„Mechanismen Der Angst“ Zu DDR-Zeiten Standen Sie in Einer Front Gegen Das SED-Regime
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Deutschland WAHLKAMPF „Mechanismen der Angst“ Zu DDR-Zeiten standen sie in einer Front gegen das SED-Regime. Jetzt streiten vier ehemalige Bürgerrechtler in einem Wahlkreis um ein Bundestagsmandat. arten auf Vera. Am Eingang zum Nur wenn PDS-Sympathisanten und 90/Die Grünen und der Grafiker Matthias Schwerstedter Gemeindesaal DDR-Nostalgiker auf den Plan treten, läuft Büchner für das Neue Forum. Wsteht Thüringens Finanzminister Lengsfeld zur Hochform auf. Doch die sind Der gemeinsame Widerstand gegen das Andreas Trautvetter (CDU) und macht sich an diesem Abend nicht in Sicht. Gegen die SED-Regime, die Erfahrungen mit Bespit- mit einer Handvoll Besucher darüber Ge- „Ewiggestrigen, die nicht auf dem Boden zelungen, Stasi-Verhören, Schikanen und danken, ob in eine gute Bratwurst gemah- des Rechtsstaates stehen“, die die 46jäh- Haft – biographische Gemeinsamkeiten, lener Kümmel gehört. Nur 23 Gäste, meist rige mit dem blonden Pagenschopf allzu- die unter Ex-Dissidenten über alle Partei- Landwirte und Kleinunternehmer aus dem gern mit den Nazis gleichsetzt, wettert sie grenzen hinweg bislang als kleinster ge- Weimarer Land, sind gekommen, um Vera am liebsten. meinsamer Nenner funktionierten, sind im Lengsfeld zu sehen. „Das ist doch ein schö- Der PDS-Kandidat im Bundestagswahl- Thüringer Bundestagswahlkampf Schnee ner Erfolg“, lobt CDU-Kreisverbandsvor- kreis 301 (Weimar-Apolda-Erfurt/Land) von gestern. Zwischen den Konkurrenten sitzender Andreas Trübner, „denn wer säße gibt in dieser Hinsicht nicht viel her. Car- herrscht ein Klima der Abgrenzung und an diesem warmen Sommerabend nicht lie- sten Hübner, 29, stammt – ein cleverer des Mißtrauens. Bitter beklagt sich Vera ber beim Grillen im Garten.“ Schachzug der Thüringer PDS – aus Braun- Lengsfeld, die von ihrem eigenen Mann, Daß Vera Lengsfeld „eine starke Frau“ schweig und ist erst seit zwei Jahren im Knud Wollenberger, im Auftrag der Stasi ist, kann jeder lesen: Es steht mit großen Lande. bespitzelt und 1988 aus der DDR abge- roten Lettern auf dem weißen Wahlkampf- An Gegnern, auf die es sich im Sinne schoben wurde, über „Klatsch und Unter- auto, das vor dem Versammlungsort parkt. des CDU-Lagerwahlkampfs einzuprügeln stellungen“ in der alten Szene. Doch auf dem abendlichen Termin in der lohnt, herrscht auch ohne Altkommunisten Gegenseitig bezichtigt man sich des Re- 386-Seelen-Gemeinde kommt die Dissi- kein Mangel. Im Wahlkreis 301 tobt ein negatentums, ja des Verrats. Gern schlägt denten-Ikone der DDR, die 1996 von Bünd- Streit um die Frage, wer als legitimer Erbe Vera Lengsfeld, von der alte Freunde be- nis 90/Die Grünen zur CDU gewechselt der DDR-Bürgerrechtsbewegung auftreten haupten, die Kronzeugin der CDU für das war, schwer in Schwung. Die nüchternen darf und wer nicht. Neben der studierten Unrecht der DDR habe den Horror in ih- Fragen der Gäste nach Stundung von Ab- Philosophin Lengsfeld werben drei weite- rer Biographie nicht verkraftet, auf den wasserkosten, Steuervergünstigungen für re Vorwende-Oppositionelle um die Erst- „eigentlich sehr geschätzten“ Sozialde- landwirtschaftliche Neueinrichter oder stimmen des Wahlvolkes: der Theologe mokraten Edelbert Richter, 55, ein. Der Fördermittel für Agrarbetriebe beantwor- Edelbert Richter für die SPD, der Klein- Grund: Richter mache die Postkommuni- tet lieber gleich der Minister. unternehmer Rudolf Kessner für Bündnis sten hoffähig. Der Theologe, ein politischer A. VARNHORN Büchner (Neues Forum) F. OSSENBRINK F. A. VARNHORN A. LABES / IMAGES.DE Lengsfeld (CDU) Richter (SPD) Kessner (Bündnis 90/Die Grünen) DDR-Dissidenten im Bundestagswahlkampf: Klima der Abgrenzung und des Mißtrauens 86 der spiegel 36/1998 Deutschland Vordenker der Oppositionsbewegung, hat- alten Kadern und jungen Kapitalisten an bewegung“, doziert der Mann mit dem te schon in den frühen achtziger Jahren die „wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit“ graumelierten Rauschebart und Pferde- in Vorträgen und Thesenpapieren die Zie- ihrer Ideologie. schwanz, „die den Traditionen des Herb- le der DDR-Dissidenten formuliert. Er Über Vera Lengsfeld verliert der diskre- stes ’89 verpflichtet bleibt.“ Einen aus MfS- war es, der als erster das Thema deutsche te Theologe kein böses Wort. Kritik an der Kreisen gestreuten Verdacht, daß der Sta- Einheit als Ziel postulierte – als Überle- ehemaligen Kampfgefährtin kommt dem si-Jäger einst selbst mit der Staatsmacht bensstrategie gegen den damals drohen- Kandidaten der Bündnisgrünen, Rudolf gekungelt habe, konnte Büchner gerichtlich den Krieg der Supermächte mitten in Eu- Kessner, 48, Miteigentümer eines graphi- entkräften. ropa. Als der von ihm mitgegründete De- schen Betriebes in Weimar, wesentlich Büchner, Mitglied einer Kommission des mokratische Aufbruch immer mehr nach leichter über die Lippen. „Veras Weiner- Deutschen Sportbundes und des Nationa- rechts driftete und schließlich von der lichkeit“, so Kessner, sei oft nur „schwer zu len Olympischen Komitees zur Aufklärung CDU geschluckt wurde, trat er im Januar ertragen“. Im überfüllten Volkshaus der von Stasi-Verwicklungen im Sport, der sich 1990 in die SPD ein. Goethe-Stadt rät der graubärtige Mann mit auch schon mal auf einem CDU-Landes- Auch nach der Wende, als Bundestags- der schwarzen Baskenmütze der Ex-Grü- parteitag beklatschen läßt und „gegen abgeordneter und Mitglied der Grundwer- nen Lengsfeld „sich doch lieber ein gutes Überheblichkeit im Westen und Weiner- tekommission beim Parteivorstand der Thüringer Sanatorium zu suchen“. lichkeit im Osten“ angehen will, hofft sogar SPD, blieb Richter ein Querdenker, der Kessner („Die ständigen Befindlichkei- auf Stimmen aus der CDU.„Es gibt ja auch fern jedem Partei-Opportunismus mit stoi- ten kotzen mich langsam an“) ist in Wei- noch ein paar Christdemokraten, die aus scher Ruhe seinen Weg geht. Er gehört zu mar als „Stempel-Rabe“ bekannt. Zu dem Demokratischen Aufbruch kommen der Handvoll prominenter SPD-Genossen, DDR-Zeiten war sein Laden Umschlag- und sich bis heute über die zahlreichen die sich gegen den Widerstand aus der Ba- platz für Nachrichten aus der Opposition. Blockflöten in der eigenen Partei grämen.“ Der „Basis-Demokrat“ (Büch- ner über Büchner), der einst mit Vera Lengsfeld beim Mururoa- Atoll gegen die Atombomben- versuche der Franzosen demon- strierte, läßt kein gutes Haar an seinen Gegenkandidaten. „Wie kann ein ausgewiesener Hirnbe- sitzer wie Edelbert Richter die Erfurter Erklärung unterschrei- ben?“ fragt er süffisant. Vera Lengsfeld attestiert er „ein ge- wisses Versorgungsbedürfnis“, und dem nun bündnisgrünen „Stempel-Raben“ wirft er „Treulosigkeit“ vor. Verrat am Herbst 1989? Statt Erinnerung an gemeinsame Gegner nur noch Zwist? „Es ist doch ganz normal, daß sich die Aktiven des Herb- stes 1989 heute in verschiede- ne Richtungen orientieren“, meint Heino Falcke, langjähri- SIPA ger Propst von Erfurt und Men- DDR-Oppositionelle am Runden Tisch in Berlin (1989): „Völlig verdrängt“ tor nicht nur der Thüringer Op- position. Falcke, der zum Ärger racke für die „Erfurter Erklärung“ stark Seit 1984 war der unerschrockene Mann der Staats- und Kirchenoberen seine Kir- machen, jenen außerparlamentarischen aus bürgerlichem Elternhaus, der auch mit che den Widerständlern öffnete, schränkt Aufruf, in dem Zehntausende Unterzeich- seinem Kleinbetrieb dem real existieren- ein: „Die logische Fortsetzung unseres ner einen Politikwechsel, auch mit Hilfe den Sozialismus trotzte, in kirchlichen Op- Kampfes, der ja schon damals zivilisa- der PDS, fordern. positionsgruppen aktiv. Als Mitbegründer tionskritische Ansätze hatte, sehe ich al- Während andere Politiker schreiben las- des Neuen Forums, für das er vier Jahre im lerdings im Engagement für Rot-Grün.“ sen, hat sich der Intellektuelle Richter, der Weimarer Stadtrat saß, ließ er sich 1994 Vera Lengsfeld habe die friedliche Revo- bei deftigen Thüringer Wahlfesten mit Brat- für die Bündnisgrünen ins Kommunalpar- lution von 1989 „völlig verdrängt“ und un- wurst und Rostbrätl eher hölzern wirkt, lament wählen, weil das Neue Forum, wie terliege „Mechanismen, zum Beispiel der selbst an den Computer gesetzt. In der er fand, „zur esoterischen Sekte verkam“. Anpassung und der Angst, gegen die sie heißen Phase des Wahlkampfs will er sein Die schillerndste Figur im Weimarer damals angetreten ist. Und darüber müs- Buch „Aus ostdeutscher Sicht – Wider den Wahl-Quartett ist ein Getreuer eben dieses sen wir heftig streiten“. neoliberalen Zeitgeist“ vorstellen.Aus die- Neuen Forums, Matthias Büchner, genannt Falcke, einer der Erstunterzeichner der sem Blickwinkel vergleicht er, mit sanfter Fritz. Für den Erfurter „Stasi-Auflöser“ „Erfurter Erklärung“ und Abschlußpredi- Polemik, den verordneten DDR-Ökono- (die Dom-Stadt war die erste in der DDR, ger auf dem Evangelischen Kirchentag im mismus leninistischer Prägung mit dem in der Oppositionelle am 4. Dezember 1989 vergangenen Jahr in Leipzig, kann diesen nun herrschenden Weltbild des Marktes im eine Stasi-Zentrale besetzten und damit Disput auch in der eigenen Familie pflegen: vereinten Deutschland. Der frühere Do- verhinderten, daß weitere Aktenberge ver- Seine Tochter Hildigund und sein Schwie- zent an der Predigerschule in Erfurt ent- brannt wurden) ist die Zeit der friedlichen gersohn Ehrhart Neubert gehörten zu der deckte „erschreckende Parallelen“, zum Revolution noch lange nicht zu Ende. „Wir Gruppe, die mit Vera Lengsfeld zu den Beispiel den gemeinsamen Glauben von sind die einzige wirklich radikale Bürger- Christdemokraten konvertierte. ™ 88 der spiegel 36/1998.