burg zwar zu einer modernen Metro- allem vom nationalliberal eingestell- Reichsregierung? pole, doch mit einem unverkennbaren ten Bürgertum. Die noch junge Arbei- Meinungsverschiedenheiten gab es Demokratiedefizit, das erst 1918/19 terbewegung sah die Reichseinigung auch weiterhin in Steuer- und Zollfra- überwunden werden konnte. durch Bismarcks Politik von „Eisen gen. Aber vor allem in der Ausführung und Blut“ und die Annexion Elsass-­ des Sozialistengesetzes war der Druck Lothringens jedoch sehr kritisch. des Reiches und Preußens – mit den In dieser Annexion erkannte aber Provinzen Schleswig-Holstein und auch Senator Johannes Versmann den Hannover seit 1866/67 direkter Nach- Keim künftiger Kriege. bar Hamburgs – sehr stark.

64 HISTORISCHE EREIGNISSE Hamburg im Kaiserreich

Hamburg zur hektischen modernen Metropole. Doch das ist nur die eine Seite, die andere bleibt für die Besucher der Stadt weniger sichtbar. Denn obwohl viel Neues entsteht, bleibt leider auch manches beim schlechten Alten. So sind die Wohn- und Lebensbedingungen der armen Schichten in den Gängevierteln und den völlig überbelegten Mietskasernen der Arbeiterviertel so verheerend, dass sich Koppmann niemals ohne sichere Begleitung dorthin zum Fotografieren aufmachen würde. Kein Wunder, dass die Cho­ lera-Epidemie, die Hamburg 1892 heimsucht, hier besonders heftig wütet. Eigentlicher Grund Am 17. Juni 1871 jubeln Tausende auf dem noch ist die Tatsache, dass die Stadtregierung sich nicht unfertigen Rathausmarkt dem siegreich heim- rechtzeitig zum Bau einer modernen Filteranlage kehrenden Infanterie-Regiment 76 zu. Das Rei- terstandbild Wilhelms I., das mitten auf dem Platz für das Trinkwasser durchringen kann, das oft steht, ist damals noch ein Provisorium völlig verschmutzt und infektiös ist. Fast 17.000 Menschen erkranken an der Seuche, die insge- samt 8605 Todesopfer fordert. Erst danach wer- den das neue Wasserkraftwerk auf der Elbinsel Kaltehofe in Betrieb und die Sanierung der Elendsquartiere in Angriff genommen. Einerseits kühne Modernität, andererseits das gerade anschickt, Hamburg ins 20. Jahrhundert allzu lange Festhalten an Althergebrachtem, bei- hineinzuführen. Mit ihren schwarzen Schnallen- des ist charakteristisch für die Hansestadt wäh- schuhen, Kniehosen, bestickten Mänteln, breitkr- rend der Kaiserzeit. Das wird auch an Äußerlich- empigen Hüten und den weißen Halskrausen keiten sichtbar. Das Rathaus, das am 26. Oktober wirken die vielfach schon ergrauten Herren merk- 1897 nach Jahrzehnte langer Bauzeit eröffnet wird würdig aus der Zeit gefallen. 35 Kilo wiegt die und über mehr Räume verfügt als der Londoner spanische Tracht, die die Herren Senatoren seit Buckingham Palast, ist mit Elektrizität und mo- dem 16. Jahrhundert tragen, zuletzt freilich nur dernster Haustechnik versehen, wirkt mit seiner noch zu besonderen Anlässen. Abgeschafft wird prächtigen Neorenaissance-Architektur in der Ära sie erst 1919, als die Revolution das Kaiserreich des Jugendstils aber ziemlich altmodisch. Und die schon hinweggefegt hat – und sich die Millionen- Herren, die hier über die Geschicke der Stadt be- stadt Hamburg Herausforderungen stellen muss, stimmten, lassen sich für ein repräsentatives die sich die konservativen Herren Senatoren im Gruppenporträt auch nicht von einem modernen Jahr der Reichsgründung wohl niemals hätten Fotografen wie Georg Koppmann ablichten, son- vorstellen können. dern von dem Maler Hugo Vogel, einem Spezialis- ten für pompöse Ölschinken. Auf einem drei mal MATTHIAS GRETZSCHEL fünf Meter großem Ölgemälde, das bis heute im hat sich als Journalist und Autor immer Bürgermeistersaal hängt, hält Vogel den Einzug wieder mit Themen der Hamburger der Senatoren in ihr neues Rathaus in einer Szene Geschichte beschäftigt. Zuletzt erschien sein Buch „PEKING – Geschichte und fest, die eher an ein Kostümdrama erinnert als an Wiedergeburt eines legendären

FOTOS: KL. BODIG/HAMBURGER ABENDBLATT (O.L.), MUSEUM FÜR KUNST UND GEWERBE (O.R.) MUSEUM FÜR KUNST (O.L.), ABENDBLATT KL. BODIG/HAMBURGER FOTOS: die Selbstdarstellung einer Regierung, die sich Hamburger Segelschiffes“

65 WERKMEISTERS WELTEN Er ist nicht nur Maler und Meisterradierer: Wolfgang Werkmeister hat auch eine vielfältige Sammlung zusammengetragen. Zu seinem 80. Geburtstag zeigt das Jenisch Haus derzeit eine Auswahl seiner Schätze. Ein Porträt des Künstlers als Sammler

TEXT: JULIKA POHLE FOTO: VG BILD-KUNST, BONN 2021; FOTO BERTOLD FABRICIUS BERTOLD BONN 2021; FOTO BILD-KUNST, VG FOTO:

66 DER BESONDERE BLICK Wolfgang Werkmeister

Wolfgang Werkmeister neben einem Gemälde des chileni- schen Malers Benito Rebolledo Correa (1881–1964) in der aktuellen Ausstellung seiner Sammlung im Jenisch Haus

67 DER BESONDERE BLICK Wolfgang Werkmeister

Ein japanischer Farbholzschnitt – das Ziel der Darstellung ist nicht die naturgetreue Wiedergabe eines Motivs, sondern die Darstellung seines Wesens

olfgang Werkmeister ist ein Pendler zwischen zwei Welten. Das ist zunächst ganz konkret zu verstehen, denn der Grafiker und Maler lebt Wund arbeitet an zwei Orten, die sehr unter- schiedlich sind: Sein Wohnatelier Nummer eins liegt in Hamburg-Altona an der Palmaille, einen zweiten Arbeitsplatz unterhält der Wahlnorddeutsche in Bohmstedt bei Husum. Auch innerlich pendelt Werkmeister zwischen den bei- den Lebensräumen, die ihn in gleichem Maße inspirieren. Da ist zum einen die Hansestadt, die seine Karriere als Gra- fiker befeuerte, in der er Förderer und Sammler fand, und die er mit der Radierfolge „Hamburg-Zyklus“ künstlerisch vermaß. Zum anderen schlug das Pendel in den letzten Jahrzehnten immer öfter in Richtung Natur aus. Sie steht seit 1994 im Zentrum seiner großen Radierzyklen, sie gibt ihm Kraft und Erdung. Ein Künstlerleben lang bemühte er sich, den Zauber der Natur einzufangen. „Ein leidenschaft- liches Bekenntnis zur reinen Natur treibt mich um“, sagt Werkmeister und schlussfolgert: „Der versteckte Romanti- ker in mir strebt danach, das Naturschöne ins Kunstschöne zu verwandeln. Ich bin ein Genusskünstler.“ Im April feierte Werkmeister seinen 80. Geburtstag. Schon drei Jahre zuvor verkaufte er seine Kupferdruckpres- sen und gab aus Altersgründen die Radierung auf, die bis dahin als Königsdisziplin der grafischen Techniken sein be- vorzugtes Medium war. Seither hält er sich meist in Nord- friesland auf, um dort zu malen. Es sei denn, in Hamburg erfordern besondere Projekte seine Anwesenheit – wie in den letzten Monaten, als es galt, die Ausstellung im Jenisch Haus vorzubereiten. „Werkmeisters Welt“, so der Titel, dreht sich nur am Rande um das eigene Œuvre. Vor allem werden in der Schau rund 100 Exponate aus seiner großen Samm- Der „Bettler“ – ein Kupferstich von Thomas Wüsten (1896–1943) aus dem lung gezeigt, einer faszinierenden, sehr heterogenen Kollek- Jahr 1930. Der Künstler sammelte tion von Grafiken, Gemälden, Instrumenten und Raritäten. von 1914 bis 1916 erste Erfahrungen in Werkmeister lebt, wenn er in Hamburg weilt, mitten in die- der Malschule von Otto Modersohn in Worpswede ser Sammlung. Seine Möbel teilen sich das Hinterhof-Atelier an der Palmaille mit zahllosen Bildern und Objekten, die den großen Raum bis an die Grenze seiner Kapazität füllen.

68 „Fischerort an der Ostsee“ – ein Gemälde des dänischen Malers und Bildhauers Niels Simonsen (1807–1885)

So kommt der Besucher in Werkmeisters Wohnzim- nossen und Grafiker-Kollegen wie Horst Janssen, Jan Peter mer, das früher Druckwerkstatt war und heute Depot und Tripp, Volker Sammet und Leo Leonhard – mit manchen Museum in einem ist, aus dem Staunen nicht heraus. Ge- von ihnen tauschte er Bilder, zum Beispiel mit dem Nord- rahmte Bilder bedecken alle Wände, dazwischen finden deutschen Realisten Friedel Anderson, von dem er die Farb- sich indonesische Schattenspielfiguren und Kuriositäten radierung „Spiegelei“ bekam. Auch von den Vorgängern wie Riesenkäfer hinter Glas. In Schubladenschränken lie- seiner Generation besitzt Werkmeister zahlreiche Blätter, gen zahllose Grafiken, ein ganzes Schubfach füllt eine etwa von Johannes Wüsten, Joseph Uhl oder Walter Zeising. Sammlung fein geschnitzter Meerschaumpfeifen, deren Ein historischer Kupferstich nach Rubens gehört ebenso zur Vielfalt und Farbigkeit von Elfenbeinweiß bis Bernsteingold Sammlung wie Landschaftsradierungen aus dem 19. Jahr- Werkmeister fasziniert. Auch Zupfinstrumenten kann der hundert von Max Klinger oder Otto Richard Bossert. Auch passionierte Laienmusiker nicht widerstehen, diverse Gitar- Gemälde nennt Werkmeister sein Eigen, etwa vom däni- ren und Mandolinen stehen und liegen auf Tischen und So- schen Künstler Niels Simonsen oder dem Hamburger Land- fas. Über dem Bett hängt eine Reihe kostbarer japanischer schaftsmaler Ascan Lutteroth. Um zu verstehen, nach wel- Farbholzschnitte. „Ich brauche Dinge um mich herum, die chen Kriterien der Sammler seine Erwerbungen auswählt, nah an der Vollendung sind“, sagt der Grafiker und Maler. hilft ein Blick auf Werkmeisters eigene Meisterwerke – allen Allein seine Sammlung bildender Kunst ist überaus voran die Radierungen in Schwarz-Weiß.

FOTOS: SHMH/ELKE SCHNEIDER FOTOS: vielfältig. Da sind Radierungen von Werkmeisters Zeitge- Jedem seiner Blätter liegt eine Bildidee zugrunde. u

69 Ein Meisterwerk des Fotorealismus: Die „Registrierkasse“ des Malers Michael Mau (geb. 1937)

70 DER BESONDERE BLICK Wolfgang Werkmeister

„Landschaft mit Wetterkiefer“ – eine Radierung des Impressionisten und Symbolisten Otto Richard Bossert (1874–1919)

„ICH HABE EMPFINDSAME Demnach wird keine Linie oder Fläche NERVEN, NICHTS „Warum ist ein Bild schlecht? Das Sys- zufällig gesetzt; ebenso wohlkalkuliert tem der Proportionen fehlt dann im- ist der Einsatz kleiner Störfaktoren, DARF KITSCHIG mer.“ Warum ein Bild gut ist, erklärt die Werkmeister „Pointen“ nennt – UND SÜSSLICH Werkmeister am Beispiel der Radie- ein Boot, ein Busch, eine Wolke. So rung „Bahngleis“ von Paul Wunder- finden im Gesamteindruck Harmonie SEIN“ lich. Der Blick verharrt nicht beim und Spannung zusammen. „Der Aus- Fluchtpunkt, an dem alle Linien zu- schnitt muss stärker wirken, als die sammenlaufen, sondern wird durch Wirklichkeit selbst“, erklärt der Grafiker sein Selbstver- die Beziehung der Bildelemente­ zueinander so gelenkt, dass ständnis. In seinen großen Landschaftsserien, dem „West- er in einem großen Bogen den ganzen Bildraum erfasst. küsten-Zyklus“ und dem „Ostküsten-Zyklus“, hat er diesen Idealerweise geht die Komposition auch dann auf, wenn das Anspruch verwirklicht. Auf den Bildern wird nicht etwa das Blatt probehalber auf den Kopf gedreht wird. Naturvorbild dokumentarisch wiedergegeben. Vielmehr Werkmeisters große Vorbilder sind Meister des Bild- zieht der Künstler aus der Summe der Wasser- und Strand- aufbaus. So bewundert er zum Beispiel den Maler Wilhelm flächen, der bewegten Himmel, der Deiche, Zäune, Priele, Leibl (1844–1900), dem es als wichtigstem deutschen Rea- Findlinge und windflüchtenden Bäume die Essenz der lismus-Vertreter um eine ungeschönte Sicht auf die Men- norddeutschen Küstenlandschaft. Werkmeister nennt das schen ging – oder den russischen Realisten Ilja Repin höchste Ziel: „Die Realisten wollen Verdichtung.“ (1844–1930), der den Pariser Impressionismus studierte Verdichtung also sucht er auch in den Werken, die er und in seinen Darstellungen des russischen Volkes gekonnt sammelt. Was ihn anzieht, bringt die Realität mit den Mit- mit Licht und Farbe spielte. teln der Komposition auf den Punkt. Wenn er auf Auktio- Die Farben in der Malerei des 19. Jahrhunderts beglü- nen geht, fühlt er sich berauscht – und lernt gleichzeitig cken Werkmeister. Und so ist es auch die rechte Farbge-

FOTOS: SHMH/ELKE SCHNEIDER FOTOS: eine Menge darüber, was unzulängliche Kunst ausmacht: bung, die seine Auswahl beim Sammeln bestimmt: „Ich u

71 DER BESONDERE BLICK Wolfgang Werkmeister

suche das Schöne. Ich suche im Bild schöne Farben, das Auge darf nicht beunruhigt werden, was kann das Auge aushalten? Ich habe empfindsame Nerven, nichts darf kit- schig und süßlich sein“, sagt er. Ihm geht es um das Seher- lebnis, Inhalte sind nicht so wichtig. Sein Lieblingsbild „Die weiße Kuh“, gemalt vom Chilenen Benito Rebolledo Correa (1880–1964), entdeckte Werkmeister im Schaufenster einer Galerie und war so begeistert, dass er es schließlich erwarb – und das, obwohl er Kühe nicht leiden kann: „Ich habe kei- nen Bezug zum Thema. Ein Tier, das ich nicht mag, wird mir so nah gebracht, dass ich es im- mer ansehen will.“ Hier hat der Zau- „FARBE ber der Komposition gewirkt, der Zauber der Farbe. SPRINGT INS Ihre formale und farbliche Voll- BLUT, SIE IST kommenheit löste auch Werkmeis- ters Begeisterung für japanische AUGENPARFUM. Farb­holzschnitte aus, die zwischen MALEREI 1740 und 1900 entstanden. Im abge- schotteten Land der aufgehenden BERAUSCHT“ Sonne wollten die Künstler „Ukiyo-e“ schaffen, das bedeutet: „Bilder der fließenden Welt“. Die Sammlung, die mehrere hundert Blätter umfasst, ent- hält unter anderem Werke von Tsukioka Yoshitoshi (1839– 1892), der als einer der letzten innovativen Meister des klassischen japanischen Farbholzschnitts gilt. Ein Schwer- punkt der außergewöhnlichen Kollektion liegt auf dem Su- jet der Samurai-Kampfszenen. „Die Meister haben die Kämpfe der Dynastien in ihrer Fantasie wiederaufleben las- sen“, erklärt Werkmeister. Die Grausamkeit der Szenen werde relativiert durch die Virtuosität der Darstellung: „Die Komposition kommt ohne Räumlichkeit und Schatten aus, sie ist rhythmisch gut überlegt und stimmt immer.“ Wo aber kommt sie her, die Sehnsucht nach dem Schö- nen? Werkmeisters Geschmack und sein Sammeltrieb wur- zeln in der Kindheit. 1941 wurde er in Berlin geboren und wuchs in Meinbrexen und Baden-Baden auf, in einem Haushalt voller Bücher und Kunstwerke. „Das Elternhaus

war begünstigend, es hat den Traum vom Künstlerdasein SHMH/ELKE SCHNEIDER FOTO: ausgelöst. Mein Stiefvater sammelte Bilder. Er war ein Ver- träumter aus dem 19. Jahrhundert; das war die Prägung, der ich auch ein bisschen anhänge“, sagt der Stiefsohn heute. Seine Mutter kam mit dem kunstbegeisterten Arzt und In- tellektuellen in der Nachkriegszeit zusammen. Werkmeis- ters Vater, ein Offizier und Flieger, war 1942 gefallen. u

72 Der „Greyhound“ von Michael Mau (geb. 1937) – ein Sinnbild amerikanischer Alltagskultur

73 An der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste stu- Reisen, etwa nach Marokko oder Papua-Neuguinea. Zudem dierte Werkmeister freie Grafik und Illustration bei Gunter war seine Grafik durch den Einsatz der Aquatinta-Technik, Böhmer. Als er 1962 einen Sommer als Vogelwart auf der mit der sich im Tiefdruck Flächen erzeugen lassen, stets Nordseeinsel Amrum verbrachte, verliebte er sich in den eher malerisch als zeichnerisch angelegt. Die für Werkmeis- Norden und siedelte zwei Jahre später nach Hamburg über. ters Arbeit typische Vielfalt der Graustufen wird beim Ma- Dort besuchte er die Fachhochschule für Gestaltung, lernte len nun durch eine Farbpalette ersetzt, mit der er die Land- bei Wilhelm M. Busch und Siegfried Oelke. „Hamburg war schaft des Nordens subjektiv illustriert – in Rostrot und die Grafik-Stadt“, erinnert er sich, und so stellten sich bald Fliederlila, Türkis und Gelb entsteht eine neue Wirklichkeit: Erfolge ein: Über die Galerie Commeter verkaufte der junge „Ich war immer fasziniert von der Malerei. Farbe springt ins Grafiker erste Blätter und das Altonaer Museum erwarb Blut, sie ist Augenparfum; Malerei berauscht.“ schon früh seine Arbeiten. Die Inspiration für seine neuen Gemälde zieht er aus Heute hat der Künstler sein grafisches Werk, das 848 der Landschaft, die seine Zweitheimat umgibt. Etwas außer- Radierungen umfasst, abgeschlossen. Die „harte Knochen- halb von Bohmstedt, nahe dem Flüsschen Arlau, besitzt arbeit“, die der Prozess des Druckens darstellt und die ihn Werkmeister ein 15.000 Quadratmeter großes Grundstück, stets als Gegenpol zum geistigen Vorgang des Bilderfindens das er im Laufe von zwei Jahrzehnten in ein Biotop verwan- reizte, hat er mit Bedauern hinter sich gelassen. Die Hin- delt hat. Er pflanzte Bäume und legte einen Fischteich an, wendung zur Malerei kam nicht von ungefähr: Gemälde später kam ein Teich für Frösche dazu. Mit großer Freude entstanden nebenbei schon immer, vor allem auf seinen lauscht er dem Froschkonzert und beobachtet Rehe, Schlan-

Hiroshi Kyoto Asada (1936–1997), die Radierung „Stillleben mit Steinen und Federn“

74 DER BESONDERE BLICK Wolfgang Werkmeister

gen, Eulen und sogar Eisvögel. Vor einigen Jahren ließ der Das erste Instrument hat er 1972 erworben. „Ich samm- Maler den Heuboden des zugehörigen ehemaligen Bauern- le für die Freude, dahinterzukommen, dass jede Gitarre ein hofes, der seiner Ex-Ehefrau Elke gehört, in ein Atelier um- bisschen anders klingt“, sagt der Musiker. Neben den Aus- bauen. Neben Elke Werkmeister lebt auch der gemeinsame stellungsvorbereitungen gab es für Werkmeister noch einen Sohn Jens mit seiner Frau in einem Teil des großen Hauses, weiteren Grund, in der letzten Zeit öfter nach Hamburg zu Enkel Nils hat sich mit seiner Freundin ebenfalls hier nie- kommen. Der befreundete Maler Johannes Duwe, der selbst- dergelassen. verständlich auch in seiner Sammlung vertreten ist, malt ge- „Ich bin immer weich gefallen“, resümiert Werkmeis- rade ein Porträt von ihm. Dafür sitzt Werkmeister regel­ ter, wenn er von seiner Künstlerkarriere spricht, die er sehr mäßig in Duwes Atelier in der Leverkusenstraße Modell und aktiv gestaltet. „Jeder Mensch, der Künstlerträume hat, ist spielt unterdessen Gitarre. Dabei führen die beiden Realis- gutgläubig und naiv“, sagt er. „Man muss aber auch durch- ten rege Diskussionen über die Kunst – und das Leben. setzungsfähig sein. Das ist der harte Kern in mir. Der wei- che Kern muss gut versteckt sein, wenn man als Künstler JULIKA POHLE durchkommen will.“ Das Weiche schimmert dann hervor, ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und wenn er die Natur betrachtet – oder sich der Musik hingibt. Autorin für „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Beim Die Musik verbindet die beiden Welten, zwischen denen er Besuch in Werkmeisters Wohnatelier hat sie besonders die Leidenschaft des Sammlers für pendelt. Jeden Tag übe er auf einer seiner Gitarren, erzählt japanische Farbholzschnitte beeindruckt Werkmeister, ständig spiele er gegen das Vergessen an.

Der Sammler als Künstler: Wolfgang Werkmeister, „Teufels- brück“, Radierung aus

FOTOS: SHMH/ELKE SCHNEIDER FOTOS: dem Jahr 1993

75 76 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

COCKTAILS MIT CLINT EASTWOOD Das „Filmtheater in Streit’s Haus“ war ab den 1950er-Jahren das Aushängeschild der Hamburger Kinolandschaft. Ikonen wie Barbra Streisand, Roger Moore und Shirley MacLaine feierten in dem edlen Lichtspielhaus glamouröse Premieren. Über ein Schmuckstück cineastischer Filmkultur

TEXT: DAGMAR ELLEN FISCHER

Theaterleiter Willi Herzog und Filmpromoter Klaas Akkermann (r.) bei der Premiere der Bestseller-Verfilmung „Die Brücke am Kwai“ am 7. März 1958

ohn Davis schaut auf seine Armbanduhr. hochgearbeitet hat. Mit der ersten deutschen Obwohl sie noch britische Zeit anzeigt, wird Rank-Zweigstelle ist er rundum zufrieden: Der ihm sofort klar, dass er sich auf den Weg zum Standort befindet sich in bester Lage der Hanse- JJungfernstieg machen muss. Dort erwarten stadt, und mit dem Umbau haben die Hamburger ihn an jenem Donnerstag, dem 6. Dezember Architekten Schramm, Elingius, Messing sowie 1956, ein paar Hundert Menschen. Im heimatli- der zusätzlich hinzugezogene Rank-Spezialist chen London eilt ihm der Ruf von geradezu pe- Kent Brookes gute Arbeit geleistet. Im traditions- dantischer Pünktlichkeit voraus. Er hat nicht vor, reichen Haus am Jungfernstieg 38 ist ein echtes während seines Hamburg-Besuchs davon abzu- Schmuckstück entstanden: kein gewöhnliches weichen. Als Generaldirektor der englischen Kino, sondern ein Filmtheater, das diesen Namen Rank-Organisation fällt ihm die Aufgabe zu, das verdient. Das Foyer – verantwortlich für den ers- erste Kino des expandierenden Unternehmens in ten guten Eindruck – bietet einen Espresso-Aus- Deutschland zu eröffnen: das „Filmtheater in schank, die fast intime Bar lockt Besucher mit er- Streit’s Haus“, wie es offiziell heißt. lesener Gastronomie. 565 Sitze hält das neue Eine willkommene Abwechslung für den ge- Filmtheater bereit – am Eröffnungsabend reichen

FOTOS: HORST JANKE/ARCHIV AKKERMANN JANKE/ARCHIV HORST FOTOS: lernten Buchhalter, der sich zum Topmanager sie nicht einmal, denn das neue Haus platzt aus u

77 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

allen Nähten. John Davis begrüßt den Königlich Britischen Botschafter Sir Frederick R. Hoyer ­Millar, den britischen Generalkonsul Sir John Dunlop und Hamburgs Kultursenator Dr. Hans- Harder Biermann-Ratjen. Auch der bekannte Filmpro­duzent Walter Koppel lässt es sich nicht nehmen, anlässlich des medial beachteten Ereig- nisses die allerbesten Grüße im Namen des deut- schen Filmproduzentenverbandes zu überbringen. Schließlich stellt noch James Robertson Justice, Hauptdarsteller des Eröffnungsfilms, seine anwe- senden englischen Schauspielkollegen vor. Das Hotel war einst das Bevor die Komödie „Doktor Ahoi!“ aus eige- führende Grandhotel der Stadt und mit nobelstem ner Produktion der Rank-Organisation auf der Interieur ausgestattet Leinwand ablegt, haben die Gäste Gelegenheit, die Ausstattung des neuen Kinos zu bewundern: Der türkisfarbene Teppichboden aus dem Foyer liegt ihnen auch im Theaterraum zu Füßen, weinrote Wände treffen auf eine helle rötliche Decke, in die eine neuartige Beleuchtung eingelassen ist. Auch in Sachen Komfort setzt das Filmtheater Maß­ stäbe: Das Publikum genießt die Vorzüge einer

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Klimaanlage sowie die Bequemlichkeit von mit Schaumgummi gepolsterten Sesseln. Dieses blaue Gestühl lieferte die Londoner Kofferaufkleber des Firma G.B. Kalee; von dem auf Theater- Hotels, circa 1930 und Kino-Ausstattung spezialisierten Unternehmen stammt auch die techni- sche Ausstattung. Schließlich gibt der silbergraue Vor- hang den Blick auf die 9,6 mal 5,2 Meter große Harkness-Leinwand frei, und in den folgenden 96 Minuten dreht sich alles um Bri­ gitte Bardot, Dirk Bogarde und jede Menge Kla- mauk. Da ein solcher Premierenabend nicht mit dem Abspann des Films enden darf, lädt John Davis im Anschluss zu einem mitternächtlichen Empfang in den „Alsterpavillon“. Seiner Einla- dung folgen unter anderem Studio-Ham- burg-Gründer Gyula Trebitsch, die Schauspieler Paul Hubschmid und Carl Voscherau, Ascan Klée- Gobert von der Freiwilligen Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft, der Filmmusikkompo- nist Michael Jary sowie hochrangige Mitglieder der Rank-Organisation und zahlreiche Chefs ver- schiedener Filmverleihfirmen. Nach erfolgreicher Mission kehrt John Davis zurück nach London. Er versteht sich als Ermögli- cher, der sich niemals in künstlerische Entschei- dungen einer Filmproduktion einmischt. Sein persönlichster Bezug zur britischen Filmindustrie ist seine 14 Jahre jüngere Frau, die Schauspielerin Dinah Sheridan, die er 1954 geheiratet hat. Was er zum Zeitpunkt der feierlichen Eröffnung in Ham- burg noch nicht weiß: Anders als vom britischen Betreiber geplant, wird das „Streit’s“ das einzige Kino der Rank-Organisation in Deutschland blei- ben. Es avanciert schnell zu einem der populärs- ten und schönsten Filmtheater des Landes. Sein gehobenes Niveau passt perfekt zur Tra- dition des Gebäudes, dem es seinen Namen ver- dankt: Die Geburtsstunde des Streit’s Hauses geht auf das Jahr 1837 zurück. Am Freitag, dem 12. Mai jenes Jahres, eröffnet der in Hamburg gut beleu- mundete Christian Streit am Jungfernstieg ein Hotel. Der gebürtige Mecklenburger ist zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt, mit einer Englän­derin ver- heiratet und Vater von zwei Kindern. Sein „Streit’s Hotel“ avanciert innerhalb kürzester Zeit zur ­ersten Adresse Hamburgs – und das nicht nur aufgrund der sensationellen Lage an der Binnen- Aus dem großen alster, sondern auch dank der hervorragenden Speisesaal wurde später Küche samt erlesener Weine und der musterhaf- der Kinosaal mit Rang- ten Bedienung. Schon 1841 gilt Streit als „König und Parkettplätzen

FOTOS: WWW.HAMBURG-BILDARCHIV.DE (O.L.), AKG IMAGES/ARKIVI (U.R.), ARCHIV AKKERMANN (U.L.+O.R.+M.R.) ARCHIV (U.R.), IMAGES/ARKIVI AKG (O.L.), WWW.HAMBURG-BILDARCHIV.DE FOTOS: der Gastwirthe“ – ein Titel, der ihm vom Autor u

79 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

Hans Albers auf der Bühne des Streit’s bei der Premiere seines Films „Der tolle Bomberg“ im August 1957 Theodor von Kobbe in dessen Reisebeschreibun- ­erklingt das „Lied der Deutschen“ dort erstmals gen „Wanderungen an der Nord- und Ostsee“ ­öffentlich, gesungen von Mitgliedern der Hambur- verliehen wird. Schon bald kann der erfolgreiche ger Liedertafel und der Hamburger Turnerschaft. Gastronom sein Areal ausbauen: Zwischen dem Geehrt wird auf die Weise der bekannte liberale Vorderhaus am Jungfernstieg und dem Hinter- Politiker und Rechtsgelehrte Professor Carl Theo- haus an der Poststraße (damals noch Königstraße) dor Welcker, der im Streit’s logiert. Fackeln erleuch- entsteht im Innenhof ein Gebäude, das ab 1841 ten den Jungfernstieg um zehn Uhr abends, als das einen geräumigen Speisesaal beherbergt, bestens Ständchen und ein dreifaches Hoch zu hören sind. geeignet für große Festlichkeiten. Mitten unter den Sängern ist auch der Dichter der Im selben Jahr findet vor dem Hotel eine zukünftigen Nationalhymne Deutschlands, August ­bedeutende Uraufführung statt: Am 5. Oktober Heinrich Hoffmann von Fallersleben.

80 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

Ab 1856 führt Christian Streits Sohn Ludwig die Geschicke des florierenden Unternehmens. Als er 1869 unerwartet stirbt, übernimmt dessen Witwe Sophie. Sie lässt das Haus um ein Stock- werk erweitern – nicht zuletzt aus Prestige­ gründen, um in Sachen repräsentativer Höhe mit dem „Hamburger Hof“ mithalten zu können. Ende des 19. Jahrhunderts beherbergt das Hotel international bekannte Gäste wie den Komponis- ten Peter Tschaikowsky, der 1888 und 1892 dort logiert; der junge Kapellmeister Gustav Mahler übernachtet 1891 im Streit’s – und kehrt des vor- züglichen Essens wegen oft und gern im haus­ eigenen Restaurant ein. Das älteste Grandhotel Hamburgs passt sich im 20. Jahrhundert zeitgemäßen Entwicklungen an. 1905 bekommt das Erdgeschoss eine Laden- zeile, jeweils drei Geschäfte rechts und links vom mittigen Hoteleingang verkaufen Stahlwaren, Handschuhe, Zigarren und Reiseartikel. Ein Familienunternehmen seit 1837 bis zum heutigen Tag, ändert sich im Laufe der Jahrhun- derte nur der Familienname: 1925 kauft Familie Vogt das renommierte Objekt von Familie Streit. Selbst Inflation und Weltwirtschaftskrise können dem gut aufgestellten Haus wenig anhaben, im Gegenteil: Zwischen 1928 und 1930 wird es um eine weitere Etage und somit 80 zusätzliche Zim- mer ausgebaut.

EIN EDELKINO FÜR HAMBURG Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert auch das Ende der langjährigen Gastronomie-Tradition. Am 3. Mai 1945 wird das Hotel von britischen Be- satzern beschlagnahmt, fortan wohnen dort eng­ lische Offiziere, teilweise mit ihren Familien. Als sie nach zehn Jahren ausziehen, ist das Haus in einem desolaten Zustand. Enorme Investitionen wären notwendig, um mit den inzwischen nachge- „Ich und diese Bar, wir wachsenen Luxushotels in Alsternähe mithalten sind gute Bekannte“, ist von Albers überliefert. zu können. Eigentümerin Bertha Vogt lässt 1955 In der Streit’s Bar das gesamte Inventar versteigern und gibt grund- feierte nicht nur die legende Umbauten in Auftrag, die das Gebäude in Hamburger Legende, sondern ganz ein Geschäftshaus mit rund 80 Büros verwandeln. In den folgenden Jahren erwirbt sich das Hollywood Für den ehemaligen Fest- und Speisesaal gibt Streit’s einen Ruf als Premierenkino. 1963 erlebt (oben: 1960er-Jahre, unten: 2013) es andere Pläne: ein Filmtheater soll dort einzie- „Das Mädchen Irma La Douce“ mit Shirley Mac- hen. Es ist die Zeit der boomenden Filmbranche. Laine hier seine Weltpremiere. Zu den zahlrei- Hamburg verfügt Mitte der 1950er-Jahre über chen Filmen, die ihre deutsche Erstaufführung 90.000 Plätze in 174 Kinos. Im Jahr der Eröff- am Jungfernstieg feiern, gehören so bekannte Ti- nung des Streit’s Filmtheaters erleben Hambur- tel wie „Was gibt’s Neues, Pussy?“ (1965), „Einer ger Kinos mit 37,5 Millionen Besucher einen Re- flog über das Kuckucksnest“ (1976), „Gandhi“ kord. Für eine Karte im Parkett zahlt ein Kino­ (1983) und „Yentl“ (1984). 1987 wird „Die Kame­

FOTOS: AKG IMAGES/HORST JANKE (L.), STREIT’S ARCHIV (O.R.), FRANK-OLIVER MÖLLER (U.R.) FRANK-OLIVER (O.R.), ARCHIV (L.), STREIT’S JANKE IMAGES/HORST AKG FOTOS: gänger damals 1,45 DM. liendame“ uraufgeführt, John Neumeiers Ballett u

81 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

Kinotickets aus den 1950er- und 1960er-Jahren: Die Eintrittspreise fürs Parkett waren stets etwas günstiger als die für den Rang

als Film, in Anwesenheit des Choreografen; der ren nach Hamburg zu holen – am liebsten ins notiert dazu: „Fast eine Katastrophe, als man ent- Vorzeigekino Streit’s, das durch die unzähligen deckt, dass der Film in einem Format gedreht Vorführungen über die Jahrzehnte zu seinem wurde, das in einem normalen Kino kaum mehr Wohnzimmer wird. In seiner Hochzeit arbeitet vorgeführt werden kann“. Auf der Leinwand des Akkermann im Auftrag von vier großen US-Fir- Streit’s geht’s. men: für Warner Brothers, Paramount Pictures, Um die jeweils neuesten Filme unters Publi- die Walt Disney Company und Columbia Pictures kum zu bringen, braucht es eine bestens funktio- Industries. Zu wichtigen Filmpremieren lädt er nierende Schnittstelle zwischen Filmverleih und bis zu 1.200 Journalisten und 600 Fotografen aus Presse. Die heißt seit 1956 Klaas Akkermann, ganz Deutschland ein. Den mit Abstand größten Filmpromoter aus Leidenschaft. Er versteht es wie Medienrummel erlebt das Streit’s im Jahr 1995:

niemand sonst, die Hollywood-Stars zu Premie- Das noch junge Filmfest Hamburg ehrt den u AKKERMANN (R.) (L.), ARCHIV ARCHIV STREIT‘S FOTOS:

82 Vor dem Eingang im Jahr 1968. Das markante Vordach mit den Leuchtbuchstaben wurde für Kinodekorationen aller Art genutzt

83 „Ein großes Kino braucht einen Vorhang. Auf eine nackte Leinwand zu blicken, zerstört jede Illusion“, sagte Klaas Akkermann. Der Kinosaal im Jahr 2013, kurz vor der Schließung, mit jenem Vorhang, der sich im Laufe der Jahrzehnte kaum veränderte

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Blick in den Vorführraum mit der Projektorlinse und dem Steuerungspanel für den Saal, das die verschiedenen Licht­bereiche und den Vorhang regelt

US-Amerikaner Clint Eastwood mit dem ersten Douglas, Barbra Streisand, Liza Minnelli, Wolf- Douglas Sirk Preis – eine Festival-eigene Aus- gang Petersen, Dustin Hoffman, Thomas Gott- zeichnung zu kreieren, um den Weltstar in die schalk, Romy Schneider und viele andere lassen Hansestadt zu locken, entpuppt sich als geschick- sich und ihre jeweils aktuellen Filme im Streit’s ter Schachzug. Damit ist auch die Premiere des feiern. Im überschaubaren Rahmen lädt dazu die neuesten Eastwood-Films „Die Brücken am ebenso legendäre Kino-eigene Bar ein, die Hans Fluss“ fürs Streit’s gesichert. Albers schon in den 1960er-Jahren seine „gute Die Namen der (Welt-)Stars, für die traditio- Bekannte“ nennt. Dort habe er sich zu folgendem nell der rote Teppich auf dem Jungfernstieg ausge- Satz hinreißen lassen, sagt man: „Jeden Tag besof- rollt wird, sind legendär: Peter O’Toole, Hardy fen, ist auch ein geregeltes Leben!“ Die Streit’s Bar

FOTOS: FRANK-OLIVER MÖLLER FRANK-OLIVER FOTOS: Krüger, Hans Moser, Goldie Hawn, Michael bietet nicht nur Piano-Live-Musik und drei stadt- u

85 KULTUR IM WANDEL Streit’s Filmtheater

bekannte Cocktail-Mixer, sondern auch konkur- renzlos flexible Öffnungszeiten: von elf Uhr mor- gens bis zwei Uhr nachts. Als sie in den 1990er-Jahren nach einem gründlichen Umbau unter dem Namen „Streit’s Lounge“ wiederbelebt wird, ist sie erfolgreicher als das Kino nebenan und entwickelt ein Eigenleben als After-­Work- Treffpunkt. Das Filmtheater hingegen hat sich in seiner 57-jährigen Geschichte allerhand gefallen lassen müssen: fünf verschiedene Betreiber, zwei Insol- venzen und unterschiedliche Profile. Nach der Rank-Organisation übernimmt 1975 der US-­ Gigant 20th Century Fox, fünf Jahre später Ufa-Kinoketten-Inhaber Heinz Riech. Der ist zu diesem Zeitpunkt Deutschlands größter Kino­ betreiber und zudem bekannt dafür, Hamburger Lichtspielhäuser in Schachtelkinos umbauen zu lassen – das Streit’s aber bleibt davon verschont. Stattdessen kann Akkermann den Kinomogul Ende der 1980er-Jahre davon überzeugen, ein ­eigenes kleines Studiokino einzurichten: um Pressevorführungen einem handverlesenen Zu- schauerkreis zeigen zu können, mit nur 20 Plät- zen, aber technisch bestens ausgestattet. Riech finanziert mit 500.000 DM den Umbau der ehe- maligen Streit’s Hotelküche in ein Mini-Kino; die teure Metalltapete sucht Akkermann selbst aus, ebenso die extrem bequeme Bestuhlung als (eben- falls nicht günstigen) Frankreich-Import – und erhält so eines der am besten ausgestatteten Pres- sestudios seiner Zeit. Vom allgemeinen Kinosterben, das Ende der 1960er-Jahre einsetzt, ist das Streit’s zunächst kaum betroffen, doch machen sich im Laufe der Zeit auch hier sinkende Besucherzahlen bemerk- bar, insbesondere durch die zunehmende Nut- zung heimischer Fernseher, Videorekorder sowie DVD-Player. Früher kamen nur wenige Kopien eines neuen Films auf den Markt, sodass am Jung- fernstieg viele Filmstarts exklusiv zu sehen waren Das legendäre Streit’s Studio, das Kinomogul – das letzte Beispiel in dieser Reihe ist „Schindlers Heinz Riech auf Bitten von Akkermann für Liste“ 1993; inzwischen starten neue Filme zeit- Pressevorführungen bauen ließ, wurde zum wichtigsten Kino für die Presse. Natürlich ließen gleich in mehreren Kinos. es sich die Medienvertreter nicht nehmen, nach Das Streit’s überlebt dank einer gelungenen den Vorführungen an der Bar zu verweilen Mischung aus Premieren- und Programmkino, das sich auch für Blockbuster nicht zu schade ist, um im Gegenzug wieder anspruchsvolle Filme zeigen zu können. Tatsächlich legt ausgerechnet eine James-Bond-Filmpremiere im Streit’s den Grundstein für eine wunderbare Freundschaft zwischen Bond-Darsteller Roger Moore und Klaas Akkermann.

86 Ab 2003 betreibt die CineStar-Gruppe bezie- CLOSE-UP HAMBURG hungsweise nach deren Übernahme die Greater 125 Jahre Film- und Kinogeschichte(n) Union Filmpalast GmbH das Kino. Im 21. Jahr- ab 5. November 2021 im Altonaer Museum hundert setzt man auf Sneak Previews und Filme in englischsprachigen Originalfassungen. Doch Ab Herbst 2021 heißt es im Altonaer Museum: „Film weder dieses Alleinstellungsmerkmal noch die ab!“ Unter dem Titel „Close-Up Hamburg. 125 Jahre Aufrüstung mit einer digitalen 3-D-Anlage kön- Film- und Kinogeschichte(n)“ präsentiert das Haus nen den Niedergang aufhalten. Ein letztes Mal einen besonderen Einblick in die Hamburger Filmge- kommt Hollywood-Flair auf, als der 89-jährige schichte. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den ab Christopher Lee 2011 in einer schwarzen Limou­ den 1980er-Jahren entstandenen Filmen rund um die sine vorfährt. Hamburgs Juwel unter den Film­ Themen Migration und Migrationsgeschichte sowie der theatern verabschiedet sich Ende März 2013 mit „Filmmacher“-Szene ab Mitte der 1970er-Jahre gewid- „Hitchcock“, einer Retrospektive auf das Leben met, die das „andere Kino“ mit Experimental- und Doku- des berühmten Regisseurs. mentarfilm vorantrieben. Aktuell ist Altona ein Zentrum Die ergebnislosen langen Verhandlungen um der Animationsfilmproduktion und mit diesem Genre wird die Ausstellung Kinder, Jugendliche und ihre Fami- die Mietkonditionen und Nutzung der Räumlich- lien ansprechen. Ein atmosphärisches Großobjekt ist die keiten sorgen am Ende für die Schließung des Kulisse des Films „Der Goldene Handschuh“ (Fatih Akin, Filmtheaters. Am 2. April 2013 gibt es eine letzte 2019), die als begehbare Rauminszenierung für die Abendvorstellung, kurz darauf wird das Kino ab- Ausstellung gesichert wurde und als Präsentationsfläche gerissen und zu Gewerberäumen umgebaut. für die Filme zum Themenbereich „St. Pauli“ dienen wird.

DAGMAR ELLEN FISCHER lebt als Kulturjournalistin in Hamburg. 2019 erschien ihr Buch „Eine kurze Geschichte des Tanzes“. An ihren letzten Film im Streit’s kann sie sich nicht erinnern – weiß aber noch, dass sie wegen

FOTOS: STREIT’S ARCHIV STREIT’S FOTOS: der englischen Originalfassung dort war

87 FOTO: ARCHIV MARY DOSTAL MARY ARCHIV FOTO:

88 LEBENSLINIEN Mary Dostal

Waren eine der ersten Frauen- bands: Valerie Gell (hinten), Mary McGlory (heute Dostal), Pamela Birch und Sylvia Saunders (v. l.)

DIE ANDEREN FAB FOUR Mary Dostal verließ 1964 ihr wohlbehütetes Zuhause in Liverpool, um mit The Liverbirds die Clubs der Reeperbahn aufzumischen – gemeinsam mit den Beatles und Jimi Hendrix. Ihren eigentlichen Wunsch nach einem Leben im Kloster tauschte sie gegen das raue Pflaster von St. Pauli. In Hamburg waren die weiblichen Beatles damals Stars, doch der große Weltruhm blieb ihnen versagt

TEXT: LEONA STAHLMANN FOTOS:

89 LEBENSLINIEN Mary Dostal

ie Geschichte des weiblichen Rock ’n’ Roll tritt leise auf. Sie trägt Perlenohr- ringe, eine gepflegte rotblonde Kurz- Dhaarfrisur. Man findet sie hinter der Tür einer Gründerzeitvilla in Hamburg-Harveste­ hude. Die Vorgärten der Nachbarschaft sind ge- pflegt, die Bäume wachsen hoch. Die Türklingel schellt gedämpft, und dann bietet Mary Dostal, ehemalige Liverbirds-Bassistin – eine der ersten, nur von Frauen besetzten Rock-’n’-Roll-Bands der Welt –, zur Begrüßung ein paar Hausschuhe an. In einem runden, weichen englischen Akzent, der ihr auch nach sechzig Jahren in Hamburg noch geblieben ist. Und dazu einen Tee vielleicht? Die Bandgeschichte der Liverbirds, und Mary Dostals Lebensgeschichte, haben Rotz und Atti­ tüde nicht nötig. Hier gibt es kein Gitarrenzer- schmettern, keine Breitbeinigkeiten. Stattdessen: eine zuvorkommende ältere Dame in ihren Sieb- zigern, deren schmal geschnittene schwarze Le- derjacke zu einem offiziellen Abendessen in der britischen Botschaft genauso angemessen wäre wie zu einem Reeperbahn-Festival-Konzert auf St. Pauli, und ein Leben, das so eng mit einer der prä- gendsten Epochen der europäischen Musikkultur verbunden ist, dass sich darin Ikonen wie The Beatles, The Rolling Stones, The Kinks, Chuck Berry und Jimi Hendrix aneinanderreihen, so na- türlich wie Wetterphänomene. 1964, als wir mit den Stones gespielt haben. So beginnt eine von Marys Anekdoten. Und trotzdem kennt heute kaum einer die Liverbirds. Woran liegt das? Und wie kam der vibrierende, umstürzlerische Sound der Liverpooler Beat-Szene, der Brutstätte der Beat­les, aus der rauen Hochburg der englischen Arbeiterklasse ausgerechnet in das großbürgerli- che, hanseatisch-gedämpfte Hamburg?

IM LIVERPOOL DER NACHKRIEGSZEIT Der legendäre Star- Club engagierte The Die Welt, die Mary Dostal, geborene Mary Mc­ Liverbirds nach einem Glory, als Kind kennenlernt, ist keine heile. Der Vorspielen Vater ist lange Jahre arbeitslos, die Mutter putzt in einer Schule. Mary wächst mit sieben Ge- schwistern auf. Liverpool, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg: unaufgeräumt, wund. Die Stadt ist durch deutsche Bombenangriffe erheb- lich zerstört. Häuser wie offene Querschnitte säumen die Straßen: die Wände weggerissen, alle Etagen sichtbar, gefüllt mit Geröll, zerschlagenen Möbeln, Staub. Es wird Jahre dauern, bis die Schäden beseitigt sind. Aber da regt sich etwas zwischen den Ruinen. Die Menschen sind ver-

armt – und weil sie alle die Armut gut genug u (R.) GERULL (L.), JÉROME DOSTAL MARY ARCHIV FOTOS:

90 Mary Dostal kam wegen der Musik von Liverpool nach Hamburg – und blieb aus Liebe hier

u

91 Die Frauenband hatte in Hamburg eine wilde Zeit – und viele Groupies

kennen, sie den anderen an den harten Gesich- rungsmitteln: „Da wollte ich etwas zurückgeben.“ tern ablesen können und an den leer baumeln- Aber dann passiert ihr diese eine Sache. Ei- den Einkaufskörben, hilft man sich: alle gegen- gentlich passiert sie ganz Liverpool: die Sache mit seitig, jeder dem anderen. Solidarität durchzieht dem Rock ’n’ Roll. Es beginnt in der Matthew die Nachkriegsjahre, Nachbarschaftshilfe und Street Nummer 10. Nachts, wenn die braven Bür- Gemeinschaft, erzählt Mary Dostal. Und erklärt ger Liverpools die Vorhänge zuziehen und sich damit ein weiteres Kuriosum ihrer eigensinnigen schlafen legen, tropft in einem dunklen Kellerge- Biografie: Die Liverbirds-Bassistin, die den wölbe der Schweiß von der Decke. Die englische ­weiblichen Rock ’n’ Roll mit aus der Taufe geho- Arbeiterstadt am Hafen fängt in den 1960er-­ ben hat, wollte bis zu ihrem achtzehnten Lebens- Jahren an zu brodeln, und es hört nicht mehr auf: jahr eigentlich etwas ganz anderes werden als Im Cavern, einem kleinen Musikclub für Live- Musikerin. Vielleicht sogar: das Gegenteil. „Non- Auftritte, spielen Bluesbands und Beat-Gruppen ne!“, sagt Mary heiter. „Das war der Plan.“ Die bis zum frühen Morgen, lassen die tobende Men- Kirchengemeinde in Liverpool hilft der Familie ge tanzen und johlen: unter anderem die neu ge-

oft aus: mit Geld zu Weihnachten, Kleidern, Nah- gründete Band The Beatles, die schnell zu den (R.) GERULL (L.), JÉROME DOSTAL MARY ARCHIV FOTOS:

92 LEBENSLINIEN Mary Dostal

Stars des Clubs aufsteigen. Bald kommen The ERST EINMAL INSTRUMENTE LERNEN! Kinks. The Rolling Stones. Niemand will auch „Wir wollten den Jungs zeigen, dass Mädchen ge- nur einen Abend verpassen, alle wollen dabei nauso gut rocken können“, erinnert sich Mary. „Na sein. Auch die siebzehnjährige Mary McGlory ja … und wir wollten umsonst in den Cavern Club.“ und ihre Freundinnen sind live dabei, als im Ca- Sie grinst auf diese tief zufriedene Art, wie sie das vern Musikgeschichte geschrieben wird. im Verlauf des Gesprächs noch häufig tun wird: Allerdings – so umstürzlerisch der Geist ist, mission accomplished. Also, beides. Aber wie. Zu- der in den Liverpooler Clubnächten über die Gi- sammen mit ihren Cousinen stürmt Mary kurzer- tarrensaiten rollt und in der Hafenstadt keinen hand das Liverpooler Musikaliengeschäft Hessy’s. Stein auf dem anderen lässt, eines bleibt erstaun- Jede sucht sich ein Instrument aus – und fertig ist lich starr und eingerostet in traditionellen Rollen- die Girlband! Oder? bildern: die Geschlechterverteilung. Es ist wie ein Eine Kleinigkeit haben die Mädchen dann Gesetz, das niemand ausspricht: Auf der Bühne doch übersehen: Nicht eine von ihnen kann spie- sind die Männer. Vor der Bühne sind die Frauen. len … Und die ersten Interviews für die Lokal­ Und das ist 1962 die Geburtsstunde von The presse sind schon gegeben. Mit den Instrumen- Liverbirds. tenkoffern marschieren sie Abend für Abend zwar selbstbewusst an den langen Schlangen vor dem Cavern vorbei. Aber auftreten …? Immerhin ist das der Club, in dem die Beatles spielen. Zeitzeuge: der Bass aus vergangenen Rock-’n’-Roll-Tagen Nachdem die Mädchen dem Publikum wo- chenlang eine Kostprobe ihres Könnens schuldig geblieben sind, klingelt es an Marys Tür. Davor stehen die Musikerinnen Valerie Gell und Sylvia Saunders, die neugierig nach dem Verbleib von Liverpools erster Girlband fragen. Ein echter Glücksfall: Die sehr musikalische Valerie ist ge- nau die Zutat, die den Liverbirds gefehlt hat. Sie bringt den Mädchen das Spielen bei und steigt in die Band ein. Als es losgeht, sind die Liverbirds zu viert: Mary McGlory am Bass, Pamela Birch, die spätere Frontfrau, Sylvia Saunders am Schlag- zeug, Valerie Gell an Gitarre und Gesang. Drei Monate ziehen sie sich zurück zum Üben, in den Kinderzimmern ihrer Elternhäuser. Nach acht- zehn Uhr, wenn die Mädchen von ihren day jobs im Büro zurück sind, kann der Tag losgehen. Und was sagen die Eltern zum atonalen Krach der Abendstunden? „Die haben uns Tee reingereicht, und Sandwiches!“ Der erste Auftritt der Liverbirds wird aller- dings nicht auf den legendären Bühnenbrettern des Cavern sein – aber vor einem Publikum, das mindestens genauso dankbar ist wie das im Club der Beatles: im Speisesaal des örtlichen Alten- heims. Und von dort nimmt die Geschichte der Liverbirds Fahrt auf:

DIE LIVERBIRDS EROBERN DEN KIEZ Bald schon sind die Mädchen, die eben erst ge- lernt haben, einigermaßen ihre Instrumente zu beherrschen, fester Bestandteil der Beat-Szene im Cavern. Und wenig später sitzt Mary, von der

FOTOS: man gesagt hatte, sie sei „viel zu schüchtern für u

93 LEBENSLINIEN Mary Dostal

Die Raubeine und Haudegen im Kiezmilieu benehmen sich dagegen geradezu handzahm. Unter dem Schutz von Manfred Weissleder, dem Manager des Star-Club, der den Liverbirds nach sechs Wochen umstürmter Auftritte einen Plat- tenvertrag anbietet, stehen Mary und der Band auf St. Pauli alle Türen offen – und nach den lan- gen Nächten Schlangen mit Autos vor dem Hotel Pacific am Neuen Pferdemarkt, in dem die Mäd- Die erste Platte „Star- chen wohnen. Groupies! Club Show 4: The Liver- birds“ erschien 1964 Was sagt denn dazu die katholische Liverpooler Erziehung? „Wir haben alle Angebote abgelehnt!“, erklärt Mary, es klingt kategorisch. „Also – fast alle ...“ Andere Ausschweifungen? Drogen aber doch sicher? „Backstage haben immer alle gewartet, dass ich mit meiner kleinen Tasche kam – es war bekannt, dass ich die besten Joints drehen konnte … “, sagt Mary verschmitzt. Aber nein, für sie sei das nichts gewesen. Sie habe probiert, natürlich. Zwei Jahre später, im Auch die damals beliebten Aufputschtabletten, Jahr 1966, folgte das zweite Album „More Of mit denen die Musiker im Star-Club sich für die The Liverbirds“ nächtlichen Auftritte fit hielten. Es sei ihr einfach nicht bekommen. Bis heute nehme sie auch im- mer nur die Hälfte der Dosis, wenn der Arzt ihr mal Medikamente verschreibt. Sie zuckt mit den Schultern, lächelt. Das sei eben einfach nichts für sie. Es gibt eine berühmte Filmaufnahme des Li- bertines-Frontmanns Pete Doherty, der eine auf- gezogene Fixerspritze auf die Kamera richtet und abdrückt. Blut spritzt heraus, auf die Linse, den Kameramann. Mary Dostal ist mehr Rockstar als die Bühne“, mit ihren Bandkolleginnen im Zug all die krachigen, fetthaarigen Mantel-undDe- nach Hamburg – im Gepäck eine Einladung von gen-Helden der internationalen Bühnen zusam- Henry Henroid, dem damaligen Chef des Star- men: Sie ist ein Rockstar mit Manieren. Club auf St. Pauli. Der Star-Club ist eine Institu­ Manfred Weissleders Vertragsangebot neh- tion für die britische Musikszene, bedeutender men die Liverbirds dagegen an – und das, obwohl als Liverpool, angesagter als London. Hier wollen zeitgleich andere, lukrativere Angebote vorliegen. sie alle spielen. Astrid Kirchherr, die Erfinderin Zum Beispiel von Brian Epstein, dem Manager der Pilzköpfe der Beatles, kleidet die Mädchen der Beatles. persönlich neu ein. Sie tauschen klösterlich knie­ Vielleicht war das ein Fehler, sagt Mary heute. lange Röcke gegen schneidige Herrenhosen, dra- Aber die Mädchen fühlen sich in Hamburg wohl, matische Rüschenblusen und schimmernde und sie haben weitere Jahre des Erfolgs vor sich. Westen. Die Liverbirds erobern den Kiez. Auch Sie veröffentlichen zwei Alben, treten weiter im wenn Mary, die noch immer Nonne werden will – Star-Club auf. Die Single „Diddley Daddy“ schafft „Ich dachte, ich mache mal kurz zwei Jahre Mu- es 1965 in die deutschen Charts. 1968 dann sik, verdiene viel Geld für meine Familie und kommt eine Einladung aus Japan – und ein uner- dann gehe ich ins Kloster“ – in den Pausen vom warteter Wendepunkt für Mary, die Liverbirds Star-Club für die leichten Mädchen auf der und die Historie der weiblichen Popkultur des Reeperbahn betet: So etwas wie Prostitution se- 20. Jahrhunderts. hen die Mädchen, noch nicht einmal volljährig, in Die Liverbirds müssen ohne Schlagzeugerin Hamburg zum ersten Mal. Sylvia und musikalische Triebkraft Valerie nach

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Für die damalige Zeit verwegen: Astrid Kirchherr kleidete The Liverbirds neu ein – in Herrenhosen

Japan fliegen: Sylvia hat geheiratet, ist schwanger. EHE STATT KLOSTER Valerie lernt einen Mann kennen, der wenig spä- Hätte, könnte, wäre. Die Liverbirds und Marys ter in einen schwerwiegenden Autounfall gerät. Leben kann man nicht im Konjunktiv erzählen. Er überlebt – querschnittsgelähmt. Valerie heira- „Wir hatten unsere eigenen Leben“, sagt Mary tet ihn und ist damit für die nächsten Jahrzehnte und da ist es wieder, ihr zufriedenes Grinsen. verantwortlich für seine Pflege. Sie ist gerade „Und die sind genau so, wie sie waren, gut gewe- einmal Anfang zwanzig. Pamela und Mary flie- sen. Sind sie immer noch.“ gen allein, mit zwei deutschen Musikerinnen als The Liverbirds wurden von Anfang an als Ersatz. Aber die Liverbirds sind nicht nur eine Er- „die weiblichen Beatles“ vermarktet. Das mag zählung über weibliche Rockmusik und die dem Erfolg der Band nicht hinderlich gewesen 1960er-Jahre, sondern auch über Freundschaft. sein. Indes: Es wird der originären Geschichte der Als die ursprüngliche Besetzung auseinander- Band nicht gerecht, und ihrer Musik schon gar bricht, beschließt man, die Band aufzulösen, nur nicht. „Wenn überhaupt“, sagt Mary, „wollten wir vier Jahre nach ihrer Ankunft in Hamburg und wie die Stones klingen: Hart. Schnell.“ Die Stones ganz sicher noch nicht am Höhepunkt dessen, waren es auch, die den Liverbirds bei gemein­ was ihr Erfolg hätte sein können. The Liverbirds: samen Auftritten Riffs beibrachten. Mit dem die Band, die die weiblichen Beatles hätten sein poppig-gefälligen Sound der Beatles haben die können? Weltruhm und astronomischer Reich- schroffen, kessen, dickschädeligen und sehr eige- tum – wenn, ja wenn … The Liverbirds: eine Ge- nen Songs der Liverbirds nichts gemein. Nicht

FOTOS: ARCHIV MARY DOSTAL MARY ARCHIV FOTOS: schichte dessen, was hätte sein können? umsonst gelten sie in Punkrock-Kreisen noch u

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immer, über ein halbes Jahrhundert später, als burg ist ihr Zuhause. Sie zieht aus dem Hotel Pa- verkannte Genies. cific aus und mit Frank nach Harvestehude. Das Man kann jedes Leben anhand seiner Verhin- Paar bekommt zwei Kinder, kauft das Haus, in derungen erzählen. Oder aber anhand seiner dem Mary, vierzig Jahre später, noch immer lebt. Möglichkeiten. Mit 18 gibt Mary McGlory den Woanders hingezogen hat es Mary nie. „Nach Traum auf, in Liverpool Nonne zu werden. Vor dem Mauerfall haben wir kurz mit dem Gedan- der Bühne des Star-Club steht ein junger Mann, ken gespielt, nach Berlin zu gehen“, sagt Mary. der aussieht wie Bob Dylan: der Hamburger „Aber wir sind hier geblieben, wir sind hier viel Frank Dostal. Die beiden tanzen. Und als wenig zu sehr verwurzelt. Ich bin Hamburgerin!“ später der Pfarrer der alten Liverpooler Gemeinde Die Bühne fehlt Mary lange Zeit nicht. Sie Mary auf Wunsch der Eltern auf dem Kiez be- leitet mit Frank Dostal den Hamburger Musikver- sucht, um nach dem Rechten zu sehen, serviert lag Ja/Nein (das tut sie bis heute, seit dem Tod ih- ihm Frank Dostals Mutter Tee und Kekse. „Da res Mannes alleine), engagiert sich im Verein wusste der: Ich werde wohl keine Nonne mehr“, RockCity, der die Hamburger Musikszene för- gluckst Mary Dostal, geborene McGlory, und an- dert, springt ab und zu ihrem Mann als Lektorin gelt sich eine Walnuss aus der Snackschale. Die zur Seite, wenn er englische Songtexte für andere beiden heiraten. Frank wird später Sänger in der Musiker schreibt, etwa den Hit „Yes Sir, I Can Hamburger Band The Rattles, Mary und Frank Boogie“ des bekannten Disco-Duos Baccara. gehen gemeinsam auf Tour. Mary erkennt: Sie Zufriedene Jahre, sagt Mary. Das Rock-’n’- kann nicht zurückgehen nach Liverpool. Ham- Roll-Pärchen im noblen Harvestehude: Ist das

Bei den Liverbirds ging es nicht nur um Musik – auch um Freundschaft

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nicht ein Widerspruch? Fühlt Mary sich hier wohl, das Mädchen aus der Liverpooler Arbeiter- klasse, zwischen Briefkästen mit gravierten gol- denen Namensplaketten? Die Nachbarschaft sei ausgesprochen freund- lich, erzählt Mary. Nur einmal, da habe die Nach- barin sie am Gartenzaun abgefangen. Hör mal, Mary, habe sie gesagt: Mit dem Garten, und ein Heben der Augenbraue, ein sanft tadelnder Blick auf den Garten der Dostals, der nicht mit der Na- gelschere gestutzt ist, „Mit dem Garten, da hast du es aber nicht so?“ Sie liebt ihr Viertel, sie findet: Hamburg hat alles, was man sich wünschen kann. Nach Liver- pool würde sie aber doch gern mal wieder fliegen, ein Großteil ihrer Familie lebt noch dort, ihre sie- ben Geschwister und deren Kinder. Zum ersten Mal seit über sechzig Jahren Hamburg hat sie das ein ganzes Jahr lang nicht geschafft, wegen Coro- na. Sie sitzt in ihrem Salon, ein Zugluftstopper mit den Farben des englischen Königreichs liegt vor der Tür. Auf einer Heizung steht eine Queen aus Plastik, solarbetrieben, die dem Betrachter huldvoll winken soll. Wenn nun ausgerechnet der Grußarm nicht gerade kaputt wäre. Man behilft sich eben anders: Ihren Five o’clock tea lässt sich Eine Ikone – mit Verspätung Mary nicht nehmen. Den gibt es jeden Tag, mit Clotted Cream und Scones: „Die konnte Valerie wirklich göttlich backen!“ senkt die Nadel auf die Scheibe, hört dem Knis- DAS COMEBACK tern zu, dem zarten Leiern, wenn die Musik an- Valerie Gell verstarb 2016 mit 71 Jahren, Pamela fängt. Aber meistens hört sie Radio. Oder Spotify. Birch bereits 2009. Für die übrigen beiden Liver- Das ist praktischer, und sie findet sofort alles, was birds, Mary und Sylvia, hat die Geschichte der sie mag: Silbermond zum Beispiel, die findet sie Liverbirds aber noch ein weiteres überraschendes gut. Oder Ina Müller. Kapitel aufgeschlagen – und ganz sicher nicht das Mary lebt nicht in der Vergangenheit. Sie ver- letzte: Über 50 Jahre nach ihrer Auflösung wer- waltet sie nur. Behutsam und mit einer großen den The Liverbirds gerade wiederentdeckt. In Ruhe. Mary Dostal hat in ihrem Leben erreicht, Liverpool gab es unlängst ein überaus erfolgrei- was heute sehr rar, beinahe ausgestorben ist: Sie ches Musical über die Band, und in Hollywood war die Erste in etwas; unter den ersten Frauen verhandelt man derzeit die Filmrechte. Bei einer der Welt, die sich auf die Rock-’n’-Roll-Bühnen Aufführung des Musicals kam ein Mädchen auf der männlich dominierten Clubs getraut haben. Mary zu, sie mag 15, 16 gewesen sein. „Sie sagte: Und sie ist zufrieden mit den Dingen, wie sie genau das will ich jetzt auch machen – eine Band sind und waren – ein beinahe anarchischer Akt in gründen! Ist das nicht irre?“ Über ein halbes Jahr- einer Zeit der ewigen Verbesserung der Dinge. hundert später sieht es so aus, als wäre der Ein- Auch das ist Rock ’n’ Roll. fluss der Liverbirds auf die Popkultur hartnäcki- ger, als so mancher es vermutet hätte. Und welche LEONA STAHLMANN Musik hört Mary heute selbst? Sie hätte, sagt sie, lebt als Journalistin, Dozentin und natürlich noch die alten Platten. Ein ganzes Plat- Schriftstellerin in Hamburg. Letztes Jahr tenzimmer mit Spieler, 1960er-Jahre und Drum- erschien ihr Debütroman „Der Defekt“ bei Kein & Aber. Ihr zweiter Roman herum, eine umfassende Sammlung. Manchmal erscheint 2022 bei dtv

FOTOS: JÉROME GERULL (O.R.), SIMONE HAWLISCH (U.R.), ARCHIV MARY DOSTAL (L.) DOSTAL MARY ARCHIV (U.R.), SIMONE HAWLISCH (O.R.), GERULL JÉROME FOTOS: sitzt sie noch dort und legt sich eine Platte auf,

97 FOTO: SHMH/SINJA HASHEIDER SHMH/SINJA FOTO:

98 FRISCHER WIND AM HOLSTENWALL In den kommenden Jahren wird das Museum für Hamburgische Geschichte als erstes der drei Haupthäuser der Stiftung Histori- sche Museen Hamburg (SHMH) umfassend modernisiert. Bettina Probst, die Direktorin des Hau- ses und ihr Team berichten über Erwartungen, Wünsche und Her- ausforderungen bei der Gestaltung eines Museums der Zukunft FOTOS:

99 as 1908 gegründete Museum für Ham- burgische Geschichte ist eines der drei großen stadthistorischen Museen in der DFreien und Hansestadt Hamburg, die seit 2008 in der SHMH zusammengefasst sind. Es zeigt die Geschichte Hamburgs von den Anfän- gen der Stadtgründung bis zur Gegenwart. Das ab 1913 nach Plänen des Architekten Fritz Schuhmacher errichtete und 1922 unter dem Gründungsdirektor Dr. Otto Lauffer eröffnete Museum steht seit 1976 unter Denkmalschutz. Die Gründung war Ausdruck eines starken bür- gerschaftlichen Engagements in der Hansestadt und ging auf die „Sammlung Hamburgischer Al- tertümer“ des 1839 gegründeten „Vereins für Hamburgische Geschichte“ zurück, der den Bau und die Einrichtung des Museums anregte und den Grundstein für die umfangreiche, heute mit rund 530.000 Objekten zu beziffernde Samm- lung legte. Nach nunmehr fast 100 Jahren sind die infra- strukturellen Einrichtungen und Zugänge des Museums nicht mehr mit den Anforderungen an ein modernes und barrierefreies Haus vereinbar. Aus diesem Grund wird in den kommenden Jah- ren eine umfassende Sanierung und Modernisie- rung durchgeführt. Ziele der Maßnahmen sind eine deutliche Verbesserung der Aufenthaltsqua- lität und ganz besonders die Vermittlung von Of- fenheit und Transparenz sowie das Bekenntnis zu Vielfalt und Teilhabe an Themen, die die Ham- burger Stadtgesellschaft bewegen. Um seine Rolle als bedeutendes und zukunftsweisendes Haus Oben: Das weiter erfüllen zu können, müssen allerdings Gebäude mit Kriegsschäden nicht nur notwendige und zeitgemäße Verände- im Juni 1946, rungen am und im Gebäude, sondern damit ein- unten: der hergehend auch eine völlige inhaltliche Neuge- Zunftsaal circa 1922 staltung der Dauerausstellung erfolgen. Beginnend im ersten Obergeschoss wird die Dauerausstellung künftig eine Fläche von mehr als 5000 Quadratmetern einnehmen. Ein chrono- und Akteure im Vordergrund stehen, die zur logisch-thematischer Rundgang soll mit ausge- Identität der Hansestadt und ihrer diversen Stadt- wählten Schwerpunkten der Hamburger Stadtge- gesellschaft beigetragen haben oder noch beitra- schichte und Stadtentwicklung einen Bogen vom gen. Hier geht es weniger um die Geschichte(n) in Mittelalter bis zur Gegenwart spannen. Des Wei- Form einer chronologischen Entwicklung und teren soll die Etablierung von verschiedenen Er- Erzählung mitsamt unterschiedlicher Positionen zählsträngen, die sich durch die Geschichte hin- und Perspektiven, sondern vielmehr um gesell- durchziehen, eine wichtige Rolle spielen. Dazu schaftliche Bezüge in Geschichte und Gegenwart gehören die Geschichte des jüdischen Lebens in und nicht zuletzt um Horizonte in der nahen Zu- Hamburg, die Geschichte des Kolonialismus, aber kunft. Im dritten Obergeschoss sollen schließlich auch die der Musik, der Medien- und Meinungs- die bei Jung und Alt beliebte Modelleisenbahn vielfalt oder des Vergnügens in der Stadt. Im zwei- und die Verkehrsgeschichte eine neue Heimat im ten Obergeschoss werden ausgewählte Themen Museum haben.

100 HINTER DEN KULISSEN Museum für Hamburgische Geschichte

„DINGE AUS VERSCHIEDENEN BLICKWINKELN BETRACHTEN“

Prof. BETTINA PROBST Direktorin des Museums für Hamburgische Geschichte

it Erscheinen dieses Magazins bin ich sechs Monate Direktorin im Museum für MHamburgische Geschichte, dem tradi­ tionsreichen Haus am Holstenwall, das seit fast 100 Jahren seine Tore für das Publikum geöffnet hat. Wie zuvor wird es nach mir andere Direk- tor*innen geben, die das Museum durch bewegte Zeiten steuern, es mit Hilfe des Kollegiums wei- terentwickeln und an den Bedürfnissen ihrer Be- sucher*innen ausrichten. Jede/r setzt dabei ande- re Akzente, getragen von den eigenen Erfahrun- gen, Vorlieben und Erkenntnissen, aber auch von den Erwartungen, die andere an das Haus richten: den Ansprüchen, die sich unmittelbar aus den Chancen der Gegenwart heraus ergeben, von langjährigen kleinen wie großen Gästen oder neuen Besuchergruppen, die wir gezielt anspre- chen und erreichen wollen. Nicht zuletzt stellen von jeher auch Politik und Gesellschaft Anforde- rungen an das Museum, das nicht nur bilden und orientieren, sondern auch unterhalten und immer Neues bieten will. So bin ich weniger eine Kapitänin, eher eine Lotsin auf Zeit, die für eine Weile an Bord bleiben und die Geschicke des Hauses lenken darf – dies nicht allein, denn das Museum ist Teil einer Flotte der Stiftung Historische Museen Hamburg. Im stellungen vom Muff der Behäbigkeit und der Haus selbst gilt es, ein Team zu bilden, Fähigkei- Langzeitpräsentation einiger Exponate befreien ten und Wissen zu befördern, Interessen und wollen – auch wenn ältere museale Darstellungen Wünsche auszugleichen, Möglichkeiten und manchmal ihren ganz eigenen Charme entfalten Zwänge nicht außer Acht zu lassen und zwischen können. Dauerausstellungen müssten schneller diesen zu vermitteln. Balance zu halten, Wege zu auf aktuelle Themen reagieren, tönt es überall, ebnen, Ziele und Strategien gemeinsam zu erar- sich unterschiedlichen Zielgruppen öffnen und beiten, sind für mich wesentliche Aspekte meiner die Geschichte(n) ihrer Objekte aus vielen ver- Arbeit. Ein Museum wird nicht von zwei Schul- schiedenen Perspektiven erzählen. Neue Formate, tern getragen, sondern von vielen. Wir alle fragen Digitalisierung, Partizipation und Inklusion soll- uns – nicht nur mit der Modernisierung vor dem ten keine Fremdworte mehr sein, sondern gelebte Bug – was macht eine zeitgemäße Ausstellung Praxis. Heute gehört es wohl zu der Absurdität aus? Flexibilität und Diversität sind die nicht mehr unseres Pandemie-bestimmten Alltags, dass wir

FOTOS: SHMH (O.L.), JÉROME GERULL JÉROME SHMH (O.L.), FOTOS: geheimen Zauberworte, die vor allem Daueraus- von Partizipation und Teilhabe sprechen, zu u

101 ­einer Zeit, in der Besucher*innen unsere Häuser Dr. ALLAN GRETZKI nicht einmal betreten dürfen. Und so greift das Medienkurator digitale Outreach um sich, die „Entgrenzung“ des musealen Raumes, die Institutionen überwinden, Als Medienkurator bin ich verantwortlich für die Planung und Erstel- Horizonte erweitern und dem Virus ein Schnipp- lung des Medienkonzepts. Zusammen mit den jeweiligen Fach- chen schlagen will. abteilungen bespreche ich die relevanten Themen und überprüfe die Doch kann nichts und niemand die Begeg- einzelnen Inhalte und Ideen auf eine mögliche technische Umset- nung mit einem Original – das gilt für Menschen zung. Bereits an diesem Punkt des Entwicklungsprozesses beginnt ebenso wie für museale Objekte – ersetzen, eben- die eigentliche Herausforderung, denn es gilt jetzt herauszufinden, so wenig wie den unmittelbaren gegenseitigen welcher technische Fortschritt in ein paar Jahren „state oft the art“ Austausch und die Freude an gemeinsam konsu- sein wird. Schon jetzt macht es die technische Entwicklung mobiler mierter Kultur und Natur. Corona wird uns hof- Endgeräte möglich, dass der Museumsbesuch bereits vor der Haustür fentlich lehren, die Dinge wieder wertzuschätzen, beginnt. Neben dem analogen Museumsbesuch wird es zukünftig die uns längst selbstverständlich geworden sind, Standard sein, dass man schon auf dem Weg zum Museum sein Ticket und die Räume wieder zu befüllen, in denen zwi- kauft, eine Themen-Tour bucht oder ein spezielles Medienprogramm schenzeitlich eine geistige und materielle Leere aussucht, welches dann im Museum erweitert werden kann. Da die entstanden ist. Das ist anspruchsvoll, doch die Erkennung individueller Nutzerverhalten verstärkt die Inhalte auf Kultur kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. unseren Displays personalisiert, könnte dies eine Möglichkeit sein, die Zum Beispiel im Museum – indem wir genau zukünftige Interface-Gestaltung im Museum an individuelle Bedürf- hinschauen, zuhören, hinterfragen, mal zweifeln, nisse anzupassen. Wünschenswert ist für mich ein „smart Museum“, in mal Glauben schenken, uns überzeugen lassen dem „das Digitale“ selbstverständlich ist. und uns im Dialog mit anderen eine eigene Mei- nung bilden. Der Betrachtung folgt Erkenntnis. „Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles was wir sehen, ist eine Perspektive, keine Wahrheit“, schrieb bereits Marcus Aurelius. Heute müssen auch Museen im Zeitalter von Fake News mehr denn je zwischen Fakten und Fiktionen vermitteln. Gleich welcher Art, bieten gerade die Geschichtsmuseen dafür eine gute Plattform und können dazu beitragen, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, Zusammenhänge abzubilden und verständlich zu machen. Wer sagt wem was, warum und aus wel- cher Perspektive? Wer ist Absender, wer Adressat? Wie hängen historische Ereignisse miteinander zusammen, wer ist betroffen – und für wen stellen sich Welten und Wirklichkeiten ganz anders dar? Wer sieht etwas in einem Objekt, was andere nicht sehen können oder wollen? Und wo liegt darin die Wahrheit? Unsere Aufgabe ist es, nicht nur eine Version der Geschichte zu entwerfen, nicht nur einen roten Faden zu entwickeln, sondern eine facettenreiche Ausstellung zu konzipieren, in der sich Geschichte mittels unserer Exponate und Interpretationshilfen unter den Augen ihrer Be- trachter*innen entfalten kann. Die größte Her- ausforderung besteht darin, trotzdem klare und verständliche Botschaften zu vermitteln. Geschichte kann sehr unterhaltsam sein. Uns berühren, fesseln, uns magisch in den Bann zie- hen, uns erfreuen, überraschen, verstören, uns neue Erkenntnisse und Einblicke verschaffen.

102 HINTER DEN KULISSEN Museum für Hamburgische Geschichte

Dr. SÖNKE KNOPP Kurator für den Bereich 20. und 21. Jahrhundert Als Kurator bin ich für den Bereich der jüngeren Stadtgeschichte Hamburgs verantwortlich, zu dem seit Neuestem auch das Thema Hamburg in der Gegenwart gehört. Neben der Betreuung von Aus- stellungsprojekten, die in „meine“ Zeit fallen, bin ich in erster Linie mit der Sammlungsarbeit befasst – vor allem mit dem Aufbau einer Sammlung zu digitalem Kulturgut, die in der Zukunft immer wichtiger werden wird. Als ethnographischer Stadtforscher habe ich dabei eine Vorliebe für die gebaute und die gelebte Stadt sowie für das Populäre der Kulturen. Ich wünsche mir, dass das modernisierte Museum für Hamburgische Geschichte inhaltlich nichts verlieren und an Attraktivität viel gewinnen wird. Die Themen sollten ein vielfältiges und jüngeres Publikum ansprechen, das Museum ein Stück weit seine graue Patina ablegen und in poppig bunter Ele- ganz ein Hotspot zwischen Neustadt und St. Pauli werden. Oder um es in musikalischen Inhalten alliterierend auszudrücken: Telemann? Ja, aber

FOTOS: JÉROME GERULL JÉROME FOTOS: auch Tocotronic und Techno.

103 SILKE BEINER-BÜTH Restauratorin Wir, ein Team von unterschiedlich spezia- lisierten Restaurator*innen, sind quasi die Interessenvertretung der Objekte. Temperatur, Luftfeuchte, Luftqualität, Transport, Montage und Präsentation müssen stimmen – dann haben die Ausstellungsstücke ein langes Leben. Die Beräumung des Museums vor den Bauarbeiten und die darauf folgende Neu-Einrichtung werden bei der Moder- nisierung die zeitlich und koordinatorisch größte Herausforderung darstellen. Für mich und mein Team nimmt die neue Ausstellung jedoch schon heute Gestalt an: Objekte werden untersucht, Konzepte und Kalkulationen erstellt und erste Restaurierungen durchge- führt. Restaurator*innen in Ausbildung unterstützen uns in diesem spannenden Lernfeld. Dennoch können nicht alle Restaurierungen in unseren Werkstätten durchgeführt werden und wir müssen bei manchen Objekten, unter anderem über das Projekt www.mein-stück-hamburg.de, um Spenden werben. Restaurierungen können spannend sein wie ein Krimi. Ich wünsche mir, dass die Besucherinnen und Besucher der neuen Ausstellung mehr davon erfahren und mitfiebern können.

104 HINTER DEN KULISSEN Museum für Hamburgische Geschichte

CLAUDIA WAGNER Kuratorin für Diversität und neue Vermittlungsformen Als Kuratorin für Diversität und neue Ver- mittlungsformen ist es meine Aufgabe, gemeinsam mit den Kolleg*innen ein diskriminierungskritisches, diversitäts- und teilhabeorientiertes kuratorisches Konzept für die neue Dauerausstellung zu erarbeiten. Dies heißt: Ich möchte die Kolleg*innen und Besucher*innen zum Nachdenken anregen und für andere Perspektiven auf Stadt und Gesellschaft sensibilisieren, Kontakte mit Communities und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen knüpfen und partizipative Projektideen entwickeln. Die größte Heraus- forderung liegt meines Erachtens darin, jene seit Langem gewachsenen, institutionellen Strukturen aufzubrechen, die sich aus einer fehlenden Diversitäts- und Teilhabeorientie- rung ergeben. Es gilt, Haltungen, Setzungen und Methoden des Museums infrage zu stellen, einen Perspektivwechsel einzuleiten und sich im Programm, bei Publikum und Personal divers aufzustellen. Für das MHG der Zukunft wünsche ich mir, dass zu 100 Prozent Hamburg drinsteckt, es also ein Haus von allen und für alle Hamburger*innen wird, mit Rücksicht auf Race, Class, Gender, Ability und Sexuality. FOTOS: JÉROME GERULL JÉROME FOTOS:

105 HINTER DEN KULISSEN Museum für Hamburgische Geschichte

BORIS ZIEGLER Verwaltungsleiter Auf die Frage „Was machst Du als Verwaltungsleiter eigentlich im Museum?“, antworte ich gerne: „Alles, außer Kunst!“. Und so beschäftige ich mich auch im Rahmen der Modernisierung unseres Hauses mehr mit Fragen der Besucherlenkung und der Logistik. Was braucht es, damit die Gäste ein angenehmes Besuchserlebnis haben: Schließfächer, eine gute Wegeführung – auch für mobi- litätseingeschränkte Besucher, Sitzgelegenheiten, eine Gastronomie und sanitäre Einrichtungen sind nur ein paar Schlagwörter meiner Aufgaben. Der Auf- und Abbau von Ausstellungen und Veranstaltungen bedarf Transporte, Werkstätten und Lagerkapazitäten. Und nicht zuletzt müssen wir auch gute Arbeitsbedingungen für unsere Kolleginnen und Kollegen schaff en. Ich erhoff e mir für das Museum eine neue Ausstellung, die einfach Lust auf Hamburg und seine Geschichte macht! Einen Überblick für jeden Mann und jede Frau und vertiefte Information für spezielle Interessen. Wir wollen auch zukünftig ein Anziehungspunkt für die Touristen und Einheimischen sein.

Die Erneuerung des Museums für Hamburgische Geschichte ist nur eines von mehreren Modernisierungsprojekten der Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH), die in den nächsten Jahren realisiert werden. Dank der gemeinsamen Finanzierung durch die Beauf- tragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Freien und Hansestadt können neben dem Jenisch Haus auch das Altonaer Museum und das Museum der Arbeit baulich und inhaltlich neu gestaltet werden.

Weitere Informationen zu den Modernisierungsprojekten fi nden sich unter: shmh.de/de/shmh-bauprojekte FOTO: JÉROME GERULL JÉROME FOTO:

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TERMINKALENDER Ausstellungen

SEHENSWERT IM MUSEUM UND DIGITAL Ausstellungstipps bis zum Herbst 2021. Aufgrund der aktuellen Regelungen zur Infektionsprävention sind die Museen zwar geschlossen, aber zu allen Ausstellungen gibt es digitale Begleitformate, die schon jetzt Lust auf die Zeit der Wiederöffnung machen

nahme der Nationalsozialisten 1933 und deren antisemitischer Ausgrenzungspolitik konnte Halberstadt in Ham­ burg bald nicht mehr arbeiten und musste emigrie­ ren. Ein Film zur Ausstellung, unter anderem mit dem Kurator Wilfried Weinke, ist zu sehen unter: shmh.de/max-halberstadt

ALTONAER MUSEUM

Gefordert, errungen und viel diskutiert Der aus Fliesenfragmenten kreierte Strom der Erinnerungen fragt Bis 21. nach der Wahrnehmung und der Konstruktion von Geschichte Juni Glaubensfreiheit in 2021 Altona und Hamburg MUSEUM FÜR HAMBURGISCHE Das Recht auf Religionsfreiheit ist im Grundgesetz verankert. GESCHICHTE Trotzdem wird im politischen Alltag oft um dieses Recht ­gerungen. Das Altonaer Museum lädt mit seiner Ausstellung „Glaubensfreiheit“ zum Mitreden ein: über die Geschichte und Kunstprojekt zur Reflexion von Geschichte Bis 14. Gegenwart errungener Freiheiten in Glaubensfragen. Denn das Juni Erinnerungsmosaik Recht auf Glaubensfreiheit hat in Altona schon seit 1601 Tradi­ 2021 Aus welchen Fragmenten der Wahrnehmung entste­ tion. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts setzte Altona einen Kon­ hen unsere Erzählungen von Geschichte? Einen besonderen trapunkt zu Hamburg, das nur den lutherischen Glauben zuließ. Zugang zu diesen elementaren Fragen sucht das Projekt der Heute ist die Hamburger Stadtgesellschaft zwar zunehmend Hamburger Künstlerin Dagmar Nettelmann Schuldt. Im Zen­ säkular, aber gleichzeitig religiös sehr vielfältig – trum der Ausstellung steht eine Arbeit, die aus 280 bemalten was für neue Diskussionen sorgt. Einen Überblick Fliesenfragmenten einen langen Strom der Erinnerungen zu den digitalen Veranstaltungen gibt es unter: ­kreiert. Der konkrete Ausgangspunkt der Künstlerin sind Frag­ shmh.de/glaubensfreiheit mente ehemaliger Lebenswirklichkeit wie Scherben und ­Bruchstücke von Architektur, die sie in den Schuttschichten des Elb­ufers aufliest. Diese zufällig überlieferten Überreste werden nach ihrer Geschichte befragt, mit neuen Gedanken versehen Die Ausstellung zur Glaubensfreiheit in Hamburg stellt auch aktuelle Fragen: und schließlich in eine neue Ordnung gebracht. Wie sichtbar kann, darf oder soll Religion im Stadtbild sein? Ein Film über die Künstlerin und ihre Arbeit findet sich unter: shmh.de/erinnerungsmosaik

Bis 3. Verfolgt, vertrieben und vergessen Jan. Der Fotograf Max Halberstadt 2022 Max Halberstadt (1882–1940) galt in den 1920er- Jahren als einer der bekanntesten Porträtfotografen Hamburgs. Seine Popularität verdankte sich nicht zuletzt den ikonografi­ schen Aufnahmen seines Schwiegervaters Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Trotzdem ist der Name Max Halberstadt heute leider fast vergessen. Nach der Machtüber­

108 Im Schaudepot des Hafenmuseums Hamburg befinden sich mehr als 10.000 Objekte rund um das Thema historischer Güterumschlag

JENISCH HAUS HAFENMUSEUM

Der Künstler als Sammler Den Hafen im authentischen Kontext erleben Bis 18. Bis 31. Okt. Die wunderbare Welt Okt. Schiffe & Schuppen 2021 2021 des Wolfgang Werkmeister Im Schaudepot des Hafenmuseums Hamburg ist die Wolfgang Werkmeister ist in erster Linie als Meister der Radie­ jüngere Geschichte des Hamburger Hafens in einem authen­ rung bekannt. In der Sonderausstellung „Werkmeisters Welt“ tischen Kontext zu erleben: mitten im ehemaligen Freihafen auf präsentiert das Jenisch Haus den Künstler erstmals als jahr­ dem letzten und denkmalgeschützten Kaiensemble zehntelangen Sammler. Anlässlich seines 80. Geburtstags wird der Kaiserzeit, dessen Struktur vor mehr als 100 die umfangreiche Kunstsammlung des Grafik-Experten gezeigt. Jahren angelegt wurde. Neben einem Schwimmkran Unter den gezeigten Kunstwerken sind neben japanischen Farb­- und einem Dampfsauger ist an der Kaikante vor dem holzschnitten Werke des Landschaftsmalers Ascan Lutteroth Museum auch die historische Viermastbark PEKING und des chilenischen Malers Benito Rebolledo Correa. Neben zu bestaunen, die dort seit September 2020 als erstes Zeichen der Kunst werden auch Teile von Werkmeisters Sammlung an des zukünftigen Deutschen Hafenmuseums liegt. Ein digitaler Meerschaumpfeifen, asiatischen Schattenfiguren 360-Grad-Rundgang ermöglicht eine Erkundung des umfang­ und Gitarren präsentiert. Zum digitalen Atelier­ reichen Schaudepots vom heimischen Sofa aus: besuch beim Künstler und Sammler lädt ein Film ein https://bit.ly/3uUP7SX unter: shmh.de/werkmeister SPEICHERSTADTMUSEUM MUSEUM DER ARBEIT Hamburgs Weltkulturerbe entdecken Hamburg und der Kolonialismus Ganz- Kaffee, Kautschuk und Kakao Bis 18. jährig Juli Koloniale Arbeit, Industrie Kaffeesäcke, Fässer, Ballen und Zuckerklatschen: Im 2021 und Widerstand Speicherstadtmuseum ist in einzigartiger Atmosphäre das histo­ Mit der Ausstellung „Grenzenlos“ möchte das rische Ambiente der Speicherstadt zu erleben. Die Ausstellung Museum der Arbeit einen Beitrag zur Debatte in den Räumen eines Lagerhauses von 1888 zeigt anschaulich, über den Umgang der Stadt Hamburg mit ihrer wie die Quartiersleute früher hochwertige Import­ kolonialen Geschichte und den bis heute rei­ güter wie Kaffee, Kakao oder Kautschuk gelagert, chenden Folgen leisten. Den historischen Aus­ bemustert und veredelt haben. Anlässlich des gangspunkt bildet die Verarbeitung von Kautschuk, Palmöl und 25-jährigen Jubiläums des Museums im letzten Jahr Kokosöl durch hamburgische Industrieunternehmen. Sie stell­- ist ein Video-Interview mit dem Museumsbetreiber ten seit dem späten 19. Jahrhundert Alltagsprodukte wie Hart­ Henning Rademacher entstanden, das sich anzuschauen lohnt: gummikämme, Badehauben und Margarine her, deren Roh­ speicherstadtmuseum.de/ stoffe unmittelbar mit dem Kolonialismus verflochten sind. Zur Ausstellung wird ein umfangreiches digitales Begleitprogramm

FOTOS: SINA SCHULDT (O.L.), SHMH (U.L./O.R.) (O.L.), SINA SCHULDT FOTOS: angeboten: https://bit.ly/2Rv5jfd

109 TERMINKALENDER Ausstellungen

SHMH DIGITAL Interviews, Begleitvideos, Projekte: Alle Online-Angebote auf www.shmh.de

Museumsbesuch trotz Pandemie – Google Arts & Culture sei Dank. Die PEKING digital erleben! Die Plattform hat bereits zahlreiche Virtuelle Rundgänge durch alle Bereiche des Schiffes und bildstarke Online-Ausstellungen zur Geschichte Museums- und Ausstellungsrund- des faszinierenden Frachtseglers und seiner Rückkehr nach Hamburg gänge realisiert

or 110 Jahren lief die PEKING als leis- Bereiche des Schiffes. An sechs Einstiegspunk- tungsstarker Frachtsegler bei der Ham- ten kann die PEKING digital vom Oberdeck bis Vburger Werft Blohm & Voss vom Stapel. hinunter in den Frachtraum besichtigt werden. Die Viermastbark aus der legendären Reihe der Die Rundgänge ermöglichen einen 360-Grad-­ Flying-P-Liner der Reederei F. Laeisz war in ers- Einblick in alle Bereiche des aufwendig restau­ ter Linie für den Transport von Salpeter aus Chile rierten Schiffes. Darüber hinaus gibt es einen konzipiert und war bei voller Besegelung schnel- geführten Rundgang über die PEKING mit viel- ler als damalige Dampfschiffe. Seit September fältigen Zusatzinformationen. 2020 liegt die historische Viermastbark nach In zwei Online-Ausstellungen wird zum einer umfangreichen Restaurierung am Bremer einem die bewegte Geschichte der PEKING an- Kai. Bei seiner Ankunft in Hamburg wurde das hand von historischen Fotografien und Aus- Schiff als Leitobjekt des zukünftigen Deutschen schnitten aus dem Film einer Kap-Hoorn-Umse- Hafenmuseums von den Hamburgerinnen und gelung aus dem Jahr 1929 präsentiert. Zum an- Hamburgern begeistert empfangen und gilt nun deren wird unter dem Titel „Rolling Home“ das als neues Hamburger Wahrzeichen und eine der Wiedereinlaufen der Viermastbark in den Ham- faszinierendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. burger Hafen am 7. September 2020 mit Bildern Die Stiftung Historische Museen Hamburg und Filmen erfahrbar gemacht. Eine opulente und Google Arts & Culture präsentieren die fas- Bilderschau lädt schließlich dazu ein, anhand zinierende Geschichte der PEKING nun mit ei- von historischen und aktuellen Aufnahmen die ner bildstarken Online-Ausstellung und umfang- facettenreiche Historie und die schlichte Schön- g.co/Hafenmuseum reichen digitalen Rundgängen durch sämtliche heit des Frachtseglers zu bewundern. Hamburg

110 SERVICE Adressen und Impressum

Verlagsgesellschaft der Vertrieb Stiftung Historische Museen Hamburg VKM Verlagskontor für Medieninhalte GmbH Holstenwall 24, 20355 Hamburg [email protected] / [email protected] Tel. 040 428 131 150 Herstellung: Lars Heitmann www.shmh.de Autoren dieser Ausgabe Druck: Dierichs Druck+Media GmbH & Co. KG www.hamburg-history-live.de Silke Beiner-Büth, Svante Domizlaff, Dagmar Ellen Fischer, Allan Gretzki, Matthias Gretzschel, Sönke Anzeigen In Kooperation mit Knopp, Julika Pohle, Bettina Probst, Ursula Richenberger, Kumst Medien Vermarktungsgesellschaft mbH VKM Verlagskontor für Medieninhalte GmbH Rolf Sachsse, Matthias Seeberg, Leona Stahlmann, Ulrich Verantwortlich: Tanya Kumst (Geschäftsführung) Gaußstraße 190c, 22765 Hamburg Thiele, Claudia Wagner, Boris Ziegler Tel 040 524 72 26 88; [email protected] Tel 040 36 88 110–0 Fotos Copyright für alle Beiträge, soweit nicht anders Herausgeber akg-images / Horst Janke, akg-images / arkivi, Archiv ­angegeben: Hamburg History Live Hans-Jörg Czech Klaas Akkermann, Archiv Mary Dostal, CBH Archive, Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Direktor und Vorstand der Stiftung Historische Museen Beiersdorf AG Hamburg, Bertold Fabricius, Klaus Bodig Hamburg Hamburg / Hamburger Abendblatt, Jakob Börner, Jérome Gerull, Max Halberstadt, Hamburger Kunsthalle / bpk, Sinje Bei Anregungen und Kritik Geschäftsführender Redakteur Hasheider, Simone Hawlisch, Karl Hornung (Christian Hamburg History Live Matthias Seeberg Weiskopf), Museum für Kunst und Gewerbe, Frank-Oli- Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Chefredaktion: Hedda Bültmann ver Möller, Sammlung Rosenthal (USA), Sammlung Hamburg Projektleitung: Ulrich Thiele Spangenthal (England), Sammlung Weinke, Sammlung Holstenwall 24, 20355 Hamburg Art Direction: Eike Hahn Wolfgang Werkmeister, Elke Schneider, Matthias See- [email protected] Lithografie:Thomas Weber-Ude berg, Staatsarchiv Hamburg, Streit’s Archiv, VG Bild Kunst Schlussredaktion: Claudia Hoffmann Bonn, Vintage Germany, Elke Walford, Ursula Wamser Bildredaktion: Nathalie Möller-Titel

ALTONAER MUSEUM [email protected] 10 Personen und ermäßigt Öffnungszeiten Museumstraße 23 Öffnungszeiten Freier Eintritt für Kinder und Montag 10–17 Uhr 22765 Hamburg Zu den Veranstaltungen und Jugendliche unter 18 Jahren Dienstags geschlossen Tel. 040 428 135 0 nach Vereinbarung Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr [email protected] Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr Eintrittspreise MILLERNTORWACHE Öffnungszeiten Freier Eintritt Millerntordamm, nahe Holstenwall 24 Eintrittspreise Montag 10–17 Uhr 20355 Hamburg 9,50 Euro für Erwachsene Dienstags geschlossen Tel. 040 33 402 16 7 Euro für Gruppen ab 10 Personen Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr JENISCH HAUS [email protected] 6 Euro ermäßigt Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr Baron-Voght-Straße 50 Freier Eintritt für Kinder und 22609 Hamburg Öffnungszeiten Montags, Dienstags und Donnerstags Jugendliche unter 18 Jahren Eintrittspreise Tel. 040 82 87 90 8,50 Euro für Erwachsene [email protected] und nach Vereinbarung 6 Euro für Gruppen ab 10 Personen (Telefonisch oder per Mail bei Öffnungszeiten Ricarda Luthe) SPEICHERSTADTMUSEUM 5 Euro ermäßigt Montag 11–18 Uhr Freier Eintritt für Kinder und Eintrittspreise Am Sandtorkai 36 Dienstags geschlossen 20457 Hamburg Jugendliche unter 18 Jahren Mittwoch bis Sonntag 11–18 Uhr Freier Eintritt Tel. 040 32 11 91 Eintrittspreise [email protected] 7 Euro für Erwachsene MUSEUM DER ARBEIT speicherstadtmuseum.de HAFENMUSEUM HAMBURG 5 Euro für Gruppen ab 10 Personen Wiesendamm 3 Kopfbau des Schuppens 50A 22305 Hamburg Öffnungszeiten und ermäßigt März bis November: Australiastraße Freier Eintritt für Kinder und Tel. 040 428 133 0 20457 Hamburg [email protected] Montag bis Freitag 10–17 Uhr Jugendliche unter 18 Jahren Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr Tel. 040 73 091 184 Öffnungszeiten [email protected] Dezember bis Februar: KRAMER-WITWEN- Montag 10–21 Uhr Dienstag bis Sonntag 10–17 Uhr Öffnungszeiten (bis 31.10.) WOHNUNG Dienstags geschlossen (Bitte informieren Sie sich via Montag 10–17 Uhr Krayenkamp 10 Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr www.shmh.de über Veränderungen Dienstags geschlossen 20459 Hamburg Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr der Öffnungszeiten) Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr Tel. 040 375 019 88 Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr Eintrittspreise Eintrittspreise [email protected] 8,50 Euro für Erwachsene 4,00 Euro für Erwachsene Eintrittspreise Öffnungszeiten 6 Euro für Gruppen ab 10 Personen 2,50 Euro ermäßigt 6,50 Euro für Erwachsene April bis Oktober: 5 Euro ermäßigt 2 Euro für Schüler 4 Euro für Gruppen ab 10 Personen Montag 10–17 Uhr Freier Eintritt für Kinder und Freier Eintritt für Kinder und ermäßigt Dienstags geschlossen Jugendliche unter 18 Jahren unter 6 Jahren Freier Eintritt für Kinder und Mittwoch bis Sonntag 10–17 Uhr Jugendliche unter 18 Jahren November bis März: Samstag und Sonntag von 10–17 Uhr (Bitte informieren Sie sich via MUSEUM FÜR Weiterführende Informationen: HEINE HAUS www.shmh.de über Veränderungen HAMBURGISCHE GESCHICHTE shmh.de Heine-Haus e. V. der Öffnungszeiten) Holstenwall 24 20355 Hamburg Elbchaussee 31 Eintrittspreise Führungen in Gebärdensprache 22765 Hamburg Tel. 040 428 132 100 2,50 Euro für Erwachsene [email protected] Barrierefrei Tel. 040 855 09 787 1,70 Euro für Gruppen ab

111 ZEITZEUGNIS PEKING-Tagebuch

„LIEBER STRASSENKEHRER ALS SEEMANN“ Das Tagebuch eines PEKING-Fahrers schildert das raue Leben an Bord der Viermastbark

TEXT: URSULA RICHENBERGER

Schwerer Wellengang: Sturzseen überschwemmen das Deck

nter dem Dach der Stiftung Historische dem Leben auf dem Schiff wieder. Es gibt klare Museen Hamburg entsteht mit dem Deut- Hierarchien, die Behandlung an Bord ist nicht Uschen Hafenmuseum ein neues, vom Bund immer gewaltfrei, vereinzelt gibt es Schläge, Straf- großzügig gefördertes Museum – mit der PEKING arbeiten, Essensentzug. Unter Kapitän Heinrich als erstem sichtbaren Exponat. Die Viermastbark August Georg Oellerich werden die Jungen und war ab 1911 als Frachtschi im Salpeterhandel für Jungmänner durch die Offiziere und Bootsmän- die Reederei Laeisz im Einsatz. An ihrem Beispiel ner von Beginn an mit harten und kräftezehren- lassen sich spannende Aspekte aus der Geschichte den Arbeitseinsätzen konfrontiert: streichen, Rost des weltweiten Handels erzählen. klopfen, Wache gehen, spleißen, Segel setzen oder Eine besondere, persönliche Perspektive er- reffen, beim Laden und Löschen helfen. Fehlende ö net ein erst jüngst entdecktes Dokument: Chris- Waschmöglichkeiten, die permanent feuchte tian Weiskopf, der Enkel eines PEKING-Fahrers, ist Kleidung und der wenige Schlaf sind Entbehrun- im Besitz des Tagebuchs seines Großvaters, der gen, die zum normalen Alltag an Bord gehören. seine fast sechsmonatige Reise 1927/28 schriftlich, Schon eine Woche nach dem Ablegen notiert Karl mit Zeichnungen und Fotogra en versehen, fest- Hornung, dass er lieber Straßenkehrer als See- gehalten hat. Karl Hornung (1907–1997) wollte mann wäre. Die Ernährung an Bord ist knapp und seine Sehnsucht nach der großen weiten Welt stillen eintönig. Am 12. August schreibt Hornung: „Es- und musterte darum auf der PEKING an. Das Schi sen wie gewöhnlich mies.“ Um satt zu werden, war gerade bei Blohm & Voss überholt worden und tauschen die stets hungrigen Seemänner eifrig, bot mit seinem erweiterten Poop-Deck nun Platz für zum Beispiel Zigaretten gegen Brötchen. Mehr- 43 Auszubildende. Für die Ausbildung musste mals wöchentlich finden Resteessen statt, es gibt Hornung 500 Reichsmark Kostgeld zahlen. sogenanntes „Pekinger Allerlei“. Der kulinarische Hornungs Tagebuch und seine Fotos geben Höhepunkt: Weihnachten, da wird ein Bord- ein sehr anschauliches Bild von der Arbeit und schwein geschlachtet, es gibt Wurst, Kotelett,

112 Die PEKING 1927: Für die Jungen und Jungmänner waren bis zu acht Schweine als Proviant mit dabei

Der Blick aus dem Topp des Kreuzmastes aus einer Höhe von fast 50 Metern zeigt die Gefahr an Bord

Rotkohl, Kartoffeln und zum Dessert Pudding. Und er erlebt selbst mit, wie der Mythos um die Abgesehen von dieser Ausnahme, waren das Flying P-Liner wirkt: Am 30. Januar 1928 dreht ein Leben und die Arbeit an Bord nicht nur kräftezeh- niederländischer Passagierdampfer extra bei, um rend, sondern auch gefährlich. Das zeigen Tage- seinen Gästen die PEKING zu zeigen. bucheinträge zu Unfällen, die von Prellungen, Für Karl Hornung endet die Seefahrerkarriere verstauchten Knöcheln, über den Verlust von bereits direkt nach der Rückkehr der PEKING in Fingern bis hin zu einem Sturz in eine Luke beim Hamburg, er mustert ab. In der Folge studiert er, Löschen von Zementsäcken reichen. Der Matrose promoviert und wird stellvertretender Bankdirektor. Schneider erleidet dabei einen Schädel- und Ober- Von einer Karriere als Straßenkehrer ist das zwar schenkelhalsbruch und verliert ein Auge. Er wird weit entfernt, aber von der Seefahrt hatte er nach in Chile an Land gebracht; ob er es je wieder nach dem ersten Versuch genug. Die Erinnerung an die Hause gescha t hat, ist ungewiss. intensive Zeit an Bord bleibt aber lebendig, nicht Auch die Umsegelung von Kap Hoorn be- zuletzt durch die Geschichten, die er in seinem Ta- schreibt Hornung anschaulich. Anfang Oktober gebuch festhielt und die er seinen Kindern und setzt das raue Wetter ein – Sturzseen, Schnee, Enkeln erzählte. Im Deutschen Hafenmuseum soll Regen und Hagel machen dem Ruf des Kaps alle das Tagebuch künftig helfen, den Seefahrermythen Ehre. Die Mannschaft steht bis zur Brust im Was- um die PEKING klärend entgegenzutreten ser. Doch es gibt auch helle Tage: Die Landgänge in Chile bringen Abwechslung vom Bordleben URSULA RICHENBERGER durch Lebensmitteleinkäufe, Spaziergänge – end- ist Projektleiterin des geplanten lich auf festem Boden –, Café- und Barbesuche, Deutschen Hafenmuseums, als Strandleben. Hornung beschreibt auch die schö- dessen erstes sichtbares Objekt die historische Viermastbark nen Seiten der Seefahrt, er genießt die Fahrt unter PEKING seit September 2020

FOTOS: KARL HORNUNG/CHRISTIAN WEISKOPF KARL HORNUNG/CHRISTIAN FOTOS: vollen Segeln, „tadellos vierkant bei 12 Seemeilen“. am Bremer Kai zu sehen ist

113 STADTGESICHTER. EINE KOLUMNE Oscar und Gertrud Troplowitz

LABELLO UND PICASSO Das Ehepaar Troplowitz machte aus der Firma Beiersdorf einen Weltkonzern und ist bis heute ein Musterbeispiel an Bürgersinn und Mäzenatentum

TEXT: MATTHIAS SEEBERG

Sein bürgerschaftliches Engagement erstreckte sich in zahlreichen Vereinen, Stiftungen und nicht zuletzt in der Hamburgischen Bürgerschaft von der Schulpolitik über die Säuglingsfür­ sorge bis hin zu wichtigen Fragen der Stadtentwicklung. Als Mitglied der Baudeputation, der er von 1906 bis 1916 angehörte, war er unter anderem an der Berufung Fritz Schuhmachers zum späteren Oberbaudirektor betei­ ligt. Im Bereich der Kinderfürsorge la­ gen auch einige Aktivitäten seiner Frau Gertrud, die in Vorständen verschie­ dener Mädchenhorte wirkte und sich für unentgeltliche Ferienaufenthalte scar und Gertrud Troplowitz Apotheker tätigen Labors um Körper­ bedürftiger Kinder einsetzte. waren ein power couple der in­ pflegeartikel und Klebebänder und Ein gemeinsames und für beide Odustriellen Moderne in Ham­ nahm dabei die wachsenden Bedürf­ gleichermaßen erfüllendes Einsatzfeld burg. Bei ihnen trafen unternehmeri­ nisse einer Massengesellschaft und die war die mäzenatische Kunstförderung. scher Mut, Freude an Innovation und zunehmende Wirkung der Reklame in Für ihre 1909 erbaute Villa in der Ag­ kaufmännischer Weitblick auf Kunst­ den Fokus seiner Unternehmensstra­ nesstraße mit Blick über die Außenals­ geschmack, mäzenatische Energie und tegie. Neben dem alltagstauglichen ter begann das Paar mit dem Aufbau soziales Engagement. Leukoplast und dem Salbenstift, den einer Sammlung vorrangig zeitgenös­ Oscar Troplowitz, der 1863 als Kind wir heute unter dem Namen Labello sischer Kunstwerke. Mit Hilfe des in einer jüdischen Familie in Oberschle­ kennen, war es vor allem seine Pebeco-­ Paris lebenden Hamburger Malers sien geboren wurde, mit 15 Jahren eine Zahnpasta, die schnell zu einem enorm Friedrich Ahlers-Hestermann erwar­ Ausbildung zum Apotheker begann erfolgreichen Markenprodukt wurde. ben die beiden Arbeiten von Max Lie­ und mit 25 Jahren an der Uni­versität Um 1910 war Pebeco die meistver­ bermann, Max Slevogt, Pierre-Auguste Heidelberg in Chemie promovierte, kaufte Zahncreme in den USA, wohin Renoir, Alfred Sisley und Pablo Picasso zog es 1890 nach Altona, um das zum P. Beiersdorf & Co. dank einer Koopera­ – zu einer Zeit, als deren Malerei vom Verkauf stehende pharmazeutische La­ tion mit dem amerikanischen Handels­ Kaiser noch als „Rinnsteinkunst“ diffa­ bor von Paul Carl Beiersdorf zu erwer­ haus Lehn & Fink exportierte. Mit der miert wurde. Ein Teil der Sammlung ben. Ein Jahr später heiratete er seine Nivea-Creme kam dann 1911 eine Marke gelangte 1920 als Schenkung in die Cousine Gertrud Mankiewicz­ und hinzu, deren globale Erfolgsgeschichte Hamburger Kunsthalle. Der Anlass kaufte nicht zuletzt mit ­ihrer Mitgift ein auch mehr als 100 Jahre später noch war leider ein trauriger, nämlich der Betriebsgelände im damaligen Ham­ längst nicht zu Ende ist. frühe Tod von Gertrud Troplowitz. Ihr burger Vorort Eimsbüttel, auf dem er Der wirtschaftliche Erfolg der Fir­ Mann war bereits 1918 an den Folgen den Grundstein für seine weiterhin ma kam auch den Mitarbeitern zugute: eines Schlaganfalls gestorben. ­unter dem Namen P. Beiersdorf & Co. Als überaus sozialer Unternehmer firmierende Fabrik legte und diese in sorgte Oscar Troplowitz mit der Ein­ den kommenden Jahrzehnten zu ei­ führung bezahlter Urlaubstage, einer Der Historiker Henning Albrecht hat dem Unter- nem international erfolgreichen Kos­ firmeneigenen Sparkasse und einer nehmerpaar mit einer fulminanten Doppelbiografie metikkonzern entwickelte. ­betrieblichen Altersvorsorge für die ein längst fälliges Denkmal gesetzt. Sein Buch sei zur weiteren Lektüre dringend empfohlen. Henning Al-­ Troplowitz erweiterte die Produkt­ ­Absicherung­ und Förderung seiner zu­ brecht: „Troplowitz. Porträt eines Unternehmerpaares“,

palette des ursprünglich für Ärzte und nehmend weiblichen Angestellten. Wallstein Verlag, 488 Seiten, 39 Euro & BRAND HISTORY CORPORATE BEIERSDORF AG, FOTOS:

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