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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 22. November 1999 Betr.: Tschetschenien, Mannesmann, Titel, Pay-TV

inge es nach den Russen, dürften al- Glenfalls ihre eigenen Kriegsbericht- erstatter aus Tschetschenien berichten. SPIEGEL-Redakteur Christian Neef, 47, schon im letzten Krieg mehrfach vor Ort, gelangte dennoch in die abgeriegelte Kriegsprovinz. Er besuchte die tsche- tschenischen Kommandeure der Süd- westfront und sprach mitten in den Rui- nen von Grosny mit Vizepräsident Wacha Neef (r.), tschetschenische Kämpfer Arsanow. Um Neef nachts einen halb- wegs sicheren Rückweg zu ermöglichen, gab ihm Arsanow seinen eigenen Jeep und einen handgeschriebenen Brief an alle Kommandeure mit: „Erweisen Sie dem Überbringer dieser Nachricht alle erdenkliche Hilfe.“ Danke. (Seite 196)

n das kleine Konferenzzimmer im 21. , wo Mannesmann-Chef Klaus Esser Ivergangene Woche die SPIEGEL-Redakteure Frank Dohmen, 36, und Gabor Steingart, 37, empfing, kommen sonst nur wenige Gäste. Der letzte Besucher vor den SPIEGEL-Leuten war Vodafone-Chef Chris Gent gewesen, der Esser die gigan- tische Summe von 242 Milliarden Mark für das Düsseldorfer Traditionsunterneh- men offeriert hatte. In dem anderthalbstündigen SPIEGEL-Gespräch erläuterte Esser, warum er das Angebot ausschlug und wie er plant, eine feindliche Übernahme abzuwehren. Dabei verriet er auch, dass zehn Investmentbanker an einem gehei- men Ort untergebracht sind, die ihn bei seinem Kampf unterstützen. Esser will keine national aufgeladene Diskussion, sondern sich an die klaren Spielregeln der internationalen Finanzwelt halten: „Der Markt hat immer Recht.“ (Seite 122)

s regt sich was bei Deutschlands Frauen. Sie entwickeln kämpferischen Geist Eund Lust an der Macht, verbünden sich zum Aufstieg in männliche Hierar- chien – oder machen gleich ihre eigene Show: als Unternehmerinnen, die Beruf und Familie flexibel verbinden. Die Redakteurinnen Su- sanne Weingarten, 35, und Marianne Wellershoff, 36 – durch ihr gemeinsam verfasstes Buch „Die wider- spenstigen Töchter“ (Kiepenheuer & Witsch, 1999) als Feminismus-Expertinnen ausgewiesen –, untersuch- ten, was sich da alles tut in den weiblichen Netzwer- ken, Interessengruppen, Internet-Zusammenschlüssen und Mentorinnenprogrammen. Die auch für sie über- raschende Erkenntnis: Es gibt eine neue Frauenbewe- M. WITT gung in Deutschland (Seite 84).Was sie erreichen kann, Wellershoff, Weingarten wohin die Entwicklung führt, ist diese Woche täglich Diskussionsthema bei SPIEGEL ONLINE. Neben den Autorinnen stehen die Netz- werk-Expertin Helga Richter und Barbara Schaeffer-Hegel, Gründerin der Eu- ropäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft, zum Chat bereit.

ber vier Milliarden Mark kosteten den Filmhändler Leo Kirch bisher seine Vi- Üsionen vom allmächtigen Pay-TV.Sein vielleicht letzter Versuch, der Kanal Pre- miere World, sucht nun mit Millionen-Aufwand neue Kunden zu gewinnen. Einer war SPIEGEL-Redakteur Thomas Tuma, 35, der einen Selbstversuch startete – vom Decoder-Kauf über verzweifelte Anrufe beim ständig überlasteten Call-Center bis zu schlaflosen Nächten mit 30 neuen Programmen. Tumas Fazit nach einer Woche: „Pay-TV kostet viel Geld – und auch eine Menge Nerven.“ (Seite 144)

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 47/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel In Deutschland tritt eine neue Seite 22 Frauenbewegung an – und kämpft um Die CDU trickste weiter Macht am Arbeitsplatz...... 84 Die CDU will das alte System der Geldbe- Wie Frauen das Internet zur Kooperation nutzen...... 90 schaffung unter Kanzler nicht SPIEGEL-Gespräch mit Alice Schwarzer geißeln, aber auch die neue Spitze unter über Feminismus und Karriere ...... 105 Nachfolger Wolfgang Schäuble so wenig Kommentar wie möglich beschädigen. Doch die Strate- Rudolf Augstein: Kohls „Schwarze Löcher“...... 24 gie ist kaum durchzuhalten. Aktenfunde belegen, dass die Partei ihren dubiosen Um- Deutschland gang mit Spendengeldern fortsetzte – selbst Panorama: Haushaltstricks beim Umzugsfest / nach Ausscheiden des wegen Steuerhinter- 30 Milliarden für Arbeitslose?...... 17 ziehung beschuldigten Schatzmeisters Leis- Affären: Die Spendenmaschine der Union...... 22 Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto ler Kiep. Auch seine Nachfolgerin Brigitte auf seinen Prozess vorbereitet ...... 26 Baumeister, so legen Unterlagen nahe, hat

NRW: Aus für die Braunkohle? ...... 30 REUTERS sich womöglich mit dem zweifelhaften Waf- Geheimdienste: US-Spione wollen Kiep fenhändler Karlheinz Schreiber getroffen. Frieden mit Deutschland ...... 32 Zwangsarbeiter: Entscheiden Clinton und Schröder?...... 34 Europa: Interview mit EU-Kommissar Antonio Vitorino über das neue Asylsystem ..... 36 Atomkraft: Rot-Grün drückt auf die Industrie ... 38 CDU: Volker Rühes Karriere-Umwege...... 42 Clement in Nöten Seite 30 Diplomaten: Der rüde Ton des US-Botschafters John Kornblum ...... 44 Bergarbeiter-Demos, Arbeits- Pressefreiheit: Angriff auf platz-Abbau, Kapriolen um die das Redaktionsgeheimnis ...... 50 Ökosteuer – Nordrhein-Westfa- Hauptstadt: Der Niedergang des lens Ministerpräsident Wolfgang Kurfürstendamms...... 56 Clement (SPD) geht angeschla- Bundestag: Streit um Stühle ...... 62 Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über den gen in den Landtagswahlkampf. Fall des krebskranken Mukarim Emil...... 64 Jetzt könnten interne Spar- Bundeswehr: Kaum Haftung für Fehler szenarien des RWE-Konzerns der Soldaten-Ärzte ...... 68 auch die Braunkohle bedrohen. Justiz: -Mordpläne sollen Clements Prestigeprojekt, der Ta- ungesühnt bleiben ...... 72 Kriminalität: Sachsen-Polizei bestraft gebau Garzweiler II, wird allen

Ladendiebe selber...... 80 Durchhalteparolen zum Trotz im- D. HOPPE / NETZHAUT mer unwahrscheinlicher. Tagebau Garzweiler I Gesellschaft Szene: Halstücher als Brustschmuck / Der Erfolg der Handy-Kurzpost ...... 83 Justiz: Richter Gnadenlos urteilt jetzt im Fernsehen ...... 111 Idole: Wem darf der Sportfan noch glauben, wenn nicht Dieter Baumann?...... 112 Der Vizekönig von Seite 44 Wirtschaft Der US-Botschafter John Kornblum macht sich in Berlin durch rüde Auftritte und Trends: Sinkende Gewinne bei VW / Die lautes Schimpfen über deutsches „Großmachtgehabe“ unbeliebt. Der Mann mit den Dresdner Bank baut um / Aus für Avanza?...... 115 ostpreußischen Ahnen benimmt sich, so ein Kritiker, wie der „Vizekönig von Indien“. Geld: Die Kunst des Stock-Picking / Ölaktien folgen dem Ölpreis ...... 117 Konzerne: Die Schlacht um Mannesmann...... 118 Das Ende der Deutschland AG ...... 120 SPIEGEL-Gespräch mit Mannesmann-Chef Klaus Esser über seine Abwehrstrategie ...... 122 Steuern: Wie viel darf der Staat „Der Spirit geht nach Osten“ Seite 56 dem Bürger nehmen? ...... 128 Bauindustrie: Die und Der Aufstieg des jungen Berliner das Milliardenloch bei Holzmann ...... 132 Ostens bewirkt einen Nieder- Rente: Koalition und Opposition bewegen gang des alten West-Berlin. Die sich aufeinander zu...... 136 ehemals saturierte Prominenz Glücksspiel: Das dubiose Geschäft vom Kurfürstendamm, der tradi- mit Pferdewetten ...... 138 tionellen Edelmeile, sieht sich als Medien Verlierer der Wende. „Der Spirit Trends: Pro Sieben kauft bei Kinowelt / geht nach Osten“, klagt ein Katarina Witt klagt in Karlsruhe ...... 141 Mode-Kaufmann, der soeben Fernsehen: Zarah Leanders Leben wird sein Designer-Geschäft geschlos- verfilmt / Quoten-Hit Dinosaurier ...... 142 Vorschau...... 143 sen hat. Der legendäre Kurfürs- Pay-TV: Die schöne neue Fernsehwelt tendamm, von jeher Spiegel der von Premiere World...... 144 bürgerlichen Gesellschaft, wird Interview mit Premiere-Chef Tellenbach C. SCHROTH zum Spekulationsobjekt für das über die Probleme des Senders ...... 147 Kurfürstendamm schnelle Geld. Internet: Die Werbung im Netz boomt...... 148 TV-Filme: Der Spielberg des Fernsehens...... 154

6 der spiegel 47/1999 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (9): „Wir sind ein Volk“ – Die Massen rufen nach Wiedervereinigung.. 159 Porträt: Machtmensch Honecker...... 178 Analyse: Korruption und Amtsmissbrauch – die Privilegien der DDR-Nomenklatura...... 180 Ausland Panorama: OSZE : Deal in Istanbul / Mahatirs demokratisches Feigenblatt...... 185 USA: Sehnsucht nach dem Saubermann ...... 188 Türkei: Istanbuls Angst vor Killer-Beben ...... 192 Tschetschenien: Reportage aus dem Zentrum des Krieges ...... 196 Labour: London und der Rote Ken...... 201 Australien: Abschreckung der Boat-People ..... 204 Österreich: Jörg Haider als reuiger Sünder ..... 206 FOTOS: AP FOTOS: Luftfahrt: Drama im EgyptAir-Cockpit ...... 212 Wahlkämpfer Bush, McCain, Bradley (o.) Interview mit der Witwe von Kopilot Batuti.... 214 Italien: Die Mafia in Nadelstreifen...... 216 Kaliningrad: Als die russischen Siedler Seite 188 nach Ostpreußen kamen...... 224 Charakter erwünscht Großbritannien: Prinz Charles ärgert Der erste US-Präsident des neuen Jahrtausends soll das zeigen, was Amerikaner am Tony Blair...... 230 derzeitigen Amtsinhaber Bill Clinton vermissen: Charakter. Das hilft dem republi- Sport kanischen Präsidentensohn George Bush und Vizepräsident Al Gore – aber mehr noch Fußball: Warum Trainer Werner Lorant den ihren Mitbewerbern John McCain und Bill Bradley. Die gelten als Nationalhelden. TSV 1860 München niemals verlassen darf...... 238 Tennis: Der Sponsoren-Schwund...... 242 Wissenschaft • Technik Prisma: Walkman im Füllerformat / War Ötzi ein Feuersteinhändler?...... 249 Physik: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Prinz Charles’ Privatfehde Seite 230 den Teilchenforschern Harald Fritzsch und Hans Graßmann über die Während Premier Blair den Zukunft ihrer Wissenschaft...... 252 feudalistischen „Blutsport“ ab- Zahnmedizin: Das neue Geschäft mit schaffen möchte, nimmt Prinz dem schöneren Gebiss...... 260 Charles seine Söhne mit auf die Raumfahrt: Psychologe ließ sich monatelang Fuchsjagd. Er demonstriert seine in Raumstations-Nachbau einschließen ...... 264 Abneigung gegen die China- Umwelt: Streit um Erdgasbohrung im niederländischen Wattenmeer ...... 268 Politik, die staatlich geförderte Herzinfarkt: Eine US-Kleinstadt zeigt, Genlandwirtschaft und Bauvor- wie man sich schützen kann ...... 274 haben von New Labour. Der Automobile: Ist der neue Alu-Audi Thronfolger verstößt damit gegen ein Ökomobil?...... 280 Englands ungeschriebenes Gesetz, Kultur

AP dass Königshaus und Regierung Szene: Roland Emmerich über Gewalt im Film / Charles (als Hochzeitsgast in London) niemals Kritik aneinander üben. Der Schelmenroman von Radek Knapp ...... 283 Musik: Der US-Opernfreak Alberto Vilar will Bayreuth und Baden-Baden unterstützen...... 286 Kino: Schauerfabel „Blair Witch Project“ ...... 290 Regisseure: SPIEGEL-Gespräch mit David Lynch über seinen neuen Film Der Streit der Physiker Seite 252 „The Straight Story“ ...... 292 Autoren: Der anrührende Briefwechsel des „Flaggschiff der Grundlagenforschung“ oder „ein Schaden für die Physik“? Im Verlegers Siegfried Unseld mit Uwe Johnson .. 298 SPIEGEL-Gespräch streiten die Teilchenphysiker Hans Graßmann und Harald Fritzsch Bestseller...... 300 über den Sinn der größten Forschungsmaschine Deutschlands am Desy in Hamburg. Stars: Das Sendungsbewusstsein des Mannheimer Sängers Xavier Naidoo...... 302 Theater: Neues vom Dramatiker Thomas Brasch in Basel...... 304 Mäzene: Wie Manager Heinz Dürr einmal einen Theaterpreis stiftete...... 306 Buchmarkt: Etablierte Verlage als Überdruss am Überfluss Seite 144 Neu-Einsteiger auf dem Hörbuch-Markt ...... 310 Pop: Die Pet Shop Boys auf Tour ...... 314 Mit einer 100 Millionen Mark teuren Werbeschlacht versucht der neue Pay-TV-Kanal Premiere World, die Deutschen von den Segnungen des Bezahl-Fern- Briefe...... 8 sehens zu überzeugen. Doch was bieten 30 Zusatz- Impressum ...... 14, 316 Leserservice...... 316 PREMIERE kanäle wirklich – außer Überdruss am Überfluss? Chronik ...... 317 Register...... 318 Premiere-World-Kanal Personalien ...... 320 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 322

der spiegel 47/1999 7 Briefe

eben schlauer und listiger. Sie haben blitz- schnell erkannt, dass mit der patriarcha- „Wenn mich jemand fragt, was lisch-konservativen Regierung in West- typisch deutsch ist, dann deutschland kein „Sozialismus mit mensch- lichem Antlitz“ verwirklicht werden wird. würde ich sagen: dieser hohe Berlin Jürgen Burneleit

idealistische Maßstab im Wie soll denn die mentale Mauer zwischen Hinterkopf bei der Lösung Ost und West eingerissen werden, wenn aus den alten Bundesländern 40 Prozent profanster Probleme.“ der Leute immer noch nicht in den neuen Bundesländern waren, während es um- Jenny Radeck, , zum Titel „10 Jahre nach dem Fall der Mauer – gekehrt 12 Prozent sind. Die richtige Sicht Großmacht Deutschland?“ Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts der osteuropäischen Herausforderung der Dinge gewinnt man eben nur dann, SPIEGEL-Titel 45/1999 wenn man nach Sachsen oder Thüringen fährt, Mallorca Mallorca sein lässt, das Nutzbringende seines Urlaubs einmal ganz Deutschland, ein europäischer Staat. All- anders erfährt und damit auch noch zum Auf dass wir gute Europäer werden mählich scheint es, dass diese Contradictio deutsch-deutschen Verstehen beiträgt. Nr. 45/1999, Titel: 10 Jahre nach dem Fall der Mauer – in adjecto überwunden ist. Im einstigen Lingen (Nieders.) Erich Rückleben Großmacht Deutschland? Land der „Dichter und Denker“ sieht es so Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts aus, als ob wir Deutschen langsam akzep- Als ein Koreaner, der sich vollständig in- der osteuropäischen Herausforderung tieren, was wir sind: ein Volk in Europa, ei- tegriert fühlt, ist es mir aufgefallen, wie nes unter vielen.Vielleicht sind wir endlich sehr sich „die Deutschen“ von anderen Die Titelwahl „Großmacht Deutschland“ nicht mehr von vorgestern, son- zeugt von wenig Sensibilität. Auch bei ei- dern haben doch noch unser nem Nachkriegsgeborenen wird damit ein Heute gefunden. Auf dass wir Antideutschlandreflex wach, dem ich mich nun werden, was wir eigentlich schon in meiner Kindheit nie entziehen sein sollten – gute Europäer! konnte. Nicht nur meine Eltern, viele ihrer Illerbeuren (Bayern) Generation haben sich durch den Krieg von Martin Rothmann Deutschland völlig abgewandt und uns so den Zugang zum kulturellen Reichtum ih- Wie lange wollen Sie diese res Landes vorenthalten. Erst später reali- Selbstgeißelungsmentalität ei- sierte ich, was mir verborgen blieb. Mich hat gentlich noch beibehalten? Als oft beeindruckt, wie viele meiner gleichal- erwachsener Mensch, dessen El- trigen deutschen Kollegen die „Großmacht tern bei Kriegsende selbst noch Deutschland“ besser verarbeitet haben als Kinder waren, kann ich es nicht

mancher unter uns Nachbarn. Umso unnö- mehr hören, dass die Deutschen & PARTNER / BACH CH. BACH tiger sind solche Titelzeilen, die „alte Ge- die bösen Schweine sind, denen Reichstagsgebäude in Berlin fühle“ wecken.Alte Großmachtgefühle auf nicht über den Weg getraut wer- Neues Selbstwertgefühl? beiden Seiten, wohlverstanden. den dürfe. Solange wir Deut- Horgen (Schweiz) Heier Lämmler schen dies gebetsmühlenartig wiederho- Nationen unterscheiden. So scheint es nur len, dürfen wir von unseren Nachbarn mir als Ausländer, der aus Trägheit noch Als ich „Großmacht Deutschland“ las, nicht erwarten, dass diese von uns ein bes- keinen deutschen Pass beantragt hat, hier dachte ich, das sei spöttisch gemeint. Aber seres Bild haben als wir selbst. Mein Vor- möglich zu sein, auf Deutschland stolz zu das war doch tatsächlich ernst gemeint. Sie schlag: erinnern ja, verdammen nein. sein, ohne den Verdacht auf mich zu len- nennen es „Westorientierung“. Ich nenne Schriesheim (Bad.-Württ.) Thomas Lehmann ken, ein „Nazi“ zu sein. Vielleicht ist es es Kolonie. Und eine Kolonie kann nun aber genau diese Tatsache, die diese Ge- einmal keine Großmacht sein, und wenn Es kann doch nicht sein, dass zehn Jahre sellschaft zu einer der lebenswerteren sie noch so groß ist.Wenn die USA anord- nach dem Fall der Mauer die Aktivisten macht. Herr Baring schreibt von der Wur- nen, das habt ihr zu tun, und das habt ihr der ersten Stunde immer noch jammernd zellosigkeit und Orientierungslosigkeit der zu zahlen, dann machen wir das. Das äuße- und jaulend ihren verpassten Chancen hin- Deutschen auf Grund der selbst auferleg- re Zeichen der Unterwerfung ist, dass wir terhertrauern und um ihre verdiente Aner- ten Vergangenheitslosigkeit. Mir scheint, mehr und mehr die Sprache und Kultur kennung ringen. Die Wendefüchse aus der dass aber gerade darin eine Chance liegt, unserer Kolonialherren annehmen. zweiten Reihe des SED-Regimes waren eine „bessere“ Gesellschaft zu bilden, die Köln Veit Hennemann

Wenn die Deutschen auch dazu neigten, Vor 50 Jahren der spiegel vom 24. November 1949 von einem Extrem ins andere zu fallen, zwi- Hinweise auf Wahlfälschungen zur NS-Zeit Hitler-Volksabstimmungen schen Großmäuligkeit und Servilität nicht manipuliert? Der ostdeutsche Industrieminister Fritz Selbmann entwirft die richtige Mitte fanden, so ist Ihr Titel um- eine Fata Morgana des Zweijahresplans Zweckgebundener Optimismus. so unangebrachter und verantwortungslo- 14 Millionen Tonnen Erdölvorräte im Emsland 1953 soll Westdeutschlands ser, als vieles darauf hindeutet, dass die jün- Raffineriekapazität den eigenen Bedarf abdecken. Westdeutschlands Schifffahrt kann hoffen Hohe Kommissare gestatten den Bau von Schiffen geren Deutschen nicht mehr unter einem mit beliebiger Antriebsart. Bertrand Russells Geschichtswerk erscheint gestörten Selbstwertgefühl leiden. Das Auf- nach 15 Jahren auf Deutsch Immer noch erregend modern. treten und Gebaren von Fischer und Schrö- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de der im Ausland vermitteln das wohltuend. Titel: Emsland-Bauer Klasinck vor Ölfördertürmen Bielefeld Gisela Thomsen

8 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Werbeseite Briefe nicht die gemeinsame Vergangenheit, son- dern die gemeinsame Zukunft als Basis für ein Zusammenleben besitzt. Aachen Yoon Soo Hwang

Bravo, Arnulf Baring! Jedoch eine Frage: Könnte die von Ihnen angesprochene Schläfrigkeit nicht eher Dummheit sein? Sundern (Nordrh.-Westf.) Erich Kalinowsky

Expertisen über Osteuropa gibt es in Deutschland mehr als im europäischen Ausland – von Baring bisher auch immer

wieder anerkannt –, und zwar im Bun- DPA desinstitut für ostwissenschaftliche und in- Tatort in Bad Reichenhall ternationale Studien, in der Stiftung Wis- Zeichen für eine starke Demokratie? senschaft und Politik und an verschiedenen Universitäten. Dass diese Forschung finan- ziell langsam austrocknet, dass sie ande- Diese Zahl spricht für sich rerseits auch mehr genutzt werden könn- Nr. 45/1999, Kriminalität: Amoklauf von te, steht auf einem anderen Blatt. Die Ein- Bad Reichenhall lässt Experten und Polizei ratlos sichten der US-Experten in die Labilität der osteuropäischen Krisenregion werden Es wird leider immer wieder Amokläufer international vielleicht häufiger zitiert, in geben, ein verschärftes Waffenrecht wird der politischen Praxis aber genauso selek- dies nicht verhindern. Sind keine Schuss- tiv genutzt wie die aus Deutschland. Es ist waffen zur Hand, nimmt man eben das Au- nicht nur deutsche Schläfrigkeit, sondern to oder, wie auch erst kürzlich geschehen, eine westliche Mischung aus Wunschden- eine Axt! Abgesehen davon hat Deutsch- ken und Desinteresse, die zur Unterschät- land bereits eines der restriktivsten Waf- zung des Krisenpotenzials in unserer ost- fengesetze der Welt. Es mag vielleicht ko- europäischen Nachbarschaft führt. misch klingen, aber es ist eine Tatsache, Köln Prof. Dr. Heinrich Vogel dass ein moderates Waffengesetz ein Zei- Bundesinst. f. ostwiss. u. intern. Studien chen für eine starke Demokratie ist. Es zeigt, dass ein Staat seinen Bürgern ver- traut! Nur totalitäre Systeme verbieten den Eine historische Wahrheit privaten Waffenbesitz, um eine Auflehnung Nr. 44/1999, Panorama Ausland: China – der Bevölkerung gegen die Diktatoren von „Wir werden siegen“ Anfang an zu unterbinden. Ramstein (Rhld.-Pfalz) Volker Hellein Das Interview mit Oberst Wang Baoqing zeigt deutlich, dass Festlandchina Inva- Es zeugt von wenig Sachkundigkeit, wenn sionsabsichten gegenüber Taiwan hegt. Tai- ein schärferes Waffenrecht gefordert wird. wan tut dies gegenüber China nicht. Die Das Waffengesetz verlangt von legalen Waf- ganze Welt weiß, dass Taiwan ein unab- fenbesitzern ausdrücklich eine sichere Auf- hängiges Land ist.Warum muss Taiwan also bewahrung ihrer Schusswaffen. Ein einfa- erst auf seine Identität verzichten, um mit cher Holzschrank mit Frontverglasung wie Festlandchina wieder vereinigt zu werden? im Fall von Bad Reichenhall genügt diesem China sollte seine Bereitschaft zu einer Anspruch sicher nicht. Zudem muss jeder friedlichen Wiedervereinigung ankündigen, legale Waffenbesitzer auf seine Zuverläs- um gemeinsam mit Taiwan einen harmo- sigkeit überprüft werden. Falls der Vater nischen, bilateralen Prozess zu entwickeln. und Waffenbesitzer wirklich ein Alkohol- Krieg kann für das Fernziel der Wieder- problem hat, erfüllt er auch dieses Krite- vereinigung kein geeignetes Mittel sein. rium nicht. Bedenkt man, dass bundesweit Die Aussagen Präsident Lee Teng-huis über nur circa 0,003 Prozent aller waffenbezoge- die speziellen zwischenstaatlichen Bezie- nen Straftaten mit legalen Waffen verübt hungen von Taiwan und Festlandchina sind werden, dann spricht diese Zahl für sich. eine historische Wahrheit. Die Aufforde- Weisenheim (Rhld.-Pfalz) Dieter H. Marschall rung der Rücknahme dieser Äußerung von Seiten Pekings ist unrealistisch. 75 Prozent der taiwanischen Bevölkerung sind gegen Einfach den Namen ändern? das festland-chinesische Modell „ein Land, Nr. 45/1999, Zeitgeschichte: zwei Systeme“, lediglich 8,5 Prozent dafür. Reemtsmas Rückzug Wenn die VR China tatsächlich eine fried- liche Lösung mit Taiwan anstrebt, sollte sie Den Vorwurf, ich rechnete die von der sich eher mit der Meinungsvielfalt in Tai- ermordeten unschuldigen Zi- wan auseinander setzen und nicht mit Ge- vilisten zu den klassischen Opfern eines walt drohen. Partisanenkrieges, weise ich zurück. Ich Hamburg Cheng Ming-shih habe lediglich geschrieben, dass es nicht Taipeh-Vertretung in der BRD dasselbe ist, wenn Zivilisten als Unschul-

12 der spiegel 47/1999 dige ermordet oder wenn „echte“ Partisa- nen standrechtlich exekutiert werden. Die letzte Maßnahme war nach dem damals gültigen Kriegsrecht legitim: Nach der Haa- ger Landkriegsordnung hatten Partisanen keinen Anspruch auf Pardon. Die Verbre- chen von russischen und ukrainischen Hilfswilligen wurden zwar auf Befehl der Wehrmacht begangen. Dies ist aber ein Führungsverbrechen der Wehrmacht und ein Verbrechen der Hilfswilligen. Die Aus- stellung hatte aber das Ziel, die Verstri- ckung der „kleinen“ Landser zu zeigen. Aus der Intention der Ausstellung können also diese Verbrechen nicht als Verbrechen der Soldaten mitgezählt werden. Budapest (Ungarn) Dr. Krisztián Ungváry

Es macht keinen Sinn, einige Exponate her- auszunehmen. Einfacher wäre es, die Aus- stellung zu erweitern und den Namen zu ändern: Kriegsverbrechen. Gargnano (Italien) Günter Mangold

Sie schreiben „Musial hatte allerdings Kon- takte in die rechte Szene“. Diese Formu- lierung könnte missverstanden werden. Ich lehne Rechtsradikalismus schärfstens ab. Allerdings sehe ich mich als Wissenschaft- ler verpflichtet, alle Argumente zu über- prüfen, unabhängig von ihrer Herkunft. Gegen Beifall von der falschen Seite kann man sich dabei nicht schützen. Warschau (Polen)

J. MÜLLER J. Dr. Bogdan Musial Musial Deutsch. Hist. Institut

Bei allem Hin-und-her-Argumentieren je nach Überzeugungs- und Interessenlage: Reemtsma und Heer haben das Recht ver- loren, in der Auseinandersetzung über ein Kapitel deutscher Geschichte eine zentra- le Rolle zu spielen. Die Fehler ihrer Aus- stellung offenbaren, was ihnen unent- schuldbar dafür fehlt: Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, Redlichkeit im Umgang mit Kritikern, Abwesenheit jeglicher, vor al- lem moralischer Überheblichkeit. Man hät- te sich für dieses ungeheure Thema Besse- re und weit Glaubwürdigere gewünscht und keine von (Selbst-)Hass getriebenen Unterstützer. Putzbrunn-Solalinden (Bayern) Gottfried Müller

Sicherlich ist es notwendig, die Richtigkeit dieser Ausstellung zu überprüfen. Aber ist es wirklich wichtig, ob nun 90, 92 oder 99 Prozent der ausgestellten Dokumente der Wehrmacht zuzuordnen sind? Ist nicht die eigentliche Frage: Was bringt Menschen, unabhängig von Nationalität und Berufs- stand, dazu, derartige Gewalttaten zu voll- bringen? Ratzeburg (Schlesw.-Holst.) Stefanie Döring

der spiegel 47/1999 Briefe

Wohlstand gebaut ist. Wir Liechtensteiner Auf tönernen Füßen müssen uns wohl langsam darüber klar Nr. 45/1999, Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das werden, dass unser Land als eigenständiger Geld von Mafia, Drogenkonzernen Staat zu klein ist und wir uns wohl oder und russischen Großkriminellen wäscht übel einer großräumigeren Region inner- halb eines Vereinigten Europa anschließen Es stellt sich die Frage, wie lange Europa müssen. Die antiquierte Staatsform der sich das Verhalten von Liechtenstein, die- Monarchie gehört ohnehin ins Museum. sem geografischen Treppenwitz der Welt- Triesen (Liechtenstein) Roman Schädler geschichte, gefallen lassen kann.Als Öster-

reicher findet man es auch unerträglich, Ich habe von dem von Ihnen beschriebe- AP dass österreichische Justizfunktionäre nen „Geflecht aus Beziehungen zwischen Mit Graffiti beschmierter Findling (Richter, Staatsanwälte) in diesem Zwerg- hohen Beamten, Richtern, Politikern, Durchaus ernst zu nehmendes Gesamtwerk fürstentum als „Gastarbeiter“ tätig sind Bankdirektoren und Anlageberatern“ und sich dann ihre Pensionen von der Re- nichts wahrgenommen. Im Gegenteil: publik Österreich auszahlen lassen. Gerade um ein solches Geflecht zu ver- Ein großer Unterschied Graz (Österreich) Dr. Josef Paul Schinnerl hindern, werden in Liechtenstein seit Jahr- Nr. 45/1999, Schönheit: Interview mit Kunst- zehnten die höchsten Theoretiker Bazon Brock über die Justizfunktionäre, na- Graffiti-Attacke auf den Hamburger Findling mentlich der jeweilige Präsident des Obersten Endlich wissen wir’s: Beschmieren verhin- Gerichtshofs, aus ent- dert das Unsichtbarwerden, der beschmier- sprechend qualifizierten te Findling spricht zu uns, und die Sprayer Richtern des Auslands, benutzen ihre Zeichen als Abwehrzauber. insbesondere aus Öster- Ach, klingt das schön. Und die Sprayerlo- reich, gewählt. Von die- gos sind ein Tarnnetz für die latente Selbst- sen ausländischen Rich- zerstörung, die sich so als Schmuck aus- tern wird eine entspre- gibt … alles klar? Falls ihm irgendwann ei- chende Distanz nach nige „Subkulturler“ seine Hauswände voll allen Richtungen des zu- sprayen, würde Professor Brock bestimmt gegebenermaßen klei- nicht mehr von Menetekeln schwärmen. nen liechtensteinischen Kiel Helga Meyer-Stumm Raums erwartet. Und in der Tat: In den insgesamt Zwischen Werbung und Graffiti besteht ein 24 Jahren meiner rich- von Brock scheinbar nicht wahrgenomme- terlichen Tätigkeit im ner Unterschied: Werbung wird nicht an

F. BLICKLE / BILDERBERG F. Fürstentum wurde bei Kunstwerken und Denkmälern angebracht. Liechtensteiner Fürstenschloss: Geografischer Treppenwitz mir kein einziges Mal (!) Graffiti verdecken die Unterlage nicht nur, in Richtung einer be- sondern verletzen deren Substanz. Sie haben völlig Recht, dass in Liechten- stimmten Sacherledigung interveniert.Völ- Berlin Oliver Reiser stein viele Saubermänner mit schmutzigen lig unzutreffend ist auch die von Ihnen ver- Geldern Geschäfte machen. Was Sie aber tretene Meinung, Liechtenstein verweige- Legale Graffiti lassen sich künstlerisch als verschweigen, ist die Tatsache, dass neben re grundlos die Rechtshilfe. Es gewährt sie dilettantische Pop-Art-Variante abtun, il- „lateinamerikanischen Drogenclans, italie- vielmehr gemäß dem durch das Europäi- legale hingegen sind ein durchaus ernst zu nischen Mafiagruppierungen und russi- sche Übereinkommen über die Rechtshil- nehmendes Gesamtwerk, eine künstleri- schen OK-Gruppen“ auch eine Menge fe in Strafsachen vom 20. April 1959 vor- sche und kriminelle Selbstinszenierung. deutscher Politiker, Sportstars, Banker und gegebenen Standard, der allerdings Rechts- Zum Handwerk der Sprüher gehört das anderer Steuerflüchtiger ihre Gelder nach hilfeverweigerungen bei politischen und Lesen von Fachliteratur (von Eisenbah- Liechtenstein schicken. Sie gehören zu den fiskalischen Straftaten vorsieht. nerzeitschriften bis Kriminologie) und die Lieblingskunden unserer Treuhänder. körperliche Fitness genauso wie das tech- Innsbruck Prof. Dr. Karl Kohlegger Vaduz (Liechtenstein) Christoph Rheinberger Vizepräsid. (1973–1981), Präsident (1981–1997) nische Beherrschen ihres Mediums (Sprüh- d. Fürstl. Liechtenst. Obersten Gerichtshofs dose, Marker, Kratzstein). Um Graffiti ge- Man traut seinen Augen kaum: Da wird recht zu werden, muss man sie als eine Art ein ganzes Land verleumderisch als Hand- Performance-Kunst einordnen. Die Unter- langer von Kriminellen bezeichnet, und stützung der Soziologen ist Sprühern dabei der wahre Skandal bleibt unkommentiert: VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, genauso Wurscht wie das Jammern der Affären, NRW, Geheimdienste, Hauptstadt, Justiz (S. 72), Krimi- Der Bundesnachrichtendienst zapft den nalität: Clemens Höges; für Affären (S. 26), Justiz (S. 111), Trends, Normalbürger. Datentransfer der liechtensteinischen Fi- Geld, Konzerne, Steuern, Bauindustrie, Rente, Glücksspiel, Pay-TV, Internet, TV-Filme: Armin Mahler; für Zwangsarbeiter, Europa, Berlin Sean Floyd nanzinstitute an! Sind wir eigentlich im Atomkraft, CDU, Diplomaten, Pressefreiheit, Bundestag, Bundes- ehemaliger Sprüher Krieg? Man glaubt sich in die dunkelste wehr: Michael Schmidt-Klingenberg; für Szene, Titel, Fernsehen, Musik, Kino, Regisseure, Autoren, Bestseller, Stars, Theater, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Zeit des KGB zurückgeworfen. Buchmarkt, Pop, Chronik: Wolfgang Höbel; für Idole, Fußball, schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Schaffhausen (Schweiz) Dr. N. Bernhard Tennis: Alfred Weinzierl; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, USA, Türkei, Tschetschenien, Labour,Aus- tralien, Österreich, Luftfahrt, Italien, Kaliningrad: Dr. Olaf Ihlau; Die von Ihnen aufgezeigten Fälle sind wohl für Prisma, Physik, Zahnmedizin, Raumfahrt, Umwelt, Herz- infarkt, Automobile: Johann Grolle; für die übrigen Beiträge: die Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Post- eher die Spitze des Eisbergs als Übertrei- Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rück- karte der Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der bung. Da ein großer Teil der Bevölkerung spiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Lay- Deutschen Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage out: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt; dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen wirtschaftlich vom Finanzdienstleistungs- Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, Giordano, D’Alba,Handelsblatt Wi/Wo, Düsseldorf, Uni- Sektor abhängig ist, sollte uns bewusst 20457 Hamburg) TITELBILD: Illustration Rafal Olbinsky versal Music, Hamburg, und Hoffmann & Campe/SPIE- werden, auf welch tönernen Füßen unser GEL Almanach, Hamburg, bei.

14 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland CH. BACH / BACH & PARTNER / BACH CH. BACH Hauptstadt-Party der Bundesregierung vor dem Brandenburger Tor in Berlin

UMZUGSFEST Ein weiterer „gravierender Verstoß“ gegen das geltende Ver- gabe- und Haushaltsrecht laut Rechnungshof: Bei der Auf- tragsvergabe standen weder die Art der eingekauften Leistun- Gravierende Verstöße gen noch deren Kosten konkret fest. Nicht nachvollziehbar fand die Behörde ebenso, dass Mindereinnahmen bei den Spon- nsauberen Umgang mit öffentlichen Geldern wirft der Bun- sorengeldern in Höhe von 319010 Mark – gerechnet hatten die Udesrechnungshof der Bundesregierung vor. Bei einer Über- Veranstalter mit 800000 – nun zu Lasten des Bundes gehen sol- prüfung der Auftragsvergabe für das Bürgerfest der Regierung len, während ein eventueller Überschuss einer der beauftrag- Schröder am 11. und 12. September vor dem Brandenburger Tor ten Agenturen zugeflossen wäre. Hinweise auf „praktizierte in Berlin stellten die Prüfer „erhebliche Mängel“ fest. Korruption“ konnte der Rechnungshof aber nicht entdecken. So hätten Bundespresseamt und Bundesbauministerium Auf- Das Bauministerium habe jedoch die Vorschriften zur Korrup- träge zur Planung und Organisation des 1,6 Millionen Mark teu- tionsprävention nicht eingehalten. ren Festes an die zwei Berliner Agenturen Compact Team und Nicht überzeugt hat den Rechnungshof die Erklärung von Re- Runze & Casper vergeben, ohne Konkurrenzangebote einzu- gierungssprecher Uwe-Karsten Heye, der Verzicht auf eine vor- holen. Auch seien 120000 Mark aus Haushaltsposten verwen- herige Ausschreibung sowie die Mängel im Verfahren seien auf det worden, die eigentlich für Europa-Werbung und die Expo hohen Zeitdruck und Verzögerungen durch den Kosovokrieg 2000 bestimmt waren. zurückzuführen.

RÜSTUNGSEXPORT Show“ schließlich der Unterzeichnung SOZIALVERSICHERUNG eines Abkommens der Firma Daimler- Zurückhaltung am Golf Chrysler Aerospace (Dasa) mit dem Milliardenloch droht Verteidigungsminister der Emirate fern. it demonstrativen Gesten versucht Die Vereinbarung gilt der Zusammenar- uf die Bundesanstalt für Arbeit MVerteidigungsminister Rudolf beit bei der Entwicklung eines neuen Akönnten Mehrkosten von jährlich Scharping, den Koalitionskrach um Rüs- Kampf- und Trainingsflugzeugs mehr als 30 Milliarden Mark zukom- tungsexporte zu entschärfen. Erst ein- („Mako“). Auch den Dasa-Wunsch, ins men. Das befürchten Experten der Bun- mal blies er nach dem Streit Cockpit eines Holzmodells desregierung für den Fall, dass das Ver- um „Leopard“-Panzer für des „Mako“-Jets zu klet- fassungsgericht im Frühjahr 2000 den die Türkei einen Besuch in tern, erfüllte der Minister Gesetzgeber dazu verpflichten sollte, Ankara ab. Vergangene Wo- nicht. Scharping: „Export- Sozialversicherungsbeiträge auf Weih- che ließ er kurz vor dem förderung im Rüstungsbe- nachts- oder Urlaubsgeld bei der Be- Abflug in die Vereinigten reich ist nicht meine Auf- messung von Lohnersatzleistungen zu Arabischen Emirate, die 32 gabe.“ Die Dasa war mit berücksichtigen. Bislang müssen Arbeit- Alpha-Jets und U-Boote er- dem Messe-Besucher den- nehmer, deren Einkommen unter den halten sollen, den Chef sei- noch hoch zufrieden: Für Beitragsbemessungsgrenzen liegen, vom ner Rüstungsabteilung Jörg das Auslandsgeschäft, so 13. Monatsgehalt zwar Beiträge an die Kaempf von der Passagier- der für Militärflugzeuge Sozialversicherungen abführen. An- liste streichen. Entgegen zuständige Dasa-Manager sprüche auf Leistungen aber leiten sich dem von der Deutschen Aloysius Rauen, sei jeder daraus nur sehr begrenzt ab. Während Botschaft verteilten Pro- Ministerauftritt eine „her- die zusätzlichen Beiträge zur Renten- gramm blieb Scharping bei vorragende Unterstüt- versicherung in die Berechnung der

der Luftfahrt- und Rüs- K. MEHNER zung“ und „äußerst hilf- Rentenansprüche einfließen, bleiben sie tungsmesse „Dubai Air Scharping reich“. beim Arbeitslosengeld unberücksichtigt.

der spiegel 47/1999 17 Panorama

STROMPREISE Aus für Wasserkraft tillstand bei Deutschlands größtem Ökostrom-Pro- Sjekt: Der geplante Ausbau des 102 Jahre alten Was- serkraftwerks Rheinfelden am Oberrhein von jetzt 25,7 Megawatt auf 119 Megawatt Leistung lässt sich an- gesichts drastisch gesunkener Strompreise nicht mehr finanzieren. Kalkulierte Erzeugungskosten von rund 16 Pfennig je Kilowattstunde in der 30-jährigen Ab- schreibungsphase machen den Wasserstrom unver-

käuflich. Strom aus Kohle, Gas oder Uran ist auf dem KWR RHEINFELDEN liberalisierten Markt inzwischen für drei bis vier Pfen- Kraftwerk Rheinfelden nig zu haben. Der Weimarer Professor Hans-Peter Hack hat die Unwirtschaftlichkeit neuer großer Wasserkraft- nicht zu verlieren. So lange gehen alljährlich rund 340 Millio- anlagen belegt.Wenn keine Hilfen gezahlt würden, „droht uns nen Kilowattstunden zusätzlichen Wasserstroms verloren. Mi- dieses Potenzial wegzubrechen“, folgert Hack. Die Betreiber chael Müller, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Rheinfeldens verhandeln inzwischen mit den Behörden über ei- Bundestag, nennt den Baustillstand in Rheinfelden „energie- nen mehrjährigen Bauaufschub, um die Betriebskonzession politischen Blödsinn“.

BÜRGERRECHTLER UMWELT Bundesstiftung unter Grüner Müll in Pakistan Beschuss ie dem Dualen System Deutschland ge- Dhörende Deutsche Gesellschaft für Kunst- bler Praktiken wird die vor gut ei- stoff-Recycling (DKR) bekommt Ärger wegen ih- Ünem Jahr vom Deutschen Bundes- rer Müllexporte nach Pakistan. Insgesamt 14000 tag gegründete „Stiftung zur Aufarbei- Tonnen „gemischte Kunststoffabfälle“ aus deut- tung der SED-Diktatur“ von Ex-Bürger- schen Haushalten wurden seit 1993 an eine East rechtlern bezichtigt. Der renommierte South Trading im pakistanischen Lahore gelie- Historiker und Stiftungsreferent Stefan fert. Ein Zwischenhändler im hessischen Bad So- Wolle wirft der Stiftungsführung unter den, die Firma Z. Rana, kassierte dafür „Verwer- dem SPD-Politiker Markus Meckel in tungszuschüsse“ von mehreren Millionen Mark. einem Brand-Brief vor, sie gefährde die Ein Teil der Plaste aus dem gelben Sack wurde Aufarbeitungsprojekte, die sie fördern tatsächlich in Pakistan zu Recyclingprodukten sollte. aufgearbeitet. Mehrere tausend Tonnen Grüner- Die mit mehreren Millionen Mark aus Punkt-Müll liegen jedoch weiterhin in offenen Steuermitteln ausgestattete Stiftung will Lagern herum. Die Staatsanwaltschaft in Lahore ein eigenes Archiv und eine eigene ermittelt wegen illegaler Mülllagerung. Der Bibliothek aufbauen – obwohl es beides DKR-Partner East South Trading begründet die längst gibt. Mit dem „Finanzhebel“, so Müllhalden mit der „schlechten Qualität“ der Wolle, versuche die Stiftung nun, beste- angelieferten „Wertstoffe“ und fordert einen „fi- hende unabhängige Archive „zur Über- nanziellen Zuschuss“ für die Verwertung. Die gabe ihrer Archivbestände“ zu zwin- Grüner-Punkt-Müll in Pakistan DKR-Manager wollen dagegen hart bleiben. gen, obwohl diese bereits seit Jahren Material sammelten. Stiftungsgeschäftsführer Wolfgang Ku- sior, so Wolle, setze die Hauptsammel- SCHEINSELBSTÄNDIGKEIT für mehrere Jahre nachzahlen müssen. stelle von Dokumenten der einstigen Weil dies aber mittelständische Unter- DDR-Opposition, das Berliner Robert- Gnade für reuige Sünder nehmen in den Ruin treiben könnte, Havemann-Archiv, unter Druck, indem wurde in das „Gesetz zur Förderung er mit dem Entzug der Fördermittel m eine Welle von Firmenpleiten zu der Selbständigkeit“ ein Amnestiepas- drohe. Das wäre das Aus für diese Ein- Uverhindern, hat die rot-grüne sus eingefügt: Danach müssen Firmen- richtung. Mehrheit im Bundestag eine befristete chefs, die von sich aus bis zum 30. Juni „Die Stiftung verrät uns“, sagt Jörg Amnestie für Arbeitgeber beschlossen, 2000 bei der Bundesversicherungs- Drieselmann, ehemaliger SED-Gegner die in der Vergangenheit versicherungs- anstalt für Angestellte eine Prüfung be- und Geschäftsführer der Gedenkstätte pflichtige Arbeitnehmer als so genannte antragen, ob in ihrem Unternehmen in der einstigen Zentrale des DDR-Mi- Scheinselbständige beschäftigt haben. fälschlich als Selbständige eingestufte nisteriums für Staatssicherheit in der Ursprünglich sollten Unternehmer die Mitarbeiter beschäftigt sind, nicht mit Berliner Normannenstraße. gesparten Sozialversicherungsbeiträge Rückforderungen rechnen.

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EUROPA mission betrieben wurde – ihre Tochter Christine als Assistentin angestellt und Job für die Tochter aus dem Etat des Parlaments bezahlen lassen. Die 31-Jährige, eine promovierte n der Europäischen Union nimmt die Juristin, bezog als Zeitkraft ein Monats- IGünstlingswirtschaft kein Ende. Aus- gehalt von umgerechnet über 6000 Mark. gerechnet das Europäische Parlament Einen wesentlichen Teil ihrer Assisten- (EP), das im März die EU-Kommission tinnentätigkeit, gab Mutter Fontaine zu, in den Rücktritt getrieben hatte, ist nun habe Tochter Christine als Wahlkampf- selbst ins Zwielicht geraten. Im Zen- helferin geleistet; das Tochter-Unterneh- trum der Affäre steht die neu gewählte men sei jedoch „legal nach den Regeln französische Parlamentspräsidentin Ni- des Europäischen Parlaments“. Abge- cole Fontaine. Die konservative Politi- ordneten des Bundestags ist die Be- kerin hatte in ihrer Funktion als EP- schäftigung von Familienangehörigen Vize-Präsidentin von Januar bis Ende nicht gestattet, auch die deutschen Juni 1999 – noch während die Amtsent- Abgeordneten des Europäischen Parla- hebung gegen die damalige EU-Kom- ments halten sich daran. Im Entwurf eines Statuts für die EP- Assistenten, den der deut- sche CDU-Europaabge- ordnete Klaus-Heiner Lehne vorgelegt hatte, war die Verwandtenbe- schäftigung ausdrücklich als illegal untersagt. Die Mehrheit des Parlaments aber wollte nicht von der Möglichkeit lassen, Oma, Ehefrau oder Kinder als Assistenten entlohnen zu lassen, und kippte im April dieses Jahres die Verbotspassage. Man habe es eben, so Vize-Präsiden- tin Fontaine, „mit unter-

J.-B. VERNIER / CORBIS SYGMA J.-B. schiedlichen politischen Nicole Fontaine, Tochter Christine Kulturen“ zu tun.

NIEDERSACHSEN rieten. Deren Verabschiedung eines Ge- schäftsführers war mit 80000 Mark Freunde in Not Rechnungsprüfern zufolge zu luxuriös ausgefallen. iedersachsens Ministerpräsident Glogowski ließ einen mitreisenden Ma- NGerhard Glogowski (SPD) jongliert nager der halbstaatlichen Nord/LB von ungewöhnlich locker mit Firmengel- Kasachstan aus bei der Familie des Par- dern. Glogowski, ehedem Oberbürger- ty-Ausrichters „Löwenkrone“ anklin- meister von Braunschweig, befand sich geln: Die Firma solle ihren Anteil an Anfang November auf einer Dienstreise den Kosten um 20000 Mark kürzen, den in Kasachstan, als in der Heimat alte Rest würden Ministerpräsident und Freunde im Vorstand der Braunschwei- Nord/LB schon richten. Heikel ist Glo- ger Stadtwerke in Schwierigkeiten ge- gowskis Mauschelei, da er selbst Auf- sichtsratschef der Stadtwerke ist. Zu- dem hatte „Löwenkrone“ auch Glogow- skis Hochzeitsparty im Mai dieses Jah- res ausgerichtet. Das Fest war mit aller- hand Sonderkonditionen für Glogowski preiswert abgelaufen. Die Getränke spendierten Coca-Cola und eine Braue- rei, Manager von Nord/LB und Preus- senElektra sponserten das Musik- programm. Die Hochzeitsreise führte die Glogowskis mit der TUI werbewirk- sam nach Ägypten. Das Reiseunterneh-

DPA men ließ sich für seine Dienste aller- Ehepaar Glogowski auf Hochzeitsreise dings trotzdem bezahlen.

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Am Rande Tödliches Leben Es gibt Leute, die glauben, dass sich die Bundesregie- rung aus morali- schen Gründen schwer tut mit der Lieferung von 1000 Panzern an die Türkei. Das ist REUTERS falsch. Richtig ist, Bundesbedienstete auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld dass der Beschluss über jene Auf- BUNDESBEAMTE mehr Dienstreisen. Über die Gründe kleber noch nicht gefallen ist, rätselten die Umzugsbeauftragten bei welche die Europäische Union Di-Mi-Do in Berlin ihrem Treffen Anfang November. „Mon- (EU) bald für jedes Kanonenrohr tags und freitags fällt nun mal viel Ar- vorschreiben dürfte: „Die EU- aum drei Monate nach dem Regie- beit in Wohnortnähe an“, spottete ein Kriegsminister: Waffen töten. Krungsumzug hat sich die Zahl der Teilnehmer über jene „Di-Mi-Do- Jede Kugel aus diesem Rohr ent- Wochenendpendler zwischen Bonn und Beamten“, die es höchstens drei Tage hält eine Menge Blei.“ Das wird Berlin um rund die Hälfte verringert. im Berliner Büro hält. die Kurden beruhigen. Statt der 3700 reservierten Plätze in Nur im Innenministerium herrschen Für Zigaretten ist das Gesetz Fliegern und Zügen werden nach der strenge Sitten. Bereits am Sonntag- beschlossen. „Rauchen tötet“ neuesten Umfrage in Ministerien und abend müssen die Pendler nach Berlin steht bald auf jeder Packung, Bundestagsverwaltung weit unter 2000 reisen, um pünktlich montags zum obwohl die EU den Tabakanbau Plätze benötigt. Verkehrsminister Rein- Dienstbeginn zu erscheinen. Und am pro Jahr mit einer Milliarde hard Klimmt (SPD) rechnet mit rund Freitagnachmittag streift Ressortchef neun Millionen Mark Storno-Kosten. schon mal durch die Flure, Euro unterstützt. Das ist nicht Zugleich aber registrieren die Ressorts um die Anwesenheit seiner Untergebe- sehr konsequent, und wer heu- dienstags und donnerstags erheblich nen höchstpersönlich zu kontrollieren. chelt, muss es energisch tun, sonst fällt es auf. Darum kämpft die EU gegen den Tod, generell und überall, und weil der Tod DVU Nachgefragt ein zäher Gegner ist, rauchen jetzt die Druckmaschinen. Frey-Partei pleite? Sie drucken Aufkleber für Auto- Milder Osten konzerne wie Toyota („Nichts ach den aufwendigen Wahlkämpfen Egon Krenz und andere DDR- ist untödlich“), für das briti- Nder letzten Monate, bei denen die Größen sind wegen der Todes- sche Landwirtschaftsministeri- DVU in den Einzug in den schüsse an der deutsch-deut- um („Beef kills“), für Alkohol- Landtag schaffte, ist die rechtsextreme schen Grenze zu Haftstrafen marken wie Holsten („Murkst Partei offenbar finanziell am Ende. Wie verurteilt worden. Jetzt for- aus internen Unterlagen hervorgeht, er- dern Politiker mehrerer Par- am dollsten“). 80 Millionen wartet DVU-Chef Gerhard Frey rund 15 Briefe will das Familienministe- teien, sie zu amnestieren. Millionen Mark „Unterdeckung der Was meinen Sie? rium verschicken: „Liebe/r Mit- DVU“ am Ende dieses Jahres. Frey hat- bürgerIn, das ganze Leben kann te drei Millionen Mark in den branden- Ich finde eine Amnestie 34 Sie niederstrecken.“ burgischen Wahlkampf gepumpt und richtig. Zehn Jahre nach West/Ost Mörderische Zeiten, aber es gibt damit rund 58000 Wähler geködert. Für Ende der DDR sollte ein 29/50 Schlussstrich gezogen Hoffnung, denn zumindest das die erhält er in der fünfjährigen Legisla- werden. Leben der Mäuse lässt sich neu- tur nur rund 300000 Mark Wahlkampf- erdings um ein Drittel verlän- kostenrückerstattung. Ich lehne eine Amnestie Wegen der prekären Finanzlage verhin- ab. Die Strafen sollten 53 gern. Das liegt angeblich daran, verbüßt werden. West/Ost dass Forscher ein Gen ausschal- derte der DVU-Bundesvorstand, dass 57/40 ten konnten, das gesunde Zellen die Partei bei der kommenden Land- sterben lässt. Das ist falsch. tagswahl in Schleswig-Holstein am Ich weiß nicht/ ist mir egal. 13 Richtig ist, dass die europäische 27. Februar kommenden Jahres antritt. West/Ost Der Vormann des schleswig-holsteini- 14/10 Maus bei Verlassen ihres Lochs schen Landesverbands, Rechtsanwalt bald ein EU-Warnschild erblicken Klaus Sojka, verlangt jetzt vom Verleger wird: „Gefährlich ist der Katze Emnid-Umfrage für den Frey Auskunft darüber, wer die „unge- SPIEGEL vom 16. und 17. Tatze.“ heuerliche Schuldenlast“ zu vertreten November; rund 1000 habe. Befragte; Angaben in Prozent

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AFFÄREN „Schweigende Duldung“ Der mutmaßlich kriminelle Umgang mit einer Millionenspende lenkt das Augenmerk auf weitere dubiose Usancen bei der Geldbeschaffung der CDU. Auch nach der Ära des Schatz- meisters Leisler Kiep wurden Zahlungen verschleiert. n seinem Bonner Büro im Konrad- In Berlin rang die Generalsekretärin An- Adenauer-Haus traf sich der CDU-Vor- gela Merkel, 45, sichtlich um Fassung. Jede Isitzende vergangenen Dienstagmittag Emotionalisierung sei „fehl am Platze“. mit einem älteren, sichtlich kränkelnden Mal verschränkte sie dabei die Arme ab- Herrn zu einem Vier-Augen-Gespräch, von wehrbereit vor der Brust, dann schien es, dem nicht einmal enge Mitarbeiter Wolf- als würde die gelernte Physikerin den gang Schäubles, 57, vorher gewusst hatten. zähen Parteispendenbrei immer wieder Mit seinem Gast Uwe Lüthje, 67, mehr neu zurechtkneten, auf dass er ihrer CDU als 20 Jahre lang Generalbevollmächtigter so wenig wie möglich schaden möge. des CDU-Schatzmeisters und noch immer Jedes ihrer Worte las Merkel von einem einer der intimsten Kenner des Geldbe- Zettel ab, den CDU-Anwalt Hans Dahs Beschuldigter Kiep nach seiner Aussage in schaffungssystems des früheren Kanzlers vorbereitet hatte. Selbst bei Nachfragen und Parteivorsitzenden Helmut Kohl, sagt suchten ihre Augen immer wieder die ju- ringsten Schramme laute sonst die Schlag- Schäuble, habe er nur Menschliches be- ristisch abgeklopften Formulierungen: Die zeile: „Unfall – Kanzler beteiligt“. sprochen. jetzige Führungsspitze habe von den Vor- Doch Kohl hat immer nur die eine Hälf- Die bange Frage, die derzeit die Union gängen nichts gewusst, wisse auch heute te der Anekdote erzählt. Die andere geht tagtäglich quält, will der Parteichef mit noch nichts. so: Der Altkanzler hat immer genau ge- dem CDU-Finanzfachmann überhaupt Sind alle wirklich noch immer so arg- wusst, wer ihn gefahren hat. nicht erörtert haben: Was, um Himmels und ahnungslos? Alles nur Biedermänner? Oder doch willen, die Christdemokraten denn noch Alte Weggenossen erinnern sich heute, Brandstifter? an Enthüllungen über schwarze Konten wie Kohl ihnen einst seine Führungskunst Das System Kohl, in dem heikle politi- und problematische Geldtransaktionen aus an einem Alltagsbeispiel verdeutlicht habe. sche und finanzielle Entscheidungen in der Kohl-Ära zu erwarten haben. Nie, nicht einmal die kleinste Strecke, fah- kleinsten Geheimzirkeln getroffen wurden, Alles nur Schauspielerei? re er selbst Auto. Denn sogar bei der ge- holt die Partei nun ein. „Dass uns die Sa- Quelle-Pakete für Bonn Von der Quelle-Versandhausgruppe erhält die CDU-Bundespartei am 12. Oktober 1993 100 000 Mark. Der Spendenbetrag wird dabei in fünf Einzelspenden von jeweils 20 000 Mark aufgeteilt.

Als Spender fungieren die VP-Schickedanz AG, Nürnberg Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg Gustav und Grete Schickedanz Holding KG, Fürth Gustav Schickedanz KG, Nürnberg Quelle Schickedanz AG & CO., Fürth P. ROGGENTHIN P. Da die Parteien laut Gesetz nur verpflichtet sind, Spendenbeträge von mehr als 20 000 Mark zu veröffentlichen, wird keiner der fünf Einzelspender im Rechenschaftsbericht 1993 der CDU namentlich erfasst: Der Quelle-Konzern taucht als Spender für die Unionspartei Quelle-Versandzentrale in Nürnberg somit offiziell überhaupt nicht auf. Konrad-Adenauer-Haus in Bonn V. Lannert V.

22 der spiegel 47/1999 Ob tatsächlich einzelne Entscheidungen „gekauft“ worden sind – wie die Ankläger vor allem im Falle Pfahls vermuten – oder ob der Thyssen-Lobbyist Karlheinz Schrei- ber, 65, einfach – wie einst Flick – die po- litische Landschaft pflegte, ist ungeklärt. Noch immer hat die CDU nichts zur Be- antwortung der Frage beigetragen, warum Schreiber dem damaligen CDU-Schatz- meister Kiep sowie dem Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch am 26. August 1991 im schweizerischen St. Margrethen in Gano- venmanier eine Million Mark in bar in ei- nem Koffer zukommen ließ – sechs Mona- te nachdem die Regierung die Operation „Fuchs“ mit den Saudis abgesegnet hatte. Fassungslos beobachtet der Kölner So- ziologe Erwin Scheuch, 71, einst selbst Mit- glied der CDU, was in seiner früheren Par- tei alles möglich war. Für „mindestens so schlimm wie den Flick-Skandal“ hält er die Sache mit der Panzermillion. Vermut- lich sei bei der Schreiber-Zuwendung „die kriminelle Energie sogar größer“ gewesen. Die zunächst auf einem CDU-Anderkon- to geparkte und durch Zinsen auf 1,1 Millio- nen Mark angewachsene Spende ließ Kiep, wie er vergangenen Mittwoch bei einer fast zehnstündigen Vernehmung durch drei Augs-

M. HANGEN burger Staatsanwälte und einen Steuerfahn- Augsburg: „Schon der Apostel Paulus sagte, die Wahrheit wird euch frei machen“ der abermals bestätigte, im Oktober 1992 ganz offiziell auf drei seiner An- che schadet, bezweifle ich nicht“, sagt sicht nach verdiente CDU-Män- Schäuble. Er versuche, „den Schaden be- ner verteilen: Lüthje erhielt zum grenzt zu halten, ohne etwas zu vertu- Abschied 370000 Mark, Wey- schen“. rauch für seine Steuerberatungs- Eilfertig sprang ihm Norbert Blüm, 64, und Wirtschaftsprüferkanzlei zur Seite und forderte Ex-Schatzmeister 421800 Mark und er selbst, Kiep, Walther Leisler Kiep, 73, auf, sein folgen- rund 300000 Mark. Die habe er schweres Wirken offen zu legen. „Schon seinem Anwalt Günter Kohl- der Apostel Paulus sagte, die Wahrheit wird mann, einem der renommier- euch frei machen.“ testen Steuerstrafrechtler der Das ist angesichts immer neuer Wen- Republik, als Honorar für seine dungen der Affäre um den Panzerdeal mit Verteidigung im Flick-Partei- Saudi-Arabien eine heikle Aufgabe. Die spendenverfahren überwiesen. Grünen haben die CDU „eine Partei der Versteuert hat Kiep die Zahlung Wiederholungstäter“ genannt. Das ist, so offenbar nicht. weisen Akten aus, die dem SPIEGEL vor- Weyrauch will ihn entlasten liegen, eher untertrieben: Es handelt sich und den Ermittlern bei seiner um Seriensünder. Bis in die jüngere Ver- anstehenden Vernehmung er- gangenheit, weit in die Nach-Kiep-Ära hin- klären, bei der Bezahlung der ein, wurde die Herkunft großer Spenden Anwaltskosten habe es sich aus der Industrie gezielt verschleiert. Spendenquittung für Quelle: In fünf Teile gestückelt letztlich um eine „Betriebsaus- Viel Arbeit also für den Untersuchungs- gabe der CDU-Bundesschatz- ausschuss, den die Regierungskoalition in Pfahls, 56, und Anfang November auch ge- meisterei“ gehandelt. Somit seien die 300000 der vergangenen Woche zu beantragen be- gen Kiep einen Haftbefehl erwirkten, gilt Mark nicht Kiep selbst zugeflossen und auch schloss. Der soll klären, so Grünen-Vor- in Berlin fast nichts mehr als ausgeschlos- nicht von ihm zu versteuern gewesen. standssprecherin Gunda Röstel, „ob poli- sen. Pfahls soll 3,8 Millionen Mark, Kiep „Jeder weiß, dass in der CDU in Fi- tische Entscheidungen zur Zeit der alten eine Million Mark dafür erhalten haben, nanzdingen das Wissen der einzelnen Be- Regierung käuflich gewesen sind“. dass sie sich bei der Regierung Kohl teiligten sehr abgestuft war“, sagt Schäuble Mehr als vier Jahre nach seinem Beginn 1990/1991 für die Genehmigung des damals auf die Frage, ob die Führungsriege denn landet das Ermittlungsverfahren 502 Js umstrittenen Exports von 36 „Fuchs“-Pan- wirklich nicht in solche Vorgänge einge- 127135/95 der Staatsanwaltschaft Augsburg zern des Thyssen-Konzerns nach Saudi- weiht war. Lüthje jedenfalls zahlte seine damit dort, wo es politisch auch hingehört: Arabien stark machten (SPIEGEL 46/1999). Prozess- und Anwaltskosten nicht selbst. im höchsten parlamentarischen Gremium Beide bestreiten dies. In den geheimen Ak- Ob das Geld von der CDU kam, konnte der Republik, dem Deutschen Bundestag. ten des Bundessicherheitsrats, der den Pan- oder wollte die Parteiführung vergangene Seit die Augsburger Ermittler erst gegen zerdeal im Februar 1991 genehmigte, steht Woche nicht sagen. den früheren Rüstungs-Staatssekretär im als Fazit der Debatte: „Der Bundeskanzler Stattdessen sah sich Schäuble genötigt Verteidigungsministerium Ludwig-Holger stellt Einvernehmen her“ (siehe Seite 25). zu betonen, er habe Weyrauch noch nie

der spiegel 47/1999 23 Kommentar

getroffen. Und auch mit Kiep habe er seit langem keinen Kontakt. Doch die Strategie der Union, so zu tun, als habe es nur während des Regiments von Kiep, Lüthje Kohls „Schwarze Löcher“ und Weyrauch im Finanzreich der CDU dubiose Aktionen gegeben, trägt nicht. RUDOLF AUGSTEIN So ließ beispielsweise der Quelle-Kon- zern der CDU im Oktober 1993 eine Spen- aut Artikel 21 des Grundgesetzes demokraten und die FDP auf immer de über 100000 Mark zukommen. Damit wirken die Parteien bei der poli- zusammenzuschmieden, damit der alt- diese nicht im Rechenschaftsbericht veröf- Ltischen Willensbildung des Volkes böse Feind SPD nicht ans Regieren ge- fentlicht werden musste, wurde die Summe mit. Ihre innere Ordnung muss demo- langen konnte. Mehr als 200 Millionen in fünf Beträge gestückelt. Je 20000 Mark kratischen Grundsätzen entsprechen. Mark hatte die SV an der Steuer vorbei wendeten demnach am 12. Oktober 1993 Sie müssen über die Herkunft und Ver- diesem hehren Ziel schon zugeführt, die VP-Schickedanz AG, Nürnberg, die wendung ihrer Mittel sowie über ihr als Kohls Gedächtnis aussetzte. Nur der Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg, Vermögen öffentlich Rechenschaft ge- Kanzlerbonus bewahrte ihn vor einer die Gustav und Grete Schickedanz Holding ben. Anklage wegen uneidlicher Falschaus- KG, Fürth, die Gustav Schickedanz KG, Real müsste es heißen: Die Parteien sage. Nürnberg, sowie die Quelle Schickedanz und ihre Schatzmeister wirken an Wann immer eine neuerliche AG & Co, Fürth, der Kanzlerpartei zu. der politischen Willensbildung des Schweinerei ans Licht kam, gelobten Mit Schreiben vom 13. Oktober 1993 be- Volkes mit. die Betroffenen Besserung. Transparenz dankte sich Schatzmeisterin Brigitte Bau- So ist der Fall des dubiosen, aber an- und gläserne Kassen sollten das Bild meister, eine enge Vertraute Schäubles, bei gesehenen, von 1971 bis 1992 tätigen der großen Parteien aufpolieren. Tat- allen fünf Unternehmen und stellte ihnen Bundesschatzmeisters Walther Leisler sächlich ließ Kohl seinen Schatzmeis- die Spendenbescheinigungen Nr. 60/52135 Kiep kein einmaliger Fehltritt, für den ter Kiep fallen. bis 60/52139 aus. Intern betrachtete die er nun wird büßen müssen oder auch Aber durchweg organisierte man die CDU, das belegt der dazu gehörende nicht. Er entlarvt die praktischen und Parteienfinanzierung „wie hinter Milch- Schriftwechsel, die fünf Teilspenden als erfolgreichen Bemühungen der CDU, glas. Es wurde getrickst, getarnt und eine einzige. In einem Schreiben vom 13. das Grundgesetz zu hintergehen. getäuscht“ („Süddeutsche Zeitung“). Dezember 1993 von Baumeisters Bürolei- Von innerer Ordnung und demokra- Allerdings verfeinerte man die Metho- ter Jürgen Schornack an den Münchner tischen Grundsätzen kann keine Rede de und verfiel auf den in der interna- Kaufmann Hannes Müller, den Chef der sein, wenn ein Außenstehender, der tionalen Politik gebräuchlichen Begriff Drückerkolonne, welche die Spende ein- aber ein Intimus des Kanzlers Helmut „deniability“, zu Deutsch etwa: die warb, heißt es unter dem Stichwort „Quel- Kohl ist, als „graue Eminenz“ für die Fähigkeit, eine Sache zu verleugnen. le, Nürnberg“: „Die Spende über 100000 CDU bestimmte Gelder hin- und her- Die „Süddeutsche Zeitung“ erklärt es Mark wird geteilt, so dass Sie hier für schieben durfte. Gemeint ist hier der genauer: „Eine kunstgerechte politische Frankfurter Wirtschaftsprüfer Horst Äußerung muss später anders gedeutet Weyrauch, eine noch wichtigere Figur werden können, als sie ursprünglich als Kiep selbst. verstanden wurde. Deniable: Wenn et- Es konnte Kohl nicht verborgen ge- was schief geht, muss der politisch Ver- blieben sein, dass dieser ihm vertraute antwortliche später behaupten können, Freund für die CDU gesammelte Gel- von nichts gewusst zu haben.“ der auf so genannten Treuhandkonten Parteien, die so handeln, ruinieren hin- und herschob, auch wenn die zu- auf Dauer sich selbst. Sie mindern die ständigen Stellen seiner Partei nun be- Steuerehrlichkeit der Bürger und ver- haupten, davon nichts gewusst und dar- lieren jeden Maßstab für erarbeitetes auf keinen Zugriff gehabt zu haben. Geld. Ursprünglich begnügte man sich bei Man mag aufgedeckter Korruption der CDU damit, die Führungsspitze noch so heilsame Wirkungen zuschrei- und besonders den Parteivorsitzenden ben, wie das etwa Klaus Kreimeier in Helmut Kohl so abzuschirmen, dass er der „Tageszeitung“ tut; es gab und gibt stets Nichtwissen vortäuschen konnte. sie überall „mit Maßen“.Aber sie neigt Der aber brachte das System 1985 dazu, immer größere Bissen an sich zu durch einen legendären Auftritt unge- reißen, wie man beim Export von Rüs- wollt ins Wanken. tungsgütern in Krisengebiete leicht ver-

Vor einem Mainzer Untersuchungs- folgen kann. Bald wird es so sein, dass M. URBAN ausschuss konnte er sich nicht, ob- die Schmiergelder, als Marketing ge- CDU-Führungsduo Schäuble, Merkel wohl ehedem Ministerpräsident von tarnt, den Preis der gelieferten Waren „Schaden begrenzt halten“ Rheinland-Pfalz, an eine Geldwasch- überschreiten. anlage erinnern, die unter dem Namen Alle Bundeskanzler haben geahnt 50000 Mark eine Provision erhalten.“ Die- „Staatsbürgerliche Vereinigung“ (SV) und gewusst, dass in ihren Parteien mit se Provisionen betrugen, ohne dass die allgemein bekannt war. Der CDU-Ge- Geld gemauschelt wurde. Alle haben Spender es wussten, bis zu 45 Prozent. neralsekretär Heiner Geißler diagnos- weggesehen. Nur Helmut Kohl hat ak- Quelle ist kein Einzelfall, hinter dem tizierte später einen „Blackout“ des tiv mitgemauschelt, hat Gelder gelenkt Vorgehen steckte System. Kanzlers. und umgelenkt. Nur bei ihm finden Auch der Pharma-Multi Merck bedach- Die „Staatsbürgerliche Vereinigung“ sich, was es sonst nur im Weltall gibt: te die Partei des Kanzlers 1993 mit 100000 hatte sich zum Ziel gesetzt, die Christ- die berühmten „Schwarzen Löcher“. Mark. Diesmal wurde die Spende in sechs Beträge aufgeteilt. Je 20000 Mark gaben die E. Merck Beteiligungen oHG, die Eme-

24 der spiegel 47/1999 FOTOS: GIPP J. Druck von Kohl? Tags darauf erhält Genscher die AA- ie, erklärt Hans-Dietrich Genscher, habe er Vorlage: An den Rand Nsich im geheimen Regierungsgremium, das schreibt er „Ja“ zur über Waffenexporte entscheidet, dem Bundessi- Ausfuhr von zehn cherheitsrat, überstimmen lassen. „Weder Helmut Spürpanzern und Schmidt noch Helmut Kohl“, so der frühere acht Ambulanzwa- Außenminister, „hätte das gewagt.“ gen, „Nein“ zu 14 Aber wie sich aus Akten des Auswärtigen Amts er- Für Riad bereitgestellte Panzer (im Hamburger Hafen) Mannschaftstranspor- gibt, wurden 36 „Fuchs“-Fahrzeuge 1991 nach Sau- „Wir bleiben bei unserer Haltung“ tern und vier Kom- di-Arabien geliefert – gegen das Votum des Hau- mandowagen. ses Genscher. Nur lückenhaft erinnert sich auch der damalige Nach einer Notiz Lautenschlagers teilt der Kollege aus dem Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann. Aus seinem früheren Hause Möllemann mit, sein Minister habe entschieden, streitig Ressort ließ er sich bestätigen, dass er „in diesen Vorgang nicht in den Bundessicherheitsrat zu gehen. Man schließe sich dem involviert“ gewesen sei. Die Akten zeigen dagegen, dass sich der Ja des Verteidigungsministeriums an. Er habe seinen Minister Liberale auch selbst einschaltete. unterrichtet, so Lautenschlager.Aber: „Wir bleiben bei unserer Ursprünglich, so geht aus der Vorlage der zuständigen Beam- Haltung.“ Am 27. Februar trägt Genscher im Sicherheitsrat die ten hervor, hatte das AA keine Bedenken gegen die Gesamt- Position des AA vor. Seltsam: Am Ende stellt Kanzler Kohl laut lieferung, wohl aber Genschers Staatssekretär Lautenschlager. Protokoll dennoch „Einvernehmen“ fest. Der hält in einer Notiz für den Minister vom 19. Februar 1991 Wie es dazu kam, kann Genscher nicht erklären: „Ich will erst fest: Der Kollege aus dem Wirtschaftsressort habe ihm erklärt, die Akten sehen.“ Aber es sei die Zeit des Golfkriegs gewesen, Genscher und Möllemann hätten sich auf ein Ja geeinigt. Er gibt er zu bedenken. Er vermutet: Kohl habe massiv Druck ge- habe dem Kollegen erwidert, schreibt Lautenschlager weiter, er macht. Bleibt die Frage: Hat Genscher zugestimmt, oder wur- werde erst nach Prüfung der Lage entscheiden. de er doch überstimmt? dia Export Company und die Chemitra Doch gegen den Geist des Gesetzes ver- scheiden der Schatzmeisterin noch „per- GmbH, alle drei in der Frankfurter Straße stößt das Getrickse allemal. Denn dessen sönlich/vertraulich“, er werde die merk- 250 in Darmstadt. Je 15000 Mark spende- Zweck ist es gerade, größere Zuwendungen würdigen Wege der Geldbeschaffung der ten Merck-Vorstandschef Hans Joachim von Unternehmen an Parteien und damit Partei „offen legen“, die mit Baumeisters Langmann, zu dessen 75. Geburtstag der verbundene mögliche Interessen durch die „Kenntnis und schweigender Duldung“ be- Altkanzler am 5. Oktober dieses Jahres die Publizitätspflicht transparent zu machen. schritten würden. Im November 1997 wur- Festrede hielt, und seine Ehefrau Marlis. Auch ansonsten passierte in der Nach- de Müller vom Landgericht München I we- 10000 Mark steuerte die E. Merck oHG, Kiep-Ära bei der Geldbeschaffung der Uni- gen Untreue und Betrugs zu dreieinhalb ebenfalls Frankfurter Straße 250 in Darm- on noch manch Dubioses. Spendensamm- Jahren Haft verurteilt. Unter anderem hat- stadt, bei. ler Müller etwa notierte am 4. Februar te er Parteispenden in Höhe von 158000 Die entsprechenden Spendenbescheini- 1994, tags zuvor seien ihm an einer Auto- Mark in die eigene Tasche gesteckt. gungen mit den fortlaufenden Nummern bahnraststätte „50000 Mark in bar“ über- Die Angst der Union vor weiteren Ent- 60/52123 bis 60/52129 unterzeichnete aber- geben worden. Diese stammten von einem hüllungen wird auch durch die Tatsache ge- mals Schatzmeisterin Baumeister, seit 26. Spender, der „nicht genannt werden möch- schürt, dass die Augsburger Ermittler bei Oktober 1992 als Kiep-Nachfolgerin im te“ und weder eine Rechnung noch Schreiber und Weyrauch Papiere in die Hand Amt. Auch bei der Merck-Gruppe weist Quittung wünsche. „Wahrscheinlich“ han- bekamen, die das Finanzgebaren der Partei der interne CDU-Schriftwechsel aus, dass dele es sich dabei um „Schwarzgeld“. Falls weiter erhellen – und für neue Diskussion die Partei die sechs Einzelzuwendungen in dieses an die Partei weitergeleitet werden sorgen. So sollen bei Weyrauch Unterlagen Wirklichkeit als eine „Spende über 100000 solle, müsse er „erst mit Frau Baumeister über bislang nicht bekannte CDU-Treu- Mark“ (Schornack) betrachtete. abklären, wie so ein Fall verbucht wird“. handkonten beschlagnahmt worden sein. Juristisch ist das Vorgehen nicht an- Müller, dessen lukrative Provisions- Sichergestellte Schreiber-Unterlagen le- greifbar; es entspricht dem Parteiengesetz. verträge mit der Union gegen Zahlung gen die Vermutung nahe, der Thyssen-Lob- Erst Einzelgaben ab einem Betrag von über mehrerer Abfindungen von insgesamt 2,3 byist und Waffenhändler könnte sich auch 20000 Mark müssen in den Rechenschafts- Millionen Mark im Mai 1995 endgültig mit Kieps Nachfolgerin getroffen haben. berichten veröffentlicht werden. beendet wurden, drohte vor seinem Aus- Baumeister wollte dem SPIEGEL über Ort

der spiegel 47/1999 25 Deutschland „Eddie haut mich raus“ Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto auf seinen Prozess vorbereitet

och vor einigen Monaten kann- bayerischen Landesfürsten unverhoh- Behörden Recht geben, kann das Ver- ten die Bewohner des Hauses len: „Zu viele von denen haben zu viel fahren dauern – bis zu drei Jahren, N102 Bloor Street den älteren vergessen.“ schätzen Experten. Schon bis heute Herren mit dem schütteren Haar nur Für seine Sache hat er ein kleines mussten sich ein gutes dutzend Ge- als Mister Hermann. Der Mann aus Bataillon von Anwälten angeheuert, richte mit Schreibers Fall beschäftigen, Suite 511 sprach mit deutschem Akzent, darunter den Kieler Rechtsprofessor darunter der kanadische Supreme grüßte höflich und hatte stets ein Erich Samson, der einst die Familie Court und das Schweizer Bundes- freundliches Wort für den Portier übrig. Barschel vor dem Kieler Untersu- gericht. Ansonsten war nicht viel von ihm zu chungsausschuss vertrat, und Edward Noch immer ist den Ermittlern der hören und zu sehen. Greenspan, einen der teuersten und Zugriff auf wichtige Kontounterlagen in Woher er kam, womit er sein Geld besten Advokaten Kanadas. „Eddie“, der Schweiz verwehrt. Schreiber ver- verdiente und was er sonst noch so im glaubt Schreiber, „wird mich da raus- klagte den kanadischen Fernsehsender Lande trieb, blieb ihnen verborgen. hauen.“ CBC wegen eines Berichtes über die Selbst die Wachmannschaft des feinen Im „wichtigsten Auslieferungsver- Affäre auf 35 Millionen Dollar Scha- Appartement-Hotels im Zentrum To- fahren in der kanadischen Justizge- densersatz, von der kanadischen Re- rontos wusste nur, dass sie über den schichte“, wie Greenspan den bevor- gierung verlangt er 35 Millionen we- neuen Gast schweigen sollte: Niemand stehenden Prozess ankündigt, wird es gen eines angeblich missbräuchlichen durfte, so die Anweisung, von dessen vor allem um eine grundsätzliche Rechtshilfeersuchens an die Schweiz, Anwesenheit erfahren. Rechtsfrage gehen: Während in von den deutschen Behörden eine Mil- Seit einigen Wochen ist es vorbei mit Deutschland Verdächtige oft monate- lion, weil sie verbotenerweise seine der Geheimtuerei. Seit der unschein- lang in Untersuchungshaft sitzen und Verhaftung betrieben hätten. bare Nachbar Ende August Während seine Anwälte an kurzzeitig festgenommen wur- den juristischen Finessen fei- de, wissen die Mieter der len, kümmert sich Schreiber Bloor Street, dass sie den Kauf- um das, was er am besten mann Karlheinz Schreiber im kann: das Geschäftemachen, Haus haben, den verschwiege- wenn auch in kleinerem Stil. nen Geschäftemacher im Hin- Er will eine Kochmaschine für tergrund einer der größten Af- Spaghetti vermarkten. fären der deutschen Nach- Große Auftritte meidet er, kriegsgeschichte. jenseits des Atlantiks gibt der Immer wieder lagern Kame- Multimillionär sich bescheiden. rateams vor dem Eingang und Seine Kleidung ist so unauffällig filmen Schreiber, wie er in ei- wie sein Lebensstil, ungewöhn- nem Mercedes 190 davonbraust lich ist allenfalls seine Aus- oder wie er sich morgens Zei- drucksweise: Seine Verfolger tungen holt. Vermutlich kön- hält er für Idioten, ihre Vorwür- nen sie bald aufregendere Sze- fe für einen „Haufen Scheiß“. nen liefern. Schreiber führt eher das ver- „Eine Riesenshow“ will schwiegene Dasein eines Ge- Schreiber in den nächsten Mo- heimdienstmannes. Der um- naten abziehen, einen Prozess triebige Emissär schätzt dunk-

„ohne Beispiel“. Mit aller JÜLICH / RIRO-PRESS P. le Sonnenbrillen und das stille Macht will er sich der Auslie- Geschäftsmann Schreiber*: „Ein Haufen Scheiß“ Dinner mit seiner Frau in den ferung in seine bayerische Hei- edlen Lokalen Torontos. mat widersetzen. Dort werfen ihm erst nach Abschluss der Ermittlungen Ohnehin möchte der Geschäftema- Staatsanwälte in Augsburg schwere Anklage erhoben wird, muss in Kanada cher mit der Welt am liebsten gut Missetaten vor, darunter Steuerhinter- ein Verhafteter unmittelbar angeklagt Freund sein. Selbst für die Journa- ziehung in Millionenhöhe und die Be- werden. Da Schreiber in Deutschland listen, die ihn mit Mikrofon und Ka- stechung von Politikern wie dem eins- kein Verfahren gemäß der kanadischen mera verfolgen, hat er immer wieder tigen Staatssekretär im Verteidigungs- Verfassung erwarten könne, dürfe er ein paar Komplimente parat: „Junge ministerium Holger Pfahls. nicht ausgeliefert werden, argumentiert Frau“, rief er vergangene Woche vor Dafür will der Mann mit den Geld- Greenspan. dem kanadischen Höheren Gericht in koffern viele Personen in den Zeugen- Selbst wenn die kanadischen Ge- Toronto einer deutschen Fernseh- stand zerren – Politiker, Geschäftsleute, richte letztendlich doch den deutschen reporterin zu: „Sie sind ja noch char- Staatsanwälte. Er warnt vor dramati- manter, als ich Sie mir vorgestellt schen Enthüllungen und droht den * Mit Anwalt Edward Greenspan (r.). habe.“

26 der spiegel 47/1999 hilft beim nicht Wissen dann spielsweise indem man sie der CSU statt trefflich, dass Kiep der CDU der CDU zuordnen konnte –, so gab es aus die Zustimmung zur Ein- Sicht Kieps die Chance, dass das Verfahren sicht in seine Ermittlungs- eingestellt würde. akten verweigerte. Am 22. März hielt Kiep fest: „Schreiber Ob diese Strategie hält, hat durch Max Strauß von Rechtsanwalt hängt auch vom Untersu- Wunderlich ein Flick-Papier entdeckt, in chungsausschuss ab. Die Grü- welchem die Dezember-1978-Spende als nen wollen den Auftrag mög- F.J.S.-Spende deklariert wurde!“ lichst weit fassen – so weit, Strauß-Sohn Max erinnert sich an den dass neben dem System Kohl Vorgang so: Eines Tages habe ihn Schreiber auch das des früheren CSU- angerufen und sinngemäß gesagt: „Der Chefs Franz Josef Strauß mit Kiep braucht Hilfe.“ Daraufhin habe er erörtert werden kann. sich, so Strauß zum SPIEGEL, an Flicks Die SPD muss fürchten, Anwalt Detlef Wunderlich gewandt und dass bei der Installierung ei- „dort den Türöffner für Schreiber bezie- nes Kiep-Ausschusses die hungsweise Kiep gespielt“. Wunderlich Opposition als Retourkut- habe dann auf Bitten Kieps seine Flick- sche ein Gremium verlangt, Spendenakten durchgesehen. das sich mit Wirken und Pri- Das Verfahren gegen den Ex-Schatz-

M. EBNER / MELDEPRESS vatgeschäften des einstigen meister wurde 1993 wegen geringer Schuld Christdemokraten Kohl, Baumeister: Weiter getrickst Kanzleramtsministers Bodo eingestellt. Kiep sprach immer von einem Hombach beschäftigt. Auch glatten Freispruch. Das ist nicht ganz so: Er und Zeitpunkt möglicher Begegnungen mit deshalb, so die ungewöhnlichen Gedan- musste eine Geldbuße in Höhe von 100000 Schreiber, der derzeit in Kanada gegen sei- kenspiele einiger Sozialdemokraten, sei ein Mark an die Universitäts-Kinderklinik in ne Auslieferung nach Deutschland kämpft weit gefasster Untersuchungsauftrag wün- Köln zahlen. Auch bei der Panzermillion, (siehe Kasten) und jegliche Schmiergeld- schenswert. Dann könne der eigene Pro- so scheint es, könnte Kiep wieder der ein- zahlung bestreitet, nichts sagen. Auch auf blemfall gleich ohne zusätzliches Aufsehen die Fragen, ob Schreiber während ihrer mit hineingepackt und erledigt werden. Amtszeit der Partei abermals Geld ge- Verzweifelt bemühen sich SPD und spendet habe und wie sie sich einen No- Grüne inzwischen, hier zu Lande eine tizbucheintrag Schreibers „Jürgen wg. Bau- Staatsanwaltschaft zu finden, die sich des meister 264 Mio.“ unter dem Datum 20. Verkaufs des ostdeutschen Minol-Tank- Juni 1994 erkläre, wollte die ehemalige stellennetzes und der Raffinerie Leuna an Schatzmeisterin keine Antwort geben. den französischen Mineralölkonzern Elf Das Wechselspiel zwischen Schweigen Aquitaine annimmt. Auch hierbei könn- und Zugeben, zwischen Aufklären und Ver- ten, nach Feststellungen der Pariser und schleiern, das wird immer deutlicher, ist Genfer Justiz, Schmiergelder an die CDU wohl nur die erste Stufe eines Notfallplans. geflossen sein.Wieder tauchen die Namen Als Kiep in der Flick-Affäre nach seiner Pfahls und Kiep auf. Doch ohne Strafver- Verurteilung zu einer Geldstrafe von 67500 fahren in Deutschland gibt es keine Ak- Mark durch das Düsseldorfer Landgericht ten, auf die die Parlamentarier zugreifen im Mai 1991 in die Revision gehen wollte, dürfen. suchte er das Gespräch mit Kohl. Doch der Der Untersuchungsausschuss könnte Kanzler, erinnert sich Kiep*, riet zur Zu- womöglich auch eine andere Rolle Schrei- rückhaltung, ein weiterer Prozess schade bers neu beleuchten – er tauchte 1991 mit doch nur der Partei. Auf die Episode an- der Million im Koffer keinesfalls zum ein- gesprochen, zürnte Kiep noch vor kurzem, zigen Mal als Freund für Kiep auf. Kohl habe damals gar nicht begriffen, dass Am 13. März 1991, zwei Wochen nach- einer wie er um seine Ehre kämpfen müs- dem die Operation „Fuchs“ vom Bundes- se. Die Geldstrafe, habe sein Vorsitzender sicherheitsrat unter dem Vorsitz Kohls lakonisch gesagt, „zahlst du doch aus der abgesegnet war, notierte Kiep in seinem

Westentasche“. Tagebuch: „Früh nach Düsseldorf. 65. / TRANSPARENT H. HAGEMEYER Die alten Geschichten, das will Angela Gerichtstag! Guter Tag für uns … Schrei- Geldtransporteur Weyrauch Merkel mit jedem Auftritt glauben machen, ber kündigt eine Liste der Flick-Spenden „Wissen der Beteiligten sehr abgestuft“ sollen in eine ferne, längst vergangene Zeit an, in der die Dezember-Spende 1978 gehören. Gleichzeitig wird alles getan, die für FJS war! Alle bei uns sehr opti- zige CDU-Politiker sein, der nicht unge- scheinbar neue CDU um Schäuble abzusi- mistisch!“ schoren davonkommt – zu Gunsten der chern. Der, erklärte sein Sprecher Walter Damals ging Kieps Prozess wegen der Partei. Bajohr, wisse nicht mal, ob die CDU Ende Flick-Affäre in die Endphase. Es hatte sich CDU-Chef Schäuble jedenfalls will ver- der achtziger Jahre tatsächlich so ver- herausgestellt, dass eine mögliche Verur- hindern, aus dem Kiep-Verfahren, „das sich schuldet gewesen sei, wie jetzt behauptet teilung nur noch wegen einer Flick-Spen- nicht gegen die CDU richtet, eine allge- werde. Also könne er schon gar nicht die de vom 11. Dezember 1978 denkbar war. meine Parteifinanzaffäre machen zu las- Frage beantworten, wie die schnelle fi- Diese war die letzte von insgesamt 41 sen“. Er habe auch nicht vor, „Sonderprü- nanzielle Erholung zu erklären sei. Da Spenden, die Kiep laut Anklage für die fungen über längst geprüfte und entlaste- CDU angeworben hatte, und die einzige, te Parteifinanzen der CDU in den letzten * Walther Leisler Kiep: „Was bleibt ist große Zuver- wegen der die Vorwürfe gegen ihn noch 50 Jahren zu machen“. sicht. Erfahrungen eines Unabhängigen. Ein politisches Tagebuch“. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 448 Seiten; nicht verjährt waren. Bestand Aussicht, Martina Hildebrandt, Wolfgang Krach, 42 Mark. diese Spende „wegzubekommen“ – bei- Paul Lersch, Georg Mascolo

der spiegel 47/1999 27 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland

NRW Spiel auf Zeit Ministerpräsident Wolfgang Clement droht bei den Wahlen im Mai ein Desaster. Unternehmensfusionen kosten tausende von Arbeitsplätzen, neue Pläne der Energiefirmen gefährden nun auch die Jobs in der Braunkohle.

er Termin am Freitagabend war ei- gentlich ganz nach dem Geschmack Dvon Wolfgang Clement. Private In- vestoren hatten das lange geschlossene Re- sidenz-Kino im krisengeschüttelten Duis- burg zu neuem Glanz erweckt, ein Komö- dientheater feierte die Premiere. Doch der nordrhein-westfälische Regie- rungschef konnte die Aufführung „Ein Traum von Hochzeit“ nicht gänzlich ent- spannt genießen. Denn die unternehmeri- schen Hochzeiten, die ihn derzeit beschäf- tigen, sind für ihn alles andere als ein Traum. Firmenfusionen, angefangen von Thyssen/Krupp bis hin zum geplanten Zu- sammengehen der Energieriesen Rheinisch Westfälische Elektrizitätswerks-Gesell- schaft (RWE) und Vereinigte Elektrizitäts- werke Westfalen (VEW), kosten zehntau- sende von Arbeitsplätzen – die meisten in Clements Land. Dabei war der Sozialdemokrat vor gut einem Jahr als strahlender Modernisierer angetreten: An den Arbeitsplätzen sollten ihn die Wähler im Mai 2000 messen, sagte er. Tun sie das bei den dann anstehenden Landtagswahlen tatsächlich, sieht es finster aus für Clement. Sein Land liegt heute in der Arbeitslo- senstatistik auf dem zweitschlechtesten Platz bei den Flächenländern im Westen, nur noch das Saarland steht schlimmer da.

Bei den letzten Kommunalwahlen verlor ROGNER / NEZTHAUT F. die SPD elf Oberbürgermeisterposten, dar- Parteifreunde Schröder, Clement*: Kampf um die Ökosteuer unter die in Hochburgen wie Leverkusen und Düsseldorf. Und es dürfte noch härter del, die beide dann ebenfalls zentral im gesprächen mit VEW und deren Ergebnis- kommen, wie sich jetzt abzeichnet: Cle- neuen Energieriesen gesteuert werden sol- sen aber könne seine Firma einstweilen ments Kampf gegen die Ökosteuer wird len. Nach dem Szenario des RWE-Mana- nicht Stellung nehmen. die heimische Braunkohle kaum retten gers könnte die Radikalkur bereits Ende Doch eine solche Entwicklung deutete können. Der RWE-Tochter Rheinbraun Juni 2000 beginnen. sich schon am Donnerstag vergangener könnte nach internen Überlegungen des Damit die neue Energiefirma Woche bei der RWE-Hauptversammlung Mutterkonzerns schon ab Sommer 2000 RWE/VEW bei sinkenden Strompreisen in Essen an. RWE-Chef Dietmar Kuhnt ein Kahlschlag drohen. wettbewerbsfähig bleibe, sollten im Zuge kündigte dabei ein drastisches Kosten- Die gesamte Holding mit heute 1500 An- der Fusion rund 1,3 Milliarden Mark ein- senkungsprogramm bei RWE und Rhein- gestellten soll, so ein hochrangiger RWE- gespart werden – davon mehrere hundert braun an. Manager, wahrscheinlich geschlossen wer- Millionen Mark an Personalkosten. Tau- Damit rückt auch das Ende des umstrit- den und im neuen Stromgiganten sende von Stellen wären davon betroffen. tenen Braunkohletagebaus Garzweiler II RWE/VEW aufgehen. Die Braunkohlefir- Offiziell mag die RWE solche Pläne we- immer näher, um den die SPD einen wah- ma solle zusätzlich einem drastischen Spar- der bestätigen noch dementieren: „Die ren Glaubenskrieg mit dem grünen Koali- programm unterzogen werden, bei dem Neuordnung der Energiesparte“, so ein tionspartner geführt hat. rund 30 Prozent der Kosten gekappt wer- Unternehmenssprecher am Freitag ver- Nur öffentlich zugeben mag das nie- den könnten. Die Belegschaft der Rhein- gangener Woche, „ist Gegenstand der ak- mand, zumindest nicht vor der Wahl: braun ist schon in den letzten sieben Jah- tuellen Verhandlungen.“ Zu den Fusions- weder die SPD noch der CDU-Herausfor- ren um 3000 auf 1150 Leute geschrumpft. derer Jürgen Rüttgers, der sich derzeit als Übrig bleiben dürften, sollte es so kom- * Bei der SPD-Regionalkonferenz am vorvergangenen Ober-Kumpel und Retter der heimischen men, die Kraftwerke und der Kohlehan- Samstag in Köln. Kohle geriert. Dabei war es die letzte Bun-

30 der spiegel 47/1999 DPA Braunkohle-Abbau (vor dem Kraftwerk Niederaussem): „Virtuelle Unsinnsdiskussion“

desregierung, der Rüttgers als Bildungsmi- Manfred Remmel klar, nister angehörte, die mit der Liberalisie- dass die verteufelte Öko- rung der Strommärkte die Grundlagen für steuer in Wahrheit keines- jenen Wettbewerb geschaffen hat, dem nun wegs die entscheidende die Arbeitsplätze zum Opfer fallen. Rolle spielt beim Nieder- Mit einer nur siebenseitigen Energie- gang der Braunkohle. Die rechtsnovelle öffnete Wirtschaftsminister Vorstände kalkulieren, Günter Rexrodt (FDP) im April vergange- dass sich der Betrieb ihrer nen Jahres den bis dahin streng geregelten bereits abgeschriebenen Energiemarkt. Andere Länder wie Schwe- Kohlekraftwerke zwar den oder Großbritannien hatten sich bei weiterhin rechnet – die vergleichbaren Schritten jahrelange Über- scharf gesunkenen Strom- gangsfristen gegönnt.Auf die Schaffung ei- preise aber zugesagte Neu- ner Regulierungsbehörde verzichtete die Investitionen unrentabel Kohl-Regierung. machen. Außerdem gebe Die Regierung Gerhard Schröders be- es ein weltweites Überan- hielt trotz heftigen Widerstands in den ei- gebot an Strom, und zwar genen Reihen den Kohl-Kurs bei. Wirt- zu Dumpingpreisen. schaftsminister Werner Müller, Ex-Kraft- Die Ökosteuer dient

werksmanager der Veba, listet in seiner D. HOPPE / NETZHAUT RWE nach Überzeugung persönlichen Erfolgsbilanz gern auch die Demonstrierende Kohle-Kumpel (in Köln): Eier auf Müntefering von Christine Scheel, Freigabe der Strompreise auf. Vorsitzende des Bundes- Gerüchte um ein Ende des geplanten konferenz traf. Wütende Kumpel bewar- finanzausschusses, denn auch nur als „vor- Braunkohletagebaus Garzweiler II, der fen SPD-Landeschef Franz Müntefering geschobenes Argument“, sich von Garz- 8000 Menschen ihre Heimat nähme und mit Eiern, weil er die Berliner Ökosteuer weiler II endgültig zu verabschieden. „Was ein Loch von 48 Quadratkilometern ent- verteidigte, andere stimmten „Helmut jetzt passiert“, so die Grünen-Politikerin, stehen ließe, gibt es schon seit mehr als Kohl“-Rufe an. „ist eine lange angedachte Unterneh- anderthalb Jahren. Regierungschef Clement versprach da mensstrategie.“ Ihre grüne Bundestags- Anfang November bekamen sie neue forsch, zusammen mit CDU-regierten Län- kollegin Kristin Heyne, Mitglied im Koali- Nahrung, als ein Brandbrief des RWE-Kon- dern im Bundesrat Einspruch gegen die tionsausschuss: „Garzweiler muss auf dem zerns die eben beschlossene Ökosteuer der Ökosteuer einzulegen. Dass dabei auch sei- Strommarkt wettbewerbsfähig sein. Die Bundesregierung geißelte: Die darin ent- ne Koalition mit den Grünen in NRW plat- Investition rechnet sich einfach nicht.“ haltene Steuerbefreiung für hoch effiziente zen könnte, weil der Koalitionsvertrag bei Als „virtuelle Unsinnsdiskussion“ sieht Gaskraftwerke würde die Kohlekraftwerke Uneinigkeit Enthaltung im Bundesrat vor- auch ein enger Mitarbeiter von Bundes- benachteiligen. Unter diesen Bedingungen sieht, wollte Clement in seiner ersten Wut finanzminister Hans Eichel den Politstreit müsse RWE das Braunkohletagebau- riskieren. über die angeblich unfaire Steuerbefrei- Projekt Garzweiler II und ein geplantes Auf die grimmigen Ankündigungen folg- ung für hoch wirksame Gaskraftwerke. 20-Milliarden-Mark-Investitionsprogramm te aber schon bald der vorsichtige Rückzug. Denn noch gibt es kein einziges dieser Art zur Kraftwerkserneuerung „auf den Prüf- Ein Koalitionskrach in NRW schien Cle- in Deutschland. stand stellen“. ment doch nicht ratsam – zumal der Lan- Das soll sich allerdings bald ändern. Damit begann ein wildes Durcheinan- deshaushalt noch nicht verabschiedet ist. Schon im kommenden Frühjahr will das der: 8000 Bergleute marschierten in Köln Außerdem wurde Clement nach einem schwedisch-deutsche Stromunternehmen auf, wo sich die SPD zu einer Regional- Gespräch mit den RWE-Chefs Kuhnt und Vasa Energy in Lubmin (Mecklenburg-Vor-

der spiegel 47/1999 31 Deutschland pommern) mit dem Bau eines solchen Werks beginnen. Vasa-Geschäftsführer GEHEIMDIENSTE Herbert Aly frohlockt, damit werde „eine der letzten Bastionen der alten Monopol- Lauscher wirtschaft fallen“. Mindestens fünf Prozent des deutschen Strommarkts möchte der Konzern mit wei- abgestellt teren klimaschonenden Gaskraftwerken erobern. Längst gehe es nicht mehr darum, Beigelegt scheint der Streit um ob solche Kraftwerke gebaut würden, so Aly, sondern nur noch wo – „hier oder jen- die Arbeit amerikanischer Agenten seits der holländischen und polnischen in der Bundesrepublik. Die Grenze“. USA garantieren erstmals, keine Als Aly am vorvergangenen Mittwoch deutschen Firmen abzuhören. im Nordostzipfel der Republik seine Sicht der Dinge präsentierte, erntete er Zustim- ie Reise in das Reich der fremden mung auch vom eigens aus Berlin einge- Macht war nach 65 Kilometern zu schwebten grünen Umweltminister Jürgen DEnde. Am 4. November setzte sich Trittin. Der sagte, für die von Arbeits- und um die Mittagszeit im Münchner Vorort Perspektivlosigkeit geplagte Region biete Pullach eine Fahrzeugkolonne Richtung die „ambitionierte Technik ein Stück Zu- Südosten in Bewegung. An der Abfahrt kunftssicherung“. Nummer 100 verließen die schweren Li- In NRW geht es jetzt erst mal nur um mousinen die Salzburger Autobahn. eine Lösung, die Clement über die Land- Minuten später standen der Berliner Ge- tagswahl im nächsten Mai helfen kann – heimdienstkoordinator Ernst Uhrlau, 52, ein Spiel auf Zeit. Juristen in der Düssel- und der Präsident des Bundesnachrichten- NSA-Lauschstation Bad Aibling: Bisher für die dorfer Staatskanzlei tüfteln ein Modell aus, dienstes (BND), August Hanning, 53, vor der Einfahrt zu einer „Restricted Area“. Die neue Offenheit war, anders als Die Landtagswahl Nur eine Hand voll Deutsche hatten das früher, mehr als ein Symbol. In der ver- könnte als Druckmittel gegen Tor zu dem amerikanischen Geheimobjekt gangenen Woche gab der amerikanische bisher passieren dürfen. Geheimdienstchef gegenüber Uhrlau und die Grünen wirken Hanning und Uhrlau wurden durchge- dem Berliner Kanzleramt die Versicherung wunken – der Hausherr erwartete sie: ab, Bad Aibling sei und bleibe „weder ge- das die Steuerbefreiung für Gaskraftwerke Michael Hayden, Chef des US-Lauschim- gen deutsche Interessen noch gegen deut- rechtsverbindlich auf drei Jahre begrenzen periums National Security Agency (NSA). sches Recht gerichtet“. Damit soll ein Streit soll, bislang sind im Ökosteuer-Gesetz zehn Mit 40000 Mann lässt die NSA im Auftrag beendet werden, der in den vergangenen Jahre vorgesehen. Clement könnte das als ihrer Regierung weltweit die Kommunika- Jahren zunehmend eskalierte: Die Deut- Etappensieg für die Kohle verkaufen, wich- tion von Feind und Freund überwachen. 27 schen hatten es sich energisch verbeten, tig für die Wahlkampfpsychologie. Milliarden Dollar kostet das Abfangen von von den amerikanischen Freunden mit rü- Um diese Verkürzung der Steuerbefrei- Telefonaten, Faxen, Funksprüchen und den Methoden ausgespäht zu werden. ung soll deshalb jetzt auf Chef-Ebene ver- E-Mails jährlich. Die Garantie aus Washington, von Bad handelt werden. Für diesen Montag ist ein Beim Kurort Bad Aibling steht das Aibling aus werde nicht die Telekommuni- Gespräch der RWE-Spitze mit Clement „große Ohr“ der NSA, eine der leistungs- kation deutscher Bürger, schon gar nicht und Bundeskanzler Schröder in Berlin ge- fähigsten Abhöranlagen des amerikani- die der deutschen Konzerne belauscht, ist plant. schen Geheimdienstes. Wie Golfbälle lie- ein Novum in der Geheimdienstbranche. Auch RWE setzt auf Zeit. „Die letztliche gen die unter Schutzhüllen verborgenen Zwar wird traditionell getrickst und Entscheidung, ob die Bagger wirklich an- Antennen in der Voralpen-Landschaft. getäuscht, aber mit der NSA-Erklärung, fangen, den Tagebau Garzweiler II zu er- Hayden führte seine Gäste direkt in das die wie bei der Absprache über die Her- schließen“, so ein RWE-Manager, „müs- Herz der Anlage. Stundenlang streiften die ausgabe von Stasi-Unterlagen einer Zusa- sen wir erst im Jahr 2005 fällen. Derzeit Deutschen mit dem NSA-Gewaltigen ge der US-Regierung gleichkommt, würde würde es sich nicht rechnen.“ durch die Räume, wo ihnen Auswerter jeder künftige Fall zum Politikum. Das Einverständnis für das Polit-Theater stolz die aus dem Äther gefischte Beute Die Amerikaner, so scheint es, haben um die Befristung der Steuerbefreiung präsentierten. Vor allem in Sachen Balkan begriffen, dass sie es zu weit getrieben ha- muss der Bundeskanzler dem grünen Ko- gilt die Station als perfektes Lauschgerät. ben. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat- alitionspartner abringen, der bislang wenig ten die US-Geheimdienstler immer wie- Neigung dazu zeigt. der demonstriert, dass sie die deutsche Als Druckmittel gegen die Grünen Souveränität nicht sonderlich scherte. Mal könnte die Landtagswahl in NRW wirken, entführten sie in Berlin einen flüchtigen die als Test auch für das Bündnis im Bund Spion, dann mühten sie sich, einen Refe- gilt. Dass sie jetzt sehr leicht verloren ge- ratsleiter des Wirtschaftsministeriums zum hen kann, weiß Clement. Um die SPD in Verrat von Regierungsgeheimnissen zu Düsseldorf zu retten, warnte er seine überreden. Erbost protestierte der Vorsit- Genossen bei einem Strategietreffen vor zende des Parlamentarischen Kontrollgre- einer Woche in Potsdam schon mal, dürfe miums Willfried Penner (SPD) in Washing- er sich beim Reizthema Kohle keine ton: Der oberste Geheimdienstaufseher Rücksicht auf Berlin leisten – „sonst wird des Bundestags monierte bei seinen ame-

NRW schwarz“. HELLER / ARGUM F. rikanischen Kollegen in Senat und Abge- Frank Dohmen, Gerd Rosenkranz, BND-Präsident Hanning ordnetenhaus Verstöße gegen die „Sou- Barbara Schmid, Andrea Stuppe Im eigenen Land am Katzentisch veränitätsrechte Deutschlands“.

32 der spiegel 47/1999 Vor allem die Industrie reagierte beunruhigt. Sie fürchtete – Vorsicht, Freund hört mit –, die NSA würde die amerikanische Konkur- renz gezielt mit Informatio- nen über deutsche Ge- schäftsinterna und Zukunfts- projekte versorgen. Aus dem einst nur in Geheimdienst- kreisen debattierten Thema wurde eine schrille öffentli- che Debatte, in der den Un- schuldsbeteuerungen der Amerikaner immer weniger geglaubt wurde. Das Bundesamt für Verfas- sungsschutz urteilte vergan- genes Jahr in einer Expertise „Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung“: Es sei „davon auszugehen, dass der weitaus größte Teil der Wirtschaftsspionage zwischen

F. HELLER / ARGUM F. Industriestaaten mit den Mit- Deutschen nur Brosamen teln der elektronischen Auf- klärung bewältigt wird“. Aber Hortensie I und In den USA hat man jetzt offensichtlich Hortensie III, so die BND- erkannt, dass es an der Zeit ist, den Flur- Synonyme für CIA und schaden zu beheben. Ein erstes Friedens- NSA, waren nicht zu signal war das Versprechen, ab dem nächs- bremsen. Wie die gleich- ten Jahr mit der Rückgabe der in den namige Blume, ein strau- Wendezeiten erbeuteten Stasi-Unterlagen chiges Gewächs, bildeten zu beginnen (SPIEGEL 42/1999). Und auch sie in Deutschland ein der neue CIA-Chef George Tenet, 46, starkes Wurzelwerk aus. versicherte Uhrlau in Gesprächen, Wirt- Besonders fest haben schaftsspionage gegen die Deutschen ge- sich die Amerikaner in höre nicht zu den Aufgaben seines Part- Bad Aibling eingegraben. nerdienstes. Juristisch sei ihm dies nicht

SIPA PRESS SIPA Mit Hightech wurden erlaubt. Zudem sei die Weitergabe solcher CIA-Chef Tenet zunächst russische Satelli- Interna an US-Konzerne viel zu gefährlich ten angezapft, der Tele- – es könnte ja einer der Wirtschaftsbosse fonverkehr der Führung der früheren So- über seine Quellen plaudern. wjetarmee mitgeschnitten. Die Deutschen Offenbar spürten die Amerikaner, dass saßen dabei im eigenen Land am Katzen- das öffentliche Misstrauen gegen ihre Spio- tisch: Nebenan, in der Mangfall-Kaserne, nagetätigkeit tief sitzt, immer noch. Bloße residiert die so genannte Fernmeldeweit- Zusagen reichten da nicht mehr – eine de- verkehrsstelle, eine Tarneinrichtung des monstrative Erklärung musste her. BND. Die Lauschergebnisse von zwei der Uhrlau sieht durch das NSA-Verspre- Antennenanlagen, so ist es Tradition, dür- chen „die in der Öffentlichkeit entstan- fen von den Deutschen ausgewertet wer- dene Geheimniskrämerei um Bad Aibling den. Doch da fallen nur Brosamen ab. angemessen und eindeutig beendet“. So Weitere Zugeständnisse lehnte der große wird in dem Papier ausdrücklich jedwede Bruder brüsk ab. Die USA wollten den Ver- „Weitergabe von Informationen an US- bündeten nicht sagen, was denn das große Konzerne“ ausgeschlossen. Die Garantie, Ohr noch alles mithört. Der Forderung so Uhrlau, sei Ausdruck einer neuen „bei- nach einem Verbindungsoffizier mit Zu- derseitigen strategischen Partnerschaft im tritt für die ganze Anlage wurde nie ent- Bereich der Nachrichtendienste“. sprochen. Um den wachsenden Ärger zu Um auch letzte Zweifel an ihrer Red- dämpfen, wurde Bad Aibling 1995 zumin- lichkeit zu beseitigen, waren die Amerika- dest formal der US-Luftwaffe unterstellt. ner schließlich zu einem bisher undenkba- Doch an den Verhältnissen änderte sich ren Zugeständnis bereit: Es ist beabsichtigt, nichts. Als 1994 unter dem damaligen Ge- auch den Geheimdienstkontrolleuren des heimdienstkoordinator Bernd Schmidbau- Bundestags die bisher verschlossenen er eine Gruppe Staatsschützer über das Türen von Bad Aibling zu öffnen. Die Par- Treiben der Amerikaner beriet, war das lamentarier sollen sich demnächst selbst Urteil klar: Von Bad Aibling aus, so ihre einen Einblick in das geheime Treiben im Überzeugung, werde der ganz große Big Ear verschaffen können. Lauschangriff gegen Deutschland geführt. Wolfgang Krach, Georg Mascolo

der spiegel 47/1999 33 Deutschland

ZWANGSARBEITER In Gottes Hand Langsam nähert sich das unwürdige Pokerspiel um die Entschädigungen von Arbeitssklaven der Industrie in der Nazi-Zeit seinem Ende. Doch die Forderung der Unternehmen nach Rechtssicherheit bleibt unerfüllbar. Stattdessen gibt es womöglich neue Ansprüche.

s sollte aussehen wie der Anfang vom sprechen, die eigentlich Aufgabe der deut- Für Unmut am Rande sorgt dabei die Pra- Ende eines monatelangen Streits. In schen Wirtschaft ist: mit dem unwürdigen xis, dass die Jewish Claims Conference für Etrauter Dreisamkeit betraten der Geschacher um die Entschädigung ehema- die Verteilung von Geldern in den USA deutsche Unterhändler Otto Graf Lambs- liger Zwangsarbeiter Schluss zu machen. üblicherweise 15 Prozent Bearbeitungsge- dorff, der stellvertretende US-Finanzminis- Bis zum Ende des Jahrhunderts, so der er- bühr berechnet. ter Stuart Eizenstat und DaimlerChrysler- klärte Wille der beiden, soll eine Einigung Was Kanzler Schröder viel mehr aufregt: Finanzchef Manfred Gentz als Sprecher her. Zu welchem Preis, scheint bereits aus- Während Lambsdorff für die Bundes- der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirt- gemacht: Wenn die Deutschen ihr Angebot regierung zäh verhandelt, verweigern die schaft“ am vergangenen Mittwoch den um eine weitere Milliarde Mark – je die meisten deutschen Unternehmen die Konferenzsaal des ehemaligen Beteiligung am Fonds – ohne Bonner Kanzleramts. Rücksicht auf den Rufschaden, Im Wechselspiel verkünde- den die Exportnation Deutsch- ten sie das Ergebnis ihrer 18 land nimmt. Stunden währenden Verhand- Ungerührt weisen die Kon- lungen: Das Entschädigungs- zernbosse jede Verantwortung angebot für ehemalige Zwangs- von sich. Von über 2000 Fir- arbeiter werde von sechs auf men, die der Washingtoner Op- acht Milliarden Mark erhöht. feranwalt Michael Hausfeld in Fünf Milliarden davon soll die einer Sklavenhalterliste auf- Wirtschaft zahlen, drei Milliar- führt, haben sich der Stiftung den die Bundesregierung. öffentlich bislang gerade mal Und weil nun endlich die Fra- 17 angeschlossen. Der große ge der Rechtssicherheit für die Rest spielt auf Zeit – oder will betroffenen Unternehmen ge- aus Angst vor Klagen in den klärt sei, behauptete Eizenstat, USA nur dann zahlen, wenn könne die ganze Angelegenheit im Gegenzug Rechtssicherheit schon binnen drei Wochen ab- garantiert wird. Die Firmen schließend geklärt werden. fordern einen Persilschein, der Kaum waren die Mikrofone sie vor allen laufenden und

abgeschaltet, bestürmte Wirt- DPA drohenden Verfahren schützt. schaftssprecher Gentz stock- Verhandlungspartner Eizenstat, Lambsdorff: Bewegung reinbringen Doch diese Rechtssicherheit sauer seine Verhandlungspart- kann niemand garantieren. ner: „Wie kommt ihr dazu, von Rechts- Hälfte von Bund und Industrie – erhöhen, Zwar hat Clinton ein „Statement of inter- sicherheit zu reden?“ US-Unterhändler Ei- ist ein historischer Handschlag zwischen est“ angeboten. Danach verstießen Zwangs- zenstat konterte scharf und knapp: „Damit Schröder und Clinton in greifbarer Nähe. arbeiterklagen gegen das Interesse der USA. ihr Bewegung reinbringt.“ Der war den deutschen Unterhändlern In der Praxis ist diese Erklärung wenig wert. Bis zum Schluss wird weiter gepokert allerdings schon vor dieser Runde signali- „Kein amerikanischer Richter“, so Juristen bei dem Problem, das Bundesregierungen siert worden – für acht Milliarden Mark. im Lambsdorff-Stab, „muss eine Klage ab- und deutsche Wirtschaft seit dem Welt- Doch Gentz und Lambsdorff warfen sich weisen, nur weil es sein Präsident so kriegsende zu verdrängen suchten: Wie- gegenseitig vor, die Gespräche taktisch wünscht.“ Auch der an den Verhandlungen dergutmachung für die vielen Millionen falsch geführt zu haben. Der Liberale habe beteiligte grüne Bundestagsabgeordnete Menschen, die im Nazi-Regime zur Arbeit nicht grimmig genug auf acht Milliarden sagt: „Vor Gericht und auf ho- gezwungen wurden – unter teilweise un- beharrt, sagt Gentz. Lambsdorff dagegen her See sind alle in Gottes Hand.“ menschlichen Bedingungen und bei – wenn wirft dem Manager vor, der habe einen Schier unerfüllbar scheint zudem das überhaupt – kärglichem Lohn. Mit jeweils Spielraum von sechs bis zehn Milliarden Ansinnen der Wirtschaft, alle deutschen mindestens 10000 Mark sollen die Opfer Mark in Aussicht gestellt. Firmen mit einem Schlag von jeder NS- nun entschädigt werden. Welche Summe auch am Ende heraus- Schuld freikaufen zu wollen. Die Wunsch- Die jüngste Bonner Verhandlungsrunde, kommen mag – die Finanzierung ist nach vorstellung: Abgebügelt werden nicht nur als Finale gedacht, hat dabei nicht viel ge- wie vor unklar. Von den zugesagten fünf Prozesse ehemaliger Zwangsarbeiter, son- bracht. Ein Durchbruch wurde offenbar ei- Milliarden Mark der Industrie sind erst 2,6 dern auch die Klagen gegen Versicherun- nen Tag später und drei Flugstunden ent- Milliarden gesichert. Doch das Gros zahlt gen, die Policen ihrer jüdischen Kunden fernt vom Bonner Tagungsort erzielt. Am ohnehin der Bund: Da die Fonds-Einlage entweder gar nicht oder aber an die Nazis Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul trafen als Betriebsausgabe von der Steuer abge- ausbezahlt hatten. sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und setzt werden kann, kommt die Regierung Wie diese Versicherungsopfer entschä- US-Präsident Bill Clinton, um auf höchster zusammen mit ihrem direkten Beitrag bis digt werden können, verhandelt derzeit politischer Ebene eine Angelegenheit zu be- jetzt schon für 5,5 Milliarden Mark auf. unter Leitung des ehemaligen US-Außen-

34 der spiegel 47/1999 AP Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik (bei Dachau): Unmenschliche Bedingungen, kärglicher Lohn ministers Lawrence Eagleburger in Wa- Zeit unbegründet“ abge- shington eine „Internationale Kommission wiesen, solange mangels ei- zur Klärung von Versicherungsforderun- nes Friedensvertrages die gen von Holocaust-Opfern“. Reparationsfragen interna- Vor der Eagleburger-Kommission muss tional zurückgestellt waren. sich unter anderem der deutsche Versiche- Doch seit der deutschen rungskonzern Allianz verantworten. Noch Einheit hat sich die Rechts- im Oktober hatte das Unternehmen ver- lage grundlegend geän- sprochen, eine Liste mit 150000 Namen dert: Der Zwei-plus-Vier- und Geburtsdaten aus seinen Archiven zu Vertrag, der die Bundes- holen. Experten des Holocaust-Memorials republik vollends zum Jad Waschem in Israel wollen diese Na- souveränen Staat machte, men nun mit den Listen jüdischer Nazi- wirkte für deutsche Ge- Opfer vergleichen. Zahlen will die Allianz richte wie ein Friedensver- aber nur einmal: entweder für die Stif- trag. Erstmals nahmen die tungsinitiative oder für die Forderungen Richter die Klagen ehema- der Eagleburger-Kommission. liger Zwangsarbeiter ernst.

Versuche, die beiden Entschädigungs- Im Sommer 1996 setzte PRESS ACTION gremien zu verzahnen, sind bislang ge- das Bundesverfassungsge- Zwangsarbeiter-Demonstration*: Die Firmen spielen auf Zeit scheitert. In dieser Woche reist Lambsdorff richt ein für alle Opfer er- deshalb erneut nach Washington, um ge- lösendes Signal. Danach kann jeder der Jetzt streiten die Juristen: Ist der Zwei- meinsam mit Eizenstat und Eagleburger etwa 1,2 Millionen Überlebenden indivi- plus-Vier-Vertrag wirklich ein Friedens- eine Lösung für die Allianz zu finden. duelle Ansprüche nach nationalem Recht vertrag? Gibt es eine Verjährung und Leichtfertig gehen deutsche Unterneh- geltend machen. Daraufhin sprach das wann? Und: Sind die Verhandlungen um men mit ihrer zögerlichen Haltung das Ri- Landgericht Bonn einer polnischen Kläge- den Stiftungsfonds womöglich gar eine Re- siko ein, dass eine Flut von Prozessen über rin einen Anspruch gegen die Bundesre- parationskonferenz? die Nachfolger der Sklavenhalter in Staat publik in Höhe von 15000 Mark für 55 Wo- Auch die Politiker stochern im Nebel – und Wirtschaft hereinbricht. Schon in die- chen Zwangsarbeit zu. Erstritten hatte die- gerade wegen der ungeklärten Repara- ser Woche ist der Sportwagenbauer Por- ses Urteil, das derzeit in höchster Instanz tionsfrage. Denn sollte es sich bei der sche an der Reihe. Am Mittwoch will das überprüft wird, als Rechtsbeistand der Bre- Zwangsarbeiterentschädigung tatsächlich Landgericht Stuttgart über die Klage des mer Politologe Klaus von Münchhausen. um eine Reparationsleistung für Nazi- Polen Czeslaw Kobierski, 74, entscheiden, Ebenjener Münchhausen steht nun auch Unrecht handeln, könnte die Angele- der mit einer Versicherungskarte belegen an der Seite des ehemaligen Zwangsarbei- genheit vollends unübersehbare Folgen kann, dass er mehr als drei Jahre in Zuffen- ters Kobierski im Prozess gegen Porsche. haben. hausen schuften musste. Der streitbare Wissenschaftler und die von Alle erdenklichen Opfergruppen könn- Das Unternehmen hofft auf eine Art ihm beauftragten Rechtsanwälte bezwei- ten sich auf diesen Präzedenzfall berufen Freispruch zweiter Klasse: Zwar gibt Por- feln, dass sich der Autobauer aus der Ver- und Entschädigungen fordern – in einer sche mittlerweile zu, Rechtsnachfolger der antwortung stehlen kann, indem er auf die Größenordnung von 50 Milliarden bis weit zur NS-Zeit tätigen Firma Porsche KG zu Verjährung der Ansprüche verweist. Er ar- über 100 Milliarden Mark. Genau mag das sein. Doch die Ansprüche des ehemaligen gumentiert, dass das Völkerrecht hier eine niemand in der Bundesregierung abschät- Zwangsarbeiters seien inzwischen verjährt. Verjährung verhindere. zen. Dies, sagt ein Vertrauter des Kanz- Da könnte sich das Unternehmen täu- lers, „ist eine Frage, die uns alle überfor- schen. Zwar haben deutsche Gerichte alle * Gegen die Aktionärsversammlung der IG Farben in dern würde“. Christoph Mestmacher, Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter als „zur Abwicklung im März. Alexander Neubacher

der spiegel 47/1999 35 Deutschland

Vitorino: Auf gar keinen Fall wollen wir in nationale Verfassungen hineinregieren. Die EUROPA Vorschläge der Kommission, die sie bis 2001 vorlegen wird, werden neue Rechtsnormen und Regelungen für Prozeduren enthalten. „Nicht hineinregieren“ Der EU-Rat muss sie dann einstimmig be- schließen. In einigen Mitgliedstaaten dau- Der EU-Justizkommissar Antonio Vitorino über das ern die Anerkennungsverfahren sechs Mo- nate, in anderen bis zu drei Jahre. Viele neue Brüsseler Asylrecht und seine Asylbewerber suchen sich gezielt die Staa- Auswirkung auf die deutschen Flüchtlingsregelungen ten, wo sie möglichst lange bleiben kön- nen, auch wenn das Verfah- SPIEGEL: Der deutsche Innenminister Otto Recht im Asyl, nicht auf ren aussichtslos ist. Durch Schily behauptet, bei Einführung eines Asyl, meint Schily. europaweit einheitliche Ver- gemeinsamen europäischen Asylsystems Vitorino: In der Genfer Kon- fahren wollen wir dieses würde der Grundrechtsanspruch auf poli- vention steht sehr eindeu- „Asylshopping“ stoppen. tische Zuflucht in Deutschland nicht zu tig: Wenn ein Leben be- SPIEGEL: Dazu brauchen Sie halten sein. Stimmt das? droht ist, hat dieser Mensch aber erst mal einen einheit- Vitorino: Schilys Aussagen kenne ich nicht ein Recht auf Aufnahme in lichen Katalog von Aner- im Einzelnen, deshalb will ich sie auch einem sicheren Land. Un- kennungsgründen. Wie sol- nicht kommentieren. Aber eines gilt es sere künftigen gemeinsa- len diese Kriterien beschaf- klar festzustellen: Beim Justiz-Gipfel in men EU-Mindeststandards fen sein? Tampere haben sich die Regierungschefs erleichtern die Anwendung Vitorino: Bevor die Mit- auf ein gemeinschaftliches, aber nicht auf der Konvention. Sie werden gliedsländer nicht meine ein einheitliches Asylrecht geeinigt. Nie- für die gesamte EU ver- Vorschläge erhalten haben,

mand soll deshalb sagen: Dies ist ein Dik- bindlich sein. M.-S. UNGER will ich nichts sagen. Dies hat tat. Der Beschluss von Tampere geht ein- SPIEGEL: Wird die deutsche EU-Kommissar Vitorino in jedem Fall hohe politische deutig von gemeinsamen Mindestnormen Rechtsweg-Garantie zu den Priorität für die Union. aus. Doch darüber hinaus können die EU- Mindeststandards gehören? Wird ein Asyl- SPIEGEL: Getrickst wird doch auch zwi- Staaten ihr eigenes Asylrecht entwickeln bewerber den Ablehnungsbescheid einer schen den Mitgliedstaaten. Italien zum oder behalten. Behörde dann überall in der EU bei Ge- Beispiel müsste nach den geltenden Be- SPIEGEL: Es kann also beim deutschen sub- richt anfechten können? stimmungen die Verfahren für jene Asyl- jektiven Recht auf Asyl bleiben? Vitorino: Dies hängt vom Ausgang der bewerber, die an seinen Küsten landen, Vitorino: Ja. Die europäischen Staats- und Debatte im Rat und im Europäischen durchführen. Doch Rom leitet die Immi- Regierungschefs haben in Tampere festge- Parlament ab, die die Kommission in granten lieber nach Norden durch – stellt, dass ein europäisches Asylsystem ge- diesem Jahr angestoßen hat. Wir stel- Deutschland hat dann ein Problem. meinsame Mindeststandards für ein ge- len uns ein einfaches Asylverfahren vor, Vitorino: Es gibt auch Stimmen in den Nie- rechtes Asylverfahren sowie gemeinsame das selbstverständlich durch das Justiz- derlanden, die behaupten, dass Asylbe- Mindestbedingungen für die Aufnahme system und in einigen Fällen durch die werber aus den Nachbarländern, zum Bei- von Asylbewerbern implizieren sollte. Verfassung der Mitgliedstaaten bestimmt spiel aus Deutschland, kommen. Das zeigt SPIEGEL: Die Genfer Flüchtlingskonven- werden wird. doch, dass die bisherigen Instrumente nicht tion, auf die sich der Beschluss von SPIEGEL: Wie sollen die anderen EU-Stan- oder nur sehr schlecht greifen. Tampere bezieht, regelt jedoch nur das dards aussehen? Abhilfe erwarten wir jetzt vom neuen Eu- rodac-System, das die Fingerabdrücke von Asylbewerbern und illegalen Immigran- ten bei der Einreise oder beim Aufgriff an der Grenze erfasst und in einem Zentral- computer bei der EU-Kommission spei- chert. Die Mitgliedstaaten können damit Bewerber, die ihre Papiere weggeworfen haben, identifizieren und die berüchtigten Mehrfachanträge verhindern. Es wird aber ebenso klar ersichtlich, welches Mit- gliedsland für die Antragsbearbeitung zuständig ist, und dieses System dient auch den echten, schutzbedürftigen Asyl- bewerbern. SPIEGEL: Die Daten können doch auch für die Strafverfolgung missbraucht werden. Wer kontrolliert den Big Brother Brüssel? Vitorino: Ein solcher Missbrauch ist nach der Verordnung eindeutig verboten. Ge- gen Missbrauch in den Mitgliedstaaten gibt es rechtliche Mechanismen.Außerdem soll- te sich das Europäische Parlament Kon- trollrechte sichern. Die Brüsseler Kommis- sion wird das Eurodac-System zu überwa-

A. HERZAU chen haben, aber niemals als Big Brother. Warteschlange vor der Hamburger Ausländerbehörde: „Asylshopping stoppen“ Interview: Dirk Koch, Sylvia Schreiber

36 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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schlüssen zur Ökosteuerreform eine Ein- ordnete unter Führung des Sonnenener- ATOMKRAFT gangssteuer erhoben wird. giestreiters Hermann Scheer schon mal Das unzweifelhaft größte Privileg be- einen Gesetzentwurf vor, der die Über- Zum Konsens schert der Atombranche die staatliche führung der Entsorgungsmilliarden in ei- Großzügigkeit beim Umgang mit den so nen öffentlich-rechtlichen Fonds vorsieht – genannten Entsorgungsrückstellungen. wie es in der Schweiz oder Schweden verdammt Weil die verstrahlten Reaktoren eines schon lange vorgeschrieben ist. Tages mit Milliardenaufwand wieder ab- Die Abwicklung der Atommüll-Kriegs- Rot-Grün droht den Strom- gerissen werden müssen, der Atommüll in kasse droht aber vor allem aus Brüssel. einem kostspieligen Endlager vergraben Dort meldeten die EU-Wettbewerbshüter konzernen mit dem werden muss, sind die Betreiber gesetz- in ihrem jüngsten Bericht zum liberalisier- Entzug ihrer wirtschaftlichen lich verpflichtet, einen Teil ihrer Erlöse ten Strommarkt bereits dringenden „Har- Privilegien, um sie zum für die später anfallenden Kosten zurück- monisierungsbedarf“ in Sachen Entsor- Atomausstieg zu bewegen. zulegen. gungsrückstellungen an. Die Mittel müssten Dieses steuersparend er- „ausschließlich für Zwecke der ayernwerk-Chef Otto Majewski gab worbene und frei verfügbare Stilllegung eingesetzt werden“. sich hart. Gegen das von Kanzler Kapital – etwa bei Firmenauf- Genau das ist aber in BGerhard Schröder in Auftrag gege- käufen sehr nützlich – beläuft Deutschland nicht der Fall. bene Atomausstiegsgesetz werde sich die sich ausweislich der Unter- Zehn kommunale Stadtwerke Branche vor dem Bundesverfassungsge- nehmensbilanzen auf über 70 beantragten darum vergangene richt „geschlossen zur Wehr setzen“. Milliarden Mark, die zusätzli- Woche in Brüssel die Eröffnung Doch die Kernkraft-Bosse sind nicht so chen Zins- und Aktiengewinne eines Verfahrens wegen „verbo- stark, wie sie tun. Die Firmen verfügen in Höhe von fünf bis zehn Mil- tener Subventionierung“ des über ungewöhnliche staatliche Privilegien liarden Mark jährlich noch gar Atomstroms. Wollen also die in Milliardenwert. Die könnten auf dem nicht mitgerechnet. Manager der Stromriesen ihre

Spiel stehen, wenn sich die Atomwerker Angesichts der verschärften AP Rückstellungsmilliarden retten, nicht doch in letzter Minute mit Rot-Grün Konkurrenz auf dem liberali- Majewski sind sie auf den Beistand der auf einen friedlichen Ausstiegs- Bundesregierung angewiesen. konsens einlassen – ohne Ge- Die Strombosse sind zum Kon- setzeszwang, so Schröders Hoff- sens verdammt. nung. „Die Energiewirtschaft ist Vor diesem Hintergrund auf die Regierung angewiesen“, schrumpft der Streit um die droht Grünen-Fraktionschef Restlaufzeiten der 19 noch Rezzo Schlauch. Bei den mil- betriebenen Atommeiler zur liardenschweren Vorteilen, deu- Verhandlungsmasse. Die Juris- tet er lächelnd an, „muss es ja ten aus Justiz- und Innenressort nicht bleiben“. hatten bislang Zweifel angemel- Die Liste der Privilegien ist det, ob es überhaupt möglich lang. So sind die Atomstromer sei, die Betriebsgenehmigungen bisher weitgehend von der Ver- nachträglich zu befristen, ohne sicherungspflicht gegen mögli- Entschädigungsforderungen in che Unfallschäden befreit. Ge- Milliardenhöhe auszulösen. In- rade mal 500 Millionen Mark zwischen haben sich die zu- müssen sie absichern.Angemes- ständigen Staatssekretäre aber sen wäre nach Meinung der grundsätzlich geeinigt. Fachleute des Bundesumwelt- Hilfestellung leistet ein Gut- ministeriums eine Haftungs- achten des Frankfurter Verfas- grenze von mindestens fünf sungsrechtlers Erhard Dennin- Milliarden Mark pro Atom- ger. Demnach wäre gemäß der meiler. Allein dadurch fielen „jetzt gefestigten höchstrichter- für Versicherungsprämien pro lichen Rechtsprechung“ eine Kernkraftwerk Mehrkosten von Betriebsbegrenzung auf „25 bis bis zu 30 Millionen Mark jähr- 26 Kalenderjahre“ verfassungs-

lich an. GLASER P. rechtlich möglich. Im Fall der Praktisch kostenfrei blieb bis- Atomkraftwerk Ohu (Bayern): „Verbotene Subventionierung“ Meiler, die diese Frist bereits lang auch die Sicherung der überschritten haben, käme eine Atommüllfahrten von den Kraftwerks- sierten Strommarkt sei das Rückstellungs- „angemessene Abwicklungsfrist von circa standorten in die Zwischenlager Ahaus privileg ein entscheidender Wettbewerbs- ein bis drei Jahren“ hinzu. „So geht es“, oder Gorleben durch Polizei und Bundes- vorteil für die Atomstromfabriken, resü- war sich die Staatssekretärsrunde einig. grenzschutz – bis zu 111 Millionen Mark miert eine noch unveröffentlichte Studie Angesichts dieser Lage ist sich ein Spit- pro Transport. Die Kosten wollte der obers- des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, zenpolitiker der SPD sicher: „Die AKW- te BGS-Chef Otto Schily den Transporteu- Energie. „Die Rückstellungsgewinne sind Betreiber werden einknicken.“ Auch Bay- ren schon mal in Rechnung stellen. ein wesentlicher Anreiz, überhaupt noch ernwerk-Chef Majewski, der als Präsident Auch vor einer Primärenergiesteuer auf länger Atomkraftwerke zu betreiben“, ur- des Deutschen Atomforums als Hardliner Uran kann sich die Atomwirtschaft nicht si- teilt der Wuppertaler Ökonom Wolfgang gilt, lässt sich neuerdings vorsichtiger ein: cher fühlen. Eine solche Abgabe würde Irrek. „Keine Gesellschaft sollte in einer so ele- Kernbrennstoff mit Erdgas gleichstellen, Die Fortsetzung der bisherigen Praxis mentaren Frage wie der Energieversorgung für dessen Einsatz in allen laufenden Gas- ist alles andere als rechtssicher. Vergange- auf Dauer in der Kontroverse leben.“ kraftwerken auch nach den jüngsten Be- ne Woche legten 33 SPD-Bundestagsabge- Gerd Rosenkranz, Harald Schumann

38 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland M. AUGUST Wahlkämpfer Rühe an der Nordseeküste*: „Ich mach das hier echt gerne“

lern, Politikern und Wissenschaftlern, ist CDU Rühe seit 14 Jahren Mitglied. Vergangene Woche erst stellte er gemeinsam mit Schmidt gesammelte Vorträge des Kreises Großer Hebel vor („Erkundungen. Beiträge zum Ver- ständnis unserer Welt“). Der schleswig-holsteinische CDU-Spitzenkandidat Wie Schmidt hat Rühe den politischen Schleudersitz auf der Hardthöhe über- Volker Rühe bewundert Helmut Schmidt und verfährt nach standen, wie Schmidt ist er bekennender der Methode Schröder: An der Partei vorbei zur Spitze. Protestant und wie Schmidt-„Schnauze“ hat sich Volker, Kampfname „Rüpel“, mit olker Rühe betritt den Kommodore- Die Bundespartei in Berlin ist von ihrem seiner rücksichtslosen Art in seiner Partei Saal im Hotel Kieler Yachtclub mit Vize weniger angetan. Rühe bekenne sich viele Feinde gemacht. Vielleicht wird er Vzehnminütiger Verspätung und zu wenig zur CDU und kritisiere zu viel, sogar wie Schmidt scheitern – an der Un- spürbarem Unbehagen. Unter imposanten lautet der Vorwurf. „Manchmal hat man willigkeit, vielleicht auch Unfähigkeit, Marine-Ölschinken haben sich rund hun- den Eindruck, der hat mit der CDU gar Truppen zu sammeln. dert grauhaarige Damen versammelt und nichts zu tun“, stichelt ein Fraktionsvize. Natürlich bestreitet Rühe, dass er nach mustern den schleswig-holsteinischen Den Gescholtenen ficht das nicht an. Er einem Sieg in Schleswig-Holstein Partei- CDU-Spitzenkandidaten mit strengem weiß, dass zwischen seinen Ambitionen chef oder Kanzlerkandidat werden will. Blick. Er sei halt im Hauptberuf noch in und seinem Rückhalt in der Partei eine Das gehört zum Spiel. „Ich mach das hier Berlin, sagt Rühe entschuldigend.Wäre ich Lücke klafft – und das ist Absicht. Rühe echt gerne“, versichert der Kandidat, wenn doch da geblieben, sagt sein Gesicht. setzt auf die Methode Schröder. Den hat er sich auf den Halligen vor der Westküste Doch der Weg zurück zur Macht im die Partei auch nie geliebt, trotzdem kam über die Probleme der Bauern mit der Ma- Bund, diese Parole hat CDU-Chef Wolf- sie nicht um ihn herum. „Wer gebraucht germilchstützung informiert oder beim To- gang Schäuble ausgegeben, führt über wird, wird gerufen“, hat Rühe mal gesagt. maten-Abwiegen im weißen Kittel Volks- den Erfolg in den Ländern. Also steht Den Vergleich mit dem Kanzler schätzt nähe im Spar-Markt demonstriert. Rühe, 57, jetzt hier und erklärt dem der CDU-Kandidat allerdings gar nicht.Al- Wieso auf einmal so viel Regionalpa- Deutschen Frauenring geduldig, warum er lenfalls bei oberflächlicher Betrachtung triotismus bei einem, den zeitlebens nur das Frauenministerium auflösen will: „Ich gebe es Ähnlichkeiten im Typus. Intellek- die großen Themen interessiert haben? Die will lieber starke Frauen im Kabinett als tuell fühlt Rühe sich dem Niedersachsen Antwort fällt verräterisch aus. Entschei- ein symbolisches Ressort ohne Einfluss.“ überlegen. Lieber vergleicht er sich mit ei- dend, so Rühe, sei für ihn bei allen Themen Am Ende bekommt er anerkennenden nem anderen Nordlicht, dem früheren das strategische Interesse. Beifall. Kanzler Helmut Schmidt. Sorgsam pflegt er sein Draufgänger- In dessen legendärer Freitagsgesell- Image, zuweilen übertrifft er dabei seine ei- * Im August bei der Überfahrt zur Hallig Oland. schaft, einem erlesenen Zirkel aus Künst- gene Karikatur. Rühe wandert nicht, er

42 der spiegel 47/1999 macht Powerwalking. Er lacht nicht, er bellt despartei. Um sich als liberales Gegenge- Und in Nordrhein-Westfalen, als mit- wie J. R. Ewing. Er schwärmt für Heming- wicht zur mächtigen Südachse um Bayerns gliederstärkstem CDU-Landesverband ein way-Typen und sagt Sätze wie: „Die brau- Regierungschef Edmund Stoiber zu posi- gewichtiger innerparteilicher Machtfaktor, chen mich in Schleswig-Holstein. Ich hab tionieren, vertritt Rühe seine Meinung un- führt Rüttgers den Vorsitz: Von ihm darf einen ziemlich großen Hebel.“ gehemmt und nicht selten gegen die Partei. Rühe keine Unterstützung erwarten – die Er kann aber auch anders – wenn er will. Erst setzte er sich gegen Stoiber für ein beiden können sich nicht ausstehen. Dann redet der ehemalige Gymnasialleh- großzügigeres Staatsbürgerschaftsrecht Vorerst allerdings beschäftigen den rer für Englisch über William Faulkner, lobt ein, dann wies er den nordrhein-westfäli- Wahlkämpfer ganz andere Sorgen. Die die niveauvolle Atmosphäre des schmidt- schen CDU-Chef Jürgen Rüttgers wegen Spendenaffäre um den ehemaligen CDU- schen Debattierclubs und beichtet, dass er dessen Forderung nach einem seinem Kater Nudel ein Glöckchen um den moderneren Gesellschaftsbild Hals gebunden hat, wegen der Vögel. zurecht. Schließlich forderte So bewusst wie Rühe seinen massigen er zum Missfallen Schäubles Leib zur Einschüchterung nutzt, führt er eine Große Koalition der Ver- auch die „Raue Schale, weicher Kern“- nunft, zuletzt hielt er seiner Nummer vor. Und er beherrscht, wie Schrö- Partei Gestrigkeit im Umgang der, das Spiel mit der Medienmacht. Die mit der PDS vor und watsch- „Panzerbilder“ aus der Zeit als Verteidi- te den Rote-Socken-Peter gungsminister müssten nun alle weg, ord- Hintze ab. nete Rühe nach seiner Nominierung für Kiel Die Mehrheit der Bundes- an: „Jetzt brauchen wir was anderes.“ Die spitze ballt beim Gedanken an neuen Bilder zeigen den Herausforderer in den Vize immer öfter die Faust Kapitäns-Pose mit Fernglas und Weitblick. in der Tasche: „Er muss auf-

Um Ministerpräsidentin Heide Simonis passen, dass er nicht über- K.-B. KARWASZ (SPD) zu besiegen, hat sich Rühe sogar zieht“, sagt ein Mitglied der Altkanzler Schmidt, Kandidat Rühe*: Vorbild mit Niveau eine Charmeoffensive verordnet und will Fraktionsführung. damit Wählerinnen gewinnen. In einer ge- Denn der unerwartete Aufschwung sei- Schatzmeister Walther Leisler Kiep gibt heimen Sitzung hatten die Frauenbeauf- ner Partei in den letzten Monaten könnte Grünen und SPD Anlass, nach der Rolle tragten Schleswig-Holsteins eine Kampa- Rühes Karriereplanung gefährden. Sah es des damaligen Generalsekretärs zu fragen. gne gegen Rühe und für Simonis erwogen. noch vor einem Jahr so aus, als würde die Bisher sind keine Belege dafür auf- Sogar die passenden Slogans waren schon Wahl in Schleswig-Holstein die erste er- getaucht, dass Volker Rühe etwas über die entworfen: „Lasst uns in Rühe“ oder folgreiche nach einem jammervollen Op- unsauberen Geschäfte der CDU-Finanzer ,„Frauen wählen Sie(monis)“. Das traf den positionsjahr sein, können sich nach den wusste. Doch in Schleswig-Holstein rea- Mann: „Ich finde, so sollten wir nicht mit- CDU-Erfolgen in Hessen, im Saarland, in giert man seit Uwe Barschels gebroche- einander umgehen.“ Berlin und Brandenburg viele mit dem nem Ehrenwort auf Polit-Affären beson- Das vorübergehend erzartete Raubein Glanz des Siegers schmücken. ders empfindlich. Schon wird in Berlin die gibt lieber Herzensware zum Besten wie Stoiber ist zwar nach der LWS-Affäre Sorge laut, die „Kiep-Sache“ könnte den seine Jugendliebe mit der TV-Ansagerin angeschlagen, dafür scheint CDU-Chef sicher geglaubten Sieg in Kiel noch torpe- Dagmar Berghoff („Ja, wir haben uns mal Schäuble unerwartet klar vorn zu liegen. dieren. geliebt“). In dieser Woche lassen es die Derzeit, so die Einschätzung in Fraktion Dann hätte Volker Rühe zu hoch ge- einstigen Turteltauben in der „Johannes B. und Partei, laufe in der Frage der Kanzler- pokert. Wenn er in Schleswig-Holstein Kerner-Show“ menscheln. kandidatur alles auf den Badener hinaus. verliert, das weiß der erfahrene Politiker Eine Strategie der kalkulierten Zumu- genau, „dann bin ich weg aus der ersten tung verfolgt Rühe gegenüber der Bun- *Am vergangenen Mittwoch in Hamburg. Reihe“. Tina Hildebrandt Deutschland

stand da wie geohrfeigt“, erinnert sich Zimmer. Dabei kennen sich die beiden aus DIPLOMATEN gemeinsamen Washingtoner Tagen. Am 9. November drängte Kornblum gar den deutschen Parlamentspräsidenten ins Imperiale Nostalgie Abseits. Kaum hatte Wolfgang Thierse (SPD) den amerikanischen Ex-Präsidenten Mit Starrsinn und rüdem Ton strapaziert US-Botschafter George Bush am Osteingang zum Reichs- tag begrüßt, schob sich der schwergewich- John Kornblum das deutsch-amerikanische tige Botschafter dazwischen, wandte Thier- Verhältnis. Schon wird darüber spekuliert, wann er Berlin verlässt. se den Rücken zu und geleitete Bush zur Mauerfall-Feierstunde ins Parlament: ohn Kornblum hat seit gut zwei Jahren „Here we go, Mr. President.“ seinen Traumjob. Als amerikanischer Der US-Botschafter verliert häufiger JBotschafter „die US-Fahne wieder die Contenance, seit er sich in einem Kon- nach Berlin zu bringen, das ist doch was flikt verheddert hat, den er nicht gewinnen Besonderes“, schwärmte Kornblum, des- kann – selbst wenn er sich in der Sache sen Großeltern aus Ostpreußen nach Ame- durchsetzen sollte. Unnachgiebig besteht rika ausgewandert waren, noch im August. Kornblum darauf, dass rund um den ge- Doch das scheint lange her. Seit Mona- planten 150-Millionen-Dollar-Neubau der ten wirkt der Karrierediplomat mit der amerikanischen Botschaft am Pariser Platz eindrucksvollen Statur und dem Silberhaar direkt neben dem Brandenburger Tor ein vergrätzt. Wenn er heute überhaupt noch Sicherheitsabstand von 30 Metern zum über die Deutschen spricht, dann meistens Straßenrand eingehalten werden muss nicht besonders nett. Und kriegt er mal ei- (SPIEGEL 5/1999). nen von ihnen direkt zu fassen, endet das Dafür müssten eigens zwei wichtige Ver- schnell im Streit. kehrsadern um diverse Meter „ver-

Einer Runde amerikanischer Journalis- AFP / DPA schwenkt“ werden. Niemand spricht den ten, die auf Tour in Berlin waren, teilte er Karnevalist Kornblum* USA ihr Sicherheitsbedürfnis ab, auch ist unlängst düster mit, die undankbaren „Here we go, Mr. President“ der exklusive Ort, direkt neben dem Sym- Deutschen verfielen „allmählich in Groß- bol der deutschen Einheit, allgemein ak- machtgehabe“. Genervt beschwerte er sich seinen GI“, erinnert sich Bölling. Damals zeptiert. Gegen den gewaltigen 30-Meter- Ende Oktober in der „New York Times“ patzte der für seine vornehme Zurückhal- Kordon im Herzen Berlins gibt es aller- über „diese ständigen Schmähreden in der tung bekannte Bölling zurück: „Passen Sie dings berechtigte Einwände. Presse über die arroganten Amerikaner“. mal auf, dass Sie in Berlin nicht noch un- Kein Kompromissangebot konnte Korn- Einen der so gescholtenen deutschen beliebter werden.“ blum bisher zufrieden stellen. Dabei war Journalisten knöpfte sich Kornblum per- In München fertigte Kornblum Uwe eine Delegation der Berliner Senatsver- sönlich vor: „Sie sind nicht souverän“, Zimmer ab, den Chefredakteur der Boule- waltung von einer Dienstreise nach Wa- schnauzte der Botschafter den ehemaligen vardzeitung „AZ“. „Solche Blätter lese ich shington mit der Nachricht zurückgekom- deutschen Regierungssprecher Klaus Böl- nicht“, beschied er Zimmer kühl auf ei- men, im State Department könne man sich ling (SPD) lautstark in einem feinen Berli- nem Empfang im amerikanischen Konsulat durchaus vorstellen, am Pariser Platz eine ner Lokal an – „wie ein Army-Sergeant – und wandte sich kurzerhand ab. „Ich symbolische Repräsentanz zu errichten, während der eigentliche Bot- schaftsbetrieb – mit 500 Mit- arbeitern – in einem separa- ten Gebäude im traditionel- len Diplomatenviertel am südlichen Tiergarten anzu- siedeln sei. Offensichtlich hatte Korn- blum mit öffentlichem und gar offiziellem Widerspruch gegen seinen bombastischen Plan nicht gerechnet. Außer sich geriet der Diplomat, als ihn Berlins Regierender Bür- germeister Eberhard Diep- gen (CDU) Anfang Oktober in einer kleinen Ansprache zur Eröffnung der 1000. deut- schen McDonald’s-Filiale am Treptower Park etwas flap- sig, aber sichtlich um Ent- spannung bemüht, fragte, ob

* Oben: bei der Verleihung des Kar- nevalsordens „Wider den tierischen Ernst“ am 30. Januar; unten: vor der

DPA vorläufigen US-Botschaft in Berlin Diplomat Kornblum*: Überlebender einer untergegangenen Epoche (1998).

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Werbeseite Deutschland man „denn am Pariser Platz, an dem wir Genüsslich wurde in Berlin registriert, die amerikanische Botschaft bauen, auch dass Peter Robinson, Redenschreiber des noch mit McDonald’s was machen“ könne? Präsidenten Ronald Reagan, enthüllte, er Kornblum, Träger des Aachener Karne- selbst habe Reagan den Satz „Mr. Gorba- valsordens „Wider den tierischen Ernst“, tschow, reißen Sie diese Mauer nieder“ ge- verstand diesmal keinen Spaß. „Diesen Ort gen den ausdrücklichen Wunsch Kornblums haben wir 40 Jahre lang verteidigt“, ent- ins Manuskript geschrieben. Bis dahin hat- fuhr es dem beleidigten Diplomaten. te sich Kornblum stets damit gebrüstet, Ur- Wenig später, bei der Einweihung des heber des berühmten Satzes zu sein. „Transatlantic Center“, belehrte er seine Dass aus einer Lokalposse um ein Bau- Zuhörer, das wiedervereinigte Deutsch- projekt längst ein Konflikt von hoher Sym- land brauche noch einige Zeit, bis es auf dem inter- nationalen Parkett „den richtigen Ton“ treffe. Genau dieses Defizit je- doch bemängeln viele, die häufig mit Kornblum zu tun haben oder ihn noch aus der Zeit kennen, als er – von 1985 bis 1987 – stellver- tretender US-Kommandant von Berlin war. „Der ver- wechselt sich mit dem Vi- zekönig von Indien“, meint Bölling. Kornblum sei pro- totypisch für die amerikani- sche „arrogance of power“.

Selbst amerikanischen AP Landsleuten fehlt Ver- Botschafter Kornblum*: „Sie sind nicht souverän“ ständnis für die Halsstar- rigkeit ihres Repräsentanten. Der ame- bolkraft wurde, hat viel damit zu tun, dass rikanische Soziologieprofessor Norman Kornblum die Kritik an seinem Bot- Birnbaum, der Kornblum lange kennt, hält schaftsplan und vor allem an seinem Stil of- für „möglich“, dass „John unter einer fenbar als deutsche Undankbarkeit und Krankheit leidet“, die nur schwer zu hei- Ausdruck des latenten Anti-Amerikanis- len sei: „Sie heißt ‚imperiale Nostalgie‘ mus missversteht. und stammt aus dem letzten Jahrhundert.“ Ob Berlin nicht bereit sei, die amerika- Seinen etwas groben diplomatischen Schliff nische Botschaft ausreichend zu schützen, bekam der Botschafter im Kalten Krieg. fragte er unlängst in kleiner Runde, ob- „In mancher Hinsicht ist Kornblum der wohl die USA Berlin jahrzehntelang ge- Überlebende einer untergegangenen Epo- schützt hätten. Berlin müsse erst lernen, che“, fürchtet Birnbaum. dass es in seiner neuen Rolle als Hauptstadt Nachdem Kornblum das deutsch-ame- auch Pflichten übernehmen müsse, be- rikanische Verhältnis derart hat abkühlen lehrte er deutsche Zuhörer. lassen, gibt es in Berlin quer durch die Derartige Maßregelungsversuche emp- politischen Lager immer weniger Hem- finden lokale Politiker zunehmend als Be- mungen, Geschichten über John auszu- lastung. Im Abgeordnetenhaus kursierte graben. In seiner Zeit als stellvertretender vergangene Woche schon das Gerücht, Stadtkommandant von Berlin etwa habe Kornblum sei wegen seiner Sturheit im Washingtoner State Department längst „Kornblum verwechselt „under dispute“. Im US-Außenministerium sich mit dem hält man den Botschafter jedenfalls „eher für einen Teil des Problems als die Lö- Vizekönig von Indien“ sung“.Auch Kornblums Sprecher Paul Bra- zell weiß, dass „viele Abgeordnete hoffen, Kornblum den komplizierten Besatzungs- dass Kornblums Amtszeit mit Clintons status gelegentlich als Instrument ver- Amtszeit endet“. Das dementiert derzeit standen, um die Deutschen in Schach zu niemand. halten, erinnert sich ein ehemaliger Se- Kornblums Landsmann Birnbaum je- nator. Kurz nach dem Fall der Mauer habe doch sieht erheblichen Anteil für den Kon- er seinem russischen Kollegen bedeutet, flikt auch auf deutscher Seite. Wenn ein dass die Kontrolle der Deutschen doch amerikanischer Diplomat glaube, sich nicht bisher gut funktioniert habe, berichtet ein an die klassischen Tugenden der vorneh- anderer. men Zurückhaltung und des Einfühlungs- vermögens halten zu müssen, dann sei das auch „die Konsequenz aus zwei Genera- * Mit Außenminister und Kanzler Ger- hard Schröder am 23. November 1998 bei einem Emp- tionen deutscher Unterwürfigkeit – be- fang für das diplomatische Korps in Bonn. sonders in West-Berlin“. Jürgen Hogrefe

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PRESSEFREIHEIT Die Laus in der Redaktion Unter dem Vorwand des Datenschutzes will Bundesinnenminister Otto Schily das Redaktionsgeheimnis knacken. Politiker wie Bürger sollen fast ungehinderten Einblick in Material bekommen, das Journalisten über sie sammeln und archivieren.

it dem Datenschutz haben Jour- nalisten traditionell viel mehr Er- Mfahrung, als der Obrigkeit lieb sein kann. Die meisten haben bewährte Ver- stecke, vertrauliche Dossiers gegen den Zu- griff von oben zu schützen. Die geheimen Akten über das misslun- gene Nato-Manöver „Fallex“ etwa waren im Küchenschrank des Redaktionssekreta- riats abgelegt, getarnt mit einem karierten Handtuch, so clever nun auch wieder nicht. Die Polizeikräfte, die das Pressehaus durchsuchten, fanden den vertraulichen Datensatz schnell, nahmen sogar das Küchentuch mit: Das war die SPIEGEL- Affäre von 1962. Seitdem sind die Verstecke besser und die Dateien kleiner geworden. Die Disket- te etwa, die 1997 ein Informant mit den Daten von mehreren hundert Steuerflüch- tigen und deren Verbindungen zu liech- tensteinischen Treuhändern in der Redak- tion ablieferte, wurde Gegenstand eines SPIEGEL-Titels (51/1997) und ist nun so einfach nicht mehr aufzufinden.

Doch ausgerechnet unter der freiheitli- M. DARCHINGER chen Flagge des Datenschutzes ist jetzt Otto Innenminister Schily, Datensammlung im SPIEGEL-Archiv, Titel zur SPIEGEL-Affäre (45/1962): Schilys Innenministerium dabei, Redak- tionsgeheimnisse besser durchschaubar zu Behörde, wolle das SPD-Ministerium of- len nun auch Privatunternehmen ver- machen. Jeder Politiker und jeder Bürger, fenbar den Redaktionen „eine Laus in den pflichtet werden – etwa die Banken oder der sich betroffen fühlt, soll künftig erfah- Pelz“ setzen.Wanze oder Laus: Der Deut- die Versicherungen. ren können, was über ihn bei Zeitungen, sche Presserat sieht im Entwurf den Plan Für die Presse sieht die Richtlinie aber Sendern und in Pressearchiven so recher- einer „verfassungswidrigen Zensur“. Ausnahmen vor. Denn der Umgang der chiert, geschrieben und gesammelt wird. Schily kontert solche Vorwürfe mit Ver- Journalisten mit Namen, Daten und Fakten Nach einem Referenten-Entwurf aus dem weis auf Brüssel. Die europäische Daten- ist nur schwer vergleichbar mit der Daten- Berliner Innenministerium muss die Presse schutzrichtlinie von 1995 begründe „die verarbeitung bei der AOK. Das Sammeln, künftig Rechenschaft über ihre Informatio- Notwendigkeit, den Kreis der auf die Me- Sortieren und Verbreiten von Informatio- nen geben. Und damit da keine Dossiers im dien anzuwendenden Vorschriften“ des nen über Leute ist nicht eine bedenkliche Küchenschrank verschwinden, soll ein Da- Datenschutzes „zu erweitern“. Die „bis- Begleiterscheinung der Medienarbeit, son- tenschutzbeauftragter in den Redaktionen herige Rechtslage“, nach der die Medien dern deren – zwar lästige, aber verfas- für Sicherheit und Ordnung sorgen. weitgehend verschont worden waren, las- sungsmäßig geschützte – Hauptaufgabe. Der Entwurf soll schon in den nächsten se sich, leider, nicht aufrechterhalten. Die Grundsätze der Datenerhebung – Wochen vom Kabinett beschlossen wer- Die alte Bonner christlich-liberale Regie- journalistisch: Recherche – passen denn den: Nach der gescheiterten Einführung rung hatte lange Jahre gezögert, die auch nicht so recht zum Berufsbild des bra- des Lauschangriffs auf Redaktionsstuben EU-Richtlinie mit einer Novelle des Daten- ven Redakteurs: möglichst wenig aufzu- Schilys zweiter Versuch, der Presse hinter- schutzgesetzes umzusetzen, weil die Brüs- schreiben (Grundsatz der Datenvermei- herspionieren zu lassen. seler Vorgaben etwas weit gehen. Daten- dung), vorher jedermann um Erlaubnis zu Doch diesmal stößt der Innenminister schutz dient danach nicht mehr einfach fragen (Pflicht zur Erhebung beim Betrof- auf Widerstand selbst bei den Datenschüt- dem „informationellen Selbstbestimmungs- fenen) und das einmal Notierte möglichst zern, auf deren Ziele er sich beruft. „Es recht“, das nach dem Volkszählungsurteil bald wieder wegzuwerfen (Einhaltung von kann nicht angehen“, warnt Joachim Jacob, des Verfassungsgerichts den Bürger vor Löschungsfristen). der Bundesdatenschutzbeauftragte, seinen staatlicher Ausforschung schützen soll. „Nur sehr vorsichtig“, sagt der Frank- Minister, unter Vorwänden „die Presse an Die Brüsseler Richtlinie behandelt Da- furter Datenschutzexperte und Rechtspro- die Leine zu legen“. tenschutz als ein Problem, das jeder mit je- fessor Spiros Simitis, der die EU-Kommis- Mit dem Redaktions-Datenschutzbeauf- dem hat. Auf den verantwortungsvollen sion bei der Schöpfung der Richtlinie be- tragten, so heißt es inoffiziell in Jacobs Umgang mit Personeninformationen sol- riet, dürfe die Brüsseler Regelung auf die

50 der spiegel 47/1999 Medien angewendet werden. Und gerade- nächst droht. Ob Walther Leisler Kiep, ob mäßigen Redakteuren anstellen darf, ist zu feinfühlig waren denn auch die Ent- Bodo Hombach oder vielleicht eines Tages ungeklärt. Den Gesetzesautoren ist (noch) würfe der Kohl-Koalition. Nur winzige Otto Schily: Wer auch immer zum Gegen- nichts Geeignetes eingefallen. Retuschen an dem traditionellen bundes- stand wiederholter Affären-Berichterstat- Nur einem Beschwerdebrief des Deut- deutschen „Presseprivileg“ im Daten- tung wird, bekommt Zugriff auf die Schreib- schen Presserats, der die wirre Regelung als schutzgesetz sah der Entwurf vor, den tische der verantwortlichen Redakteure. Erster monierte, ist es zu verdanken, dass Schily vorfand, als er die Macht im Hause Die Versuchung, sich mit Hilfe einer Schily persönlich und schriftlich versprach, seines CDU-Vorgängers Manfred Kanther großzügigen Auslegung der neuen Vor- noch Schlimmeres zurückzunehmen: Die übernahm. schriften über die SPIEGEL-Dokumenta- Befugnis des Datenschutzbeauftragten, Doch dann entstand – aus der Feder der- tion herzumachen, ist groß: Knapp 600000 „jedermann“ ohne weiteres auf Anfrage selben Fachkräfte, die zuvor in Kanthers Personen-Dossiers lagern im Glas-Pavillon über die Arbeit der Redaktion Auskunft Auftrag formuliert hatten – ein Horrortext, an der Brandstwiete, und ein paar hundert zu geben, wurde schnell wieder aus dem Entwurfstext getilgt. Doch Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns ist nur wenig besänftigt: „Dem Pressewesen allgemein und dem Redak- tionsalltag in der Presse im Speziellen ist die Beaufsichtigung durch einen internen Re- daktions-Datenschutzbeauftragten fremd.“ Der Frankfurter Datenschützer Simitis ist da weniger fein: Die Übernahme der EU-Vorgaben sei „überhaupt nicht durch- dacht“. Nichts von alledem, was Schilys Experten sich da ausgedacht haben, lasse sich aus der EU-Richtlinie folgern. Im Eifer, es besonders clever zu machen, versuchten Schilys Reformer, den vorher- sehbaren Ärger mit den Medien auf die Län- der abzuwälzen. Die schlimmen Stellen im Reformentwurf sind als Rahmenregelung gefasst: ein zwingender Auftrag an die Bun- desländer, in ihren Landespressegesetzen gleich lautende Vorschriften zu erlassen. Doch der Trick mit dem Bundesrahmen für den Länder-Ärger bringt weiteres Unheil. Mit der Rahmenregelung für die Gesetz- gebung der Länder ist nämlich zugleich die Klausel im Datenschutzrecht gestrichen, in

R. FROMMANN der die Medien weitgehend von bundes- Presse an die Leine rechtlichen Restriktionen verschont wur- den. Zumindest ein übereifriger Daten- der selbst unter Beratern des davon sind es, die Woche für schutzbeauftragter kann, wenn wahr wird, Ministers Kopfschütteln aus- Woche der Berichterstattung was Schily plant, das Gesetz beim Wort löste. „zu Grunde liegen“.Allein für nehmen und eine Reihe weiterer Schika- Der Paragraf 41 des Reform- diesen Bericht sind es mehr als nen an den Redakteuren ausprobieren. entwurfs sieht vor, dass zehn. Recherchen stehen dann unter General- „jemand“, der durch eine Ver- Alle Redaktionen und Ar- vorbehalt datenschutzrechtlicher Geneh- öffentlichung betroffen ist, chive werden zudem nach migung. „Auskunft über die der Be- Schilys Entwurf unter die Auf- „Bedenken und Anregungen“ zu dem richterstattung zugrunde liegenden, zu sei- sicht eines Datenschutzbeauftragten ge- Gesetz, beschied Schily Kritiker ungerührt, ner Person gespeicherten Daten“ und ge- stellt. Den dürfen sich die Medienunter- könnten ja noch im Parlament geltend ge- gebenenfalls „Berichtigung unrichtiger Da- nehmen zwar selber aussuchen, er arbeitet macht werde. Doch nur leise regt sich Wi- ten“ verlangen kann. Journalisten können aber völlig unabhängig vom Chefredak- derstand bei den Parlamentariern. Der der Forderung, ihre Recherche-Unterlagen teur und untersteht allein der Geschäfts- SPD-Datenexperte Jörg Tauss verspricht, herauszurücken, nur entgehen, wenn sie führung. „über den Entwurf noch einmal zu reden“. damit ihren Informanten verraten müssten. Ein Problem der inneren Pressefreiheit: Vielleicht macht wenigstens der grüne Me- Vorbild für diese Vorschrift sind ähnliche Der Unternehmensvorstand, nicht die dien-Mann Cem Özdemir ein paar Schwie- Regelungen in den Rundfunk-Gesetzen der Chefredaktion, bekommt so einen Kom- rigkeiten: „In den Redaktionen“, hat er er- Länder, die bislang aber kaum jemand missar, der sich drohend vor jedem Re- klärt, „hat niemand außer den Redakteu- kannte. Denn die meisten dieser Länder- porter aufbauen kann: „Was machen Sie ren etwas zu suchen.“ Regelungen enthalten zusätzlich eine sehr da eigentlich? Sind Sie überhaupt befugt, Einerseits hat Özdemir nun das Ver- weite Ausnahmeklausel. Danach müssen Daten über den deutschen Innenminister sprechen des deutschen Innenministers, Unterlagen nicht vorgelegt werden, wenn auf Ihrem Notizblock aufzuzeichnen?“ „selbstverständlich“ werde mit dem neuen „durch die Mitteilung die journalistische „Raus!“ Gesetz die „Pressefreiheit nicht beein- Aufgabe durch Ausforschung des Informa- Dann wendet sich der Redaktions- trächtigt“. Andererseits ist da, ungelöscht, tionsbestandes beeinträchtigt würde“. Blockwart an die „Aufsichtsbehörde“, eine in den Dateien der Zeitungsleute, was Schi- Ausforschung ist es, was der Journaille Art Landesschrifttumskammer. Wie diese ly bemerkte, als es um den Lauschangriff nach dem Schily-Entwurf, der eine solch Behörde gebildet wird und was sie „in ging: „Für Journalisten steht nichts im weitherzige Ausnahme nicht vorsieht, dem- Zweifelsfällen“ (Entwurfstext) mit unbot- Grundgesetz.“ Thomas Darnstädt

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Werbeseite C. SCHROTH Traditions-Café „Kranzler“ am Kurfürstendamm, Bürozentrum Friedrichstraße: „Die ehemals saturierten Westler befinden sich in der Schockstarre,

HAUPTSTADT Zur Spekulation freigegeben In Berlin drängt, wer auf sich hält, nach Osten. Der Kurfürstendamm hingegen, jahrzehntelang ein Spiegelbild der Gesellschaft des alten West-Berlin, verliert seinen Charme. Auf der Edelmeile beginnt der Kampf um das schnelle Geld.

er rosafarbene Velours auf den Bän- alte Eleganz und neue Morbidität der 53 toria-Areal“, einem monströsen Palast aus ken des Berliner Abendrestaurants Meter breiten und 3459 Meter langen Edel- Glas, Stahl und Beton am Kranzler-Eck, ist D„Kopenhagen“ ist ein wenig blass, meile mehr als die Geschichte des Lokals der Besitzer, eine Schweizer Holding, nicht Lampenschirme verströmen mildes Licht. mit der runden, rot-weißen Markise. interessiert. „Vorbei“, sagt „Kranzler“-Ge- Hier, im Wohnzimmer der Stars der alten Ins „Kranzler“ auf dem ehemals größten schäftsführer Dieter Eßling, 50, der nun ei- Bundesrepublik, feiern Diven und Macht- Kaffeehaus-Boulevard Europas zu gehen nen neuen Job sucht, „wir sind ein Fossil.“ menschen den Herbst ihrer Karrieren. war stets ein Ereignis – in den Roaring Über Jahrzehnte lebte die Berliner Ge- Ex-Bundespräsident Walter Scheel zählt Twenties, als es Café „Schilling“ hieß, wie sellschaft in einer symbiotischen Bezie- zu den Stammgästen und Hans-Dietrich zu Hitlers Zeiten, als die Serviererinnen hung mit der alten Prachtstraße. Wer wis- Genscher, wenn er in der Stadt ist. Die braune Taftkleider mit großen weißen sen wollte, wie die Stadt von Marlene Diet- Kessler-Zwillinge, Inge Meysel und Ma- Schürzen trugen. rich, Bert Brecht, Ernst Reuter oder Willy rianne Hoppe, eine der allerletzten Ufa- Ins „Kranzler“ zog es Intellektuelle und Brandt tickte, erfuhr es bei einem Bum- Größen, schreiten das Lokal am Kurfürs- Stars der Vorkriegszeit ebenso selbstver- mel über den Ku’damm. tendamm nachts wie eine Bühne ab. ständlich wie Nazi-Größen oder in den Und so wie in der Gesellschaft das Alt- „Es gibt keine Gnade“, sagt Restaurant- aufstrebenden Fünfzigern die Wohlstands- modische, das Charmante verschwindet, besitzer Peter Hilpold, 54. Mitte Dezember bürger. Zuletzt lebte das Kaffeehaus, ange- so verliert nun auch das steinerne Spiegel- ist Schluss mit dem „Kopenhagen“ – nach staubt und tantig, mehr von seinem legen- bild seine Faszination. 48 Jahren. Hilpold, seit 30 Jahren dabei, dären Ruf, der Treffpunkt Berlins zu sein. Das schnelle Geld wird wie schleichen- kann die geforderte Miete nicht mehr be- Rundherum haben jetzt Coffee-Shops des Gift in den Boulevard gepumpt, der zahlen. Ab Januar 2000 wird hier ein Mer- und eine Yuppie-Suppen-Bar eröffnet, nach damit zur Spekulation freigegeben wird. cedes-Filialist in den umgebauten Räumen New Yorker Vorbild: kleine Räume, schnel- Wo einst die Bohème zu Hause war, tum- Luxuskarossen präsentieren. ler Umsatz. Das Großcafé „Kranzler“, meln sich Glücksritter und Totengräber. Zwei Ecken weiter den Ku’damm hinauf zweigeschossig, 350 Sitzplätze, 80 Ange- „Die Ära des alten West-Berlin ist zu wird im März 2000 das weltberühmte Café stellte, rechnet sich dagegen nicht mehr. Ende“, sagt der Inhaber des Designer-Mo- „Kranzler“ schließen. Nichts symbolisiert Auch an einem Neuanfang im neuen „Vic- degeschäfts am Kurfürstendamm, David

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die vielfach auch originale West-Berliner betreibt, berichtet von einer ungewöhnli- sind. Dabei vergessen sie, dass die Neu- chen Stadtflucht. Der vornehme Berliner Metropole in den letzten Jahren des Kalten („Für die Kurfürstendamm-Besucher müs- Kriegs in eine Art Koma gefallen war, aus ste man ja die Münchner Altkleiderhilfe dem sie dann die Wende rüde aufweckte. um Unterstützung bitten“) sei ohnehin nur Die Prachtmeile – Mitte des 16. Jahrhun- noch in Hamburg beim Einkaufen, in Paris derts als kurfürstlicher Reitweg zur Jagd in beim Amusement oder in New York mit den Grunewald angelegt und 1873 auf An- der Freundin anzutreffen – „nur nie in Ber- ordnung des Reichskanzlers Otto von Bis- lin“. Zumindest nicht in West-Berlin. marck zur repräsentativen Flaniermeile aus- Der Westen ist out. „Der Spirit geht nach gebaut – lebte noch gut vom ersten Rausch Osten“, erkannte Modemann Kramberg, nach dem Mauerfall. Erst kamen die Ost- den es aus geschäftlichen Gründen selbst deutschen, dann die reichen Russen, doch Richtung Mitte drängt. seit Mitte der Neunziger geht es bergab. Wer etwas vor hat im Leben, geht in den Da ist der Pelzhändler Udo Heiler, 59, jungen Osten. Dienstleister, Rechtsanwäl- der über Knebelverträge und „explodie- te, Steuerberater, Immobilienhändler mit rende Mieten“ seit dem Mauerfall klagt – tatsächlicher oder nur eingebildeter Zu- bei bestenfalls gleich bleibenden Einnah- kunft zieht es nach Mitte, die Regierungs- men. Am Europa-Center, Berlins erster macht und die Medien sind schon da. Auch Shoppingmall gleich neben der Gedächt- die meisten Banken haben für ihre stolzen niskirche, zieht ein Großmieter nach dem Berlin-Dependancen einen Standort öst- anderen aus. In den Siebzigern galt das lich des Brandenburger Tors gewählt. Gebäude als städtebauliche Sensation Rational ist der Sog des Ostens kaum zu schlechthin, heute ist es von gestern. erklären: Hier ist es immer noch schmutzig, Udo Walz, 55, der prominente Kiez-Fri- schon wieder teuer und durch die Bauar- seur will nichts Schlechtes sagen über den beiten meist dröhnend laut. Die Friedrich- Gang der Geschäfte, schon aus Prinzip. straße, eine aus dem Boden gestampfte Außer vielleicht, dass die Frauen früher Büro- und Einkaufsmeile mit ein paar lu- wöchentlich zum Waschen und Föhnen ka- xuriösen Geschäften wie im „Quartier

F. OSSENBRINK F. men, heute aber nur noch zum Färben und 206“, verfügt längst nicht über so viele sie wissen nicht mehr, wie es geht“ Schneiden einmal im Monat. Cafés und Restaurants mit eigenem Flair Früher zählten Kunden der Mode- und wie der Ku’damm. Und rundherum, in den Kramberg, 53. Die Messingrollos seines La- Schmuckläden vom Kurfürstendamm meist Wohngebieten von Mitte, gibt es meist we- dens hat er schon vor ein paar Wochen zur besseren Gesellschaft der südwestlichen der Schuster noch Bäcker um die Ecke. heruntergelassen. „Kramberg“ war Kult. Vororte – reiche Männer, darunter jede Kaum ein Investorenprojekt macht Ge- Als er 1978 eröffnete, eine weiße Halle Menge Baulöwen, und deren teure, präten- winn, und fast alles gehört den Banken.Auch mit exklusiven Rundbögen an der Decke, tiöse Frauen. Heute, nach den riskanten verdient wird nicht auf der Friedrichstraße, brachte er den ausgeflippten Schick der Immobiliengeschäften der letzten Jahre, sondern im Westen: Durchschnittlich 13275 Designerwelt ins eingeschlossene West- sind potente Jetsetter vom Bau „deutlich Shopper pro Stunde sind samstags auf dem Berlin: Gucci, Versace, Yamamoto. Jetzt seltener“ geworden, hat der Schmuckhänd- Tauentzien, der Verlängerung der Edelmei- sind die großen Labels mit ihren Glitzerlä- ler Ronald Sedlatzek, 34, Juwelier in der le zum Kaufhaus des Westens (KaDeWe), den selbst gekommen – Jil Sander, Prada, dritten Generation, festgestellt. unterwegs. Selbst auf dem Kurfürstendamm Hermès –, zeigen Flagge in der Hauptstadt. Und der Klatschkolumnist Michael sind es noch 7335 – und damit siebenmal Seit die neue Welt nach Berlin aufbrach, Graeter, 57, der seit Sommer vergangenen mehr als auf der Friedrichstraße. stirbt die alte „Insel im Strom“. So sehen Jahres auf dem Ku’damm ein schleppend Doch hier im Osten sind die Ideen, hier es die eingefleischten Liebhaber der Stadt, laufendes Zeitungs-Bistro („Extrablatt“) sind die Trends, hier ist der Swing. Im

Verblichene Prachtmeile Östlicher Kurfürstendamm und Tauentzienstraße Spree Bahnhof Zoo Zoologischer Garten

CHARLOTTEN- Zoofenster Gedächtniskirche BURG MITTE TIERGARTEN Breitscheidplatz Ausschnitt Friedrich- straße Kurfürstendamm Europa-Center Victoria Areal Tauentzienstraße WILMERSDORF KREUZBERG Café Kranzler Wittenberg- Kurfürstendamm platz KaDeWe Ku’damm-Karree

Adenauerplatz Kurfürstendamm 100 m Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt

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Osten ist alles frisch.Wer rechtzei- baut, das so genannte Zoofenster. tig kam, konnte hier alles werden. Und der Architekt Josef Paul Klei- Wer wichtig ist in der Gesell- hues legte vergangene Woche ei- schaft, bestimmen nicht mehr die nen Entwurf für sein „Europolis“ alten Platzhirsche des Westens. vor: Nur eine Ecke vom Ku’damm „Manche Cocktailpuper müssen entfernt soll bald das höchste froh sein, wenn sie überhaupt noch Wohnhaus Europas stehen und 300 vorkommen“, sagt David Gold- Meter in den Himmel ragen. berg, 52, Händler exklusiven „Spreehattan“, jauchzt der Präsi- Schmucks am Ku’damm. dent des Bundesbauamts, Florian Im Glauben, dass der Osten die Mausbach. Zukunft ist, sind sich die Berliner, Andere sind da weniger eupho- die sonst am liebsten in ihren bei- risch.Aus dem Edelboulevard wer- den Stadthälften bleiben, einig. Je de eine B-Meile, argwöhnen die jünger die Hauptstädter, so das Er- Kritiker, verwechselbar mit den

gebnis einer Forsa-Umfrage, desto C. SCHROTH Einkaufsstraßen etwa von Essen, stärker sehen sie das prickelnde Neubau in der Friedrichstraße: Irrationaler Sog Köln oder Stuttgart.Wie dort könn- künftige Leben in der City Ost. ten künftig in Berlin wenige viel Heute sind es die West-Berliner Ge- Adenauerplatz, erinnert nur noch wenig Geld verdienen – und das habe in der Re- schäftsleute, die über den Osten jammern an die alte Pracht. Dort entwickelt sich zu- gel Konsequenzen. wie die Ostdeutschen nach der Wende über sehends ein eigenes Milieu, das von Na- Sowohl Victoria-Areal als auch Zoofens- Angeber-Wessis. „Berlin ist nicht nur der gelstudios, Videotheken und Baumärkten ter wurden von den Investoren überra- Osten, auch wir haben viel zu bieten“, är- geprägt ist. Und das Bohème-Viertel Char- schend weiterverkauft, nachdem die Bau- gert sich Manuela Remus-Woelffling, 38, lottenburg steht inzwischen im Ruf, ein genehmigung erteilt war. Über „Grund- Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Biotop für satte Selbständige zu sein, die stücksspekulationen übelster Art“ empört City, in der sich Ku’damm-Einzelhändler mal „was Kreatives“ machen wollten, dann sich Georg Aunap, Vorsitzender des Berli- zusammengetan haben. „Man schweigt uns doch Wirtschaftsprüfer wurden und deren ner Architekten- und Ingenieursvereins, tot, das ist doch nicht fair.“ Frau gerade („total spannend“) eine Praxis und beklagt „ein städtebauliches Verbre- Die ehemals saturierten Westler, meist für Kinesiologie, Modetrend im Therapie- chen“. schon jenseits der 50 und eigentlich im Be- geschäft, eröffnet. Da swingt nichts. Die Fachleute – sonst keine Gegner ho- griff, die Ernte ihres Lebens einzufahren, Unternehmensketten haben sich am her Häuser – fürchten einen „Domino- befinden sich in der „Schockstarre“, be- neuen Standort Berlin-Ku’damm einge- Effekt“. In der West-City werde nun „ein obachtet Mode-Kaufmann Kramberg. Sie kauft und bedrohen die Existenz der klei- dicker Klopper nach dem anderen“ gebaut seien einfach nicht gewillt, schon wieder zu neren Geschäfte – Designer und Beklei- und das einzigartige Viertel zerstört. kämpfen: „Sie wissen nicht mehr, wie es dungskaufhäuser gegen Boutiquen, Steak- „Das Gebiet um die Gedächtniskirche wird geht. Eine Identitätskrise.“ und Fast-Food-Ketten gegen Restaurants dann seinen Weg in den Slum antreten“, zeichnet Aunap ein finsteres Szenario. „80 Prozent einer Immo- bilie sind objektiver Wert, der Rest ist Psychologie“, sagt der Inhaber der West- Berliner Immobilien-Firma „City-Report“, Frank-Ar- thur Orthen, 40, der für sei- ne Kunden das Potenzial von Immobilien um Ku’damm und Mitte bewertet. Orthen weiß, wie man eine Lage rauf und runter redet. Er ver- fügt über profunde Daten,

M. TRIPPEL / OSTKREUZ M. TRIPPEL C. SCHROTH und damit macht er Stim- Unternehmer Walz, Graeter: „Münchner Altkleiderhilfe für Ku’damm-Besucher“ mung: „Wenn die Hochhäu- ser kommen, die Ketten, die Für den Westteil der Stadt und vor allem und Cafés. Allein Mode-Multi Hennes & Hotels, gehen am Kurfürstendamm die für sein bestes Stück, den Kurfürsten- Mauritz siedelte auf der Berliner Shop- Lichter aus.“ damm, hat längst das eherne Gesetz der ping-Meile vier Filialen an. Dafür wich ein Auch seine Empfehlung, die größten Spekulation Gültigkeit: In der Krise wird so alteingesessener Betrieb wie das Café Shopping-Gebäude, das berühmte Eu- der Markt wieder interessant. „Möhring“ gegenüber der Gedächtniskir- ropa-Center („langweilig“) und das Vor ein paar Jahren noch galt der Kur- che aus einer Jugendstilvilla. Ku’damm-Karree („enttäuschend“) am fürstendamm mit seinen großzügigen Bür- Nach dem Bau von Future-Town am besten gleich abzureißen, erschreckte die gerwohnungen und den kuschligen Ne- Potsdamer Platz im Osten holen die Stadt- West-Berliner. Die Besitzer der Multi- benstraßen als Inbegriff genussvoller frei- planer der West-City nun zum Gegen- millionen-Objekte, Karl Pepper und Rafa- er Lebensart. Nirgendwo in Berlin gibt es schlag aus: Anstatt den urbanen Charakter el Roth, wird Orthens Verweis auf die ein solches Stück Stadt, in dem Wohnen, der Kurfürstendamm-Gegend zu stärken, Zwangsläufigkeit der Zeitläufte kaum mil- Arbeiten, Shopping und Vergnügen so ur- setzen sie auf aggressiven Gigantismus. de stimmen: „Keine Sorge, in zehn Jahren ban miteinander verwachsen sind. Hinter dem so genannten Victoria-Areal sage ich das Gleiche über die heute so Doch schon im östlichen Teil des Kur- am Kranzlereck wird bis Herbst 2002 un- hoch gelobten Arkaden am Potsdamer fürstendamms, zwischen Halensee und ter anderem ein 37-geschossiges Hotel ge- Platz.“ Susanne Koelbl

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mierte der listige Londoner unlängst die überraschte Baukommission. Doch die Politiker blieben stur und for- derten weiterhin Sitzgelegenheiten in der westlichen Lobby. Schließlich lenkte Foster ein. Sein erster Möbel-Entwurf trifft frei- lich nicht jedermanns Schönheitssinn: „Diese unverrückbaren, hässlichen Stein- tröge“, lästert ein hoher Beamter des Bun- destags, „haben uns gerade noch gefehlt.“ Dass der Baumeister nachgab, halten Kenner der Rechtspraxis für zwingend. Zwar gilt der Reichstag, im Unterschied zum privaten Wohnhaus, juristisch als Kunstwerk. Aber gerade deshalb kann der Architekt dem Bauherrn, also dem Bun- destag, nicht einfach vorschreiben, wie die Räume zu nutzen und zu gestalten sind. „Foster kann Vorschläge machen“, stellt ein Experte der Baukommission klar, „im Konfliktfall aber hätte er keine Chance.“

Umstrittene Sitzgruppe im Reichstag: Illegale Selbsthilfe gegen britischen Purismus

Aber nun droht dem Star Gegenwehr. Den BUNDESTAG täglichen Kleinkrieg um Gebrauchswert und Geschmack am Arbeitsplatz wollen Heftiges Abgeordnete aus allen Fraktionen nicht länger hinnehmen. Schleunigst sollen beispielsweise die Augenflimmern Sanitätsräume im Erdgeschoss umgebaut werden. Die Ärztin hatte sich darüber be- Politiker und Beamte finden schwert, dass Notfall-Patienten nur extrem

umständlich auf einer Trage in einen Kran- REUTERS das Interieur des Reichstags weder kenwagen befördert werden könnten. „Da Architekt Foster, Hausherr Thierse* schön noch praktisch. Aber muss sofort etwas passieren“, sagt der Vor- Kampf um das Grünzeug Architekt Foster will sein Kunst- sitzende der Baukommission, CDU-Mann werk nicht verändern lassen. Dietmar Kansy: „Das ist eine Sanitäts- So weit will es der Souverän nicht kom- station und kein Kunstwerk.“ men lassen, zumal der Zoff zuweilen mit ei- or der Bundestagsdebatte um den Andernorts wird der Ton schon rauer. nem erträglichen Patt endet. So teilen eini- Kanzleretat an diesem Mittwoch Ob die Wandtäfelung im SPD-Fraktions- ge Parlamentarier durchaus Fosters Abnei- Vgraust es Karlheinz Lindner. Der saal nur mit Zustimmung ihres Schöpfers gung gegen Grünzeug, die im Präsidialtrakt Referatsleiter aus dem Verteidigungsminis- dekoriert werden darf oder nicht, ist dem obsiegte. Hausherr Wolfgang Thierse muss- terium säße während dieser wichtigen Re- Parlamentarischen Geschäftsführer Wil- te Pflanzen aus dem Blickfeld verschwin- deschlacht gern in Sichtweite seines Chefs, helm Schmidt inzwischen egal: „Wir wer- den lassen. Vor einem Staatsgeschenk des ständig einsatzbereit wie die Kollegen aus den Bilder an die Wand knallen, ob es niederländischen Parlaments kapitulierte 13 anderen Ministerien. Womöglich brau- Herrn Foster passt oder nicht.“ der Architekt. Zwei Ficus-Bäume aus Den chen Scharping, Eichel, Müller und Kolle- Bei der aufmüpfigen PDS hängen längst Haag dürfen im Westflügel weiter wachsen. gen während der Diskussion erste Hilfe. die Parteiplakate vor den geschlitzten Wie die Stuhl-Krise gelöst werden könn- „Aber wir schaffen es kaum bis in den Paneelen. Eine Attacke gegen Fosters Stil- te, ist dagegen völlig offen. Und die Eska- Plenarsaal“, sagt Lindner gequält. Anders gefühl, aber ein durchaus wirksames Mit- lation droht auch bei den Plätzen der Mi- als in Bonn, wo 30 Stühle für Beamte be- tel gegen das psychedelische Augenflim- nisterpräsidenten. Denn nun hat der Di- reitstanden, fehlt es im Berliner Reichstag mern, das sich in den kleinen, hellen Räu- rektor des Bundesrats bei Kansy moniert, an Sitzplätzen – und an Stehplätzen auch. men beim Blick auf die eng geriffelten in den vorderen Reihen stünden nur 15 Drei der zwölf Stühle hinter den drei Holzwände umgehend einstellt. Stühle für 16 Länderchefs. Reihen der Regierungsbank okkupiert Zur illegalen Selbsthilfe gegen britischen Sollen Stoiber, Clement, Simonis und grundsätzlich das Kanzleramt. Um die rest- Purismus griffen Abgeordnete auch im Ost- die anderen künftig „Reise nach Jerusa- lichen neun müssen sich die Vertreter aus flügel. Auf dem Wandelgang gruppierten lem“ spielen? Dazu müssten allerdings alle 14 Ressorts kabbeln. sie rote und schwarze Ledersessel zu Inseln 16 Regierungschefs nebst Entourage anrei- Abhilfe ist nicht in Sicht. Der umgebau- der Gemütlichkeit – bis die Kontrolleure sen – das ist noch nie passiert. te Reichstag, gibt der britische Architekt von der Bauaufsicht hierhin vordringen. Der Versuch, für die Ministerhelfer auf Lord Norman Foster immer wieder zu ver- Denn bewegliche Möbel dürfen keine die gegenüberliegende Seite des Parla- stehen, sei ein Kunstwerk und als solches noch so breiten Fluchtwege versperren. mentspräsidiums einfach vier zusätzliche gegen alle Änderungen urheberrechtlich Das verlangen die Berliner Brandschutz- Stühle zu stellen, „hielt nur drei Tage, und geschützt. Mit diesem Hinweis haben Fos- Vorschriften für Hochhäuser.Weil erkenn- weg waren sie“, erinnert sich Referatsleiter ters Leute mehrfach praktische Wünsche bar höher als 22 Meter, ist der Reichstag Lindner. Am liebsten, sagt ein Kollege, des deutschen Souveräns kühl abgeblockt. gemäß Verordnung ein Hochhaus, infor- hätten die bescheidenen Einflüsterer an So rührt der Baumeister ans Funktio- der grauen Stirnwand „Klappsitze wie im nieren der parlamentarischen Demokratie. * Bei der Schlüsselübergabe am 19. April. Intercity“ . Petra Bornhöft

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STRAFJUSTIZ „Nun ist erst mal Wochenende“ Die Eheleute Maerzke stehen vor Gericht, weil sie ihren Sohn Mukarim Emil in Todesgefahr gebracht haben sollen. Was wissen wir von deren Not? Von Gisela Friedrichsen

nfang des Jahres fällt dem Augs- das rechte Auge müsse unverzüglich ent- Ist nicht das Leben ihres Kindes in Ge- burger Ehepaar auf, dass die rech- fernt werden. Eine andere Möglichkeit fahr? Ist den Essenern egal, ob das Kind Ate Pupille ihres vier Monate alten gebe es nicht, sonst sterbe das Kind. Schon stirbt? Oder hat man in München über- Sohnes Mukarim Emil eigenartig weiß ist. am übernächsten Tag, am Donnerstag, dem trieben? Am 26. Januar gehen Lamia und Sven 28. Januar, solle operiert werden. In Mukarim Emils Augen hatten sich Maerzke, 22 und 26, mit dem Kind zum Die geschockten Eltern sind mit allem Retinoblastome gebildet, Krebstumore, die Arzt. Der überweist sie sogleich ans Hau- einverstanden. Sie unterschreiben alles, da- keine Schmerzen verursachen. Unbehan- nersche Kinderspital in München: Es könn- mit ihr Junge nur am Leben bleibt. delt endet die Krankheit stets tödlich. Im te ein bösartiger Tumor sein. Noch am sel- Vor der geplanten Amputation wird das Berliner Franklin-Klinikum Steglitz schätzt ben Tag stellen sie den Jungen dort vor. Kind, bereits unter Narkose, noch einmal man, dass von 25000 Neugeborenen eines Die Diagnose ist wie befürchtet. Man untersucht. Nun ist der Befund noch dra- erkrankt wie Mukarim Emil. Mehr als 90 müsse das Kind sofort operieren, heißt es, matischer: Auch das linke Auge ist befallen. Prozent der Kinder überleben, wenn sie Die Ärzte brechen den Eingriff ab. Sie rechtzeitig behandelt werden. Die Entfer- erklären, in München sei man mit der Be- nung des Auges lässt sich oft vermeiden. handlung überfordert, die Eltern sollten Der Kinder-Krebsspezialist Günter Hen- sich an die Universitätsklinik Essen wen- ze von der Charité beschrieb im Berliner den. Es wird ihnen eingeschärft, „dass je- „Tagesspiegel“, welch tiefen Einschnitt die der Aufschub der medizinischen Behand- Krebstherapie für die Betroffenen bedeu- lung die Gefahr der Bildung weiterer Toch- tet: „Man darf die Familie nicht zwischen tergeschwülste berge“. Es geht um Tod Tür und Angel über die Behandlung infor- oder Leben – so verstehen es die Eltern. Sie mieren.“ Aber für Patientengespräche, für wollen sofort nach Essen fahren. Begleitung der Eltern habe man wegen Aber nein, wehrt man dort am Telefon Stellenstreichungen immer weniger Zeit. ab, das hat keinen Sinn. Erst mal komme ja Es ist derzeit viel von den Kosten des nun das Wochenende. Es reiche, wenn das Gesundheitswesens die Rede. Darüber ist

FOTOS: FOCUS M. GÜLBIZ / AGENTUR Kind am Montag gebracht werde. Im Übri- das Thema der Beziehung zwischen Arzt Scheich Nazim gen gebe es vor dem 5. Februar keine Ope- und Patient in den Hintergrund getreten. Weltweite Kontakte zu Spezialisten ration. Die Eltern sind fassungslos. Wenn ein kleines Kind schwer erkrankt, dann werden meist auch seine Eltern zu Patienten, zu höchst irritierbaren und oft verzwei- felten dazu. Maerzkes hören, es gehe um Tage, um Stunden gar – und dann soll eine volle Wo- che bis zu der so dringlichen Operation vergehen dürfen? In dieser Woche wird in Augs- burg vor dem Schöffengericht gegen die Maerzkes wegen Ver- nachlässigung der Fürsorge- pflicht verhandelt. Fraglos ha- ben sie, nachdem sie die Dia- gnose erfahren hatten, Dinge getan, die Menschen, die routi- nierter mit solchem Schrecken umgehen, aberwitzig vorkom- men. Sie haben in ihrer Angst, Verwirrung und Ratlosigkeit, was nun tatsächlich zum Besten ihres Kindes ist, auf alle mögli- chen Ratgeber gehört. Sie ha- ben sich in ihrer Panik nicht im- mer verständig verhalten und werden daher auch mit einer Verurteilung zu rechnen haben. Doch im Medientumult, den Mutter Lamia Maerzke mit Kind auf Zypern: Suche nach alternativen Behandlungsmethoden der Fall aufwirbelt, ist immer

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tet eine homöopathische „Begleitung“ an. motherapie nicht.Als der Junge zum zwei- Die Eltern sind inzwischen entschlossen, ten Mal mit Laser behandelt wird, über- ihrem Kind die Amputation des Auges, bringt ein Mitarbeiter Bornfelds eine freu- wenn es denn irgendwo auf der Welt eine dige Botschaft: Der Tumor rechts sei stark Chance gibt, zu ersparen. zurückgegangen. Neue Hoffnung also. Sie sind einfache Leute, gebürtige Augs- Wenige Tage später verhandelt das Vor- burger, er hat Landschaftsgärtner gelernt, mundschaftsgericht Augsburg über die Fra- sie wollte nach dem Fachabitur in Sozial- ge, ob Maerzkes das Sorgerecht entzogen wesen Umweltschutz studieren, aber das ist werden soll. Dabei erfahren sie, wie Born- mit dem kranken Kind ja nun vorbei. In- feld die Situation einschätzt: Das rechte zwischen erwartet sie das zweite. Auge müsse höchstwahrscheinlich entfernt Sven Maerzke ist mit 18 Jahren zum Is- werden; außerdem seien die Eltern seiner lam übergetreten und hat sich der Naks- Auffassung nach psychisch nicht fähig, das bendi-Bruderschaft angeschlossen.Als La- Kind nach einem Eingriff zu begleiten. mia ihn kennen lernt, folgt sie ihm. Die Der junge Vater, dem einmal der Kragen Behauptung, die Maerzkes seien blind auf platzt, ist fortan als „gewalttätig“ abge- eine fundamentalistische Sekte hereinge- stempelt. Die Eltern fühlen sich gekränkt, fallen, die eine Operation des Kindes ver- verkannt und beiseite geschoben. Das Auf- boten habe, ist so nicht richtig. Sven enthaltsbestimmungsrecht hat inzwischen Maerzke sagt, er habe Scheich Nazim Adl ein Anwalt inne. Niemand macht sich die al-Haqqani, das geistliche Oberhaupt, um Mühe, um ihr Verständnis zu werben. Man Rat gefragt – wie ein Christ, der sich in steht auf dem Standpunkt: Diese Leute seiner Not an den Pfarrer wendet. Denn sind unzugänglich für ärztliche Vernunft. die Bruderschaft verfügt über weltweite Fünf Juristen, sagt man, das sind fünf Kontakte, auch zu Medizinspezialisten. Meinungen. Doch auch fünf Ärzte können Operationen werden von der Bruder- fünf Diagnosen und fünf Therapien be-

DPA schaft nicht durchweg abgelehnt. Doch deuten. Ein angesehener Hamburger Frau- Krebskranker Mukarim Emil ihrem Weltbild, in Teilen noch auf orien- enarzt erklärt einer Familie, der 16-jährigen Der Augapfel seiner Eltern talischer Mystik beruhend und antiposi- Tochter müsse eine Brust amputiert wer- tivistisch ausgerichtet, steht die Wissen- den; es sei Krebs. Der Hausarzt hält diese schaftsgläubigkeit des Westens entgegen. Diagnose für Unsinn. Hat die Familie gegen So weit, wie manche glauben, ist das Un- das Gesetz gehandelt, als sie das Mädchen behagen der Menschen im Westen am tech- nicht operieren ließ? Die Tochter, heute nischen Fortschritt vom Weltbild der Naks- über 30, ist noch immer gesund. bendis gar nicht entfernt. Wer hat nicht so etwas schon erlebt, bei Kranke Augsburger wallfahren zum na- sich oder im Freundeskreis? Oder auch, in hen Maria Vesperbild.Andere Gläubige ba- umgekehrter Richtung, dass sich eine Dia- den im Quellwasser von Lourdes. Manche gnose als zu harmlos angesichts tatsäch- schwören auf Geistheiler oder den „Krebs- lich todernster Erkrankung erwies. Und heiler“ Ryke Geerd Hamer. Das ist weitaus dann sind die Medien auch voll mit bizarrer als die Reaktion der Maerzkes. Schreckensnachrichten: vom Strahlen- Scheich Nazim bot dem jungen Vater skandal und Transfusionen mit verseuch- Hilfe bei der Suche nach alternativen Be- tem Blut bis zur Amputation des gesun- handlungsmethoden an. Auf seinen Rat den Lungenflügels statt des verkrebsten. bringen die Eltern Mukarim Emil schließ- Ende April setzen sich die Eltern lich im März doch nach Essen. Sie werden Maerzke mit ihrem Kind in den Libanon inzwischen per Haftbefehl ge- ab, aufgerieben von dem Hin sucht, das Sorgerecht soll ihnen „Wer hat und Her. Ihrem Kind möchten S. PUCHNER entzogen werden. Nun ist auch sie eine Pause gönnen. Heute Eltern Maerzke bei Festnahme das Fernsehen dabei. Das Ver- nicht so etwas sieht Sven Maerzke ein, un- Sie wollten dem Kind eine Pause gönnen halten der Eltern wird zum schon erlebt, überlegt gehandelt zu haben. Skandal hochgespielt. bei sich Fünf Monate halten sie sich nur die Rede davon, was die Eltern falsch In Essen erfahren Maerzkes, oder im dort auf. Ein Augenarzt in Beirut gemacht haben – und nicht davon, wie es die Tumoren im linken Auge hät- findet keine Tumoren mehr. Am dazu kommt, dass Eltern falsch handeln. ten sich verdoppelt. Sie sind ent- Freundeskreis“ 6. Oktober werden sie abge- Mit untätigem Warten an jenem arbeits- setzt. Gerade hatte ihnen ein zy- schoben. In Augsburg nimmt freien Wochenende fanden sich Maerzkes priotischer Arzt Hoffnung gemacht: Links man sie fest. Im rechten Auge des Jungen nicht ab. Sie suchen einen Arzt in Kaufe- seien keinerlei Geschwülste mehr vorhan- sitzen nun schon sechs bis sieben Ge- ring bei Augsburg auf. Der rät, zunächst den. Ein Vater aus Österreich preist die schwülste, die seither behandelt werden. den Verlauf der Krankheit zu beobachten Methode der Protonenbestrahlung in den Mit dem linken Auge kann der Junge se- und nach Methoden zu suchen, die das Vereinigten Staaten an. Eine Amerikanerin hen, rechts bleibt das inzwischen blinde Auge erhalten. Er überweist das Kind an will sich um eine solche Behandlung an Auge möglicherweise erhalten. Geheilt ist den Schweizer Homöopathen Dario Spi- einer renommierten amerikanischen der Junge aber noch nicht. nedi in Locarno, von dem es heißt, er habe Augenklinik kümmern. Professor Norbert Was ist Fürsorge? Hätten Maerzkes nicht Kinder, die von deutschen Ärzten schon Bornfeld, der Chef in Essen, erklärt eine auch die Fürsorgepflicht vernachlässigt, aufgegeben worden waren, noch geheilt. Protonentherapie bei einem Kind dieses wenn sie sich nicht um weniger einschnei- Maerzkes zögern. Sollen sie nicht besser Alters für ganz unmöglich. dende Therapien gekümmert hätten? Sie nach Essen gehen? Dann fahren sie nach Mukarim Emil geht es nun sehr schlecht. haben nur das Beste für das Kind gewollt. Locarno. Spinedi ist zurückhaltend. Er bie- Er verträgt die in Essen begonnene Che- Mukarim Emil ist ihr Augapfel. ™

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sich die Bundeswehr auf eine Klausel im BUNDESWEHR Soldatenversorgungsgesetz, die den Sol- daten Ansprüche auf Schmerzensgeld und Bitteres Ende Schadensersatz abschneidet. Wie bei anderen „Wehrdienstbeschädi- Ein Oberstarzt wurde Opfer gungen“ übernimmt die Bundeswehr bei Arztfehlern nur eine pauschalierte, schma- einer Operation durch Kollegen. le Versorgungsrente – und selbst die erst ab Eine umstrittene Gesetzes- einer Erwerbsminderung von 25 Prozent. klausel befreit die Bundeswehr Wird der Soldat als dienstunfähig entlas- von normaler Arzt-Haftung. sen, fällt auch die freie Heilfürsorge weg, es gibt nur noch eine medizinische Mini- ein Pflichtbewusstsein wurde Oberst- malbehandlung. Die Vorschrift richtet sich arzt Friedrich Wezel zum Verhäng- nach der „Kriegsopferversorgung“, die in Snis. Als bei dem Sanitätsoffizier, da- den fünfziger Jahren für die Verwundeten mals oberster Zahnmediziner der Luft- und Verstümmelten des Zweiten Weltkriegs waffe, ein gutartiger Tumor am Gehörnerv geschaffen wurde.

festgestellt wurde, wollte er sich vom Spe- Die Geschädigten erhalten diese Leis- / ZEITENSPIEGEL BARTH T. zialisten einer Uni-Klinik operieren lassen. tungen zwar unabhängig davon, ob ande- Ulmer Bundeswehrklinik, Geschädigter Wezel, Doch Vorgesetzte appellierten an seine re ein Verschulden trifft. Doch weiter ge- Vorbildfunktion: Er solle sich doch bei hende Ansprüche gibt es nicht, selbst wenn mussten die Ärzte, um den Tumor zu ent- Bundeswehrärzten unters Messer begeben. man den Verantwortlichen grober Fahrläs- fernen, den Schädel des Patienten öffnen – Seit dem Eingriff im Ulmer Bundes- sigkeit überführen kann. Nur bei vorsätz- dabei können am Schädelknochen verlau- wehrkrankenhaus vor gut sieben Jahren ist lichem Pflichtverstoß muss voll gehaftet fende Venen verletzt werden. Luft gelangt Wezel, 62, fast völlig gelähmt und ein schwe- werden – ein selten nachzuweisender Fall. dadurch in den Blutkreislauf, schlimmsten- rer Pflegefall. Seine Frau, selbst Ärztin auf „Diese Haftungsbegrenzung ist uner- falls wird die Durchblutung wichtiger Ge- der Hardthöhe und zuständig für die medi- träglich“, sagt Oberst Bernhard Gertz,Vor- hirnbezirke unterbrochen. zinische Betreuung höchster Staatsgäste, sitzender des Bundeswehr-Verbandes, der Eine solche Luftembolie ist jedoch be- quittierte damals ihren Dienst und widme- Interessenvertretung der Soldaten, „denn herrschbar, wenn sie während der Narkose te sich fortan nur noch der Sorge für ihren solche Härtefälle tauchen in unschöner Re- sofort bemerkt wird – und die dafür zu- Mann – und dem Kampf um sein Recht. gelmäßigkeit bei uns auf.“ ständigen Anästhesisten des Bundeswehr- Denn die Bundeswehr weigert sich, für Jährlich werden in Bundeswehrkran- krankenhauses Ulm gehören zu den Besten die Folgen der misslungenen Operation in kenhäusern mehr als 70000 Operationen ihres Fachs. Ulm genießt unter den Bun- vollem Umfang einzustehen. Seit 1993 ver- durchgeführt – wie viele Kunstfehler dabei deswehrkliniken eine Sonderstellung, man sucht Ingrid Wezel, im Namen ihres Man- wirklich passieren, ist kaum sicher zu er- renommiert mit der „ehrenvollen Ermäch- nes vom Bund angemessenen Schadenser- mitteln. Denn wegen der schlechten Aus- tigung“ zur Ausbildung von Fachärzten. satz und Schmerzensgeld zu erlangen. An sichten auf Erfolg melden vermutlich vie- Der Kollege Wezel war für die Ulmer diesem Mittwoch wird vor dem Ulmer le Patienten gar nicht erst ihre Schäden an. Ärzte ein VIP-Patient. Doch schon die vor- Landgericht zum zweiten Mal darüber ver- Der Bundeswehr-Verband leistete seit 1992 geschriebene Aufklärung ließ Schlimmes handelt, was bei der Operation von Oberst- mehreren dutzend Opfern besonders befürchten: Man würde ihren Mann in sit- arzt Wezel geschah. schwerer Missgriffe juristischen Beistand. zender Position operieren, erinnert sich In- An dem tragischen Fall zeigt sich eine So wurden einem Oberstleutnant aus grid Wezel an die Aussage eines Arztes, kritische Besonderheit im Soldaten-Recht: Versehen die Stimmbänder durchgeschnit- eine Luftembolie sei damit praktisch aus- Für Kunstfehler der Bundeswehrärzte gibt ten. Ein anderer Soldat, dessen erste Ope- geschlossen. Doch das Gegenteil ist der es nur eine eingeschränkte Haftung. Die ration schief ging, wurde so lange nachope- Fall: Anders als in Seitenlage, ist dieses Ri- Bundeswehrangehörigen können sich im riert, bis er dienst- und berufsunfähig war. siko gerade im Sitzen enorm. Regelfall ihren Arzt nicht aussuchen, son- Der Fall Wezel ist einer der schlimmsten Damit begann das, was der medizini- dern müssen zum Dienstarzt gehen. Doch – nicht nur wegen der Folgen, sondern auch sche Gutachter der Kläger, Professor Jür- während zivile Krankenhäuser für die Feh- wegen der vielen Fehler. Denn eigentlich gen Stoffregen, eine „wahnsinnige Kette ler ihrer Ärzte einzustehen haben, beruft war der Eingriff am Gehirn Routine. Zwar nicht nachvollziehbarer Fehler“ nennt. T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Hirntumor-Operation*: „Wahnsinnige Kette nicht nachvollziehbarer Fehler“

Schon zu Beginn der Operation fällt ein hirn, erzeugt dort starken Überdruck und hätte“, sagt sie, „würde ich meinen Mann wichtiges Ultraschallgerät aus, mit dem sich einen „internen Wasserkopf“. in eine Spezialklinik für Schädel-Hirn-Ver- der Beginn einer Luftembolie rechtzeitig Zerknirscht müssen die Ärzte schwerste letzte in der Schweiz bringen, um ihm we- hätte erkennen lassen. Kurz zuvor hat der Hirnschäden und ein „Locked-in-Syn- nigstens ein bisschen Linderung zu ver- Narkose-Facharzt den Raum verlassen. Da- drom“ diagnostizieren: Friedrich Wezel ist schaffen.“ Eine halbe Million Mark Schmer- mit ist der auszubildende Assistenzarzt bei vollem Bewusstsein Gefangener seines zensgeld fordert deshalb ihr Anwalt Ulrich weitgehend auf sich allein gestellt. Trotz funktionsuntüchtigen Körpers. Gebhard, und eine Geldrente für den Pfle- des erhöhten Risikos wird der Schädel Die Beklagten bestreiten dennoch den geaufwand. Insgesamt, so Gebhard, „eine geöffnet. Es kommt zu einer Embolie, die Vorwurf eines Fehlverhaltens. Einer der Summe deutlich über einer Million Mark“. der Assistenzarzt zu spät bemerkt. Doch beteiligten Ärzte versichert: „Nach mei- Um die Haftungsbegrenzung wenigstens der Operateur wird nicht gewarnt. Er ope- nem besten Wissen ist damals sorgfältig im Fall Wezel zu umgehen, versucht der riert stundenlang weiter, als wäre nichts gehandelt worden.“ Anwalt das Gericht davon zu überzeugen, geschehen. Die massive Luftembolie, so In der ersten Zeit nach der Operation dass die umstrittene Klausel des Soldaten- Gutachter Stoffregen, führt „postoperativ hatte sich der Zustand des Patienten Wezel versorgungsgesetzes hier nicht gelten kön- zum Multiorganversagen“. noch leicht gebessert, wenigstens sprechen ne, weil eine vorsätzliche Pflichtverletzung Durch die Embolie fällt Wezels Blut- kann er wieder. Doch mittlerweile findet vorliege: „Die Ärzte haben die Operation druck stärker, als es sein geringer Flüssig- seine Frau keine Ärzte mehr, die ihn Erfolg durchgeführt in dem Wissen, dass ärztli- keitsverlust vermuten lässt. Obwohl er nur versprechend weiter behandeln können. che Standards nicht eingehalten wurden.“ einen Liter verloren hat, erhält Wezel „Frau Wezel“, haben sie zu ihr gesagt, „Sie Aus Kollegialität hat die Ex-Ober- während und nach der Operation insge- können Ihren Mann jetzt nur noch beglei- feldärztin Wezel darauf verzichtet, gegen samt acht Liter wässriger Lösung ins Blut ten bis zum bitteren Ende.“ die Beteiligten einen Strafantrag zu stellen. – was eine Blutverdünnung um das Ein- Alles, was über eine Minimalversorgung Doch selbst die Zivilklage werten viele einhalbfache bedeutet. Zusätzlich geben hinausging, musste Ingrid Wezel selbst ehemalige Kollegen als Verstoß gegen die die Ärzte ein gerinnungshemmendes Mit- bezahlen: fast den ganzen behinderten- guten Sitten. Keiner der behandelnden tel. „Damit“, so Gutachter Stoffregen, gerechten Umbau ihrer Wohnung, Kran- Ärzte von damals, sagt sie, habe jemals „war es mit der Blutgerinnung endgültig zu kengymnastik, Sprechtherapie, Fahrt- und wieder nach ihrem Mann gefragt. Ende.“ Das wässrige Blut sickert ins Ge- Übernachtungskosten, wenn sie ihren Der hat sich Besuche von ehemaligen Mann in andere Kliniken begleitete – ins- Kameraden allerdings ohnehin verbeten. * Mitte: kurz vor dem Eingriff im Jahr 1992; rechts: im gesamt 50000 Mark pro Jahr an zusätzli- Er will ihnen so in Erinnerung bleiben, wie Bundeswehrkrankenhaus Ulm im November. chen Aufwendungen. „Wenn ich das Geld er einmal war. Dietmar Hipp Werbeseite

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Stasi-Akten wäre bei den Ermittlungen of- fenbar an der Tagesordnung. JUSTIZ Schon die Tatsache, dass das Verfahren erst 1994 eröffnet wurde, ist ein Armuts- zeugnis für die Ermittler, denn die Mord- „Furchtbar schief gelaufen“ pläne waren seit Dezember 1990 bekannt. Damals hatten SPIEGEL TV und der SPIE- Stasi-Offiziere wollten zwei prominente DDR-Bürgerrechtler GEL Auszüge aus einem Bericht der Zen- tralen Auswertungs- und Informations- umbringen. Die Mordpläne sollen ungesühnt bleiben. gruppe (ZAIG) des MfS veröffentlicht. Der Anfang 1989 erstellte Report der Stasi-in- er Informant war seriös. Dennoch achtziger Jahren Pfarrer der evangelischen ternen Revisionstruppe befasste sich mit hielt Ralf Hirsch für ausgeschlos- Samaritergemeinde in Friedrichshain, Unregelmäßigkeiten in der Abteilung XX/4 Dsen, was ihm im August aus der gehörten zu den führenden Figuren der (Kirche) der Bezirksverwaltung Berlin. Es Berliner Polizei zugetragen wurde: Das Er- kleinen Dissidentenszene. In Eppelmanns ging um Devisenvergehen, persönliche Be- mittlungsverfahren gegen zwei Offiziere regimekritische „Bluesmessen“ kamen reicherung und „Zersetzungsmaßnahmen“ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tausende von Jugendlichen. gegen Regimegegner, die selbst den in die- der DDR, die in den achtziger Jahren Die potenziellen Opfer der Stasi-Pläne ser Hinsicht nicht zimperlichen Vorgesetz- Mordpläne gegen ihn und den Ost-Berliner wurden über die Einstellung nicht einmal ten zu weit gingen. Pfarrer Rainer Eppelmann geschmiedet informiert. Nicht die einzige Merkwürdig- Um Eppelmann zu beseitigen, hatten hatten, stehe kurz vor der Einstellung. keit: Schlamperei, mangelhafte Kommuni- zwei XX/4-Mitarbeiter, Major Edgar Hasse Doch der Mann lag richtig: Am 3. Sep- kation zwischen Behörden und eine un- und Hauptmann Peter Kappis, laut ZAIG- tember legte die für die Verfolgung von verständliche Lässigkeit im Umgang mit Akten geplant, „einen Unfall herbeizu- DDR-Unrecht zuständige Staatsanwalt- führen. Verletzungen bzw. schaft II beim Landgericht Berlin das Ver- physische Vernichtung von fahren mit dem Aktenzeichen 29 Js 114/94 Eppelmann wurden einkalku- in aller Stille zu den Akten. „Bei der liert. Hierzu wurden mehrere gegebenen Beweislage“, so Oberstaatsan- Varianten geprüft (Radmut- walt Helmut Altenbuchner-Königsdorfer in tern lockern, in der Kurve seinem Schlussvermerk, „ist ein zur An- Scheibe zerstören, vor der klageerhebung nötiger Nachweis einer Kurve Spiegel aufstellen)“. Straftat nicht zu erbringen.“ Für Ralf Hirsch war eine an- Damit sollen nach dem Willen der Justiz dere Todesart vorgesehen: Die die heimtückischen Vorhaben gegen zwei Prüfer der ZAIG notierten prominente Bürgerrechtler der DDR un- „Gedankengänge“, dem Re- gesühnt bleiben. Hirsch, 1986 Mitbegründer gimekritiker „in einer stren- IMO der Ost-Berliner „Initiative Frieden und A. SCHOELZEL gen Winternacht Alkohol ein- Menschenrechte“, und Eppelmann, in den Verfolgte Eppelmann, Hirsch: „Was reinmischen“ zuflößen, dass er erfriert“. Auf die Veröffentlichung der Mordpläne reagierten weder die Staatsanwaltschaft noch die Zentrale Ermitt- lungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV). Altenbuchner-Kö- nigsdorfer kann sich das nicht erklären: „Die Pressestelle stellt eigentlich immer alle für uns wichtigen Artikel zusam- men. Aber ich bin erst seit 1995 hier, und es kann sein, dass es das 1990 noch nicht gegeben hat.“ Erst drei Jahre später schöpfte die Justiz einen „Anfangsverdacht“. Am 24. Februar 1994 hatte ein Staats- anwalt eine Diskussionsver- anstaltung in der Gauck- Behörde besucht, auf der Rainer Eppelmann über die Anschlagspläne berichtete. Der Mann tat seine Pflicht und erstattete Anzeige – von Amts wegen. Doch die Ermittler schaff- ten es in den fünf folgenden

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA Jahren nicht, ihren Verdacht Ost-Berliner „Bluesmesse“ mit Eppelmann (r., 1984): „Physische Vernichtung wurde einkalkuliert“ zu erhärten. Nach Aktenlage

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Werbeseite Deutschland wäre es am nächsten liegend gewesen, die ganz furchtbar schief gelaufen sein.“ Nach Autoren des MfS-internen Untersuchungs- einer erneuten Durchsicht der Akten räum- berichts zu vernehmen. Denn die waren te er ein, dass der Anhang „von ZERV zu dem Schluss gekommen, dass die Offi- wohl eingesehen und bearbeitet“ worden ziere der Berliner Bezirksverwaltung „in sei. Schriftvergleiche zur Feststellung der schwerwiegender Form die Festlegungen Urheber der Notizen seien jedoch nicht der Richtlinie Nr. 1/76, Ziff. 2.6. (Zerset- durchgeführt worden. zungsmaßnahmen) verletzt“ hätten. Es sei- Auch Ralf Hirsch wurde nie befragt. Da- en sogar Handlungen begangen worden, bei hat er seine ganz persönlichen Ermitt- „die Straftaten im Sinne des Strafgesetz- lungen bereits vor acht Jahren erfolgreich buches der DDR“ darstellten. abgeschlossen. Monate nach der Veröf- Grundlage dieser Einschätzung waren fentlichung der Mordpläne hatte er sich ausführliche Verhöre von Hasse und Kap- dazu durchgerungen, die verantwortlichen pis, die ihre Mordpläne den Stasi-Verneh- Stasi-Offiziere aufzusuchen und zur Rede mern nicht nur gestanden, sondern auch zu stellen. „Dass die mich im Knast haben detailliert schriftlich beschrieben hatten. wollten, konnte ich mir ja vorstellen“, so Doch auf die Idee, die Prüfer der ZAIG Hirsch, „aber umbringen, das war schon offiziell zu vernehmen, kamen die Re- eine andere Dimension.“ chercheure der ZERV und der Staatsan- waltschaft nicht. Lediglich mit einem der ZAIG-Leute sei, so Altenbuchner-Königs- dorfer, unverbindlich „gesprochen“ wor- den. So liefen alle weiteren Bemühungen ins Leere: π Die Beschuldigten nahmen die rechts- staatliche Segnung des umfassenden Aussage- und Zeugnisverweigerungs- rechts für sich in Anspruch; π ein Stasi-Offizier aus einer anderen Ab- teilung, der ebenfalls an der Untersu- chung beteiligt war, konnte sich bei sei- ner Vernehmung angeblich an nichts mehr erinnern; π die Akten der Stasi-Disziplinarverfah- ren gegen Hasse und Kappis waren in der Gauck-Behörde angeblich nicht zu finden; π andere Papiere konnten, mangels Deck- blatt, nicht richtig zugeordnet werden oder waren, weil nicht handschriftlich unterzeichnet, juristisch nur einge-

schränkt verwertbar. BILD ZEITUNG „Weiteres belastendes Material“, so Ex-Major Hasse (1990) Oberstaatsanwalt Altenbuchner-Königs- Beinahe das Privatleben ruiniert dorfer in seiner Einstellungsverfügung, „konnte trotz intensivster Nachforschung Am 17.April 1991 machte er sich auf den beim BStU (Bundesbeauftragten für die Weg zur Wohnung von Peter Kappis – in Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Begleitung eines Freundes, der vor der Tür der ehemaligen DDR –Red.) nicht beige- warten sollte, „aus Sicherheitsgründen, bracht werden“. denn die Sache saß mir ganz schön in den So ganz im Bilde kann er damals nicht Knochen“. Die Vorsichtsmaßnahme erwies gewesen sein. Im Matthias-Domaschk-Ar- sich als überflüssig, Kappis war freundlich chiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, und bot ihm sogar ein Bier an. einem eingetragenen Verein, der aus der Als Hirsch ihn auf das Mordkomplott DDR-Bürgerbewegung hervorgegangen ist, ansprach, stritt Kappis zunächst alles ab, lagern Kopien des handschriftlichen An- lenkte dann aber ein und jammerte, hangs der ZAIG-Akte 13748. Darin befindet dass Hirschs oppositionelle Aktivitäten sich ein Zettel, auf dem die Stichworte „be- beinahe sein Leben und das des Kollegen soffen erfrieren,Auto anbohren – Leitung“ Hasse ruiniert hätten: „Privatleben konn- und „Paket – was reinmischen in Flaschen“ ten wir uns abschminken. Immer wenn notiert sind. Die Unterlagen stammen aus wir frei hatten, sind Sie los, und wir der Gauck-Behörde. Frank Ebert, Mit- mussten hinterher.“ Als dann noch seine arbeiter des Domaschk-Archivs, hatte sie Frau gedroht habe, ihn zu verlassen, von dort ohne Schwierigkeiten bekommen. hätten er und Hasse sich über „außer- Der Oberstaatsanwalt versicherte auf gewöhnliche Maßnahmen“ Gedanken ge- Nachfrage des SPIEGEL, weder den Zettel macht. noch den Rest der handschriftlichen Noti- Kappis: „Das müssen Sie doch verste- zen jemals gesehen zu haben. Altenbuch- hen, Sie haben uns tyrannisiert.“ ner-Königsdorfer: „Da muss irgendwas Gunther Latsch

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Während Bundesjustizministerin Herta Christdemokraten einen juristischen Dreh KRIMINALITÄT Däubler-Gmelin (SPD) noch darüber nach- einfallen lassen. Die Polizei bietet im Auf- denkt, Ladendiebstahl künftig wie Falsch- trag der Staatsanwaltschaft gleich nach An- Hart und schnell parken als Ordnungswidrigkeit mit einem zeigenaufnahme die vorläufige Einstellung Knöllchen zu ahnden, um die Justiz von des Verfahrens gegen Zahlung einer „Geld- Ladendiebe werden in Sachsen Bagatellverfahren zu entlasten, wollen die auflage im Sinne der Strafprozessord- Sachsen hart und schnell zuschlagen und nung“, so die Projektbeschreibung, an. Die gleich von der Polizei damit das gleiche Ziel erreichen. Der die- Buße ist in der Regel doppelt so hoch wie zur Kasse gebeten. Das Modell bische Griff ins Regal soll im Freistaat der Wert des Diebesgutes, „mindestens soll die Justiz entlasten. Straftat bleiben und sofort bestraft wer- aber 50 Mark“; gezahlt wird sofort oder den. Ersttäter bittet die Polizei dort seit per Überweisung. Damit bleibt die Staats- in Damenhemdchen, eine Haar- Anfang Oktober gleich nach der Verneh- anwaltschaft formal Herrin des Verfahrens, schleife und Weihnachtsdeckchen – mung zur Kasse – vorausgesetzt, der Ver- prüft aber lediglich noch, ob die Voraus- Ewas die alte Dame eingesteckt hatte, dächtige ist älter als 18 Jahre und hat für setzungen erfüllt sind, und verschickt den machte zusammen 53,90 Mark. Abgerech- weniger als 100 Mark gestohlen. Die Ein- Einstellungsbescheid. net wurde jedoch nicht an der Kasse des stellung des Strafverfahrens wird dann zur Zwar kann jeder Verdächtige auch in Karstadt-Hauses an der Prager Straße in Formsache. Sachsen weiterhin auf einem ordentlichen Dresden, sondern im Büro der Sicher- Sachsen wolle ein Zeichen setzen, sagt Strafverfahren bestehen, etwa wenn er sich heitsabteilung dort. Anita Lausecker aus dem Innenministe- zu Unrecht beschuldigt sieht. Doch gerade beim Ladendiebstahl ist die Wahr- scheinlichkeit dafür gering. Die Auf- klärungsquote beträgt trotz hoher Dun- kelziffer nahezu 100 Prozent, denn nur wer sich erwischen lässt, wird über- haupt amtlich erfaßt. Mehr als die Hälfte der Straftaten, die 1998 in Deutschland registriert wurden, waren Diebstahlsdelikte, ein Fünftel davon wiederum machte der Ladendiebstahl aus. Dresden liegt mit

A. PETER / ACTION PRESS A. PETER / ACTION einer Quote von rund 3000 Ladendieb- Minister Hardraht, Überwachungsspiegel* stählen im Jahr pro 100000 Einwohner Bald wie in der DDR? im Mittel deutscher Großstädte, andere ostdeutsche Metropolen wie Halle, Ros- Volkssport Diebstahl tock oder Magdeburg stehen schlech- ter da. Bundesweit registrierte Straftaten 1998; „Wir wollen gerade Ersttätern zei- insgesamt: gen, dass sich Ladendiebstahl nicht 6,5 Millionen Einfache und schwere lohnt“, sagt Wolfram Jena vom sächsi- Diebstähle schen Justizministerium. Im April, wenn sonstige Straftaten inkl. Laden- das Projekt sechs Monate gelaufen ist, 27,7% diebstähle wollen die Ministerialen Bilanz ziehen. 51,4% Bayern und Baden-Württemberg, so Sachbeschädigungen nur 10,0% Laden- S. DRING / PLUS 49 VISUM Jena, hätten bereits Interesse am säch- Betrug diebstähle sischen Verfahren bekundet, und auch 10,9% Quelle: 10,1% rium. Die Landesregierung glaubt, die bei der jüngsten Sitzung des Strafrechts- BKA „Einführung eines Verfahrensmodells zur ausschusses der Länder sei es auf positive In Sachsen registrierte wirksameren Bekämpfung des Ladendieb- Resonanz gestoßen. 41,1 stahls“, wie das Projekt offiziell heißt, kön- Tatsächlich kommen die Sachsen damit Ladendiebstähle 39,1 40,0 in Tausend ne zum Vorbild für den Rest der Republik einer Forderung namhafter Rechtsexper- 34,3 werden. ten entgegen, dass nämlich Strafe möglichst Bislang wurden in Sachsen wie in ande- zeitnah der Tat folgen sollte, um eine er- 28,2 ren Bundesländern auch fast 50 Prozent zieherische Wirkung zu haben. aller derartigen Verfahren sanktionslos ein- Zudem wird die stets über Verfahrensflut 1994 1995 1996 1997 1998 gestellt. Das aber sei „unter Berücksichti- klagende Staatsanwaltschaft entlastet, den gung kriminalpräventiver Gesichtspunk- Großteil ihrer Arbeit übernehmen Polizis- Hausdetektiv Rainer Haase brachte die te“, wie es in einem internen Schreiben ten. Das bringt der Landesregierung denn Frau, deren Tascheninhalt auf dem Tisch des sächsischen Innenministeriums heißt, auch Kritik der Gewerkschaft der Polizei lag, anschließend 100 Meter weiter ins Her- ein „nicht vertretbares Ergebnis“. Ge- ein. Deren Sprecher Konrad Freiberg äu- tie-Sporthaus. Dort sitzt die Polizei in ei- meinsam traten Innenminister Klaus ßert „Bedenken“, die Polizei habe schließ- nem neu eingerichteten Aufnahmebüro Hardraht und Justizkollege Steffen Heit- lich „genug zu tun“. eigens für Ladendiebstahl. Die Beamten, mann auf die Bremse. „Auch Ersttäter von Auch auf Seiten der Justiz erklingt nicht die in dem karg möblierten Raum die An- Ladendiebstählen müssen die Härte des nur Jubel. Kritiker sehen im neuen Ver- zeige tippten, machten der Frau ein uner- Gesetzes spüren“, lautet ihr Credo. Säch- fahren eine Aufweichung der Gewalten- wartetes Angebot: Gegen Zahlung von 100 sischen „Ladis“ (Polizeikürzel für Laden- teilung. „Das ist ja bald wie in der DDR“, Mark sei der Fall erledigt, das Verfahren diebe) geht es jetzt schon ab zehn Mark so ein sächsischer Richter, „da konnte werde eingestellt. Beutewert an den Kragen. die Polizei bestimmte Delikte gegen Zah- Um das ohne großen Justizaufwand lung eines Bußgeldes eigenmächtig er- * In einem Dresdner Drogeriemarkt. schaffen zu können, haben sich die beiden ledigen.“ Andreas Ulrich

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UNTERHALTUNG „Island ist uns voraus“ Der Berliner Schlagersänger Donato Plögert, 32, über Homosexualität in der deutschen Showbranche

SPIEGEL: Herr Plögert, am vergangenen Samstag waren Sie als angeblich erster offen schwuler Sänger in der ZDF-Hit- parade eingeladen. Tut sich die Branche leichter mit dem Outen? Plögert: Offiziell wird Homosexualität meist weiterhin gründlich vertuscht. Aber man erkennt sich natürlich. Und es gibt eine Menge Schwuler. SPIEGEL: Der Fall Rex Gildo zeigt, dass es sehr belastend ist, nach außen den Frauenschwarm zu geben, aber Männer zu lieben. Haben Sie es leichter? Plögert: Einem solchen Doppelleben CISOTTO / DEIDDA CISOTTO entgehe ich. Aber ich muss damit fertig / CELEBRITY PICTURES B. DAY T. werden, dass mich die großen Platten- Tops aus Halstüchern firmen nicht haben wollen. Sie fürchten, ich könnte ihre anderen Interpreten in MODE Misskredit bringen. SPIEGEL: Der Besungene in Ihrem Lied ist schwer krank. Jeder begreift, dass es Spitze auf dem Nabel um Aids geht. Trotzdem wird die Krank- heit nicht beim Namen genannt. Warum? as tun mit den Tüchern? In den heute ein fest unter den Achseln auf Plögert: Ich wollte keine Ausgrenzun- WUSA haben die so genannten Ca- dem Rücken geknotetes Halstuch, des- gen. Es haben sich viele Menschen bei lifornia-Beach-Girls in diesem Sommer sen Spitze den Bauchnabel knapp be- mir gemeldet, die krebskrank sind oder einen neuen Modetrend entwickelt. deckt. Wer sich bei solcher Luftigkeit Geboren aus der Not des vergessenen eine Mandelentzündung holt, kann sich Bikini-Oberteils eroberte er sich seinen damit trösten, dass sich das hübsche Weg auf die Prominentenpartys. Statt Tuch auch bestens eignet, den schmer- eines Tops trägt die junge Schöne dort zenden Rachen vor Frost zu schützen.

KOMMUNIKATION für Buchstabe eingetippte Kurzpost dem (teureren) Telefonat vor. Viele Post im Quasselknochen Handy-Briefschreiber verhalten sich dabei längst wie Süchtige: Ständig m Pulk einen Zebrastreifen zu über- greifen sie zwangsneurotisch nach

H. SCHNITGER / TIP H. SCHNITGER Iqueren war auch schon mal ungefähr- dem Quasselknochen in der Tasche, um Plögert licher: Immer öfter passiert es, dass der zu prüfen, ob neue Post da ist; beim Vordermann plötzlich stehen bleibt, Autofahren nutzen sie jede rote Ampel sich aus anderen Gründen aufgegeben weil ein Piepton aus seinem Handy zum Tippen – und als Fußgänger ver- haben. Das Lied hat ihnen Mut ge- dringt – und schon kommt es zum fallen sie bei jedem Piep noch im größ- macht. Darauf kam es mir an. Zusammenstoß. Das Piepen ist Erken- ten Getümmel in die gefürchtete Spon- SPIEGEL: Wird die deutsche Schlager- nungszeichen für den Erhalt einer tanstarre. branche in absehbarer Zeit mehr homo- Kurzmitteilung – und von denen sausen sexuelle Sänger und Sängerinnen prä- täglich mehr durch die deutschen Han- sentieren? dy-Netze: 1997 waren es im D2-Netz Plögert: Nein. Ich war jetzt im Gespräch noch kümmerliche 75 Millionen, ein für die deutsche Vorentscheidung zum Jahr darauf schon das Viereinhalbfache. Grand Prix Eurovision, aber ich bin de- Die Zahl der Handy-Mails verdoppelt nen dann doch ein zu heißes Eisen. Is- sich alle sechs Monate. Heute senden land dagegen hat vor zwei Jahren einen nicht nur Handy-Kids, weil man im Ma- offen schwulen Sänger ins Rennen ge- the-Unterricht so schlecht telefonieren schickt, der sein Lied in Lack und Leder kann, die Pläne für die Nachmittagsge- präsentierte. Er ist zwar einer der Letz- staltung von Schulbank zu Schulbank,

ten geworden, aber in seinem Land eine sondern auch immer mehr erwachsene M. WITT Ikone. Island ist uns um Längen voraus. Handy-Nutzer ziehen die Buchstabe Handy-Kurzpost

der spiegel 47/1999 83 Titel K. RUGE Bankerin Schmitz-Abshagen: „Hier zählen die Ergebnisse“ Schauspieler- „Fordert, was ihr kriegen könnt“ In Deutschland tritt eine neue Frauenbewegung an: nicht auf den Straßen, sondern in der Arbeitswelt. Mit Hilfe von Karriere-Netzwerken und Seilschaften machen sich die Frauen auf den Weg an die Macht – und entwickeln neue Formen, Beruf und Familie zu verbinden. Von Susanne Weingarten und Marianne Wellershoff

er Bund Deutscher Architekten hat die minimale Chance, vielleicht in zehn Wenn der Junge abends eingeschlafen 16 Landesverbände. In 15 davon Jahren in die Entscheidungsebene zu kom- ist, gegen acht oder neun, schiebt Czerner Dsteht „ein Mann, so um die 50“, an men, wollte ich nicht warten.“ Stattdessen heute eine weitere Schicht am Zeichenpult der Spitze, sagt die Architektin Alexandra hat sich Czerner hochgerackert durch die ein: Wohnung und Arbeitsplatz liegen im Czerner. Nur in einem nicht, dem Ham- Teilnahme an Architekturwettbewerben, selben Gebäude. „Manche sagen, ich sei burger Landesverband. Denn den leitet sie von denen sie inzwischen mehr als 15 ge- hart geworden“, erklärt Czerner. „Ich sage, selbst – und der heißt seit zwei Wochen wonnen hat. ich bin klar geworden.“ Bund Deutscher Architekten und Archi- Nach der Geburt ihres Sohnes Victor vor Eine neue Frauengeneration ist im An- tektinnen. Den Vorschlag zur Namenser- sechs Jahren nahm Czerner eine Baby- marsch. Ehrgeizig sind die Damen, prag- weiterung hatte Czerner, 36, eingebracht: pause von wenigen Monaten; dann fing sie matisch, stresserprobt, meist hoch qualifi- „Das ist ein Riesenerfolg“, sagt die Unter- wieder an zu arbeiten – mit dem Säugling ziert und selbstbewusst. Ihr Schicksal neh- nehmerin, „90 Prozent der Stimmberech- neben dem Schreibtisch. „Das bedeutete: men sie selbst in die Hand. Sie wollen tigten sind Männer.“ viel Selbstdisziplin zu haben, nicht durch- Selbstverwirklichung, sie wollen Erfolg, sie Vor acht Jahren hat Czerner ihr eigenes zudrehen, wenn das Kind eine Erkältung wollen Einfluss, und sie wollen das alles zu Büro gegründet. „Die Ideen, die in mir hatte und quengelte, gleichzeitig ein ihren Bedingungen. Nahm sich die Frau- schlummerten, wollte ich auch verwirkli- drängelnder Investor am Telefon war und enbewegung vor 30 Jahren vor, das Pa- chen“, sagt sie. Dazu sah sie als angestell- die Zeit bis zu einer Wettbewerbsabgabe triarchat abzuschaffen, so ziehen die Frau- te Architektin kaum Perspektiven. „Auf knapp wurde.“ en von heute die Unterwanderung des

84 der spiegel 47/1999 FOTOS: S. BERGEMANN / OSTKREUZ (FOTOS: li.); BINDRIM / LAIF ( re.) Agentin Holter: Erste Adresse für Stars und Sternchen Vox-Chefin Schäfer-Kordt: Mehr als ansagen, aufsagen und lächeln

Systems vor: Still und zäh infiltrieren sie rungsgruppe besuchen sie den Stammtisch mentatorin in der „Wirtschaftswoche“, die Schaltstellen der Macht in Wirtschaft eines Berufsnetzwerks oder knüpfen „wir sind nur oft dämlich, faul und unauf- und Politik. Frauen-Seilschaften, die in Form und richtig“ – dämlich vor allem deshalb, „weil Fast unbemerkt hat sich so in Deutsch- Zweck den „Old Boys’ Networks“ ihrer wir uns die Hälfte des Himmels nicht ein- land eine neue Frauenbewegung in Kollegen und Konkurrenten abgeschaut fach nehmen“. Gang gesetzt. Sie demonstriert nicht laut- sind. Und statt die Schuld immer beim Das Auffälligste an den neuen Frauen stark auf den Straßen, sondern steigt in System zu suchen, übernehmen sie selbst ist bislang, wie unauffällig sie den gesell- die Führungsetagen der Unternehmen Verantwortung für ihre Defizite: volle Frau schaftlichen Wandel vorantreiben. Von auf. Sie ist nicht mit feministischen Polit- voraus. Emanzipation reden sie nicht, sondern sie fibeln munitioniert, sondern mit Karriere- Wer nicht vorwärts kommt, ist kein leben sie. Die wenigsten definieren sich als ratgebern. Statt lila Latzhosen tragen bedauernswertes Opfer der Männer, son- Feministinnen – auch wenn sie durch- die neuen Vorkämpferinnen lieber weibli- dern selber schuld. Frauen seien „nicht drungen sind von feministischem Gedan- chen Business-Stil; statt der Selbsterfah- schwach“, erklärte kürzlich eine Kom- kengut. „Die früheren Phasen der Frauen- bewegung haben bewirkt, dass es heute Architektin Czerner, Sohn Victor: „Ich sage, ich bin klar geworden“ mehr Frauen gibt, die wissen, was Sache ist“, sagt die Berliner Sozialwissenschaft- lerin Barbara Schaeffer-Hegel. „Das sind Frauen, die scharf darauf sind, etwas zu verändern. Und diese Frauen stellen sich nicht mit lautem Gebrüll vor die Tore des Systems und hoffen, dass die Mauern von Jericho dadurch einfallen.“ Rund ein Drittel aller neuen Unterneh- men werden heute von Frauen gegründet, oft genug von solchen, die sich vorher den Kopf an der berüchtigten, weibliche Kar- rieren hemmenden „gläsernen Decke“ in männerfixierten Firmen blutig gestoßen haben. Vor einigen Wochen erst versam- melten sich rund 115 Unternehmerinnen aus dem Raum Franken zur ersten fränki- schen Frauen-Messe in Nürnberg, die

M. ZUCHT / DER SPIEGEL „zahlreiche Foren“ für „Vernetzung und 85 Titel AP Rot-grüne Bundesministerinnen*: „Politikerinnen erlauben sich heute das Streben nach Macht“

Austausch der Unternehmerinnen und ke Schäfer-Kordt, 36; und Christiane zu Mechthild Holter, 37, Gründerin und Ge- Gründerinnen“ anbot. Salm-Salm, 33, lenkt seit April 1998 als Ge- schäftsführerin der Schauspieler-Agentur In der Politik weicht die geschlechtsspe- schäftsführerin die Management-Geschicke Players, ihre Firma zu einer der ersten zifische Ressortverteilung seit Mitte der der Musiksender MTV und VH 1 in Mit- Adressen für Stars und Sternchen im deut- achtziger Jahre auf: Frauen rackern nicht teleuropa. Innerhalb weniger Jahre hat schen Film- und Fernsehgeschäft gemacht. mehr nur in den „typisch weiblichen“ Ku- Insgesamt hat der Appetit schelecken wie Familie, Jugend, Kultur und Selten in Spitzenpositionen der Frauen auf die Macht Soziales, sondern wagen sich in die gewaltig zugenommen. In Kernressorts wie Wirtschaft, Finanzen und Erwerbstätige Frauen in Führungspositionen einer Interviewstudie unter in Prozent Inneres. In der derzeitigen Bundesregie- in Prozent der 15- bis 64-Jährigen Führungskräften, welche die rung sind Ministerinnen zuständig für die 74,2 Dänemark 3,7 Hamburger Wirtschafts- Ressorts Justiz, Bildung, Familie, Gesund- wissenschaftlerin Son- heit und Entwicklungshilfe; die ehema- 74,1 Schweden 2,8 ja Bischoff 1990 leite- lige Berliner Umweltsenatorin Michaele te, „haben sich die Schreyer ist EU-Haushaltskommissarin. 69,8 Finnland 4,1 Frauen noch durchweg Auch in den Medien steigt die Anzahl von der Macht distan- qualifizierter Frauen, die mehr als nur an- 61,8 Deutschland 3,7 ziert“. Eine Geschäfts- sagen, aufsagen und in die Kamera strah- führerin sagte damals 61,8 Österreich 4,8 len: Die wichtigste politische Talkshow des gar, Macht sei „ein böses Landes wird von Sabine Christiansen, 42, 61,3 Niederlande 6,1 Wort“. Heute dagegen, ein moderiert; Konkurrenz macht ihr seit kur- knappes Jahrzehnt später, zem Maybrit Illner, 34, mit ihrer Sendung 61,0 Frankreich 5,7 sehe es mit der weiblichen Be- „Berlin Mitte“. Chefin des Fernsehsen- ziehung zur Macht „ganz er- ders Vox ist seit Anfang dieses Jahres An- 60,3 Portugal 5,6 freulich aus“, sagt Bischoff, die gerade eine Studie über 52,9 Belgien 7,6 Topleute der Wirtschaft pu- * (Gesundheit), Christine Bergmann (Fa- bliziert hat**. Auch ihre Stu- milie, Senioren, Frauen und Jugend), Edelgard Bulmahn 46,7 Spanien 7,7 (Bildung), Herta Däubler-Gmelin (Justiz), Heidemarie dentinnen hätten teilweise Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe). Quelle: 46,0 Griechenland 6,4 „richtig Lust auf Macht: Sie ** Sonja Bischoff: „Männer und Frauen in Führungs- Eurostat wollen ihr Leben so gestalten, positionen der Wirtschaft in Deutschland. Neuer Blick 0,6 auf alten Streit“. Wirtschaftsverlag Bachem, Köln; 168 43,6 Italien wie sie es haben wollen, und Seiten; 48 Mark. wissen genau, dass das nur mit

86 der spiegel 47/1999 einem gewissen Quantum an Macht mög- Eine größere Bereitschaft zum Griff große Schranke im Beruf nieder. „Unsere lich ist“. nach der Kohle lässt sich inzwischen er- Firma expandiert, doch Managementstel- Eine ähnliche Erfahrung machte die Ber- kennen: Gerade jüngere Frauen hätten len werden von außen besetzt, mit Män- liner Politikwissenschaftlerin Helga Lu- „ein gewandeltes Verhältnis zum Geld“, nern“, sagt Christina Groß*, 30, eine Di- koschat, die 1998 bei einer Umfrage unter sagt die Hamburger Finanzberaterin Su- plom-Kauffrau und Junior-Product-Mana- deutschen Politikerinnen überrascht fest- sanne Kazemieh, „sie erwarten, dass sie gerin bei einem Nahrungsmittelkonzern. stellte, „dass die Mehrzahl sich selbst ein ein Berufsleben lang über Einnahmen ver- Anstatt darüber im Stillen zu jammern, positives Verhältnis zur Macht attestiert“. fügen werden, und halten es nicht für un- geht Groß zum Gegenangriff über: „Ich Die bis vor wenigen Jahren üblichen „Um- weiblich, sich über deren Investition Ge- habe mich mit meinen direkten Kollegin- schreibungen und Distanzierungen“ seien danken zu machen“. nen zusammengesetzt und festgestellt: selten geworden: „Politikerinnen erlauben Ein anderes Problem ist die unsichtbare Frauen werden nicht befördert.“ Nun wol- sich heute das Streben nach Macht“, er- „gläserne Decke“, die in vielen Unterneh- len die Jungmanagerinnen den Firmenchef klärt Lukoschat. men Frauen am Aufstieg hindert: Zwar zu einem klärenden Gespräch bitten. Dass Macht das Thema sei, das Frauen setzt die Diskriminierung wesentlich spä- Die Mittdreißigerin Stefanie Hirsch*, die derzeit am meisten beschäftige, hat auch ter ein als noch vor einem Vierteljahrhun- im mittleren Management eines Zigaret- die Ratgeber-Autorin Barbara Berckhan dert – aber in den Dreißigern saust die tenkonzerns arbeitet, hat die Erfahrung ge- bemerkt: „Frauen wissen inzwischen, dass macht, dass „Frauen Jobs un- sie gut kommunizieren und sich einfühlen ter Bedingungen angeboten können, jetzt wollen sie Power“, erklärt werden, die Männer nie ak- sie. „Auf der Sachebene wollen sie bitte zeptieren würden, etwa als mal Ergebnisse sehen.“ kommissarische Leiter oder Häufig haben die neuen Erfolgsfrauen mit reduziertem Gehalt“. schon die ersten Fältchen um die Augen – So erging es auch der PR- und reichlich Erfahrung mit den Tücken Managerin Birca Weidel, 35, des Patriarchats. Es ist kein Zufall, dass es bis vor kurzem Prokuristin nicht die Berufsanfängerinnen sind, die und Mitglied der Geschäfts- heute den Status quo zu ihrem Vorteil um- leitung eines Finanzdienst- modeln wollen. Junge Frauen spüren lan- leisters. Sie hatte als Berufs- ge überhaupt nicht, dass auf sie Nachteile anfängerin ihren ersten Job in dieser Gesellschaft warten. Sie erleben unter anderem deshalb be- sich in Schule und Ausbildung als voll- kommen, weil die Firma be- kommen gleichberechtigt (SPIEGEL 25/ wusst eine Frau einstellen 1999). „Es ist heute für eine Frau kein Pro- wollte. „Warum? Weil der blem mehr, eine Stelle zu kriegen“, erklärt Sekretärinnenposten einge- Bischoff, „erst wenn sie die Stelle hat, fan- spart wurde und es einem gen die Probleme an.“ Mann nicht zuzumuten sei, Eine Schwierigkeit ist die schlechtere sein Sekretariat selber zu Bezahlung: Bis heute verdienen Frauen machen“, erzählt Weidel,

in Westdeutschland nur 76,9 Prozent M. WITT „für eine Frau sei das ja kein vom Bruttostundenlohn der Männer; in Problem.“ Ihr Fazit: „Solche Ostdeutschland, wo die Frauen gegenüber Dinge muss man hinnehmen ihren West-Schwestern einen jahrzehn- Anja Keil, 32, Marketingleiterin und was daraus machen.“ telangen Vorsprung bei der Erwerbstä- In Brasilien ist sie geboren, in Rumänien, Portugal und Wenn Frauen das Oil-of- tigkeit haben, beträgt die Rate immer- China ging sie zur Schule, in Deutschland studierte sie Olaz-Alter zwischen 35 und hin 89,9 Prozent. In Unternehmen, in de- Betriebswirtschaftslehre, und ein Praktikum machte sie in 40 Jahren erreicht haben, nen viele weibliche Führungskräfte sitzen, Japan. Da ist es nur folgerichtig, dass Anja Keil, nach eini- werde „ihnen bewusst, dass ist das Einkommensniveau aller Spitzen- gen Jahren im Marketing des Fernsehsenders Premiere, sie im Beruf nur schwer wei- leute, egal welchen Geschlechts, geringer heute für das internationale Medium Internet arbeitet: als terkommen“, bestätigt die als in anderen Unternehmen: Der niedri- Marketingleiterin von America Online und Compuserve in Hamburger Unternehmens- gere Gehaltslevel der Frauen zieht auch Hamburg. Konferenzen von morgens bis abends, Dienst- beraterin Helga Richter, 43, die Bezahlung der Männer in Mitleiden- reisen, Strategieplanung, Nachtschichten – viel Zeit für die dem Verein „Frauen im schaft. Privates bleibt nicht. Das wird aufs Wochenende verlegt, Management“ (FIM) vor- Auch da liegt die Schuld allerdings nicht auch deshalb, weil ihr Freund in einer anderen Stadt lebt. steht, die Erfahrungen dieser nur beim System. „Nach wie vor stellen Bei den Kolleginnen in den USA hat sie gesehen, dass Managerinnen. Viele leiden sich Frauen bei Gehaltsverhandlungen eine Führungsposition nicht automatisch Verzicht auf Kin- darunter, dass sie sich isoliert blöd an“, ärgert sich die Münchner Unter- der bedeutet: „Mit der richtigen Partnerschaft, in der das fühlen und sich mit massiver nehmensberaterin Claudia Harss, 40. Dass Kind nicht Frauensache ist, und der richtigen Infrastruktur Antipathie der Kollegen her- Frauen in Geldfragen „zu bescheiden“ sei- aus Kinderfrau, Kindergarten und Verwandten geht das.“ umplagen müssen. Doch so en, registriert auch Martina Borgmann, 36, In Deutschland gebe es dagegen ein „Mentalitätspro- frustrierend sich der Arbeits- Personalberaterin bei dem Düsseldorfer blem“, sagt Keil. „Wenn die Kinder nicht mittags bei Mut- alltag gestalten mag: Die Unternehmen Kienbaum. „Sie sagen: ,Spre- tern Spaghetti Miracoli essen, ist die Welt nicht in Ord- Frauen begegnen ihren chen wir darüber, wenn ich die Arbeit gut nung.“ Unter den amerikanischen Kolleginnen bestehe zu- Schwierigkeiten heute mit gemacht habe.‘ Frauen brauchen die innere dem „eine unausgesprochene Frauensolidarität“, denn anderen Strategien. Sicherheit, dass sie Qualität bringen, um „wenn man das Karrierespiel spielen will, muss man die Der Boom an Ratgebern Forderungen zu stellen.“ Männer dagegen Regeln beherrschen, und zu denen gehören Politik und für den weiblichen Markt, hätten „keine Zweifel, dass sie die Arbeit Strategieplanung“. Mit Männern arbeitet Keil gut und gern die Karrieretipps geben oder schaffen“. Darum rät die Wirtschaftswis- zusammen, „aber auf Dauer entwickelt man mit Frauen eine allgemeine Ego-Stär- senschaftlerin Bischoff ihren Studentinnen: eine persönlichere Ebene und baut ein Wir-Gefühl auf“. „Fordert, was ihr kriegen könnt!“ * Name von der Redaktion geändert.

der spiegel 47/1999 87 Werbeseite

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kung versprechen, zeigt, dass sie ent- schlossen und pragmatisch nach Hilfe su- chen: „Machiavelli für Frauen“ hat bisher eine Auflage von 108000 Exemplaren er- Kürbissuppe aus dem Netz reicht; ein Bestseller dieses Herbstes ist Sabine Asgodoms Motivationsbuch „Erfolg Stellenangebote, Computertipps und virtuelle Vereine – Frauen ist sexy! Die weibliche Formel für mehr nutzen das Internet zum Informationsaustausch. Lust im Beruf“*. Selbst die Altfeministin Alice Schwarzer hält diese Ratgeber, er Kaffeeklatsch gehört zu den das Magazin „gURL“ bietet jungen „wenn sie gut sind“, für die feministische Traditionen weiblichen Sozialle- Mädchen an, sich auf einer Homepage zu Literatur der neunziger Jahre (siehe Inter- Dbens, und deshalb hat er seinen präsentieren. Ältere Frauen organisieren view S. 107). Platz auch in der virtuellen Nebenwelt sich im „Older Women’s Network Eu- Zuhauf drängen Frauen auch in Semina- des Internet gefunden. Unter der Adres- rope“, und der Provider „woman.de“ bie- re und Schulungen, die ihnen zaghaftes se www.hausfrauenseite.de wird im Chat- tet Frauen Zugang zum Internet, - weibliches Sprachverhalten austreiben und Room genannten Wohnzimmer geklönt, Seiten und Listen von Frauenverbänden. mehr Durchsetzungskraft im Auftreten ein- man kann sich Rezepte für Kürbis- In Deutschland gibt es seit zwei Jahren bläuen sollen. „Jüngere Frauen könnten suppe und Zebrakuchen herunterladen einen Ableger der in Amerika gegründe- sich einige Ehrenrunden sparen“, glaubt oder aber auf der „Schwangerschaftssei- ten „Webgrrls“. Es ist ein Zusammen- die Unternehmensberaterin Harss, „wenn te für Dicke“ über den richtigen Umgang schluss von Frauen, die in Multimedia-Be- sie besser informiert wären über erfolgver- mit dem Übergewicht infor- sprechendes Verhalten im Job.“ mieren. So müssen sie unter anderem Ein Drittel der Internet-Be- „lernen, ihre Leistung besser zu nutzer sind Frauen, und sie er- verkaufen“, sagt die FIM-Vor- obern die Welt des Netzes mit sitzende Richter: „Ich richte den eigenen Service-Seiten, Clubs Appell an Frauen, mehr einzu- und Foren. Bücher wie „Cy- fordern, mit Selbstbewusstsein bergrrl – Der Internet-Guide die eigenen Fähigkeiten auf den für Frauen“ oder „Women’s Markt zu bringen.“ Links – Das kommentierte Am einfachsten ist dies, wo Internet-Adressbuch 2000“ Angestellte ausschließlich nach zählen mehr als 1000 Web- ihrer Leistung bezahlt werden – adressen für Frauen auf. zum Beispiel in Investmentab- Als Pionierinnen in der teilungen von Banken, wo Frau- Computerwelt gelten die Bri- en mit ihren männlichen Kolle- tin Ada Gräfin von Lovelace, gen gleichziehen. „In diesem die 1842 eine der ersten Ab- Bereich gibt es kein hierarchi- handlungen über program- sches Denken, hier zählen mierbare Rechenmaschinen die Ergebnisse“, sagt Susanne schrieb, und die Amerikanerin Frauen-Webseite: Elektronischer Kaffeeklatsch Schmitz-Abshagen, die bei der Betty Holberton, 82, die wäh- Deutschen Bank in Frankfurt ein Team von rend des Zweiten Weltkriegs die Software rufen arbeiten – ein „Forum für Wissens- zehn Wertpapier-Beratern leitet. Sie selbst zur Flugbahn-Berechnung von Granaten transfer, Erfahrungsaustausch, Jobver- hatte nach ihrem Japanisch- und Volks- schrieb. Sie war, wie die Programmiererin mittlung,Weiterbildung und Networking“ wirtschaftsstudium in London vor elf Jah- und spätere US-Admiralin Grace Murray nennt Karin Maria Schertler, 31, Gründe- ren bei einer US-Investmentbank ange- Hopper, an der Erfindung der Compu- rin der deutschen Gruppe, die Organisa- fangen. Heute weiß sie: „Für Frauen war es tersprache Cobol beteiligt. tion. Über E-Mailing-Listen tauschen die damals im internationalen Geschäft einfa- Heute schreiben Frauen nicht nur Soft- Cyber-Mädels Erfahrungen zu den Themen cher als in Deutschland.“ ware. Wie die Münchnerin Loretta Wür- „Job, Business, Web-Entwicklung“ aus. Wenn ihre Chancen schlecht stehen, zei- tenberger, 27, die mit ihrer Firma Web- Das heißt beispielsweise, dass sie sich gen Frauen den Mut, Firmen zu verlassen. miles die Idee der Rabattmarke aufs Netz gegenseitig über Stellenangebote infor- Sie seien „heute nicht mehr bereit zu sa- überträgt, gründen sie Internetfirmen mieren oder einander bei Programmier- gen: Hier bin ich, und hier bleibe ich, auch oder entwerfen Websites. Da sie über das problemen unterstützen. In der realen wenn ich diskriminiert werde“, glaubt Bi- Netz mit ihren Auftraggebern kommuni- Welt treffen sie sich in Ortsgruppen zu schoff, „sondern sie sagen: Dann gehe ich zieren können, sind sie nicht auf einen Themenabenden wie „Geldanlage für eben“. So wie die dynamische PR-Frau Arbeitsplatz im Büro angewiesen, son- Frauen im Zeichen des Euro“. Weidel: Die quittierte ihre erste Stelle, weil dern können freiberuflich und flexibel an Weil auch das Bundesbildungsministe- sie „im Unternehmen keine Aufstiegs- fast jedem Ort der Welt arbeiten. Mit ei- rium, die Bundesanstalt für Arbeit, die Te- chancen hatte“. genen Homepages machen sie im Web lekom und die Zeitschrift „Brigitte“ neue Dass Weidel trotzdem glaubt, „Schutz Werbung für sich. Berufschancen für Frauen im Internet und Hilfe von anderen Frauen“ nicht zu Vor allem aber ist die einfache, schnel- sehen, haben sie Ende September die Ak- brauchen, sondern sich zur „Einzelkämp- le und billige Kommunikation per Inter- tion „Frauen ans Netz“ gestartet. In 1200 ferin“ stilisiert, ist eine Haltung, zu der ge- net Grundlage für die moderne Form des kostenlosen Seminaren lernen die Frauen rade taffe Do-it-yourself-Frauen neigen. Vereins: das virtuelle Netzwerk. So haben den Umgang mit dem Internet. „Ohne In- Individualistisch, wie sie sind, wollen sie es sich Künstlerinnen aus Deutschland,Aus- formations- und Kommunikationstechno- allein schaffen. Aber indem sie sich wei- tralien und Russland zum „Old Boys Net- logie“, sagte Bundesbildungsministerin work“ zusammengeschlossen, um ge- Edelgard Bulmahn, „sind die Berufe der * Sabine Asgodom: „Erfolg ist sexy! Die weibliche For- meinsame Kunstprojekte zu entwickeln; Zukunft nicht mehr denkbar.“ mel für mehr Lust im Beruf“. Kösel Verlag, München; 238 Seiten; 29,90 Mark.

90 der spiegel 47/1999 gern, ihre eigenen Schwierigkeiten im Zu- Expertinnen beraten zu The- sammenhang mit denen anderer Frauen zu men wie Steuern, Finanzie- sehen, schieben sie Phänomene ins Priva- rung und Marketing. te ab, die als strukturelles Problem ver- • „Zonta“, 1919 in den handelt werden müssten. USA gegründet, ist ein inter- Damit verkehren sie die alte Erkenntnis nationaler Wirtschaftsclub der Frauenbewegung, dass das Private po- für Frauen, der neue Mitglie- litisch sei, in ihr Gegenteil: Heute gilt das der nur auf Empfehlung auf- Politische als privat. Jede Frau für sich er- nimmt. 77 Regionalclubs gibt lebt die Schwierigkeiten in ihrem Leben – es in Deutschland, in denen und zwar als individuelles Versagen und jeweils nur zwei Frauen aus Scheitern. Hunderttausend Leserinnen demselben Beruf vertreten von „Machiavelli für Frauen“ bilden eben sein dürfen. Die Mitglieder

noch kein machtvolles Kartell in der Ge- M. ZUCHT / DER SPIEGEL verstehen sich als Netzwer- schäftswelt, sondern bleiben hunderttau- kerinnen, engagieren sich aber send Einzelkämpferinnen mit knirschen- auch national wie internatio- den Backenzähnen und hoher Frust-Ak- Diane Tönsing, 44, Geschäftsfrau nal für soziale Randgruppen zeptanz. Erst im vergangenen Frühjahr verwirklichte Diane Tön- und beraten unter anderem die Von dieser aussichtslosen Solonummer sing den Plan, den sie einige Jahre mit sich herumge- Vereinten Nationen. aber verabschieden sich immer mehr Frau- tragen hatte: Sie eröffnete gemeinsam mit Manuela • Der „Deutsche Akade- en. „Ich habe angefangen, feministisch zu Nygaard, 37, in Hamburg ein Geschäft für Kinderklei- mikerinnenbund“ (rund 1800 denken“, sagt die Nahrungsmittelmanage- dung, Kindergeschenke und Partyartikel. Außerdem or- Mitglieder) verfügt über rin Groß, „eine Frauenbewegung in ganisiert sie Geburtstagspartys, von der Einladungskar- bundesweit 30 Gruppen, die Deutschland wäre nötig, um Lobbyarbeit te bis zu den Preisen fürs Topfschlagen. 13 Jahre lang sich monatlich treffen, und zu leisten.“ Mit Mitte 30 würden viele hatte die ausgebildete Lehrerin zuvor ein Strickwaren- veranstaltet Fachtagungen Frauen „frauenorientierter“, sagt auch geschäft geführt. Die Betreuung ihrer heute sieben Jah- und Seminare. Richter: „Sie gehen in Netzwerke, woran re alten Tochter teilt sie sich mit ihrem Mann, der eine • Die Organisation „Bu- sie vorher nie gedacht haben. In einem Dreiviertelstelle als Lehrer hat. Als die Tochter klein siness Professional Women Netzwerk aktiv zu sein ist keine Vereins- war, kümmerten sich auch noch Tagesmutter, Großel- “ (circa 1000 Mit- mitgliedschaft, sondern eine Lebensphilo- tern und Patentante um sie. „Ich musste nie mit Vorur- glieder), Ableger eines welt- sophie.“ Mehr als 300 solcher Kontaktbör- teilen kämpfen, weil ich berufstätig bin“, sagt Tönsing, weiten Frauen-Berufspla- sen für Frauen gibt es inzwischen in „wer Erfolgserlebnisse im Beruf hat, ist privat viel aus- nungsnetzes, hat bundesweit Deutschland – ein sprunghafter Anstieg geglichener.“ Auch die meisten ihrer Kundinnen haben 28 Clubs, die Stammtische, seit Beginn des Jahrzehnts, als die Zahl einen Job, erzählt sie, „nehmen sich aber viel Zeit für Seminare und Vortragsreihen noch bei rund 75 Zusammenschlüssen lag. die Kinder“. Allerdings hat Tönsing beobachtet, dass abhalten. Die wichtigsten Frauen-Netzwerke bieten „die Geburtstagsorganisation manchmal zu übertrie- • „Connecta – Das Frau- inzwischen ein umfangreiches Angebot: ben ist, vielleicht, weil die Eltern glauben, ihr Kind kom- ennetzwerk“ (etwa 130 Mit- • Das „European Women’s Manage- me im Alltag zu kurz“. Väter betreten den Laden meist glieder) fördert Frauen in ment Development International Net- nur, um etwas abzuholen. „Ich glaube, sie wollen sich Führungsverantwortung, bie- work“ (EWMD) ist ein internationaler Zu- nicht mehr engagieren, sonst würden sie das nämlich tet in zehn Regionalgruppen sammenschluss von 1200 Führungsfrauen tun“, sagt Tönsing, „sie können sich doch auch sonst Weiterbildung, Erfahrungs- (Deutschland: 300), darunter Spitzenma- durchsetzen.“ austausch, Einzelberatung nagerinnen, Freiberuflerinnen und Füh- und einen vereinsinternen rungsnachwuchs, der auf regionaler, na- Infodienst an. tionaler und internationaler Ebene unter ter anderem Veranstaltungen mit Exper- • Der Verein „FIT – Frauen in der Tech- anderem Vorträge, Kongresse und Stu- ten anbieten. nik“ dient bundesweit als Koordinations- dienreisen organisiert. • „FAU – Frauen als Unternehmerin- stelle für Frauennetzwerke mit den • Bei „FIM“, der „Vereinigung für Frau- nen“ (40 Mitglieder) hat zum Ziel, Exis- Schwerpunkten Naturwissenschaft und en im Management“ (circa 300 Mitglieder), tenzgründerinnen, Selbständige und Frei- Technik. engagieren sich Selbständige und Manage- beruflerinnen mit Workshops und Infor- • Die „Frauenakademie München“ rinnen in sieben Regionalgruppen, die un- mationsveranstaltungen zu unterstützen. (FAM, rund 170 Mitglieder) fungiert als re- gionales Akademikerinnen-Netz, das auch Noch lange nicht gleich bundesweit die Beratung durch Expertin- Quelle: nen anbietet. Bruttostundenlöhne der Frauen in Prozent der Löhne der Männer Eurostat ohne Prämien In solchen Zirkeln treffen sich Frauen, um Kontakte aufzubauen, Erfahrungen auszutauschen, Informationen zu sam- 89,9 88,1 87,0 83,2 81,6 meln, Rat zu erfragen oder zu verteilen. 76,9 76,6 76,5 74,0 73,7 73,6 71,7 70,6 „Holen Sie sich Unterstützung und Förde- rung“, lockt das Kölner „Managerinnen- Kolleg“, das ein Netzwerk-Seminar anbie- tet: „Schließen Sie sich mit Frauen zusam- men, die auch in Führungspositionen sind

oder dorthin möchten, profitieren Sie von neue Bundesländer neue alte Bundesländer alte den Erfahrungen anderer Frauen, gestal- ten Sie mit an einer neuen weiblichen Italien Führungskultur.“ Die Teilnehmerinnen sol- BelgienFinnland Spanien Portugal DänemarkSchweden Frankreich Österreich Deutschland Deutschland Niederlande len sich als „Teil einer machtvollen Bewe- Großbritannien gung von (potenziellen) Führungsfrauen“

der spiegel 47/1999 91 Werbeseite

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Werbeseite Titel sehen, die „das Gesicht der Unternehmen verändern werden“. Klassisches Mentoring – erfahrene Führungsfrauen beraten Nachwuchskräfte – bieten Expertinnen-Beratungsnetze an, die sich in Hamburg, Berlin, Dresden, Köln und München etabliert haben. Praktiziert wird „Brutpflege im Job“ – die Beraterin- nen helfen bei Ärger mit Kollegen ebenso wie beim Wiedereinstieg nach der Baby- pause. Angeschlossen sind zahlreiche Ex- pertinnen, darunter Juristinnen und Inge- nieurinnen. Ein regelrechtes Mentorinnen- programm hat die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft ins Le- ben gerufen: Die Berliner Initiative ver- A. FUCHS Wirtschaftsexpertin Bischoff Bereitschaft zum Griff nach der Kohle mittelt ehrgeizigen Nachwuchskräften eine mehrmonatige Trainee-Zeit an der Seite einer Spitzenfrau: späteres Jobangebot nicht ausgeschlossen. Auch das Internet (siehe Kasten Seite 90) nutzen bildschirmgeschulte Frauen zu- nehmend zu solchen Zwecken. Über die „Webgrrls“ etwa haben sich für Maike El- lenberg, tätig in der Markt- und Trendfor- schung via Internet, „erstaunliche berufli-

che Kontakte durch den Austausch in den M. WITT Mailinglisten“ aufgetan; andere Mitglieder Personalberaterin Borgmann: „Frauen brauchen die Sicherheit, dass sie Qualität bringen“ berichten von Aufträgen, Job-Angeboten und sogar Vollzeitarbeitsplätzen, die sich dem, was die 68er-Frauen auf der Straße über den virtuellen Vermittlungsservice er- gemacht haben, aber sie haben eine Soli- geben hätten. „Ich poste alle meine Jobs darität untereinander, weil sie wissen, bei den Webgrrls“, teilt eine Internet-Ar- was sie voneinander wollen.“ Statt „das beitgeberin mit. Schwesterlichkeitssyndrom“ der klassi- „Netzwerke können Kraftpakete sein schen Frauenbewegung aufleben zu lassen, für Frauen, die es satt haben, länger als setzten sie heute auf „professionelle Ko- Einzelkämpferinnen im Job dazustehen“, operationsformen“. glaubt die Publizistin Kirsten Wolf, die ge- Die müssen Frauen häufig erst lernen, rade ein einschlägiges Handbuch veröf- denn in ihrer Erziehung zur Nettigkeit sind fentlicht hat*. die rein zweckorientierte Zusammenarbeit „Das, was jetzt an Network-Arbeit un- und – noch schwieriger – der souveräne ter Frauen stattfindet, kann man als eine Umgang mit Konkurrentinnen nicht ange- neue Form von Frauenbewegung verste- legt. Nicht selten erschweren Neid und In- hen“, sagt Barbara Schaeffer-Hegel, die trigen das erfolgreiche Häkeln am Karrie- 1995 die Europäische Akademie für Frau- renetz. „Jede, die sich in Sachen Frauen- en in Politik und Wirtschaft ins Leben rief. power hervortut, trifft ganz schnell auf

„Diese Frauen identifizieren sich nicht mit A. FUCHS Frauen, die an ihr herumkritteln“, erklärt

* Kirsten Wolf: „Karriere durch Networking“. Falken Netzwerk-Aktivistin von der Heiden Verlag, Niedernhausen; 144 Seiten; 24,90 Mark. Trend zu professioneller Kooperation 94 Monika Rühl, 43, Beauftragte für Chan- durchsetzen muss, ist es sicher legitim und wäre – zumindest für Westdeutschland – cengleichheit der Deutschen Lufthansa AG, richtig, dass Frauen die Tricks erfolgreicher undenkbar ohne die klassische Frauenbe- „auf diese Art und Weise beschäftigen wir Männer kopieren. Politisch aber ist es ein wegung, die heute so heftig attackiert wird. Frauen uns wunderbar mit uns selbst.“ Zeichen dafür, dass die neue Frauenbewe- Ende der sechziger Jahre hatte sie begon- Dass sich die neue Frauenbewegung aus gung sich von jeder Utopie verabschiedet nen, die gesellschaftliche Aufgabenteilung berufsorientierten Netzwerken, Mentorin- hat – ein notwendiger Abschied, aber doch der Geschlechter in Frage zu stellen. Sie nenprogrammen und Internetgruppen zu- ein Abschied mit Verlusten. brach die Vorherrschaft der „Hausfrauen- sammensetzt, zeigt einen radikalen Be- Dass Frauen aller Schichten sich heute ehe“, in der die Gattin morgens den Ernäh- wusstseinswandel: Abgehakt sind alle ein Leben ohne berufliche Selbstverwirk- rer an der Haustür mit einem Kuss verab- großen Träume von der feministischen Re- lichung kaum noch vorstellen können, schiedete und abends wieder in Empfang volution. Darüber, dass Frau- nahm. en als die vermeintlich besse- „Meine Frau braucht nicht zu arbeiten“: ren Menschen eine bessere, Dieser Satz hatte in der bundesrepublika- friedlichere, gerechtere Welt nischen Nachkriegszeit Wohlstand und ge- schaffen wollten, können die sellschaftliches Prestige signalisiert; die Newcomerinnen nur leise Frauenbewegung deutete ihn zur Fessel lächeln. Das Ziel hat sich ver- des weiblichen Geschlechts um. schoben von der gesellschaft- Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der lichen Erneuerung auf die ge- Frauen wurde eines der wichtigsten Anlie- sellschaftliche Teilhabe. gen der feministischen Bewegung, auch in Die neuen Frauen sind ge- dem stillen Glauben, dass sich die Frauen prägt von der Ideologiemü- scharenweise von ihren patriarchalen Un- digkeit und Politikverdros- terdrückern trennen würden, wenn sie erst senheit der Gegenwart. Sie ihr eigenes Geld in der Tasche hätten. Die wollen die Werte der Erfolgs- geduckte, geschlagene Ehefrau, die sich kultur nicht verändern, son- eine Scheidung wirtschaftlich nicht erlau- dern streben an, sie auch den ben kann, war eine der Vorzeigefiguren im Frauen zugänglich zu ma- feministischen Polittheater. chen. Dazu passen sie sich an Und tatsächlich: Keine andere Forde- bestehende Strukturen an rung der Frauenbewegung – außer viel- und handeln pragmatisch, leicht die nach dem Recht auf Abtreibung taktisch und realistisch statt – hat sich gesellschaftlich so durchgesetzt idealistisch – was sich sicher- wie der Aufruf zur Erwerbstätigkeit. 1960 lich auch durch ihre Enttäu- gingen in Westdeutschland 47 Prozent der schung über das Scheitern der Frauen im erwerbsfähigen Alter einem Be- hochfliegenden Vorstellungen ruf nach; 1998 waren es 56 Prozent. Im ihrer Mütter erklärt. Osten lag die weibliche Erwerbsquote 1989 Dieser Pragmatismus hat bei 81 Prozent; nach der Wende fiel sie zur Folge, dass selbst Frag- 1995 auf Grund der Massenarbeitslosigkeit würdiges nicht in Frage ge- auf unter 74 Prozent. stellt wird: Der Nepotismus Auch als die Frauen an ihren Arbeits- der Männer etwa, in denen Reinigungsmittelwerbung (1964): Mit Kuss verabschiedet plätzen feststellen mussten, dass sie Angehörige einer Elite einan- der die Karriere-Steigbügel halten, wird nicht mehr kriti- siert, sondern ganz bewusst imitiert. Ebenso wird kaum disku- tiert, wie die Zukunft denn aussehen soll, wenn Frauen es erst einmal an die Spitze ge- schafft haben.Werden sie, als die „besseren Männer“, alles so lassen, wie es ist? Oder gibt es tatsächlich so etwas wie weibliche Führungsqualitäten – weniger hierarchisch, weni- ger autoritär und statusfixiert, dafür sachlicher, flexibler und teambezogener? Würde die Wirtschaft zur Weiberwirt- schaft, und wäre sie wirklich das menschlichere System? Erfahrungswerte gibt es man- gels Masse kaum, und die Wissenschaftler streiten sich. Als Strategie einer Grup- pe, die sich im Wirtschaftsle- ben gegen Benachteiligungen Zeitungswerbung: Die Werte der Erfolgskultur nicht verändern, sondern daran teilhaben

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60-Jährigen sagen lassen, was der richtige Weg ist“, klagt Zerrahn. Statt sich zu erneuern, wurde die Frau- enbewegung verbiestert und sektiererisch. „Mythenpflege“ ersetze „die Nachfor- schung nach all den Frauen, die der Bewe- gung und dem Feminismus im Lauf der Jahre verloren gegangen sind“, kritisiert die Berliner Autorin Katharina Rutschky in ihrer unlängst publizierten Abrechnung mit der Frauenbewegung, und Mythenpflege ersetze auch „das Nachdenken darüber, warum es zu keiner Traditionsbildung ge- kommen ist“**.

JAUCH & SCHEIKOWSKI JAUCH In den langen, konservativ geprägten Erfolgsfrauen in Hollywood*: Erste Fältchen und reichlich Erfahrung mit dem Patriarchat „Backlash“-Jahren der Kohl-Ära büßte die westdeutsche Frauenbewegung praktisch Schwierigkeiten hatten, akzeptiert zu wer- Mit fundamentalistischem Eifer beharr- ihren gesamten politischen Einfluss ein – den oder gar aufzusteigen, war die Frau- te sie auf ihren Dogmen, als wären sie die unter anderem deshalb, weil sie es ver- enbewegung für sie da. Sie lieferte die Ana- Zehn Gebote, weigerte sich, neuere politi- säumt hatte, sich etablierte Foren und Lob- lyse der patriarchalisch strukturierten Be- sche Entwicklungen oder gar Fortschritte bygruppen zu schaffen, die fest im System rufswelt, in der Frauen ausgeschlossen und der Frauen zur Kenntnis zu nehmen, und verankert waren. Nur an den Universitäten von der Macht fern gehalten würden. Sie stellte ihre Werte nicht mehr in Frage. überwinterten die Altfeministinnen – und untersuchte das unterschiedliche Sozial- „Heute wird von uns jüngeren Frauen er- betrieben zunehmend weltfremde For- und Sprachverhalten am Arbeitsplatz, das wartet, dass wir uns von den mittlerweile schung. Anders in den USA: Die amerika- Frauen immer wieder auflaufen ließ. Sie nische Feministin Naomi entwickelte die Quote, sie setzte Gleich- Wolf etwa ist gerade zur stellungsbeauftragte durch, sie kämpfte ge- Corinna Steinauer, 36, Managerin offiziellen Beraterin des gen sexuelle Belästigung. „Frauen brauchen keinen Sonderstatus“, sagt Corinna demokratischen Präsident- Warum hat es die Frauenbewegung dann Steinauer, „sie können auch so ihren Weg machen.“ schaftskandidaten Al Gore – all diesen Errungenschaften zum Trotz – Sie selbst war 27 Jahre alt, als sie Innendienstleiterin ernannt worden. innerhalb weniger Jahrzehnte fertig ge- der bayerischen Bezirkszentrale von Lekkerland, einem „Wenn eine Bewegung lan- bracht, dass ihr der Nachwuchs in Scharen Lebensmittelgroßhändler, wurde. Mit 33 Jahren machte ge politisch und gesellschaft- fernbleibt? Warum hat sie ein so miserables sie einen Karrieresprung, wechselte in die Industrie zu lich erfolglos bleibt, ist sie Image? Philips in Hamburg und wurde Mitglied der Geschäfts- nicht mehr attraktiv“, glaubt „Die Frauenbewegung hat kein Rollen- leitung für den Bereich Hausgeräte – als erste Frau auf Schaeffer-Hegel. „Dann gibt bild entwickelt, das den Frauen gerecht einem solchen Posten. Auch Männer hatten sich für die es zwar immer noch die Un- wurde, die mir in meinem realen Leben Position beworben, aber am Ende, vermutet Steinauer, zufriedenen, die andere Un- begegneten“, sagt die Hamburger Publi- „haben meine Erfahrung und meine Persönlichkeit den zufriedene suchen und zu- zistin Signe Zerrahn, 37, die in einer Streit- Ausschlag gegeben: Ich habe nie versucht, jemand an- sammen den Chor anstim- schrift 1995 mit den Fehlern der Altfemi- ders zu sein, als ich bin“. Außerdem „haben Frauen ei- men, wie schrecklich alles ist, nistinnen abgerechnet hat. „Ich kannte nen höheren Anspruch an sich als Männer“, erklärt die aber das bringt uns ja nicht Frauen, die sich durchbissen, die Beruf Managerin, „sie erwarten von sich, keinen einzigen weiter.“ und Familie managten, ohne großartig Fehler zu machen“. Auch ihr Mann, ein selbständiger Dazu kommt, dass die über Emanzipation zu reden.“ Und auch Unternehmensberater, halte ihr manchmal dieses Be- Frauenbewegung aus ideolo- über einen konstruktiven neuen Umgang dürfnis nach Perfektion vor. Zehn bis zwölf Stunden ar- gischen Vorbehalten heraus mit den Männern war von der Frauenbe- beitet Steinauer pro Tag, in ihrer Freizeit spielt sie Ten- wenig unternommen hat, um wegung wenig zu lernen: Denn die Män- nis und Golf oder geht ins Fitnesscenter. „Wichtig ist“, Müttern das alltägliche Le- ner kamen allenfalls als Täter im radikal- sagt sie, „die Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu ben zu erleichtern. Für die feministischen Weltbild vor, nicht aber als schaffen.“ meisten Frauen aber bedeu- Partner oder gar als Väter gemeinsamer ten Kinder eine Bereiche- Kinder. rung ihres Lebens, auf die sie Die klassische Frauenbewegung in nur schweren Herzens ver- Deutschland sei „zu stark moralingetränkt“ zichten. Geprägt von alten gewesen, ergänzt die Sozialwissenschaftle- und neuen Weiblichkeits- rin Schaeffer-Hegel. „Das Bindeglied der idealen – hier Mutterschaft, Frauen war das gemeinsame Leiden.“ Ihr Familie, Haushalt, da Er- Halleluja galt dem Opferstatus der Frauen, werbstätigkeit, Erfolg, Selbst- die im Patriarchat belästigt, vergewaltigt, verwirklichung –, wollen sich ausgebeutet und unterdrückt wurden. Als viele nicht zwischen diesen „gruseliges Selbstmitleid“ kritisiert Zerrahn Lebensinhalten entscheiden. diese Fixierung auf Leid und Schrecken. Hilfestellung allerdings Die Frauenbewegung hatte sich zur Klage- haben Frauen bei ihrem Rol- mauer begeben – und war gegen eine Wand lenspagat kaum zu erwarten. gerannt. Bei einer aktuellen Forsa- Umfrage gaben 58 Prozent * Bette Midler, Diane Keaton, Goldie Hawn in „Der der befragten berufstätigen Club der Teufelinnen“ (1996).

**„Emma und ihre Schwestern“. Carl Hanser Verlag, M. ZUCHT / DER SPIEGEL Frauen zwischen 25 und 45 München/Wien; 158 Seiten; 29,80 Mark. Jahren an, dass hauptsäch-

96 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel lich sie für Haushalt und Kinder zuständig Kindes bis zu drei Jahre in seien – bei den Männern trafen diese Aus- den gesetzlich gewährten Er- sage nur 10 Prozent. Weiterhin wird ziehungsurlaub.Viele wollen Frauen das Leben zwischen Windeln und sich die Lebensqualität, die Windows 98 schwer gemacht: Die Arbeits- sie aus dem engen Zusam- zeiten sind familienfeindlich; die Kinder- menleben mit dem eigenen garten- und Schulzeiten dagegen jobfeind- Baby gewinnen, gar nicht lich. „Es ist fast, als gäbe es drei Kategorien rauben lassen – aber sie von Arbeitskräften: Männer, Frauen und wären froh, wenn ihre Un- Mütter“, klagt die britische Autorin Su- ternehmen flexiblere Ar- zanne Franks, die eine pessimistische Ana- beitsmöglichkeiten anböten, lyse der weiblichen Arbeitsmarktchancen die sie nicht zum Totalaus- verfasst hat*. stieg in der Babyphase zwin- Zwar hat seit Januar 1999 jedes Kind ab gen würden.

drei Jahren in Deutschland einen einklag- M. WITT Denn Karriere machen in baren Anspruch auf einen Kindergarten- dieser Zeit die Männer, auch platz, aber die Betreuungszeiten sind häu- die Väter, die unbeirrt ihre fig so angelegt, dass sie selbst einen Teil- Magitta Godow, 33, Unternehmerin „face time“ absitzen. „Wenn zeitjob unmöglich machen. In Bayern oder Die kräftezehrende Arbeit auf der Intensivstation war eine Frau solche Prioritäten Rheinland-Pfalz etwa gibt es Regelkinder- keine verlockende Perspektive für die Krankenschwes- setzt, hat das Folgen für die gärten mit einer geteilten Betreuungszeit. ter Magitta Godow. Deshalb gründete sie mit ihrem Karriere“, sagt die Wirt- Sechs Stunden am Tag können Eltern ihren Mann, einem Krankenpfleger, vor fünf Jahren in Eutin schaftswissenschaftlerin Bi- Nachwuchs dort unterbringen – aber zwi- einen ambulanten Kranken- und Altenpflegeservice. Als schoff achselzuckend, „denn schen 12 und 14 Uhr müssen die Kids ab- das erste Kind geboren war, wechselten die beiden der vergleichbare Mann geholt und bekocht werden. sich wochenweise mit Büro- und Elternarbeit ab. Nach bleibt drin.“ Darum hält sie „Man kann heute nicht arbeiten und ein einer komplizierten zweiten Schwangerschaft war die den Erziehungsurlaub „für Kind haben“, glaubt Zerrahn, Mutter einer Rückkehr schwer, weil die alten Damen und Herren einen politischen Flop“. dreijährigen Tochter, „wenn man nicht sich an Herrn Godow als Firmenchef gewöhnt hatten. Auch die Architektin mindestens fünf Frauen im Hintergrund Also arbeitet Magitta Godow derzeit nur aushilfsweise Alexandra Czerner hat „die hat, auf die man sich verlassen kann.“ Im im Pflegedienst, der insgesamt 13 Mitarbeiter hat, und Lebensläufe meiner Mitstu- Leben jeder berufstätigen Mutter gebe es bietet einen Versorgungsservice mit Sondennahrung dentinnen beobachtet und „private Strukturen, die gesellschaftlich an. Sobald das jüngste Kind in den Kindergarten geht, festgestellt: Entweder haben nicht wahrgenommen werden, weil sie will sie wieder Vollzeit oder 30 Stunden pro Woche ar- sie wegen der Karriere keine auch gesellschaftlich nicht erwünscht beiten und eine Ausbildung zur Heilpraktikerin begin- Kinder, oder sie haben die sind“. Doch die hohe weibliche Kunst der nen. Bei der Hausarbeit wird ihr Mann, der jetzt auch Karriere wegen des Kindes Improvisation nutzt wenig, wenn die Ar- einkauft, kocht, wäscht und bügelt, dann wieder mehr abgebrochen“. Für nötig hält beitsbedingungen zu rigide sind, um sie mithelfen. „Freie Zeiteinteilung und Flexibilität“, sagt sie „eine Haltungsänderung: anwenden zu können. Godow, seien die größten Vorteile der Selbständigkeit: Wer Kind und Karriere will, In den meisten Unternehmen herrscht „Ich kann nachts um drei Briefe auf Kassette diktieren muss sich etwas einfallen las- eine Anwesenheitspflicht (in den USA oder meinen Mann bitten, auf die Kinder aufzupassen.“ sen. Das gilt natürlich ge- heißt diese prägnant „face time“), die sich nauso für Väter“. nicht damit verträgt, den Nachwuchs vom Kindergar- ten abzuholen oder ihn zur Immer später... Schluckimpfung zu fahren. * 28,6 Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes 28,2 „Die Strukturen der Wirt- in Jahren 27,6 schaft haben sich herausge- 27,1 bildet unter Männern“, sagt 26,9 Schaeffer-Hegel, „die kei- WESTDEUTSCHLAND 26,2 nerlei Verantwortung für das 25,2 Privatleben und den Alltag 24,9 24,9 24,8 24,9 24,3 hatten.“ Chancengleichheit OSTDEUTSCHLAND am Arbeitsplatz ist unver- einbar mit dieser männlichen Organisation der Arbeitszeit. Denn die totale Verfüg- barkeit und das „sektenarti- ...und immer weniger ge Engagement“ für ein Un- Zahl der Kinder je 15- bis 50-jähriger Frau ternehmen, wie es die Zi- garettenmanagerin Hirsch nennt, sind mit einem Klein- 2,5 2,5 kind kaum zu schaffen. Dar- 2,0 um gehen die meisten Frau- 1,5 1,4 1,5 1,3 1,4 en nach der Geburt eines WESTDEUTSCHLAND 1,3 0,8 1,0 * Suzanne Franks: „Das Märchen von der Gleichheit. Frauen, Männer und *ehelich lebend geboren; Quelle: Statistisches Bundesamt OSTDEUTSCHLAND die Zukunft der Arbeit“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 318 Seiten; 39,80 Mark. 1961 65 70 75 80 85 90 95 97

98 der spiegel 47/1999 M. HORN Theaterstück „Sekretärinnen“ (in Hamburg): Frauen neigen dazu, sich ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen

Nicht nur Frauen müssen zwischen Be- Gewalttätigkeit neigten und Frauen als Kol- Mit ihrem Drang, sich als „Super- ruf und Elternschaft wählen, sondern auch leginnen und Vorgesetzte akzeptierten. An woman“ zu betätigen, setzen sich Frauen Männer: Die entscheiden sich mehrheit- der „üblichen Schieflage zwischen Männer- selbst unter Dauerstress und verwickeln lich gegen Familienzeit und Familienarbeit, und Frauenengagement im Haus und in der sich in Schuldgefühle. Die alte feministi- gegen eine Vaterschaft, die sie jeden Tag Kindererziehung“ würde auch das pro- sche Parole, dass Frauen das Recht auf al- stundenlang in Anspruch nimmt – und das gressive Fünftel wenig ändern, bedauerten les haben, ist im Superwoman-Modell mu- ohne die Schuldgefühle, mit denen sich die Sozialwissenschaftler Paul Zulehner tiert zu der Überzeugung, dass Frauen das Frauen quälen. Weniger als zwei Prozent und Rainer Volz, Verfasser der Studie. Recht auf alles gleichzeitig haben – und aller Erziehungsurlauber sind Jungväter. Während die Männer mit ihrem Plan- dieser Glaube ist wiederum umgeschlagen „Wenn Männer sagen, Familie ist für mich A-Leben vollauf ausgelastet sind, unter- in die mühsame Pflicht, alles gleichzeitig das Wichtigste, bedeutet das nicht, dass sie werfen sich Frauen dem Anspruch, alle schaffen zu müssen. ihre Karrierepläne zurückstecken würden, Aspekte ihres Lebens zu meistern. „Das „Der häufigste Fehler ist es, sich als Frau wenn ein Kind da ist“, erklärt die Psycho- Problem ist, dass Frauen immer perfekt alles aufzuladen. Irgendwann wacht man logie-Professorin Andrea Abele-Brehm. sein wollen: perfekte Karriere, perfekte auf und sagt: Wie viel Zeit ist mir für mich „Frauen hingegen überlegen sich von vorn- Hausfrau, perfekte Ehefrau, perfekte Mut- geblieben?“, erklärt die Unternehmensbe- herein, wie sie Familie und Beruf unter ei- ter“, sagt die FIM-Vorsitzende Richter. raterin Harss. „Man muss früh auf seine nen Hut bringen können.Also: Gleiche Pri- „Das ist nicht förderlich. Frauen neigen Rechte pochen, den Lebenspartner in oritäten mit unterschiedlichen Konse- dazu, sich ein schlechtes Gewissen einre- Haushalt und Kindererziehung einbezie- quenzen.“ den zu lassen.“ hen, eine Putzfrau engagieren, eine Tages- Männer seien „zu 90 Pro- zent mit Plan A beschäftigt, ihrem Beruf“, sagt die Per- in Schwalbach bei Procter & Gamble in der Markt- sonalberaterin Borgmann, forschung; ihr Mann dagegen studierte noch und „Plan B, Familie und Haus- wurde Hausmann. Für die Zeit des Mutterschutzes halt, nimmt allenfalls 10 Pro- blieb Guesnet zu Hause, hängte noch den Jahres- zent in Anspruch.“ Diese urlaub dran und stieg dann zunächst mit einer Drei- Verteilung ergibt sich durch- Tage-Woche wieder in den Job ein. So machte sie es aus nicht immer freiwillig, auch bei den beiden nächsten Kindern. Inzwischen sondern wird Nachwuchs- ist sie mit ihrer Familie in die Nähe von London ge- kräften auch durch gesell- zogen, und nach fünf Beförderungen avancierte sie schaftlichen Druck abver- zur internationalen Marktforschungsmanagerin für langt: „Wer als Mann Kar- die Procter-&-Gamble-Parfums. „Der große Unter- riere machen will“, sagt Pe- schied zu meinen männlichen Kollegen, die Kinder ter Mayer, Personalentwick- haben, ist, dass ich um 18 Uhr nach Hause gehe“, ler bei DaimlerChrysler, sagt sie. Die täglichen 9,5 Stunden im Büro arbeitet „darf sich heute nicht vorbe- Guesnet so effizient wie möglich: „Ich wusste immer haltlos zur Familie beken- genau, was fünf Minuten bedeuten.“ Im Haushalt,

nen. Niemand kann in einer M. DANNER sagt sie, engagiere sie sich wahrscheinlich mehr als Sitzung aufstehen und sagen: berufstätige Männer, zum Beispiel kochen sie und Mein Sohn wartet, ich muss ihr Mann abwechselnd. Er habe jedoch alles in al- jetzt gehen.“ Florence Guesnet, 35, lem den weniger dankbaren und schillernden Part Nur 19 Prozent „neue“ Marktforscherin übernommen, obwohl er andererseits öfter als sie Männer förderte im vergan- „Wir haben auf die Gehaltsabrechnung geschaut, dazu kommt, Zeitung zu lesen. „Manchmal bin ich genen Jahr eine sozialwis- und dann war die Sache klar“, sagt Florence Gues- nach einem Wochenende froh, wenn Montag ist, senschaftliche Studie in net: Als 1993 ihre erste Tochter geboren wurde, hat- weil kleine Kinder einen dauernd in Anspruch neh- Deutschland zu Tage: Män- te sie bereits ihr Studium der Wirtschaftswissen- men“, erzählt Guesnet, „im Büro kann man dagegen ner, die partnerschaftlicher schaften in Wuppertal abgeschlossen und arbeitete auch mal sagen: Jetzt bitte nicht.“ eingestellt seien, weniger zu

der spiegel 47/1999 99 Werbeseite

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Werbeseite Titel mutter beschäftigen und nicht versuchen, sierung und Digitalisierung die Superfrau zu sein. Dass viele Frauen der Wirtschaft sein, die Frau- das trotzdem tun, hat mit einer Dienstleis- en wie Männer ganz auto- tungshaltung zu tun. Wenn der Kühl- matisch in eine fremde neue schrank leer ist, meinen sie, dass sie ihn fül- Arbeitswelt mit ungewohn- len müssten.“ ten Anforderungen und Dass auch ihre eigenen eingeschliffenen Chancen katapultieren. Die Verhaltensmuster dazu beitragen, den Sta- traditionelle Vollbeschäfti- tus quo an Waschmaschine und Gefrier- gungsbiografie wird rarer, an fach aufrechtzuerhalten, haben Frauen in ihre Stelle tritt eine Norma- den letzten Jahren selbstkritisch eingese- lisierung der „Patchwork- hen; die alte Frauenbewegung hatte stets Karriere“, die Teilzeitarbeit,

die „Kannst du mir mal ein Bier holen, M. WITT Jobsharing, Zeitverträge, Schatz“-Pantoffelpatriarchen für die weib- Freiberuflichkeit, Heimarbeit liche Doppelbelastung verantwortlich ge- und streckenweise Arbeitslo- macht. Wer Pflichten in Haushalt und Fa- Tatjana Pichler, 34, sigkeit umfassen kann. milie abgibt, gibt auch Macht auf – und Unternehmensberaterin Für gut ausgebildete, mo- zwar eine traditionell weibliche. Das fällt „Für mich war es immer eine Horrorvorstellung, allein er- tivierte Frauen kann diese vielen Frauen offensichtlich schwer. ziehende Mutter zu sein“, sagt Tatjana Pichler, und dann Auflösung der tradierten Wo die alten Beziehungsstrukturen tat- wurde sie es doch. Als ihre Tochter Lilith vor fünf Jahren Strukturen – bei aller sozia- sächlich aufbrechen, kriselt es zwischen geboren wurde, arbeitete die studierte Betriebswirtin als len Unsicherheit – durchaus den Geschlechtern: Berufstätige in den kri- Junior Product Managerin in der Industrie. „Dorthin konnte Vorteile bieten, um Karriere tischen Jahren zwischen Mitte und Ende 30 ich nicht zurück“, erzählt sie, „weil die von mir verlangten, und Privatleben besser zu beobachten oft, dass sich in ihrem Freun- ganztags zu arbeiten.“ Also hielt sie sich ein halbes Jahr vereinbaren. „Es gibt heute deskreis etliche Paare trennen. Dem An- lang als freiberufliche Headhunterin über Wasser, brachte viel mehr Möglichkeiten, spruch, dass sich beide im Job verwirkli- Lilith morgens für drei Stunden zur Tagesmutter und telefo- sich beruflich aus frauen- chen, halten viele Bindungen nicht stand – nierte abends weiter. Mit viel Mühe fand sie für die Tochter feindlichen Strukturen abzu- besonders wenn die Kinderfrage geklärt einen Platz im Kindertagesheim und arbeitete für eine setzen“, sagt Signe Zerrahn. werden muss. „Ich rate Frauen, frühzeitig Kunstmarketingagentur – von 8.30 Uhr bis 17 Uhr. „Ich Dass man seinen Laptop in einer Partnerschaft darüber zu sprechen, hatte ein schlechtes Gewissen, weil Lilith immer die Letzte überall einstöpseln kann, zur wie man sich die Kindererziehung vor- war, die abends abgeholt wurde.“ Als die Tochter einen Not auch im Hobbyraum, ist stellt, und dann gemeinsam einen Weg zu fiebrigen Infekt hatte, wollte die Agenturchefin nicht zulas- eine Freiheit, die ungezählte suchen, das zu realisieren“, sagt die deut- sen, dass Pichler bei ihrem Kind blieb. „Ich hätte nicht ge- Firmengründerinnen nutzen. sche EWMD-Vorsitzende Christa von der dacht, dass ausgerechnet Frauen so hart sein können“, Die pragmatischen Frauen Heiden. Ihr Mann ist Berufsschullehrer – sagt Pichler. Seit anderthalb Jahren hat sie nun eine Drei- von heute lassen sich etwas und hat den größeren Teil von Hausarbeit viertelstelle bei der Unternehmensberatung „Deutsche einfallen. „Gesellschaftliche und Kindererziehung übernommen, um ihr Perot Systems“ in Hamburg. Ihr damaliger Chef, erzählt Veränderung kann man nicht die Karriere zu ermöglichen. sie, hatte selbst drei Kinder und zeigte beim Vorstellungs- nur im Großen fordern, man Aber mit rein privaten Abmachungen gespräch daher Verständnis für ihre Situation. Denn das muss sie auch im Kleinen wird es nicht getan sein. Denn die scheitern größte Problem für Alleinerziehende sei „die Unflexibilität praktizieren“, glaubt Ale- fast zwangsläufig an den starren gesell- der Firmen“. Dabei seien gerade Mütter „sehr gute Arbeit- xandra Czerner. Sie will den schaftlichen Strukturen und Erwartungen nehmerinnen, weil die gewohnt sind, schnell und effizient Mitarbeiterinnen ihres Archi- in Deutschland. Die Sozialwissenschaftle- zu organisieren“. tekturbüros die Möglichkeit rin Barbara Schaeffer-Hegel plädiert darum geben, auch mit Kind „ihren für einen umfassenden Strukturwandel, um Job so weiterzumachen wie die Voraussetzungen, „die das Zusammen- stalten: „Warum soll es in hundert Jahren bisher“. Mütter bekommen ihr eigenes leben von Männern, Frauen und Kindern in nicht denkbar sein, dass die Männer auch Zimmer und dürfen ihr Baby mitbringen. unserer Gesellschaft regeln“, neu zu ge- zwischendurch ein bisschen relaxen und Sobald mehrere Kinder da sind, soll für sie sich mehr um private Dinge kümmern, was ein Spielzimmer eingerichtet werden, und Computer-Unternehmerin Closs ihrer geistigen und sozialen Entwicklung die Mitarbeiterinnen können gemeinsam Widerstand gegen den ewig gleichen Trott mit Sicherheit gut tun würde?“ eine Tagesmutter engagieren. „Die Frauen Auch die Publizistin Suzanne Franks sollen nicht das Gefühl haben, sie müssten träumt von einem Modell, „in dem beide pausieren“, sagt Czerner. „Trotzdem er- Partner einen großen Anteil der Betreu- warte ich, dass die Leistung stimmt.“ ung ihrer Kinder selbst übernehmen, sich Die Unternehmensberaterin Harss über- gleichzeitig aber auch eine akzeptable Po- lässt den freiberuflichen Trainerinnen, die sition auf dem Arbeitsmarkt sichern – ohne für sie arbeiten, „die Entscheidung, wie dabei ihre Kinder nur zum Gutenachtkuss lange sie nach der Geburt ihres Kindes zu sehen oder unsoziale Arbeitszeiten ein- wegbleiben“. Es habe sich gezeigt: „Die halten zu müssen“. Ansätze eines solchen meisten sind sehr schnell wieder da.“ Clau- Strukturwandels finden sich heute schon in dia Harss selbst hat drei Wochen nach der manchen Unternehmen, die Kinderbe- Geburt ihres Sohnes einen Vortrag gehal- treuung anbieten und Flexibilisierungsmo- ten. Ihre Kollegin wird sechs Wochen nach delle von Arbeitszeit und Arbeitsort er- der Niederkunft ein Seminar geben. „Dann proben, um hoch qualifizierte Frauen – ge- legt man sich nach einem Termin kurz aufs rade junge Mütter – zu binden. Sofa“, sagt Harss, „und dann geht es schon Vor allem aber werden es der Wandel wieder.“ zur Dienstleistungsgesellschaft, der Sprung Bereits zweimal wurde die Münchner

M. FENGEL ins Informationszeitalter und die Globali- Firma Comet Computer für ihre „guten

der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

Ideen zur Verbesserung der sechs Millionen Mark Umsatz rechnet, Chancengleichheit von Frau- klingt angesichts dieser Freizügigkeit pa- en und Männern“ von der radox: „Äußerste Disziplin, Koordination Bayerischen Staatsregierung und Kommunikation“ seien die Vorausset- ausgezeichnet. Vor zwölf zung ihres Modells, sagt Sissi Closs, die Jahren gründeten Sissi Closs, selbst auch nicht dem Image der Ge- 45, und ihr Geschäftspart- schäftsfrau entspricht. Die Informatikerin ner Michael Kusch den klei- trägt gelegentlich bauchnabelkurze Tops, nen Betrieb, der ausgerech- dazu Schlaghosen, und hält wenig von de- net im Online-Dschungel zentem Make-up. verständliche Betriebsanlei- Hoch qualifizierte EDV-Spezialisten, die tungen anbieten wollte. Mitt- in allen Branchen dringend gesucht wer- lerweile bedienen sich Sie- den, ködert Closs, Mutter eines Sohnes, mens, AT&T, Nixdorf, IBM mit familienfreundlichen Arbeitsbedin- und die Bundesanstalt für Ar- gungen, wie sie kaum ein anderes Unter- beit der technischen Über- nehmen in Deutschland bietet. Nur ein

setzungshilfen. Das Comet- M. WITT FOTOS: Drittel der 24 Frauen und 16 Männer Team verfasst außerdem arbeitet voll, sei es den Kindern, sei es Handbücher für Software- anderen Aufgaben zuliebe. 16 Kinder zwi- programme, entwirft Kon- Nadine Thoma, 30, Filmproduzentin schen 1 und 25 wuchsen und wachsen qua- zepte für Unternehmen, die Der erste Schritt in ihrer Karriere endete in einer Sack- si mit dem Unternehmen auf.Als die Krab- sich im Internet vorstellen gasse: Die Privatschule für visuelle Kommunikation, belgruppen unter den Computern zu groß wollen, und hilft Behörden, die Nadine Thoma in Paris besuchte, ging Pleite. Also wurden, gründete Closs mit anderen einen von den schwedischen Ar- fing sie an einer deutschen Grafikschule noch mal von Hort. Heute betreut eine fest angestellte beitsämtern bis zum Bayeri- vorne an. Inzwischen ist Thoma Geschäftsführerin von Kinderfrau den Nachwuchs, bei Bedarf schen Landeskriminalamt, Markenfilm Berlin, einer Produktionsfirma für Werbefil- auch in den Schulferien. Notfalls überneh- sich zu vernetzen. me. „Es hat Vor- und Nachteile, eine Frau zu sein“, men weniger ausgelastete Kollegen schon Bei Comet kommen und sagt Thoma, „man hat feinere Sensoren, aber man mal einen Spielplatz-Dienst. gehen 40 Mitarbeiter, wann muss sich stärker behaupten und steht mehr unter Be- Ein Leben im immer gleichen Trott sie wollen. Ob sie zu Hause obachtung.“ In der Werbefilmbranche gebe es eine konnte Sissi Closs sich beim Eintritt ins oder im Altbaubüro, nahe Zweiteilung: Männer setzen sich eher im kreativen Be- Berufsleben nicht vorstellen. Während sie dem Oktoberfest, arbeiten, reich durch, Frauen eher im organisatorischen. Kinder ihr Unternehmen gründete, begann sie, entscheiden die Kollegen hat Thoma nicht, das Projekt Familie „steht erst mal nebenbei Tanzstunden zu geben. Ihre selbst. Manche verbringen 12, hintenan“. Aber „generell habe ich einen Kinder- Mitarbeiter sucht sie, abgesehen von der andere 35 Stunden pro Wo- wunsch“, sagt Thoma, „und ich bin überzeugt, dass Qualifikation, danach aus, dass sie „mit che am Arbeitsplatz. Und wer ich dann auch Wege finde, Beruf und Familie zu verei- ihrer Lebenseinstellung zu uns passen nicht weiß, wohin mit den nen“. Für dieses Lebensmodell hat Thoma ein Vorbild: müssen“. Kindern, bringt sie einfach Ihre Mutter habe immer als Fotografin gearbeitet „und Einige Übersetzer arbeiten von Tene- mit. es trotzdem geschafft, mir ein richtiges Zuhause zu riffa oder New York aus. Eine Mitarbei- Der Grund dafür, dass die bieten“. terin zog mit Mann und Kind erst nach Firma in diesem Jahr mit Darmstadt, später nach Bonn und schickt ihre technischen Dokumen- tationen nun von dort. Vier- mal in der Woche steht sie vormittags, wenn ihre Kin- der anderweitig versorgt wer- den, ihren Kunden telefo- nisch zur Verfügung, zwei Abende sind für die Arbeit reserviert. Das Netzwerk klappt nur, weil in der bayerischen Zen- trale alle Kollegen, Kunden und Projekte in einer Hand zusammenlaufen. Eine Büro- leiterin organisiert Rund- rufe, verschickt E-Mails und lädt einmal im Monat zum Teamgespräch ein. Außerdem gibt es eine Notfall-Planung. Als neulich das Zusammen- spiel zwischen München und New York kurz vor Projekt- schluss auseinander brach, sprang die Chefin ruck, zuck selbst ein. „Flexible Teilzeit“, sagt Closs, „lebt von der Flexibilität aller.“ Netzwerk-Vorsitzende Richter (M.), Mitglieder: „Lernen, unsere Fähigkeiten besser zu verkaufen“ Mitarbeit: Bettina Musall

104 der spiegel 47/1999 J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS WISCHMANN / AGENTUR J. Feministin Schwarzer: „Frau kann nicht jeden Morgen beim Kaffee darüber nachgrübeln, wie sie heute die ganze Welt verändert“ „Wir brauchen Frauenbündelei“ „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer über Feminismus und Karriere

SPIEGEL: Frau Schwarzer, Anfang der sieb- flikte hinzu: Von Frauen wird eher Lei- freudig überrascht, wenn sie mit ihren Pro- ziger Jahre waren in Westdeutschland 47 denschaft für Männer und Liebe erwartet testen etwas erreichte. Heute haben junge Prozent der Frauen berufstätig, heute sind als für ihren Beruf. Frauen viel mehr Illusionen und sind dann es 56 Prozent. Reicht Ihnen das? SPIEGEL: Und was wollen die Frauen selbst? enttäuscht, wenn ihre Hoffnungen sich Schwarzer: Dieser Sprung ist relativ gesehen Schwarzer: Vor 25 Jahren sagte das fort- nicht erfüllen. Das Problem ist: Sie halten und für den Westen enorm, vor allem an- schrittlichste Drittel der jungen Frauen: Ich die Hindernisse für ihr Einzelschicksal … gesichts von Rezession und Arbeitslosigkeit. will einen Beruf, aber wenn Kinder kom- SPIEGEL: … statt für das Schicksal ihres Ge- Und Frauen wird es nicht einfach gemacht: men, setze ich aus, und ich hoffe, dass mein schlechts? Sie haben in der Regel immer noch die Dop- Mann auch bei Haushalt und Kindern hilft. Schwarzer: Ja. Das in den siebziger Jahren pelbelastung von Beruf und Familie zu tra- Dieses Drittel ist heute das rückschritt- von uns Feministinnen erreichte kollek- gen – auch wenn es den einen oder anderen lichste. Für fortschrittliche junge Frauen ist tive Wissen über die Hindernisse, auf die netten Mann gibt, der im Haushalt „hilft“. es inzwischen selbstverständlich, einen Be- alle Frauen treffen, ist heute ersetzt durch SPIEGEL: Berufstätigkeit ist nicht gleich Kar- ruf zu haben und zu behalten. Wenn sie den kollektiven Glauben, alles sei mög- riere.Warum schaffen Frauen bis heute nur sich für Kinder entscheiden, ist es klar, dass lich. Alle starren auf das Hera-Lind- selten den Weg ganz an die Spitze? sie sich die Arbeit mit dem Mann teilen – Phänomen, das uns einreden will: Frauen Schwarzer: Die Männerbünde sind ganz zumindest ist das die Absicht. In der Rea- könnten Geliebte und Mutter sein, schick schön fest gezurrt, da kommt eine Frau lität sieht das noch mal anders aus.Was da und schlank sein und noch Karriere ma- nicht so leicht dazwischen. Solange Frau- in den Köpfen passiert ist, ist eine richtige chen. Jüngere Frauen glauben das, und en nett und jung sind, harmlos scheinen Kulturrevolution. wenn es ihnen nicht gelingt, halten sie das und als Konkurrenz nicht so ernst genom- SPIEGEL: Die Revolution in der Lebens- für ihr ganz persönliches Versagen – und men werden, werden sie gefördert. Sobald wirklichkeit gestaltet sich schwieriger. sind deshalb zu schnell bereit, Kompro- sie aber gleichziehen wollen, wird die Luft Schwarzer: Das Bewusstsein ist der Rea- misse zu schließen. sehr dünn. Und dann kommen innere Kon- lität voraus. Meine Frauengeneration war SPIEGEL: Welche?

der spiegel 47/1999 105 Werbeseite

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Schwarzer: Zuerst geben sie ihre Karriere- wir in Wahrheit gerade im besten Kanz- SPIEGEL: Wer weiß – vielleicht wären Sie träume auf. Über 90 Prozent derjenigen, die leralter sind. Wenn diese gesellschaftliche sonst Bundeskanzlerin. berechtigt sind, Erziehungsurlaub zu neh- Spaltung gelingt, muss jede Frauengenera- Schwarzer: Danke. Ich wollte das tun, was men, beantragen ihn auch. Darunter sind tion wieder von vorn anfangen und kann meiner Begabung entspricht und was mir knapp 2 Prozent Männer. Die Frauen räu- nicht auf den Erfahrungen anderer auf- sinnvoll erschien. Und das ist in meinem men ihren Arbeitsplatz, und je qualifizier- bauen. Das wäre schrecklich. Fall: als Journalistin zu arbeiten. ter sie sind, desto schwerer wird die Rück- SPIEGEL: Also machen Frauen auch einan- SPIEGEL: Wenn Sie heute Berufsanfängerin kehr. Nun sind sie also für Kind und Haus der das Leben schwer? wären: Würden Sie sich einen der vielen zuständig, und der Mann, der von der Arbeit Schwarzer: Sicher. Frauen müssen lernen, Karriereratgeber kaufen, die für Frauen kommt, sagt: Schatz, könntest du mal bitte dass ihre Karriere nicht zwangsweise die auf dem Buchmarkt angeboten werden? die Windeln wegräumen? Eine solche Frau Karriere anderer Frauen verhindert. Im Schwarzer: Warum nicht? Aber verlassen zementiert ihre Zuständigkeit als Mutter Gegenteil. Männer sind gewohnt, sich als würde ich mich nicht darauf. Verlassen und Hausfrau. Sie kann nicht von einem Teil eines „Wir“ zu sehen. Frauen denken kann man sich nur auf sich selbst. Tag auf den anderen sagen: Jetzt teilen wir oft: sie oder ich. Sie müssen endlich lernen, SPIEGEL: Sind diese Ratgeber die moderne die Hausarbeit wieder. Die Bereitschaft der sich gegenseitig ernst zu nehmen, ohne feministische Literatur? Männer dazu ist verständlicherwei- se auch gering.Wer gibt schon gern seine Privilegien freiwillig auf? SPIEGEL: Frauen entscheiden sich selbst für den Erziehungsurlaub. Vielleicht wollen sie die Zustän- digkeit für ihr Kind auch nicht ab- geben, weil sie das als Machtver- lust empfänden? Schwarzer: Da sind Sie zu streng mit den Frauen. Ich sehe nur sel- ten, dass Frauen nicht in den Be- ruf zurückkehren wollen. Es wird ihnen einfach schwer gemacht. Wir alle müssen die Ärmel hoch- krempeln und dafür sorgen, dass Verhältnisse herrschen, unter de- nen Frauen es leichter haben. SPIEGEL: Halten Sie die Ein- führung des Erziehungsurlaubs für falsch? Schwarzer: Er ist hochgefährlich: Politisch akzeptabel wäre nur ein Elternurlaub mit der Auflage, dass Mütter und Väter ihn zu gleichen Teilen nehmen müssen. Alles an- dere ist eine Frauenfalle.

SPIEGEL: Frauen haben die Frei- K. GREISER heit, acht Wochen nach der Ge- Demonstration gegen Paragraf 218 (1975): „Töchter der Mutterkreuz-Trägerinnen“ burt in den Beruf zurückzugehen. Schwarzer: Richtig, aber die Versuchung, naiv Kontroversen herunterzuspielen. Und Schwarzer: Wenn sie gut sind, im besten das nicht zu tun, ist groß, und deshalb hät- sie müssen lernen, Sachkonflikte auszu- Sinne; denn Feminismus ist der Aufbruch te der Gesetzgeber der Emanzipation hier tragen ohne Angst vor Vernichtung. in die Welt, in eine fremde Welt, deren Re- ein bisschen nachhelfen müssen. SPIEGEL: Berufsanfängerinnen erklären oft, geln Frauen nicht kennen, weil sie ihnen SPIEGEL: Verlangen Frauen zu viel, die ein sie würden nicht diskriminiert. Ist das naiv? jahrhundertelang verschlossen war. Bis Kind und eine Top-Karriere wollen? Schwarzer: Ich verstehe das sehr gut. Dis- Mitte der siebziger Jahre konnte ein Ehe- Schwarzer: Leider ja. Frauen, die glauben, kriminierung ist demütigend. Also ziehen mann seiner Frau noch verbieten, berufs- dass es selbstverständlich sei, alles zu krie- manche Frauen es vor, sie nicht wahrzu- tätig zu sein, wenn er fand, dass darunter gen, machen sich etwas vor. Sie drücken nehmen. Ich freue mich über den Schwung die Hausarbeit leide. Darüber muss heute sich vor der Realität. Heute wird behaup- junger Frauen, aber sie müssen wissen, dass jede junge Frau lachen. tet, es sei doch gar kein Problem, beides sie noch Überraschungen erleben werden. SPIEGEL: Diese Ratgeber zielen darauf ab, hinzukriegen. Das ist eine furchtbare Lüge. SPIEGEL: Wenn man Männer nach ihrer be- innerhalb eines Männersystems erfolgreich Frauen, die Karriere und Kinder wollen, ruflichen Zukunft fragt, haben sie konkre- zu sein. Kann das nach feministischer müssen Abstriche machen. Es tut mir leid, te Karriereziele, Frauen dagegen erklären Theorie der richtige Weg sein? das ist die bittere Wahrheit. vage, sie wollten eine interessante Aufga- Schwarzer: Natürlich. Frau kann ja nicht SPIEGEL: Was können Frauen selber tun, be.Verfolgen Frauen die falsche Strategie? jeden Morgen beim Kaffee darüber nach- um ihre Lage zu verbessern? Schwarzer: Nein, ich finde das sehr sym- grübeln, wie sie heute die ganze Welt ver- Schwarzer: Ganz wichtig wäre der Schul- pathisch. Frauen wie Männer verbringen ändert. Grundsätzlich bin ich der Meinung, terschluss zwischen Frauen. Doch statt- einen Großteil ihres Lebens mit dem Beruf, dass Frauen dasselbe können wie Männer, dessen gibt es ständig Versuche, Frauen zu und da kann es nicht nur um Geld und und wenn ihnen ein Karriereratgeber auf spalten: in Alte und Junge, Begehrte und Stufen auf der Karriereleiter gehen, da sind diesem Weg hilft, ist das wunderbar. Nichtbegehrte, Tüchtige und Dumme. Die auch Inhalte wichtig. Man muss auch Spaß SPIEGEL: Was halten Sie davon, wenn die so genannten Girlies wollen angeblich haben an dem, was man tut. Mir selbst ist Vorteile der sozialen Fähigkeiten von Frau- nichts mehr von uns Älteren wissen, die das Wort „Karriereplanung“ sehr fremd. en für die Wirtschaft betont werden?

108 der spiegel 47/1999 Schwarzer: Das hängt vom Ergebnis ab: Schwarzer: Warum nicht? Ich zum Beispiel SPIEGEL: So präzise ist der Begriff gar nicht. Wenn eine Frau die Karte soziale Intelli- habe vor zwei Jahren einen parteiüber- Es gab immerhin zwei Frauenbewegungen genz und Kommunikationsfähigkeit zu greifenden Politikerinnenkreis initiiert, in Deutschland, eine um die Jahrhundert- ihrem Vorteil ausspielen kann, weil die weil ich mir gedacht habe: Die Jungs gehen wende, eine in den siebziger Jahren, und Jungs sich gegenseitig bis zur Herzattacke zusammen pinkeln und anschließend die beiden waren sehr unterschiedlich. triezen, sollte sie das tun. Sie darf nur sonstwohin, und die Parteifrauen lassen Schwarzer: Richtig. Und die waren übrigens selber nicht allzu sehr daran glauben. sich gegeneinander hetzen. Wir Frauen gar nicht so unterschiedlich. Die erste en- Frauen kommen mit Nettsein und sozia- müssen Frauenbündelei lernen! Wir leben dete mit dem Ersten Weltkrieg und erreichte ler Intelligenz nur bis zur oberen Mitte zur Zeit in Deutschland in einem Klima das Wahlrecht. Und auch wir haben viel er- der Hierarchie. Darüber ist Schluss mit der ungenierten Männerbündelei. So fett reicht: nämlich eine wahre Kulturrevoluti- Nettsein. hatte ich damit nicht mehr gerechnet; ich on! Nur: Wir sind kein fassbarer politischer SPIEGEL: Von Männern lernen heißt siegen hätte nicht gedacht, dass die Zigarren so- Faktor mehr. Keine Pressure-Group, die ge- lernen? zialdemokratischer Kanzler so dick und so zielt Druck machen kann. Bei Lesungen Schwarzer: Und Frauen können viel von teuer sein würden. Gegen dieses Klima treffe ich häufig auf sehr junge Frauen, die Männern lernen. muss wieder ein öffentlicher Diskurs ge- mich fragen: Wo kann ich hingehen und mich informieren? Und dann bin ich sehr unglücklich, weil ich kei- ne Antwort habe. Ich will zwar nicht das alte Frauenzentrum an der Ecke mit den lila Frauenzei- chen wieder aufmachen, denn die Zeiten sind einfach vorbei, aber es muss wieder eine Vernetzung her. SPIEGEL: Ansätze zu einer Vernet- zung existieren schon – nur eben nicht unter offizieller feministi- scher Flagge. Viele junge Frauen haben das Gefühl, dass ihnen die Frauenbewegung nichts mehr zu sagen hat. Schwarzer: Wer sagt das? Die Männermedien? Neueste Umfra- gen sagen uns was ganz anderes: So fand Allensbach heraus, dass keine Altersgruppe so pro Eman- zipation und Feminismus ist wie die 16- bis 29-Jährigen. 70 Prozent aller befragten jungen Frauen rea- gierten „spontan positiv“ auf den Begriff „Emanzipation“ – und 52 Prozent sogar auf „Feminismus“! Wenn sie bedenken, wie „gestrig“

M. MEYBORG angeblich der Feminismus ist, ist Frauen-Aktionstag in Hamburg (1982): „Gefahr des Dogmatismus“ es doch Wahnsinn, dass gegen al- les Gerede mehr als jede zweite SPIEGEL: Zum Beispiel den Griff nach der schaffen werden, der deutlich macht, dass junge Frau dafür ist! Auch Emnid meldet, Macht. Warum hat die Frauenbewegung uns Frauen die Hälfte der Welt zusteht – dass zwei von drei Frauen heute „für eine den jahrzehntelang abgelehnt? und den Männern die Hälfte des Hauses. starke Frauenbewegung“ sind – und jeder Schwarzer: Wer ist „die“ Frauenbewegung? SPIEGEL: Ein solcher zeitgemäßer Diskurs zweite Mann auch. Ich habe das nie getan. Im Gegenteil! Aber geht von der traditionellen Frauenbewe- SPIEGEL: Heute ist häufig die Rede von in den siebziger Jahren war ein Teil der gung aber nicht mehr aus. Hat sie sich im „frauenorientiertem“ statt von „feministi- Frauenbewegung in Deutschland stark mit Laufe der Jahre zu wenig in Frage gestellt? schem“ Handeln. Stört sie das? der linken Szene verbandelt. Die propa- Schwarzer: Sicherlich gibt es bei einem ge- Schwarzer: Ja, auch wenn ich es gut ver- gierte erst mal den Ausstieg – machte aber sellschaftlichen Aufbruch, wie es die Frau- stehe, wenn sich Frauen vom Feminismus straight Karriere, siehe der Ex-Hausbeset- enbewegung einer war, die Tendenz, sich distanzieren. Das ist das ABC des Sich-An- zer und Außenminister Fischer. Hinzu auf den Außenfeind zu konzentrieren und schmierens an die Männerwelt. Dieser kommt das Erbe der Nazi-Zeit: Wir sind nicht sich selbst kritisch zu betrachten. Es Spruch „Ich bin keine Feministin, aber …“ die Töchter und Enkelinnen der Mutter- gibt in jeder politischen Bewegung die Ge- ärgert und quält mich natürlich, und ich kreuz-Trägerinnen. In den USA waren die fahr des Dogmatismus. denke oft: „Diese Zicke, kann sie nicht we- Feministinnen von Anfang an pragmati- SPIEGEL: Die moderne Antwort auf Dog- nigstens die Klappe halten!“ Meiner Le- scher und haben gleich mehr Geld gefor- matismus ist Pragmatismus: Es gibt inzwi- benserfahrung nach achten Männer diese dert. schen Frauennetzwerke, Mentorinnenpro- Art von Verrat von Frauen an anderen SPIEGEL: Auch deutsche Feministinnen pro- gramme, weibliche Jobratgeber und Web- Frauen übrigens gar nicht – auch wenn sie pagieren heute reine Business-Zweck- sites von jungen Frauen: Würden Sie das als ihn zu ihrem Vorteil nutzen. Denn Männer bündnisse zwischen Frauen: „Networking“ eine neue Frauenbewegung gelten lassen? verstehen etwas von Macht und von Wür- ist das Zauberwort der Stunde. Können Schwarzer: Nein. Die „Frauenbewegung“ de. Ich kann Frauen, die weiterkommen solche gezielt konstruierten Imitate je so ist ein präziser politischer Begriff.Was wir wollen, nur strikt davon abraten, sich durch erfolgreich sein wie ihr Vorbild, die natür- heute sehen, das sind die Folgen der Frau- Verrat anzubiedern. Interview: Susanne lichen Seilschaften der Männer? enbewegung. Und das ist gut so. Weingarten, Marianne Wellershoff

der spiegel 47/1999 109 Werbeseite

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JUSTIZ Gnadenlos harmlos Der härteste Strafrichter Hamburgs urteilt jetzt auch im TV über laufende Verfahren seiner Kollegen. Das erste Urteil fällte der Kameramann. eine geschlagenen Schlachten stehen im Schrank. „Strafurteile 1998“ etwa Sheißt einer der Ordner, dessen Inhalt für Schlagzeilen sorgte. Ein Seneca-Spruch zur Erbauung ziert das Möbelstück: „Ich will Dir sagen, was den großen Herren mangelt“, schrieb der Römer, „was denen fehlt, die alles besitzen: einer, der die Wahrheit spricht.“ So sieht sich Ronald Schill, den in Ham-

burg fast jeder als „Richter Gnadenlos“ K. WIEDENHÖFER kennt. Richter Schill in seinem Dienstzimmer: Der Jurist kennt die Gesetze des Fernsehens schlecht Die Ordner kann Schill schon bald einpacken, den „Es ist dies ein Para- „Fragen Sie mich doch mal, wie die Spruch abhängen. Im Ja- debeispiel für das partiel- Öffentlichkeit auf Oz reagiert“, forderte nuar wird der Strafrichter le Versagen der Justiz“, Schill die RTL-Journalistin auf – immer- mit den radikalen Ansich- sprach Schill immer wie- hin wurde der Sprayer kürzlich auf der ten („Hamburgs Justiz hat der in die Kamera, bis die Straße verprügelt. „Wie reagiert eigent- ein Herz für Verbrecher“) Szene saß. Ermuntert von lich“, fragte die Frau, „die Öffentlichkeit?“ ins benachbarte Zivilge- seinem blonden Gegen- Selbstjustiz sei eine natürliche Folge bei richt versetzt, um dort über („Das war ein schö- Versagen der Strafjustiz, sagte Richter zum Beispiel über harm- ner Einstieg“), lief der Schill, die Kamera fest im Blick. lose Mietsachen zu rich- Prädikatsjurist zu Hoch- Doch bei der entscheidenden Frage ten – gegen seinen Willen. form auf. Menschliche „Wie würden Sie entscheiden?“ verwei- Psychisch Kranke, die Fehler der Richter seien gerte sich „Richter Gnadenlos“. Die in der

Autos zerkratzen (Schills DPA zu beobachten, überflüs- ersten Instanz verhängte Bewährungsstra- Urteil: zweieinhalb Jahre Sprayer „Oz“ sige Gutachten würden fe für Oz sei angemessen, meinte Schill Knast), können künftig eingeholt, auch vom Ver- und brachte so erstmals jemanden im auf mehr Milde hoffen, und Gerichtszu- sagen des Hamburger Senats war die Rede. Raum aus der Fassung. „Mehr nicht?“, hak- schauer, die bei der Urteilsverkündung Da klopfte es. „Sind Sie der Fotograf der te die RTL-Journalistin nach. Hatte Schill nicht stramm stehen, werden nicht länger ‚Bild‘-Zeitung?“, fragte der Richter. im Vorgespräch nicht eine Höchststrafe von mit drei Tagen Ordnungshaft belangt. „Kommen Sie rein.“ 15 Jahren erwähnt? Nur Hamburgs Justizbehörden müssen Schill holte sich Volkes Auge und Ohr ins Ohne genaue Sachkenntnis, sagte Schill weiter bangen; denn die elegante Entsor- Amtszimmer. Und seine Vorgesetzten sind bei ausgeschalteter Kamera, möge er mehr gung des unbequemen Kollegen ist einst- bislang machtlos. Noch kann ihn keiner nicht verhängen. Wenn das Strafmaß zu weilen misslungen. Schill, 40, richtet weiter, hindern, seine Meinung zu äußern. Der milde klinge, könne man es ja verschwei- wie es ihm gefällt – statt im Gerichtssaal Richter wird für seinen Beitrag nicht be- gen: „Warum lassen Sie die Frage nicht ein- nun im Fernsehen. Seit vergangenem Don- zahlt, sagt RTL. Nun will das Gericht prü- fach weg?“ nerstag urteilt er, in der RTL-Sendung fen, ob das vom Gesetz geforderte Ver- Offenbar kennt der Jurist die Gesetze „Guten Abend“, jetzt regelmäßig über die trauen in seine Unabhängigkeit durch die des Fernsehens schlecht, und die sind wirk- Verfahren seiner Kollegen. „Schill-Show“ („Hamburger Morgenpost“) lich gnadenlos. So war es nur folgerichtig, Statt Schöffen helfen nun eine RTL-Re- gefährdet ist. Die großen Herren und er – dass am Ende der Kameramann das Urteil dakteurin (blond) und ihr Kameramann Schill kennt das schon. „Eine Farce“ nennt fällte. (mit Baseballkappe) bei der Urteilsfindung. er seine Versetzung ans Zivilgericht. Und „Langjährige Haftstrafe“ wäre doch eine Die Praktikantin des Richters und die der viele Fans stimmen ihm zu. Die Leserbrie- schöne Formulierung, meinte bei der Auf- TV-Journalistin assistieren. fe in der Lokalpresse sind fast durchweg zeichnung im Richterzimmer der Mann mit Zum Auftakt hatte Schill sich in der ver- positiv.„Man müsste härter durchgreifen“, der Baseballkappe, und so sagte es dann gangenen Woche „Oz“ vorgenommen, den fordern auf RTL empörte Bürger vor den auch Schill. Doch die Sprechprobe befrie- Sprayer von Hamburg. Weit über 100000- Graffiti von Oz. digte noch nicht. Ob er auch „ohne Be- mal soll Oz („Ich bin leider ein Schmier- Für die Sendung arrangierten der Ka- währung“ hinzufügen könne, fragte der fink“) Graffiti gesprüht haben. Mehrfach meramann und sein Assistent rote Akten- Kameramann. „Natürlich ohne Be- wurde er verurteilt, doch bis heute ist Oz stapel auf einem kleinen Tisch. Dazwischen währung“, sagte Richter Schill ins Mikro. auf freiem Fuß; derzeit laufen die Beru- thronte eine kleine Statue der Justitia auf Das Urteil war gesprochen. fungsverfahren. einer Sammlung „Deutsche Gesetze“. Frank Hornig

der spiegel 47/1999 111 Gesellschaft

de öffentlich anprangert. Nicht mal er- einigen Jahren zusammen mit dem Mole- IDOLE laubte Mittel wie Vitamin-Infusionen kularbiologen Werner Franke in der Anti- will sich der 5000-Meter-Spezialist gestat- Doping-Bewegung engagiert. Gemeinsam Ab ins Labor tet haben. suchte man Erklärungen dafür, wie der Die Dopingdebatte hat mit dem Fall verbotene Stoff in seinen Körper gelangt Der Langläufer Dieter Baumann, Baumann eine Grenze überschritten. Erst- sein könnte. mals hat es in der Leichtathletik jemanden Anfängliche Vermutungen, dass ein Kämpfer für sauberen Sport, erwischt, dem das Publikum bereitwillig Baumann-Gegner dem Saubermann der muss zwei positive Dopingproben abnahm, dass er sauber und lauter sei – Leichtathletik die Substanz untergejubelt erklären. Wem kann der Fan ein Vorbild in einer Branche der falschen haben könnte, wurden schnell verworfen; noch glauben, wenn nicht ihm? Vorbilder. „Zahlreiche Eltern haben ihre ebenso die Spekulation, dass ein isotoni- Kinder wegen dieses Vorzeigeathleten in sches Getränk kontaminiert gewesen sein nfang Oktober war der Leichtathlet die Vereine geschickt“, glaubt Stefan könnte. Dieter Baumann, 34, in seinem Ele- Volknant, Sprecher des Deutschen Leicht- Seit langem klagen Biochemiker wie Ament. Auf einer von ihm selbst an- athletik-Verbandes: „Unser Sport stürzt in Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner geregten Podiumsdiskussion debattierte er eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise.“ Doping-Kontroll-Labors, darüber, dass zum Thema: „Wie gehen die Medien mit Das weiß keiner besser als Baumann, durch das Internet Produkte vertrieben dem gedopten Sport um?“ Mit leiden- der wie ein Wanderprediger hartes Durch- werden, deren Inhaltsstoffe oftmals unbe- schaftlichem Ernst bedauerte der Olym- kannt seien. Doch diese Erklärung piasieger, dass die Presse in ihrer Recher- kam bei Baumann nicht in Frage, che schnell an Grenzen stoße: „Man er- sonst wären einige Trainingspartner fährt wenig, und der Athlet sagt, er habe ebenfalls positiv aufgefallen. nichts genommen.“ So bleibt aus Sicht des Langläufers Vergangenen Freitag war es wieder so. nur eine ungewöhnliche körperliche Doch der Sportler, der im Stuttgarter Disposition. Für die, so Baumann, Kunstturnforum seine Unschuld beteuerte, „suche ich Beweise“. hieß diesmal Dieter Baumann: „Ich versi- Hoffnung machen ihm zwei Fälle chere, dass ich zu keiner Zeit meines Le- von Sportlerinnen. 1991 wurde bei bens Dopingmittel eingenommen habe.“ der französischen Ruderin Elodie Die Laborbefunde sagen etwas anderes Teyssier ein erhöhter Wert des Hor-

aus. In zwei Urinproben, vom 19. Oktober ONLINE SPORT mons Nor-Testosteron ermittelt. Nach- und 12. November, fanden sich Abbaupro- Dopingverdächtiger Baumann* forschungen ergaben, dass ein Tu- dukte, so genannte Metaboliten, des Hor- „Ich habe nichts verbrochen“ mor die übermäßige Produktion der körpereigenen Substanz verursacht hatte. Ähnlich erging es der deutschen Gewichtheberin Stephanie Utesch – ein Unterleibstumor war für den positiven Dopingbefund verantwortlich. Die Frage ist deshalb: Gibt es auch bei Männern Konstellationen, die einen ähn- lichen Stoffwechselprozess in Gang brin- gen? Das Hormon Nor-Testosteron wurde erst Ende der achtziger Jahre im mensch- lichen Körper entdeckt. Fundierte Studien über die Veränderungen des Nor-Testo- steron-Spiegels unter Belastung gibt es kaum. Baumann will sich deshalb einem Lang- zeittest unterziehen, einer Art Laborver- such: die gleiche Ernährung, das gleiche Trainingsprogramm, die gleichen Getränke wie in den vergangenen zwei Monaten. Und dann darauf hoffen, dass sein Körper ähnlich reagiert wie am 19. Oktober, als nach einem harten 20-Kilometer-Trai-

BONGARTS ningslauf sein Nor-Testosteron 19fach über Olympiasieger Baumann (1992): Suche nach dem Gegenbeweis dem Normalwert lag – bei der Kontrolle am 12. November gar 24fach. Bei der drit- mons Nandrolon – eines Klassikers unter greifen gegen Dopingsünder forderte und ten Probe am vorigen Mittwoch war der den Kraftmachern. Baumann, dem zwei Artikel verfasste, die um eine Kernfrage Wert wieder auf null gesunken. Jahre Sperre drohen, konnte in seiner zu- kreisten: „Wohin soll er sich wenden, der Baumann gibt sich kämpferisch. Nicht weilen stockenden Verteidigungsrede dafür saubere Athlet?“ spitzfindige Rechtskundler sollen ihn keine Erklärung anbieten: „Ich habe nichts Baumann nahm, als er vorigen Montag rausboxen, sondern medizinisch bewan- verbrochen.“ die unvorstellbare Nachricht erfahren hat- derte Wissenschaftler. An Hilfstruppen Das würde die Sportgemeinde gern glau- te, Kontakt mit dem Heidelberger Rechts- müsste es der Ikone nicht mangeln. Bau- ben. Denn der sonst so charmant parlie- anwalt Michael Lehner auf, der sich seit mann ist Mitglied der Betriebssportgruppe rende Schwabe gilt als Frontkämpfer gegen von Bayer Leverkusen – und dort gehö- den Betrug im Stadion, der seinen Berufs- * Vergangenen Freitag nach seiner Presseerklärung in ren biochemische Studien zum Alltagsge- stand nicht schönredet, sondern Missstän- Stuttgart. schäft. Udo Ludwig, Alfred Weinzierl

112 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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DRESDNER BANK Gewinn verdoppeln? ie Dresdner Bank will ihre Ge- Dschäftsbereiche umstrukturieren. Das hat der Vorstand auf seiner Herbst- klausur Anfang November beschlossen. „Zielvorstellung ist die Etablierung ei- ner Holdingstruktur mit rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften“, heißt es in einer Vorstandsunterlage über die Klausurergebnisse. Zunächst werde das Investmentbanking in eine selbständige Tochter umgewandelt. Mit der rechtlichen Ausgliederung erhofft sich die Bank, die in diesem Geschäfts- bereich international üblichen Gehälter

– oft zweistellige Millionenbeträge für / NOVUM W.SCHMIDT Spitzenkräfte – bezahlen und so hoch- VW-Chef Piëch, Bentley-Studie (beim Genfer Autosalon) karätige Mitarbeiter anlocken zu kön- nen. Das ausländische Firmenkunden- VW Ferdinand Piëch kann sein Ziel, zur geschäft wird der neuen Bank zuge- Jahrtausendwende eine Umsatzrendite schlagen. „Die derzeit unbefriedigende von 6,5 Prozent zu erzielen, nicht mehr Rentabilität“ im Privatkundengeschäft Sinkende erreichen. Hauptgrund: Die zu optimis- solle verbessert werden. Dazu will die tischen Absatzprognosen müssen korri- Bank neue Kunden gewinnen und zu- giert werden. Im Management und Auf- gleich Geschäftsstellen schließen. Die Rendite sichtsrat wird deshalb Kritik an den Plä- Vermögensverwaltung will sie auch nen des VW-Chefs für teure Prestige- durch Zukäufe anderer Gesellschaften olkswagen muss seine Absatz- und und Luxusprojekte laut, die eine gerin- stärken. Insgesamt will sich die Dresd- VGewinnplanung für die nächsten ge oder gar keine Rendite versprechen. ner Bank auf „Europa als neuen fünf Jahre deutlich reduzieren. In der Kritisiert werden die Investitionen von Heimatmarkt“ ausrichten und eigen- Planungsrunde 48 (2000 bis 2004), die einer Milliarde Mark für ein Luxusmo- ständig bleiben. Durch die Umstruktu- am Freitag dieser Woche durch den Auf- dell (D 1) der Marke VW und eine neue rierung wird eine Verdoppelung des Ge- sichtsrat verabschiedet werden soll, sieht Fabrik dafür in Dresden, von 1,5 Milli- winns nach Steuern binnen drei Jahren der Konzern für das Jahr 2000 keine Ge- arden Mark für die Marke Bentley und angestrebt – und zwar von 1,732 Milliar- winnsteigerung mehr vor, wie noch in von einer Milliarde Mark für die Au- den Mark Gewinn in der letzten Planungsrunde prognosti- tostadt mit gläsernen Verkaufstürmen, 1999 über 2,458 Milli- ziert. Der Gewinn vor Steuern wird dem Markenpavillons und einem Erleb- arden (im Jahr 2000) internen Zahlenwerk zufolge im nächs- nispark in Wolfsburg. Zudem will Piëch und 2,999 Milliarden ten Jahr allenfalls den Überschuss von mehrere hundert Millionen Mark für ein (2001) auf 3,716 Milliar- 1999 erreichen. Die Umsatzrendite wird Bugatti-Modell mit 18-Zylinder-Motor den Mark im Jahr 2002. sogar noch sinken. VW-Vorsitzender investieren. Im gleichen Zeitraum will die Bank ihr Kern- kapital um eine Milliar- de auf 22,8 Milliarden Mark und die Eigenka- STROM unter anderem auch PreussenElektra, pitalrendite von 8 auf VEW und EnBW („Yello“) beteiligten, 16,3 Prozent steigern. Aus für Avanza? ist offenbar wirkungslos verpufft. Die ehrgeizigen Ziele Bis auf Yello konnte kaum ein Strom- sollen am 30. Juni WE Energie führt ernsthafte Dis- konzern, so Insider, seither neue nächsten Jahres erst- Rkussionen, seine erst vor drei Mona- Privatkunden gewinnen.

B. BOSTELMANN / ARGUM mals überprüft wer- ten mit großem Aufwand gestartete Dresdner Bank den. Lediglich beim Strommarke Avanza wieder einzustel- Shareholder-Value len. Unter diesem Namen wollte der Es- peilt die Bank keine großen Steigerun- sener Stromkonzern im liberalisierten gen an. So will der Vorstand den Markt- Energiemarkt den Stadtwerken Kunden wert des Unternehmens um 20 Prozent abjagen. Offenbar ohne großen Erfolg: auf 60 Milliarden Mark im Jahr 2003 er- Trotz Millionenausgaben zum Marken- höhen. Derzeit beträgt der Börsenwert aufbau von Avanza lag die Werbeerin- der Dresdner Bank rund 50 Milliarden nerung für das Produkt nach einer In- Mark. Der Gesamtwert des Instituts fratest-Umfrage noch im Oktober bei wird laut dem Papier jedoch auf 63,9 nur 7,3 Prozent, spontan konnten sich Milliarden Mark beziffert. Die Differenz nur knapp 2 Prozent der Befragten an

ergibt sich aus stillen Reserven von 13,2 den Namen erinnern. Die gigantische LANGROCK / ZENIT P. Milliarden Mark. Werbeschlacht, an der sich neben RWE Umspannwerk

der spiegel 47/1999 115 Trends

UNTERNEHMER chen Schätzungen in den „Es wird sich lohnen“ nächsten sieben Jahren knapp zehn Millionen SAP-Mitgründer Dietmar Hopp, 59, Bauern überflüssig. Durch über seinen Einstieg ins Brauerei- die internationale Kon- geschäft kurrenz dürften zudem rund eine Million Auto- SPIEGEL: Von der Software zum Bier ist mobil- und Metallarbeiter es ein weiter Weg. Warum engagieren ihren Job verlieren. Un- Sie sich als Hauptaktionär bei der ange- klar ist noch, wie viele schlagenen Brauerei Henninger? Staatsbetriebe in Wirt- Hopp: Eigentlich wollte ich nicht ins schaftszentren wie Shang- Biergeschäft. Ich hatte mich vor etwa hai völlig aufgeben müs- anderthalb Jahren privat an einem Im- sen. Bereits in der ersten mobilienunter- Jahreshälfte wurden in nehmen meines China drei Millionen Freundes Wer- Menschen entlassen, ins- ner Kindermann gesamt sind derzeit rund beteiligt. Der 15 Millionen arbeitslos. Plan war, Hen- Peking hatte Anfang ver- ninger an den gangener Woche nach 13 Frankfurter Jahren Verhandlungsdau-

Stadtrand zu PRESS / SIPA B. RICKERBY er mit den USA einen

T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. verlagern und Shanghai Deal über die Aufnahme Hopp das alte Braue- in die WTO geschlossen. reigelände bei WELTHANDEL Es verpflichtet sich unter anderem, die interessanter Rendite für neue Zwecke Märkte für zahlreiche US-Produkte so- zu verwerten. Kindermann hatte so et- wie für Banken,Versicherungen und Te- was schon bei der Schlossquell-Brauerei Weniger Jobs lekommunikationsfirmen zu öffnen und in Heidelberg erfolgreich praktiziert. sich internationalen Handelsregeln zu SPIEGEL: Aber in Frankfurt wehrte sich beugen. Dafür erleichtern die Amerika- die Stadt dagegen? in China ner chinesische Textilimporte und ge- Hopp: Ja, und so hatte ich nur die Wahl, währen China den Status einer „meist- mein Geld von Kindermann zurückzu- er Beitritt in die Welthandelsorga- begünstigten Nation“. Premierminister fordern oder eine Vorwärtsstrategie ein- Dnisation (WTO) bringt China nicht Zhu Rongji will mit dem Beitritt seine zuschlagen. Ich habe mich entschieden, nur Vorteile. Da Peking seine Märkte Öffnungspolitik vorantreiben und die Kindermanns Anteile an den Braue- öffnen und Importzölle, etwa für Ge- Bürokraten in den maroden Staatsbe- reien Henninger, Schlossquell und Eich- treide, senken muss, werden laut amtli- trieben zu Reformen zwingen. baum weitgehend zu übernehmen. SPIEGEL: Wie viel haben Sie investiert? Hopp: Alles in allem war es bis jetzt für Henninger ein kleiner dreistelliger Mil- lionenbetrag. Der Neubau der Brauerei INTERNET erfordert demnächst noch einmal rund 90 Millionen Mark, und dann sind noch Lycos Europe plant einige Millionen für weitere Investitio- nen sowie Sozialplan nötig. Aber es Börsengang wird sich lohnen. SPIEGEL: Das Biergeschäft ist nicht gera- hristoph Mohn, Chef des Ber- de eine Wachstumsbranche. Ctelsmann-Ablegers Lycos Eu- Hopp: Wir wollen deshalb auch keine rope, geht mit Dumpingpreisen neuen Kapazitäten schaffen, sondern in den Wettkampf der Internet-An- kostengünstiger produzieren. Außerdem bieter: Beim neuen Lycos-Produkt

setzen wir auf den Export. Heidelber- „Comundo“ zahlen Internet-Surfer M. WOLTMANN ger Schlossquell zum Beispiel wird lediglich Telefongebühren von drei Mohn demnächst auch in Amerika verkauft. Pfennig pro Minute aufwärts – und SPIEGEL: Werden Sie sich jetzt langfris- sonst nichts. Das sei eines der „preisaggressivsten Angebote“, sagt der Sohn des Ber- tig im Biergeschäft engagieren? telsmann-Patrons Reinhard Mohn, der persönlich mit 24,5 Prozent an Lycos Europe Hopp: Wenn es gut läuft, kann ich mir beteiligt ist. Nach Deutschland soll Comundo europaweit angeboten werden. In das vorstellen. Aber natürlich strebe ich Großbritannien konkurriert Lycos mit der Konzernschwester AOL Europe und deren keine Managementaufgaben an. Internet-Gratisangebot Netscape Online. Für die Offensive hat Mohn, 34, Investitio- SPIEGEL: Trinken Sie überhaupt Bier? nen von über 30 Millionen Mark eingeplant, um mit einer „Mehr-Marken-Strategie“ Hopp: Einen guten Rotwein mag ich lie- die Kundenzahl schnell zu erhöhen. Bis Jahresende soll auch das Stammgeschäft von ber. Aber ich habe alle meine Biermar- Lycos, eine Suchmaschine im Internet, mit dem ähnlichen Angebot Fireball von Gru- ken durchprobiert, das Eichbaum-Pre- ner + Jahr fusionieren. Damit würde Lycos in Europa den Marktführer Yahoo über- mium-Pils schmeckt mir am besten. holen. Im Februar 2000 will das Unternehmen an die Börse bringen.

116 der spiegel 47/1999 Geld

DAX 30 M-DAX SMAX NEMAX 50 20 15 50 Veränderung seit Januar 8 in Prozent 10 40

10 4 30 5

0 20 0 0 10 –4 –5 0 Quelle: Datastream –10 –8 –10 –5 Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov.

BÖRSE mehr als die Hälfte und beim Smax sogar rund drei Viertel al- ler Titel im Minus. Altbekannte Bewertungsregeln wie hohe Dividendenrenditen oder niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnisse Die Story zählt scheinen vorerst ausgedient zu haben, meint der Münchner Börsenbeobachter Jens Ehrhardt, lediglich die „Story“ treibe eit Anfang November bejubeln Börsianer wieder einmal die Kurse. Die Aktionäre sind entzückt, wenn hohe Wachs- SJahreshöchststände beim Dax. Doch der Index täuscht. Die tumsraten wie bei Internet-Firmen oder große Firmenübernah- drei Dax-Schwergewichte Mannesmann, Siemens und Deut- men wie bei der Telekommunikation angesagt werden. Die sche Telekom haben die Kursrekorde fast allein geschafft. Wer Kunst des Stock-Pickings bleibt weiter gefragt. Zwar stünden hingegen Papiere von RWE, VW oder Metro hält, muss seit jetzt „die Börsenampeln auf Grün“, sagt der Experte Ehr- Jahresanfang Verluste von rund 20 Prozent verkraften. hardt, doch am besten sei immer noch die Taktik, nach „un- Tatsächlich stecken beim Dax etwa ein Drittel, beim M-Dax entdeckten Titeln im Wachstumssektor“ zu suchen.

ÖLAKTIEN Experten vom Investmentbankhaus GEBÜHREN Goldman Sachs, werde der Ölpreis mit Weitere Gewinnschübe mehr als 20 Dollar pro Fass hoch blei- Geschröpfte Aktionäre ben. Von dem Preisanstieg profitieren rotz kräftiger Kursgewinne im ver- zunächst Explorationsfirmen wie Enter- anken und Sparkassen haben eine Tgangenen Frühjahr sind die Aktien prise Oil oder Lasmo, aber wohl auch Bweitere Methode entdeckt, die Kon- der Mineralölmultis noch immer unter- Ölserviceunternehmen wie Halliburton ten ihrer Kunden zu plündern. Immer bewertet, glauben viele Analysten. Den oder Baker Hughes. Besonders angetan mehr deutsche Ak- Grund liefert die Opec. Seit Jahresan- sind die Bankanalysten derzeit von den tiengesellschaften fang hat das Kartell den Preis für die Aktien der großen Konzerne, zumal stellen von Inhaber- Ölsorte Brent von knapp 10 auf rund weitere Fusionen anstünden. Repsol sei auf Namenspapiere 25 Dollar pro Barrel (159 Liter) getrie- „deutlich unterbewertet“, meint etwa um, die Geldhäuser ben. Die Produktion wurde gedrosselt, die Landesbank Baden-Württemberg, verlangen für die die Lagerhaltung abgebaut. Eine anzie- für die WGZ-Bank ist BP Amoco ein Umschreibung Ge- hende Weltkonjunktur und kalte „Outperformer“. Und beim Weltmarkt- bühren bis zu 40 Herbsttage in den USA wie in Europa führer Exxon erwartet die Credit Suisse Mark. Derartige Ge- heizen die Nachfrage zusätzlich an. First Boston auch im Jahr 2000 „weitere bühren seien „nicht Auch im nächsten Jahr, meinen etwa Gewinnschübe“. akzeptabel“, meint Anneliese Hieke

550 Mineralöl- 55 65 von der Schutzge- ZEITENSPIEGEL Aktien meinschaft der Hieke 600 Kleinaktionäre 450 (SdK), zumal die Umschreibungsgebühr 45 55 bei der Deutsche Börse Clearing ein- heitlich nur drei Mark betrage. Die Ein- führung von Namensaktien liege allein 500 350 im Interesse der Firmen, so Hieke, die 35 45 Aktionäre sollten sich weigern, solche BP Amoco Enterprise Halliburton Royal Dutch Gebühren zu zahlen. Die Methode in Pence 250 Oil in Dollar Shell könnte sogar rechtswidrig sein, arg- Quelle: Datastream in Pence in Euro wöhnt die SdK-Obere, weil im Preisaus- 400 25 35 hang der Banken eine Aktienumstel- Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov. lungsgebühr nicht aufgeführt ist.

der spiegel 47/1999 117 Wirtschaft

KONZERNE Wer ist der Nächste? Verzweifelt kämpft Mannesmann-Chef Klaus Esser um die Unabhängigkeit seines Konzerns, doch sein Widersacher von Vodafone scheint auf dem Vormarsch. Die größte Übernahmeschlacht der Industriegeschichte ist im Gange – sie wird die deutsche Wirtschaft tief greifend verändern.

hris Gent wollte keine Zeit verlie- Esser sieht das ganz anders, aber er Vorzeigefirmen, die sich internationales ren. Stundenlang ließ er deshalb am konnte den 20-köpfigen Aufsichtsrat der Renommee erarbeitet haben und zu den Cvergangenen Freitagmorgen den Pi- Mannesmann AG, der am Freitag vergan- Lieblingen der Börsianer zählen. loten seines Lear-Jets startbereit am Flug- gener Woche in der Zentrale des Düssel- Doch würde der Erfolgskurs durch die hafen in London warten. dorfer Konzerns zu einer routinemäßigen Übernahme beendet? Verfolgt der britisch- Der Aufwand war vergebens, die er- Sitzung zusammengekommen war, offen- amerikanische Telefonkonzern, der sich hoffte Einladung aus Düsseldorf blieb aus. bar nicht vollständig überzeugen. Die Her- vor allem auf den Mobilfunk beschränkt, Enttäuscht musste der Chef des britisch- ren, darunter Allianz-Chef Henning Schul- eine schlechtere Strategie als Mannes- amerikanischen Mobilfunk-Konzerns Vo- te-Noelle und IG-Metall-Chef Klaus Zwi- mann-Chef Esser, der auf die Kombination dafone Airtouch erkennen: „Doktor Esser ckel, halten die Strategie von Gent nicht von Festnetz und Handy setzt? hat offensichtlich kein Interesse an einer von vornherein für unsinnig. „Industriepo- Die Fragen können selbst Experten nicht konstruktiven Diskussion.“ litisch würde ein Zusammengehen beider eindeutig beantworten. Siegt deshalb am Dennoch konnte Gent, 51, zufrieden Konzerne durchaus Sinn machen“, gibt ein Ende, wie die „Bild“-Zeitung mutmaßt, sein. Kurz zuvor hatte er dem Aufsichtsrat Teilnehmer der Sitzung zu bedenken. „die Geldgier der Aktionäre“? des Mannesmann-Konzerns das teuerste Falls die Aufsichtsräte am Ende den Deal Begonnen hatte das Duell um Mannes- Übernahmeangebot in der Wirtschaftsge- doch noch ablehnen, haben die Aktionäre mann am Sonntag vor einer Woche. Nach schichte vorgelegt – und der hatte es kei- das Wort. Sie müssen entscheiden, ob es wochenlangen Gerüchten über die Pläne neswegs rundweg abgelehnt, wie Mannes- ein lohnendes Geschäft ist, eine Mannes- von Vodafone (SPIEGEL 46/1999) war mann-Chef Klaus Esser, 51, erhofft hatte. mann-Aktie für 193,10 Euro (Schlusskurs Firmenchef Gent nach Düsseldorf gereist, Vielmehr will der Rat die Offerte bis Ende vom Freitag) gegen 53,7 Vodafone-Papiere um Esser ein erstes Angebot zu unterbrei- November in aller Ruhe prüfen. zum aktuellen Kurs von 275,5 Pence zu ten: Für gut 200 Milliarden Mark wollte Für 242,5 Milliarden Mark will Vodafone tauschen. Gent den Düsseldorfer Traditionskonzern im Rahmen eines Aktientausches den deut- Ein hartes Gefecht steht bevor: Für vie- kaufen. schen Konzern übernehmen. „Dies ist das le ist Mannesmann mehr als nur ein auf- Gent ist vor allem an der boomenden beste Angebot sowohl für die Mannes- strebendes Unternehmen in der Boom- Handy-Sparte (D2) der Düsseldorfer in- mann- als auch für die Vodafone-Aktionä- branche Telekommunikation. Zur Disposi- teressiert. Zusammen mit Vodafone, so re“, versicherte Gent. tion steht auch eine der wenigen deutschen rechnete Gent dem Mannesmann-Chef

Vergleich der Giganten

Beteiligungen in Prozent +35

Deutschland Eurokom 100,0 +30 Arcor 74,9 Mobilfunk D2 65,2 +25 Aktienkurse Italien Infostrada SpA 100,0 Veränderungen Omnitel 55,0 +20 seit dem 1. Oktober in Prozent Frankreich Cegetel SA 15,0 Österreich Telering 74,8 +15

Besitzverhältnisse … Banken, Investment- +10

ARIO-PRESS Klaus Esser V Aktionäre sind… gesellschaften u.ä. 78,8% +5 … Privat- Umsatz in Milliarden Mark 19,1 jeweils anleger davon Telekommunikation 5,5 1.Halbjahr 13,6% 0 1999 Gewinn vor Steuern 1,3 Quelle: Mannesmann …sonstige –5 in Milliarden Mark 7,6 % Quelle: Datastream Mitarbeiter insgesamt 130 800 –10 Telekommunikation 27400 Oktober Nach zweistündiger Diskussion Inzwischen ist Siemens 150 Milliarden lehnte Esser kühl ab. „Der Über- Mark wert – und dennoch ein Schnäpp- nahmeversuch“, erklärte er spä- chen, gemessen an den 240 Milliarden, die ter im SPIEGEL-Gespräch (sie- für Mannesmann geboten werden. „Die he Seite 122), „erfolgt mit einem Zeiten haben sich geändert“, musste der einzigen Ziel: Die wollen uns Konzernchef vergangene Woche eingeste- stoppen.“ hen, „und damit auch die Preise, die für Auch das neue Angebot, mit Unternehmen gezahlt werden.“ dem Vodafone seinen ursprüngli- Es hat sich tatsächlich einiges geändert in

F. ZANETTINI / LAIF F. chen Vorschlag noch einmal um der deutschen Wirtschaft, und nach der D2-Zentrale in Düsseldorf: Siegt die Geldgier? 40 Milliarden Mark erhöhte, lässt Mannesmann-Schlacht, wie immer sie auch Esser kalt. Der Wert der Voda- ausgeht, wird nichts mehr so sein wie vor- fone-Aktien, die den Mannes- dem. Die Ära der Deutschland AG ist un- mann-Aktionären angeboten wer- wiederbringlich zu Ende: Vorbei sind die den, sei künstlich hoch gepusht Zeiten des kuscheligen Konsenskapitalis- worden, meint Esser. mus, in dem Banken- und Arbeitnehmer- Mit großen Emotionen wird vertreter im Aufsichtsrat die Geschicke der seither um das Für und Wider des deutschen Großkonzerne auskungelten – größten feindlichen Übernahme- und das Eindringen ausländischer Kon- versuchs in Deutschland debat- kurrenten verhinderten (siehe Seite 120). tiert. Mannesmann-Mitarbeiter Über das Wohl und Wehe der Konzerne gehen zu Protestmärschen auf die wird jetzt am Kapitalmarkt entschieden. Straße, Gewerkschafter loben „Der Aktienkurs bekommt gegenüber dem den Kurs des Mannesmann- Gewinn und der Dividende immer stärke- Chefs, obwohl der selbst im nächs- re Bedeutung“, sagt Viag-Vorstandschef ten Jahr den Traditionskonzern Wilhelm Simson. „Deshalb ist die zentra- zerlegen will. le Frage: Wie bringe ich den Aktionären Die Angst geht um in Deutsch- bei, dass meine Strategie die richtige ist?“

INS NEWS GROUP lands Wirtschaft.Wenn schon ein Im Eiltempo holen die deutschen Fir- Vodafone-Zentrale in Newbury: „Einmalige Chance“ Unternehmen wie Mannesmann menchefs nun nach, was ihre US-Kollegen in die Gefahr gerät, geschluckt zu längst hinter sich haben und Analysten und vor, ergäbe sich der größte Mobilfunkbe- werden, ist kaum ein deutscher Konzern Fondsmanager seit Jahren fordern. Sie stut- treiber der Welt „mit 42 Millionen anteili- mehr sicher: Wer ist der Nächste? zen ihre Gemischtwarenläden aufs Stamm- gen Kunden“ und dominierenden Positio- Noch Anfang des Jahres gab sich Sie- geschäft zurecht, sie fusionieren, stoßen nen in mehreren europäischen Ländern. mens-Chef Heinrich von Pierer gelassen, Teile ab und kaufen zu. „Das ist eine einmalige Chance für Euro- wenn er gefragt wurde, ob sein Konzern Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte pa, die globale Führungsrolle in einer Opfer einer feindlichen Übernahme wer- wurde die deutsche Unternehmensland- Hightech-Branche zu übernehmen“, warb den könne. „Davor habe ich keine Angst“, schaft derart umgekrempelt: Siemens stößt Gent. „Beide Unternehmen“, so der Vo- so Pierer. Siemens sei alles andere als ein die Chip-Sparte ab,Viag verschmilzt seinen dafone-Chef, „ergänzen sich blendend und Schnäppchen, ein Käufer müsse mindes- Mischkonzern mit dem Konkurrenten sind natürliche und ideale Partner.“ tens 100 Milliarden Mark aufbringen. Veba, Preussag-Chef Michael Frenzel baut

Geschäftszahlen und Strukturen

Beteiligungen in Prozent Großbritannien Vodafone 100,0 Deutschland Mannesmann Mannesmann Mobilfunk 34,8 Frankreich SFR 20,0 Italien Omnitel Pronto Italia 21,6 Niederlande Libertel 70,0 Schweden Europolitan 71,1 Besitzver- hältnisse USA AirTouchCellular diverse Cellular One 50,0 Aktionäre PrimeCo 50,0 sind… Chris Gent …sonstige REUTERS Australien Vodafone 91,0 10,6% …Privataktionäre 3,9% jeweils 1.Halbjahr 1999* Japan J-Phone 20,2 – 28,8 Companies Umsatz* in Milliarden Mark 17,7 Südkorea Shinsegi 017 11,7 Gewinn* vor Steuern 3,7 Vodafone Airtouch außerdem in Belgien, Griechenland, Malta, … Banken, Fonds- in Milliarden Mark Polen, Portugal, Ungarn, Rumänien und gesellschaften u.ä. Mitarbeiter insgesamt 24 000 Spanien; auf den Fidschis, in Indien, Neusee- 85,5% November land; in Ägypten, Südafrika und Uganda Quelle: Vodafone Airtouch; *1.Apr.–30.Sept. Ende einer Ära Die deutsche Wirtschaft ist feindliche Übernahmen nicht gewohnt. Im Ausland gehören sie fast schon zum Alltag.

ie Attacke von Vodafone gegen del in den USA. Davon zehrt das Land Mannesmann wäre, wenn sie noch heute, die amerikanische Volks- Protestaktion der IG Metall* Dgelänge, nicht nur die größte wirtschaft floriert. Eins plus eins gleich drei? feindliche Übernahme der Wirtschafts- Die Megadeals dieser Tage dagegen geschichte, sie würde auch das Ende ei- haben eher strategischen Charakter, nagement eine Übernahme; es muss ner Ära markieren: Bislang ist es in ihre Triebfeder ist die Globalisierung. um seine Posten bangen. Deutschland einem Konzern nie ge- „Auch die deutschen Manager“, sagt In der Wirkung aber bleibt es beina- lungen, einen anderen zu übernehmen, Paul Achleitner, Deutschland-Chef der he gleich, ob die Übernahme feindli- ohne dass dessen Management zu- Investmentbank Goldman Sachs, „sind cher oder freundlicher Natur ist. Spä- stimmt. angesichts des weltweiten Struktur- testens wenn die scheinbar friedliche Der italienische Reifenhersteller Pi- wandels gezwungen, sich im Wettbe- Fusion unter Dach und Fach ist, beginnt relli scheiterte Anfang der neunziger werb immer wieder neu aufzustellen.“ oft ein Hauen und Stechen. Vor zwei Jahre dabei, sich Continental einzu- Seit 1992 hat sich das Volumen der Jahren wurde die Verschmelzung von verleiben. Und vor zwei Jahren wehr- Zusammenschlüsse fast versechsfacht. Daimler und Chrysler als „Hochzeit im te Thyssen den Angriff von Krupp ab; Allein im dritten Quartal dieses Jahres Himmel“ bejubelt. Heute ist klar, dass der Zusammenschluss der Stahlriesen erreichten sie einen Wert von 780 Mil- Chrysler der Juniorpartner ist, die Wür- glückte erst, nachdem man sich auf eine liarden Dollar, 46 Prozent mehr als vor fel fallen in Stuttgart. „Fusion unter Gleichen“ verständigte, Jahresfrist. Die meisten dieser Firmen- Zudem sind die Ziele, die mit einer wie die Sprachregelung lautete. ehen wurden in Europa geschlossen – Fusion angestrebt werden, immer die- Bislang sorgten die Banken mit ihren die Manager vieler übernommenen Fir- selben, ob sie nun auf einvernehmliche verflochtenen Beteiligungen und Auf- men wurden dabei kalt erwischt. oder aggressive Weise zustande kommt. sichtsratsmandaten dafür, dass feindli- So erlangte der italienische Compu- Das neue Unternehmen soll Synergien che Übernahmen tabu blieben. Auch terhersteller Olivetti die Kontrolle über entfalten, die Kosten senken und den das Aktienrecht, das Kleinaktionären die siebenmal größere Telecom Italia. Gewinn steigern. Alle Bereiche, die vergleichsweise großen Einfluss ein- Die französisch-belgische Energiefirma nicht den Renditeerwartungen ent- räumt, erschwerte solche Deals. TotalFina attackierte Elf Aquitaine. sprechen, werden abgestoßen. Doch nun ist es mit der Gemütlich- Und die drei großen Banken Frank- Eins plus eins ergibt drei, lautet die keit vorbei. Der rheinische Konsens- reichs haben sich unlängst eine beispiel- spezielle Arithmetik der Investment- Kapitalismus trifft auf die rauhen Sitten lose Übernahmeschlacht geliefert. banker, die solche Fusionen einfädeln. der US-Marktwirtschaft. Und da ent- „Es gibt noch viele Dinosaurier in Dass diese Rechnung nicht immer auf- scheiden am Ende allein die Aktionäre. der Wirtschaft“, sagt Wilder Fulford geht, lehrt allerdings die Erfahrung. In den Vereinigten Staaten sind von der Investmentbank Salomon Einzig für die Aktionäre bedeutet es feindliche Übernahmen seit den spä- Smith Barney in London. „Da wird es einen Unterschied, welcher Natur die ten achtziger Jahren gang und gäbe, als noch eine Menge feindlicher Aktivitä- Fusion ist. Um die Offerte für die um- so genannte Raider („Plünderer“) ihre ten geben“, erwartet er. Als feindlich worbenen Aktionäre attraktiv zu ma- Beutezüge quer durch die Unterneh- empfindet freilich zunächst nur das Ma- chen, muss der Angreifer einen weit menslandschaft veran- höheren Aufschlag auf stalteten. Sie kauften Jäger und Gejagter Strategien bei feindlichen Übernahmen den Aktienkurs bieten angeschlagene Firmen, als bei einer friedlichen zerlegten sie und ver- Firma A will Firma B gegen den gelegener ist, gibt ein höheres Lösung. kauften die einzelnen Willen von Vorstand und eventuell Angebot ab. Die Firma C wird Auch nach der feind- Teile meist gewinnbrin- Belegschaft übernehmen. dann als „weißer Ritter“ be- lichen Übernahme ent- gend. zeichnet. Aus der feindlichen wickelt sich der Kurs Raider wie Michael Voraussetzung Übernahme ist eine freundliche des fusionierten Unter- Milken schlachteten Es handelt sich um eine Kapitalge- geworden. Firma B verliert in nehmens deutlich bes- Firmen rücksichtslos sellschaft mit handelbaren Anteilen. jedem Fall zumindest teilweise ser, ergab eine Studie aus, doch die Zerschla- ihre Eigenständigkeit. der Universität Iowa. gungswelle hatte auch Firma A macht den Aktionären ein Diese Firmen, so wird Mögliche Abwehrstrategien: ihr Gutes: Sie sprengte Angebot, dessen Aktie zu kaufen vermutet, können verkrustete Strukturen bzw. gegen eigene zu tauschen. 1 Einführung von Mehr- bzw. leichter Veränderungen und beschleunigte den Das Angebot liegt dabei deutlich Höchststimmrechten (in der vornehmen, ohne viele über dem aktuellen Wert der Aktie. Vergangenheit, diese Möglich- nötigen Strukturwan- keit existiert ab Juni 2000 Rücksichten nehmen Danach gibt es mindestens drei nicht mehr). zu müssen. Frechheit siegt – zumindest an * Gegen die Krupp-Thyssen- Optionen: 2 Ausgabe von Aktien Fusion im März 1997 in Frank- 1 Die Aktionäre akzeptieren an die Belegschaft. der Börse. furt am Main. das Angebot. 3 Der „weiße Ritter“ Alexander Jung 2 Die Aktionäre lehnen das schreitet ein. Angebot als unattraktiv ab. 4 Überkreuzbeteiligungen 3 Eine Firma C, die der Firma B mit verschiedenen Partnern. 120 Wirtschaft

den Schiff- und Anlagenbauer dert werden, forderte etwa Hans Peter Verwundert stellen Politiker fest, dass zum Touristikkonzern um. Si- Stihl, Präsident des Deutschen Industrie- die Freigabe des Telefonmarktes nicht nur cherheit bringt das nicht. „Je und Handelstags, dass „kerngesunde, im die Tarife purzeln ließ und neue Arbeits- interessanter wir von unserer Wettbewerb erfolgreiche Unternehmen ge- plätze schuf, sondern auch zu Kräftever- Unternehmensstruktur her wer- fleddert und ihre Betriebsteile meistbie- schiebungen in der Branche führte, die so den“, ahnt Frenzel, „desto in- tend veräußert werden“. schnell nicht zu erwarten waren und nun teressanter werden wir auch für Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder politisch kaum noch zu steuern sind. potenzielle Aufkäufer.“ vergaß alle diplomatische Vorsicht und So sind zwei Jahre nach dem Beginn der Diese Erfahrung muss Man- warnte in einem Interview mit der Pariser Liberalisierung schon die meisten gro- nesmann-Chef Esser gerade ma- ßen Newcomer auf dem deutschen Markt chen. Der Börsenwert von Man- mehr oder weniger fest in ausländischer

B. BOSTELMANN / ARGUM nesmann übertrifft inzwischen Hand. Bei der Handy-Firma E-Plus hat selbst den von Industriegigan- bald Michel Bon, der Chef der France Télé- ten wie DaimlerChrysler oder SAP. Das so com, das Sagen, bei Viag-Interkom will genannte Kurs-Gewinn-Verhältnis, mit dem British Telecom seinen Anteil von jetzt Analysten die Aktien vergleichen, hat den 45 Prozent zu einer Mehrheit ausbauen. Wert 200 überschritten, bei einem durch- Die frühere Daimler-Tochter Debitel, die schnittlichen Großunternehmen, das im vier Millionen Handy-Kunden in Deutsch- Dax vertreten ist, beträgt der Kurs in etwa land betreut, wurde von der schweizeri- das 20- bis 30fache des Jahresgewinns. schen Swisscom übernommen, und die Doch für die Übernahmestrategen norddeutsche Telefongesellschaft Talkline scheint der Mannesmann-Kurs kein Hin- wird von Dänen und Amerikanern be-

dernis, denn es geht um Marktmacht in ei- ( GIRIBAS J. FOTOS: (re.) li.); DPA herrscht. ner der Schlüsselbranchen des 21. Jahr- Mannesmann-Sympathisanten Stihl, Zwickel Wenn jetzt auch noch Mannesmann un- hunderts. Nur wer möglichst viele Kunden Warnung vor zügellosem Wettbewerb ter britische Kontrolle gerät, dann sind in mit einer breiten Palette von Kommunika- den bedeutenden Firmen nur noch das En- tionsangeboten aus einer Hand bedienen Zeitung „Le Monde“ vor feindlichen Über- fant terrible Gerhard Schmid mit seiner kann, so das Credo der Telefonbosse dies- nahmeversuchen bei deutschen Firmen: Mobilcom und Telekom-Chef Ron Som- seits und jenseits des Atlantiks, kann auch Diejenigen, so der Kanzler, die solche Zu- mer Herr im eigenen Haus. in Zukunft überleben. sammenschlüsse planen, unterschätzten „Wir brauchen eine umfassende Inventur Schon warnen Politiker und Verbands- die Macht des Mitbestimmungsrechts. Des- unserer Telekommunikationspolitik“, lei- funktionäre vor einem allzu zügellosen halb rate er „allen zu Besonnenheit, die tete Nordrhein-Westfalens Ministerpräsi- Wettbewerb. Es müsse per Gesetz verhin- solche Abenteuer wagen wollten“. dent Wolfgang Clement (SPD) im Oktober eine neue Debatte um den Wettbewerb in der Telekommunikation ein. Noch hielt sich Clement mit klaren Aussagen zurück, aber das Ziel ist klar: „Unser Regulie- rungsmodell muss auf den Prüfstand.“ Doch die Politiker können Mannesmann nicht helfen – und aus der Industrie ist auch wenig Beistand zu erwarten. Siemens- Chef von Pierer will sich jedenfalls nicht, wie vielfach kolportiert, als so genannter weißer Ritter an Mannesmann beteiligen. „Wir gehen nicht ins Betreibergeschäft“, sagt er, „sonst würden wir unser Geschäft als Zulieferer für andere Telefonanbieter beschädigen.“ Und Simson bezeichnet die Gerüchte, die Viag werde als Retter ein- springen, als „absoluten Unfug“. Auf Dauer wird sich die deutsche Wirt- schaft, die bislang jeden feindlichen Über- nahmeversuch abgewehrt hat, den inter- national üblichen Umgangsformen nicht verschließen können. Schließlich sind deut- sche Unternehmen wie Daimler, Deutsche Bank,Allianz oder Telekom selbst als Auf-

käufer im Ausland auf Jagd. AP „Die Deutschen“, mahnt denn auch Telekommunikations-Manager Esser*: „Uns geht es wie Claudia Schiffer“ Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deut- schen Bank, dächten bei Fusionen „zu sehr im Nationalen“. „Feindliche Übernah- SPIEGEL-GESPRÄCH men“, warnt auch ein hochrangiger Man- nesmann-Aufsichtsrat, „dürfen in Deutsch- land kein Tabu sein, das werden wir auf „Die wollen uns stoppen“ Dauer nicht durchhalten.“ Auf diesen Sinneswandel setzt Voda- Mannesmann-Chef Klaus Esser über die Zukunftschancen im fone-Chef Gent. Denn so groß ist der Sprung nicht, den der Engländer schaffen Handy-Markt, seinen Schlafmangel und die aggressiv muss. „Um die Herrschaft im Aufsichtsrat geführte Abwehrschlacht gegen den britisch-amerikanischen übernehmen zu können“, sagt Gent, „rei- Telefonkonzern Vodafone Airtouch chen uns 50,1 Prozent der Aktien.“ Würde sich Esser dann weiter gegen die SPIEGEL: Herr Esser, aus der Führung einer auch hart daran, die Übernahme durch Vo- Übernahme sperren, dann arbeitet die ganz normalen Firma ist eine mit nationa- dafone Airtouch abzuwehren. Zeit für Gent. Spätestens im Juni 2000 lem Pathos aufgeladene Abwehrschlacht SPIEGEL: Normalerweise verbringt ein Kon- könnte er den Vorsitz im Düsseldorfer Auf- geworden, aus dem eher unbekannten zernchef seinen Tag damit, Zahlen zu prü- sichtsrat übernehmen und den bockigen Konzernchef laut „Bild“ ein „Superhirn“. fen, Strategien zu diskutieren und Kontakt Widersacher Esser feuern. Denn dann fällt Wie fühlen Sie sich in diesen Tagen? zu Großaktionären zu halten.Wie sieht Ihr die in der Mannesmann-Satzung fest- Esser: Das nationale Pathos können wir im Tagesablauf momentan aus? geschriebene Beschränkungsklausel, die Moment wirklich nicht brauchen. Das Esser: Die Kommunikation mit Beratern, selbst dem größten Einzelaktionär bislang passt nicht in unsere Zeit, das passt vor Banken, Analysten, aber auch mit den nur fünf Prozent der Stimmrechte auf allem nicht zu der Strategie von Mannes- wichtigsten Medien des Landes steht ein- der Hauptversammlung zubilligt, per Ge- mann. Wir bauen ein paneuropäisches deutig im Vordergrund. Die Arbeitsbe- setz weg. Unternehmen mit dem Fokus auf europäi- lastung für die Führung des Konzerns ist Doch die Entscheidung darüber, ob Vo- sche Kunden und Märkte – und wir kämp- derzeit enorm, das eigentliche Geschäft dafone-Chef Gent der erste Ausländer sein fen derzeit um das Vertrauen der inter- spielt fast eine Nebenrolle. wird, der ein deutsches Unternehmen ge- nationalen Anleger. SPIEGEL: Mitarbeiter von Ihnen sagen, Sie gen den Widerstand der Manager knacken SPIEGEL: Selbst die verstehen kaum, dass hätten schon in den acht Tagen der Über- kann, fällt möglicherweise gar nicht in ausgerechnet einer der erfolgreichsten nahme der britischen Mobilfunkgesell- Deutschland. deutschen Konzerne nun ein Übernahme- schaft Orange nur zwölf Stunden geschla- Schon jetzt werden 60 Prozent der Man- kandidat sein soll. fen. Stimmt das? nesmann-Aktien von ausländischen An- Esser: Das ganze ist wirklich schwer zu be- Esser: Ich habe nicht einmal mehr Zeit legern gehalten, vor allem von Fondsge- greifen, das gebe ich zu. Jeder weiß doch, gehabt, die Stunden zu zählen, die ich sellschaften. Nach der Übernahme von die Mannesmänner sind auf der Sieger- geschlafen habe. Das gilt jedoch für das Orange, die Ende November abgeschlos- straße, weil sie mehr Strukturwandel ge- gesamte Team. sen werden soll, beherrschen sie sogar 70 schafft haben als die anderen, weil sie mehr SPIEGEL: Wie groß muss man sich solche Prozent des Mannesmann-Kapitals. Zukunftschancen ergriffen haben. Deshalb Teams vorstellen, die derzeit auch die Ab- Und da wird Gent vermutlich mehr wäre es jetzt schade, wenn uns jemand wehrschlacht organisieren? Gehör finden, falls der Mannesmann-Auf- stoppt. Und genau deshalb arbeiten wir Esser: Das Team besteht aus rund 20 eige- sichtsrat sein Angebot am 28. November nen Leuten. Außerdem sind rund 10 Ex- endgültig ablehnt. * Auf dem Wege zur Aufsichtsratssitzung am vergan- terne wie beispielsweise Investmentban- Dinah Deckstein, Klaus-Peter Kerbusk genen Freitag. ker oder Rechtsanwälte permanent be-

122 der spiegel 47/1999 Wirtschaft schäftigt.Aber auch die anderen Mitarbei- nach Düsseldorf auch nicht gelohnt. ter des Konzerns werden in dieser Phase Wie Phönix Im Gegensatz zu den Zeitungs- sehr stark in Anspruch genommen, um 160 attacken der beiden Wochen davor Zahlen und Analysen für den Vorstand be- aus der Asche fand ich das ganz in Ordnung. Herr Entwicklung des Aktienwertes reitzustellen. 140 Gent vertritt die Interessen seiner SPIEGEL: Und die Investmentbanker sitzen von Mannesmann Aktionäre und ich die unserer Ei- jetzt auf der Chefetage? und Vodafone Airtouch gentümer. Esser: Nein, die sitzen an einem streng ge- in Milliarden Euro 120 SPIEGEL: Nun beklagt der Vodafone- heimen Ort.Wir wollen die Vertraulichkeit Chef, dass Sie sein Angebot nicht gewährleisten. Wir müssen jetzt auf Num- einmal richtig angesehen hätten. mer Sicher gehen und wollen uns keine 100 Stimmt das? Unregelmäßigkeiten vorwerfen lassen. Esser: Nein, wir haben ein ausführ- SPIEGEL: Was meinen Sie damit genau? 80 liches Gespräch geführt. Und Sie Esser: Nehmen Sie doch all die angeblich dürfen nicht vergessen: Gent und undichten Stellen in London, aus denen Übernahme von Airtouch ich, wir kennen uns schließlich aus Gerüchte über den angeblichen Stand der 60 früheren Begegnungen. Verhandlungen flossen. In Wahrheit – aber SPIEGEL: Sie arbeiten ja bis zum das wissen die Journalisten ja viel besser heutigen Tag als Partner in ver- 40 als ich – waren diese Informationen eine schiedenen Ländern zusammen. gezielte Beeinflussung des Aktienkurses War es von Anfang an der Plan des von Vodafone. 20 Briten, Mannesmann unter seine SPIEGEL: Psychologische Kriegsführung Kontrolle zu bringen? nannte man das früher. Quelle: Datastream Esser: Ich weiß nur: Der Vodafone- Esser: Mit einer Kriegsführung gegen uns Chef hat seinen Aktionären die 1997 1998 1999 wären wir spielend fertig geworden. De Vorherrschaft in Europa in Aussicht facto hatten wir es aber mit einer gezielten gestellt. Das ist der Ursprung all Beeinflussung der Aktionäre zu tun. Die in der vergangenen Woche hier war, um der hektischen Aktivitäten.Auf den Charts, Meldungen, die in London lanciert wur- Ihnen ein Kaufangebot zu unterbreiten? die sie den Analysten präsentieren, zei- den, hießen doch: „Wir sind in konstruk- Esser: Natürlich. Die Zeitungskampagne gen sie immer ihre expansiven Pläne zur tiven Verhandlungen mit dem Mannes- in England, mit der Vodafone seinen Kurs Erlangung der Marktführerschaft in Eu- mann-Management und werden den Kon- hochgetrieben hat, war der eigentliche ropa. Spätestens nach unserem Kauf von zern zu einem Spottpreis von 200 Euro pro Grund für meine Einladung nach Düssel- Orange, der drittgrößten Handy-Firma in Aktie übernehmen können.“ Dadurch soll- dorf. Großbritannien, sind diese Pläne reine te erreicht werden, dass die Vodafone-Ak- SPIEGEL: Sie haben den Angreifer zu sich Illusion. Deshalb ist die Überlegung von tionäre in Jubelschreie ausbrechen und der eingeladen? In den Zeitungen stand, er sei Herrn Gent, wir greifen uns Mannesmann, Kurs unseres Konkurrenten nach oben aus eigenem Antrieb vorbeigekommen. aus seiner Sicht logisch. Er und seine Ak- rauscht. Esser: Herr Gent hat meine Einladung auch tionäre wissen: Wenn sie uns nur noch ein SPIEGEL: Sie sagen also: Die Mannesmann- nicht direkt angenommen. Er ist erst ge- paar Monate weitermachen lassen, gibt es Aktionäre sollten getäuscht werden? kommen, als er sozusagen „ready for take- keine Chance mehr, uns den Vorsprung in Esser: Man will sie verführen, ihre wert- over“ war. Dann lief alles nach dem Mot- Europa wieder wegzunehmen. vollen Mannesmann-Aktien gegen Voda- to ab: „Und bist du nicht willig, so brauch SPIEGEL: Damit geben Sie zu, dass Sie der fone-Aktien zu tauschen, deren Wert künst- ich Gewalt.“ Aggressor waren. Herr Gent musste den lich hochgepusht werden sollte. Ich sage: SPIEGEL: Hat der Vodafone-Chef Ihnen ins Kauf von Orange auf seinem Heimmarkt Der Vodafone-Aktienkurs gerät extrem Gesicht gesagt: Ich möchte die Firma Man- als Provokation verstehen – und schlägt unter Stress. Im schlimmsten Fall zu einem nesmann kaufen und dann zerlegen. Sie, nun zurück. Zeitpunkt, zu dem unsere Aktionäre ihre lieber Klaus Esser, werden Ihren Chef- Esser: In dieser Branche ist es durchaus Papiere schon getauscht haben. Das wollen posten dann leider räumen müssen? üblich, dass man auf dem einen Markt ge- wir unseren Eigentümern ersparen. Esser: So ähnlich. Herr Gent hat ein klares meinsam marschiert, auf anderen aber SPIEGEL: Haben Sie das Vodafone-Chef Angebot gemacht, mündlich und schrift- konkurriert. Für uns war immer klar, dass Chris Gent auch so deutlich gesagt, als er lich. Sonst hätte sich die Reise von London wir einen so wichtigen europäischen Markt wie England nicht auslassen konnten. SPIEGEL: Trotzdem hätte man unter Part- nern erwarten können, dass man sich vor- her informiert.Warum haben Sie Gent vor dem Kauf von Orange nicht angerufen? Esser: Die Geschichte mit Orange ist für Herrn Gent keine Überraschung gewesen. Wir haben ihm zwischen Januar und Sep- tember sehr konkrete Vorschläge für eine Zusammenarbeit auf dem englischen Markt gemacht – er lehnte ab. Lediglich in den vier Tagen, als der Deal ablief, haben wir nicht telefoniert. Damit hielten wir uns ganz strikt an die Börsenspielregeln. Als die Orange-Übernahme durchsickerte, war ich mit dem Vodafone-Chef sofort in di- rektem Kontakt.

P. SCHINZLER P. SPIEGEL: Kam es am Telefon zu heftigen Netz-Zentrale der Mannesmann-Tochter Arcor: „Reinrassige Telefonfirma“ Reaktionen?

der spiegel 47/1999 123 Wirtschaft

Esser: Herr Gent war unzu- frieden, natürlich. Aber so ist Wettbewerb nun einmal. Ich sehe das wie in der Leichtath- letik. Man kann keinen 400- Meter-Lauf beginnen und vor- her verabreden: „Sie bleiben aber bitte immer hinter mir.“ SPIEGEL: Nun hat eine Ab- wehrschlacht begonnen, die den Konzern nicht nur Ner- ven, sondern auch viel Geld kosten wird. Gibt es noch die Möglichkeit einer friedlichen Einigung? Esser: Es gibt verschiedene Wege einer Einigung. Man kann beispielsweise verab- reden, wir arbeiten überall konstruktiv zusammen, wo wir ohnehin schon zusammen sind, also in Deutschland und in Italien und in Frankreich. In allen übrigen Teilen der Welt macht jeder, was er für richtig hält. SPIEGEL: Herr Esser, das ist der Status quo und kein wirkli-

ches Einigungsangebot. K. H. JARDNER Esser: Wir hatten Herrn Gent Mahnwache der Röhrenarbeiter vor dem Werk Remscheid: Abspaltung traditioneller Bereiche aber auch angeboten, bei- spielsweise in den neuen Handy-Online- hat Herr Gent bei unserem Gespräch auch samte Wirtschaft auf eine starke Konzen- Diensten zusammenzuarbeiten. Die so ge- gar nicht bestritten. Er ist allerdings der ir- tration zu. Heute weiß man, dass solche nannte Wap-Technologie, die das Internet rigen Auffassung, wir seien nur ein bisschen Monopole träge werden und nach einigen aufs Handy bringt, wird in den nächsten besser. Und dieses Bisschen könnte er den Jahren wieder zerfallen. Jahren eine neue gigantische Wachstums- Mannesmann-Aktionären bezahlen. SPIEGEL: Also nochmals die Frage: Was ist welle hervorbringen. Da stehen wir alle SPIEGEL: Ist es wirklich so unsinnig, was der falsch an der Vodafone-Strategie, eine Ge- am Anfang, sowohl bei den Inhalten dieser Brite vorschlägt? Seit Karl Marx wissen sellschaft mit 42 Millionen Kunden entste- Dienste als auch bei der Technik. Da wer- wir, dass der Kapitalist nach Oligopolen hen zu lassen? den wir Volumen brauchen. Aber zu die- oder, besser noch, Monopolen strebt. Und Esser: Die Strategie ist weder falsch noch sem Vorschlag hat sich unser britisch-ame- eine marktbeherrschende Stellung – mit schlecht für Vodafone-Aktionäre. Für un- rikanischer Partner nicht geäußert. 42 Millionen Handy-Kunden –, das ist das, sere Eigentümer fehlt hingegen die At- SPIEGEL: Stattdessen ging am Freitagmor- was Herr Gent den Aktionären durch die traktivität. Während Herr Gent nämlich gen ein Übernahmeangebot bei Ihren Auf- Zusammenlegung der Konzerne anbietet. viele Kunden in Gesellschaften hat, an sichtsräten ein. Für rund 242 Milliarden Esser: Schon Karl Marx ist einer Irrlehre denen er nur Minderheitsbeteiligungen Mark will Vodafone die Mannesmann- aufgesessen. Er hat die Welt, das gestehe hält, haben wir die Kunden zumeist in Aktien übernehmen. Ist das Tischtuch da- ich zu, zu einem sehr ungünstigen Zeit- Mehrheitsbeteiligungen. Und das ist für mit endgültig zerschnitten? punkt betrachtet und analysiert. Damals die künftigen Wachstumsperspektiven sehr Esser: Das darf im Interesse der Aktionäre sah tatsächlich alles so aus, als liefe die ge- wichtig. nicht zerschnitten werden. Das ist wie beim SPIEGEL: Warum? Kunde ist Kunde. Tennis. Nehmen Sie mal die Spieler in Sie sind verbunden Esser: Eben nicht. Für die neuen Wimbledon. Wenn es einer von beiden Dienste, wie etwa die Datenübertra- nach drei Sätzen nicht geschafft hat, müs- Die größten Übernahmen der Telekommunikation gung per Handy, braucht man den sen sie es halt fünf Sätze miteinander aus- Kaufpreis Verbund von Ressourcen. Sie brau- halten. Meist bleiben sie nach einem sol- in Milliarden chen den Austausch von Teams und chen Match sogar Freunde. Ähnlich pro- Käufer Übernahmeobjekt Dollar von Forschungsergebnissen, nur so fessionell sollten wir auch mit diesem bekommen Sie wirklich Synergien Vodafone Mannesmann Angebot Übernahmeangebot umgehen. 129 organisiert. Das alles ist aber nur SPIEGEL: Uns erinnert der Übernahme- MCI Worldcom Sprint Corp möglich, wenn man die Kontrolle kampf eher an die rauen Sitten im Box- 127 über die Gesellschaften hat. Das sport. Da beißt schon mal einer dem an- SBC Ameritech 72 haben wir viel früher gesehen als deren im Eifer des Gefechts ein Ohr ab. Vodafone und auf den Kauf von Esser: Genau so weit dürfen wir es nicht Bell Atlantic GTE 71 Mehrheitsbeteiligungen gesetzt. Bei kommen lassen. Die Ohren sollten schon Minderheitsbeteiligungen entstehen dran bleiben. Es geht um eine sachliche AT&T Tele-Comm. Inc 69 wenig Synergien. Auseinandersetzung. Und da ist unsere Po- SPIEGEL: Dafür bietet Vodafone seit sition klar und ganz eindeutig: Wir haben Vodafone Airtouch 65 der Fusion mit der US-Firma Air- die bessere Position, die bessere Strategie touch die Möglichkeit, die in Europa und die besseren Wachstumschancen. Das AT&T MediaOne 63 entwickelten Produkte der neuen In-

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Werbeseite Wirtschaft ternet-Handys auch in den USA zu ver- Aktie von zeitweise über 200 Euro ist doch als Finanzvorstand angefangen habe, lag markten. Ist das nicht eine verlockende eindeutig durch die Übernahmephantasie der Börsenwert von Mannesmann bei rund Perspektive? ausgelöst. 12 Milliarden Mark, heute beträgt er schon Esser: Ja. Das wäre interessant. Allerdings Esser: Da halte ich dagegen: Die Wachs- 200 Milliarden Mark. Das bedeutet, dass müssen Sie sehen, dass Vodafone Airtouch tumsperspektiven für den Konzern sind gi- der Kreis derer, die Mannesmann über- den Kampf um die Mehrheit in den USA gantisch. Das Datengeschäft bei den Han- nehmen können, immer kleiner wird. bereits verloren hat. Im Ringen um die dys wird uns einen neuen Schub bringen. SPIEGEL: In Zeiten des Turbo-Kapitalismus landesweite Präsenz hat man Anfang Die beiden Mannesmann-Festnetzgesell- scheint diese Gleichung nicht mehr aufzu- September mit Bell Atlantic einen Vertrag schaften Arcor und Otelo, die Konkurren- gehen. Sie sind doch gerade wegen Ihrer gemacht und alle Aktivitäten zusammen- ten wie Mobilcom inzwischen weit abge- Wertsteigerung – die Aktie legte um mehr geworfen. In der neuen, wirklich gut auf- schlagen haben, sind noch in der als 900 Prozent in fünf Jahren zu gestellten Gesellschaft, hat Vodafone al- Start-up-Phase, genau wie un- – ein attraktiver Kaufkandidat lerdings nur 45 Prozent der Anteile und ist sere italienische Festnetzgesell- „Warum sollen geworden. bereits auf dem Rückzug. schaft Infostrada. Das heißt, wir Mannesmann- Esser: Wir lebten bisher sehr gut SPIEGEL: Woran erkennen Sie das? stehen nicht am Ende einer Aktionäre in damit, dass uns die Konkurrenz Esser: Der Vertrag enthält eine Ausstiegs- Wachstumsperiode, wie es bei einen Apfel bewundert. Uns geht es da wie klausel für Vodafone. Warum soll ich denn Vodafone mit der ausschließ- beißen, der Claudia Schiffer, die muss schon Mannesmann-Aktionären raten, in einen lichen Konzentration auf Mo- seit zwölf Jahren damit klar- Apfel zu beißen, der bereits vergiftet ist? bilfunktelefonie der Fall ist, son- bereits kommen, dass ihr auf der Straße Vodafone sitzt in der Klemme – nicht wir. dern in vielen Bereichen vor vergiftet ist?“ mehr Leute nachgucken als an- SPIEGEL: Ist das auch der Grund, warum einem neuen Aufbruch. Die deren Frauen. Sie glauben, keinen weißen Ritter zu brau- Schlussfolgerung für den Mannesmann- SPIEGEL: Aber Sie versprechen jetzt, wir chen, der in der Übernahmeschlacht hilft? Aktionär kann deshalb nur sein: Lasst dem werden immer hübscher, immer wertvoller. Esser: Vielleicht wäre es möglich, befreun- Konzern noch ein wenig Zeit, und er wird Ist das noch realistisch? dete Unternehmen anzurufen und zu sa- uneinholbar den europäischen Spitzen- Esser: Die Telefonbranche ist nach über gen, wollt ihr euch nicht mit 20 oder 30 platz belegen. hundert Jahren Monopol unheimlich in Be- Prozent hier in die Türe stellen. Aber es SPIEGEL: Selbst wenn diese Abwehrschlacht wegung, da gibt es tausend Chancen. Un- entspricht nicht unserer Mentalität, uns gewonnen wird, steht der nächste Angrei- ser Konzept heißt beschleunigtes Werte- hinter einer Wagenburg zu verschanzen. fer vor der Tür, wahrscheinlich eine ame- wachstum. Im nächsten Jahr zünden wir Das würde die Glaubhaftigkeit eines klar rikanische Firma.Wie wollen Sie sich gegen zum Beispiel den kleinen Turbolader der wertorientierten Kurses zerstören. weitere Attacken schützen? Konzernteilung, der eine nennenswerte SPIEGEL: Machen Sie den Anlegern da nicht Esser: Die Gefahr wird von Woche zu Wo- Steigerung in der Bewertung des Unter- etwas vor? Das Hoch der Mannesmann- che geringer.Als ich vor fünfeinhalb Jahren nehmens bringen wird.Wir spalten das tra- des Konzerns ist. Haben Sie sich über die Schützenhilfe gefreut? Esser: Ich habe NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, der sich freundlicher- weise über den Stand der Dinge erkundigt hat, gesagt: Wir müssen darauf achten, dass absolut null Prozent nationales Sentiment in die Diskussion hineinkommt. Das ist eine Denke von gestern. Die können wir nicht gebrauchen. Und schon gar nicht in einem Konzern, der einen Großteil seiner Mitarbeiter in europäischen Nachbarlän- dern beschäftigt. SPIEGEL: Ihre gesamte Argumentation zielt auf den Aktionär, der soll dem heutigen

M. DANNENMANN Management und seiner Strategie vertrau- Manager Esser (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Vodafone ist in der Klemme – nicht wir“ en. Welche Rolle spielen in Ihren Überle- gungen die Mitarbeiter, die extrem verun- ditionelle Geschäft als Maschinenbauer Schlappe hinnehmen müssen. Das Ge- sichert sind, zornig und hilflos zugleich. und Autozulieferer ab und sind dann erst- richt hat Ihre Auffassung, die Banker Esser: Ich weiss, es ist emotional für die mals eine reinrassige Telefonfirma. hätten Geheimnisse verraten, die sie aus Mitarbeiter kaum zu verarbeiten, was da SPIEGEL: Und das soll den Kurs noch mal der Mannesmann-Beratung bei Orange passiert. Sie alle sind in den letzten Jahren nach oben katapultieren? gewonnen hätten, schroff zurückgewie- schneller gerannt als die Konkurrenz und Esser: Viele Fonds, die nur lupenreine Te- sen. War die Anrufung des Gerichts ein müssen nun erleben, dass ihnen von der lefonfirmen kaufen, meiden uns heute Fehler? Tribüne Knüppel zwischen die Beine ge- noch. Das wird sich mit der Zweiteilung Esser: Das war kein Fehler. Wir haben worfen werden. Das ist hart, denn der schlagartig ändern. uns bemüht, unsere Interessen zu ver- Übernahmeversuch erfolgt mit einem ein- SPIEGEL: Sie haben bei Ihrer Klage gegen treten. zigen Ziel: Die wollen uns stoppen. Aber die Investmentbank Goldman Sachs, die SPIEGEL: Zumindest in der deutschen Wirt- wir werden das alle miteinander durch- Vodafone im Übernahmepoker berät, eine schaft sind Ihnen alle Sympathien sicher. stehen, so ist das Leben. Der Markt hat DIHT-Präsident Hans Peter Stihl hat sogar immer Recht. * Mit den Redakteuren Frank Dohmen und Gabor Stein- ein generelles Verbot von Übernahmen ge- SPIEGEL: Herr Esser, wir danken Ihnen für gart in der Düsseldorfer Konzernzentrale. fordert, wenn das Ziel eine Zerschlagung dieses Gespräch. obersten Verfassungshüter 1995 in ihrem Urteil zur Vermögensteuer aufgestellt ha- ben, als unverbindliche Meinungsäußerung der Karlsruher Kollegen deklassiert hat, pressiert es in deutschen Finanzgerichten. Die in München gescheiterten Kläger, ein Unternehmer-Ehepaar aus dem Rhein- land mit einer Steuerbelastung aus Ein- kommen- und Gewerbeertragsteuer von rund 60 Prozent, wollen schon nächs- te Woche in Karlsruhe Verfassungsbe- schwerde gegen den Spruch des Finanz- hofs einlegen. Hat der Fall „Halbteilung“ dort erst ein- mal ein Aktenzeichen, dann können Fi- nanzgerichte einschlägige Klagen nicht mehr entscheiden. Sie müssen auf die Ver- fassungsrichter warten. Und auf die, das haben Deutschlands Finanzämter in den vergangenen Jahren mit unzähligen Ein- sprüchen gegen Steuerveranlagungen leid- voll erfahren, ist kein Verlass. „Es soll mit allen Mitteln verhindert werden“, so der Anwalt der Kölner Kläger Philipp Thouet, „dass allzu viele Fälle of- fen bleiben.“ Mit ihrer Entscheidung – eine Belastung aus Einkommen- und Gewerbeertragsteu- er von insgesamt rund 60 Prozent des zu versteuernden Einkommens sei „nicht ver- fassungswidrig“ (BFH) – hat der Elfte Se- nat des Bundesfinanzhofs unter dem Vor- sitz der gerade zur BFH-Präsidentin beru- AP Zweiter Senat des Verfassungsgerichts, Richter Kirchhof (2. v. l.): Erfinder der Hälftigkeit

STEUERN Grenzen für den Fiskus Darf der Staat dem Bürger mehr als die Hälfte seines Einkommens abnehmen? Das Bundesverfassungsgericht sagt nein, der Bundesfinanzhof ja. Das letzte Urteil steht noch aus. DPA as Finanzgericht Köln widerlegte Minister Eichel, BFH-Präsidentin Ebling vorigen Mittwoch eindrucksvoll Belastung ohne Ende? Bis zu hundert Prozent Steuern DVolkes Meinung, wonach die Müh- len der Justiz langsam mahlen. Innerhalb Das klagende Ehepaar bezieht sein Ein- fenen Richterin Iris Ebling ein Problem von zwei Stunden erledigten die Kölner kommen hauptsächlich aus Gewerbebetrieb nach Karlsruhe zurückgeschickt, über Finanzrichter 23 Klagen – macht pro Fall Gesamtbetrag der Einkünfte 648595 Mark das Deutschlands Topjuristen streiten, so- 5 Minuten und 13 Sekunden. lange es das Grundgesetz gibt: Sind dem Schon tags darauf konnten die Anwälte zu versteuerndes Einkommen 622878 Mark Staat qua Verfassung bei der Besteuerung per Telefon die Urteile erfahren: alle Kla- Einkommensteuer –260262 Mark seiner Bürger Grenzen gesetzt? Und wo gen abgewiesen. Eine juristische „Massen- Kirchensteuer –23396 Mark sind diese Grenzen zu ziehen? exekution“, so Peer-Robin Paulus, Justiziar Mit ihrer verklausulierten Formel im der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Un- von der Gemeinde erhobene Vermögensteuerurteil, wonach die steuer- ternehmer, wie sie vor deutschen Finanz- Gewerbeertragsteuer –113170 Mark liche Gesamtbelastung des Bürgers höchs- gerichten derzeit gar nicht selten ist. Steuerlast –396828 Mark tens „in der Nähe einer hälftigen Teilung Bei allen Klagen geht es derzeit um das- zwischen privater und öffentlicher Hand“ selbe Thema: Steuerzahler wehren sich un- Die Belastung des Gesamt- liegen dürfe, meinten die Verfassungsrich- ter Berufung auf das Bundesverfassungs- betrags der Einkünfte beträgt 61,2 % ter 1995, einen ersten Schritt hin zu einer gericht, deutlich mehr als die Hälfte ihres Damit ist nach Meinung der Kläger der Halb- verfassungsmäßig eindeutig festgelegten Einkommens beim Fiskus abzuliefern. teilungsgrundsatz verletzt, wonach die steuer- Grenze für den steuereintreibenden Staat Seit Anfang des Monats der Bundes- liche Gesamtbelastung nicht mehr als 50% getan zu haben. finanzhof (BFH) in München den so ge- des Einkommens betragen dürfte. Umso überraschter waren die Richter nannten Halbteilungsgrundsatz, den die von damals, allen voran der Berichter-

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Werbeseite Wirtschaft statter in Steuersachen, Paul Kirchhof, „erdrosseln“ drohte, ihn in seiner Existenz als sie dann erfuhren, was die Kollegen gefährden würde. des Finanzhofs aus ihrem Ansatz gemacht Ein völlig unzureichender Ansatz, fan- hatten. den die Verfassungsrichter in ihrer Diskus- Die Verfassungsrichter stoßen sich gleich sion heraus. Wenn die Wegnahme von Ei- an mehreren Punkten der Münchner Ent- gentum eine Enteignung sei, so müsse das scheidung. Frech behaupten die Finanz- auch beim Steuerrecht gelten. Primäres richter, die Passage zur „hälftigen Teilung“ Ziel und Ausdruck der Freiheit des Bürgers zwischen Bürger und Staat sei kein tra- sei es, für sich und seine Familie Einkom- gender Bestandteil des damaligen Urteils men zu erwirtschaften. Erst sekundär habe des Verfassungsgerichts gewesen und des- der Staat, der für den Bürger Leistungen halb für andere Gerichte auch nicht ver- erbringe, ein Zugriffsrecht. bindlich. Die Folgerung der Verfassungsrichter: Gerade weil einer vom Zweiten Se- Eine Besteuerung oberhalb von 50 Prozent nat, der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang würde diese grundlegende Reihenfolge des Böckenförde, damals vehement gegen die freiheitlichen Grundgesetzes umkehren. Festlegung auf eine verfassungsmäßige Be- Ärgerlich nahmen Verfassungsrichter zur steuerungsgrenze plädierte, haben die übri- Kenntnis, dass ihre Kollegen in München gen sieben im Urteilstext ausdrücklich fest- mit ihren Argumenten in alte Zeiten gelegt, dass die umstrittene Passage zu den zurückkehrten, wonach Steuerpflicht „tragenden Gründen“ des Urteils gehöre nur dann die Eigentumsgarantie des und somit verbindlich sei. Artikels 14 verletzen könne, wenn die Wenn es Schule machen würde, so wer- Besteuerung zu einer Existenzgefährdung den die Münchner in Karlsruhe geschol- führen würde. Das Prinzip der Besteue- ten, dass Oberste Gerichte in Deutschland rung nach Leistungsfähigkeit, so die sich gegenseitig die Verbindlichkeit ihrer Konsequenz aus der Argumentation des Urteile bestreiten, dann würde sich ein Finanzhofs, ließe eine Besteuerung bis zu ernstes Problem für die Autorität der hundert Prozent zu. Rechtsprechung ergeben. Völlig falsch, wird in Karlsruhe kritisiert. Auf völliges Unverständnis stößt bei Ver- Leistungsfähigkeit ist nach dem Verständ- fassungsrichtern auch die Behauptung der nis des Grundgesetzes Ausdruck individu- Finanzkollegen, eine steuerliche Belas- eller Freiheit und nicht Bemessungsgrund- tungsobergrenze sei dem Grundgesetz lage für Umverteilung. nicht zu entnehmen. Der Spruch des Bundesfinanzhofs je- Die Verfassungshüter in Karlsruhe be- denfalls, hätte er Bestand, würde alles be- rufen sich bei ihrer Suche nach einer quan- enden, was das Verfassungsgericht in sei- nem ersten verschwommenen Versuch, Bürger, Bauer und Edelmann dem Steuerstaat eine grundgesetzliche mehr als die Hälfte Schranke vorzuschieben, angelegt hat. Die wichtige Botschaft der „Hälftigkeitspassa- des Einkommens belassen ge“ wird in Karlsruhe jedenfalls darin ge- sehen, dass bei 50-prozentiger Besteuerung titativen Begrenzung des Steuerstaates auf eine Grenze sichtbar wird, die noch zu eine gefestigte Verfassungstradition in präzisieren ist, zuerst vom Gesetzgeber, Deutschland, die bis zu Friedrich dem und wenn der es nicht tut, vom Verfas- Großen zurückzuverfolgen sei. Selbst im sungsgericht. Kriegsfalle, hat der in seinem zweiten po- Zu klären wären zum Beispiel noch litischen Testament niedergelegt, solle Bür- die Details, ob und in welcher Höhe bei ger, Bauer und Edelmann mehr als die der Steuerbelastung indirekte Steuern Hälfte seines Einkommens belassen wer- berücksichtigt werden müssen, wo ober- den. Die Rechtsidee, mehr als die Hälfte halb von 50 die Nähe zur „hälftigen Tei- dürfe es nicht sein, sei als Ausdruck staats- lung“ aufhört und die Verfassungswidrig- politischer Klugheit schon in der vorkon- keit beginnt. stitutionellen Zeit geboren. Am Donnerstag vergangener Woche en- Mit solchen historischen Exkursen über- dete die zwölfjährige Amtszeit des glü- zeugte vor allem der damalige Bericht- hendsten Verfechters der Begrenzung des erstatter Paul Kirchhof seine Kollegen, Steuerstaates: Paul Kirchhof packte in dass auch der moderne Staat gerade dort, Karlsruhe seine Akten. wo er am mächtigsten ist, nämlich als Steu- Immerhin hat er 1995 außer einem Kol- erstaat, durch die Grundrechte gestoppt legen alle Mitglieder des Zweiten Senats werden muss. von seinen Ideen überzeugt. Über die Ver- Bis zur Erfindung der Hälftigkeit hatte fassungsbeschwerde, die in der nächsten sich das Verfassungsgericht mit einer Woche eingereicht wird, hat erneut der nur vagen Festlegung dieser Grenze Zweite Senat zu entscheiden. beholfen. Danach setzte die Eigentums- Wenn das Verfassungsgericht konse- garantie des Artikels 14 Grundgesetz quent bleibt, dann kann es gar nicht gegenüber dem steuereintreibenden Staat anders, als die Münchner BFH-Entschei- erst dann ein, wenn der Staat seinen dung zu kassieren – auch ohne Paul Steuerbürger mit seinen Forderungen zu Kirchhof. Heiko Martens

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schenzeit ihren Ausstieg aus dem de- saströsen Konzern in die Wege geleitet. Das BAUINDUSTRIE bestätigen interne Dokumente und zahl- reiche hochrangige Holzmann-Mitarbeiter. Obendrein sollen nun andere für die Über den Löffel balbiert Deutsche Bank die Zeche zahlen. Denn der Sanierungsvorschlag für Philipp Holz- Die Deutsche Bank wusste anscheinend seit langem von der mann trägt eindeutig die Handschrift der Deutschbanker: Er bevorzugt allein das ei- drohenden Pleite des Baukonzerns Philipp Holzmann. gene Institut. Jetzt will sich das Kreditinstitut vor der Verantwortung drücken. Mit „erpresserischem Zeitdruck sollten wir über den Löffel balbiert werden“, ürgen Bilstein hatte am vor- schimpft einer der Banker. „Der Vorschlag vergangenen Sonntagmorgen entspricht weder dem guten Brauch noch Jgrößte Mühe, die rund 150 in den guten Sitten“, ein anderer. der Philipp-Holzmann-Zentrale Denn die Deutsche Bank will ihren An- versammelten Banker von seiner teil an den für Holzmann benötigten rund eigenen Bedeutung zu überzeu- drei Milliarden Mark nicht an den tatsäch- gen. Doch der Bereichsvorstand lich ausgereichten Krediten von der Deutschen Bank konnte sei- 1,83 Milliarden Mark festmachen ne misstrauischen Kollegen nicht – dann müsste sie 30 Prozent des beeindrucken. Einige wollten Bil- Geldes, also etwa eine Milliarde steins Chef sprechen – und zwar Mark, zuschießen. Stattdessen sofort. will sie, bemessen am schlecht be- Der Deutsche-Bank-Vorstand sicherten Teil ihrer Kredite, nur Carl von Boehm-Bezing, zugleich 18,5 Prozent übernehmen. Aufsichtsratschef bei Holzmann, Den anderen Gläubigern zufol- sollte sich nicht aus der Verant- ge käme die Deutsche Bank selbst

wortung stehlen. Die mit 15 R. ROSICKA / RIRO bei einer Quote von 30 Prozent Mann bei der Krisensitzung ver- Binder immer noch viel zu gut weg. tretenen Deutschbanker mussten Denn: Bis Ende vergangenen Jah- ihn schließlich zu Hause anrufen. res hielt sie 25 Prozent an der maroden Doch auch Boehm-Bezing Firma, die seit vier Jahren Verluste schreibt konnte den aufgebrachten Ver- und deshalb juristisch gesehen in Not ist. tretern der 20 Hauptkreditgeber Laut einer auf einem BGH-Urteil basie- des Unternehmens nichts anderes renden Rechtsprechung müsste die Deut- vermelden als die blanke Kata- sche Bank deshalb alle zwischen 1994 und strophe: Der zweitgrößte deut- Ende 1998 an Holzmann gegebenen Kre- sche Baukonzern, dessen Vor- dite als Eigenkapital ausweisen. Dann aber stand noch im Mai Gewinne ver- würden die Darlehen im Fall eines Kon- sprochen hatte, ist überschuldet. kurses zuletzt bedient. Ein neues 2,4-Milliarden-Mark- Die Commerzbank fordert deshalb, die Loch droht die seit Jahren kri- „Deutsche“ müsse eine Milliarde Mark selnde Firma zu vernichten, wenn ihrer Darlehen als Eigenkapital ausweisen, die Gläubigerbanken dem Sanie- die Hessische Landesbank hält 400 Millio- rungskonzept nicht zustimmen. nen für angemessen. 28000 Jobs sind in Gefahr, dazu AP Die ganze Woche über haderten die könnten noch 40000 Stellen bei Holzmann-Zentrale in Frankfurt: Verluste vertuscht Banken über den Sanierungsbeitrag des Zulieferern kommen. Marktführers, eine zweite, zehnstündige Angeblich, so beteuerte Boehm-Bezing, Auf Sand gebaut Krisensitzung am Donnerstag brachte sei das Milliardenloch aus dem Immobi- Holzmann-Kredite bei einstweilen kein Ergebnis. Sollten die liengeschäft völlig überraschend aufge- deutschen Banken Gespräche endgültig scheitern, drohen taucht, ehemalige Vorstände und Mitar- die Gläubigerbanken dem Branchen- beiter hätten es gezielt vertuscht, der Kon- HAUPTGLÄUBIGER KREDITE in Millionen Mark primus ganz offen. zern werde Strafanzeige stellen.Weder die Im Fall eines Konkurses wer- Deutsche Bank noch der von ihr vor zwei- Deutsche Bank 1832 den die im Gläubigerausschuss einhalb Jahren eingesetzte neue Vorstands- versammelten Institute den Kon- chef Heinrich Binder hätten die Verluste HypoVereinsbank 783 kursverwalter dazu zwingen, das gesamte auch nur ahnen können. Bayer. Landesbank 574 Kredit-Engagement der Deutschen Bank Überzeugt hat die Rechtfertigung kei- als Eigenkapital – und somit nachrangig – Commerzbank 482 nen der anwesenden Vertreter der Gläubi- zu bedienen. Obendrein wäre ihre Beteili- gerbanken. Schließlich ist die Deutsche Hess. Landesbank 456 gung von 15 Prozent so gut wie wertlos. Bank seit über 82 Jahren an Holzmann be- Bankges. Berlin 436 „Wenn es ganz dick kommt“, so ein Ma- teiligt und hatte jederzeit Einblick in alle nager der Deutschen Bank, „verlieren wir Bücher. DG Bank 367 bei Holzmann drei Milliarden Mark.“ Tatsächlich hat die Bank zusammen mit Dresdner Bank 356 Bis Freitag allerdings weigerte sich der dem Vorstand des Unternehmens offenbar BHF Bank 208 Geldkonzern, seine Darlehen als Eigen- monatelang die Verluste verschwiegen, an- kapital zu betrachten. Denn die Verluste, dere Institute getäuscht und in der Zwi- WestLB 172 behauptet die Bank, stammten zwar aus

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Altlasten des Baukon- resabschluss sei „an der Grenze des Ver- Halbjahresbericht bei Binder ab – das zerns, seien aber nicht tretbaren“, warnten sie den Aufsichtsrat Desaster wurde sichtbar. Am 30. flog erkennbar gewesen. am 5. Mai. Außerdem wiesen die Prüfer Binder nach London, um Analysten Rede Doch warum stellte darauf hin, dass in diesem Jahr erneut „Alt- und Antwort zu stehen. Doch Boehm- dann Aufsichtsratschef lasten auftreten könnten“, die im Protokoll Bezing ließ die Veranstaltung platzen. Er Boehm-Bezing schon der Sitzung detailliert aufgezählt sind. zitierte den Holzmann-Chef sofort zurück auf der Holzmann-Auf- Am 29. April – schon vor der Aufsichts- und verbot ihm, öffentlich Daten zu nen- sichtsratssitzung am 5. ratssitzung – lag schließlich laut Insidern nen. Boehm-Bezing bestreitet das – er habe Mai dieses Jahres fest, das Schitag-Gutachten über Verluste bis Binder nur gesagt, dass er in Frankfurt die Firma habe „ein zu Ende 1997 im Hause vor. Doch Binder be- „gebraucht wird“. kurzes Hemd“? Heute hauptet, er habe die Expertise erst Anfang Jetzt traten die Manager die Flucht nach sagt er, die Äußerung Juni erhalten. Dort waren 3,318 Milliarden vorn an. Die Schitag-Prüfer pflügten habe sich auf zusätzliche Mark Altverluste ausgewiesen, darunter erneut durch die Bücher und fanden das Aktivitäten bezogen. 1,7 Milliarden aus dem Immobilienge- 2,4-Milliarden-Mark-Loch. Die Misere ist Aus dem Protokoll geht schäft. Der Aufsichtsrat, berichtet ein Sit- das Ergebnis eines Geschäftsgebarens, das

P. GINTER / BILDERBERG P. das nicht hervor. zungsteilnehmer, bekam von dem Gutach- Branchenkennern schlichtweg „wahnsin- Wuppertaler Warum briefte Volker ten nur das Inhaltsverzeichnis zu sehen. nig“ erscheint. Schwebebahn Butzke, Jurist der Deut- Bis zuletzt täuschte Binder offenbar sei- So hat das Unternehmen am Magdebur- schen Bank, den Holz- ne Anleger. Die Sanierung sei abgeschlos- ger Hauptbahnhof das City-Carré gebaut mann-Vorstand mit Antworten für kritische sen, behauptete er noch im August und und dem Eigentümer eine Miete von rund Fragen in der Hauptversammlung am 30. riet: „Kluge Investoren kaufen die Zu- 26 Mark pro Quadratmeter garantiert – bei Juni? Und warum ging der Deutschbanker kunft.“ Gemeint waren Holzmann-Akti- ortsüblichen Spitzenmieten von bestenfalls Lutz Robra, ein Controller, bei Holzmann en, die jetzt wegen der drohenden Pleite 18 Mark. Schon im April hatte die Projekt- ein und aus? Führende Holzmänner gaben vom Börsenhandel ausgesetzt wurden. tochter deshalb Ohlinger und Klee Rapport ihm den Beinamen „Überkontrolleur“. Ende August lieferten die Bilanz-Mana- erstattet. Die Rückstellungen von 63 Mil- Zusammen mit dem Leiter des Konzern- ger dann den schon für Juni erwarteten lionen Mark reichten ihrer Ansicht nach Rechnungswesens, Heinz Rauch, habe bei weitem nicht aus. Das wahre Robra jedes Zahlenwerk durchgekaut – Risiko liege bei 348,5 Millionen. und Boehm-Bezing umgehend weiterge- In feiner Gesellschaft Weitere Verluste und Risiken: 140 meldet. „Der kannte jedes Komma“, grum- Pannenchronik der Deutschen Bank Millionen bei der Veranstaltungs- melt ein Holzmann-Manager und empört halle Kölnarena, über 100 Millio- sich über „die unglaubliche Show der Ah- Dezember 1992 nen Mark bei der Schwebebahn in nungslosigkeit, die jetzt abgezogen wird“. Bei dem Vergleich der Duisburger Klöckner-Werke Wuppertal und etwa 100 Millionen Mit im Showgeschäft: die Holzmann- AG wird der Deutschen Bank vorgeworfen, ihren Dollar aus einem Gerichtsverfah- Vorstände. Seit eineinhalb Jahren wissen eigenen Sanierungsbeitrag auf Kosten anderer Gläu- ren, das die US-Behörden anstren- Binder und seine Beisitzer Johannes Oh- biger unangemessen gering zu halten. gen. Holzmann soll beim Bau von linger und Rainer Klee offenbar um ein Juli 1993 Kläranlagen in Ägypten die ameri- neues, immenses Loch im Immobilienge- Die Dresdner Sachsenmilch und ihr Großaktionär kanischen Auftraggeber betrogen schäft. Die Betroffenen bestreiten dies. Südmilch werden zahlungsunfähig. Die Deutsche haben. Eine Hundertschaft der Doch schon im Mai 1998 hatte der da- Bank, die zwei Jahre zuvor die Sachsenmilch an die Polizei durchsuchte deshalb im malige Vorstand der Holzmann Baupro- Börse gebracht hat, nimmt von den Sachsenmilch- vergangenen November die Holz- jekt AG, Hansjürgen Karrenbauer, seinem Zeichnern die Aktien zum Emissionskurs zurück. mann-Zentrale, bilanziert wurde Konzernvorstand schriftlich mitgeteilt, dass Dezember 1993 das Risiko im Abschluss für 1998 die 1997 vorgenommene Wertberichtigung Wegen missratener Termingeschäfte mit Öl droht trotzdem nicht. von 700 Millionen Mark nicht ausreiche. der Frankfurter Metallgesellschaft der Konkurs. Inzwischen ermittelt die Staats- Karrenbauer wollte Immobilien los- Der Aufsichtsratsvorsitzende Ronaldo Schmitz, im anwaltschaft gegen Ex-Chef Lothar schlagen. Doch das war bei den überzoge- Hauptberuf Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Mayer und weitere sieben Holz- räumt ein, er habe das Ausmaß der milliardenschweren nen Preisen, zu denen die Ladenhüter in Öl-Spekulationen nicht erkannt. männer. Den neuen Vorstand und den Büchern standen, unmöglich. Karren- Aufsichtsrat treffe dagegen kein bauer forderte deshalb vom Konzernvor- April 1994 Verschulden, behauptet Binder. stand eine weitere Abwertung um rund 500 Der Frankfurter Baulöwe Jürgen Schneider ist pleite. Trifft es aber zu, dass alle War- Millionen. Ende August musste er gehen. Schneiders Projekte wurden leichtfertig finanziert – nungen ignoriert wurden, droht ih- Sein Nachfolger Klaus Heidkamp ta- vor allem von der Deutschen Bank, die mit 1,2 Milli- nen ein Verfahren wegen Bilanzfäl- xierte den Wertberichtigungsbedarf im arden Mark größter Geldgeber des Spekulanten war. schung. Und nicht nur das. Herbst vergangenen Jahres gar auf eine Juni 1994 Die Rechtsabteilung der Com- Milliarde Mark. Abgang im Sommer 1999 Kriminelle Machenschaften des Vorstands treiben die merzbank prüft eine Strafanzeige – angeblich wegen Kompetenzanmaßung. westfälische Balsam AG – Hauptgläubiger war die gegen die Herren Binder und Co. Interne Aufstellungen wie die Projekt- Deutsche Bank – in den Ruin. Der Aufsichtsrat hat Denn die Vorstände ließen sich von liste, die der heutige Bauprojekt-Vorstand die Luftbuchungen nicht bemerkt. dem Institut noch am Freitag vor Friedhelm Samuel dem Konzern-Finanz- Mai 1996 einer Woche 50 Millionen Mark auf chef Klee im März überreichte, hielt das Bei der Kölner KHD wird der Hauptaktionär Deutsche Firmenkonten überweisen. Obwohl Unternehmen ebenso unter Verschluss wie Bank (48 Prozent) von einem 650-Millionen-Mark- sie wussten, dass der Konzern um ein Gutachten der Wirtschaftsberatung Verlust überrascht. 2,4 Milliarden überschuldet war. McKinsey aus dem Frühjahr 1998, die einen November 1999 Ganz anders übrigens die Deut- Wertberichtigungsbedarf von mehr als ei- Der Baukonzern Philipp Holzmann steht vor dem Aus, sche Bank. Sie hat in den letzten ner Milliarde Mark aufdeckte. nachdem sich ein Schuldenloch von 2,4 Milliarden zwölf Monaten ganz diskret Kredi- Holzmanns Hausprüfer von der KPMG Mark aufgetan hatte. Hauptfinanzier und zweitgrößter te in Höhe von knapp 300 Millionen hatten schon im Frühjahr größte Beden- Anteilseigner des Baukonzerns ist die Deutsche Bank. Mark zurückgeführt. ken, die Bilanz 1998 zu testieren. Der Jah- Jürgen Dahlkamp, Wolfgang Reuter

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Ähnlich wie bei Rot-Grün sollen die Anleger weitere 30 Prozent vom Fiskus zugeschos- RENTE auch zwischen diversen Sparformen wählen sen, nur den Rest von rund 50 Prozent können, von Aktien über Investmentfonds müssten sie aus der eigenen Tasche bezah- Magische bis hin zu Lebensversicherungen. len. Spitzenverdiener müssten gar nur rund Doch anders als Riester möchte die CSU 40 Prozent selbst bezahlen, sie bekämen private Vorsorge massiv fördern. Seehofer aufgrund ihres höheren Steuersatzes rund Prozente setzt dabei vor allem auf Steuervorteile: 40 Prozent vom Finanzamt erstattet. Die privaten Investments könnten kom- Angesichts leerer Kassen mochte die Re- Trotz heftiger Attacken bewegen plett von der Steuer abgesetzt werden. gierung sich zu solchen Geschenken noch sich Regierung und Opposition im nicht durchringen; erst Mit- Die Grenzen verwischen te Dezember will Riester Streit um private Altersvorsorge seine Pläne für die große aufeinander zu – Experten sehen Geplante zusätzliche Rentenversicherungen Rentenreform vorlegen. Bis- Chancen für einen Kompromiss. ROT-GRÜN CSU lang ist nur geklärt, dass Ge- ringverdiener, die von den enn Jochen Aymanns, Vorstand Beitragssatz in Prozent des Bruttolohns Steuervorteilen ohnehin des Versicherungsriesen Gerling, 2,5 2,5 kaum profitieren, direkte für die Vorzüge der privaten Al- Zuschüsse erhalten – bis zu W Pflicht zur privaten Vorsorge tersvorsorge wirbt, muss er viel leiden. ja nein 250 Mark im Monat. „Eine „Die Parteien“, klagte er am Donnerstag Mickymaus-Lösung“, höhnt vergangener Woche im Börsensaal der Beteiligung des Arbeitgebers CSU-Mann Seehofer. Industrie- und Handelskammer Köln, „ha- nein ja, mit knapp 10 Prozent Riester indes warnt, dass ben da untereinander ein Kommunika- der Anlagesumme der CSU-Vorschlag „nicht tionsproblem. Und das macht mich manch- bezahlbar“ sei, führe er mal richtig krank.“ staatliche Zuschüsse zur privaten Vorsorge doch zu Steuerausfällen von Vor 1100 Zuhörern beim Rentenforum ja, zwischen 16,6 und 50 nein rund zehn bis zwölf Milliar- des „Kölner Stadt-Anzeigers“ erlebte der Prozent der Anlagesumme, den Mark. Ein Einwand, den nur für Geringverdiener (maxi- Versicherungsmanager wieder einmal, wie mal 60000 Mark Einkommen) der Mannheimer Rentenex- die Regierung, repräsentiert durch Arbeits- perte Axel Börsch-Supan minister Walter Riester, SPD, und die Op- Steuerliche Freistellung nicht gelten lässt: „Wer die position, vertreten durch den CDU-Ren- noch ungeklärt ja, zwischen rund 19 und private Vorsorge stärken tenexperten Andreas Storm, versuchten, rund 40 Prozent der Anlage- will, der muss auch richtig die Argumente des anderen zu „zerflei- summe; Steuervorteil steigt Geld in die Hand nehmen.“ schen“ (Aymanns), anstatt Gemeinsamkei- mit dem Einkommen Allerdings entsteht durch ten zu suchen. So geht es seit Wochen. das CSU-Modell noch ein Besteuerung der Privatvorsorge im Alter Gleichwohl verdecken die heftigen zweites, weitaus problema- ja, Kapitallebensversicherun- ja, Besteuerung mit dem Attacken, dass die Rentenpolitiker aller gen mit 25 Prozent, Lebensver- individuellen Einkommen- tischeres Milliardenloch, und Couleur sich eigentlich längst aufeinander sicherungen mit monatlicher steuersatz zwar in der Rentenkasse. zu bewegen. So legte die CSU vergangene Rente steuerfrei; andere Anla- Weil ein Teil der bisherigen Woche ein Reformkonzept vor, das in geformen: noch ungeklärt Beiträge in private Invest- etlichen Punkten den Regierungsplänen ments umgeleitet wird, feh- ähnelt. In der CDU sympathisieren immer len der Versicherung im Ex- mehr Sozialpolitiker mit Riesters ur- tremfall nach CSU-Berech- sprünglicher Idee einer obligatorischen Zu- nungen 14 bis 16 Milliarden satzvorsorge, jenem Modell also, das einst Mark jährlich. Dann müss- als „Zwangsrente“ diffamiert wurde. ten aber die Rentenbeiträge Schon haben Experten erste Grund- um einen halben Prozent- linien für einen parteiübergreifenden Kom- punkt erhöht oder aber, ähn- promiss ausgemacht. „Da tut sich etwas“, lich wie bei Rot-Grün, die glaubt der Darmstädter Ökonom Bert Leistungen der Rentner Rürup, einst Berater von Norbert Blüm gekürzt werden. Börsch- und nun von Riester. „Vom Ansatz her“, Supan: „Leider bleiben die- urteilt auch Katrin Göring-Eckardt, die se unangenehmen Dinge Rentenexpertin der Grünen, „herrscht bei bei der CSU im Nebel.“ der privaten Vorsorge Übereinstimmung.“ Uneins ist die Union auch Denn inzwischen hat sich auch die Uni- noch darüber, ob sie die pri-

on von jener Losung verabschiedet, die zu L. CHAPERON vate Vorsorge zur Pflicht Kohl-Zeiten nicht angezweifelt werden Rentenreformer Riester: Mehr Geld in die Hand nehmen? machen soll. Während die durfte, dass nämlich die Rente sicher sei. CSU auf die Einsicht der Nun gebe es, bekennt der christlich-sozia- Zudem dürfen die Anleger einen Teil der Menschen setzt (Seehofer: „Das Ganze ist le Rentenvordenker Horst Seehofer, „eine monatlichen Sparsumme mit den Beiträgen so attraktiv, dem wird sich kaum jemand breite Bewegung in Richtung privater zur gesetzlichen Rentenversicherung ver- entziehen“), fürchtet CDU-Experte Storm, Vorsorge“. Und am liebsten würde der rechnen. Letztlich würden knapp 20 Pro- dass dies womöglich nicht ausreicht. An- Ex-Bundesgesundheitsminister gleich zum zent der privaten Vorsorge aus Mitteln fangs könne man das Prinzip der Freiwil- ganz großen Wurf ansetzen. stammen, die früher als Arbeitgeber- und ligkeit testen, „aber wenn nach zwei, drei Ähnlich wie Riester fordert er, dass ein Arbeitnehmeranteile in die staatliche Ren- Jahren nicht alle dabei sind, müssen wir das monatlicher Beitrag von 2,5 Prozent privat tenkasse flossen. korrigieren“. Storm: „Langfristig führt an fürs Alter gespart werden soll (Rürup: „Das Hinzu kommt die Steuerersparnis. Da- einer Vorsorgepflicht für alle wohl kein ist offenbar ein magischer Prozentsatz“). durch bekämen Durchschnittsverdiener Weg vorbei.“ Ulrich Schäfer

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Werbeseite sagt Peter Brauer vom Direktorium für Vollblutzucht und Rennen, der Dachorga- nisation der Galopprennbahnen. Seit Jahren sei der Anteil der Rennbah- nen am gesamten Wettumsatz von einst 85 Prozent auf rund die Hälfte geschrumpft, klagt Brauer. „Die Rennvereine sind finan- ziell am Ende.“ Für viele Spieler sei der warme, trockene Platz beim Buchmacher attraktiver, als ihre Wette direkt auf der Bahn abzugeben. Doch die Kollegen der Wettbüros sind den Rennbahn-Betreibern schon lange ein unbequemer Geschäftspartner, weil sie ne- ben den Rennbahn-Wetten auch Einsätze auf eigene Kasse entgegennehmen. „Für die sind wir lästige Konkurrenz“, klagt Buchmacher Albers. Da sei der Lotto-Kon- zern aus Italien, der ausschließlich Wetten

F. PETERS / BONGARTS F. stellvertretend für die Rennbahnen an- Deutsches Derby in Hamburg: „Weg von der Rennbahn, hinein in die Städte“ nehmen will, für die Rennvereine „allemal verlockender“. Die Einbußen im Geschäft mit Glücks- Den Trend hat auch ein anderer Unter- GLÜCKSSPIEL rittern und Pferdenarren bekommen nehmer entdeckt: Pit Arndt, 37, ehemaliger besonders die Buchmacher zu spüren, Automaten-Verkäufer aus Koblenz, bietet Viele kleine deren Wettbüros private Wetten auf eige- mit seiner Firma Champions seit neuestem nes Risiko anbieten, aber auch Einsätze Galopp- und Traberwetten in bundesweit für die Rennveranstalter entgegennehmen rund 50 Spielhallen an.Auf Franchise-Basis Buchmacher – quasi als verlängerter Arm der Renn- können Spielothek-Betreiber bei Arndts bahnen. Für die Fernwette vom Wettbüro Firma für 30000 Mark Satelliten-Anlagen, Ein italienischer Lotto-Konzern bekommen die Buchmacher neun Prozent Computersoftware und Monitore kaufen, Provision. um in ihren Daddelhallen zwischen Flipper, will in Deutschland ein Netz Jetzt droht dem anrüchigen Gewerbe, Geldspielgerät und Billardtisch Wettbüros von 2500 Wettbüros aufbauen – das noch immer unter dem zweifelhaften im Miniformat einzurichten. und das dubiose Geschäft Charme von Halbwelt und Quoten-Mau- Dass die Rennbahn-Vereine den neuen mit Pferdewetten aufmischen. scheleien leidet, finanzkräftige Konkurrenz Wettveranstaltern Sonderkonditionen ein- aus Italien. Die Sisal S.p.A., einer der räumen, ärgert die Buchmacher gewaltig. ummer sechs ist kaum zu bändi- Marktführer beim Lottospiel in Italien, will Gerade 200 Mark kostet die Spielotheken gen. Bockig bäumt sich die vier- zusammen mit den Rennbahn-Vereinen ab im Monat das Recht, die Rennbilder aus Njährige Stute Windmarie unter nächstem Jahr ein gigantisches Netz von Mülheim oder München-Riem live auf die ihrem Jockey auf. Vier Helfer sind 2500 Wettschaltern aufbauen. Bildschirme der Spielhallen zu übertragen. nötig, um den sturen Gaul in seine Box Mit einem Kapital von 150 Millionen „Wir zahlen dafür 2700 Mark monatlich“, auf der Galopprennbahn Bremen-Vahr Mark sollen in deutschen Kneipen, Res- beschwert sich der Buchmacherverband. zu schieben. taurants, Bistros und Tabakläden schon Fair sei das nicht. Auch Anne, 46, ist nervös. 150 Kilome- Ohnehin fühlen sich die ter weiter, in Hannover-Linden, steht die Wettbüro-Betreiber seit Jahren Frührentnerin vor einem von 25 Bildschir- schlecht behandelt. Gegen die men bei Buchmacher Albers. Die Augen „Ungleichbehandlung“ der starr auf den Fernseher gerichtet, die qual- Lotto- und Wettbranche ge- mende Lord-Extra im Mundwinkel, knetet genüber den Buchmachern sie ihren Wettschein und verfolgt, in den laufen bereits verschiedene Knien wippend, wie Windmarie weit ab- Klagen. geschlagen vom Feld als letztes der edlen So sehen die privaten Wett- Tiere durchs Ziel läuft. büros keinen Grund dafür, dass „Ich liebe Außenseiter“, sagt Anne. die Pferdewetten der Buchma- Der Tipp hätte ihr immerhin gut 400 Mark cher zwar mit 16,67 Prozent gebracht – Windmarie hätte nur siegen Steuern belegt werden, die müssen. Wetten der Rennbahnen dage-

Anne ist eine von zehntausenden, die in C. WARDE-JONES gen mit unter einem Prozent. den 110 Wettstuben und auf rund 40 Renn- Wettbüro in Rom: Kneipen und Kioske im Visier Von dieser europaweit einma- bahnen der Republik versuchen, mit ver- ligen Steuererleichterung wür- meintlich heißen Tipps die schnelle Mark bald viele kleine Filialen entstehen – fern- de auch der italienische Lottogigant Sisal am Turf zu machen. 835 Millionen haben ab des alten Buchmacher-Miefs. zusammen mit seinen 2500 Lizenznehmern die Deutschen allein im vergangenen Jahr Der starke Partner aus Südeuropa, der in in Deutschland profitieren. auf Traber und Galopper gesetzt. Doch die Italien mit 15000 Lottoschaltern etwa fünf „Ohne die Vorzugsbehandlung durch Umsätze gehen seit Jahren stetig zurück, Milliarden Mark umsetzt, soll der Traber- den Staat“, glaubt Buchmacher Albers, Norman Albers vom Deutschen Buchma- und Galopperszene ein neues Hoch be- „würde sich der Einmarsch nach cherverband beklagt ein Minus von zehn scheren. „Wir wollen mit den Wetten weg Deutschland für die Italiener gar nicht Prozent in den vergangenen fünf Jahren. von der Rennbahn, hinein in die Städte“, rechnen.“ Hans-Jörg Vehlewald

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Werbeseite Trends Medien

GRUNER+JAHR Keine Einigung m Streit mit dem im Juli entlassenen I„Stern“-Chefredakteur Michael Maier hat der Verlag Gruner+Jahr die vom Gericht gesetzte Einigungsfrist verstrei- chen lassen. Nun wird das Arbeitsge- richt Hamburg am 30. November über die Rechtmäßigkeit von Maiers Kündi- gung entscheiden. Maier hatte gegen den fristlosen Rauswurf nach einer nur halbjährigen Amtszeit geklagt – im Fall einer Auszahlung seines Dreijahresver- trags stünden ihm 2,5 Millionen Mark zu. Der Verlag, der 500000 Mark für an- gemessen hält, wirft Maier vor, „illoyal Fakten geschaffen“ zu haben, als er dem damaligen geschäftsführenden Redak- teur und heutigen Chefredakteur Tho- mas Osterkorn mitteilte, für eine weitere Zusammenarbeit keine Möglichkeit mehr zu sehen. Sollte Maier vom Ge- richt Recht bekommen, will G+J in die Berufung gehen – unter Umständen bis zum Bundesarbeitsgericht. ACTION PRESS ACTION Kidman (mit Tom Cruise in „Eyes Wide Shut“)

FILMHANDEL Wohin mit den Knüllern? in dickes Spielfilmpaket der Kinowelt Medien AG gerät zum Politikum. Der Fir- Ema drohen Verkaufsprobleme bei 7o Filmen des US-Riesen Warner Brothers, darunter Kinoknüller wie „Eyes Wide Shut“ mit Nicole Kidman, nachdem die Pro Sieben Media AG als Käufer ausscheidet. Nach dem Pro-Sieben-Kauf durch den Filmhandels-Rivalen Leo Kirch sei der fast perfekte Deal gestoppt worden, sagt ein Kinowelt-Vertrauter. Der Pro-Sieben-Vorstand sei damit nicht beschäftigt gewesen, erklärt dagegen ein Sprecher der TV-Firma. Kinowelt hatte beim Kauf der Warner- Filme im August mit 320 Millionen Dollar Kirch um rund 40 Millionen überboten. Da RTL kaum noch US-Filme sendet und das ZDF Kirch-Großkunde ist, bleibt nun

NEUHAUSER nur die ARD als Abnehmer. Ex-„Stern“-Chef Maier

PRESSE Bild hieß es, die „hochgeschätzte Eis- Landgericht und das Oberlandesgericht Prinzessin des ausgerutschten SED- (OLG) wollten dieser Argumentation Katarina Witt klagt Staates“ offenbare hüllenlos eine „weit nicht folgen. Zwar zähle der „nackte ansehnlichere Art von Linien- Körper“, so das OLG, „zum in Karlsruhe treue“. Witt fühlte sich in intimsten Bereich eines ihren Persönlichkeitsrechten Menschen“, doch habe die achdem sie bereits in zwei Instan- verletzt und klagte auf Eiskunstläuferin auf den Nzen gegen die „FAZ“ verloren hat, Schmerzensgeld, da sie nur Schutz dieses Bereichs ihrer legt die ostdeutsche Eiskunstläuferin dem „Playboy“ das Exklusiv- Intimsphäre durch die Katarina Witt jetzt vor dem Bundesver- recht an ihren Nacktaufnah- „Playboy“-Veröffentlichung fassungsgericht in Karlsruhe Verfas- men eingeräumt habe – für „freiwillig verzichtet“. Als sungsbeschwerde ein. Die „Frankfurter eine Veröffentlichung. Es gebe „absolute Person der Zeitge- Allgemeine“ hatte im November ver- keinen Rechtsgrundsatz, wo- schichte“ sei das Recht an gangenen Jahres in ihrer Sonntagsaus- nach „der weibliche nackte ihrem eigenen Bild zudem gabe ein Nacktfoto des Stars aus dem Körper“ gleichsam „jedem eingeschränkt. Diesen Teil

„Playboy“ (vom Dezember 1998) abge- zugänglicher Allgemeinbe- DPA des Urteils will Witt jetzt in druckt. In einer kurzen Notiz zu dem sitz“ sei. Das Frankfurter „Playboy“-Titel Karlsruhe überprüfen lassen.

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PROJEKTE Wort zum Bußtag Nach Marlene nun Zarah er auf der Kanzel steht, hat gut s tönen die Lieder, die Glamour-Fregatten Wreden. An allen Predigtstühlen Ekehren wieder. Joseph Vilsmaier hat gerade unserer christlichen Versammlungs- das Leben von Marlene Dietrich mit Katja Flint stätten herrscht freie Themenwahl: in der Hauptrolle verfilmt. Nun ist Zarah Lean- Gott und die Welt, Brot für die Welt, der („Ich weiß, es wird einmal ein Wunder ge- die schlechte Welt, die Welt schlecht- schehen“) dran: Das schwedische Fernsehen hin. In den Kirchen sitzt ohnehin kei- produziert einen TV-Dreiteiler über die 1981 im ner, der sich das anhört. Die meisten Alter von 74 Jahren in gestorbene Seelenhirten sprechen in leere Kir- Sängerin, die zur Freude des deutschen Publi- chenschiffe, ihr Wort trifft, wenn’s gut kums und der Nazi-Herren in brauner Zeit mit geht, allenfalls in Gottes Ohr. Letzte tiefer Stimme und nordischem Akzent für Un- Woche nun ergab sich eine Dreifal- terhaltung sorgte. Das Drehbuch für den Zarah-

tigkeit des Zufalls, der wahrlich als Dreiteiler, der auch in Deutschland zu sehen PRESS (re.) SIPA Zeichen des Himmels gedeutet wer- sein dürfte, schreibt Peter Steinbach („Heimat“, Leander Dietrich den muss. Mit einem Mal kam in ei- „Klemperer“), Regie führt der Schwede Jan ner Hamburger Hauptkirche nämlich Troell, 68, der unter anderem das Leben des norwegischen Dichters Knut Hamsun alles zusammen: Es war Buß- und mit Max von Sydow in der Hauptrolle verfilmt hat. Wer Zarah Leander spielen soll, Bettag, die evangelisch-lutherische steht noch nicht fest, im Gespräch soll laut Steinbach Katharina Thalbach sein. Bischöfin Maria Jepsen ergriff das Wort, und es galt den Pressejungs. Nun weiß heute jeder Medienkonsu- ment, dass die Spezies der Journa- ler. Im „Marienhof“ war eine Band zu listen – mit Ausnahme der beim hören, und Oliver Petszokat aus der „Bayernkurier“ tätigen Gotteskinder RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte – ein Unglücksfall der Schöpfung ist Zeiten“ ließ sich als Deutsch-Rapper und längst der Verdammnis vernehmen – die Seifenopern sind nah anheim fallen müsste. Nur am Pop gebaut. Nun übernimmt der mit aller wünschens- Musikkanal Viva eine britische Soap- werten Klarheit ausge- Produktion (Ausstrahlungsbeginn: sprochen hat das erst 7. Januar 2000), die nur noch von einer Maria Jepsen aus Bad Pop-Gruppe handelt. Im Mittelpunkt

Segeberg. Es sei „leichter, VIVA steht die auch real existierende Band für ein Kamel durchs Nadel- Soap-Band SClub7 SClub7, die nach windigen Geschäften öhr zu kommen“, verkündete die ihres Managers in einem herunterge- Anklägerin am vergangenen Mitt- SOAPS kommenen Hotel in Miami landet und woch über der hanseatischen Ge- sich nun zwischen Pool und Party mit meinde, „als für einen Journalisten Pool, Pop, Partys Beach-Volleyball, Intrigen und Liebe in den Himmel“. Und dann redete langweilen muss. Spice-Girls-Macher sie all den anwesenden Talk- n der Serie „Lindenstraße“ drummte Simon Fuller hat die Serie konzipiert, er show-Guckern und Yellow-Kun- Ieinst ein Beimer-Bengel, zum Ärger dürfte wissen, wie nahe die Soap an der den ganz tief ins Gewissen: „Kein von Hausmeisterin Else Kling, im Kel- Realität liegt. Mensch, ob nun gut oder böse, soll- te je ein gefundenes Fressen für einen Reporter, eine Redakteurin, für Ka- QUOTEN meraleute sein: Das wäre kanniba- lisch.“ Recht hat die Bischöfin, „das Tierfilm-Reihen im Fernsehen Dinossimo Durchschnittlicher Zuschauer- Reden der Schlangenzungen“ und * das Geschreibsel der Giftfedern ist ie Saurier, so kalauerte einst die marktanteil in Prozent nichts anderes als, pfui Teufel, Suhlen Dneue deutsche Schlagerwelle, wur- Dinosaurier 17,7 im Sündenpfuhl. Nur, verehrte Frau den immer trauriger. Aber Pro Sieben Pro Sieben Bischöfin: Warum nicht auch ein darf sich über die Uralt-Echsen richtig bisschen Nächstenliebe für unseren freuen: Die computeranimierten BBC- Wunder der Erde 14,6 schweren Berufsstand, der nach Ihrer Filme, in denen das Leben der ausge- ARD Gardinenpredigt immerhin die Bis- storbenen Gattung bildmächtig rekon- Abenteuer Wildnis sigkeit von Menschenfressern vor- struiert worden war, erzielten sensatio- ARD 12,9 aussetzt? Warum kein Wort der Gna- nell hohe Quoten – beinahe ein Drittel Expeditionen de für all die geplagten Zeilenschin- aller jüngeren Zuschauer schalteten ins Tierreich 12,5 der, die in München das „Streiflicht“, ein. Damit übertrifft die künstliche ARD in Frankfurt die Allgemeine Zeitung Animalienshow Klassiker wie die „Ex- Naturzeit ZDF 10,2 und in Hamburg diese elende Spalte peditionen ins Tierreich“. Nur Affen- telezoo *Pro Sieben: 11. und 18. füllen müssen? Wir warten auf einen opa Bernhard Grzimek erweckte höhe- 7,6 November, ARD und ZDF: Wink von oben. res Interesse – aber das war in grauer ZDF Januar bis Mai 1999 TV-Vorzeit.

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aus. Zu seinem Spießerfreund Manni Vorschau (Heinrich Schafmeister) unterhält der Münsterland-Marlowe ein ritualisiertes Einschalten Ausbeutungsverhältnis: Dessen Auto ist sein Auto und dessen Fressalien sind die Wilsberg und die Tote im See seinen. Im Internet (www..de/escript) Montag, 20.15 Uhr, ZDF sollen Interessierte neue Drehbücher mit Er wirkt wie der entfernte westfälische der Figur des Krimi-Autors Jürgen Keh- Verwandte von Raymond Chandlers rer entwickeln. Doch dieses Stück wirkt Held Philip Marlowe: Ähnlich raubei- so professionell (Regie: Dennis Satin), nig, ähnlich finanziell dauerabgebrannt dass es eigentlich keiner online ge- und ähnlich verbissen unter vergam- schöpften Interfetzigkeit bedarf, im Ge- melter Schale ermittelt der Privatde- gensatz zu anderen Programmen. tektiv Georg Wilsberg (Leonard Lan- Hörbiger in TV-Serie „Julia“ sink) im nicht gerade als Lasterhöhle Julia – eine ungewöhnliche Frau bekannten Münster. Erfrischend ko- Dienstag, 20.15 Uhr, ARD rin findet. Souverän zieht sie die Re- misch, wie ihn seine Ziehtochter (Ma- Christiane Hörbiger spielt in dieser aus gister des Gefühls: professionelle Käl- rie Zielcke) als eine Art Echo bei sei- Österreich importierten Serie eine An- te, herzzerreißende Trauer, milde nen Schnüffeleien begleitet, sie pro- wältin, die nach schwerem Schicksals- Großmütterlichkeit – eben alles, was biert sich als Nachwuchsreporterin schlag ihren Frieden als Provinzrichte- eine gestandene Frau ausmacht.

Gefährliche Hochzeit Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Pretty Woman in Frankfurt: Ein Jung- banker (Heikko Deutschmann) heira- tet, um dem Firmen-Comment zu genügen, eine Schlampe vom Hähn- chen-Imbiss (Ann-Kathrin Kramer). Aus der Pro-forma-Ehe wird Liebe, aus dem TV-Abend (Buch: Thomas Kirdorf, Regie: Konrad Sabrautzky) gute „Wilde Herzen“-Unterhaltung.

Der Voyeur Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Den optischen Verbund von TV-Movie und Unterbrecherwerbung schafft nie- mand so perfekt wie Roman Kuhn. Sein neuer Film, eine Licht- und Far- benorgie im eleganten Seehotel, be- stätigt dies. Könnte Kuhn seine famose Bilderkunst nicht mal für realistischere Lansink mit Michael Greiling in „Wilsberg und die Tote im See“ Drehbücher verwenden?

Ausschalten

Versprich mir, dass es ribunden und neuer Neigung anzubah- Tatort: Norbert den Himmel gibt nen. Leider weicht der Film (Buch: Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Andy T. Hoetzel, Ina Siefert; Regie: Das hätte die stille, spannende Tragö- Louis (Mehmet Kurtulus) und Cora Martin Enlen) der Tragödie aus und die über die männliche Klette Nor- (Sandra Speichert) sind ein schönes flüchtet sich in den Wohllaut des TV- bert (Jürgen Tarrach) werden können, junges Paar. Sie hausen in einer leicht Movies. In einer Art Ménage à trois einen überanhänglichen, vom Vater schlamperten Altbauwohnung, der pflegen Stella und Louis im sonnigen unterdrückten Außenseiter. Doch der Fernseher blickt von der Decke aufs Mittelmeer-Süden die Kranke bis zu Krimi des BR (Regie: Niki Stein) Doppelbett. Doch das Mädchen im ihrem Ende. Die Kamera umkreist die misstraut seiner Grundidee und fie- seidenen Nachtgewand hat Leukämie schönen Körper, das Drehbuch unter- dert sich mit Nachtclubflair, Anla- und verliert allmählich die Orientie- wirft sich widerstandslos der Schöner- geschiebung und Reporterübermut, rung in den Alltagsdingen. Louis’ sterben-Schwelgerei. Sandra Speichert, wie ihn Dietls Figur des Baby Schim- Gram steigert sich und, als er seine mit mutiger Kurzhaarfrisur, wird ge- merlos besser gezeigt hat. Die über- alte Freundin Stella (Sonsee Ahray) zwungen, nicht enden wollende Groß- reichlichen Zutaten gehen auf wieder trifft und sich in sie verliebt, aufnahmen lang, Abschiedsschmerz in Kosten der Geschichte vom gerupften scheint sich ein tragischer Konflikt ihre Züge zu legen – das muss selbst Huhn, die einzig wirklich gelohnt zwischen Pflicht gegenüber einer Mo- eine Hochbemühte wie sie überfordern. hätte.

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PAY-TV Ab in die Kiste Mit Milliardenaufwand versuchte das digitale Bezahl-Fernsehen bislang vergebens, in Deutschland Fuß zu fassen. Der vielleicht letzte Versuch: Premiere World. Sieht so die schöne neue Bilderwelt der Zukunft aus? Ein siebentägiger Selbstversuch. Von Thomas Tuma

Premiere World ist der jüngste Spross des Bezahl-Fernsehens (neudeutsch: Pay-TV), das in Deutschland eine schrecklich teure und komplizierte Vergangenheit hat, die dennoch in die nächsten 14 Zeilen passt. Früher gab es nur Premiere. Dann kam noch DF-1 dazu. Beide waren derart er- folglos, dass Leo Kirch (Beruf: „Medien- mogul“) nun auf Schulden von über vier Milliarden Mark sitzt – sowie auf zwei Sen- dern, die seit dem 1. Oktober einen Namen haben: Premiere World. Kirch braucht also sehr dringend sehr viel Geld, das er sich von zwei Seiten holen will. Die eine ist Rupert Murdoch (Beruf: „Medienzar“), der bei Kirch einsteigen möchte-soll-könnte. Die andere Seite bin ich, ein nebenberuf- licher „Endverbraucher“, der nie einstei- gen wollte. Bis zu Frau Berbens Slip-Clip. Premiere World ist demnach das tollste, schönste, beste Fernsehen, das es je gab. „Maßgeschneidert.“ Digitale Zukunft. „Your Personal TV.“ Top-Highlights aus Sport, Kino und Konzertsaal. So oft ich mag. Für jedes Thema ein Kanal. Allein im Oktober lockte der neue Kanal 110000 Neugierige an. In zwei Jahren sollen es 3,5 Millionen Abonnenten sein, hofft Pre- miere-World-Chef Markus Tellenbach (sie- he Seite 147), der gern über „Look & Feel“,

N. MAI „Join-Faktoren“ und „Trouble-Shooting“ SPIEGEL-Redakteur mit d-box: Nächtliche Obsessionen unerotischer Art redet.Weniger gern spricht er über sein Hei- matland Schweiz, das gerade den Premiere- er Slip. Schuld war dieser weiße Das mit dem Slip passierte ihr dauernd. World-Decoder verboten hat, weil er freie Slip von Iris Berben. Sie saß in ei- Nach dem dritten Mal hörte ich sogar, wie Programmwahl und Meinungsvielfalt ge- Dnem Schnellimbiss auf einem sie sagte, „dass ich ziemlich genau weiß, fährde. Na ja, Schweiz eben. Hocker, redete über ihre Pommes hinweg, was ich will“. Sie – nicht ich. Und dass sie und man konnte dabei unter ihren kurzen bei Premiere World „genau das kriege, was Montag grauen Rock schauen. Man? Ich! ich will“. Sie – nicht ich. Frau Berben woll- Die Tür zum neuen Fernsehen ist diese Natürlich glotzte ich auf den Slip. Jeder te Werbung machen. Ich wollte Frau Ber- schwarze Kiste namens d-box. Die d-box tat das. „Bild“ kreischte: „Huch, Frau Ber- ben sehen. Das Elend begann mit einem gibt es im Fachhandel. Der Fachhandel ist ben, wie konnte denn das passieren?“ Missverständnis. in meinem Fall ein bleicher Verkäufer bei

Premiere-World-Programme: Wenn alles zum jederzeit abrufbaren Ereignis stilisiert wird, bleibt am Ende ein ereignisloser Bilderbrei

144 der spiegel 47/1999 gleich weiter“, „Auf diesem Kanal wird derzeit nicht gesendet“, „Die Sendung ist nicht zu entschlüsseln“. Immerhin: die ARD ist da. Und zwar di- gital. Die supermoderne Übertragungs- technik erkennt man daran, dass das Bild mitunter stehen bleibt. Einfach einfriert. Beim ersten Mal ist das lustig. Vielleicht hat sich das Koaxial verkuppelt? Dabei würde auf dem „Seasons“-Kanal gerade der Action-Reißer „Fliegenfischen in Slowenien“ laufen.Auf „Classica“ käme das „Europakonzert der Berliner Philhar- moniker 1998“. Und der „Blue Channel“ böte „Intimate Obsession“. Würde, käme, böte. Wer schaut sich das eigentlich alles an? Arbeitslose Hobby-Angler? Reiche Rent-

FOTOS: PREMIERE ner? Nachts Obsessionen unerotischer Art Schauspielerin Berben im Werbe-Spot: „Ironie mit reingebracht“ geträumt. Nimmt die Schweiz asylsuchen- de TV-Zuschauer auf? Saturn in Hamburg, der froh ist, dass ich und vorne zeigend in den dafür vorgese- Kabelempfänger bin. Er hat nämlich keine henen Schlitz.“ Nummer II rät auf Seite 81: Mittwoch d-boxen für Satelliten-Kunden mehr. Die „Stecken Sie die d-box-Karte mit der gol- Die Hotline-Anfrage, weshalb meine vier würden in Taiwan produziert, wo ein Erd- denen Kontaktfläche nach unten und hin- Extra-Kanäle gesperrt sind, löst bei einem beben Land und Liefertermine durchein- ten zeigend in den Kartenleser.“ Wenn das unbekannten Call-Boy kein Beben, aber ander gebracht habe. keine Meinungsfreiheit ist. doch Panik aus: „Um Gottes willen, das Das ist zwar ziemlicher Quatsch, aber Imposant, wie viele Kombinationsmög- hätte Ihnen der Händler doch sagen müs- ich will alles, und zwar sofort. Der Ver- lichkeiten die Anschlüsse an Fernseher,Vi- sen, dass die nur in Verbindung mit einem käufer will Kopien von Scheckkarte (?) und deorecorder und Decoder zulassen! Wo Zwölf-Monats-Abo freigeschaltet werden.“ Personalausweis (??). Ich habe noch viele sind VCR-Scartbuchse, Koaxial-Kupplung, ICH: Hat er aber nicht. Fragen, er hat die Standardantwort: „Ru- Cinch-Audiokabel? Die Technik-Hotline ist ER: Tja. fen Sie einfach die Hotline an.“ rund um die Uhr besetzt – und besetzt. ICH: Ich zahle also ein Jahr lang für vier Wenn Tellenbach der Kopf von Premie- Die Nacht vergeht fernsehfrei. Macht nix, Kanäle, die ich gar nicht empfangen kann. re World ist und der Saturn-Verkäufer der ein Programmheft lag eh nicht bei. ER: (abwesend) Wieso machen das nur so lange Arm, dann ist das Call-Center das viele falsch? Rückgrat des ansonsten körperlosen Un- Dienstag ICH: (sehr anwesend) Fragen Sie das mich? ternehmens: Schon nach dem sechsten Ver- Anruf eins, zwei, drei, vier und fünf bei der Ich könnte ihm zur Strafe einen Anruf such grüßt eine sonore Tonbandstimme Hotline: „Herzlich willkommen bei Pre- bei seiner Technik-Hotline empfehlen, stu- und bittet darum, die Taste „Null“ zu tip- miere World“ (siehe oben).Am Ende freut diere aber lieber den Mietvertrag (Abtei- pen. Ich tippe und bin wieder draußen. sich der Sprachcomputer, dass ich ja bereits lung „Deutsch für Drückerkolonnen“). Das Man braucht ein Telefon mit Tonwahl, freigeschaltet worden sei und legt von sich Basispaket mit 30 Kanälen kostet pro kurz: so ein Piep-Dingens eben. aus auf. Monat 34,90 Mark. Plus Kaution (150), Zwei Stunden und fünf Anläufe später Sechster, siebter und achter Versuch un- Freischaltung (29,90), d-box-Miete (14,90). bin ich drin. Ein Mensch ist dran! Ein rich- ter einer anderen Servicenummer: „Das Die vier Zusatzsender addieren sich auf tiger Mensch! Die Dame braucht lediglich Programmheft können wir Ihnen leider bis zu 65 Mark. Im Kleinstgedruckten steht, die 7-stellige Händlernummer, die 14-stel- nicht zuschicken. Das bekommen Sie bei dass die Extras tatsächlich eine „Laufzeit lige d-box-Nummer, die 11-stellige d-box- Ihrem Händler.“ von 12 Monaten“ haben. Mir wird schwarz Kartennummer sowie Bankleitzahl, Konto- Der Händler sieht zerknirscht aus (neu- vor Augen. Weihnachtseinkäufe streichen? und Telefonnummer. Als Dank erhalte ich es Erdbeben in Taiwan?): „Wir erwarten eine 10-stellige Kundennummer und eine 4- noch mal Nachschub in den nächsten Ta- Donnerstag stellige Pay-per-view-Ordernummer samt gen. Haben Sie’s mal bei der Hotline ver- Guter Tag: Schon nach dem vierten Hot- Zusicherung, dass der Decoder abends frei- sucht?“ Ich klaue das Ansichtsexemplar line-Versuch bin ich drin. Nummer fünf er- geschaltet sei. „Ist gar nicht weiter wild“, vom Pappständer. hält den Hoffnungszuschlag, weil die Dame beruhigt sie. Abends ab in die Kiste! Die d-box verspricht, dass die vier Extra-Kanäle nun Abends Installation. Gebrauchsanwei- schreibt lustige Kommentare auf den meist freigeschaltet würden. Sie raunt von „Miss- sung I rät: „Stecken Sie die d-box-Karte schwarzen Schirm: „Diese Anfangszeit ist verständnissen“. Ich starte ein nicht re- mit der goldenen Kontaktfläche nach unten nicht freigeschaltet“, „Ihre Sendung geht präsentatives Call-Center-Meinungs-Lotto:

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ICH: Wer zahlt eigentlich die ganzen Tele- matschinken und Hollywood-Feger, Uralt- fongebühren, wenn ich bei Ihnen anrufe? Was Premiere World kostet Serien und Cartoon-Konserven dauernd HOTLINE 1: Wir. aufgekocht werden, bleibt am Ende ein HOTLINE 2: Sie. GRUNDAUSSTATTUNG Vertragslaufzeit ereignisloser Bilderbrei. Was macht man HOTLINE 3: Da sollten Sie mal die Technik- mindestens also? „Wetten, dass …?“ schauen. Ach, du ein Jahr Hotline fragen. gutes altes ZDF! Zum erstenmal wieder Premiere World Dafür ist der Abend im Schlafwa- Superpaket ruhig geschlafen. gen meiner Premiere-World-Sonderklasse 49,90 Mark atemberaubend: „Der Bauer vom Bruck- EXTRAS Sonntag Sport nerhof“ („Heimatkanal“), „Berlioz, Ro- Spielfilme Pay-per-view heißt so, weil man es erst se- meo und Julia, Romeo allein“ („Classica“), hen kann, wenn man noch mal zahlt. In Familienkanal KANÄLE „Hochseefischen vor Niederkalifornien“ Monatsgebühren den vier „Cinedom“-Kanälen schreit alles: („Seasons“) und „Zwanzig Mädchen und d-box-Miete Ruf mich an! Nimm mich! Kauf mich! Es 14,90 Mark Heimatkanal + Heimatfilme, die Pauker“ (nein, nicht „Blue Channel“, Filmpalast alte Spiel- wird überhaupt viel geworben bei Pre- sondern „Filmpalast“). filme miere World, wenn auch nicht für Tüten- monatliche 6 Mark Die guten Filme (also etwa die Hälfte) Gebühr suppen oder Slipeinlagen, sondern für bleiben aus Jugendschutz-Gründen ge- Classica klassischer Kanäle wie „Comedy“, wo Wiederho- 64,80 Mark Musikkanal sperrt. Der vierstellige Pin-Code funk- 10 Mark lungen der Harald-Schmidt-Show laufen – Programm tioniert nicht. Nach dem dritten Versuch einmalig Seasons für Jäger von 1998. schaltet sich die Kiste ab. Nur das Kinder- Freischaltung 10 Mark und Angler Ich will „Godzilla“ und heble damit un- 29,90 Mark programm („Dr. Pickels Horrorshow“) Blue Channel Erotik bewusst den Krimi „Ein Konsument will’s lässt mich nicht im Stich. Nachts wieder Kaution 14 Mark wissen“ ins Tagesprogramm. Test-Anrufe Obsessionen gehabt von überzogenen für d-box und bei der Hotline: „Wie lange vor dem Sen- Konten und rauchenden Call-Center- Zubehör PAY-PER-VIEW determin muss ich die Freischaltung bean- 150 Mark Ruinen. je Film 6 Mark tragen?“ Antwort eins: „Puuh, da bin ich jetzt überfragt. Sie sollten mal die Technik- Freitag Lippen blondierter Laiendarstellerinnen Hotline anrufen.“ Antwort zwei: „Mindes- Ich verpasse den Top-Sport-Event: Um elf zu sehen sind. tens eine Stunde.“ Antwort drei: „30 Mi- Uhr wäre die US(!)-Football(!!)-College- Weil Premiere World keine primären nuten.“ meisterschaft (!!!) gelaufen: Tennessee Geschlechtsorgane zeigen darf, müssen Um sechs Mark zahlen zu dürfen, muss Volunteers gegen die Notre Dame Fighting solche „Erotik“-Filme mit symbolträch- man die „Orderline“ anrufen. „Aus techni- Irish. Es gehört zu den Stärken meines tigen Füllern gestreckt werden: ein trop- schen Gründen können wir Ihren Anruf der- „Personal TV“, dass man weltweit bei al- fender Wasserhahn etwa oder ein auslau- zeit nicht entgegennehmen.Wir würden uns len Super-Highlights dabei ist – mit bis zu fendes Hühnerei. Für Wasserhahn- und freuen, wenn Sie sich zu einem späteren sechs Kameraperspektiven. So weit die Hühner-Fetischisten gibt es drei zusätzliche Zeitpunkt …“ Zu einem späteren Zeitpunkt Theorie. In der Praxis läuft auf vier von „Blue Movie“-Kanäle, die aber extra be- heißt es: „Dieser Anschluss ist vorüberge- sechs Kanälen gar nichts. Auf dem fünften zahlt werden müssen (siehe Sonntag). hend nicht erreichbar.“ Das verwirrt nun gibt’s die österreichische Fußballbundes- Nachts von Top-Events aus der albani- doch. Ist das Call-Center explodiert? Lief liga, auf dem sechsten wird Spiel zwei des schen Taschenhalma-Kreisliga geträumt. ein Pulk arbeitsloser, niederkalifornischer Stanley-Cup-Finales (US-Eishockey 1996) Obsessiv. Hobby-Fischer Amok? Zu einem viel spä- wiederholt. teren Zeitpunkt trampelt „Godzilla“ end- Ich hänge ohnehin am Telefon: Mir wird Samstag lich los. Der Videorecorder ignoriert ihn ein neuer Jugendschutz-Pin-Code zuge- Man soll nicht ungerecht sein. Den gan- zunächst. Zum letzten Mal Obsessionen wiesen, der auch nicht funktioniert. Beim zen Tag über habe ich die Wahl zwi- gehabt – von Koaxial-Kupplungen. vierten Versuch im dritten Anlauf klappt schen großen bis guten Filmen wie „Jackie es: Ich habe ein Programmheft (260 Seiten). Brown“, „Falling Down – Ein ganz nor- Epilog Ich habe ein Programm (69 Kanäle). Auf maler Tag“ oder „Fräulein Smillas Ge- Iris Berben ist viel einfacher zu erreichen „Castle“ (Nummer 45) werden via End- spür für Schnee“, „Air Force One“, „Sie- als die „Orderline“ von Premiere World. losschleife die immer gleichen beiden ben“ oder „Sabrina“. Selbst schmallippige Sie erzählt, wie lustig die Dreharbeiten zu Luftbildschnipsel von Neuschwanstein und Deutschlehrer werden mit Werner Herzogs ihrem Imbiss-Spot gewesen seien, „weil es Tegernsee wiederholt. 24 Stunden täg- „Aguirre, der Zorn Gottes“ bedient. so trashig war und man Ironie mit rein- lich. Reicht das etwa nicht? Doch es reicht. bringen konnte“. Ironie! Ich darf mir sogar Filme anschauen, Wer „Casablanca“ einmal auf Video zu Am gleichen Tag kommt Post vom Kun- die erst ab 16 freigegeben sind. Im Hause hat, schaut es sich nie mehr an. denservice. „Wir freuen uns, dass Sie sich „Blue Channel“ laufen zum Beispiel Wie- Wer Premiere World hat, erlebt die Vielfalt für unsere Extras entschieden haben.“ Der derholungen des TV-Magazins „Wa(h)re der Einfalt. Wenn jedes TV-Ereignis jeder- Rest ist eine lange Rechnung. Unterschrie- Liebe“ (1996) oder Filme wie „Body Lan- zeit abrufbar wird, stellt sich Apathie ben von einer Frau mit dem schönen Vor- guage“, in denen meist nur die bebenden ein. Überdruss am Überfluss. Wo alle Hei- namen Perdita – die Verlorene. Ironie?

146 der spiegel 47/1999 „Ich bin Steher, nicht Sprinter“ Premiere-World-Chef Markus Tellenbach, 39, über Start-Probleme und Zukunft seiner digitalen TV-Welt

SPIEGEL: Rufen Sie als Premiere-World- Tellenbach: Nein. Mein Job hier ist der Auf- Kunde bei Problemen Ihre eigene Service- und Ausbau eines bereits jetzt erfolgrei- Hotline an? chen Unternehmens. Tellenbach: Ja, inkognito. Und wie viele SPIEGEL: Gibt es im Kirch-Imperium derzeit kam ich anfangs aufgrund des enormen einen riskanteren Job als Ihren? Andrangs nur schwer durch. Einmal Tellenbach: Ich denke, es gibt keinen span- brauchte ich 15 Anläufe. Im Schnitt ist man nenderen. Wir haben unsere Ziele klar heute nach dem dritten Versuch drin … kommuniziert, und ich bin sicher, dass wir bis Ende des Jahres 2001 3,5 Mil- lionen Abonnenten erreichen werden. SPIEGEL: Sie haben ein Quasi-Mo- nopol erreicht.Wenn es jetzt nicht klappt, könnte es nie klappen. Tellenbach: Ein paar Tage Spiel- raum haben wir noch, und der Er- folg von Premiere World spricht für sich. Ich bin als Steher einge- stellt worden, nicht als Sprinter. An unserer Grundüberzeugung, dass der Konsument bereit ist, für unser Produkt zu zahlen, wird sich nichts ändern. SPIEGEL: Deutsche TV-Zuschauer haben im Gegensatz zu Franzo- sen oder Briten die Wahl zwischen 30 freien Kanälen. Tellenbach: Natürlich ist das hier der schwierigste Markt in Euro-

A. PENTOS pa. Aber was läuft denn da im TV-Manager Tellenbach: „Ein paar Tage Spielraum“ Free-TV? Die gern suggerierte Vielfalt gibt es gar nicht. SPIEGEL: … und kann im Call-Center alles SPIEGEL: Den großen Bereich Informa- erleben – von freundlicher Ahnungslosig- tion bietet selbst Premiere World nur am keit bis zu nackter Verwirrung angesichts Rand. von Detailfragen, sofern die Leitung über- Tellenbach: Diese Programmfarbe ist lang- haupt steht. fristig ausbaufähig. Aber wir müssen nicht Tellenbach: Das mag vor sechs Wochen so die 43. Mauerfall-Dokumentation zeigen. gewesen sein. Heute stellt sich die Situa- Dann bauen wir im Frühjahr lieber was tion ganz anders dar. Wir haben auf das Neues auf für eine Klientel, die von den an- hohe Call-Volumen sofort reagiert. Ent- deren gern missachtet wird: die älteren Zu- sprechend wird die Zahl unserer Telefon- schauer. berater von 1300 auf 2600 wachsen. Schnel- SPIEGEL: Ein Kanal voll Schlager, Bergdok- ler ist das nicht zu leisten, weil die Leute tor und Musikantenstadl? umfassend geschult werden. Tellenbach: Warum nicht? Wir werden uns SPIEGEL: Sie scheinen vom Erfolg Ihrer ei- auf die konzentrieren, die vom Free-TV genen Kampagne überrollt worden zu sein. nicht ausreichend bedient werden – in al- Wie viel geben Sie für Werbung aus? len Bereichen. Tellenbach: Bis Ende des Jahres 100 Millio- SPIEGEL: Ihr Schnupper-„Superpaket“ von nen Mark. Nächstes Jahr haben wir weite- 34,90 Mark pro Monat hat den Vertrags- re 200 Millionen zur Verfügung. charme des Kleingedruckten. Freischaltung SPIEGEL: Woher soll das Geld kommen? Ihr und Decoder-Miete muss man extra zah- Chef Leo Kirch sitzt auf über vier Milliar- len.Von der d-box-Kaution und Kosten für den Mark Altschulden aus seinen früheren Zusatzkanäle oder Pay-per-view ganz zu Pay-TV-Abenteuern. schweigen. Tellenbach: Keine Angst: Unsere Gesell- Tellenbach: Die Freischaltung fällt nur schafter stellen die Finanzierung sicher. einmal an.Wer kündigt, bekommt die Kau- SPIEGEL: Empfinden Sie sich als Krisen- tion zurück. Die Zuschauer erwarten manager, wie Sie es vorher mit viel Elan heute transparente Preise. Nichts anderes bei Vox waren? liefern wir. Interview: Thomas Tuma

der spiegel 47/1999 147 Medien

INTERNET Direkter Draht Kein Werbemedium wächst schneller als die Reklame im Internet. Um die Macht im Web ringen etablierte Agenturen und Newcomer. ast alles im Lebensmittelladen von Rudolf Wasem ist virtuell: Regale, FProdukte und Warenkorb stehen im Internet, und auch die Werbung für sei- nen „Shop-Hopper Lebensmittel-Lieferser- vice“ stellt der Firmengründer am liebsten in den Cyberspace – in die Online-Seite der Koblenzer „Rhein-Zeitung“. Mehr als 10000 Besucher finden so, sagt Wasem, jeden Monat auf seine Internet- seite, über 500 von ihnen bestellen aus 20 Produktgruppen von „Babykost“ bis „Zucker/Mehl“ Waren per Mausklick nach Hause. Die kleine Werbefläche zahlt sich aus: Schon nächstes Jahr, so Wasem, „lie- fern wir von Köln bis Frankfurt“; große Handelskonzerne interessieren sich bereits für den Cyber-Kommerz aus Koblenz. Reklame im Internet boomt: So stark wie die Angebote im elektronischen Han- del wachsen auch die Werbeumsätze. Zwar liegt ihr Anteil am Gesamtwerbevolumen in deutschen Medien von über 40 Milliar- den Mark derzeit noch weit unter einem Prozent. Aber kein Konkurrenzmedium legt schneller zu: In diesem Jahr sollen sich die Werbeausgaben, so eine Prognos-Be- rechnung, gegenüber 1998 auf 150 Millio- nen Mark verdreifachen, und bis 2003 er- warten die Prognos-Experten einen An- stieg um über 1000 Prozent auf fast 1,8 Mil- liarden Mark. „Die Leute stellen sich das Internet im- mer noch als Nischenmedium vor“, sagt Kevin Ryan, Präsident des US-Web-Ver- markters Doubleclick, „dabei reicht es heu- te schon viel weiter als jede noch so be- liebte Talkshow.“ Kein Zweifel: Das Internet wird die Wer- bewirtschaft ähnlich stark verändern wie die Einführung des Privatfernsehens in den achtziger Jahren. Noch verdient zwar kaum einer Geld mit dem neuen Medium. Doch fast alle rüsten mit großem Aufwand für die Zukunft. Verlage und TV-Sender investieren ge- waltige Summen, um auch im Internet die Werbegelder auf ihre Seiten zu lenken. Agenturen und Markenartikler arbeiten mit Hochdruck, um ihre langweiligen Wer- bebanner im Netz endlich über das Niveau von Bandenwerbung im Fußballstadion zu heben. Sie alle lockt eine große Verheißung: der direkte Draht zum Kunden. Wer Porsche, Yachten und Telefonsex liebt, wird, dank

der spiegel 47/1999 FOTOS: D. RÖSELER Internet-Werber Wasem, Shop-Hopper-Service: Die kleine Werbefläche zahlt sich aus

Internet, Werbung dafür künftig auf sei- fürs Fernsehen sind die hohen Zuwachs- Noch vor kurzem war die Internet-Ge- nem Bildschirm finden, sobald er den raten der neunziger Jahre jedoch Vergan- meinde vielen Werbern zu abgehoben, zu Computer einschaltet – ohne Umweg und genheit. hip und Technik-verliebt. Das ändert sich. ohne Streuverluste. „Wenn in Chicago ein Und auch die Presse, die derzeit von den „Wir müssen den Verbrauchern folgen“, Anwalt eine unserer Seiten anklickt“, sagt Printkampagnen neuer Web-Anbieter wie sagt Ryan, „und die drängen ins Netz.“ Ryan, „können wir schon heute in zehn Amazon profitiert, kann nicht mehr auf Immer weniger Zeit verbringen die Men- Millisekunden erkennen, welche Werbung stetig steigende Anzeigenerlöse setzen. schen vor dem Fernseher, hat der Ver- zu ihm passt.“ Und die wird ihm, ohne So fürchten zum Beispiel Lokalzeitungen markter in den USA beobachtet, während dass er etwas merkt, auf den Bildschirm um wichtige Einnahmequellen, weil Ge- die Internet-Nutzung dramatisch zunimmt. gestellt. brauchtwagen und Mietwohnungen schnel- Außerdem surfen 80 Prozent der Internet- Das Urtrauma aller Werber, wie Henry ler, transparenter und billiger im Internet Nutzer im Büro. Ryan: „Ein phantastischer Ford es einst formuliert hatte, scheint end- zu finden sind als in den Regionalblättern. Ort, um das wertvollste Segment im Pu- lich überwunden. „Die Hälfte meiner Wer- Längst haben sich die großen Verlage blikum zu erreichen: Leute, die einen Job bemillionen ist verschwendet“, sagte Ford, deshalb mit eigenen Vermarktungstöch- haben.“ „ich weiß nur nicht, welche.“ tern auf dem Online-Markt positio- Entsprechend orientieren sich die Wer- Akut gibt es für etablierte Medien niert. Mit dem Web-Angebot von „Bild“, betreibenden: Autokonzerne gehören laut noch wenig Grund zur Panik. Ihre Brutto- „Welt“ und „Allegra“ bietet zum Beispiel Ryan weltweit zu den zehn wichtigsten An- werbeeinnahmen legten im ersten Halb- Springer seinen Werbekunden auch im zeigenkunden im Internet – ebenso wie jahr 1999 bei Zeitungen (plus 7,3 Prozent), Internet ein Millionenpublikum. Auch Banken, Software-Anbieter und Reisever- Zeitschriften (4,3 Prozent) und Fernse- Gruner+Jahr, RTL, Burda, Bauer und der anstalter. In den USA streben derzeit selbst hen (5,6 Prozent) erneut zu. Vor allem SPIEGEL-Verlag vermarkten ihre Ange- Möbelhersteller und Vitaminproduzenten bote im Netz. mit Werbebannern ins Web. Doch da herrschen andere Gesetze als Deutschlands größte Werbekunden hal- Reklame per Mausklick 4,6 im klassischen Geschäft. Unternehmen, ten sich freilich vom Netz noch fern. Un- Milliarden die eigentlich brav Werbung schalten soll- ter den Top 20 der dort Werbetreibenden Prognose der Online-Werbung ten, treten auf einmal als Wettbewerber finden sich, angeführt von Amazon, Ber- in Deutschland auf: Online-Banken wie Comdirect und telsmann Online und der Comdirect-Bank, Quelle: ZAW, Prognos Consors oder virtuelle Buchhandlungen vor allem Firmen, die ganz überwiegend Netto- wie Amazon bieten ihre stark frequentier- auch ihr Geschäft dort betreiben. Nur vier Werbeeinnahmen ten Internet-Seiten längst auch als Werbe- klassische Marken schalten in größerem in Mark fläche an. Umfang Werbung im Internet: Deutsche Hinzu kommt die Konkurrenz durch Telekom, Deutsche Bank 24, die Post und 1,8 junge, aggressive Vermarkter. Die US-Fir- Siemens. Milliarden Anteil am Gesamt- Werbemarkt ma Doubleclick etwa, erst 1996 gegründet, Auf Siemens sind Web-Werber dennoch hat inzwischen 1500 Web-Seiten unter Ver- schlecht zu sprechen – unter dem Namen 0,1% 6,4% trag. Stark frequentierte Internet-Ange- Webwasher hat der Elektronikkonzern ei- 450 bote wie die Suchmaschine Altavista, Dis- nen Filter entwickelt, der Werbung im In- Millionen ney oder, in Deutschland, TUI und das ZDF ternet vom Bildschirm verbannt. Die Sie- 50 gehören zu den Kunden des US-Konzerns mens-Entwickler, die sich gerade als web- Millionen 1998 2010 (Umsatz 1998: 80 Millionen Dollar, Bör- washer.com AG selbständig gemacht ha- senwert: über 7 Milliarden Dollar). „Wer in ben, wollen in zwei Jahren schon 40 Mil- unserem Netzwerk Werbung schaltet“, sagt lionen Mark Umsatz machen; zwei Millio- 1998 2000 2003 2010 Doubleclick-Manager Ryan, „erreicht welt- nen Anwender, sagen sie, nutzen schon weit bis zu 100 Millionen Menschen.“ heute ihr Produkt. Frank Hornig

der spiegel 47/1999 149 Werbeseite

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Halmi bohrt mit seinem Stock Löcher in den Boden. Der Gedanke macht ihn krank, die aufwendige Kulisse wieder zerstören zu müssen. Zwei Millionen Dollar! Bis zum Abend muss er eine Idee haben. Vielleicht wird er einen Western drehen. Sieht doch fast so aus wie eine Indianerstadt, oder? Vier Stunden noch, dann kann er endlich sein Büro in New York anrufen. Vier Stun- den – eine halbe Ewigkeit! Er hasst es, untätig herumsitzen zu müssen, weil sie in New York noch schlafen. Auf 37 unter- schiedlichen Telefonnummern ist er welt- weit erreichbar. Um den Überblick nicht zu verlieren, benutzt er für seine vielen Han- dys und den Safe („Da ist nichts drin“) den gleichen Nummerncode – 1956, das Jahr des Ungarnaufstandes. Da hatte er seine Heimat schon lange verlassen. Geflohen vor den Sowjets, die ihn 1947 verhafteten, weil er für den ame- rikanischen Geheimdienst und CIA-Vor- gänger OSS gearbeitet hatte. Am Tag der

FOTOS: M. TÜREMIS FOTOS: Urteilsverkündung („Sie hätten mich zum Fernsehproduzent Halmi (bei Dreharbeiten in der Türkei): „Mein Leben ist wie ein B-Movie“ Tode verurteilt“) befreiten ihn die Ameri- kaner bei einem Gefangenentransport und schmuggelten ihn in einem Kartoffeltrans- TV-FILME porter nach Österreich. Es war das zweite Mal, dass Halmi knapp entkommen war. 1944 wurde er als „Spielt schneller!“ Student Mitglied einer Widerstandsgrup- pe, die gegen die deutschen Besatzer Mit seinen aufwendigen Filmen („Arche Noah“) gilt kämpfte. „Wir haben Brücken in die Luft gejagt“, sagt er und denkt nach. „Na ja, um der amerikanische Produzent Robert Halmi als Garant für hohe genau zu sein: Es war eine Brücke.“ Spä- Einschaltquoten – auch bei seinem deutschen Partner RTL. ter versorgte er im Auftrag des US- Geheimdienstes Titos Partisanen in Jugo- iese Geschichte ist garantiert wahr. mit Jungstar Leonor Varela in der Haupt- slawien mit Nachschub. Der frühere So wie alle Geschichten, die Robert rolle, die im Januar in Deutschland von Guerrillaführer zeigte sich als Staatschef DHalmi erzählt.Also: Es war ein kal- RTL gezeigt wird. Die Kritiker haben die ter, ungemütlicher Abend in Budapest. Der aufwendigen Schmachtfilme zerrissen, aber Krieg zu Ende, Halmis Elternhaus zerstört, das Publikum war meist begeistert. und der junge Mann, den die Rote Armee Doch was nützt das, wenn ihm jetzt mit wenige Wochen zuvor aus einem deutschen seinen 75 die Zeit davonläuft. „Oh shit“, Straflager in der Ukraine befreit hatte, auf sagt er und stochert mit dem Gehstock un- einer Parkbank eingeschlafen. geduldig im Boden. Sein Leben ist zu kurz, Er erwachte, und neben ihm saß eine als dass er in Ruhe mit ansehen könnte, wie wunderschöne, blonde Unbekannte im hier in einer Bucht an der türkischen Mit- nebligen Dunkel. Schon am nächsten Mor- telmeerküste quälend langsam sein neuer gen waren sie im zerschossenen Budapest 30-Millionen-Dollar-Film entsteht. beim Standesbeamten und heirateten. Ein einziges Mal nur hat er selbst Regie Drei, vier Tage später verließ Halmi das geführt. Ein grauenhaftes Desaster. Die Haus seiner neuen Schwiegereltern und Schauspieler wollten von ihm wissen, wie verschwand. Für immer. Die erste seiner sie eine bestimmte Szene spielen sollten. vier Ehen war gescheitert, bevor sie rich- „Das ist mir scheißegal“, hat er ihnen ge- tig begonnen hatte. sagt, „Hauptsache, ihr spielt schneller!“ Eine wahre Geschichte? „Natürlich“, Der Film floppte – erwartungsgemäß. antwortet Halmi auf so eine Frage, „voll- „Oh shit!“ Warum nur muss die Einstel- kommen wahr.“ Um dann, nach einer klei- lung mit Dennis Hopper als griechischem nen Pause, hinzufügen: „Zumindest halb- König Pelias fünfmal gedreht werden? Drei wahr.“ Doch dafür drehbuchtauglich – wie Durchgänge würden es auch tun. Doch das alle seine Geschichten. ist nicht die einzige Frage, die ihn umtreibt. Sein Kopf ist voll von ihnen.Von wahren Was soll er nur mit der gewaltigen Kulisse und unwahren, von erfundenen und ge- einer antiken Stadt anfangen, die ihm eng- schönten, von alten und neuen. Sie haben lische Techniker für zwei Millionen Dollar ihn reich gemacht, denn viele seiner Lieb- an den Strand gebaut haben? Seit zwei lingsgeschichten hat er ins Fernsehen ge- Monaten wird hier „Jason und die Argo- bracht: die „Arche Noah“, „Merlin“, „Don nauten“ als Fernsehzweiteiler verfilmt, Cleopatra-Darstellerin Varela Quixote“ oder die „Cleopatra“-Verfilmung doch dann? Filme von den Kritikern zerrissen

154 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite der Kölner Sender als Co-Produzent jedes Jahr an drei seiner Projekte. Etwa zehn Prozent der Produktionskosten werden von RTL getragen. Im Januar wird Halmis „Cleopatra“ gezeigt, später im Jahr dann „Jason und die Argonauten“. Längst hat Halmi sein Unternehmen an einen Großkonzern verkauft. 1994 kas- sierte er für seine Firma 365 Millionen Dollar von dem US-Grußkarten-Herstel- ler Hallmark. Doch nach wie vor ist er Chef der Hallmark Entertainment – zu- sammen mit seinem Sohn „Robie“. „Wir haben ein komisches Verhältnis“, sagt Halmi über seinen Sohn, der in New York gleichzeitig sein Nachbar ist, „er kon- trolliert meine Ausgaben und fragt mich, warum ich immer noch für die Kreditkar- te meiner Ex-Frau bezahle.“ Doch „Ro- bie“ duldet still, dass sein Vater Häuser in Manhattan unterhält, in North Salem im US-Bundesstaat New York, in London, in Marbella und in Kenia. Und er hat auch

RTL nichts gesagt, als Halmi Senior seine 20- Halmi-Produktion „Arche Noah“: Ebenso aufwendig wie anspruchslos Meter-Yacht gegen ein 27-Meter-Boot aus- tauschte. Oder sich einen neuen Aston dankbar: Halmi wurde mehrfach zur Jagd von dem betäubten Kojoten auf der Rück- Martin kaufte. Nur die Harley-Davidson auf den Balkan eingeladen. bank seiner Piper. Das Vieh wachte vor- war ein Geschenk – zum 70. Geburtstag. In der Ukraine schnappten ihn kurz vor zeitig auf und fraß sich während des Fluges In den USA wird er manchmal der „Ste- Ende des Krieges die Deutschen. Er wur- langsam durch seinen Pilotensessel. Ver- ven Spielberg des Fernsehens“ genannt, de von der anrückenden Roten Armee be- mutlich halbwahr – der Vorfall. doch Halmi mag den Vergleich nicht. Weil freit, rückte mit den Sowjets zusammen in Halmi war Autorennfahrer, Ballonfah- er Spielberg nicht mag. Er hasst Hol- seine Heimatstadt Budapest ein. Doch es rer und Bergsteiger, bevor er Anfang der lywood. Oft genug steigt er dort im Hotel dauerte keine acht Monate, da hatte Hal- sechziger Jahre begann, Dokumentarfilme Beverly Wilshire ab, das durch „Pretty mi genug vom Kommunismus und spreng- zu drehen. Doch erst 1974, mit 50, wurde Woman“ Filmruhm erlangt hat. Er mag te wieder Brücken in die Luft. Behauptet er schließlich Produzent. Er verfilmte He- nicht, wie schon beim Frühstück die Deals er zumindest. Seine Erlebnisse waren so mingway, drehte für den amerikanischen gemacht werden, er hasst es, wenn Taxi- spektakulär, dass sie Anfang der fünfziger Sender CBS einen erfolgreichen Western fahrer versuchen, ihm ihre laienhaften Jahre in einer siebenteiligen Serie in der und kaufte 1994 für damals unerhörte neun Drehbücher aufzuschwatzen, und er ist ge- New Yorker „Saturday Evening Post“ be- Millionen Dollar die Rechte an „Scarlett“, nervt, wenn er im Hotelaufzug von Schau- schrieben und später von einem großen der Fortsetzung des Schmachtromans spielern um eine Rolle angebettelt wird. Hollywood-Studio verfilmt wurden. „Mein „Vom Winde verweht“. Doch noch weniger mag er die Männer, Leben ist wie ein B-Movie“, sagt er. Um die 40 Millionen Dollar für den TV- die inzwischen die internationalen Me- Der Boden in Österreich wurde ihm zu Film aufzutreiben, nahm Halmi unter an- dienkonzerne dirigieren. Leute wie Rupert heiß, nachdem er Intellektuelle aus seiner derem den Münchner Filmhändler Leo Murdoch, die geldgierig und seelenlos an alten Heimat in den Westen geschmuggelt Kirch und den italienischen Medienmogul ihren Imperien basteln. „Das sind die- hatte. 1950 landete der Sohn einer Dreh- Silvio Berlusconi als Co-Produzenten un- selben Leute, die in den Buchladen gehen, buchschreiberin und eines kaiserlichen ter Vertrag. Die internationale Zusam- um einen Meter Bücher zu kaufen“, sagt Hoffotografen auf der amerikanischen menarbeit bewährte sich. Halmi, „sie können einfach nicht ver- „General Sturgess“ in New York.Angeblich Im Jahr 1998 kaufte RTL für drei Jahre stehen, warum ich so erfolgreich bin.“ mit nur fünf Dollar in der Tasche. Und an- die Exklusivrechte für Halmis Monumen- Und: „Es ist der gleiche Aufwand, ob man geblich ließ er sich von Anfang an mit ei- talproduktionen. Gleichzeitig beteiligt sich Shit produziert oder etwas Vernünftiges ner Limousine herumfahren („Ich bin ein macht. Man muss sich nur Snob“). Das habe gegenüber dem Taxi den entscheiden.“ Vorteil gehabt, dass die Rechnung erst nach Halmi sieht sich als einen 30 Tagen gekommen sei. der letzten Moralisten in ei- Halmi machte schnell Karriere als Foto- ner Welt des Kommerzes. graf. Zunächst für einen Windelservice, Seine Filme sind ebenso auf- dann als Mitarbeiter des legendären Ma- wendig wie anspruchslos, gazins „Life“. Der ungarische Emigrant doch er freut sich wie ein wurde Spezialist für gefährliche Aufträge. Kind, wenn sein „Wilhelm „Es stand immer in der Zeitung, wenn ich Tell“ im kenianischen Fern- wieder einmal einen Job überlebt hatte.“ sehen Traumquoten erreicht. Er ließ sich – in einem Sarg liegend – mit Aber er ist zu alt, um sich Il- Dynamit in die Luft sprengen, lebte drei lusionen hinzugeben. „Mich Monate lang bei den Pygmäen in Afrika, wird keiner vermissen“, sagt ließ sich mit dem Fallschirm auf einem ein- er, „und dann werden sie

samen Gletscher in Alaska absetzen und M. TÜREMIS wieder Scheiße senden.“ erzählt immer wieder gern die Geschichte Königsdarsteller Hopper: Quälend langsamer Dreh Konstantin von Hammerstein

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (9) Die Woche vom 20. 11. 1989 bis zum 26. 11. 1989 »Wir sind ein Volk« Die Massen rufen nach Wiedervereinigung, in Moskau und Washington schwinden die Vorbehalte gegen die deutsche Einheit. Die SED, unter wachsendem Bonner Druck, zeigt sich bereit, mit der Opposition zusammenzuarbeiten. T. HÄRTRICH / TRANSIT HÄRTRICH T. Montagsdemonstration am 20. November 1989 in Leipzig

der spiegel 47/1999 159 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«

CHRONIK »Feilschen um die DDR« skandieren sie nun „Wir sind ein Volk“. Montag, 20. November 1989 Die Transparente, die Reporter Naumann heute fotografiert, fordern die staatliche Leipzig Einheit („Volksentscheid zur Wiederver- Seit Wochen beobachtet Martin Naumann, einigung“) und künden vom Zorn der Bür- 57, Fotoreporter der „Leipziger Volkszei- ger, die sich „belogen und betrogen“ tung“, jede der Montagsdemonstrationen fühlen von einer raffgierigen Politiker- auf dem sechsspurigen Promenadenring. kaste: „Die Bonzen leben wie in Den- „Heute“, schreibt er in sein Tagebuch, ver und Dallas – gebt den Rentnern nun „sind die Würfel gefallen.“ Denn: „Es tau- alles.“ chen erstmalig Staatsflaggen der Bundes- Die Grenzöffnung hat die Wut ins Gren- republik auf, dazu rufen die Leute zenlose wachsen lassen. Acht Millionen ,Deutschland einig Vaterland‘, ein Stück Menschen haben in den letzten zehn Tagen Nationalhymne der DDR, ein Text, den wir die Bundesrepublik besucht – rechnerisch

in der DDR so lange entbehren mussten.“ die Hälfte der DDR-Bevölkerung. Jeder hat M. NAUMANN Trotz Smog sind 250 000 Menschen auf bei diesen Ausflügen erfahren, wie groß Leipziger Fotoreporter Naumann (1999) den Beinen, statt „Wir sind das Volk“ der wirtschaftliche Vorsprung des golde- „Heute sind die Würfel gefallen“ M. NAUMANN Naumann-Foto von der Leipziger Montagsdemonstration am 20. November 1989: „Über die Lautsprecher kommt ziemlicher Unsinn“

160 der spiegel 47/1999 nen Westens, wie wertlos die Aluminium- ner in den Westen fahren durften, konnten geht euch gar nichts an. Das ist Sache der währung des Ostens ist. die Reisenden vergleichsweise kommod DDR‘“. Jedoch: „Unsere politische und Das Gefühl, jahrzehntelang um die mit je 15 West-Mark „Pinkelgeld“ (Volks- ökonomische Lage lässt mir nur die Wahl, Früchte der Arbeit betrogen worden zu mund) aus Schalcks Devisenkasse ausge- sachlich die Fragen des Bundeskanzlers zu sein, verstärkt nicht nur den Wunsch nach stattet werden, eingetauscht für 15 Ost- beantworten.“ rascher Wiedervereinigung, sondern beflü- Mark. Weil nun aber Millionen auf Achse Abends gibt die Redaktion des SED-Zen- gelt auch die abenteuerlichsten Gerüchte sind, ist absehbar, wann die Valuta-Scha- tralorgans „“ einen wü- über das Wohlleben in Wandlitz, der ge- tulle geplündert sein wird. tenden Kommentar in Satz: Die Bundesre- heimen Waldsiedlung der Ost-Berliner Auch Bonn steckt in der Klemme. Die gierung wolle die DDR offenbar erst dann Spitzengenossen (siehe Analyse Seite 180). Bundesrepublik kann an die vielen Millio- „belohnen, wenn sie sich als souveräner „Über die Lautsprecher kommt ziemli- nen DDR-Bürger, die nun die Grenzen pas- sozialistischer Staat aufgegeben“ habe. cher Unsinn“, notiert Reporter Naumann: sieren, nicht auf Dauer jeweils 100 Mark „Begrüßungsgeld“ zahlen. Der Willkom- Ein Redner behauptet, das ZK hätte in der mensgruß soll mit Jahresbeginn 1990 ent- Dienstag, 21. November 1989 Karibik eine Insel gekauft, Honecker hät- fallen. te sich in der Schweiz operieren lassen und Als Ersatz ist ein Reisedevisenfonds im Ost-Berlin Egon Krenz für 400 000 Dollar in den USA. Gespräch, in den beide Seiten einzahlen: Dem Zweizentnermann, der in die Rou- Die Partei hätte Ferienheime auf Mallor- DDR-Bürger sollen bis zu 300 Ost-Mark tinesitzung des Politbüros platzt, kullern ca, Margot Honecker würde einmal in der pro Jahr im Verhältnis eins zu fünf in West- Tränen unter der Sonnenbrille hervor. Woche in die Schweiz zum Kaffeetrinken Mark wechseln können. Staatssekretär Alexander Schalck-Golod- fliegen und einmal im Monat nach Paris Die SED-Regierung müsse, pokert Sei- kowski, wichtigster DDR-Devisenbringer, zum Friseur. Alles natürlich Unsinn. ters, in den Fonds eine Milliarde Mark fürchtet um sein Leben: „Jetzt bringen sie West einschießen und außerdem auf den mich um.“ Auch an diesem bitterkalten Abend ver- Zwangsumtausch (je 25 Mark im Verhält- Überall in der Republik geht der neue abreden sich die Teilnehmer wie nach jeder nis eins zu eins) für ostwärts reisende SPIEGEL von Hand zu Hand, der Schalcks Leipziger Demonstration für den nächsten Bundesbürger verzichten. Doch die Ost- Geldbeschaffungsmethoden enthüllt: Ein Montag. Berliner sperren sich: Allein der Weg- Netz von Tarnfirmen verschiebt Waffen, Heute heißt es: „Kommt auch nach dem fall der bisher erhobenen Eintrittsgebühr vermietet Prostituierte und verscherbelt ersten Schnee, sonst freut sich die SED.“ in die Ost-Republik bedeutet eine Min- Kunstschätze. Ost-Berlin Seit der Nacht, in der die Mauer brach, ha- dern die Hardliner der SED mit dem Schicksal: Hätte sich der Genosse Schabowski am Abend des 9. November klarer ausgedrückt, wäre der Sturm auf die Mauer unterblieben und die DDR-Regie- rung in der Lage, sich die Grenzöffnung von Bonn teuer bezahlen zu lassen. In kleinem Kreis trauert auch Hans Modrow der guten alten Mauerzeit nach. Früher, sinniert der neue Ministerpräsi- dent, habe „jeder Grenzübergang der DDR -zig oder hundert Millionen gebracht“; jetzt gebe es 93 Grenzübergänge, also 63 mehr als bisher, „und nun versuchen wir mühsam nachzuklagen, ob wir daraus noch irgend etwas Ökonomisches auf die Beine bringen können“. An diesem Montag sieht Modrow die letzte Gelegenheit, aus dem Betriebsun- fall, der plötzlich zur Maueröffnung führ-

te, nachträglich Kapital zu schlagen: Hel- PHOTO JÜRGEN OST + EUROPA mut Kohl hat seinen Kanzleramtschef Ru- Gesprächspartner Seiters, Krenz, Modrow: Probleme mit dem „Pinkelgeld“ dolf Seiters zu einem „Sondierungsge- spräch“ nach Ost-Berlin geschickt. dereinnahme von 500 Millionen harten Mit den so erwirtschafteten Devisen Als der Bonner Besucher im Staatsrats- Mark. kauft Schalck im Westen Abhörwanzen gebäude eintrifft, wird er erst einmal um- Die Bonner Emissäre wissen, dass die und Computer für die Stasi oder Delika- garnt. Krenz, Modrow und Schalck-Go- neuen SED-Regenten mit dem Rücken zur tessen und Preziosen für SED-Prominente lodkowski erinnern den Gast daran, dass Wand stehen. Und sie nutzen deren – als Geburtstagsgeschenk für Margot „Freizügigkeit“ doch „bekanntlich auf der Schwäche nach Kräften aus. Honecker beispielsweise Brillantschmuck Forderungsliste der BRD immer ganz oben Bonn will sich an dem Fonds nur betei- zum Preis von 9405,40 West-Mark. gestanden hat“. ligen, wenn die DDR drei Fragen klar be- Nun fürchtet der 1,90 Meter große Ex- Nachdem Ost-Berlin mit der Maueröff- antwortet: Wann werden freie Wahlen an- Ringer, empörte DDR-Bürger könnten ihre nung „eine große Vorleistung gebracht“ beraumt? Wann werden neue Parteien zu- Wut an ihm und seiner Frau auslassen. habe, drängelt Krenz, solle Bonn sich nun gelassen? Wann wird der Führungsanspruch Egon Krenz verspricht Hilfe und Polizei- an den Kosten beteiligen. der SED aus der Verfassung gestrichen? schutz. Und auch der Ministerpräsident Die DDR hat ein Problem, das von Tag Krenz würde am liebsten, wie er später will sich für den bedrängten Genossen ein- zu Tag wächst: Solange nur ein paar Rent- festhält, „undiplomatisch antworten: ,Das setzen, der stets zur Stelle war, wenn es

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ser SDP“, weshalb „ihr euch auch vom Amt her einen Kopf mit machen müsst“. Die sozialdemo- kratische Neugründung empfindet Kommunist Modrow als illegitime Konkurrenz zur SED: „Das ist ja die Frage der Spaltung der Arbeiter- klasse.“

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA Der neue Nasi-Chef SPIEGEL-Bericht vom 20. November 1989, Hauptfigur Schalck-Golodkowski: Tränen unter der Sonnenbrille Schwanitz, schon seit 1951 im MfS, ringt um ein zu- galt, Konsumententräume von Politbüro- „dass wir aufhören, schon den Wahltermin kunftsfähiges Profil seines Amtes. Seine Familien zu erfüllen. festzulegen“. Modrow: „Wollen wir doch Antrittsrede basiert auf einem vertrauli- Modrow zu Schalck: „Wir müssen se- erst mal mit den anderen verhandeln.“ chen Positionspapier, das ihm der 1986 aus- hen, wie wir da rauskommen.“ Freie Wahlen will dieser Reformsozialist geschiedene Spionagechef Markus Wolf, Nachdem der Premier im Politbüro den seinem Volk nur gewähren, wenn der Klas- der nun als Reformer auftritt, wenige Tage heulenden Geldbeschaffer getröstet hat, senfeind ihn dafür mit Devisen belohnt. zuvor übergeben und erläutert hat. eilt er in die Geheimdienstzentrale. Im bis- Eifersüchtig beäugt Modrow seine „Ko- Teilweise vertritt Schwanitz, Wolfs For- herigen Ministerium für Staatssicherheit – alitionspartner“: Er argwöhnt, dass sich die mulierungen folgend, die Forderung, mit nun umetikettiert in Amt für Nationale Blockparteien bis zur Wahl („Ich gehe da- der Vergangenheit zu brechen. „Wovon Sicherheit (Nasi) – will er den zwangsge- von aus, dass das im Herbst 1990 sein müssen wir uns trennen, Genossen?“, fragt wendeten Stasi-Führern zu neuem Le- kann“) Vorteile auf Kosten der SED zu ver- er in die Runde, um sogleich zu antworten: bensmut verhelfen. schaffen suchen. „Von der These, wir müssten alles wissen, Anlass für Modrows Auftritt ist die Er- Sauer ist Modrow vor allem auf die was in diesem Staat geschieht oder nicht nennung von Generalleutnant Wolfgang LDPD, die sich heftig der Opposition an- funktioniert, und überall Einfluss neh- Schwanitz, Erich Mielkes bisherigem Stell- biedert. men.“ Schwanitz weiter: vertreter, zum neuen Amtschef. Gleich zu Modrow: „Wer sich einbildet, dass das Beginn der Dienstbesprechung, beim Aus- Neue Forum Blutspender für eine der Par- Dieses falsche Herangehen führte zu einer sprechen des ungewohnten Amtsnamens, teien werden will und dass die LDPD viel- Aufblähung unseres Apparates. Um es ganz verhaspelt sich der Ministerpräsident: „Es leicht meint, dass das Neue Forum sozusa- deutlich zu sagen, Genossen, solch einen fällt noch schwer, das über die Lippen zu gen in Scharen zur LDPD zieht und daraus riesigen Sicherheitsapparat kann sich kein kriegen“, entschuldigt er sich bei den Ge- die mächtige Partei erwächst, der hat eine Staat dieser Welt mit dieser Bevölkerungs- nerälen. Illusion.“ zahl und dieser Wirtschaft leisten. Modrows Ansprache – festgehalten in „Bislang überhaupt keine Vorstellung“ einem internen Wortprotokoll – erhellt, hat der Ministerpräsident, wie er der alten Ebenso müsse der Dienst sich „trennen wie der DDR-Spitzenmann gegenüber dem Stasi-Elite gesteht, vom „Umgang mit die- von der operativen Bearbeitung Anders- Westen und seinen Koali- denkender“ und von der Ansicht, „die Po- tionspartnern zu operieren litik habe das Primat in der operativen Ar- gedenkt. beit“. Diese Auffassung habe „faktisch zu Die Blockparteien, plau- der Tatsache geführt, dass das MfS immer dert Modrow in der vertrau- mehr das Machtorgan des Generalsekretärs ten Runde, habe er davon wurde“. überzeugt, dass die DDR ge- Es gibt, so Schwanitz, „auch unter uns genüber Bonn nicht voreilig noch Genossinnen und Genossen, die mei- Positionen preisgeben dürfe: nen, wir können nach außen die Linie der „Wenn sozusagen gar nichts Erneuerung deklarieren und ansonsten so mehr da ist, dann sind wir weitermachen wie bisher“. nur am Bettelstab. So kann Das, schärft Schwanitz seinen Leuten die Geschichte ja nicht ge- ein, gehe „auf keinen Fall“ – einerseits. hen.“ Andererseits laviert Schwanitz, um den La- Mit den Blockpartei-Vor- den zusammenzuhalten. sitzenden sei er sich einig, Das Amt müsse Auflösungserscheinun- gen entgegenwirken: „Nicht dass uns jetzt alles hier anarchisch auseinanderrennt.“ Vor allem gelte es, dafür Sorge zu tragen, dass dem Gegner kein belastendes Material in die Hände fällt. „Was dieses Vernichten“ von Stasi-Ak- ten angehe, empfiehlt Schwanitz: „Macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig.“ Denn: „Wir werden stark kontrolliert.“ Die kompromittierenden Papiere, weiß Schwanitz aus Äußerungen führender Bür-

JÜRGEN OST + EUROPA PHOTO JÜRGEN OST + EUROPA gerrechtler, sollen „für ihr ,Gericht‘ aufge- Nasi-Chef Schwanitz, Reißwolf hoben werden, das in ihren Vorstellungen

„Macht das sehr unauffällig“ H. HÖRSELJAU ja schon existiert“. 164 Werbeseite

Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« Bonn gehörigkeit zu den Militärbündnis- sen und zur Möglichkeit eines Frie- Nikolai Portugalow, 61, einer der führenden densvertrags aufgeschrieben hat. sowjetischen Deutschland-Experten, hat „Wie Sie sehen“, sagt der Russe, sich bei Kohls außen- und deutschlandpo- „denken wir in der deutschen Frage litischem Berater Horst Teltschik, 49, an- alternativ über alles Mögliche, sogar gemeldet. quasi Undenkbares nach.“ Er könne Der Kanzlergehilfe kennt Portugalow seit sich vorstellen, dass die Sowjetunion zehn Jahren als unverkrampften Ge- mittelfristig einer wie immer gear- sprächspartner, „äußerst schlitzohrig“ und teten deutschen Konföderation grü- „fast übertrieben freundlich“. Heute jedoch nes Licht geben werde. wirkt der Russe auf Teltschik „um vieles Teltschik ist „wie elektrisiert“. Of-

ernsthafter“ als sonst, ja „fast feierlich“. PRESS ACTION PRESS ACTION fenbar denken die Regierenden Portugalow übergibt dem Kanzlerbera- Gesprächspartner Teltschik, Portugalow in Moskau schon weiter als die in ter ein handgeschriebenes Papier. Höflich „Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen“ Deutschland. Der Berater eilt zu sei- entschuldigt er sich für seine Schrift und nem Kanzler. Der hatte noch eine für die angeblich schlechte Übersetzung Im zweiten Teil des Portugalow-Papiers Woche zuvor durch seinen Unterhändler ins Deutsche. geht es um Fragen der Zusammenarbeit Walther Leisler Kiep der DDR-Regierung Der erste Teil, erläutert der Gast, habe zwischen den beiden deutschen Staaten. bei einem Geheimtreffen im Ost-Berliner regierungsamtlichen Charakter. Die wei- Und auch diese Passagen lassen Teltschik Palasthotel signalisiert, die deutsche Ein- terführenden Überlegungen im zweiten „aufhorchen“. heit stehe nicht auf der Tagesordnung. Teil dagegen seien lediglich mit Walentin Bereits am Freitag hat er den Wortlaut ei- Wenn nun jedoch die sowjetische Falin besprochen, dem früheren Bonn-Bot- ner erstaunlichen Rede bekommen, die Gor- Führung die Möglichkeit der Wiederverei- schafter und jetzigen Moskauer ZK-Ab- batschow am 15. November vor Studenten nigung erörtere, erkennt Teltschik, dann teilungsleiter für internationale Beziehun- in Moskau gehalten hatte. Darin sprach der sei es „höchste Zeit, dass wir das nicht gen, mit dem Portugalow persönlich be- Kremlchef ausdrücklich von einer „Wie- mehr länger im stillen Kämmerlein tun, freundet ist. dervereinigung“ Deutschlands, die zwar sondern in die Offensive gehen“. Gorbatschow, heißt es im amtlichen Teil, „heute keine Frage der aktuellen Politik“ Fast zur selben Zeit spricht Außenmini- gehe davon aus, dass in Bonn kein Zwei- sei, die er aber, wie die Formulierung nahe ster Hans-Dietrich Genscher im Weißen fel bestehe, dass die Wende in der DDR legt, auch nicht erst in ferner Zukunft sieht. Haus vor. Präsident George Bush gibt zu erken- nen, dass in den USA seit dem Mauerfall viele Vorbehalte gegen eine Wiederverei- nigung Deutschlands geschwunden seien. Allerdings: „Friedlich“, fordert Bush, müs- se der Prozess des Zusammenwachsens schon vonstatten gegen. Die deutsche Einheit, verspricht Gen- scher daraufhin dem US-Präsidenten, wer- de nicht als „brüllende Löwin“ auferste- hen, sondern als „Taube des Friedens“. Und er zitiert, was seine Landsleute tags zuvor in Leipzig gerufen haben: „Wir sind ein Volk.“

Mittwoch, 22. November 1989 Ost-Berlin Ehrhart Neubert vom Demokratischen Aufbruch ist überrascht: Die Wendehälse von der SED scheinen plötzlich „die Op- position überholen zu wollen, um die Initiative wiederzugewinnen“.

AP Während einer Besichtigung der Ener- Gesprächspartner Bush, Genscher in Washington*: „Taube des Friedens“ gieanlagen-Fabrik VEB Bergmann-Borsig in Pankow hat Egon Krenz blitzschnell ei- ohne die Sowjetunion und erst recht gegen Gorbatschow bezeichnete die Frage der nen tags zuvor präsentierten Vorschlag der sie undenkbar gewesen wäre. In Moskau Einheit ausdrücklich als „innere Angele- Systemkritiker aufgegriffen: Alte und neue habe man schon sehr früh gewusst, genheit“ beider deutscher Staaten, nicht Parteien sollten gemeinsam an einem „im Grunde seit Morgendämmerung der nur der DDR. Und er fuhr fort: „Wie die „Runden Tisch“ über die Zukunft des Lan- Perestroika“, wohin die DDR steuern Geschichte weiter verfügen wird? Kommt des beraten. werde. Zeit, kommt Rat.“ Die Idee stammt aus Polen. Dort war Das ist für Teltschik „eine kleine Sensa- Die Gorbatschow-Worte im Kopf, liest das kommunistische Regime, das sich seit tion“: Es bedeutet, „dass die Sowjetunion Teltschik, was Portugalow über Wieder- 1981 auf Ausnahmeverordnungen stützte, sich mit der Entwicklung in der DDR iden- vereinigung, EG-Beitritt der DDR, Zu- im Februar 1989 gezwungen worden, den tifiziert, ja mit dem Hinweis auf die Pe- Weg friedlicher Verhandlungen mit der Op- restroika sogar die Verantwortung dafür * Am 21. November im Weißen Haus, mit einem Stück position einzuschlagen.Vier Monate später übernimmt“. Beton aus der Berliner Mauer. führten Neuwahlen zu einem gewaltfreien

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Übergang vom totalitären zum demokra- er gegen die Ausbürgerung des Liederma- Auf der Bühne, inmitten des beifallum- tischen System. chers Wolf Biermann protestiert hatte, war tosten Filmteams aus alten DDR-Zeiten, Die diversen Oppositionsgruppierungen er bei den SED-Kulturpolitikern in Un- zeigt sich Krug überglücklich: Offenbar gebe in der DDR träumen davon, dem polni- gnade gefallen. es „nun doch noch andere Wege der künst- schen Beispiel zu folgen. Doch organisato- Nun ist der Star zurückgekehrt: Nach lerischen Auseinandersetzung“ als jene, „de- rische Zersplitterung, diffuse Programma- 23 Jahren des Verbots wird im „Inter- rentwegen ich meine DDR verlassen habe“. tik und strategische Defizite haben ein Zu- national“ der legendäre Spielfilm „Spur Kaum einer der begeisterten Zuschauer standekommen bisher verhindert. der Steine“ (Hauptdarsteller: Manfred bemerkt, dass während der Vorstellung ein Das Neue Forum, die breiteste opposi- Krug) wieder aufgeführt – ein zeitkri- Sicherheitsoffizier zu Krenz eilt und ihm tionelle Bewegung, hat zwar 200 000 Un- tischer Streifen, der wie viele andere zuflüstert, „Genosse Honecker“ wolle ihn terschriften gesammelt. Aber auch zwei Defa-Produktionen 1966 das Missfallen am Telefon „unbedingt sprechen“: „Er lässt Monate nach der Gründung gibt es noch der SED erregt hatte und nach inszenier- sich nicht abweisen.“ keinen legitimierten Sprecherrat. ten Krawallen in den Giftschrank ver- Von einem Nebenraum aus telefoniert Nachdem die Bürgerrechtsgruppe De- bannt worden war. Krenz mit seinem Vorgänger. Honecker mokratie Jetzt! die seit Wochen herum- ist außer sich: „Ich habe geisternde Idee eines Runden Tisches in eben in den Nachrichten eine konkrete Einladung umgesetzt hatte, gehört, dass ein Parteiver- sagte als erste der alten Blockparteien fahren gegen mich eingelei- die LDPD ihre Mitwirkung zu. Parteichef tet wurde.“ Manfred Gerlach, vormals ein besonders Tatsächlich hat die Zen- willfähriger Gehilfe der SED und nun der trale Parteikontrollkommis- fixeste Reformer unter den Blockflöten, sion beschlossen, den Ge- meint, die drängendsten Probleme müss- nossen mit dem Personal- ten gemeinsam angepackt werden: „Die ausweis A 000 000 1 (siehe Talsohle der Krise ist noch nicht erreicht.“ Porträt Seite 178) nach fast Der Zustand der Opposition ermutigt 60-jähriger Mitgliedschaft Krenz, den Vorschlag aufzugreifen: Ein aus der SED zu verbannen. Runder Tisch gibt der SED die Chance, Gegen Honecker – der noch sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. am 18. Oktober im ZK und So kann der umstrittene Generalsekretär am 24. Oktober in der Volks- vor dem nächsten Parteitag, auf dem über kammer mit Dank verab-

seine politische Zukunft entschieden wird, PHOTO JÜRGEN OST + EUROPA schiedet worden ist – läuft noch rasch ein Signal seiner Reformbe- Filmstar Krug, Kinobesucher Krenz*: „Geht auch anders“ nun ein förmliches Aus- reitschaft aussenden. schlussverfahren. Wer am Runden Tisch sit- Krenz bemüht sich, den Anrufer zu be- zen und was dort verhandelt schwichtigen. Wegen Honeckers ange- werden soll, ist ebenso offen schlagenem Gesundheitszustand seien wie die Frage, welche Ent- „keinerlei Aussprachen“ zu erwarten: scheidungskompetenz das „Das heißt, die Sache ruht.“ Gremium hat. Der Runde Doch der Abgehalfterte will sich nicht Tisch, so Neuberts wolkige beruhigen. „Ich habe den Eindruck“, hält Interpretation, habe „zu- Krenz in seinem Tagebuch fest, „Honecker nächst einmal keine parla- fürchtet den Ausschluss aus der Partei mentarische Funktion“, son- mehr als ein Gerichtsverfahren.“ dern „mehr ein politisch- moralisches Gewicht“. Die Vertreter der alten Freitag, 24. November 1989 Macht können auch aus einem anderen Grund opti- Ost-Berlin mistisch sein: Die Blockpar- Schon vor 14 Tagen hat der SED-Chef sei-

teien und die Oppositions- BILDERDIENST ULLSTEIN nen Großen Bruder in Moskau dringend gruppierungen, mit denen sie Krug in „Spur der Steine“ (1966): „Hieb auf die Birne“ um politische Orientierungshilfe gebeten: sich an einen Tisch setzen Wie soll es weitergehen mit DDR und wollen, sind noch immer dicht durchsetzt „Ich habe damals den ersten Hieb auf BRD? mit Einflussagenten der Stasi-Nasi. die Birne gekriegt“, erzählt Krug vor der Gorbatschow hat seinen Berater Wa- Wiederaufführung einem anderen promi- lentin Falin nach Ost-Berlin in Marsch nenten Kinobesucher: Egon Krenz, der gesetzt. In der sowjetischen Botschaft Donnerstag, 23. November 1989 durch seine Präsenz demonstrieren will, soll er die ostdeutschen Genossen vor- dass es in der Kulturpolitik „auch anders sichtig auf einen Moskauer Kurswechsel Ost-Berlin geht“ als einst. mit weltpolitischen Konsequenzen vor- Autogrammstunde im Kino „Internatio- Schon während der Vorstellung gibt es bereiten. nal“ in der Karl-Marx-Allee. Menschen- Szenenapplaus für nach wie vor „aktuelle Als Krenz nach dem vielstündigen Ge- trauben ballen sich um Manfred Krug, 52, Passagen“ (Krug) des Films.Als der Abspann spräch die Botschaft verlässt, schwirrt ihm der – Brille auf der Nase und flotte Sprüche läuft, reißt es auch jene aus den Klappses- der Kopf: Falin hat ihn – und Modrow, der auf den Lippen – unermüdlich seinen Na- seln, die 1966 noch in die Krippe gingen. verspätet hinzukam – doch tatsächlich auf- menszug schreiben muss. gefordert, über eine „Neuvereinigung“ der Der einst populärste DDR-Schauspieler, beiden deutschen Staaten nachzudenken. * Bei einer Autogrammstunde im Ost-Berliner Kino „In- Held in 40 Filmen und 20 Fernsehspielen, ternational“ anlässlich der Wiederaufführung des Films Im Übrigen solle die SED, um nicht weiter war 1977 nach West-Berlin ausgereist.Weil „Spur der Steine“ in der DDR. in die Defensive zu geraten, ihre „Theorie

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Lebensmittel und „Un- Reisestrom der letzten Wochen drückt den tertrikotage“, wie Dessous Schwarzmarktpreis. Für eine Ost-Mark er- auf DDR-Deutsch heißen, hält der DDR-Bürger gerade noch fünf sind nur noch gegen Vorlage Pfennig West. Für denselben Betrag kann des blauen DDR-Ausweises ein West-Berliner im Ostteil der Stadt zwei erhältlich. Polnische Auto- Pfund subventioniertes Brot kaufen. fahrer dürfen die Transit- Modrow beschwört seine Landsleute, ihr strecken durch die DDR hart erarbeitetes Geld „im Westen nicht nicht mehr verlassen. wegzuwerfen“. Doch die opfern ihr Er- „Endlich mal, dass unsere spartes – verächtlich „Ostlappen“ oder Regierung was Ordentliches „Kosakendollar“ genannt – gern für Wa- unternimmt“, freuen sich ren, die sie daheim nicht kaufen können. die Werktätigen. Schon lan- Seit der Öffnung der Grenze am 9. No- ge schwelt der Unmut über vember sind nach offiziellen Angaben fast Durchreisende, die über die drei Milliarden Mark Ost illegal nach West- offenen Grenzen kommen Berlin und in die Bundesrepublik geschafft und in Riesenmengen ost- worden. Das Neue Forum appelliert daher deutsche Produkte weg- an die DDR-Bürger:

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA schleppen. Denn mehr als Sowjetbotschaft in Ost-Berlin: „Eigenartiges Gefühl“ vier Fünftel der tatsächli- Beteiligt euch nicht am Ausverkauf unseres chen Kosten für die Herstel- Landes ... Nehmt keine Schwarzarbeit auf, von den zwei deutschen Nationen“ revi- lung oder den Import von Lebensmitteln verkauft keine Kunstwerke und subventio- dieren. werden in der DDR vom Staat und damit nierte Waren, tauscht keine DDR-Mark Die Kursänderung ist schwer zu ver- von der Bevölkerung getragen – allein zum Schwindelkurs – die gleiche DDR- kraften für Krenz. Im „Wiedervereini- 1989 schießt die Regierung 33,1 Milliarden Mark kauft uns später die Regale leer. gungsgerede“ hat er immer nur eine Spiel- Mark zu. art des Rechtsradikalismus gesehen. Und Schnittfeste Salami beispielsweise, die Doch der Aufruf verpufft – allzu be- stets hat er betont, seine Heimat sei nicht für 10,80 Ost-Mark das Kilogramm über grenzt sind die Möglichkeiten, legal an die Deutschland, sondern die DDR. die Ladentheke geht, müsste eigentlich ersehnten Devisen zu kommen. Den treuen Vasallen Moskaus be- 24,80 Mark kosten – die Differenz zahlt Die SED, um Selbstreinigung bemüht, schleicht „in diesem Herbst zum ersten der Staat drauf. straft die Verursacher der Misere ab: Als Mal das eigenartige Gefühl, um die DDR In der DDR-Presse werden die Schmug- Hauptschuldiger wird der ehemalige Wirt- wird gefeilscht“ zwischen der maroden gelaktionen immer häufiger angeprangert. schaftslenker Günter Mittag ausgemacht. UdSSR und den kraftstrotzenden USA. So ist zu lesen, dass am Grenzzollamt Gör- Gerhard Schürer, 24 Jahre lang Leiter der „Nabelt sich die Sowjetunion ab?“, no- litz bei einem Polen zwei Zentner Ha- Staatlichen Plankommission der DDR, tiert Krenz über das Gespräch mit Falin. selnüsse sowie 16 Angelruten, 26 Angel- nennt Mittag nun den „Mephisto im Polit- Und tief verunsichert fügt er hinzu: „Ich netze und 60 Rollen Angelschnur beschlag- büro“. will es nicht glauben, schließe es aber auch nahmt worden seien. An Mittags verhängnisvollem Kurs, die nicht mehr aus.“ Das ist die eine Seite des freien Reise- Wirtschaft auf Verschleiß zu fahren, öko- verkehrs. Die andere erleben DDR-Bür- logischen Raubbau zu betreiben und so- Ost-Berlin ger, wenn sie in den Westen fahren. ziale Wohltaten auf Pump zu finanzieren, Sie tragen zwar keine Uniformen, aber die Weil die Ost-Mark als reine DDR-Bin- hatte Parteichef Erich Honecker niemals in beige-braune Kittel gekleideten Kassie- nenwährung nicht konvertierbar ist, ent- Kritik zugelassen – mit eiserner Konse- rerinnen im „Centrum“-Warenhaus am wickeln sich Willkürkurse nach dem Prin- quenz führten der Generalsekretär und Alexanderplatz erfüllen hoheitliche Auf- zip von Angebot und Nachfrage, und der sein Vertrauter die DDR in den Ruin. gaben: Sie wollen die Personalausweise ih- rer Kunden sehen. Wenn die irritiert mit den Schultern zucken, fragt das Personal nach „Doku- menta“ – das verstehen die zumeist polni- schen und rumänischen Käufer, die sich in der DDR massenhaft und billig mit staat- lich hoch subventionierten Waren ein- decken. Körbeweise kaufen Kundinnen Wurst, Backpulver und Gewürze ein. Ihre Männer deponieren die Ware bis zur Heimreise in Schließfächern am nahe gelegenen S-Bahn- hof, während sie selbst erneut auf Ein- kaufstour gehen. Damit soll nun Schluss sein. Die Regie- rung Modrow hat „unpopuläre Maßnah- men“ verkündet, mit denen der befürch- tete Ausverkauf subventionierter Waren ins westliche wie ins östliche Ausland ver-

hindert werden soll. d. HEIDT / PLUS 49 VISUM v. U.

Ostdeutsche in West-Berlin „Beteiligt euch nicht am Ausverkauf“ 170 Sonnabend, 25. November 1989 Ost-Berlin Staunend sieht das Volk, wie seine Führer wohnten. Das schrille TV-Jugendmagazin „Elf99“, erst seit September auf Sendung, zeigt das süße Leben der früheren Polit- prominenz im Bonzenghetto Wandlitz. Egon Krenz, die Nase immer im Wind des Wandels, hat den Privilegienpfuhl am vergangenen Wochenende fluchtartig ver- lassen. Er ist in ein früheres Gästehaus für westdeutsche Politiker in Pankow gezogen. Das „Elf99“-Team ist Anfang der Woche unangemeldet, aber mit laufender Kamera zu der geheimen Waldsiedlung am Nord- rand Berlins gefahren, die hinter grauen Mauern versteckt ist. Am Eingang wurden die Reporter von den Wachposten abge- wiesen. Ein Offizier des „Wohnobjekts Wald- siedlung“ erklärte, die Anlage sei ein „mi- litärisch gesichertes Objekt“. Eine Dreh- genehmigung müsse bei der Abteilung Agi- tation des SED-Zentralkomitees beantragt werden. Also fuhr das Team zum ZK-Gebäude. Dort bequemte sich ein Funktionär schließ- lich vor die Kamera und erklärte, die Agi- tationsabteilung sei aufgelöst – was zu die- sem Zeitpunkt nicht stimmte. Er werde den Wunsch der „Elf99“-Redaktion aber an die SED-Spitze weiterleiten. Tags darauf rief Günter Schabowski, der PR-Mann des gewendeten Politbüros, in der Redaktion an. Nach einigen nörgeln- den Sätzen darüber, warum das Fernsehen denn in dieser Wunde wühlen müsse, ver- sprach er freien Eintritt für ein Kamera- team – von der „Aktuellen Kamera“. Nach langem Hin und Her durfte dann auch „Elf99“ mit. Den wahren Luxus bekamen die TV-Re- porter nicht zu sehen: Um das Wohl der zwei Dutzend Politbüro-Familien hatten sich mehr als 600 Domestiken gekümmert. Der Hofstaat der Greisenriege erledigte alles: vom Hausputz bis zum Einkauf, von der Reparatur des Wasserhahns bis zur Gartenpflege. Sämtliche Chauffeure, Gärt- ner, Pförtner und Verkäuferinnen waren Stasi-Leute. Beliefert wurden die Wandlitzer von der Abteilung Kommerzielle Koordinierung des unentbehrlichen Schalck-Golodkowski, auch er ein Offizier im besonderen Ein- satz der Staatssicherheit. Schalck ver- scherbelte die für teure Devisen gekauften Artikel zu Sonderkonditionen: westlicher Großhandels-, also Einkaufspreis plus die Hälfte der im Westen üblichen Handels- spanne – und dies dann in Ost-Mark zum Kurs eins zu eins. Ein Farbfernseher etwa, der im Großhandel für 1500 Mark zu haben ist und für 1900 bis 2000 Mark über westliche Ladentische geht, kostete die Wandlitzer nur 1700 bis 1750 Ost-Mark. Ein normaler

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DDR-Bürger musste für ein bezirk Pankow. Eine Kasernierung, argu- vergleichbares Gerät 6500 Ost- mentierte das MfS, sei aus Sicherheits- Mark hinblättern – sechsmal so gründen unumgänglich. Jedes Politbüro- viel, wie ein Facharbeiter im mitglied musste fortan nach Wandlitz. Monat verdient.Von dem Ange- Es war ein „absurder Sicherheitskult“, bot wurde reichlich Gebrauch urteilt Schabowski im Nachhinein. Zur Tar- gemacht.Wirtschaftslenker Mit- nung standen rund um das Gelände irre- tag etwa legte sich jedes Jahr führende Schilder, die immerhin hinter- durchschnittlich zehn TV-Gerä- sinnig die Jagdleidenschaft der alten Her- te zu. ren spiegelten: „Wildforschungsgebiet“. Als das „Elf99“-Team am 23. November anrückte, waren die anstößigen West-Waren aus Sonntag, 26. November 1989

Wandlitz entfernt worden. Stasi- / IMAGES.DE A. PACZENSKY Generalleutnant Günter Wolf, TV-Reporter Carpentier (r.)*: Inszenierte Enthüllung Ost-Berlin weder verwandt noch ver- In vielen Zeitungen des Landes erscheint schwägert mit Ex-Spionagechef Markus Häuser waren durchnummeriert, denn die ein Aufruf „Für unser Land“. Initiiert ha- Wolf, aber im Tarnen und Täuschen nicht Straßen der Siedlung hatten keine Namen. ben den Appell für die Rettung der DDR minder begabt, hatte die Enthüllung in- Neben der Waldsiedlung standen der die Intellektuellen Stefan Heym, Konrad szeniert. Nomenklatura riesige Jagdreviere samt Weiß, Volker Braun und Christa Wolf: Der Leiter der Hauptabteilung Perso- Jagdhäusern und -personal zur Verfügung. nenschutz und Betreuung sorgte dafür, Mielke, wie Honecker leidenschaftlicher Entweder: können wir auf der Eigenstän- dass das Fernsehteam filmen durfte. Zuvor Weidmann, ließ das Halali von Stasi-Män- digkeit der DDR bestehen ... Oder: wir aber hatte die Stasi Kühlschränke, Fernse- nern in Jägeruniform bewachen. müssen dulden, dass, veranlasst durch her und Radios, Delikatessen und Texti- Wenn die Strecke zu knapp ausfiel, wur- starke ökonomische Zwänge und durch lien beiseite geschafft – ins Palasthotel ge- de sie schon mal angereichert. So muss- unzumutbare Bedingungen, an die ein- genüber dem Palast der Republik. Als die ten Arbeiter aus dem VEB Fleischkombinat flussreiche Kreise aus Wirtschaft und Poli- Luft wieder rein war, ließ der Stasi-Gene- vorsorglich tiefgefrorene Hasen auf- tik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die ral die Ware nach Bohnsdorf in der Nähe tauen, die fürs repräsentative Foto zu- DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer ma- des Flughafens Schönefeld karren. Auch rechtgelegt wurden. teriellen und moralischen Werte beginnt davon bekam das „Elf99“-Team Wind. Kurt Hager, ehemaliger Chefideologe und über kurz oder lang die Deutsche Als die Fernsehleute am Lager eintrafen, der SED, kann der Vorzugsbehandlung Demokratische Republik durch die Bun- waren jedoch gerade zwei Staatsanwälte neuerdings nichts mehr abgewinnen. desrepublik vereinnahmt wird. dabei, die Tore zu versiegeln. Wieder gab Er wird nebst Gattin von dem TV-Team es keine Bilder von der Schieberware des auf der Straße angetroffen und wünscht sich Noch, meinen die intellektuellen Wort- Politbüros, aber Reporter Jan Carpentier „angesichts der Hetze, die überall getrie- führer, gebe es die „Chance, in gleichbe- konnte die Staatsgewalt in ein hübsch an- ben wird, dass man das als Internierungsla- rechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten zuschauendes Interview verwickeln. ger erklärt“. Er habe sich nur „den Be- Europas eine sozialistische Alternative zur Wandlitz war der erste Versuch, Kom- schlüssen gebeugt“, als er hergezogen sei. Bundesrepublik zu entwickeln“. munismus auf deutschem Boden zu ver- Vom 31. Mai 1960 stammt der Beschluss, Zum Entsetzen der gutgläubigen Initia- wirklichen: Hier zählte nicht die Leistung, dem die Prominentensiedlung ihr Entste- toren unterzeichnen – und entwerten – den hier bestimmten allein die Bedürfnisse der hen verdankt. Bis dahin wohnte die SED- Aufruf auch zwei prominente Trittbrett- Bewohner. Die SED-Elite verfügte über ei- Führung überwiegend im Berliner Stadt- fahrer: Hans Modrow und Egon Krenz. nen eigenen Supermarkt, ein Gästehaus, JOCHEN BÖLSCHE; NORBERT F. PÖTZL, ein Clubhaus und ein Schwimmbad. Die * In Bohnsdorf, mit Staatsanwälten. I RINA REPKE,CORDT SCHNIBBEN JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA Fernsehreporter, Swimmingpool in der Waldsiedlung Wandlitz: Halali mit aufgetauten Hasen aus dem Tiefkühlhaus

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Allen Ernstes erklärte er im Dezember 1988 vor dem ZK, „das Volk der Deutschen Demokratischen Republik“ habe „einen PORTRÄT Lebensstandard erreicht wie noch nie in seiner Geschichte“ – „im Grunde genom- DDR-Bürger men“ sei er sogar „höher als in der Bun- desrepublik“. Den Bezug zu Land und Leuten hatte A 000 000 1 Honecker, als er gestürzt wurde, längst ver- loren. Da regierte der Mann, dessen Per- sonalausweis die Seriennummer A0000001 Erich Honecker: Wie ein eitler, realitätsblinder trug, seine DDR schon jahrelang wie ein Machtmensch die DDR zu Grunde richtete feudalistischer Despot. Das Politbüro war ein Marionettenthea- elten ging es im SED-Zentralkomitee ging, desto kräftiger malten Honeckers ter. Rat nahm Honecker nur von drei Ge- so lustig zu wie in der Sitzung vom Hintersassen das Trugbild von der schöns- nossen an: vom Wirtschaftspapst Günter S22./23. Juni 1989. Niemand ahnte, dass ten und größten DDR der Welt. Mittag, vom Stasi-Chef Erich Mielke und es die letzte von Generalsekretär Erich Überall errichteten seine Vasallen Po- von dem Agitationsjournalisten Joachim Honecker geleitete Tagung sein würde. temkinsche Dörfer. Als Honecker 1983 Ei- Herrmann. Mitten in der gewohnt langatmigen Aus- senach besuchte, ließen sie entlang der Vorlagen waren so aufbereitet, dass sprache las der Parteichef vor, wie der West- Sightseeing-Strecke die Fassaden auch je- Honecker bloß sein „Einverstanden“ oder Berliner „Feindsender Rias“ die Bewer- ner baufälligen Häuser tünchen, die zum „Nicht einverstanden“ drauf malen muss- bung Leipzigs um die Olympischen Spiele Abbruch vorgesehen waren, und hängten te. Die Paraphe „EH“ – großes E, großes H, 2004 kommentierte: „Also geht doch zu- Gardinen hinter die toten Fenster. ohne Punkt und Zwischenraum – war bis- mindestens Erich Honecker davon aus, dass Von Jahr zu Jahr jonglierte der Wirt- weilen wichtiger als Paragrafen. die DDR auch noch im Jahr 2004 existiert.“ schaftsplan mit höheren Erfolgszahlen, die In dem DDR-spezifischen Eingabewe- Die Funktionäre fanden das so ulkig, dass auf dem Dienstweg von unten nach oben sen, das sich mangels Rechtsweg entwickelt sie in schallendes Gelächter ausbrachen. immer schöner wurden. Das bestärkte hatte, wurde der Staatschef auch zur Be- Honecker und sein Kronprinz Egon Krenz Honecker in der Überzeugung, die DDR rufungsinstanz, die in keinem Gesetz vor- lachten lauthals mit über das – wie sie gehöre zu den zehn führenden Wirt- gesehen war. Wer sich von irgendeiner meinten – Wunschdenken des Klassen- schaftsnationen der Welt. Behörde ungerecht behandelt fühlte, feinds, in 15 Jahren werde es schrieb einfach an Honecker keine DDR mehr geben. oder drohte zumindest da- Die führenden Parteikader mit, was oft auch schon half. lebten in einem Wolken- Ein „EH“ an der Eingabe kuckucksheim.Vor allem war bewirkte Wunder, denn nun der erste Mann im Staat, der wurde nach unten „durchge- von anderen stets die „Aner- stellt“: Die niederen Organe kennung der Realitäten“ ein- wurden angewiesen, an Ge- forderte, selbst längst rea- setzen und Vorschriften vor- litätsblind geworden. bei den Willen des Herr- Honecker, urteilte Michail schers zu erfüllen. Willkür Gorbatschow am 1. Novem- und Privilegienwirtschaft ber 1989 im Gespräch mit griffen um sich. Egon Krenz, habe „sich of- Katastrophal wirkte sich fensichtlich für die Nummer der barocke Regierungsstil eins im Sozialismus, wenn auf die DDR-Ökonomie aus. nicht sogar in der Welt“ ge- Statt Beschlüsse des Polit- halten. Der Mann habe büros herbeizuführen, schrieb „nicht mehr real gesehen, Mittag oft Briefe an was wirklich vorgeht“. Honecker. Wenn der sie mit Dabei hatte der Dach- seinen Initialen versah, hat- decker aus dem saarländi- ten sie quasi Gesetzeskraft. schen Neunkirchen seinen Welches die hervorste- Vorgänger, den Altstalinisten chenden Eigenschaften des Walter Ulbricht, 1971 mit Generalsekretärs waren, hat- ebendieser Begründung ge- te Werner Krolikowski, stürzt: Ulbricht halte sich für Honeckers Wohnungsnach- „unwiederholbar“ und pro- bar im Bonzenghetto Wand- jiziere eine „übertriebene litz und in der SED-Spitze Einschätzung seiner Person“ zuletzt zuständig für Land- auf die DDR. wirtschaft, schon 1980 seinem Tatsächlich gab es in den privaten Tagebuch anver- ersten Jahren der Honecker- traut: Die Nummer eins habe Regentschaft eine Tendenz „schlechten Ehrgeiz“, „Eitel- zu mehr Pragmatismus und keit“ und „Größenwahn“. Lebensnähe. Je weiter es al- Der Eitelkeit des Potenta-

lerdings mit dem Arbeiter- PRESS ACTION ten schmeichelten die in den und-Bauern-Staat abwärts Ehepaar Honecker in Chile (1993): Wasserstrahl gegen Reporter Amtsstuben allgegenwärti-

178 der spiegel 47/1999 mir etwas vor und ließ mir oft etwas vortäuschen“. Kurz zuvor, beim 40. Jahrestag der DDR-Gründung, hatte Gor- batschow dem SED-Chef unter vier Augen vergebens einen eh- renvollen Rücktritt nahe gelegt, wie der Präsidentenberater Ana- toli Tschernjajew berichtet. Als Honecker sich weigerte, unter Hinweis auf sein Alter und vier Operationen den Dienst zu quit- tieren, habe Gorbatschow ihn ein „Arschloch“ (mudak) genannt. Schwere Krankheiten, die im Sommer 1989 einsetzten, schütz-

ADN / BUNDESARCHIV ten den gestürzten Staatschef SED-Chef Ulbricht, Nachfolger Honecker (1968)* letztlich vor Strafe – wegen Un- „Übertriebene Einschätzung seiner Person“ treue verfolgte ihn die Ost- Justiz, wegen der Todesschüsse gen stark retuschierten Porträtfotos, auf an der innerdeutschen Grenze wollten ihn denen er in den letzten 20 Jahre nicht ge- West-Juristen hinter Gitter bringen. altert war. Honecker hatte sich von einer Nieren- Besuchte der DDR-Fürst die Leipziger operation gerade halbwegs erholt, da griff, Messe, musste ihn das „Neue Deutsch- am 29. Januar 1990, die Staatsgewalt zu. land“ mit jedem Gesprächspartner abbil- Eine Nacht verbrachte Honecker im Rum- den – der Rekord waren 43 Honecker- melsburger Gefängnis, doch der Haftrich- Fotos in einer einzigen Ausgabe. ter entließ ihn wegen seines schlechten Und wenn er, weil er den Hubschrauber Gesundheitszustands. ungern benutzte, mit seiner Wagenkolon- Da ihm das Domizil in Wandlitz zum ne durchs Land reiste, dann wurden Auto- Monatsende gekündigt worden war, hatte Honecker faktisch kein Obdach mehr. Ein Pastor in Lobetal nördlich von Berlin er- Binnen drei Jahren orderte barmte sich des Entmachteten und nahm die DDR für Honecker ihn privat bei sich auf. Im April 1990 vermittelte der Ost-Berli- und Mittag 4864 Softpornos ner Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Ko- tschemassow dem Ehepaar Honecker Un- und andere Videofilme terschlupf im Militärhospital Beelitz bei Potsdam. Als ihm dort Verhaftung drohte, für 1,3 Millionen West-Mark. wurde Honecker im März 1991 per Mi- litärjet nach Moskau ausgeflogen. bahnen und Straßen stundenlang gesperrt. Doch Gorbatschow mochte ihm im De- Eskortiert von seiner Leibgarde, ließ er sich zember 1991 nicht länger Asyl gewähren. in einem silbergrauen Citroën kutschieren, Nun ahmte Honecker nach, was ihm im von dem, um potenzielle Attentäter zu ir- Sommer 1989 zehntausende seiner Unter- ritieren, immer ein völlig identisches Zweit- tanen vorexerziert hatten: Er kramte ein exemplar mitfuhr. paar Habseligkeiten zusammen und flüch- Seine Jagdleidenschaft ließ Honecker tete in eine Botschaft – in die chilenische. den Staat was kosten. Drei Jagdhäuser Im Juli 1992 musste der Botschafts- wurden für ihn herausgeputzt, mit flüchtling aufgeben und sich den deutschen Schwimmbädern, Tennishallen, Schieß- Strafverfolgern stellen. Doch die Diagnose ständen und Bootshäusern. Sein privater Leberkrebs beendete rasch seinen im No- Fuhrpark bestand zeitweilig aus 14 Autos. vember eröffneten Prozess: Das Berliner Und binnen drei Jahren orderte die Verfassungsgericht ließ den Todkranken DDR im Westen 4864 Videofilme, vor allem am 13. Januar 1993 ins chilenische Exil zie- Softpornos wie „Die schwarze Nympho- hen, wo er Reporter schon mal mit einem manin“, für 1,3 Millionen West-Mark – je Gartenschlauch abzuwehren versuchte und zur Hälfte gingen sie an die Busenfreunde wo er, 81-jährig, im Mai 1994 starb. Honecker und Mittag. Als dem Häftling Honecker im Sommer Fehler gestand Honecker zögerlich erst 1992 eröffnet wurde, dass seine Krankheit ein, als es zu spät war. Am 1. Dezember unheilbar sei und er längstens noch zwei 1989 bekannte der Gestürzte, „dass ich das Jahre zu leben habe, reagierte der so, wie reale Leben im Lande in der letzten Zeit sich der Politiker Honecker zeitlebens vor nicht unmittelbar wahrnahm. Ich täuschte unangenehmen Einsichten geschützt hatte. Von seinen Anwälten befragt, wie er * Auf einem Staatsratsempfang anlässlich der Rückkehr mit dem tödlichen Befund umgehe, der Olympiamannschaft aus Mexiko, mit DDR-NOK- Chef Heinz Schöbel und seinem Stellvertreter Rudolf antwortete er: „Ich versuche, das zu ver- Hellmann. drängen.“ Norbert F. Pötzl

der spiegel 47/1999 179 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«

ANALYSE »Ick fühl mir wie im Krankenhaus« Korruption und Amtsmissbrauch: Die geheime Waldsiedlung Wandlitz und die Privilegien der DDR-Nomenklatura n seinem langen Leben war Willi Stoph (1914 bis 1999) IMaurer, Stabsgefreiter der großdeutschen Wehrmacht, Armeegeneral der Nationalen Volksarmee, Vorsitzender des Ministerrats und des Staatsra- tes der DDR und – so lange er sich zurückerinnern konn- te – Kommunist. Als solcher kämpfte er seit seinem 14. Le- bensjahr unverdrossen für die Gleichheit aller Menschen. Ebenso wie Frau Dr. iuris publici et rerum cameralium Rosa Luxemburg war Stoph, der die KP-Gründerin gern zi- tierte, für die „Abschaffung al- ler Standesunterschiede, Or- den und Titel“, jedenfalls prin- zipiell und als Kommunist.Als „führender Repräsentant“ der Deutschen Demokratischen Republik, als jahrzehntelanges Mitglied ihrer „Partei- und Staatsführung“ sowie als Ge- neral sah er die Dinge natur- gemäß anders.

Sein Wohnhaus in der ge- DPA heimen Waldsiedlung Wand- Leer stehendes Honecker-Ferienhaus bei Waren (1991): Je höher der Rang, desto westlicher das Leben litz, wo 20 der 26 Mitglieder des Politbüros der SED und ihre Familien sam eingezäunte Bonzensiedlung enterte, Citroën und Volvo), ernährte sich und die lebten, war das größte und schönste, je- präsentierte die Kamera minutenlang Seinen aus „Sonderläden“, importierte denfalls vergleichsweise. Es hatte einen se- Küchen und Bäder, die chromglänzenden auch die Medikamente vom Klassenfeind. paraten Swimmingpool, einen Anbau für Nirostaspülen und funktionierenden Du- Je höher der Rang, desto westlicher das die Haushälterin, und draußen im gepfleg- schen. „Macht euch selbst ein Bild“, riet Leben. ten Garten kultivierte ein fleißiger Akade- der Reporter. In Wandlitz stammte nicht mal das miker Grünzeug und Gemüse. Willi Stoph Die funktionierende Sanitär- und Knäckebrot aus der DDR. Der alte Erich mochte das. Küchentechnik made in Honecker bezog seine taillierten Anzüge Mit seinen Nachbarn, den anderen und das großzügige Ambiente der Häuser aus dem West-Berliner KaDeWe, die Soft- führenden Repräsentanten wie Honecker, – rund 250 Quadratmeter Wohnfläche, pornos von Beate Uhse und die Jagdwagen Mielke, Krenz und Schabowski hatte der Holzvertäfelung, Blick ins Grüne – mach- von Daimler-Benz und Range Rover; griesgrämige Genosse wenig im Sinn. Am ten die DDR-Bürger wütend und empört. Honecker hatte vier. Der schönste war für liebsten weilte er in seinem Jagdhaus mit Wandlitz war für die Zweiraumbewohner 290000 West-Mark aufgehübscht worden. Gärtnerei bei Speck an der Müritz. Das aus Plattenbauten der lang gesuchte Be- Luxus und Komfort galten in den No- mecklenburgische Domizil hatte 8,35 Mil- weis: Die da oben predigen Wasser, saufen menklatura-Kreisen als völlig selbstver- lionen Mark gekostet, nicht gerechnet den aber Wein, Moselwein. ständlich. Westliche Waren – wie etwa zwei Kilometer langen, eigens gegrabenen Dass die „führenden Kader“ der kleinen Aspirin von Bayer – wurden selbst dann Wasserweg von der Müritz zum Specker DDR sich nach dem Vorbild der großen See. Er erleichterte dem Weidmann die An- Sowjetunion ein komfortables Parallel-Uni- fahrt in sein Jagdrevier. versum aufgebaut hatten, kam nach und Wer in den geheimen Orden Stophs Wochenend-Datsche im Grünen nach ans Licht. hatte neun Garagen und bot jeglichen Wer zur „Nomenklatura“ gehörte – so aufgenommen war, von Komfort, der für West-Mark zu haben war. nannte man die hauptberuflichen höheren Auch die anderen Politbürokraten mussten Partei- und Regierungsfunktionäre, alles in dem die Bevölkerung nichts sich nicht mit Plaste und Elaste aus allem mehr als 3000 Menschen –, der Schkopau herumärgern. wohnte vergleichsweise herrschaftlich, hat- wusste, mit dem ging Als im Herbst 1989 ein kesses Team des te zusätzlich ein Wochenendhaus am See, es immer weiter nach oben. DDR-Staatsfernsehens die getarnte, sorg- fuhr zuverlässige West-Autos (Mazda,

180 der spiegel 47/1999 geordert, wenn es haargenau das gleiche Präparat unter Ostnamen gab. Die glitzernde Warenwelt des Westens, nicht die Lehre von der Freiheit des Men- schengeschlechtes, hat die kommunisti- schen Ideale der Arbeiterführer ruiniert. Am Ende wurde die DDR, wie deren Dis- sident Wolf Biermann sang, nur noch von „verdorbenen Greisen“ regiert. Das Nomenklatura-System gewährte Schutz und Fürsorge im Austausch für Par- teitreue. Wer einmal in den geheimen Or- den, von dem die Bevölkerung nichts wuss- te und dessen Existenz selbst den ge- wöhnlichen SED-Genossen verborgen bleiben sollte, aufgenommen war, mit dem ging es immer weiter nach oben. Die alten Ideale der Arbeiterbewegung – ihre Funktionäre sollten „wählbar, ab- wählbar und rechenschaftspflichtig“ sein – waren außer Kraft gesetzt. Eine Fluk-

tuation, heute Funktionär, morgen wieder E. GRAMES / BILDERBERG in der „materiellen Produktion“, fand nicht Verfallenes Gebäude in Görlitz: Beim Anblick der DDR-Wirklichkeit blankes Entsetzen statt. Vor der Arbeit als Dachdecker (Honecker), Maurer (Stoph) oder Expe- beim Schießen abstützte, ist jetzt auf dem der Volkspolizisten. Wurde sie bejaht, trat dient (Mielke), als Kuchenbäcker (Schalck- rechten Ohr taub. der Respekt in sein Recht. Golodkowski), Rinderzüchter (Gysi) und Die neofeudalistischen Lebensgewohn- Verständlicherweise suchte die Nomen- Schlosser (Modrow) fürchteten sich die heiten – man ging zur Jagd, wohnte aus- klatura ihren leiblichen Kindern den lieb führenden Persönlichkeiten. Ihr Ideal war wärts im Schloss (Mielkes war das schöns- gewordenen Lebensstil zu sichern. Abitur ein Leben im Büro. te), ließ sich Orden umhängen (Mielke hat- und Studium, das war kein Problem. Deshalb nannten sie ihr höchstes Gre- te die meisten, 274), brauchte nirgendwo Als die Berliner Humboldt-Universität mium Politbüro und den Chef Generalse- Geld für Speis und Trank – wurden vor Anfang der achtziger Jahre feststellen kretär. Seine Arbeit erledigte das Büro des dem Volk sorgsam geheim gehalten. Nur musste, dass weniger als zehn Prozent Politbüros. Dort verdiente man rund fünf- die Inflation der Titel fiel auf. ihrer Studenten der Arbeiterklasse ent- mal so viel wie ein Arbeiter. So hielt sich das Ministerium für Staats- stammten, zog sie sofort die Konsequenz: Der wahre Luxus einer gehobenen No- sicherheit eine eigene, geheime Hochschu- Sie stellte die Statistik ein. menklatura-Existenz bestand jedoch nicht le, von der so viele zum „Doktor der Die Selektion des Nachwuchses aus den im Moselwein und den Bananen satt, auch Tschekistik“ promoviert wurden (485), Kaderfamilien – sie galten als „werktätige nicht im Volvo fahren. Er bestand im Ser- dass dem Proleten Mielke die Geduld aus- Intelligenz“ – war so erfolgreich, dass die vice. ging: Er verbot das Führen der Doktortitel Humboldt-Studenten 1989/90 ganz brav in seinem Ministerium, denn „ick fühl mir blieben. Kein Graffito verunzierte die Uni- ja sonst wie im Krankenhaus“. versität. Nur ein einziger Spruch – „Unse- Je länger die DDR bestand und je ren Heiner nimmt uns keiner“ – ist über- schlechter ihre ökonomische Situation liefert. Er sollte den Rektor, einen Stasi- wurde, desto üppiger wucherte der Wa- Spitzel, retten. renhunger der Nomenklatura und desto Beim Volk hielt sich die Trauer um die großzügiger fielen die Geschenke aus. Dem Nomenklatura in engen Grenzen. Das Ver- Zentralkomitee der SED, einer Art Stän- halten der Arbeiterführer hat die Idee des deparlament, in das jede Lobby ihre Ver- Sozialismus dauerhaft ruiniert, vor allem treter entsandte – vom Generaloberst bis bei den Arbeitern. zum LPG-Vorsitzenden, vom Staats- bis Auch Erich Honecker soll sich enttäuscht zum Heilkünstler – , wollte das Politbüro, gezeigt haben. Als er aus dem Ghetto als die kleine Republik schon im Sterben Wandlitz vertrieben worden war, so be- lag, noch schnell 213 goldene Uhren dedi- richtet es der DDR-Volkswitz, machte er

J. KOEHLER J. zieren, jedem Nomenklaturisten eine. De- mit seiner lieben Ehefrau Margot einen DDR-Staatsjacht „Ostseeland“ ren Durchschnittsalter betrug 1989 bereits ersten kleinen Spaziergang. Den führen- Der wahre Luxus bestand im Service 64 Jahre. den Repräsentanten der Partei und des Die alten Herren hatten sich synchron Staates überfiel beim Anblick der DDR- Jedem führenden Kader stand gut ge- zum DDR-Aufbau viele beneidenswerte Wirklichkeit blankes Entsetzen: „Drei Tage drilltes Personal in Hülle und Fülle zur Privilegien gesichert. Besonders begehrt ist der Egon Krenz jetzt an der Macht, und Verfügung. Die Politbüro-Siedlung Wand- war der „A-Schein“, er entband von den schon hat er das ganze Land zu Grunde ge- litz wurde von 641 Mitarbeitern um- Verkehrsregeln, in Sonderheit von der dem richtet!“ Hans Halter sorgt; für diese Privilegierten gab es Volk verordneten Höchstgeschwindigkeit Bademeister, Chauffeure, Köche und Die- von 100 Stundenkilometern. ner ohne Zahl, sogar eine Gardinen- Im Falle eines Falles wurden Nomen- Im nächsten Heft näherin. klatura-Mitglieder nur sehr vorsichtig und Alle parierten ohne Widerworte. Der dann von ihresgleichen zur Rechenschaft „Volksauge, sei wachsam“ – Kohl irritiert die Leibwächter, auf dessen Schulter der alte gezogen. „Sind Sie bei uns eine führende Verbündeten – Schalcks geheimnisvolle Flucht Staatsmann Honecker sein Jagdgewehr Persönlichkeit?“, hieß die tastende Frage – Das Doppelspiel des Agentenchefs

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TÜRKEI-GIPFEL Deal am Bosporus in zähes politisches Tauschgeschäft Erettete Ende voriger Woche in letzter Minute den Gipfel der 54 Staats- und Re- gierungschefs in Istanbul. „Sie haben kein Recht, Russland wegen Tsche- tschenien zu kritisieren“, hatte der ge- sundheitlich sichtbar angeschlagene Kreml-Hausherr Boris Jelzin gleich zu Beginn der Tagung seine Kollegen ange- fahren – deutliches Zeichen dafür, dass die Russen die Veranstaltung eher plat- zen lassen würden, als eine Verurteilung ihrer Militäroperation im Kaukasus hin- zunehmen. Ohne ein klares Wort zum Kaukasus aber wäre die Veranstaltung am Bosporus für den Westen eine Farce gewesen.

Tatsächlich fuhr sich die Konferenz REUTERS schnell in unversöhnlichen Statements Bundeskanzler Schröder, Präsidenten Chirac und Jelzin in Istanbul fest. Auch das für Donnerstagnachmit- tag angesetzte Treffen mit Bundeskanz- Krieg beendet sei. Das Dreier-Treffen das Treffen war gerettet. Außenminister ler Gerhard Schröder („Krieg ist kein begann mit einer polternden Zurecht- Iwanow freilich nahm Freitagabend das Mittel zur Beseitigung des Terrorismus“) weisung Jelzins, der sich jede westliche in Artikel 23 enthaltene Versprechen wie- und mit Frankreichs Präsident Jacques Einmischung in die „inneren Angelegen- der zurück: „Wir haben keine Vermitt- Chirac geriet in Gefahr: Die Russen si- heiten Russlands“ verbat – dann offe- lungsbemühungen akzeptiert und beab- gnalisierten, Jelzins Aufnahmekapazität rierte er, sich auf den 21. Dezember in sichtigen auch nicht, dies zu tun.“ Die sei erschöpft. Hintergrund: Der Präsident Paris zu vertagen. Moskauer Presse, die durch das „an- fürchtete, das deutsch-französische Duo Schröder und Chirac akzeptierten, for- tirussische“ Klima von Istanbul bereits werde ihn ebenso hart herannehmen wie derten jedoch eine Gegenleistung: We- die „Zukunft Russlands“ gefährdet sah, zuvor US-Präsident Clinton. Als Ersatz nigstens in der Schlusserklärung des Gip- feierte Gipfelstürmer Jelzin als „Retter bot die Moskauer Delegation an, ein fels sollte festgezurrt werden, dass die des Vaterlandes“ („Nowyje Iswestija“): Treffen für den 21. Dezember in Paris OSZE sich alsbald um den Konflikt im „Angriff ist die beste Verteidigung, die oder Berlin zu verabreden – in der Hoff- Kaukasus kümmern könne. Überra- Attacke des Gegners ist abgewehrt, der nung, dass bis dahin der Tschetschenien- schend stimmte Jelzin zu und reiste ab, Feind zerstreut.“

BALKAN 261 Zivilisten verübt haben sollen. Auch negros, Milo Djukanoviƒ, im Obersten der in Den Haag angeklagte General- Verteidigungsrat Jugoslawiens und seg- Vorwürfe gegen stabschef der jugoslawischen Armee, nete die Kriegsabenteuer seines politi- Dragoljub Ojdaniƒ, konnte sich unbe- schen Mentors Milo∆eviƒ mit ab. Montenegro helligt zu Gesprächen mit der Regierung Montenegros in der as Uno-Kriegsverbrechertribunal in Hauptstadt Podgorica aufhal- DDen Haag erhebt schwere Vorwür- ten. Ojdaniƒ befehligte im ver- fe gegen die Regierung Montenegros. gangenen Jahr die Truppen im Sie soll mutmaßlichen Massenmördern Kosovo und gilt neben Präsi- Zuflucht gewährt und die Zusammenar- dent Slobodan Milo∆eviƒ als beit mit dem Tribunal verweigert ha- Hauptverantwortlicher für ben. Die Ermittlungsrichter weisen dar- Massaker an albanischen Zivi- auf hin, dass sich der angeklagte Oberst listen. Zudem weigert sich die Veselin ljivan‡anin zumindest zeitwei- Regierung, Dokumente über se in Montenegro aufhält. ljivan‡anin die Beteiligung Montenegros führte 1991 im Krieg gegen Kroatien die am Bruderkrieg mit Kroatien serbisch-montenegrinischen Truppen in und Bosnien dem Uno-Tribunal

Ostslawonien an, die unter seinem auszuhändigen. Damals saß AP Kommando bei Vukovar ein Blutbad an der heutige Präsident Monte- Gesuchter Kriegsverbrecher ljivan‡anin (1998)

der spiegel 47/1999 185 Panorama

MALAYSIA ren. Ich befürchte nur, dass die Regierung irgendeinen Trick anwendet, um das in letzter Minute zu verhindern. Demokratisches Feigenblatt SPIEGEL: Als Vorsitzende Ihrer im April gegründeten Nationalen Gerechtigkeits- partei (Keadilan) treten Sie in der Provinz Wan Azizah, 46, Ehefrau des gestürzten Parlament aufgelöst. Am 29. November Penang an, dem ehemaligen Wahlkreis Ih- malaysischen Vizepremiers Anwar Ibra- wird gewählt, der Wahlkampf dauert nur res Mannes. Was sind die Themen? him, 52, über dessen Haft, die Opposi- elf Tage. Was treibt ihn so zur Eile? Azizah: Mehr Transparenz in dieser Ge- tion gegen Regierungschef Mahathir Azizah: Nächstes Jahr wären rund 680000 sellschaft, Schluss mit der Geldverschwen- und die Neuwahlen am 29. November Jungwähler erstmals stimmberechtigt, die dung. Mahathir hat sicherlich wirtschaftli- meisten sind Gegner der Regierung. Ma- chen Fortschritt gebracht, aber er ließ auch SPIEGEL: Frau Azizah, wie ist der Ge- hathir regiert Malaysia seit 18 Jahren – teure Prestigeobjekte bauen, die nur eine sundheitszustand Ihres Mannes? mit Vetternwirtschaft und Korruption. kleine Elite um ihn und den Finanzminister Azizah: Er klagt immer noch über starke SPIEGEL: Anwar möchte sich aus der Zel- bereicherten. Er sollte die Armut bekämp- Kopfschmerzen. Ärzte meinen, das kom- le um einen Sitz im Parlament bewerben. fen, anstatt Denkmäler zu errichten. me von den Faustschlägen, die ihm nach Wie kann das funktionieren? SPIEGEL: Sie haben in Ihr Oppositions- seiner Inhaftierung im September 1998 Azizah: Er ist nicht rechtskräftig verurteilt, bündnis Alternative Front auch die fun- der Polizeichef zugefügt hatte. weil wir in die Berufung gegangen sind. damentalistische PAS aufgenommen, die SPIEGEL: Sie behaupten auch, man habe Und jeder Angeklagte, dessen Verfahren für die Einführung der Scharia eintritt. Ihren Ehemann Anwar vergiften wollen. noch läuft, darf laut Verfassung kandidie- Azizah: Die PAS bestand nicht darauf, dass Die Regierung be- unser Bündnis die Forderung nach einem streitet das. islamischen Staat politisch vertritt. Azizah: In seinen SPIEGEL: Mahathir sagt, wenn sein Partei- Haaren sind Spuren enbündnis Barisan Nasional weniger als von Arsen festge- zwei Drittel der Stimmen bekomme, sei stellt worden. Ex- das eine Niederlage. Warum? perten sagen, dies sei Azizah: Mit einer klaren Mehrheit kann ein deutliches Indiz. er die Verfassung nach Belieben ändern. SPIEGEL: Premier Die Opposition ist für ihn lediglich ein Mahathir hat An- demokratisches Feigenblatt.

fang dieses Monats AP FOTOS: SPIEGEL: Wie würden Sie das System in überraschend das Ex-Vizepremier Ibrahim, Ehefrau Azizah, Premier Mahathir Malaysia beschreiben?

RUSSLAND FSB war, hat Präsident Jelzin den stell- vertretenden FSB-Direktor Sergej Iwa- Die Scharfmacher now noch einflussreicher als bisher ge- macht und zum Sekretär des nationalen werden mächtiger Sicherheitsrats berufen. Iwanow leitete in der FSB-Zentrale Lubjanka, dem n Moskau wächst der Einfluss von einst berüchtigten Hauptquartier der so- IStaatsschützern und ehemaligen wjetischen Geheimpolizei, die Abteilung Agenten des früheren Sowjetgeheim- für Analyse, Prognose und strategische dienstes KGB. Auf Vorschlag des Tsche- Planung. Zum ständigen Mitglied des Si- tschenien-Feldherrn und Premierminis- cherheitsrats avancierte auf Jelzins Be- ters Wladimir Putin („der Scharfma- fehl auch FSB-Chef Nikolai Patruschew, cher“, so „Die Zeit“), der bis August 48, der 1974 zum KGB gestoßen war. Chef des jetzigen Inlandsgeheimdienstes Die Wiederkehr der Staatsschützer an der Moskwa gehört zur Strategie von Putin, mit Indische Geschützstellung Hilfe des alten Kader- stamms im Militär- und KASCHMIR Sicherheitsapparat un- ter der Parole „Konsoli- Teurer Krieg dierung der Nation“ mit Notstandsmaßnahmen um Berge und Gletscher eine innere Abkehr vom Westen zu erreichen. ir schneiden uns nur in den Finger, Pa- Sein Nachfolger Patru- Wkistan aber wird ausbluten.“ So iro- schew, so Putin, tue je- nisch wertete im Sommer Indiens Finanzmi- denfalls „alles, damit nister Yashwant Sinha den Höhenkrieg im

P. KASSIN P. der Sicherheitsdienst Norden von Kaschmir, bei dem sich pakista- Geheimdienstzentrale Lubjanka immer mächtiger wird“. nische und indische Truppen monatelang

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BÜCHER Vorstadt Huntingdon erwiesen sich als Bestseller. Der Grund: Ganz ungewöhn- Guter Mensch von lich für seine Zunft beschreibt Major ohne diplomatische Schmeicheleien die Huntingdon Tragödie eines Pragmatikers, dem seine Parteifreunde zu wenig ideologisches r galt als das graue Nichts zwischen Feuer vorwerfen. Ohne Schnörkel auch Eder konservativen Revolution seiner die Kurzporträts seiner Kollegen aus al- Vorgängerin Margaret Thatcher und ler Welt: Clinton, ein Opportunist, der dem Cool Britannia seines Nachfolgers ausschließlich nach dem Stand der Um- Tony Blair. Zuweilen empfand er fragen entscheidet; Gorbatschow, der selbst die sechseinhalb Amtsjahre in allem Aufbruch zum Trotz sich nicht aus 10 Downing Street als derart un- seinen kommunistischen Fes- glücklich („zu wenig wagemu- seln befreien kann; Mitterrand, tig, zu defensiv, nur noch reagie- der von Wirtschaft ebenso we- rend“), dass der glücklose John nig versteht wie Gorbatschow, Major die eigene Abwahl als dafür aber seine Kollegen mit eine Art Happy End interpretie- großem historischem Atem ren konnte: die Befreiung eines anödet. Was das Buch auch für aufrechten, vielleicht etwas Nicht-Briten lesenswert macht: tumben Toren, der es zu früh Wie kaum jemand vor ihm zum Außenminister, Schatz- beschreibt Major, auf welch kanzler und Premierminister ge- masochistische Art sich Groß-

DPA bracht hatte, aus einem Sumpf britannien aus dem Kreis der „Petronas“-Doppeltürme in Kuala Lumpur von parteiinterner Tücke und europäischen Vormächte ver- Verrat. Den unvermeidlichen Memoiren abschiedet hat. Ungerührt schildert er Azizah: Nach der Verfassung ist es eine des abgewählten Premiers*, das galt Thatchers zunehmend hysterische an- konstitutionelle Monarchie. Aber in einer schon im Voraus als sicher, war ein ähn- tieuropäische Ausfälle. Ohne jedes Kabarettvorstellung hieß es neulich, die liches Schicksal vorherbestimmt – bes- Selbstmitleid beschreibt er seinen im- würde bei uns gerade umgekehrt funk- tenfalls schnell vergessen. Es kam an- mer peinlicheren Spagat zwischen den tionieren wie in Großbritannien. In Ma- ders: Die Erinnerungen des konservati- europäischen Partnern und den verfein- laysia bleibt der Premier ein Leben lang im ven Abgeordneten aus der Londoner deten Lagern der eigenen Partei. Selten Amt, und der König wechselt hin und wurde der Marsch des Vereinigten wieder. * John Major: „The Autobiography“. Harper Collins Königreichs in den Schmollwinkel Euro- Publishers, London 1999; 776 Seiten; 25,00 Pfund. pas präziser nachgezeichnet.

Artillerieduelle um die Ser- VATIKAN dort die Einhaltung der Menschenrechte pentinenstraße National High- anmahnen – denn die werden von Iraks way 1-A lieferten. In Wirklich- Papst besucht Saddam Führung mit Füßen getreten. Der Papst keit aber kamen die Scharmüt- hat sich in den Kopf gesetzt, im „Heili- zel und die Rückeroberung och vor seiner Tour durchs Heilige gen Jahr“ 2000 die zentralen Orte der strategisch wichtiger Gipfel im NLand will Papst Johannes Paul II. in christlichen Geschichte zu besuchen: Grenzgebirge des Himalaja In- den Irak reisen. Geplant ist der Besuch angefangen bei Ur, wo Abraham seinen dien teuer zu stehen: Sie be- für Ende Januar kommenden Jahres. Weg nach Palästina begonnen haben lasten das Budget Neu-Delhis Die Reise des Katholikenoberhaupts in soll, bis zu den Jesus-Orten Nazaret, mit 1,2 Milliarden Dollar und die Heimat des biblischen Urvaters Betlehem und Jerusalem. Wenn man liegen damit weit über der Abraham, die historische Stätte Ur, ist „durch so viele Länder vagabundiert“ ursprünglichen Schätzung heftig umstritten. Die Amerikaner und sei, davon ist der Reiselustige über- Sinhas, der von nur 250 bis Engländer, die einstigen Anführer im zeugt, müsse man „am Ende an diesen 350 Millionen Dollar ausge- Golfkrieg gegen den Irak, haben Sorge, heiligen Orten ankommen“.

BALDEV / CORBIS SYGMA BALDEV gangen war. Weil Indien auch dass der Papst den „Teufel von Bag- im Winter die Höhenzüge an dad“, wie sie Präsident Saddam Hussein der Waffenstillstandslinie zu Pakistan be- nennen, aufwerten und mit neuer Legi- setzt halten will, muss Sinha sogar noch timation versehen könnte. In der Tat hat weitere 600 Millionen Dollar bereit stellen. die staatliche irakische Nachrichten- Pakistan hat damit ein selbst erklärtes agentur Ina vorige Woche päpstliche Kriegsziel erreicht und Indiens Kosten für Höflichkeitsfloskeln in einem Schreiben die Versorgung des Siachen-Gletschers im an Saddam Hussein sofort propagandis- äußersten Norden Kaschmirs vervielfacht, tisch umgesetzt: Der Papst habe dem den indische Truppen seit 1984 kontrollie- Präsidenten seine „Freundschaft“ versi- ren. „Das war immer unsere Absicht“, er- chert und hinzugefügt, er „bete für Sie klärt Rashid Qureshi, Sprecher der Streit- und Ihr Volk“. Dabei ist auch dem Dik- kräfte Pakistans im Armeehauptquartier tator in Bagdad keineswegs nur wohl

von Rawalpindi, „die Inder sollen für den bei dem Gedanken an den hohen Be- AP Gletscher teuer bezahlen.“ such des eigenwilligen Polen. Der will Johannes Paul II.

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USA Supermacht sucht Saubermann Zehn Wochen vor den ersten parteiinternen Vorwahlen liegen die Präsidentschaftsbewerber im Wettstreit um Werte und Würde: Peinlich berührt von den Affären der Clinton-Ära, sehnen sich die Amerikaner nach einem integren Kandidaten für den Job im Weißen Haus. M. PETERSON / SABA AP Konkurrenten Bush, Gore im Wahlkampf: Präsidentensohn und Vizepräsident genießen einen Bonus, doch ihr Vorsprung schrumpft

er heilige Gral aller aufrechten US- nes Vaters vor, der Ronald Reagan 1989 ins Zwölf Monate vor dem Wahltag am Konservativen hat 40 Kilometer höchste Amt Amerikas nachgefolgt war – 7. November 2000 ist bei Demokraten wie Dnordwestlich von Los Angeles sei- und als politischer Enkel des noch immer Republikanern das Bewerberfeld dichter nen Schrein: Der ockerfarbene Flachbau beliebten Populisten. zusammengerückt. Alle Aspiranten drü- der „Ronald Reagan Presidential Library“, Mit dem symbolträchtigen Auftritt woll- cken jetzt aufs Tempo: Der Reigen der ein weitläufiges Anwesen im Stil spanischer te Bush Junior nicht nur das Anrecht auf „Primaries“ – der wichtigen parteiinter- Landgüter, dokumentiert mit 75000 Expo- die republikanische Erbfolge für sich re- nen Vorwahlen – beginnt Ende Januar mit naten die unglaubliche Karriere des Kali- klamieren, seine außenpolitische Grund- Entscheidungen in Iowa und wenig später forniers – vom Bademeister zum mächtigs- satzrede und die Forderung nach einem in New Hampshire. ten Mann der Welt. „deutlich amerikanischen Internationalis- Auch Bushs aussichtsreichste republika- Diese Weihestätte für den Ex-Präsiden- mus“ machten klar, dass das Vorgeplänkel nische Mitbewerber,Vietnam-Veteran und ten, der nach der Parteilegende mit seinem für die Präsidentschaftswahlen im nächs- Senator John McCain sowie Milliardär Feldzug gegen das „Reich des Bösen“ den ten Jahr vorüber ist und der Aufgalopp der Steve Forbes, stiegen mit großen Fernseh- Kommunismus im Alleingang besiegte, Kandidaten begonnen hat. kampagnen in das Nominierungsrennen hatte sich George W.Bush, 53, ausersehen, Auch die Rivalen preschten vor. Schon ein. Sogar die beiden Außenseiter-Bewer- um vorigen Freitag seinen außenpoli- Anfang vergangener Woche hatte Vizeprä- ber um die Kandidatur der Reformpartei – tischen Kurs „für eine Welt auf dem Weg sident Al Gore, 51, ebenfalls die Westküste der rechtsextreme Ideologe Pat Buchanan zum Frieden“ abzustecken. besucht; sein demokratischer Konkurrent, und der Baulöwe Donald Trump – bestrit- Vor der grandiosen Kulisse der ausge- Ex-Basketballer Bill Bradley, sammelte bei ten vorige Woche Wahlkampftermine. dörrten, staubbraunen Santa Susana Ber- einer Galavorstellung mit Sport- und Film- Zwar analysiert der ebenfalls anschwel- ge, zu Reagans Schauspielerzeiten noch stars im New Yorker Madison Square Gar- lende Medientross jede Geste der Rivalen Drehort für Wildwestfilme, stellte sich der den Stimmen, Sympathien und Spenden- und wägt jede Nuance ihrer Reden ab, texanische Gouverneur als Sachwalter sei- dollars. doch in den politischen Entwürfen der

188 der spiegel 47/1999 FOTOS: SIPA PRESS (li.); AP ( re.) SIPA FOTOS: Ex-Basketballer Bradley, Veteran McCain im Wahlkampf: Jagd auf den Spitzenreiter der eigenen Partei

Möchtegern-Präsidenten fanden sie bislang würdigen Nachfolger alle Themen überla- Auch bei den Rivalen menschelt es: Se- wenig Substanz: Die Pläne, mit denen sie gert, an denen sich die rivalisierenden Kan- nator McCain aus Arizona stellt mehr Hil- Amerikas Defizite ausgleichen wollen, ad- didaten messen lassen könnten.“ fe für „arbeitende Familien“ in Aussicht, dieren sich nicht zu neuen Perspektiven. Clintons Charakterdefizite sind aller- Milliardär Steve Forbes fordert „größere „Nur Töne“, rüffelte der „New Yorker“, dings nicht der einzige Grund, warum die Freiheit daheim wie im Ausland“. Der stei- „aber keine Musik.“ Politiker sich auf stimmungsvolle Allge- fe, stets distanziert wirkende Gore gibt sich Ausgerechnet am Vorabend des neuen meinplätze verlegen. Trotz aller rhetori- als Kumpel und verspricht „Ich kämpfe für Millenniums, das in allen Wahlkampfreden schen Auseinandersetzung haben sich die euch“, Bradley verheißt gar die Neuauflage als „Herausforderung“ beschworen wird, Bewerber beider großen Parteien in vielen des „Amerikanischen Traums“. bieten die Kandidaten nur politische Pla- Fragen einander verblüffend angenähert. In Abwesenheit inhaltlicher Kontrover- titüden. Fehlen die Visionen? Selbst bei kontroversen Themen wie Ab- sen blieben auch die zum Medienereignis Sicher ist, dass der erste Urnengang im treibung, Schusswaffenkontrolle oder Steu- hochgeredeten TV-Debatten der Bewerber neuen Jahrtausend, bei dem es um die erreform sind fast alle Wahlkämpfer auf blutarm. Beim ersten Auftritt vor hand- Wahl des Präsidenten und die Mehrheit im Ausgleich und Kompromiss bedacht. verlesenen Demokraten tauschten Gore US-Kongress geht, weniger von politischen Denn in der „moderaten Mitte“, so je- und Bradley nur höfliche Floskeln aus. Bei Kontroversen beherrscht wird als von De- denfalls sieht es der Politologe James Thur- den Republikanern geriet der Talkshow- batten um Anstand und Moral, Vertrauen ber von der Amerikanischen Universität Auftakt erst recht zum Flop – Spitzenmann und Ehrlichkeit. Bei unverändert starkem in Washington, ballt sich das Wechsel- Bush glänzte durch Abwesenheit. Wirtschaftswachstum und verbreiteter Pro- wähler-Potenzial unter den 200 Millionen Statt inhaltlicher Auseinandersetzung sperität stehen wolkige Werte, nicht knall- stimmberechtigten Amerikanern. Und ge- dominieren schöne Bilder: Die Werbung harte Konzepte zur Wahl. nau deswegen „vermeiden die Kandidaten der Wahlkämpfer, unterlegt von fetzigem Denn am Ende der achtjährigen af- politische Extreme“. Pop oder öliger Klassik, erzählt von Land- färenreichen Amtszeit von Bill Clinton So rügt Bush Jr. schon mal den radika- schaften, Menschen und Momenten, wel- wünschen sich die Amerikaner wieder ei- len Sozialabbau seiner erzkonservativen che die Kandidaten prägten, und beschert nen Präsidenten, zu dem sie aufblicken Parteifreunde als „herzlos“ und geht auf sentimentale Erinnerungen an Familie und können, eine charakterfeste Vaterfigur, die Distanz zu ultrareligiösen Rechten. „Seine Jugend – die private Vergangenheit scheint Intelligenz und Integrität ausstrahlen soll. Parole vom mitfühlenden Konservativis- wichtiger zu sein als die politische Zukunft. Die Supermacht sucht einen Saubermann. mus“, so ein demokratischer Wahlkampf- In dieser Kür der Charakterdarsteller Nicht länger soll das Weiße Haus in stratege neiderfüllt, „gehört patentiert – holen die derzeit Zweitplatzierten – De- den Ruch einer Absteige geraten, in der sie verbindet Nächstenliebe mit dem mokrat Bradley und Republikaner McCain Übernachtungen in historischen Schlaf- Appell zur Selbsthilfe.“ – auf. Beide, der eine als ehemaliger Sport- zimmern an dollarschwere Par- star, der andere als Kriegsheld, teispender vermittelt werden. Das Weißes Haus in Washington: Debatte um Anstand und Moral sind Teil des Mythos Amerika. Das Amtszimmer des Präsidenten, Duo punktet, so „Newsweek“, mit durch Clintons Quickie-Sex zum einer „Aura der Authentizität“. „Oral Office“ degradiert, soll wie- Basketball-Star Bradley, 56, der der die Würde einer Weltmacht 1964 als Kapitän der Olympia- ausstrahlen. mannschaft in Tokio die Russen „Bill Clinton hat die Atmosphä- besiegte, war stets erfolgreich: re dermaßen mit Zweifeln an sei- Noch während seiner Sportkarrie- nem Charakter durchsetzt“, re studierte der Rhodes-Stipendiat schrieb die „Washington Post“, in Cambridge und Princeton. Als

„dass die Suche nach einem glaub- FOCUSC. BORNIGER / AGENTUR er nach 18 Jahren im US-Senat 189 Ausland

1996 der Politik den Rücken kehrte, gelang anderen Bewerber. Denn ihm wird nicht ihm ein schneller Aufstieg zum erfolgrei- nur Anteil an den unbestrittenen Erfolgen chen Wirtschaftsberater. der vergangenen acht Jahre gutgeschrie- Der Ex-Senator, verheiratet mit einer ben. Bleischwer trägt Gore am Ballast deutschstämmigen Literaturwissenschaft- des affärengeplagten Weißen Hauses: lerin, pflegt ein professorales Image – bis „Clinton-Müdigkeit“ nennen die Wahl- hin zum schlecht sitzenden Konfektions- kampfforscher dies politische Handicap. anzug – und setzt auf seinen guten Ruf. „Er Alle Anstrengungen, sich von Clinton ist ein Hit“, rühmt ihn ein früherer Team- zu distanzieren und das Image eines un- kollege von den New York Knicks, „und verbesserlichen Langweilers abzustreifen, H-I-T steht für Ehrlichkeit (Honesty), An- gerieten zum Fiasko. Seit obendrein be- ständigkeit (Integrity) und Glaubwürdig- kannt wurde, dass Gore die feministische keit (Trust).“ Im Heimatstaat New York Autorin Naomi Wolf für ein Monatsgehalt liegt er in Umfragen bereits deutlich vor von 15000 Dollar angeworben hatte, um dem Konkurrenten Gore. ihm – dem ewigen Zweiten – das Verhalten Ähnlich positive Charaktereigenschaf- eines aggressiven „Alpha-Männchens“ an- ten wie Bradley kann auch der republika- zutrainieren, spottet die Nation über die nische Senator McCain, Versuche des Vize, sich 63, für sich reklamieren. „neu zu erfinden“. Der Sohn und Enkel In diesem Punkt zu- berühmter US-Admira- mindest hat Gouverneur le wurde 1967 bei sei- Bush es leichter. Zwar ist nem 23. Einsatz als Ma- seine vergangene Woche rineflieger über Vietnam publizierte Lebensge- abgeschossen. Er ver- schichte nicht gerade brachte über fünf Jahre eine fesselnde Heldenle-

in Gefangenschaft, wur- AP FOTOS: gende. Doch der flie- de gefoltert und musste Sohn, Vater Bush (1968) ßend Spanisch spre- ein „Geständnis“ unter- chende Texaner kann schreiben. zumindest auf eine bür- Heute kann der Poli- gerliche Karriere als Ge- tiker aus Arizona, der schäftsmann in der Erd- 1982 als Seiteneinsteiger ölbranche zurückblicken in die Politik wechselte, und reüssierte als Mana- seine Vergangenheit als ger und Mitbesitzer ei- Wahlempfehlung nut- nes erfolgreichen Sport- zen. Das Haft-Epos clubs. „Glaube meiner Väter“, Dass der Gouverneur im September als Buch in seiner Jugend als erschienen, erklomm Trinker und Frauenheld rasch die Bestsellerlis- bekannt war und dabei ten; den ursprünglich ge- womöglich auch Drogen waltigen Rückstand zum ausprobiert hat, dürf- Rivalen Bush konnte er te ihm eher als Plus- schnell verringern. punkt angerechnet wer- Neben solch roman- den: Bush Junior unter- reifen Biographien wir- scheidet sich dadurch ken die geordneten Le- Präsident Nixon, McCain (1973) kaum vom Durch- bensläufe von George schnittsamerikaner. W. Bush und Al Gore banal: Der Gouver- Das gilt allerdings ebenso für die außen- neur von Texas verdankt vor allem seinem politische Kompetenz des Kandidaten: Ein Namen den Aufstieg zum republikanischen Fernsehinterview mit Testfragen zur aktu- Spitzenbewerber. Nicht zuletzt mit der ellen Weltpolitik entlarvte unlängst klaf- Hilfe seines Vaters konnte er eine Wahl- fende Lücken. „Ich habe mich nie für ein kampfkasse von 60 Millionen Dollar zu- großes Genie ausgegeben“, gestand der sammenbetteln – eine auch für US-Ver- Gouverneur nach dem blamablen Quiz, hältnisse astronomische Summe. „trotzdem bin ich ganz schön aufgeweckt.“ Nach acht Jahren an der Seite Bill Clin- Auch damit outete sich George W. Bush tons ist Vizepräsident Gore zwar der logi- als wahrer Erbe Ronald Reagans: Der näm- sche Spitzenkandidat seiner Partei. Aber lich brachte schon vor seiner Alzheimer-Er- der Sohn einer Politikerdynastie aus Ten- krankung die Namen fremder Länder nessee, in der Penthouse-Etage eines durcheinander und vergaß auch mal die Washingtoner Nobelhotels aufgewachsen, seiner Kabinettsmitglieder. wirkt wie das genaue Gegenteil eines „Ich habe gesunden Menschenverstand Volkstribuns, seine pfeilgerade Polit-Kar- und guten Instinkt“, rühmt der derzeit riere bietet keinen Stoff für Legenden. aussichtsreichste Präsidentschaftsbewer- Da nützt es wenig, dass Gore sich durch ber die eigenen Qualitäten: „Das ist es, Fleiß, Intelligenz und Erfahrung besser für was das Volk von seinem Führer erwar- das Präsidentenamt qualifiziert hat als alle tet.“ Stefan Simons

190 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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werfung, an der die Eurasische und die Anatolische Kontinentalplatte aufeinan- der stoßen. Von dort unten, darin sind sich Seismo- logen einig, wird irgendwann im Verlauf der kommenden Jahrzehnte ein schwerer Erdstoß die Region erschüttern. Noch ar- beiten Forscher weltweit an zitierbaren Wahrscheinlichkeitswerten, doch das Risi- ko eines weiteren „Killer-Bebens“, so die „Turkish Daily News“, am Bosporus ist vermutlich ebenso hoch wie in der Bucht von San Francisco: Dort liegt die Wahr- scheinlichkeit eines „big one“, also eines Bebens von mehr als 6,7 Punkten auf der Richterskala, für die nächsten 30 Jahre bei 70 Prozent. Dass Istanbul in einer extrem gefährde- ten Zone liegt, weiß man seit Beginn

AP der modernen Seismographie. Geophysi- Erdbebenschäden in Düzce: Der geologische Zufall traf eine dünn besiedelte Region ker beschreiben die tektonische Grund- lage, auf der die Ägäis und Teile der west- lichen Türkei ruhen, als „breiigen, zer- TÜRKEI splitterten Mischmasch“, dessen Bruch- linien sich permanent öffnen, wieder „zuheilen“ und die dabei entstehenden Warten auf das Killer-Beben Spannungen von Verwerfung zu Verwer- fung weitergeben. Nach dem zweiten schweren Erdstoß in drei Nach dem schweren Beben vom August, bei dem mehr als 17000 Menschen ums Le- Monaten versetzen einander widersprechende Warnungen von ben kamen, war aus dieser akademischen Seismologen die Bewohner von Istanbul in Panik. Gewissheit eine alltägliche Angst gewor- den: Tagelang übernachteten Bewoh- urz nach Mittag kam Boris Jelzin Die Gastgeber am Bosporus sahen den ner der südlichen Stadtteile Istanbuls im aus Moskau, ein paar Stunden spä- diplomatischen Empfangsreigen mit Wohl- Freien; wer es sich leisten konnte, ließ sich Kter Jacques Chirac aus Paris, vor wollen, doch wirklich interessiert hat sie Statiker ins Haus kommen, um die Stabi- Einbruch der Dämmerung kehrte US-Prä- das größte außenpolitische Defilee in der lität seiner Wohnung zu prüfen. Die Im- sident Bill Clinton von einem Tagesausflug türkischen Geschichte nicht. Die ängst- mobilienpreise im vermeintlich sicheren an der türkischen Ägäis zurück. Hochran- lichen Blicke der Istanbuler gehen seit Norden der Stadt zogen an. gige Abgesandte aus 54 Staaten trafen am Tagen am Atatürk-Flughafen vorbei Rich- Drei Monate nach der Katastrophe leg- vergangenen Mittwoch zum OSZE-Gipfel tung Süden, ein paar dutzend Kilometer te sich die Angst allmählich. Auch im ja- in Istanbul ein. Die Nationalhymnen- hinaus aufs Marmarameer, wo in mehr als panischen Kobe und im kalifornischen San Kapelle war gar nicht erst ausgerückt, denn 15000 Metern Tiefe eine geologische Soll- Fernando Valley, trösteten sich viele, waren die Maschinen landeten zeitweise im bruchstelle verläuft – die so genannte Mar- den verheerenden Erdstößen zahlreiche Minutentakt. mara-Sektion der Nordanatolischen Ver- Nachbeben gefolgt, ohne größeren Scha- Bewegtes Anatolien Ränder jüngste Die kleinere Anatolische Platte liegt im Schnittpunkt der eura- tektonischer Platten Erdbebenherde sischen, arabischen und afrikanischen Kontinentalplatten. Durch die Verschiebung der Kontinentalplatten entstehen Spannungen, die sich in Erdbeben entladen. Schwarzes Meer Bewegungsrichtung Eurasische Platte tektonischer Platten Düzce 12. Nov. Istanbul

Eurasische Platte Izmit 17. Aug.

Anatolische Platte

Athen 7. Sept.

Arabische Arabische Platte Mittelmeer Afrikanische Platte Platte Afrikanische Platte

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Werbeseite Ausland den anzurichten. Nach dem Beben von auf Ahmet Mete Isikara, 59, den Leiter der Izmit, so die Hoffnung, werde nun erst ein- Istanbuler Erdbebenwarte. Isikara, ein mal Ruhe sein – wenigstens für die Span- grauhaariger Gelehrter mit Hosenträgern ne eines Menschenlebens. und Einstein-Gesicht, war nach dem Erd- Der erneute Erdstoß im nordwesttürki- beben vom August schlagartig berühmt ge- schen Düzce am 12. November hat diese worden. Zeitungen kürten den Forscher, Hoffnung als trügerisch entlarvt. Zwar lag an dessen Lippen die Nation hängt, zum die Opferzahl mit mehr als 600 Toten dies- „erotischsten Mann der Türkei“; seine Pro- mal weit niedriger als im August, und die gnosen werden verschlungen wie Sprüche Rettungsmaßnahmen liefen schneller an. des Orakels von Delphi. Doch daran hatte auch Dass Isikara im Au- der geologische Zufall gust die Bewohner der seinen Anteil: Die Re- Millionenstadt Bursa – gion um Düzce ist we- wie sich später heraus- sentlich dünner besie- stellte grundlos – mit delt als die Küsten des der Warnung vor einem Marmarameeres. Ge- schweren Nachbeben in nauso gut hätte sich die Panik versetzte, hat Spannung an einem der man ihm inzwischen weiter westlich gelege- verziehen. Seit dem Be- nen Äste der Nord- ben von Düzce folgt der anatolischen Verwer- Doyen der türkischen fung entladen können – Geophysik nun dem Ta- und dann wäre Istanbul gesbefehl seines Pre- Schauplatz der Kata- miers, dessen besonde- strophe gewesen. res Vertrauen er ge- In der 15-Millionen- nießt: Beruhigung und Metropole brach nach nochmals Beruhigung. dem Beben von Düzce „Die Bevölkerung“, Panik aus. Gerüchte sagt Isikara, „soll sich von einem unmittelbar nicht mit Spekulationen bevorstehenden Beben über Ort und Zeitpunkt an der Marmaraküste eines großen Bebens gingen um. Zu hunder- verrückt machen, son-

ten flohen am vergan- FOCUSM. GÜLBIZ / AGENTUR dern Vorkehrungen tref- genen Montag die Be- Seismologe Isikara fen.“ Der Ballungsraum wohner des bereits im Istanbul sei auf eine August schwer getroffenen Stadtteils Avci- Erdbebenkatastrophe denkbar schlecht vor- lar Richtung Norden. Zeitweise fielen die bereitet: 15 Millionen Menschen leben in ei- Mobilfunknetze im Istanbuler Südwesten ner Stadt, deren Häuser zum größten Teil aus; der Autobahnverkehr Richtung Osten, an allen Bauvorschriften vorbei errichtet auch unter normalen Umständen überlas- wurden. Da liege die Verantwortung bei je- tet, kollabierte vollends. dem Einzelnen. Ein gutes Dutzend – einander zum Teil Mit einer überraschenden Frohbotschaft, widersprechender – Seismologen heizte die die diesem Appell freilich glatt zuwider- Stimmung zusätzlich an. Auf allen Fern- läuft, ging der Geophysiker am vergange- sehkanälen wurden komplexe geophysi- nen Mittwoch an die Öffentlichkeit: Mes- sche Karten gezeigt, vermeintliche Bruch- sungen einer Ölgesellschaft hätten erge- systeme analysiert und Krisenszenarien ben, dass die Hauptlinie der Nordanato- durchgespielt. Selbst die künstliche Spren- lischen Verwerfung etwa 50 bis 60 Kilome- gung von besonders gefährdeten Störungs- ter südlich von Istanbul verlaufe, also 30 linien wurde erwogen – freilich: Mit wel- Kilometer weiter entfernt als bisher ange- nommen. Die Schäden bei einem mögli- „Der Staat tut chen Erdbeben dürften also geringer aus- alles ihm Mögliche, der Rest fallen als befürchtet. Isikaras Kollegen und viele Istanbuler, liegt bei Gott“ die das Beben vom August in den Süd- distrikten der Stadt erlebt haben, mögen chem der zahlreichen Seitenarme der Ver- dem Forscher dabei allerdings nicht fol- werfung im Marmarameer man dabei be- gen. Den gesunden Menschenverstand, ginnen sollte, blieb ebenso unklar wie die in Situationen persönlicher Bedrohung technische Machbarkeit eines solchen Ver- ein besonders treuer Verbündeter, haben fahrens. Am Dienstag schließlich mahnte sie auf ihrer Seite: Am 17. August lag Ministerpräsident Bülent Ecevit die Seis- das Epizentrum des Bebens sogar 80 Kilo- mologengemeinde zur Ruhe: Der Staat tue meter südöstlich von Istanbul, und alles, was er zur Verhinderung einer Kata- dennoch stürzten im Stadtteil Avcilar strophe tun könne, der Rest liege bei Gott. ganze Straßenzüge von Häusern ein. Die geologische Deutungshoheit am Mehr als 1000 Istanbuler kamen ums Bosporus konzentriert sich seither wieder Leben. Bernhard Zand

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AFP / DPA Russische Raketenwerfer beim Angriff: Mit dem gesamten Waffenarsenal gegen ein Völkchen von 400000 Unbequemen

TSCHETSCHENIEN „Die Russen kämpfen feige“ Ungeachtet weltweiter Proteste setzt Moskau seine gnadenlose Intervention in der abtrünnigen Kaukasusrepublik fort. Sie trifft immer härter die Zivilbevölkerung. Trotz militärischer Rückschläge hoffen die tschetschenischen Kämpfer auf eine baldige Wende.

dass er in stockfinsterer Dunkelheit frie- rend und zitternd an dieser Stelle steht. Statt sich in wenigen Stunden auf den mor- gendlichen Weg zur Schule zu machen, ist der Erstklässler mit seiner Mutter auf der Flucht. Der Krieg war ihnen jede Minute auf den Fersen. Bei Schatoi hatten die Russen die einzige Straßenbrücke zerbombt. So blieb nur das Durchqueren des reißenden Flusses. Zweimal beschossen Flugzeuge den Treck, kurz vor der Grenze löschten Raketen das Leben einer ganzen Flücht- lingsfamilie aus. Und noch immer können sich Saïd und seine Mutter nicht sicher wähnen. Georgiens Grenzer, die am malerischen Bergdorf Schatili auf Wacht stehen, lassen zwar Frauen und Kinder durch – aber kei- ne Männer zwischen 16 und 60. Doch um nach Tiflis zu gelangen, muss noch das 3000 Meter hohe Bärenkreuz bezwungen wer- den – ein verschneiter und vereister Pass, über den lediglich ein schmaler Geröllweg führt. Wer 200 Dollar erübrigen kann, für

FOTOS: C. NEEF / DER SPIEGEL den stehen Taxifahrer mit Geländewagen Zerstörtes Stadtzentrum von Grosny: Alle paar Minuten schwere Einschläge bereit. Die Fahrt freilich ist ein Horrortrip: Der kleinste Ausrutscher, und sie endet im s ist eine schlimme Nacht, mit Eisre- Bretterhütte markiert das Vehikel den ein- Abgrund. gen und Sturmböen. Der Bergfluss zigen noch von Tschetschenen verwalte- Die Georgier spüren den russischen EArgun brodelt seit Stunden schon. ten Grenzübergang. Druck. Moskau hält den Weg entlang des Er hat das Schrottauto am Ufer über und Nur wenige stolpern diese Nacht den Argun für jene Trasse, über die der Waffen- über mit Schlamm bespritzt. Pfad hinunter in den Rebellenstaat. Die und Munitionsnachschub für die Freischär- Der Wagen Marke „Wolga“ steht mit meisten nehmen den umgekehrten Weg, ler der Rebellenrepublik läuft. Eine absur- der Schnauze Richtung Georgien und trägt am kümmerlichen Hoheitssymbol vorbei de Beschuldigung: Kein Lastwagen würde statt des Kennzeichens ein handgemaltes die Berge hinauf, Richtung Süden – ins ret- die Passage schaffen. Trotzdem haben die Schild: Es verkündet, dass dieses Auto zu tende Georgien. Russen vor Schatili jetzt Plastikminen ab- „Itschkerija“ gehört, zur abtrünnigen Kau- Dabei ist auch der kleine Saïd aus Gros- geworfen – direkt auf georgisches Gebiet. kasusrepublik der tschetschenischen Mus- nys Vorstadt Prigorod. Dem Siebenjähri- Sie drohen, den Nachbarstaat mit in den lime. Neben einer notdürftig getarnten gen kommt es vor wie ein böser Traum, Krieg zu reißen.

196 der spiegel 47/1999 Selbst die tschetschenischen von Schweizern erbaute Mühle Kämpfer in ihrer Bretterbude gesprengt.Wegen der zerstörten fühlen sich ungemütlich. Wegen Brücken kommen indes ohnehin der Bombenangriffe haben sie keine Lebensmittel mehr nach ihr Quartier 200 Meter höher in Itum-Kale durch. Der Ort ist ab- die Berge verlegt. Die bärtigen geschnitten. Männer, die bunte Pullover mit Madina Machaschewo, 35, bie- Aufschriften wie „Chicago tet in ihrem Dorfladen nur noch Bulls“ und „High Performance“ eingelegte Gurken und Tomaten tragen und aus Emailleschüsseln feil, Zigaretten der Sorte „Pri- Nudeln mit dünnen Fleisch- ma“; dazu Senfpflaster, Streich- stückchen löffeln, kümmern sich hölzer, ein paar Knoblauchze- kaum um die Grenzgänger. Sie hen und einen 99er Kalender mit haben nur einen Auftrag: zu ver- dem Bild der Backstreet Boys. hindern, dass die Russen an die- Von 5000 Einwohnern sind noch ser Stelle Luftlandetrupps ab- 3000 im Dorf, auch Frauen und setzen. Kinder. Den meisten fehlt für die In der Hütte hängt ein Plakat Flucht das Auto oder einfach nur mit dem Bildnis des im ersten Frontchef Islamow, Kämpfer: Verräter unter den Tschetschenen Geld. Wer noch Mehl hat, backt Krieg vor dreieinhalb Jahren ge- Brot für die anderen mit. fallenen Tschetschenen-Führers Dschochar Wenn es nur so wäre. Doch die Tsche- Freischärler gibt es nicht im Ort. Trotz- Dudajew. Das Poster ist eingerissen und tschenen bekommen den Gegner kaum zu dem schlugen jetzt zwei Bomben ein. Eine verblasst, es wirkt wie ein Symbol dafür, Gesicht. Der ist in seinen Bombern uner- traf den Friedhof, auf dem gerade eine Be- dass den Kaukasiern im Kampf gegen die reichbar. „Die Russen kämpfen feige nach erdigung stattfand, zwei Frauen wurden Russen das hehre Ziel abhanden gekom- der Methode Kosovo“, sagt Rasan Maga- durch Splitter schwer verletzt. men ist. Längst geht es nicht mehr um den madow, 70, der Lehrer von Itum-Kale, dem Der eigentliche Krieg findet 50 Kilome- Traum von der eigenen Unabhängigkeit. ersten größeren Dorf auf tschetschenischer ter nördlich statt. Gudermes, Tsche- Nur noch Hass treibt die Männer an – ge- Seite. „Sie haben keine Terroristen im Vi- tscheniens zweitgrößte Stadt, haben die gen die Eindringlinge aus dem Norden, die sier, sie selbst terrorisieren die Bevölke- Russen genommen. Nun schießen sie die diesen zweiten Krieg mit bislang unbe- rung, um uns zur Aufgabe zu zwingen.“ Dörfer rund um Urus-Martan sturmreif, kannter Grausamkeit betreiben. „Jetzt Um die Brotversorgung der Region zu eine stark besiedelte Gegend südwestlich kämpfen wir Auge um Auge und Zahn um stören, haben die Russen in Staryje Atagi der Hauptstadt Grosny. In den vergange- Zahn“, sagt Grenzer Naid. ganz bewusst die nach dem letzten Krieg nen Stunden haben sie mit einem Hub- in letzter Zeit von Erfolgsmeldungen nicht gerade verwöhnt. Bei Atschchoi-Martan hatten die russischen Truppen tiefe Ein- brüche erzielt – im Schutz der kilometer- langen Kolonne tschetschenischer Flücht- linge, die sich an der geschlossenen Gren- ze zu Inguschien stauten. „Wir waren ohn- mächtig, sollten wir unsere eigenen Leute dem Feuer aussetzen?“, erklärt Islamow die Niederlage. Unübersehbar, dass viele Kommandeu- re auf die geänderte Taktik der Russen nicht vorbereitet sind, es gibt nicht die von ihnen erhofften Kämpfe von Mann zu Mann. „Aber die Russen sind nicht wirk- lich stark, die haben keinen Glauben, die können nur Bomben werfen“, tröstet Ge- lajew. „Wir warten auf den Moment, der uns gelegen kommt.“ Die Tschetschenen wissen freilich auch, dass Moskau diesmal genügend „Enten“ Tschetschenischer Vizepräsident Arsanow unter ihnen hat,Verräter. Käufliche Leute, „Alles Trennende beiseite geschoben“ die Hand in Hand mit Russlands Geheim- dienst FSB arbeiten. Und die des Nachts für die Flieger Ziel- objekte markieren. „Ohne deren Hilfe hätten sie mein Haus nicht so punktgenau bombardiert“, glaubt Boroda. Bombenopfer Kwais in Staryje Atagi Da erfreut das Vi- „Sie zielen auf jedes Auto, das noch fährt“ deo, das die Männer vom Geheimdienst schrauberkommando eine Anhöhe bei mitgebracht haben: Goiskoje besetzt. Es zeigt das Verhör In der Nacht sieht Tschetscheniens Him- eines Oberstleutnants mel aus, als nehme jemand das Millen- der russischen Ar- nium-Feuerwerk vorweg. „Christbäume“ meeabwehr GRU, der weisen den Bomben das Ziel, Salven von ihnen vor Tagen samt Raketenwerfern orgeln durch die Luft, mit Zerbombtes Haus in Grosny: „Nicht mal Leichenteile gefunden“ einer in Freischärler- rotem Feuerschweif schlägt eine der aus Uniformen stecken- Russland abgeschossenen Boden-Boden- ses Schluchzen den Kopf auf die Tisch- den Diversantengruppe ins Netz ging. Laut Raketen ein. In Goiskoje klirren die Schei- platte – mit Ruslan ist der dritte von ins- Aussage des Offiziers sollte der Trupp ben, hilflos bellt ab und an ein tsche- gesamt sieben Islamow-Brüdern tot. tschetschenische Flüchtlingstrecks durch tschenisches Maschinengewehr gegen die Im Haus des Onkels findet das Trauer- Überfälle verunsichern und Attentate auf Flugzeuge an. Eine Großmacht hat ihr ge- zeremoniell statt. Die Frauen weinen, dann Kommandeure verüben. Die Männer hat- samtes Waffenarsenal mobilisiert, gegen ziehen sie sich an den Herd zurück. Front- ten Waffen mit Schalldämpfern sowie Mi- ein Völkchen von vielleicht noch 400000 chef Hamsat Gelajew, einst in Grosny Vi- nen dabei. „Der Russe ist natürlich er- Unbequemen. zepremier, ist mit mehreren Kommandeu- schossen worden“, sagt Islamow lakonisch. General Leitscha Islamow, genannt ren der „tschetschenischen Streitkräfte“ Die Männer nicken zustimmend. Sie „Boroda“ (der Bart), ist am Abend von zum Kondolieren erschienen. Die Männer trinken den nächsten Tee und zitieren den Georgien her nach Hause zurückgekehrt. sitzen am Küchentisch, nagen an Ham- Propheten, außerdem Lermontow und Du- Der Vize-Befehlshaber der tschetscheni- melknochen, trinken Tee. dajew: „Wer nicht mit allen Mitteln danach schen Südwestfront und Chef der Sonder- „Nur Allah, der Allerhöchste, weiß, wie strebt, der Sklaverei zu entfliehen, der hat polizei „Scheich Mansur“ hatte sich im es weitergeht“, tröstet Gelajew. Die Kerzen sie doppelt oder dreifach verdient.“ Ausland um islamische Hilfe bemüht. flackern, über die quäkenden „Motorola“- In der Früh geht es wieder in die vorde- Aber was heißt nach Hause? Sein zwei- Sprechfunkgeräte der Kommandeure sind ren Gräben. Erstmals ist auch die mit Boro- stöckiges Heim in Goiskoje ist nicht mehr die neuesten Kriegsnachrichten zu ver- da eingetroffene Verstärkung dabei: der Jor- vorhanden – die Bomber haben es in einen nehmen. danier Chalid, der sein vorzügliches Rus- Schutthaufen verwandelt. Bruder Ruslan, „Dschihad an Engel“, bittet jemand, mit sisch im ukrainischen Kiew gelernt hat, und 32, der gerade in der Küche stand, ist tot, Engel ist Gelajew gemeint. Die russischen der Tschetschene Ramadan, eben wegen die Mutter schwer verletzt. Posten auf der Fernstraße bei Atschchoi- des Krieges aus Syrien zurückgekehrt. Ra- Der General mit dem krausen schwar- Martan seien überrannt, sechs Fahrzeuge madan hat in Pakistan studiert und zuletzt zen Bart, der eine kunstvoll verzierte Pis- erbeutet, sagt die Stimme. Es gebe „Gäste“ mit weiteren Landsleuten an der Scharia- tole und einen filigran ziselierten Dolch – das Codewort für Gefangene. Fakultät der Uni von Damaskus. Natürlich am Koppel trägt, gilt eigentlich als hartge- Solche Nachrichten sind Balsam für die gehörte auch Militärausbildung dazu. Kei- sottener Kerl. Jetzt aber drückt ihm hilflo- Kommandeursseele, die Männer wurden ner habe ihn nach Hause gerufen, sagt Ra-

198 der spiegel 47/1999 Ausland madan, „mein Herz hat es mir befohlen“. die Frau direkt ins Herz getroffen, als sie der leblose zehnjährige Sulidan, der an der Zwei seiner Brüder sind bereits tot. sich mit ihren vier Kindern und der Kuh Bushaltestelle verwundet wurde, als eine Der Morgenhimmel ist erschreckend wol- über die Landstraße retten wollte. Rakete ein vorbeifahrendes Auto traf: kenlos und blau: Flugwetter. Entsetzt stehen Zwei Autos mit vier Schwerverletzten ra- Schädeltrauma; Tarana, die Flüchtlingsfrau die Einwohner von Goiskoje vor ihren Häu- sen auf den Hof; bevor die Getroffenen den aus Baku, der die Druckwelle einer Bom- sern und beobachten, wie zwei Kilometer OP erreicht haben, sind zwei von ihnen tot. be die Brust zerquetschte; Kwais, 47, der vor ihnen die Welt ins Wanken gerät. Zuerst auf eine Mine trat: das linke Bein ist am- geht der Mitschurin-Kolchos am Ortsrand putiert; der 14-jährige Alik aus Perwo- 50km von Urus-Martan in Flammen auf; dann ex- RUSSLAND maiskoje, der auf dem Hof Holz hackte, als plodiert im Bombenhagel der Russen die zwei Granaten einschlugen: das linke Auge Tschetschenien nahe gelegene Tankstelle, schließlich pflü- Terek ist weg, auch die linke Hand und das linke gen Raketen die Straße hinter Goiskoje um. Bein scheinen unrettbar verloren. Grosny „Sie zielen auf jedes Auto, das dort noch Inguschien Gudermes In den Betten nebenan liegen noch im- fährt“, schreit Nachbar Ismail wutent- Urus- Dagestan mer die Verbrannten und Verstümmelten brannt. Da lobe er sich die Deutschen, „die Martan Argun vom russischen Raketenangriff auf den 1942 hier absprangen: Die waren korrekt Goiskoje Markt von Grosny – mittendrin hängt ein und hilfsbereit, die haben meiner Mutter bereits Gestorbener am Tropf. „Ein Stein, aus ihrer roten Fallschirmseide sogar noch Itum-Kale der oben liegt, muss nicht immer oben blei- K a Decken gemacht“. Schatili u k ben, lehrt uns der Prophet“, flüstert die Dass in Urus-Martan viele Wahhabiten a s 69-jährige Lena Riwilog kraftlos, aber vol- GEORGIEN u sitzen, Tschetscheniens religiöse Eiferer s ler Verachtung aus ihrem Bett heraus. Sie saudiarabischer Provenienz, weiß Ismail meint Putin, Russlands Kriegspremier, den sehr wohl. Er sieht in ihnen Agenten, „die sie nur „Rasputin“ nennt. von den Juden gesteuert sind“, so wie er „Ich habe keine Verbände mehr, kein Nar- In der Hauptstadt Grosny arbeitet längst Extremistenführer Schamil Bassajew für kosemittel, keine Spritzen – nur noch mei- kein Krankenhaus mehr. Wozu auch? Vor einen „russischen Judas“ hält – „alles Leu- ne Hände“, Datschajew sagt es resigniert. Er der Brücke am Minutka-Platz klafft ein te, die in Russlands Auftrag hier den Krieg operiert im Keller bei Kerzenschein und hat riesiger Trichter. Daneben liegen ein schüren“. weder ein rotes Kreuz aufs Dach gemalt Schrank, Betten, ein paar Koffer. „Die Das Ergebnis des russischen Bombarde- noch eine weiße Fahne herausgehängt: „Das Bombe ist direkt auf einen Flüchtlings-Lkw ments ist eine Stunde später im Kranken- würde die Bomber doch nur anziehen.“ gefallen“, sagt ein Anwohner, „wir haben haus von Goity zu besichtigen. Hilflos steht Auch im Krankenhaus von Staryje Ata- nicht mal Leichenteile gefunden.“ Chefarzt Junadi Datschajew neben der Lei- gi herrscht das Elend. Dicht an dicht liegen Alle paar Minuten erschüttern schwere che der 32-jährigen Jesita: Ein Splitter hat die Opfer der russischen Terroristenjagd: Einschläge die Stadt. Am Sieges-Prospekt brennt ein getroffenes Wohnhaus, drei Menschen wurden im Keller verschüttet. Vor der bombardierten Staatsbank flat- tern Behördenbriefe und Kontoabrech- nungen über die Straße. Das einzig Bunte in der kaltgrauen Ruinenstadt ist ein großes Dudajew-Porträt, das die Einöde an der Stelle des früheren Präsidenten- palastes ziert. Nur schemenhaft bewegen sich die Zu- rückgebliebenen durch die Geisterkulisse. Schukran Armokajewa, 43, macht in den wackligen Holzständen am Markt letzte Vorräte zu Geld. Sie verkauft eingelegte Tomaten, das Glas für 35 Rubel, und ge- bratene Koteletts zu 7 Rubel das Stück. Ihre Kundschaft sind Freischärler und die Bewohner der Keller von Grosny. Vier Frauen sind sie noch auf dem Hof in der

Es gibt nicht wenige, die den Krieg weiter nach Georgien tragen wollen

Rosa-Luxemburg-Straße Nr. 15, allen fehlt das nötige Geld zur Flucht. Wacha Arsanow will bleiben. Der Mann mit der Papacha, der tschetschenischen Pelzmütze auf dem Kopf, steht mit nur zwei Leibwächtern auf dem leeren Platz vor dem gestürzten Lenin-Denkmal: Es ist Tschetscheniens Vizepräsident. Dass die Führung angeblich das Land Richtung Georgien verlassen will, ist „eine böse Propaganda-Ente der Russen“, sagt Arsanow, der einst für den Geheimdienst zuständig und im letzten Krieg Befehls- haber der Nordwestfront war. Die Einnahme von Gudermes scheint den Vizepräsidenten nicht zu bedrücken: „Wir bereiten den Russen dort in den nächsten Tagen eine große Überraschung vor“, sagt er schmunzelnd. Auch an Waf- fen mangele es nicht – sie kämen aus Russ- land. Schließlich säßen genügend Generäle in Moskau, die dem Jelzin-Günstling Pu- tin einen Erfolg in Tschetschenien miss- gönnten. Es gebe aber auch nicht wenige, die den Krieg weiter nach Georgien tragen wollten, damit Russland der Zugang zu den Ölquellen des Kaukasus erhalten bleibt. Dass der Sieg über die Russen an man- gelnder Einigkeit der Tschetschenen schei- tern wird – Arsanow glaubt das nicht. „Wir haben alles Trennende beiseite gescho- ben“, behauptet er – „vorerst.“ Er meint den extremistischen Feldkommandeur Bas- sajew, der mit seinem Dagestan-Einmarsch im August den Krieg erst richtig losgetre- ten hat. „Wenn wir mit Russland fertig sind, wer- den wir aufklären, was in Dagestan wirk- lich geschah – vor einem Scharia-Gericht. Allah wird uns sagen, was dann zu tun ist.“ Arsanow stülpt die Papacha auf und verschwindet in den Ruinen von Grosny. Christian Neef

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Sinn-Fein-Politiker Gerry Adams ins Rat- Londoner Akzent, aber auch seine schrul- LABOUR haus ein. ligen Hobbys wie die Zucht von Salaman- Zwar erscheint Livingstones Politik (bis dern, die ihn so beliebt machen. Der Rote Kontrolle auf den großzügigen Umgang mit den Ken, so sagen sich die meisten Londoner, Stadtfinanzen) heute kaum mehr skan- mag ein Egozentriker sein, ein Opportunist dalös. Doch in den Amtsjahren der kon- ist er nicht. Und genau davor fürchten sich ist alles servativen Margaret Thatcher war sie ihrer Tony Blair und seine Gefolgsleute, denn Zeit weit voraus. Die skrupellose Regie- Livingstone ist alles andere als ein braver Premierminister Tony Blair rungschefin ließ, um Livingstone und sei- Parteisoldat. ne Genossen zum Schweigen zu bringen, Ursprünglich sollte der Labour-Kandidat will verhindern, dass der überaus am 1. April 1986 die Stadtverordnetenver- – wie bei den Tories – mittels einer Urwahl populäre Labour-Linke sammlung per Gesetz abschaffen. von den rund 68000 Londoner Parteimit- Ken Livingstone Bürgermeister Seither musste die Sieben-Millionen-Me- gliedern bestimmt werden. Doch angesichts von London wird. tropole London ohne Bürgermeister und Livingstones Popularität an der Basis wer- den bis Februar drei Grup- ls Ken Livingstone am Donnerstag pen entscheiden, die von der vergangener Woche nach vier Stun- Parteispitze leichter beein- Aden inquisitorischer Befragung das flussbar sind: die Londoner Hauptquartier der Labour Party verließ, Abgeordneten des Unter- konnte er einen Etappensieg verbuchen: hauses und des Europäi- Seine Partei bestätigte ihn endlich als einen schen Parlaments, die loka- von drei Bewerbern für das Amt des Bür- len Gewerkschaften und die germeisters von London. Wahlkreisgliederungen der Doch nur Stunden später stellte sein Par- Partei. Es wird in jedem Fall teichef Tony Blair klar, dass Livingstone sehr knapp werden. im parteiinternen Vorwahlkampf keinerlei Blair und seine Vertrau- Gnade zu erwarten habe: Solange er noch ten versuchen nun mit allen atme, erklärte der Premierminister, werde Mitteln, den befürchteten er dagegen kämpfen, dass die Partei zum Durchmarsch des verpönten Extremismus der achtziger Jahre zurück- Bewerbers doch noch auf- kehre. Es gehe um nichts Geringeres „als zuhalten. Dabei sind sie die Zukunft der Labour Party“. nicht zimperlich in der Wahl Der Hauskrach bei Labour wird noch ihrer Mittel. Der Premier einige Monate anhalten. Denn erst Mitte warnte, es sei Livingstone Februar wird endgültig entschieden, wer gemeinsam mit solchen Alt- für die Bürgermeisterwahl am 4. Mai ins linken wie Arthur Scargill Rennen gehen darf. und Tony Benn gewesen, die Neben Livingstone bemüht sich die eins- es beinahe geschafft hätten, tige Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin „Labour über die Klippe in Glenda Jackson um die Kandidatur. Über den Untergang zu stoßen“. wesentlich bessere Chancen verfügt aller- Überdies fanden sämtliche dings der altgediente Londoner Lokalpoli- Londoner Parteimitglieder tiker und ehemalige Gesundheitsminister Werbebriefe von Dobson in Frank Dobson, der die rückhaltlose Un- ihren Briefkästen. terstützung der Parteiführung genießt. „Es Da der Bürgermeister re- herrscht heilloses Chaos“, freut sich der- lativ wenig Macht haben weil der skandalumwitterte Bestsellerautor wird, ist die Härte der in-

und Multimillionär Jeffrey Archer, der für ALPHA ternen Auseinandersetzung die Konservativen antritt. Wahlkämpfer Livingstone*: Beliebter Egozentriker ein Indiz dafür, dass es Dabei hatte Tony Blair den Londonern um mehr geht. Blair sieht eigentlich nur mehr Demokratie ver- Parlament auskommen. Vertreter der City Livingstone als Inbegriff eines Sozialisten sprochen und ihnen die Wahl einer Stadt- und der 32 Bezirke versuchen in zahllosen alter Schule, der nicht gehorsam auf dem verordnetenversammlung sowie eines Kommissionen ihre Planungen mit etlichen dritten Weg mitmarschieren will. Bürgermeisters in Aussicht gestellt. Kaum Ministerien zu koordinieren, doch den Ver- Bislang hat die Parteispitze die noch ver- jedoch waren die Reformpläne verab- fall der städtischen Infrastruktur konnten bliebenen Linken an den Rand drängen schiedet, tauchte zum Entsetzen von Blair sie nicht aufhalten. können. Doch das rücksichtslose Vorgehen ein Wiedergänger aus düsteren Zeiten auf: Vom Mythos seines Kampfes mit der dabei hat Blair und seinen Vertrauten den Ken Livingstone, der von 1981 bis 1986 dem Eisernen Lady zehrt Livingstone bis heu- Vorwurf beschert, „Control Freaks“, Kon- Stadtrat Groß-Londons vorgesessen hatte te. Obwohl der schwer berechenbare Indi- trollfanatiker zu sein. und seitdem als „Red Ken“ ebenso ge- vidualist als Unterhaus-Abgeordneter weit- Parteiintern trägt Blair die Spitzna- fürchtet wie geliebt wird. gehend isoliert blieb, liegt er in sämtlichen men „Bambi“ (nach seinem Aussehen) Die „Sun“ erklärte ihn damals zum Meinungsumfragen kaum einholbar vor al- und „Stalin“ (nach seinem zuweilen rü- „hassenswertesten Mann Britanniens“. len anderen Bewerbern. Auch wenn er als den Umgang mit Genossen). Sein Kampf Unter Livingstones Führung versuchte unabhängiger Kandidat anträte, wäre ihm gegen Livingstone erinnert zumindest der Rat, die Tarife für den öffentlichen der Sieg so gut wie sicher. an eine Parole, die Walter Ulbricht im Nahverkehr zu senken; er unterstützte Es sind seine schonungslose Offenheit, Mai 1945 ausgab: „Es muss demokratisch Homosexuelle bei ihrem Kampf ge- sein Charme und Witz, sein nasaler Süd- aussehen“, verlangte der Kommunist, gen Diskriminierung und lud den als „aber wir müssen alles in der Hand Terroristen verschrieenen nordirischen * Mit Londoner Stadtführern in historischer Kleidung. haben.“ Michael Sontheimer

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Verdächtige Schiffe sollen schon in in- Nahost auf dem Sprung – „ganze Dörfer“, AUSTRALIEN ternationalen Gewässern gestoppt werden. so Ruddock. Schleusern drohen künftig bis zu 20 Jahren Michael O’Connor, Direktor der Austra- Landgang in Haft nebst 250000 Mark Geldstrafe. Aner- lian Defence Association, forderte prompt kannte Asylanten bekommen keine unbe- ein hochmodernes Waffen- und Technik- grenzte Aufenthaltsgenehmigung mehr, arsenal, etwa mit Sensoren bestückte Hub- Nadelstreifen sondern nur noch ein Drei-Jahres-Visum, schrauber, sowie eine 4000-köpfige Grenz- und die Familienzusammenführung wird schutztruppe. Die USA, argumentierte der Auf abenteuerlichen Wegen erschwert. Landesverteidiger, sichern ihre Küsten mit Expertisen bescheinigen den 19 Millio- 42000 Mann, 175 Suchbooten und 211 Flie- kommen immer nen Australiern, ihre Überflussgesellschaft gern, Gesamtbudget pro Jahr: 7,3 Milliar- mehr Boatpeople ins Land. Die böte auch für 30 Millionen eine ordentli- den Mark. Regierung in Canberra che Existenzgrundlage. Nur verschärft die Abschreckung. sind das reine Zahlenspie- le.Angst vor Überfremdung ine Küste von rund 37000 Kilometer bestimmt die Debatte; selbst Länge hat nicht nur einen hohen die Grünen möchten „die EFreizeitwert. Sie ist auch ein schier Ära des Einwanderungslan- endloses Sicherheitsrisiko. des“ beendet wissen. Sie So landet nachts an Australiens einsa- sprechen von einer „Bedro- men Gestaden jede Menge Schmuggelwa- hung“ durch „unkontrol- re, beispielsweise Heroin aus dem Golde- lierte Zuwanderung“. nen Dreieck für die Junkies in Sydney oder Die war lange Zeit eher Melbourne.Vor allem aber ist in der ersten marginal. In den siebziger

Jahreshälfte die Zahl asiatischer Boat- Jahren nahm Australien ROPI people, eingeschleust von indonesischen zwar bereitwillig zehntau- Aufgebrachtes Flüchtlingsboot: „Nationaler Notstand“ Schlepperbanden und chinesischen Tria- sende Vietnamesen auf, den, im Vergleich zu 1998 um 240 Prozent doch zwischen 1990 und 1998 wurden nicht Die meisten Boatpeople sind Chinesen, gestiegen. Die Regierung in Canberra will einmal 4000 Boatpeople registriert und die mit blumigen Versprechen auf Arbeit in nun ihre ohnehin restriktiven Einwande- meist gleich wieder nach Hause geflogen. Sydney, der Olympia-Baustelle, geködert rungsgesetze weiter verschärfen. Nur ein Bruchteil erhielt den Status politi- werden. Ihre Schlepper kassieren laut Rud- Grenzschützer monieren ihre eher be- scher Flüchtlinge. dock knapp 75 000 Mark für die Bereit- scheidenen Aufklärungsmittel – 14 Flug- Erst seit Anfang dieses Jahres boomt das stellung eines Schiffs und nochmals 4500 zeuge der Küstenwache und 15 veraltete Geschäft der Menschenhändler. Die Behör- pro Passagier. Immigranten ohne Erspar- Patrouillenboote – und fordern Nachbes- den zählten 67 Boote mit 2453 Personen an nisse müssen ihren Kredit oft jahrelang in serung. Einwanderungsminister Philip Rud- Bord; die Dunkelziffer ist unbekannt. An- China-Restaurants oder als Drogenhändler dock spricht von „nationalem Notstand“ fang November wurden sechs Seelenver- abdienen. und verlangt wirkungsvollere Maßnahmen käufer mit 513 Irakern und 147 Afghanen Die anderen Flüchtlinge stammen aus gegen die Fremdenflut. Diesen Mon- aufgebracht. Geheimdienstler verbreite- Vietnam, Indonesien und, immer häufiger, tag berät das Parlament über eine harte ten vorige Woche die Schreckensmeldung, aus den Konfliktgebieten Afghanistan und Gangart. weitere 10 000 Habenichtse stünden in Irak. Letztere gelangen mit gefälschten Päs- sen über eine „Nahost-Pipeline“, wie es der australische Geheimdienst nennt, in die Boote: Als Gastarbeiter warten sie hauptsächlich in Jordanien und Kuweit, dann geht es über das Sultanat Oman oder den Hafen Bandar-e Abbas (Iran) nach Pa- kistan und von dort zum Brückenkopf In- donesien. Üblicher Tarif für diese Route: 10000 Dollar. Vom Land ihrer Träume haben sie nur vage Vorstellungen. Manche Pechvögel ler- nen es gar nicht erst kennen, weil sie um- gehend verhaftet und bis zur Abschiebung auf unbewohnten Inseln arrestiert werden. Die westaustralischen Auffanglager in Port Hedland und Derby sind derzeit überfüllt, weitere Camps werden eilig errichtet. Besonderes Pech hatte eine Gruppe von 60 Chinesen, die in Macksville, einem Nest 500 Kilometer nördlich von Sydney, gelandet war und auf raffinierte Weise jedes Aufsehen vermeiden wollte. Von schnieken Nadelstreifen-Anzügen ver- sprachen sich die Asiaten im reichen, ge- schäftstüchtigen Australien optimale Tar- nung – ein Fehler, wie sich zeigte. Ortsüb-

AP liche Tracht in Macksville sind Shorts und Asiatische Boatpeople (in Westaustralien): Vage Vorstellungen vom Land der Träume T-Shirt. Rüdiger Falksohn

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ÖSTERREICH Verführer aus dem Bärental Unter Jörg Haider wurde die FPÖ im Oktober zur zweitstärksten Partei. Der heftigen Kritik im In- und Ausland begegnet der Rechtspopulist seither mit einer Charme-Offensive: Er distanziert sich halbherzig von früheren verbalen Entgleisungen.

Verdacht, er könnte ein rechter Hetzer sein, von ihm genommen. Findet Haider. Wie über einen Modellbaukasten ge- beugt, analysiert er kühl die zurückliegen- den Schritte seiner Karrierestrategie: Zum Chef einer regierungsfähigen Partei der Mitte habe ihm zuletzt „noch ein Element gefehlt – Klarheit zum Dritten Reich, zu den ganzen Vergangenheitsfragen“. Um der FPÖ den Weg zur Macht zu ebnen, habe er Farbe bekennen müssen: „Ich selbst bin letztendlich der Punkt gewesen, wo manches unklar war.“ Antworten gab es dann am vorvergan- genen Freitag in den Redoutensälen der Wiener Hofburg. Eskortiert von einer Hand voll Männern, Typ Pitbull mit auf- rechtem Gang, betritt Haider dort am Jah- restag der Ersten Republik die Szene, steigt aufs Podium, verliert einige Worte über die Demokratie im Allgemeinen und kommt schließlich zur Sache. Er spricht von seiner Sicht der NS-Zeit, von den „bitteren Erfahrungen mit der braunen Diktatur“, der „Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des Holocaust“, und er redet davon, dass er keinen Schatten von Nazi-Verdacht auf sich zu dulden be- reit sei. Das inszenierte Stück Trauerarbeit lässt Haider in einem grammatikalisch so unsinnigen wie bezeichnenden Schuldein- geständnis gipfeln: Frühere „Äußerungen, die mir zugeordnet werden, waren unsen-

AP sibel und missverständlich“. Politiker Haider nach seinem Wahlerfolg*: Sät Zorn und erntet Beifallsstürme Zugeordnet werden? In den Siebzigern wird er gefilmt, wie er mit dem NDP-Füh- m Ecktisch im Klagenfurter Res- genossen gestoßen. „Da hing dann der Idi rer Norbert Burger gemeinsam die SS-Hym- taurant „Oscar“ sitzt er gelassen Amin und daneben so ein Burenführer“, ne singt: „Wenn alle untreu werden, so blei- Aüber Rucola mit geraspeltem Gra- sagt Haider: „Und daneben – ich.“ ben wir doch treu.“ 1985 bescheinigt er den na-Käse. Am Nachmittag war Jörg Haider „Ich sag zu dem jungen Burschen, der zu „Sondierungen“ beim Kanzler in Wien. mich rumgeführt hat: Sie, wer is’n der da? – Jetzt ist Feierabend. Bei der Regierungs- Sagt der: Ein ganz gefürchteter Rechtsradi- bildung sei noch alles drin, sagt er. Und kaler aus Österreich.“ Er habe nichts erwi- erzählt dann zwischen zwei Happen Salat dert, sagt Haider, sich aber selbst die Frage eine Geschichte aus seinem früheren gestellt: „Wie komm eigentlich ich dahin?“ Leben. Ja, wie eigentlich? Durch anerkennende Sie liegt nur ein paar Jahre zurück und Worte für die Beschäftigungspolitik der handelt davon, wie er, der Chef der Frei- Nazis vielleicht? Haider weiß es nicht, ver- heitlichen Partei Österreichs (FPÖ), in Los bale Ausrutscher seien wohl vorgekommen Angeles das Simon-Wiesenthal-Zentrum in seiner „Phase des Sturm und Drangs“, besucht hat. Ganz am Ende der Besichti- aber das war einmal. Über das Erlebnis im gung, direkt vor dem Raum, wo die Gas- Wiesenthal-Zentrum kann er inzwischen kammern nachgebildet waren, sei er da auf schmunzeln. Seit einigen Tagen ist jeder eine Wand mit Fotos unappetitlicher Zeit- Anti-Haider-Demonstration in Wien

* Am 3. Oktober in Wien. „Äußerungen waren missverständlich“ AP

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Kriegsveteranen am Ulrichsberg: „Sie alle „Wenn du eine Familie ernähren musst, ragen heute heraus wie ein Fels im Meer.“ deklarierst dich ned so leicht als FPÖ“, Jahre später äußert er am gleichen Ort: „Am sagt Haider. Er selbst habe es da leichter – Kärntner Wesen soll Österreich genesen.“ als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren, ist 1991 kostet ihn die im Kärntner Landtag er durch die 1565 Hektar Land im Bären- protokollierte Feststellung, im Dritten tal nahe der slowenischen Grenze, die ihm Reich habe es immerhin eine „ordentliche ein Onkel vererbt hat, zum Millionär ge- Beschäftigungspolitik“ gegeben, zwar das worden. Ein „Laschierer“, wie das bei ihm Amt des Landeshauptmanns, nicht aber heißt, ein Faulenzer, ist er dadurch nicht die politische Zukunft.Als geworden. Und seine Sen- er 1995, von einem Hob- soren hat er auch noch in byfilmer festgehalten, Ve- Bodennähe. teranen der Waffen-SS-Ka- Er studiert die Nöte der meradschaft IV in Krum- einfachen Menschen, hört pendorf als „anständige zu, speichert ab und ver- Menschen, die einen Cha- stärkt auch Ängste, wo sie rakter haben“ würdigt, ihm nützen. Schon optisch steht die FPÖ gerade vor in Opposition zur Politi- dem Sprung in die Bun- kerkaste, mit juvenilen desregierung. Auch diesen Tommy-Hilfiger-Leiberln Rückschlag überwindet oder Kärntneranzug, kö- Haider und erobert im dert er das Volk mit dem Frühjahr 1999 zum zwei- Gestus des Kerls, „der sich ten Mal das Amt des was traut“.Vor allem aber: Kärntner Landesvaters. Haider ist ein brillanter Die Wurzeln für den Redner, ein demagogisches Aufstieg ab 1986, schreibt Naturereignis. Unerreicht Christa Zöchling in ihrem in der Kunst, Wahres mit Buch „Haider – Licht und nur Gehörtem zu ver- Schatten einer Karriere“, quicken und Einzelfälle lägen in der parallel ein- von Willkür umzudeuten setzenden Isolation Öster- in Unterdrückungsmuster reichs unter dem Präsi- der „herrschenden Klas- denten Kurt Waldheim: se“, positioniert er seine „Während Waldheim, der Partei als unerschrockene alte Mann, hilflos von Bewegung gegen das satte ,Pflichterfüllung‘ sprach, Establishment. als es um seine NS-ver- Die rhetorischen Figu- strickten Kriegsjahre ging, ren sind dabei wieder-

hob Haider forsch den / GAMMA STUDIO X M. MAGNANI kehrend: Haider zitiert Teppich, unter den das al- Marathonläufer Haider* scheinbar das Volk und les jahrzehntelang gekehrt spricht doch selbst – von worden war. Er behauptete, dass sich nie- einer „mutigen Mitarbeiterin“ einer Wie- mand dafür genieren müsse.“ ner Behörde, selbstverständlich namenlos, „Sie haben in diesem Land ja keinen die sich der „Gesinnungsapartheid“ ver- gehabt, der enttabuisieren konnte“, sagt weigert und nicht zur verordneten Haider und meint – außer mir. Seit den Na- Demonstration gegen Haider geht; von der tionalratswahlen am 3. Oktober ist seine Jugend, die der „ideologischen Hetze der Partei mit mehr als 27 Prozent der Stim- Herrschenden“ trotzt; von der Arbeiter- men die Nummer zwei in Österreich. Bevor schaft, die das linke, „pseudointellektuel- er sie übernahm, waren es um die 5 Prozent. le Geschwafel von der Ausländerfeind- Haider will nun mitregieren. Auch Bun- lichkeit“ durchschaut; vom jüdischen deskanzler Viktor Klima (SPÖ) will regie- Bundesrat, der gegen die Haider-Ausgren- ren, aber nicht mit Haider, sagt er. Die kon- zung protestiert. servative ÖVP wiederum stößt sich weni- Haider sät Zorn und erntet Beifallsstür- ger an Haider als an ihrem vor der Wahl me bei seinen Anhängern. Er lässt feind- gegebenen Versprechen, als drittstärkste liche „Gedankenpolizisten“ vor ihrem geis- Partei in die Opposition zu gehen. tigen Auge aufmarschieren, „Glaubens- Haider wartet auf Angebote und singt krieger“ und „Kreuzritter“, „fanatische derweil weiter das garstige Lied vom klei- Gutmenschen“ eben, die seine Politik der nen Mann, der im großkoalitionär regier- Vernunft als Rassismus missdeuteten. Auf ten Proporzstaat der Dumme ist. Er singt der Straße, sagt Haider, drohe von Gut- es seit einem Vierteljahrhundert, mit zu- menschen-Seite der „Radau der Demon- nehmendem Erfolg: Österreich, pro Kopf stration“ – „der wird unseren erbitterten gerechnet das siebtreichste Land der Welt, Widerstand ernten müssen“. erlahmt nicht nur in seinen Augen nach Körperlicher Widerstand allerdings war 13 Jahren SPÖ/ÖVP-Regierung unter dem bisher nicht nötig. Haiders Gegner randa- Diktat von Parteibuchwirtschaft und Funk- tionärsmacht. * Beim New-York-Marathon am 7. November.

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Werbeseite Ausland lieren nicht. Sie kämpfen anhaltend auf ehemalige Vorzeigeschüler nun auch in zählt später, wie es wirklich war: Der Kanz- den Debattenseiten der Zeitungen (nicht Sachen Patriotismus schwer das Wasser ler, politisch vereinsamt seit seiner Wahl- selten gegeneinander) oder schieben sich reichen. niederlage, habe das Treffen spürbar ge- zu zehntausenden durchs abendliche Und die Sache mit dem braunen Sumpf nossen. So viele Gesprächspartner seien Wien, bewaffnet mit Blinklichtern als im Land? Wäre die FPÖ wirklich eine dem ja nicht mehr geblieben. Warnsignalen. Die Welle, von der Haider Nachfolgeorganisation der NSDAP, dann Will Haider selbst auf den Sessel? Er, getragen wird, haben sie noch nicht ge- hätte sie die absolute Mehrheit, hat Haider den Freunde, aber auch Gegner, nach brochen. 1985 dekretiert. Auch da ist er inzwischen Kreisky für „das größte politische Talent“ Denn der große Verführer aus dem weiter. Es sei bodenlos, Österreich als Hort der Zweiten Republik halten, er, der für Bärental besticht nicht mit sachlichen Ar- Ewiggestriger zu verun- sich keine andere Rich- gumenten oder ideologischen Leitlinien. glimpfen, sagt er heute. tung kennt als nach oben, In Ausländerfragen rigoros, in der Sozial- Positionen kommen gibt plötzlich den Zau- politik zwischen marktliberal und staats- und gehen, das Rezept derer und spricht von sozialistisch schwankend, segelt er seit Jah- bleibt. Haider setzt auf lohnenden Aufgaben im ren hart an jenem Wind, der den Regie- das Kurzzeitgedächtnis Land Kärnten. Vielleicht, renden aus den kleinbürgerlichen Milieus der Wähler und auf die weil er weiß, dass es dies- entgegenbläst. Konzeptlosigkeit des poli- mal noch nicht reichen „Wir sagen euch ganz klar – wir wollen tischen Gegners. Der ÖVP wird. keine Osterweiterung“, ruft er noch im gehen Christen und Bau- Andererseits, er hat die September dem Publikum im Festzelt der ern verloren, der SPÖ Ar- Partei natürlich nicht so

steirischen SPÖ-Hochburg Kapfenberg zu. beiter. Und je mehr die AP hochgebracht, um im Fall Um jetzt, nach erfolgreich geschlagener beiden großen Volkspar- Ehepaar Haider des Falles die Früchte Wahlschlacht, die Waffen zu strecken. teien deshalb von ihren anderen zu überlassen: Natürlich sei er für die EU-Osterweiterung, ideologischen Grundfesten abrücken, desto „Wenn, dann hat’s bloß an Sinn, wenn’st verkündet Haider vergangenen Mittwoch leichter tut sich Haider. Er ist ein Meister selber Kanzler wirst“, räumt Haider ein: in Brüssel, vorausgesetzt, das Lohnniveau blitzschneller Landnahme in frei werden- „Da musst scho wos derheb’n.“ der Kandidaten gleiche sich an. den Wählersegmenten. Hinter ihm in der FPÖ ist nicht mehr „Wir brauchen keine Ausländer, wir Mit kaum verhohlener Wonne verfolgt viel. Das weiß er am besten, denn er hat brauchen eine vernünftige Familienpoli- er nun, wie Bundeskanzler Viktor Klima – durch Vertreibung der besseren Köpfe tik“, sagt er im Wahlkampf. Und wundert die beiden duzen sich – um eine neue selbst dafür gesorgt. Da glänzen neben sich, wieso er als Rassist gescholten wird Mehrheit ringt. Wie der hinter der gra- dem neuen Zweiten Nationalratspräsiden- wie unter anderem von Demonstranten vitätischen Maske des standfesten Demo- ten Thomas Prinzhorn – „Die FPÖ ist beim jüngsten New-York-Marathon. kraten, der sich mit Rechtslastigen nicht einen weiten Weg gegangen. Bei uns se- Von weiter zurückliegenden Überzeu- einlässt, Gefahr läuft, auch die Mitte zu hen Sie jetzt sogar Neger und Ausländer in gungen ist noch weniger geblieben. Als verlieren. unseren Wahlbroschüren“ – vor allem die „ideologische Missgeburt“ hat der Als die beiden nach dem ersten Sondie- Mitglieder der so genannten Buberl-Partie deutschnational erzogene Haider die rungsgespräch gemeinsam vor die Presse mit Stellungnahmen zur Tagespolitik. österreichische Nation 1988 in orthodoxer treten, schaut Klima so stumm und abwei- Der dynamisch frisierten Männerschar Nazi-Diktion bezeichnet. Heute sagt er, send drein, als habe ihm ein räudiger Hir- in mittleren Jahren dient als Sprachrohr diese „Krampfhypothese“ habe halt erst tenhund drinnen im Kanzlerzimmer gera- und Einpeitscher der Generalsekretär Pe- mit Leben erfüllt werden müssen. Inzwi- de die Sitzgarnitur eingeschmuddelt. ter Westenthaler, vulgo Hojac. Der hat zu- schen sei eine eigene österreichische Iden- Haider hingegen spricht fröhlich von ei- erst seinen slawischen Familiennamen teu- tität entstanden. Folgerichtig lässt sich der nem „sehr persönlichen Gespräch“ und er- tonisieren lassen und sorgt seither dafür, dass der politische Diskurs in heiklen Fra- gen wie der Ausländerpolitik FPÖ-seitig ohne Schamschwellen verläuft. Nicht die „Überfremdungs“-Plakate aus dem Wahlkampf seiner Partei seien am derzeit vergifteten Klima schuld, sagt Westenthaler und fügt, ohne zu zucken, hinzu: „Brandstifter ist die linke Jagdge- sellschaft unter Muzicant.“ Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemein- de Wien, hatte sich erlaubt, auf eine deut- liche Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem Wahlerfolg der FPÖ zu verweisen. Wird’s klingen wie bei Westenthaler, wenn die FPÖ eines Tages die Musik macht? Jörg Haider ist ganz Vorsicht und Geduld. „In diesem Land dauert alles wahnsinnig lang“, sagt er: „Österreich ist ned für eine Revolution geeignet.“ Dass aber ein kleineres Beben in der Republik schon am Wahltag zu registrie- ren war, das räumt auch er, der Ver- ursacher, ein: „Der Krug geht bekannt- lich so lange zum Brunnen, bis er bricht“,

DPA sagt Haider: „Am 3. Oktober ist er ge- Haider, Bundeskanzler Klima: „Sehr persönliches Gespräch“ brochen.“ Walter Mayr

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scher Experten der Erste Offizier Gamil Cockpit einer Boeing 767 al-Batuti ein. Er habe die Boeing im Verlauf eines bizarren Kampfes um die Kontrolle der Maschine in einen todbringenden Sturzflug überführt, meinten sie nach einem synchronen Vergleich des Flugda- tenschreibers und des Cockpit-Voicerecor- ders der Unglücksmaschine. Die Ägypter dagegen wähnten den Ver- dächtigen vorige Woche als Helden und als Knopf Knopf Opfer einer amerikanischen Verschwörung. Autopilot Schubhebel Autopilot Der Flugdatenschreiber sei manipuliert worden, um den Luftfahrtgiganten Boeing zu decken, lautete in Kairo eine Spekula- Treibstoff- Treibstoff- tion. Eine noch wildere ging von einem Sperrhahn Sperrhahn Anschlag des israelischen Geheimdiensts aus, der den 33 Offizieren, darunter 2 Bri- gadegeneräle, gegolten habe. Weil die amerikanische Verkehrssicher- heitsbehörde ihre Erkenntnisse nur zöger- lich bekannt gab, eskalierte die Ausein- Pilot Kopilot andersetzung rasch in politische Höhen.

DPA US-Außenministerin Madeleine Albright versuchte, ihren ägyptischen Kollegen LUFTFAHRT telefonisch zu beschwichtigen. Kairos Bot- schafter in Washington hörte das Stimmen- aufzeichnungsgerät persönlich ab. Doch die amerikanischen Unfall-Analy- Amok über dem Meer? tiker sind sich ihrer Sache sicher. Jedenfalls so gut wie. Batuti sei nach dem Start ins Drama im Cockpit der Unglücksmaschine von EgyptAir: Cockpit gekommen mit der Bitte, den Ko- War der Absturz eine Wahnsinnstat piloten Anwar ablösen zu dürfen. Dann habe der diensttuende Kapitän Habaschi des Kopiloten, in selbstmörderischer Absicht? einmal das Cockpit verlassen. Um 1.49 Uhr, so viel steht fest, begann das Drama. Batuti habe folgende Sätze gemurmelt: „Ich vertraue ganz auf Gott. Ich habe mei- ne Entscheidung getroffen.“ Er habe den Autopiloten ausgeschaltet und acht Se- kunden später die Steuersäule nach vorn geschoben. Der Sturzflug aus der Reise- flughöhe von 10000 Metern begann. Kapitän Habaschi sei mit der Bemer- kung „Was ist denn hier los“ ins Cockpit zurückgeeilt. Er habe versucht, die Steu- ersäule anzuziehen, um wieder Höhe zu

FOTOS: AP FOTOS: gewinnen, und dem Ersatz-Kopiloten Ba- Piloten an Bord der Boeing 767*: „Was ist denn hier los?“ tuti zugerufen: „Zieh mit, zieh mit!“ Der aber tat offenbar das Gegenteil: Er drück- as Freitagsgebet in Kairos Mo- starben, darunter 106 US-Bürger und 62 te die Steuersäule weiter nach vorn. Das scheen ist beendet und mit ihm das Passagiere aus Ägypten.Von den Ägyptern Ergebnis war, dass die Höhenruder am DKnurren und Scheppern der Laut- an Bord waren 33 Angehörige des Militärs Heck der Maschine praktisch funktions- sprecher an den Minaretten. Am Tahrir- und insgesamt 6 Piloten von EgyptAir. unfähig wurden. Platz macht sich der Schuhmacher Hamid Zwei von ihnen saßen angeblich seit dem Batuti fand auch noch genug Zeit, die Wagdi auf den Weg. Er zürnt wie die Pre- Start in New York im Cockpit: Flugkapitän Abdeckung eines Griffs vor der Steuer- diger und die Männer an den Marmor- Ahmed al-Habaschi, 57, ein Veteran mit säule zu entfernen. Dann betätigte er die- tischen der Kaffeehäuser den Amerika- 35 Dienstjahren, und der Kopilot Adel sen Hebel, der die Versorgung der Trieb- nern: „Wir Ägypter sind nicht so naiv, Anwar, 36. werke mit Kerosin lahm legt, die Maschine ihnen zu glauben. Unser tapferer Pilot hat Auch eine Reservecrew war für den war verloren. nie und nimmer Selbstmord begangen.“ Langstreckenflug von elf Stunden mit an Warum sie dennoch aus dem Sturzflug Genau das aber hielten letzte Woche Ex- Bord: Pilot Rauf Nur al-Din, 52, und der kurz herauskam und auf 7300 Meter Höhe perten in Washington für die wahrschein- Erste Offizier Gamil al-Batuti, 59. Die bei- stieg, blieb den US-Fachleuten ein Rätsel. lichste Erklärung des Todesfluges jener den weiteren Flugzeugführer waren „dead- Das Flugzeug erlitt am Scheitelpunkt der EgyptAir-Maschine vom Typ Boeing 767, heads“, wie sie im Slang der Luftlinien ge- Kurve einen Strömungsabriss, den ge- die am 31. Oktober vor der Ostküste der nannt werden: Piloten, die den Einsatzort fürchteten „stall“, und fiel wie ein riesen- USA in den Atlantik stürzte. 217 Menschen wechseln und mitfliegen. hafter Ziegelstein zum Meer hinab. Den Part des Selbstmörders, der bei- Was könnte den Ägypter, dem im März * Kopiloten al-Batuti, Nur al-Din, Anwar, Flugkapitän spiellos viele Menschen mit in den Tod ge- die Pensionierung winkte, zu einem solch al-Habaschi. rissen hat, nimmt nach Ansicht amerikani- mysteriösen Amokflug veranlasst haben?

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Wohl schien Batuti ein aufrechter Muslim Satz „Ich habe meine Entscheidung ge- zu sein, der zweimal nach Mekka gepil- troffen“ sei gar nicht gefallen. gert war. Seine Familie verteidigt ihn aufs US-Untersucher schildern den frommen Äußerste (siehe Interview). Auch die Kol- Batuti jedenfalls als problembeladen. Zeu- legen von EgyptAir sind voll des Lobes gen bekunden, er habe in letzter Zeit „et- über ihn. was depressiv“ gewirkt; er habe darunter Und überhaupt beweise die Gebetsfor- gelitten, nie zum Flugkapitän befördert mel „tawakkaltu ala Allah“ („Ich vertraue worden zu sein, obwohl er auch Ausbilder ganz auf Gott“) eher das Gegenteil von bei der ägyptischen Luftwaffe war. böser Absicht. Religionsgelehrte wurden Finanzielle Schwierigkeiten seien ihm bemüht, die den Satz als alltägliche Formel womöglich entstanden, weil eine Tochter braver Gläubiger auslegten. Auch Ägyp- in den USA wegen einer Erkrankung des tens Soldaten, die 1973 im Krieg gegen Immunsystems behandelt werden muss. Israel den Suezkanal überschritten, hätten Vor dem Todesflug habe Batuti ausrich- diesen Satz skandiert. ten lassen, „alles Geld“ nach Kairo zu Irren die Amerikaner, selbst Arabisch- schicken. kundige von FBI und CIA, die den Cock- Während ägyptische Experten nun- pit-Voicerecorder abhörten? Das New Yor- mehr die Tonbänder inspizieren, treten die ker „Wall Street Journal“ behauptete am ersten US-Anwälte nach vorn. Sie wollen Freitag, sie hätten einen Teil der Tonband- EgyptAir und Boeing auf Schadensersatz aufzeichnungen falsch interpretiert. Der verklagen. Joachim Hoelzgen „Uns ging es gut“ Umeima al-Dahi, 58, Witwe von Kopilot Gamil al-Batuti, über die Vorwürfe, ihr Mann habe den EgyptAir-Absturz herbeigeführt

SPIEGEL: Frau Dahi, Ihr Ehemann hat nach Meinung von US-Experten die EgyptAir-Maschine abstürzen lassen, um Selbstmord zu begehen … Dahi: … eine haltlose und beleidigen- de Behauptung. SPIEGEL: Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Pilot auf so spektakulä- re Weise das Leben nimmt. Dahi: Gamil war ein gläubiger Mus- lim, so wie viele amerikanische Pilo- ten sicher auch gläubige Christen sind.

Menschen, die an Gott glauben, ver- AP abscheuen die Sünde des Selbstmords. Kopilot al-Batuti mit Familie Sie sind zu solch einer Tat nicht fähig. „Keine Schuldsprüche“ SPIEGEL: Eine plötzliche Depression wäre denkbar oder dass Ihr Mann an felsfrei, wann dieser Ausspruch getan einer unheilbaren Krankheit litt. wird: wenn man eine kritische Situa- Dahi: Ausgeschlossen. Gamil war kern- tion rasch mit Gottes Hilfe meistern gesund, sonst hätte EgyptAir ihn doch will. Wer sich von der Welt ver- überhaupt nicht fliegen lassen. abschiedet unter Missachtung des SPIEGEL: Vielleicht hatte er Schulden islamischen Selbstmordverbots, wür- und Ihnen das verschwiegen. de dieses Zitat niemals benutzen. Ga- Dahi: Uns ging es gut, Allah hatte es mil al-Batuti wäre der Letzte gewe- sehr gut mit uns gemeint.Warum wird sen, der sich in Todesnot vom Islam jetzt mit allen Mitteln versucht, mei- entfernt. nen Mann, mit dem ich in wenigen Wo- SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich die chen unser 35-jähriges Ehejubiläum Selbstmord-These? feiern wollte, als gewissenlosen Selbst- Dahi: Ich wundere mich, dass sie auf- mörder und Mörder abzustempeln? rechterhalten wird, aber ich verteile SPIEGEL: Warum hat er denn, kurz vor keine Schuldsprüche. Was ich über dem Absturz, den Koran zitiert: „ta- meinen geliebten Ehemann, den Vater wakkaltu ala Allah“ – „Ich vertraue der jetzt zu Waisen gewordenen Kin- ganz auf Gott“? der, gesagt habe, ist doch ganz leicht Dahi: Jeder, der unsere Redewendun- zu überprüfen. gen und Gebräuche kennt, weiß zwei- Interview: Volkhard Windfuhr

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M. HORACEK / BILDERBERG Mafia-Hochburg Corleone: „Mit neuem Gesicht, aber dem gleichen harten Herzen“

ITALIEN „Aus Killern werden Banker“ Ein Verdacht geht um in Sizilien: Sind die gefeierten Erfolge des Staates im Kampf gegen die Mafia nur schöner Schein? Die Paten der Unterwelt ließen lächelnd ihre alte Organisation zerstören und schufen längst neue Machtstrukturen.

ir haben die Mafia aus den Köp- im vorigen Jahr umgebracht, aber fen der Menschen verbannt.“ „keiner von der Mafia“. WLeoluca Orlando, 52, Bürgermeis- In der Stadt begann neues Le- ter der sizilianischen Hauptstadt Palermo ben. Das Teatro Massimo wurde und Italiens bekanntester Anti-Mafioso, 1997 wieder eröffnet. 23 Jahre bilanziert stolz, was er erreicht hat: „Die stand es leer, mit 1400 Plätzen eines kulturelle Hegemonie der Mafia in Paler- der größten Opernhäuser Europas, mo ist gebrochen.“ einst Mahnmal für den Verfall Sizi- Tag und Nacht stehen Polizeiwagen vor liens. Nun zieht es wieder feinst- Orlandos Haus in der stillen Via Dante. gekleidete Menschen ins Zentrum. Neun Leibwächter sollen sein Leben schüt- Bars, Restaurants, Boutiquen ha- zen. Zwei Vorgänger liegen auf dem Fried- ben sich rundherum angesiedelt. hof. Erschossen. Einer sitzt im Knast, er 1985 begann Orlando seinen wurde als Mafia-Mitglied enttarnt. Kampf. Dann, 1990, stellte der Orlando, schwarze Haare, gebräuntes Christdemokrat seine Mafia-ver- Gesicht, rundlich, aber ständig auf vollen filzte Partei vor die Wahl: „Ent-

Touren, sitzt im Wohnzimmer seiner präch- REUTERS weder Andreotti oder ich.“ Er ver- tigen Villa, die er mitsamt den wertvollen Palermos Bürgermeister Orlando lor und verließ die Partei. Doch alten Möbeln von einem Onkel aus Cor- Die mächtigen „Familien“ wurden unruhig bald darauf war die Democrazia leone geerbt hat – alles Jugendstil – und er- Cristiana (DC) nach immer neuen zählt und erzählt: wie seine Freunde und Als Leoluca Orlando Mitte der achtziger Korruptions- und Parteispendenskandalen er Licht in die zuvor düstere Stadt ge- Jahre Bürgermeister wurde, „wagte sich nie- am Ende. Und der siebenmalige Minister- bracht, Schutt weggeräumt, Ruinen gesäu- mand am Abend zu Fuß in die Altstadt“. 200 präsident Giulio Andreotti verschwand von bert haben. Und wie sie seither versuchen, bis 240 Morde gab es damals in Palermo je- der politischen Bühne. Meter für Meter Palermo aus den Klauen des Jahr. Heute kann man nachts um drei Orlando trat 1993 mit einer Koalition um der Unterwelt zurückzuerobern. herumspazieren. Sieben Menschen wurden seine neu gegründete Partei La Rete (das

216 der spiegel 47/1999 Netz) wieder an und holte über 75 Pro- zent der Stimmen. Das machte ihn zum König Palermos: Er verjagte die Angst, vertrieb die Mafia. Cosa Nostra (Unsere Sache), wie sie sich in Sizilien nennt, verlor den Nimbus der Un- besiegbarkeit. Bald, jubelten die Men- schen, wird die bleierne Zeit unter der Knute der Mafia Geschichte sein. Wirklich? Orlandos Stimme wird leiser. Gewiss, hunderte von Killern und Helfern, Bosse und Paten sitzen im Knast, oft verraten von ihren Ex-Kumpels. Aber er werde einen schrecklichen Gedanken nicht los: Was Italien schon als Sieg über die Mafia feiere, sei womöglich ein Trick, „eine ge- zielte Aktion“ der Mafia selbst. Die Cosa Nostra mache sich „fit für das nächste Jahrtausend“: Sie verbrenne ihre

alten Strukturen, opfere Stützpunkte und GAMMA / STUDIO X Kommunikationsnetze, weil sie längst Zerbombtes Auto von Richter Falcone (1992): Tausend Kilogramm Sprengstoff „eine neue, noch geheimere Formation“ aufgebaut habe. Ist das denkbar? Die Verhaftungen und die Geständnisse, die beschlagnahmten Millionen – Häuser, Autos, Goldbarren, Schmuck –, alles ein Werk der Paten selbst? Alles ausgeklügelt vom Superhirn des Bösen? Nicht nur Orlando hat diesen Verdacht. Auch Staatsanwälte und Fahnder der Anti-Mafia-Sondereinheiten treibt dieser Alptraum um. Chefankläger Piero Luigi Vigna beschreibt die „neue Strategie“ der organisierten Unterwelt so: „Den Ein- druck erwecken, dass die Mafia nicht mehr existiert, dass sie keine Gefahr mehr darstellt.“ Nicht weil sie plötzlich gute Menschen geworden seien, „ermorden sie plötz- lich niemanden mehr“, warnt Tommaso

Buscetta, sondern weil sie in neue, größe- FOCUS / AGENTUR / CONTRASTO R. KOCH re geschäftliche Dimensionen vorstoßen Anti-Mafia-Demonstration in Palermo (1989): „Fit für das nächste Jahrtausend“ wollen. Der einstige Mafia-Statthalter in Brasilien war der erste prominente Insi- denken die Fahnder, im Geldhandel. Or- mit äußerster Brutalität und mit neuen der, der auspackte. Hunderte seiner Kum- lando: „Aus den Killern werden Banker.“ Wertvorstellungen zu Werke gingen: Ihre pel kamen durch ihn in den achtziger Jah- Wer wie Orlando mit dem Vornamen Söhne sollten große Bosse werden, nicht ren in den Knast. Leoluca heißt, stammt fast immer aus Cor- Richter oder Politiker. Die kaufte man oder Auch Giuseppe Cipriani, Bürgermeister leone. Denn der Heilige Leoluca ist Schutz- ließ sie abknallen. der berüchtigten Mafia-Hochburg Corleo- patron des Städtchens im sizilianischen Rückendeckung bekamen die Mafia- ne, sieht „eine neue, intelligente Führung“ Bergland, dem Zentrum der Mafia. Schwadronen aus der Politik: Alles, was am Werk. Sie haben andere Strukturen ge- Die Orlandos sind uralter Corleone- im Kalten Krieg gegen die – in Italien schaffen und eine „Mafia mit neuem Ge- Adel. Ihnen gehörte einst der Palast im durchaus populären – Kommunisten half, sicht, aber dem gleichen harten Herzen“. Herzen der Stadt, in dem heute Gericht war im konservativ-bürgerlichen und so- Die Maschinenpistolen kommen in und Rathaus logieren. Reich und in engster zialistischen Lager willkommen. Besonders den Schrank, die Salzsäurebecken werden Nachbarschaft zu Paten und Killern, so die Spenden. geleert. Primitiv-Kriminalität, etwa die wuchs der kleine Leoluca auf. Auch die radikal antikommunistische Schutzgelderpressung, bleibt den kleine- In den fünfziger und sechziger Jahren Kirche ließ die, meist streng katholischen, ren Lichtern der Dunkelwelt überlassen – war es beinahe noch idyllisch: Die „uomi- Paten unbehelligt wirken. „Die Mafia gibt die neue Mafia formiert sich zu einer ni d’onore“ (Ehrenmänner), wie sich es gar nicht“, so schrieb 1963 etwa der Erz- global verflochtenen, effizienten Organi- Mafiosi selbst gern nennen, träumten da- bischof von Palermo, Ernesto Ruffini, an sation. von, dass ihre Söhne einmal Richter oder den Papst. Das ganze Theater darum sei Neben den klassischen Geschäftsberei- Politiker würden. Sie beneideten das Estab- „eine Erfindung der Kommunisten, um chen wie Frauen-, Waffen- und Drogen- lishment – schossen es aber nicht nieder einer christlich inspirierten Partei zu handel und ihren Interessen in der Bau- wie ihresgleichen. schaden“. wirtschaft, im Gesundheitswesen, in der Das ändert sich in den siebziger Jahren. Aber die „Corleonesi“ unter der Abfallbeseitigung und im Energiesektor Die „Corleonesi“ übernahmen die Macht Führung Totò Riinas übertrieben. Sie er- liegt der Kern künftiger Aktivitäten, so in der Verbrecherorganisation, Clans, die mordeten den KP-Chef der Region, Pio La

der spiegel 47/1999 217 Ausland

Torre, und den Präfekten von Palermo, „Pentiti“ (Reuige) hießen die Carlo Alberto dalla Chiesa samt Ehefrau. Gangster in Italien, die sich auf ei- Sie richteten Blutbäder an in Rom, Mailand nen Deal mit der Justiz einließen: und Florenz. Strafrabatt und Sicherheit gegen Tausend Kilogramm Sprengstoff zer- den Verrat der Kollegen. Über fetzten im Mai 1992 den Richter Giovanni 1200 Mafiosi kollaborierten bis Falcone und seine Frau sowie Auto und heute mit den Juristen. Aber Leibwächter. Es gab acht Tote. Am 19. Juli „nicht einer, auch unter den hoch- exekutierten sie seinen Kollegen Paolo rangigen Pentiti, kannte Bankver- Borsellino und sieben Beschützer. Der bindungen und Kontonummern“, elfjährige Giuseppe Di Matteo wurde ent- wunderte sich Palermos Bürger- führt und nach 18-monatiger Gefangen- meister anfangs. schaft erwürgt, sein Körper in Säure auf- Heute ist Orlando „ziemlich si- gelöst, weil sein Vater mit der Justiz kolla- cher“: „Das Ganze ist gesteuert.“ borierte. Die „cupola“ (Kuppel), das Füh-

Die Empörung in Italien wuchs. Wie nie CORBIS SYGMA rungsgremium selbst, habe die Or- zuvor mussten Polizei und Militär – unter Angeklagter Riina (1993) der gegeben, uraltes Mafia-Recht dem Druck eines aufgebrachten Bürger- Kleine und große „Pentiti“ packten aus zu brechen: „Redet Leute, erzählt tums – gegen die Mafia vorgehen. Klamm- alles!“ heimliche Partnerschaft zwischen den Pa- Leben für die Mafiosi wurde härter, die Auch Sonderstaatsanwalt Vigna glaubt ten und Politikern wurde über Jahrzehnte Profite der Organisation gingen zurück. an solch einen Befehl. „Kollaboriert nur“, hingenommen, nun lösten sie Presseskan- Der Weltkonzern Mafia wankte. habe die Devise gelautet, „aber vergesst dale und Proteste in den Straßen aus. In dieser Lage, davon ist Orlando über- nicht die Interessen der Organisation Auch international wurde es für die zeugt, beschlossen die Aufsichtsräte des dabei.“ Cosa Nostra ungemütlich. Die mächtigen Mafia-Imperiums, dessen Firmen und Ockertöne dominieren im Herbst das si- „Familien“ in den USA wurden unruhig. Geschäfte sich zu dreistelligen Milliar- zilianische Hochland. Die Berge sind Verändert hatte sich zudem auch die densummen in Dollar addierten, dass et- schroff, die Wege schlecht. „Straße zwi- politische Großwetterlage: Mit dem Fall was passieren musste. Und etwas Seltsa- schen Kilometer 1 + 2 und Kilometer 11 + der Berliner Mauer endete der Kalte Krieg. mes geschah: Kleine und große Mafiosi 12,500 weggebrochen“, steht auf einem Der Antikommunismus gab als Legitima- packten aus. Die „omertà“, das Gesetz Schild. tion und Schutzschirm nicht mehr viel her. des Schweigens, heiliges Gut der siziliani- Corleone, 13000 Einwohner, ist ein leb- Mutige Staatsanwälte und Richter began- schen Unterwelt, galt auf einmal nicht haftes, hübsches Städtchen. In der verwin- nen an vielen Orten zu recherchieren. Das mehr. kelten Altstadt hocken alte Männer auf weißen Plastikstühlen am Mit Hilfe eines Compu- er abfährt. Oder dass er Anfang dieses Jah- Straßenrand. Die Jungen ters haben die Fahnder ein res schwer krank gewesen sei und sich in knattern auf Mopeds vor- Jugendbild künstlich geal- einer Kinderklinik in der Toskana habe be- bei. tert. Aber die wenigen, die handeln lassen. Giuseppe Cipriani, 37, ihn je zu Gesicht bekamen Oft wurde der Schattenmann im Laufe seit sechs Jahren Bürger- und darüber aussagten, be- der Jahrzehnte totgesagt. Etwa im April meister, wohnt im dritten haupten stets, er sehe völlig 1992, als seine Frau, Saveria Benedetta Stock eines Neubaus, ohne anders aus. Palazzolo, mit ihren Kindern plötzlich wie- Bewachung. „Ich bin keine Blond, untersetzt, der der in Corleone auftauchte. 20 Jahre zuvor Zielscheibe wie Orlando“, Blick etwas einfältig – so war sie ihrem Mann in den Untergrund ge- sagt er lächelnd, „ich bin war er damals, als er un- folgt. Nun schloss sie das alte, leer stehen- nicht so prominent.“ tertauchte. „Ungehobelt, de Haus Provenzanos wieder auf – und Er hat im Bett gelegen, ein Analphabet“, erinnert lebte fortan wie eine Witwe. fühlt sich schlapp und sich Buscetta an den jun- „Er ist tot“, flüsterten die Leute. Dabei elend, seit Wochen: „Der gen Mann. Den „Traktor“ rüstete er gerade auf, um die Spitze der Or-

Ärger“. Kein Wunder, ein CABRUZZO AGENZIA nannten sie ihn, weil er un- ganisation zu übernehmen. erklärter Anti-Mafioso als Provenzano (Phantombild) beirrbar, kraftvoll und bru- Am 30. Juni 1992 wurde Totò Riina ver- Bürgermeister in Corleone tal seinen Weg nahm – über pfiffen. Luciano Liggio – im Knast, aber – brutaler kann ein Gegensatz kaum sein. alles hinweg. Heute, hat Cipriani gehört, damals „unbestrittenes Oberhaupt von Denn hier ist die Mafia heute so stark wie spreche Provenzano vier, fünf Sprachen. Er Corleones Mafia-Society“ (Buscetta) – eh und je – das Zentrum des Cosa-Nostra- habe „enorme Management-Fähigkeiten“, habe den Daumen gesenkt, und mit ihm Reiches. steht in einem Polizei-Dossier. Aber viel alle Clan-Chefs, hieß es. Riina ging ins Ge- Von hier verschwand, in einer Voll- mehr weiß man nicht über den vermutli- fängnis, Provenzano übernahm den Laden mondnacht im Herbst 1963, ein damals ge- chen „Boss der Bosse“. Eine Task-Force und krempelte ihn um. rade 30-jähriger Nachwuchs-Mafioso: Ber- mit 300 Leuten jagt ihn seit vielen Jahren. Er ist der Modernisierer im erstarrten nardo Provenzano. Fast drei Jahrzehnte Immer wieder waren die Ermittler ihm, Traditionsverein der sizilianischen Unter- später wird er „Schöpfer, Urheber, Füh- wie sie glaubten, ganz nahe gekommen – welt: Effizienter, lukrativer denn je soll das rer“, so Cipriani, einer neuen Mafia. er entwischte ihnen jedes Mal. Verbrechen werden. Und er weiß, wo neue Provenzano, 1933 in Corleone geboren, Bunte Geschichten über ihn kursieren hoch profitable Geschäftsfelder liegen. ist ein Phantom. Ganz oben auf den Fahn- in Sizilien, aber niemand weiß, ob sie stim- Schon zu Beginn seiner Karriere, als sei- dungslisten der Polizei in aller Welt steht men. Dass er, wenn er reisen will, seinen ne Kollegen sich auf Heroin-Geschäfte er, aber als Einziger ohne echtes Foto. Seit Fahrer erst im letzten Moment einbestellt konzentrierten, zog es ihn in den kommu- 36 Jahren gibt es kein Bild von ihm. und der nie das Ziel der Tour kennt, wenn nalen Dienstleistungssektor, vorzugsweise spürt und beschlagnahmt. Immerhin sum- mierte sich dieser kleine Anteil auf weit über 500 Millionen Mark allein im vergan- genen Jahr. Die Mafia baut Straßen und Brücken, leitet Krankenhäuser, verwaltet Univer- sitäten – immer mit dem Ziel, versteht sich, ein Maximum an öffentlichen Geldern in die eigenen Kassen zu lenken. Bauträger, Handels- und Dienstleis- tungsgeschäfte sind für die Mafia aber nicht nur wegen der Profite wichtig. Die illega- len Einnahmen aus dem Drogen- und Waf- fenhandel, aus Prostitution und Zigaret- tenschmuggel können in den „sauberen“ Branchen „gewaschen“, also legalisiert werden. Täglich wird auf diese Weise welt- weit eine Milliarde US-Dollar gewechselt. Den relativ größten Anteil daran hat, schät- zen die Fahnder, Provenzanos neue Cosa Nostra.

T. GENTILE / SINTESI T. Die vermutlich besten Möglichkeiten, Hafen von Palermo: Die Ehrenmänner kämpfen mit äußerster Brutalität schmutziges Geld zu waschen, Milliarden dubioser Herkunft sauber zu investieren, zum Umweltschutz: In der westsiziliani- selbst wundern, haben der Polizei gesteckt: bieten dabei Banken- und Investmentge- schen Hafenstadt Trapani übernahm er, So will es „Zu Binnu“, im sizilianischen sellschaften. „Als Banker“ stellt sich Leo- über einen Strohmann, die komplette Müll- Unterwelt-Dialekt „Onkel Bernard“. luca Orlando denn auch „die heutigen Pa- abfuhr. Jedenfalls die Einnahmen. Für die Provenzano hat heute offenbar mehr ten“ vor. „Die sitzen womöglich in Frank- tatsächliche Müllbeseitigung musste viele Macht als jeder seiner Vorgänger. Nach ei- furt oder London“, glaubt er, und niemand Jahre lang ein einziger kleiner Lieferwagen ner Aufstellung der italienischen Sicher- käme bei ihnen auf die Idee, Mafia-Bosse für die ganze Stadt reichen. Und in Paler- heitsbehörden, von der römischen Zeitung vor sich zu haben. mo spülte auf ganz ähnliche Weise der „la Repubblica“ veröffentlicht, zählt seine Nur eines weiß Sonderstaatsanwalt Bau einer großen Kläranlage viel Geld in Gesellschaft aktuell 4791 „Ehrenmänner“, Piero Luigi Vigna wirklich über Provenza- seine Kassen. organisiert in 177 „Familien“. nos neue Cosa Nostra: Sie ist „reicher, in- Provenzano macht alles anders als seine Bei Bedarf können die hauptberuflichen ternationaler, technisch besser als je zu- Vorgänger. Seine Frau, mutmaßen die Gangster auf 414 nebenberufliche Spezialis- vor“. Fahnder, wird zur engen Vertrauten mit ten zurückgreifen: „Ingenieure, Kaufleute, Dagegen ist das Interesse, mit allen Mit- weit reichenden Kompetenzen bei der Lei- Unternehmer, Mediziner, Politiker, große teln gegen den kriminellen Kraken vorzu- tung diverser Bau- und Dienstleistungsfir- Händler, Funktionäre der Verwaltung, gehen, dramatisch geschwunden. Vor al- men aus dem Imperium ihres Mannes – lem das Ende der Andreotti-Prozesse hat ein Novum im sizilianisch-katholischen die Stimmung in Italien gekippt. Der DC- Mafia-Patriarchat. Politiker wurde nach dreieinhalbjährigen Auch die zwei Kinder leben gar nicht so, Verhandlungen von der Anklage der Mord- wie es früher unter Mafiosi üblich war: Anstiftung und der Mafia-Beihilfe freige- Der ältere Sohn leitet eine Versicherungs- sprochen. Nun sind die Italiener der un- agentur in Palermo, der jüngere studiert. endlichen Prozesse um bestechliche Politi- Selbst vor heiligen Traditionen schreckt ker und verschobene Millionen müde, da Provenzano nicht zurück. Für antiquiert sie am Ende, wie man sieht, doch zu nichts erklärt er das blutige Ritual bei der Auf- führen. nahme eines Neulings. „Man sticht ihm in Resigniert stellt auch Buscetta, der einst den Finger und lässt das Blut auf ein Hei- gefeierte Kronzeuge gegen die Mafia, fest, ligenbildchen tropfen. Das Bild wird dann „dass man in Italien um jeden Preis das Ka- in seine Hand gelegt und angezündet“, pitel Mafia schließen“ und den „Kampf

schildert Tommaso Buscetta die Mafia-Tau- AFP / DPA gegen die Mafia beenden“ wolle. Seine Me- fe. Mit dem brennenden Papier in den Hän- Andreotti nach Freispruch (im Oktober) moiren, die soeben veröffentlicht wurden, den bekennt sich der Adept alsdann auf Die Mafia hat gewonnen tragen den bezeichnenden Titel: „Die Ma- ewig zur Cosa Nostra: „Mein Fleisch möge fia hat gewonnen“. verbrennen wie dieses Heiligenbildchen, Rechtsanwälte, Notare“. Dazu kommen Mit überwältigender Mehrheit änder- wenn ich nicht in Treue fest zu meinem „mindestens 20000 Helfer“ im Ausland, te jetzt das römische Parlament einen Schwur stehe.“ schätzt die Anti-Mafia-Sondereinheit DIA. Verfassungsartikel, der die Rechte und Nach innen fügt Provenzano die Orga- Entsprechend sind die Umsätze und Ein- Pflichten für Staatsanwälte und Richter nisation noch fester – wenn nötig, wie eh nahmen. Die kriminellen Organisationen regelt. Unter der Überschrift „Der gerech- und je, mit blutiger Gewalt, nach außen seien heute so vermögend, heißt es in einer te Prozess“ engt das neue Gesetz den verschwindet Cosa Nostra nach und nach. Untersuchung des italienischen Handels- Spielraum der Fahnder und Ankläger so Keine Bomben gegen Staatsanwälte verbandes, „dass die ,Gelben Seiten‘ (der ein, dass der Mailänder Generalstaatsan- mehr, keine Kugeln für Journalisten. Zwei Branchen-Telefonbücher) nicht reichen walt Gerardo D’Ambrosio lakonisch fest- Jahre Body-Count null in Palermo, seit No- würden, deren Reichtümer aufzulisten“. stellt: „Das ist das Ende der Ermittlungen vember 1997: Das hat es dort seit 100 Jah- Allenfalls vier bis fünf Prozent des Mafia- gegen die Korruption und gegen die ren nicht gegeben. Kleine Mafiosi, die sich Besitzes werden von den Behörden aufge- Mafia.“ Hans-Jürgen Schlamp

220 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Werbeseite Ausland

Den meisten neuen russischen Einwoh- nern fiel es schwer, sich in den ostpreußi- KALININGRAD schen Städten mit der gotischen Architek- tur und zwischen den Backsteinhäusern mit den roten Ziegeldächern einzuleben. „Es war die reine Hölle“ Das Land war „der russischen Seele fremd und der russischen Wahrnehmung unge- Als die Deutschen bei Kriegsende vertrieben wohnt“, protokollieren die Autoren eines Buches, in dem jetzt erstmals russische waren, kamen russische Siedler nach Ostpreußen. Zeitzeugen zu Wort kommen*. Es sind Jetzt berichten sie, wie es damals war. Menschen, schreibt der Herausgeber Eck- hard Matthes, „die sich so über Jahrzehn- lles war zerstört, die Häuser be- Die Sowjetregierung ließ das Beuteland te nicht äußern durften“ und nie zuvor schädigt, auf den Schienen standen neu besiedeln. Am 27. August 1946 gelang- „Gegenstand individuell-biografischer, Atotal verbogene Waggons, überall te der erste organisierte Zug aus Brjansk historischer oder zeitgeschichtlicher Re- waren Draht-Igel zur Panzerabwehr und mit russischen Zuwanderern in das ver- flexion und Darstellung“ waren. Stahlbetonbefestigungen“, erinnert sich waiste Gebiet. 12024 Familien kamen in Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen der ehemalige Frontkämpfer Jurij Tregub, jenem Jahr in die fremde Provinz, 52906 sind in Deutschland amtlich dokumentiert, der mit seinen Eltern aus dem kasachi- Personen. Bis 1948 hatten 130000 Sowjet- literarisch verarbeitet und bis heute wach schen Alma-Ata zuzog. „Als wir in das ehe- bürger im nördlichen Ostpreußen eine gehalten. Doch das entvölkerte Land ent- malige Ostpreußen einreisten, begann die neue Heimat gefunden – tausende Deut- schwand hinter dem Eisernen Vorhang. Nur reine Hölle.“ Das Land war leer: Die meis- sche, die nicht geflüchtet oder deportiert spärlich sickerten Nachrichten über die ten der 1,2 Millionen Einwohner Nord-Ost- waren, starben an Terror, Unterernährung Herkunft der Neusiedler und deren Le- preußens hatten die Flucht ergriffen, zumal und Seuchen. Die restliche Bevölkerung bensbedingungen aus dem militärischen die Kunde vom Massaker der Roten Armee wurde ab Oktober 1947 in die sowjetische Sperrgebiet in den Westen. Erst jetzt, über in Nemmersdorf Horror verhieß. Zone Deutschlands abgeschoben. ein halbes Jahrhundert später, werden die Schicksale jener bekannt, die damals die verlassene Region einnahmen. Autoren des Buchs sind junge russische Wissenschaftler unter Leitung des Histori- kers Jurij Kostjaschow von der Universität Kaliningrad. Sie führten in den Jahren 1990/91 in 51 Orten des Kaliningrader Ge- biets 320 Interviews mit Neusiedlern und zeichneten sie auf 2500 Seiten auf. In ihrem nun in Deutschland erschiene- nen Werk fassen die Forscher die authen- tischen biografischen Aussagen zusammen. Sie beschreiben den Verlauf der Neu- besiedlung, vom Anwerben der Bevölke- rung bis zum Umzug, Einleben und Wie- deraufbau. Ein umfangreiches Kapitel ist der Beziehung der neuen russischen Ein- wohner zu den in ihrer Heimat verbliebe-

* Eckhard Matthes (Hrsg.): „Als Russe in Ostpreußen – SÜDD. BILDERDIENST Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Kö- Aus Ostpreußen flüchtende Deutsche 1944, nachrückende Russen 1945 (u.) nigsberg / Kaliningrad nach 1945“. Edition Tertium, Ost- „Es war niemand zum Arbeiten da“ fildern 1999; 504 Seiten; 59,80 Mark.

Russ- Schweden Lettland land Neu ange- Litauen siedelte Sowjetbürger Belo- von 1945 bis 1953 Polen russland

210 000 Ostsee

Memel Slawsk Baltijsk Kaliningrad (Heinrichswalde) (Pillau) (Königsberg) regel Nemmers- P dorf Gebiet Kaliningrad russische Exklave Gestorbene 130 000* und deportierte Deutsche 50 km von April 1945 bis *geschätzt Oktober 1948 EDITION TERTIUM

224 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite Kohlköpfe waren riesig, es gab sehr viele Gurken.“ Beim Pflügen entdeckten die Neusiedler tönerne Roh- re, zogen sie heraus und war- fen sie in Brunnen. So zer- störten sie das Drainage-Sys- tem, das Ostpreußen seinen Wohlstand beschert hatte. Dämme, Kanäle, Pumpstatio- nen verrotteten, die einst so ertragreichen Felder der „Kornkammer des Reichs“ versumpften – bis heute. Gleichzeitig mit dem Zu- zug der Russen in das nun nach dem Altbolschewiken Kalinin benannte Gebiet begann die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung.

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN „Sie wollten nicht wegfahren. Zerstörtes Königsberg 1944 Sie standen mit ihren Bün- „Wie schön vor dem Krieg“ deln an der Haltestelle, war- teten auf die Wagen, einige wein- nen Deutschen gewidmet. Zusätzlich do- ten“, beschreibt Galina Roman, da- kumentieren alte Fotos, Zeitungsnotizen mals acht Jahre alt, den Bevölke- und Befehle der Gebietsverwaltung die rungsaustausch. Der zurückgelasse- Nachkriegsepisode. ne Besitz – Schränke, Stühle, Tische Aus den Berichten der allmählich aus- – musste in Schuppen gebracht wer- sterbenden Augenzeugen wird deutlich, den, so Alexander Puschkarjow aus dass sie bei ihrer Ankunft trotz der ge- Slawsk (Heinrichswalde): „Wenn die

waltigen Zerstörungen von Königsberg A. SAREMBO Neusiedler kamen, sollten die Möbel beeindruckt waren. Anna Ryschowa, die Wieder aufgebauter Dom in Kaliningrad 1999 für sie bereitstehen. Alles Quatsch, 1947 als 17-Jährige in die einstige preu- „Konfliktverdächtige Thematik“ alles ist kaputtgegangen. Die ßische Krönungsstadt kam, faszinierte Straßen waren zerstört, und bis die die „Mächtigkeit der Gebäude, ihre Fes- Prozent gesenkt und für nicht arbeitende Möbel ins Lager kamen, waren nur noch tigkeit und Unbezwingbarkeit“. Doch bei Familienmitglieder ganz gestrichen. Noch Bretter übrig.“ Regenwetter, erinnert sie sich, schlug ihr fehlte das Wohnungsamt, das generell in Tatjana Mulinkowa arbeitete in einer „die Enge der Straßen auf das Gemüt“. der Sowjetunion ein Obdach zuwies. Ana- Schneiderei in Baltijsk (Pillau) mit deut- Bei ihr wuchs „eine Empfindung für die tolij Jarzew berichtet, wie er zwischen fünf schen Frauen zusammen. Sie erzählt aus zeitliche Begrenzung unserer Anwesen- Wohnungen in fünf verschiedenen Ort- dem Jahre 1948: „Als wir eines Tages zur heit, und wir fühlten, dass wir hier Frem- schaften wählen konnte. „In der Ortschaft Arbeit kamen, waren die Deutschen weg, de sind“. Dobrino (Nautzken) hat man uns sofort es war niemand zum Arbeiten da. Inner- Anna Kopylowa befand: „Noch an den ein Haus gegeben“, erzählt er. „Wenn du in halb einer Nacht hatte man sie abtrans- Gebäuderesten konnte man sehen, wie diesem Haus nicht wohnen willst“, hörte portiert – wie weggeblasen.“ schön die Stadt vor dem Krieg gewesen er, „such dir in der nächsten Ortschaft ein Die Beziehung der Neusiedler zu den war … Dass hier einst Menschen gelebt anderes.“ Letzten der angestammten Bevölkerung haben, die die Natur, die Schönheit und Nicht überall standen Wohnungen leer. bleibt eine „konfliktverdächtige Thema- behagliche Wohnlichkeit schätzten.“ In einigen Gebäuden hausten Deutsche. tik“. Damit mussten die Autoren, so der Der Neubeginn in dem hinzugewonne- Weil die Lehrerin Manefa Schewtschenko Lüneburger Osteuropa-Historiker Matthes, nen westlichsten Territorium der So- einen langen Arbeitsweg hatte, erhielt sie „unweigerlich Tabugrenzen berühren“, die wjetunion erschien wie eine Verheißung eine „Einzugsberechtigung für jedes be- in der Sowjetunion jahrzehntelang nicht des gelobten Landes: Staatliche Werber liebige Haus im Stadtteil der Schule“. Nach angetastet werden durften. reisten kreuz und quer durch Zentral- langer Suche fand sie ein „Haus nach un- Entsprechend kritisch reagierten russi- russland, die Ukraine, Belorussland und serem Geschmack“. Die Verwaltung for- sche Verlage und Behörden bei der Vorla- Litauen, sie versuchten Menschen mit al- derte die vier deutschen Bewohner auf, in- ge des Buch-Manuskripts. Noch immer lerlei Versprechungen zur Umsiedlung zu nerhalb von 24 Stunden auszuziehen. können Kaliningrader über ihre eigenen bewegen. Das Leben auf dem Lande war gefähr- Wurzeln in der Landschaft nichts lesen. Mit den in Aussicht gestellten Privilegien lich, der Boden mit Bunkern, Schützen- Aber sie interessieren sich längst für die hofften Verzweifelte, der Nachkriegsarmut gräben, Blindgängern und Minen durch- historischen Ursprünge – sie suchen in den zu entrinnen. Familienväter empfingen als setzt. „Wenn wir mähten, dann gingen wir Trümmern nach der deutschen Vergangen- Begrüßungsgeld 1000 Rubel – etwa zwei erst mit dem Rechen durch das Gras, ob heit. Der Königsberger Dom mit dem Kant- Jahreslöhne – sowie 300 Rubel für jedes Fa- nicht irgendwo noch Munition lag“, be- Grab wurde mit deutschen Spendengel- milienmitglied und ein Darlehen von 3000 richtet Jekaterina Morgunowa. „Die Erde dern wieder aufgebaut, und die ostpreußi- Rubel oder eine Kuh. Als weitere Starthil- war fruchtbar“, lautet die angenehme Re- sche Dichterin Agnes Miegel erlebt eine fe erhielt die Sippe kostenlosen Transfer miniszenz der Larissa Amelina, die aus Renaissance: Sie beschreibt, so meint Sem und ein Haus auf dem Land. dem Gebiet Orjol kam. „Ich habe Halme in Simkin, der russische Herausgeber ihrer Das Leben war äußerst hart. Im Sep- Erinnerung, die waren fingerdick, Toma- Werke, die Heimat auch der Russen, die tember 1946 wurde die Brotration um 30 ten reiften direkt auf den Stauden, die dort geboren sind. Carsten Voigt

226 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Werbeseite PA / DPA PA Premierminister Blair, Thronfolger Charles: Streit wie auf dem Billardtisch ausgetragen

GROSSBRITANNIEN Warten auf William den Letzten Die Briten lieben die Monarchie, haben aber den Glauben an ihren Bestand verloren: Diana vergessen, Camilla im Kommen, Charles im Konflikt mit Tony Blair. Der Prince of Wales rebelliert gegen Cool Britannia – und das Volk setzt auf seinen Sohn. Von Carlos Widmann

enn dem Gehör zu trauen ist, ken stets distanziert, wie durchpulst von Freilich würde kein offizielles Mund- wird His Royal Highness von den Selbstironie. Charles Windsor Mountbat- stück in der Downing Street oder dem W5000 Menschen im Saal zur Be- ten lächelt in Anführungszeichen. St. James’s Palace (wo der 21. Prince of grüßung ausgepfiffen. Hierauf ertönt recht Gerade jetzt, da „HRH“ eine Aufsehen Wales der letzten 698 Jahre derzeit in Lon- unfeierlich „God Save the Queen“: in erregende Privatfehde mit dem populären don residiert) je solche Verstimmungen zu- schrägem Rhythmus und mit schrillen Labour-Premier Tony Blair austrägt, regis- geben. Es gehört zu Englands ungeschrie- Trompetenstößen, als würden die Musiker triert sein Gefolge genau, welche Resonanz benen Gesetzen und Überlebensregeln, sich über die Landeshymne lustig machen. der ewige Thronanwärter in der Bevölke- dass Königshaus und Regierung niemals Und auch die nächste Nummer klingt rung noch findet. So auch während der Kritik aneinander üben. nicht gerade wie eine Verneigung vor Bri- „Schools Prom“ in der Royal Albert Hall: Darum wird der Streit zwischen Prinz tanniens künftigem Monarchen – zumal in Auf dem Höhepunkt des alljährlichen Mu- und Premier wie auf dem Billardtisch über der Woche, da dieser seinen 51. Geburtstag sikwettbewerbs, bei dem junge Menschen die Bande ausgetragen – durch Gesten und feiert. Auftrumpfendes Blech und dumpfe alle Strömungen der britischen Multikultur durch anonym bleibende Formulierer, die Beckenschläge verkünden das amerikani- lautstark zu Gehör bringen, wird der Herr giftige Bemerkungen fallen (oder auch sche Gleichheitsideal: in der etwas bejahr- im grauen Zweireiher wie ein Pop-Star um- gleich drucken) lassen. Die Streitgegen- ten „Fanfare für den gemeinen Mann“ jubelt. stände wirken läppisch, der ganze Disput (Frauen gab es 1942 noch nicht) des Kom- Das ist für ihn besonders darum ange- scheint sich um fast nichts zu drehen – um ponisten Aaron Copland. nehm, weil die Zeitungen wieder vom „ge- die Teilnahme an einer Fuchsjagd, die Ver- Charles, Fürst von Wales, hat mit diesem trübten Verhältnis zwischen Prinz und Re- weigerung einer chinesischen Mahlzeit, das Gaudium keine Probleme. Er interpretiert gierung“ berichten, gar von einem „wü- Eintreten gegen genmanipulierte „Fran- das Pfeifkonzert und das Gejohle korrekt tenden Tony Blair“ – wie es im „Guardian“ kenstein-Nahrung“ sowie die offen ausge- als jugendliche Beifallsbekundung. Und heißt –, der Charles zum „Showdown“ an drückte Geringschätzung des Prinzen für über die musikalischen Frotzeleien hört er, seinen Amtssitz Downing Street bestellt gewisse Hervorbringungen der modernen selber Cellospieler, amüsiert hinweg. habe: und dies, so weiß die linksliberale Architektur. Die Leuchtkraft seiner sichtlich gut Zeitung, weil der Thronfolger „die Auto- Die Fuchsjagd scheint der explosivs- durchbluteten Wangen strahlt herzwär- rität der Regierung unverblümt herausge- te Konfliktstoff zu sein. Dieser berittene mend von der königlichen Loge auf die fordert“ habe. Aus der Sicht Tony Blairs Zeitvertreib der alten bodenständigen Menschenmasse in Londons gigantischer unternehme Charles wieder einmal einen Oberschicht wurde schon vor hundert Albert Hall aus. Doch des Prinzen ver- „wohlberechneten Versuch, die öffentliche Jahren von Londoner Intellektuellen mit traute Gesten der Volksermunterung wir- Meinung zu manipulieren“. Sarkasmus überschüttet: „Die Unsäglichen

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Werbeseite Ausland sind wieder hinter den Un- Liebhaber einer restaurativen, genießbaren her“, lästerte historisierenden Bauweise hat Oscar Wilde. Heute sind es die Charles seit jeher die „Mon- Mitleids- und Neidinstinkte strositäten“ und den „Neo- der breiten städtischen Mehr- Brutalismus“ gegeißelt, die heiten, die sich gegen den teu- Britanniens Großstädten wäh- ren und schönen, für Ross, rend der letzten 50 Jahre von Reiter und Fuchs überaus ge- modernen Architekten zuge- fährlichen Sport wenden. fügt wurden. Tony Blair und New Labour Hat ein Thronfolger denn sind für alles Populäre und so- keinen Anspruch auf eine mit auch gegen den „Blut- persönliche Meinung, wenn er sport“, bei dem bisweilen ein damit nicht gerade in die Ta- Fuchs von der Hundemeute gespolitik eingreift? Charles’ zerrissen wird. (In der Regel ureigenste Mischung aus öko- jedoch wird das Raubtier vom logisch-sozialem Engagement blitzartigen Nackenbiss des und ausgeprägtem Wertekon- Leithundes erledigt – wenn es servatismus hat den Prinzen der hechelnden Meute nicht schon zu Margaret Thatchers sogar entkommt.) Gegen die Zeiten in Konflikt mit den Re- Bemühungen Tony Blairs und gierenden gebracht. Damals seiner Parteifreunde, dieses höhnte Maggies liebster Tory- Weidwerk per Gesetz zur Stre- Häuptling Norman Tebbitt cke zu bringen, sagte der über den Einsatz des Prinzen Prince of Wales kein einziges für die Armen und Obdachlo- Wort: Dafür nahm er seine sen: „Er zeigt so viel Sympa-

beiden Söhne William und REUTERS thie für Leute, die keinen Job Harry – die Lieblinge der Bou- Königin Elizabeth II., Sohn Charles: „Schatten des Zweifels“ haben, weil er selber gewisser- levardpresse und der Nation – maßen ein Arbeitsloser ist.“ vor einigen Wochen demonstrativ auf die dringlich vor den Gefahren genmanipu- Dafür haben nun die Konservativen Fuchsjagd mit. Der Aufschrei aller Gut- lierter Nahrungsmittel warnte – ganz gegen ihren Spaß daran, dass die führenden Köp- menschen war markerschütternd, und Blair den Kurs von New Labour. fe von Blairs Labour Party – die in dem soll einen Wutanfall bekommen haben. Und richtig gefreut hat es den Briten- Prinzen einst einen natürlichen Verbünde- Stummen und doch beredten Wider- Premier wohl auch nicht, als Charles seine ten gesehen hatten – jetzt unter seinen stand leistete Charles auch, als im Oktober private Meinung über das Lieblingsprojekt schnoddrigen Seitenhieben und provozie- der chinesische Machthaber Jiang Zemin in des Bauherrn Tony Blair durchsickern ließ renden Gesten zu leiden haben. Auf diese London empfangen und umworben wurde: – über den protzig-gewaltigen „Millennium wiederum reagieren die Linken betont un- Auf dem Staatsbankett, zu dem Jiang die Dome“, der zur Jahrhundertwende in Lon- zimperlich: Im „Observer“ wird hervorge- britische Prominenz in die chinesische Bot- don eröffnet werden soll: Nicht einmal wil- hoben, dass Charles durch seine Freude schaft geladen hatte, erschien der Thron- de Pferde, hat der Kronprinz wissen lassen, am Weidwerk indirekt in Berührung mit folger nicht – er konnte andere gesell- könnten ihn in diese Scheußlichkeit hin- ultrarechten Kreisen gekommen sei – als schaftliche Verpflichtungen nachweisen. einzerren. Überraschend war das nicht: Als ob Fuchsjagd und Faschismus irgendwie Aber das war gleichwohl ein Statement. zusammenhingen. Denn Charles ist mit dem Dalai Lama be- Was Charles so aufgekratzt und kämp- freundet, dessen Tibeter in China unter- ferisch stimmt, ist auf Anhieb nicht aus- drückt werden. Und angeblich wollte der zumachen. Er lehne sich innerlich gegen Prinz damit auch auf einen kleinen, amt- Tony Blairs Schaumschlägerei, gegen Cool liche Scheinheiligkeit verratenden Wider- Britannia auf, meinen Beobachter der spruch hinweisen: Royals. Außerdem kämpfe der Prince of Dieselbe britische Regierung, die den Wales schlicht um die Würde und den Be- greisen Ex-Diktator Augusto Pinochet seit stand der Monarchie – die er selbst noch einem Jahr im Hausarrest hält, umschmei- vor wenigen Jahren durch frivoles Fehl- chelte nun den „Schlächter vom Tianan- verhalten aufs Spiel gesetzt hatte. „Schat- men“ – den alten Apparatschik, der 1989 ten des Zweifels“ orakelt eine Schlagzeile die Demonstranten in Peking von Panzern des Massenblatts „Daily Mail“: Dem 933 niederwalzen ließ und heute noch Dis- Jahre alten Königshaus drohe am Beginn sidenten und Demokraten in den Ker- des 21. Jahrhunderts schwere Gefahr. ker wirft. Der dicke und lebenslustige Exil-König Charles redet mit den Pflanzen, be- Faruk aus Ägypten, der 1952 von national- haupten Spötter seit Jahren, weil der Prinz revolutionären Offizieren abgesetzt wurde, sich um den Umweltschutz bemüht und wagte später an der Côte d’Azur eine un- demonstrativ für den organischen Acker- kollegiale Prophezeiung: In 50 Jahren wer- bau eintritt. Gemeint ist aber auch, er sei de es auf der Welt nur noch fünf gekrönte ein weltfremder Sonderling mit zu viel po- Häupter geben – die vier Monarchen des litischem Engagement, somit für die Thron- Kartenspiels und die Königin von England. folge nicht geeignet. Von Tony Blair wie- Ein präziser Prophet war Faruk sicher

derum heißt es, er sei bleich vor Zorn über REX FEATURES nicht: Die westeuropäischen Königshäuser Prinz Charles geworden, als der im letzten Single Charles, Lebensgefährtin Camilla haben das vergangene Halbjahrhundert so Sommer in einem Zeitungsartikel ein- Das Prestige der Royals beschädigt weit gut überstanden. Eines, in Spanien,

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Werbeseite chie kaum erschüttern können. Eher schon hat Charles’ Verhältnis zur Gesellschafts- dame Camilla Parker Bowles, der Ehefrau eines geduldigen Freundes – vor allem aber die Art, wie diese Beziehung in den Me- dien breitgetreten wurde –, das Prestige der Royals beschädigt: Ein Handy-Zwiegespräch des Thronfol- gers mit seiner Maitresse war abgehört und aufgezeichnet worden, wodurch alle Welt eine der originellsten Liebeserklärungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts verneh- men durfte – den Wunsch des Prince of Wales, sich in Camilla Parker Bowles’ Tam- pon zu verwandeln. Diana, die „Prinzessin des Volkes“ (Tony Blair), ist schon 27 Monate nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten. Die Trauer- exzesse von damals hinterließen nichts als Schaum, der rasch im Sand versickerte. Dafür gewinnt Camilla – der einst von Diana verabscheute „Rottweiler“ – immer mehr Sympathien. Geradezu volksnah muten denn auch die Pläne für die Millen- niums-Neujahrsparty des Kronprinzen an: Charles und Camilla wollen zu Hause auf

PA / DPA PA dem Landsitz Highgrove bleiben und die Jagdfreund William: Blond, schlank, unverkrampft Nachbarschaft einladen. „The Sun“ jubelt schon jetzt: „Jeder bringt eine Flasche mit kam sogar noch dazu. Aber ob ausgerech- ferendum zu haben – die breite Mehrheit – und Camilla kocht!“ net die britische Monarchie am längsten findet die Frage überflüssig. Immerhin spricht die Hälfte der Bevöl- überdauern werde, ist nun doch sehr zur Kann ein Royal mehr verlangen? Doch kerung sich bereits dafür aus, dass Charles Frage geworden: so fest, wie es scheint, ist der britische die fast gleichaltrige Geliebte heiraten soll. Wie die „Daily Mail“ mit großem de- Volkswille nicht. Den Untertanen Ihrer Dass er zum König tauge, hält eine Mehr- moskopischem Aufwand ermitteln ließ und Majestät fehlt neuerdings der Glaube an heit der Briten zwar für wahrscheinlich – am Vorabend von Charles’ Geburtstag be- das Überleben jener Institution, zu deren aber die Frage, ob dann Camilla mit ihm kannt gab, haben die Royals – trotz man- Verteidigung sie noch patriotisch zusam- Königin sein solle, beantworten vier Fünf- cher Scheinsiege der jüngsten Zeit – par- menstehen. Weniger als ein Drittel der tel mit schroffem Nein. Es ist, als hätten es tout keinen Grund zum Optimismus. Erwachsenen meint, dass Britanniens die Briten irgendwie im Gefühl, dass aus Zwar ist richtig, dass die Queen unlängst Monarchie die nächsten 50 Jahre über- dem 21. Prince of Wales, möge er nun mit in Australien den ersten Wahlsieg ihres Le- stehen werde. Nahezu die Hälfte hat diese den Pflanzen reden oder nicht, niemals Kö- bens errungen hat, und das auch noch Hoffnung schon nicht mehr. nig Charles III. werden könne. kampflos: Die dortigen Republikaner, die In der überfüllten Royal Albert Hall Dass bei der Thronfolge eine Genera- Charles’ Mutter als nominelles Staats- liefert eine junge schwarze Ansagerin un- tion übersprungen wird, wäre so unge- oberhaupt loswerden und durch einen ein- bewusst Aufschluss über den Vertrauens- wöhnlich nicht – besonders in einem Herr- heimischen Präsidenten ersetzen lassen schwund. Eine Ghetto-Kindergruppe aus scherhaus mit langlebigen Frauen. Die wollten, erlitten bei der Volksabstimmung Sheffield tritt auf, alle möglichen lärm- höchst professionelle Queen ist 73 und eine bittere Niederlage; Elizabeth II. kann erzeugenden Gegenstände in den Hän- zeigt nicht die geringste Amtsmüdigkeit; ihre Untertanen auf der anderen Seite der den, um damit Musik zu machen. Als „In- ihre Mutter, die Queen Mum, wird dem- Welt zunächst einmal behalten. strumente“ kündigt die Ansagerin flott nächst 100. Nur, die meisten Australier hätten der „Anything that vibrates!“ an, um sich so- Blond, schlank, unverkrampft – und mit Queen durchaus einen eigenen Präsidenten gleich mit einem lustig-verschämten den vorteilhaften Gesichtszügen seiner vorgezogen – wenn sie ihn denn selber hät- „Ooops!“ auf den Mund zu schlagen. Zö- verunglückten Mutter Diana – betritt der ten wählen dürfen. Stattdessen war vorge- gernd bricht im Publikum prustendes 17-jährige Prinz William die Szene.Auf ihn sehen, den Queen-Ersatz vom Parlament Gelächter aus: Man versteht die Anspie- vor allem sind die Hoffnungen gerichtet, küren zu lassen. Das machte das Referen- lung auf „Vibrator“. In Gegenwart der Kö- wenn von einer Zukunft der Monarchie dum unattraktiv. Nächstes Mal siegen in nigin wäre niemand auf einen Sexual- die Rede ist. Tony Blair hat schon wissen Canberra garantiert die Republikaner – scherz verfallen. lassen, dass er sich für den jungen Mann, und die Nabelschnur zum Mutterland wird Vor dem Kronprinzen aber dürfen die sobald er das vornehme Eton hinter sich gekappt. Untertanen sich schon einiges herausneh- hat, ein Studium auf einer Business School Auch die Demoskopie hielt für das Ge- men. Die Auftraggeber der Meinungsum- wünscht. Soll Cool Britannia einen König burtstagskind Charles nur eine mäßig fro- frage, die den Pessimismus der britischen erhalten, der geschäftstüchtig ist? he Botschaft parat. Gewiss, nahezu drei Royalisten feststellten, datieren die Ent- Wenn aus dem schönen Prinzen der Viertel der Briten wünschen den Fortbe- zauberung der Königsfamilie auf das Jahr König William V. wird, bekäme die stand des Hauses Windsor (bis 1917 Sach- 1992: Auf die Zeit, da Prinz Charles und Monarchie – so sehen es viele Briten – sen-Coburg und Gotha) und der Monar- Prinzessin Diana ihre Ehekrise vor aller noch eine Bewährungschance. Sollte das chie, 69 Prozent würden in einer Volksab- Welt bloßlegten. Haus Windsor sie nicht zu nutzen wissen, stimmung für das Königreich optieren, und Nur hätten Dianas Seitensprünge im mag aus dem Hoffnungsträger durchaus nur ein Drittel wäre überhaupt für ein Re- Reitermilieu das Vertrauen in die Monar- William der Letzte werden. ™

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Münchner Trainer Lorant: Mit jedem Kraftspruch einen Krümel Wahrheit durchs Land verschickt

FUSSBALL Die Stimme des Stammtischs Die angebliche Beleidigung eines Schiedsrichters hat Werner Lorant in die Schlagzeilen gebracht. Die braucht den lärmenden Trainer von 1860 München als Antityp zu den Krawattenträgern. Diese Woche tritt seine Elf wieder beim Klassenfeind an, dem FC Bayern.

eulich, als in Mün- Dann fragte ein Journalist, chen der erste Schnee der auch des Mittags auf der Nfiel, saß Werner Lo- Eckbank sitzen darf, wie das rant mittags um zwölf im mit dem Job denn nun ei- „Löwenstüberl“ auf seiner gentlich sei. Werner Lorant Eckbank und blickte nach zog wieder Luft durch die draußen. „So ’n Pisswetter“, Schneidezähne und antwor- bellte der Mann, über den so tete: „Alles gesagt, is kein viel in der Zeitung steht, Thema, kein Thema jetzt, gar durch das Vereinslokal des kein Thema.“ Fußballclubs TSV 1860 Mün- Ein paar Tage später chen, und dann wühlte sich musste der Platzhirsch vom seine Zunge durchs Gebiss „Löwenstüberl“ nach Frank- auf der Suche nach den Res- furt am Main reisen, wo es ten von Rahmschnitzel und darum ging, sich etwas ge- Gurkensalat. nauer zur Sache einzulassen. „Christel, bring noch ’n Lorant war beim Sportge- Espresso“, sagte er, was im- richt des Deutschen Fußball- mer ein Signal dafür ist, dass Bundes wegen Schiedsrich- er jetzt seine Ruhe haben terbeleidigung angeklagt.

will. Aber dann ging die Tür FIRO „Ihr seid alles Würste, ihr auf, und ein Mann mit Münchner Stadtderby 1860 gegen Bayern: „Flüchtlinge arbeiten eh nix“ habt uns mal wieder be- dickem Bauch trat ein. Er schissen“, soll er während stellte sich als Vertreter des Fanclubs „Do- Werner Lorant zog dreimal Luft durch eines Spiels seiner Mannschaft in Lever- naulöwen 79“ vor, hatte einen Blumen- die Schneidezähne, wobei er mit der Zun- kusen gesagt haben. strauß mitgebracht und war in schwe- ge fletschende Laute produzierte, und sag- Damit stand er schon groß in der Zei- rer Sorge. In der Zeitung stand, dass Lo- te: „Kein Thema, is kein Thema, schöner tung. Aber als Lorant später sagte, er wer- rant, 51, angedroht hatte, seinen Job zu Strauß, kannst dir da hinten einen Platz su- de als Bundesligatrainer zurücktreten, falls schmeißen, und deswegen überreichte der chen und Kaffee trinken, is kein Thema.“ ihn das Gericht deswegen zu einer befris- Mann mit dem dicken Bauch nun sein Ge- Der Mann mit dem dicken Bauch entfern- teten Arbeitssperre im Stadion verurteilen binde und hielt einen knappen Vortrag: te sich, und Werner Lorant zog Silbergeld sollte, stand er noch viel größer in der Zei- „Bittschön, sein S’ so liab, bleiben S’ unsa aus der Tasche. „Christel, ’ne Schachtel tung. Und im Gerichtssaal war es vorigen Trainer.“ Marlboro.“ Dienstag dann so, als ging es nicht um Wer-

238 der spiegel 47/1999 FOTOS: BONGARTS ner Lorant und die Würste, sondern um ausgewachsener Juristen der Begriff „Würs- einmal – nicht mehr richtig in den Arsch tre- Egon Krenz und die Menschenrechte.Acht te“ ventiliert. „Hinsichtlich der Würste“, ten, leider Gottes. „Diese Generation ist so Kamerateams jagten den Angeklagten nach will beispielsweise der Chefankläger Horst versaut, die können sich nicht mal alleine dem Urteilsspruch durch die Gänge der Hilpert im Plädoyer festgehalten wissen, eine Wohnung suchen. Korrekt? Korrekt.“ Fußballzentrale. Mit dem Ergebnis, dass sei zweifelsfrei, „dass der Begriff Würste Aber Ansprüche stellen, ja? Stellen An- ein Blumentopf vom Sockel kippte. despektierlich ist.“ Als Werner Lorant zur sprüche „und spielen wie die Bratwürste, Dass Werner Lorant, das Schmuddelkind Urteilsverkündung erscheint, pfeift er eine diese Wahnsinnigen. Korrekt oder nicht der deutschen Fußball-Lehrer aus Welver Melodie in den Saal, richtet das Silber- korrekt?“ Also bitte, „das nervt mich jetzt in Westfalen, nun schon über Wochen re- kettchen am Hals und plumpst breitbeinig langsam, das nervt mich wirklich, das nervt publikweit Qualm verbreiten darf, deutet in seinen Stuhl. mich jetzt richtig langsam“. Der Redner auf einen anschwellenden Notstand des „Sperre für zwei Spiele und 25000 Mark legt eine rhetorische Pause ein. Er wischt Gewerbes hin. Deutschlands Fußball macht Geldstrafe.“ Schuldig. Der Verurteilte zieht sich mit der flachen Hand durchs Gesicht, Umsatz, Deutschlands Trainer tragen Kra- Luft zwischen die Schneidezähne und geht und als er damit fertig ist, wirkt es so, als watte, aber wo ist die Story? Seit kurzem eine rauchen. habe er soeben den letzten Gedanken ge- ist beim Fußball durchgehend killt.Was soll der Scheiß? „Kein The- geöffnet, montags bis sonntags, ge- ma. Christel, noch ’n Espresso.“ spielt wird immer, und die Män- Nun ist es ja nicht so, als sei das al- ner, die hinterher was dazu sagen les nur dummes Zeug. Lorant hält müssen, sagen es wie kleine sich bei 1860 München jetzt schon Unternehmenssprecher. Deshalb sieben Jahre im Amt; seine Mann- muss der Antitypus her. Zackig, schaft sprüht zwar selten Funken, knackig, prollig – Lorant. trifft aber in aller Regel ordentlich Lorant redet, als hätte er nach durchgetrimmt auf dem Spielfeld ein. der Pubertät die Kurve nicht mehr Laufen, treten, Schnauze halten – in gekriegt. Lorant wirbt nicht für diesem Dreieck hat er sich selbst als Boss-Anzüge und Energiegetränke, Fußballspieler bewegt und ist damit sondern für Kaugummis, mit denen immerhin auf 325 Bundesligaspiele man sich das Rauchen abgewöhnen gekommen. Für die Ewigkeit blieb soll; und wenn keine Kamera in der dabei allerdings nur jener Moment, Nähe ist, saugt er an einer Marl- in dem er seinem Gegenspieler Jupp

boro. Lorant trägt eine Frisur, die H. RAUCHENSTEINER Kapellmann derart ins Gemächte aussieht wie ein Sturzhelm. Und Präsidenten Beckenbauer, Wildmoser: „Es passt ois“ langte, dass der zur Behandlung in hätten sich die Dinge nicht so ge- die Ambulanz musste. fügt, dass er jeden Morgen im Mercedes mit Der Vereinspräsident Karl-Heinz Wild- Lorant war das älteste von sieben Kin- dem Kennzeichen M – WL 3333 auf seinen moser hat den Trainer erst mal für eine dern, sein Vater ging als Maurer auf den reservierten Parkplatz vor dem Vereins- ganze Woche nach Spanien geschickt, weil Bau, und als das eigene Haus gebaut wur- gelände vorfahren würde, um das Training er findet, dass der jetzt Ruhe braucht. Dass de, musste Lorant Steine schleppen, „bei zu leiten, dann käme er wahrscheinlich mit Lorant so nun ausgerechnet am kommen- sengender Hitze und strömendem Regen“. dem Moped, um beim Training zuzugucken. den Samstag im Stadtduell mit dem FC Die Koordinaten passen noch immer. Ob Etwas zu meckern fände sich immer. Bayern fehlt, ist schon ein Jammer. Bei sol- er vor dem Spiel eine Rede vor der Mann- „Ihr seid alles Würste“. Ja, okay, hat er chen Gelegenheiten war nämlich sonst im- schaft hält? „Gar nichts mach’ ich. Aufstel- gesagt, kein Thema, gar kein Thema. „Al- mer mächtig was los im „Löwenstüberl“, lung an die Wand, fertig.Wäre ja noch schö- les Würste auf dem Platz“, wiederholt er weil der Mann auf der Eckbank zu höchster ner. Bin ich ein Pfarrer oder was?“ mit ausgebreiteten Armen im Gerichtssaal. Form fand. Bayern ist gewissermaßen der Je verzweifelter die Kollegenschaft im Aber „beschissen?“ Lorant winkt mit dem Klassenfeind, wo sie – wie Lorant sagen Kampf gegen Machtfülle des spielenden Zeigefinger: „Mit beschissen war goa nix.“ würde – die Leute zuscheißen mit ihrem Personals um Hilfe winselt, desto mehr Achtundzwanzigmal wird am Dienstag Geld. Und wer zu viel Geld verdient, dem festigt sich die Marktposition des Münch- vergangener Woche vor einer Mannschaft kann man – so sieht das Werner Lorant nun ner Schreihalses. Einen Pressespiegel, den

der spiegel 47/1999 239 Sport sein Arbeitgeber täglich erstellen lässt, grammkarte, und heute hat er eine Ge- schleudert er ungelesen in den Papierkorb heimnummer, damit nicht jeder Hanswurst – „interessiert mich nicht“. Lorants Sicht bei ihm daheim anrufen kann. auf die Welt speist sich vorzugsweise aus Ganz unabhängig davon fühlt sich der den Sportseiten der „Bild“-Zeitung („steht Vorsteher mit dem leitenden Angestellten am meisten drin“), und deshalb ist die im Geiste verbunden. Jetzt zum Beispiel Mehrheit vollkommen einverstanden mit nur mal der Umgang mit den „Einkom- dem, was er von sich gibt. Als Stimme des mensmillionären, wissen S’, des ist ganz Stammtischs hat er sich unverzichtbar ge- schwer“. Also früher, als Wildmoser selbst macht, und mit jedem Kraftspruch ver- noch zur Schule ging, „da gab’s unter Um- schickt er so auch immer einen Krümel ständen scho mal drei Tatzn“. Tatzn? „A Wahrheit durchs Land. Tatzn is, wenn der Lehrer mit dem Rohr- Neulich erst war bei „Bild“ in München stock auf die ausgestreckte Hand mal kurz wieder der Teufel los, weil Leser aus ganz a bisserl draufklopft.“ Geht ja heute nicht Deutschland mit Anrufen nervten. Lorant mehr. „Alles lockerer geworden des Gan- hatte in einem Interview ein paar grundsätz- ze.“ Aber nicht unbedingt besser. Deshalb liche Thesen zum Fußball erarbeitet, und braucht er Lorant. Zum einen. die Leute meinten, das habe schon lange mal gesagt werden müssen. Lorants Botschaft im Kern war die: alles Müll. Beckenbauer? Große Wor- te, nix dahinter. Champions League? „Wenn ich das schon höre.“ Ausländer: „Wir haben die deutsche Fußball-Mentalität verkauft.“ Nachwuchs? Fern- sehen? Zum Davonrennen. Ja und? Die Sprache des Fußballs, sagt Lorant, ist eine

deutliche Sprache, „war immer / S.A.M. S. MATZKE so, wird immer so sein. Kor- Pressegespräch im „Löwenstüberl“: „Gar kein Thema“ rekt? Korrekt“. Viel Gebrüll und wenig Hintersinn, da macht ihm keiner Zum anderen, weil der auch ideologisch was vor. „Ich hab’ immer Recht“, und seine Funktion hat. 1860 hütet seinen Ruf manchmal tut die Wahrheit eben weh. Dass als Arbeiterverein, weil die Sympathiewer- er einmal über die Zeitung dem Schieds- te für Widerständler gegen die Geldsäcke richter Dardenne ausrichten ließ, der kön- vom FC Bayern von jeher konstant sind. ne froh sein, dass er ihm keine gelangt Arbeiterverein? Aber klar, findet Werner habe, war möglicherweise nicht ganz kor- Lorant.Warum? „Weil wir uns alles hart er- rekt, aber was ist denn schon passiert? arbeiten müssen.“ Etwas präziser war da „Hab’ ich meine Strafe gekriegt. Hab’ ich schon einmal Wildmoser, als er gegen den mich aufgeregt? Nein. Bezahlt, akzeptiert, Plan protestierte, Heimspiele im Olympia- fertig. Gar kein Thema.“ stadion auf den Freitagabend zu legen.War- Klar ist, dass so einer bei ernst zu neh- um? Na, weil die Fans von 1860 freitags lan- menden Arbeitgebern keinen Job mehr fin- ge arbeiten müssten, im Gegensatz zu denen den dürfte. Umgekehrt gilt aber auch: Wer des FC Bayern: „Von denen kommen 70 sonst außer Lorant könnte leisten, was Prozent aus Siebenbürgen. Bei den Flücht- Lorant bei 1860 München leistet? lingen ist es doch eh wurscht, die arbeiten Käme – beispielsweise – einer dieser an- sowieso nix.“ Jo mei, war halt ein Scherz. ständig frisierten Krawattenträger daher, Denn in Wirklichkeit sieht die Sache ja gäbe es vermutlich schon den ersten Ärger längst anders aus. In Wirklichkeit hat 1860 mit dem Präsidenten. Der Großgastronom eine schnieke Clubzentrale mit Marmor Karl-Heinz Wildmoser, allein von seiner und Halogenstrahlern und leistet sich Spie- Erscheinung her der Schrecken jedes Tür- ler wie Thomas Häßler für viele Millionen stehers, schiebt immer dann, wenn es Är- Mark. In Wirklichkeit ist 1860 das Aldi-Bay- ger gibt, seinen Bauch vor und sagt: „Es ern. 1860 hat Theo Waigel zum Fan, Bayern passt ois.“ hat Edmund Stoiber. Der Unterschied sind Das ist zunächst mal ganz persönlich zu Lorant und das „Löwenstüberl“. verstehen. Es gab nämlich mal eine Zeit, da Zwei Spiele Sperre plus 25 000 Mark. war Wildmoser, der den Beruf des Metz- Und? Schmeißt er jetzt hin? Hat er doch gers erlernte, in München rein gesell- längst gesagt, auf seiner Eckbank, wo er schaftlich ein Niemand. Wohin der Weg immer sitzt und Zigaretten in einen führen könnte, ahnte er, als Franz Josef Aschenbecher drückt, auf dem das Wort Strauß in eine seiner Gaststätten einkehr- „Stammtisch“ steht. „Is kein Thema.“ Hat te und mit „Servus, Wirt, wie geht’s?“ er bloß mal so gesagt. War ja auch groß grüßte. Dann kam Werner Lorant, 1860 in der Zeitung. War aber nie ein The- stieg in die Bundesliga auf,Wildmoser wur- ma. Wo soll er auch sonst hin? Korrekt? de ein Fußballpräsident mit eigener Auto- Korrekt. Matthias Geyer

240 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite DPA Fernsehware Herrentennis*: Irgendwo zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“

trifft, rangieren beide, so eine Studie des TENNIS Kölner Instituts Sport + Markt, auf dem Niveau der Schwimmerin Sandra Völker. Wie groß die Sehnsucht der Zuschauer „Nicht mehr sexy“ nach Stars und nach Show noch immer ist, wird dieser Tage offenbar: Nichts erregt Leere Hallen, schwache TV-Quoten, abwandernde Sponsoren: die Republik mehr als die Liaison zwischen der aktuellen Nummer eins der Männer Die Krise bei den Herren-Turnieren ist größer als die Strahlkraft und der ehemaligen Nummer eins im Frau- des deutsch-amerikanischen Mixed Steffi Graf/Andre Agassi. entennis. Als Steffi Graf neulich beim Hallenturnier in Stuttgart während eines er Mann besitzt einen goldenen Kafelnikows Konkurrenten beim Saison- Matches von Andre Agassi in der Loge Arm. 20 Profi-Turniere hat Jewgenij finale noch weniger Star-Appeal: Nicolas Platz nahm, geriet das Publikum in Wal- DKafelnikow schon gewonnen, mehr Lapentti aus Ecuador etwa oder Todd Mar- lung wie bei keinem Ballwechsel. als 14 Millionen Dollar Preisgeld verein- tin aus den Vereinigten Staaten oder Tho- Tags zuvor war die Blonde gar in Tennis- nahmt. Er könnte glücklich sein. mas Enqvist aus Schweden – Gesichter, die klamotten auf dem verwaisten Center Bei der Arbeit vermittelt der Russe indes niemand kennt und Namen, mit denen Court erschienen und hatte mit Agassi ein den Eindruck, auf dem Tennisplatz zu ste- kaum einer etwas anfangen kann. paar leichte Bälle gespielt. Die spontane hen sei ähnlich lausig wie an einem Hoch- Über zwei Jahrzehnte wuchs der Tennis- Übungseinheit, um die der Turnierdirektor ofen zu schuften. „Spielen fast jede Wo- circuit zu einem florierenden Wirtschafts- Markus Günthardt die Superpromis in- che“, quetscht er gequält heraus, „Spiele zweig, weil es Helden gab, die sich Duelle ständig gebeten hatte, geriet zum Höhe- verlieren, Spiele gewinnen“ – das Profi- lieferten: Björn Borg und Jimmy Connors, punkt der gesamten Turnierwoche. Denn Leben, will er sagen, sei eine Geschichte, John McEnroe und Ivan Lendl, Boris das deutsch-amerikanische Mixed, weiß die sich laufend wiederhole.Was gebe es da Becker und Stefan Edberg. Doch je pro- Boris Becker, „ist das Heißeste, was es der- schon mitzuteilen? fessioneller die Branche wurde, desto zeit auf diesem Planeten gibt“. Auch im Sport gibt es notorische Jasager stromlinienförmiger gerieten die Haupt- Doch auch das Zusammenspiel von und notorische Neinsager. Kafelnikow ist darsteller. Herzbube mit Herzdame ändert nichts dar- ein notorischer Nichtssager. Außer er hat Das Publikum ist gelangweilt. In an, dass Herrentennis bei Fernsehsendern mal wieder eine sechsstellige Prämie kas- Deutschland, dank Becker mehr als eine längst als Quotenkiller gilt.Verfolgten 1996 siert. Dann kommt es vor, dass er noch auf Dekade lang die Wirtschaftswunderzone noch 5,27 Millionen Deutsche das Endspiel dem Center Court sein Handy auspackt, des Herrentennis, ist das Desinteresse mitt- in Stuttgart, schauten in diesem Herbst nur die Nummer seiner Frau wählt und ans fer- lerweile so greifbar wie nirgendwo anders. noch 1,4 Millionen hin. Beim WM-Finale ne Schwarze Meer berichtet: „Wir haben Klaus-Dieter Heldmann, Turnierveranstal- zwischen den Spaniern Carlos Moya und wieder einen schönen Scheck.“ ter in Stuttgart, verteilte Ende Oktober Alex Corretja guckten voriges Jahr gar nur Der Weltranglisten-Zweite aus Sotschi Freikarten – viele Plätze blieben trotzdem 500000 Fans zu. Kurz vor dem Matchball wird diese Woche in Deutschland zu be- leer. Trocken konstatiert er: „Tennis hat blendete das ZDF aus. Jan Hendrikx, Ge- gutachten sein: Und dass er von den Ver- zurzeit den Stellenwert, den es verdient.“ schäftsführer des Sponsors Eurocard, anstaltern der ATP-Weltmeisterschaft in Selbst der jüngste Aufstieg zweier Pro- meint: „Tennis ist nicht mehr sexy.“ Hannover als Top Act angepriesen wird, fis in die Weltklasse stößt hier zu Lande auf Als Handelsware rangiert das Spiel für sagt viel aus über den Zustand des inter- Gleichgültigkeit. Nicolas Kiefer gilt als die TV-Verantwortlichen folglich irgendwo nationalen Herrentennis. Denn vom Ame- schwer vermittelbar, weil er chronisch zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“. rikaner Andre Agassi abgesehen, umweht schlecht gelaunt ist, und Thomas Haas gilt Zwar haben sich die Öffentlich-Rechtlichen als schwer vermittelbar, weil er chronisch erst Ende September den Daviscup für drei * Marcelo Rios bei den U. S. Open 1998 in New York. gut gelaunt ist. Was ihre Beliebtheit be- Jahre gesichert. Doch den Zeitpunkt des

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Werbeseite Sport ersten Aufschlags, das traliers Mark Philippoussis. schreibt der Kontrakt fest, Er wollte 100000 Dollar im bestimmen allein die TV-Ma- voraus – schließlich sei er cher. „Wir denken da an elf Weltranglisten-Neunter. Uhr“, erläutert Sportkoor- Jewgenij Kafelnikow kor- dinator Peter Jensen emo- rigierte, nachdem er zu tionslos. Die Tennismatches Jahresbeginn die Australian sollen nicht mal in die Nähe Open gewonnen hatte, seine der Prime Time geraten. Forderung für ein Turnier in „Wenn das Vorabendpro- Prag um 100000 auf 175000 gramm beginnt“, sagt der Dollar nach oben. NDR-Mann, „müssen die Die Veranstalter in Tsche- Spiele durch sein.“ chien, ihren Sponsoren ge- Die Quoten-Schwindsucht genüber zu einem namhaf- schreckt auch die Sponsoren ten Teilnehmerfeld ver- ab. Eurocard, das seit 1991 als pflichtet, schlugen ein. Doch Patron des Hallenturniers in als sich Kafelnikow in der

Stuttgart jährlich 5,5 Millio- AP ersten Runde widerstands- nen Mark beisteuert, steht Traumpaar Agassi, Graf (in Stuttgart): „Das Heißeste auf dem Planeten“ los aus dem Wettbewerb ver- vor dem Absprung. „Selbst abschiedete, verweigerte der bei der Übertragung lateinamerikanischer meisten Vorschläge sind so krude wie hilf- Turnierdirektor den Scheck: „Wenn man Tänze“, nörgelt Geschäftsführer Hendrikx, los: mal sollen die Bälle schwerer gemacht eine Putzfrau anheuert, dann muss sie das „ist die Quote besser.“ werden, mal der zweite Aufschlag abge- Zimmer säubern – sonst gibt es kein Geld.“ Vorvergangene Woche zog Opel Konse- schafft oder die Zählweise vereinfacht. Der lustlose Russe hat seinen Ruf als quenzen. Der Autokonzern, der in den Beschlossen ist die Reform der Welt- Raffke weg, seitdem er Anfang dieses Jah- letzten 15 Jahren wie wenige Firmen in rangliste: Vom 1. Januar 2000 an starten alle res sechsmal in Folge auf wundersame Wei- Tennis investiert hat, kündigte seinen Aus- Profis mit null Punkten – statt mit einem se im Auftaktspiel scheiterte. Der Basler stieg an. Sämtliche Verträge, darunter auch Stand, der sich aus den Resultaten der ver- Turnierleiter Roger Brennwald warnt vor mit dem deutschen Daviscup-Team, wer- gangenen zwölf Monate errechnet. Die Än- Kafelnikow wie die Polizei vor Falschspie- den nicht mehr verlängert. „Wir konzen- derung dürfte jedoch nur kosmetische Wir- lern: „Er ist das Musterbeispiel für einen, trieren uns“, so Opel-Sprecher Dieter kung haben, solange die Veranstalter den dem man kein Antrittsgeld zahlen sollte.“ Meinhold, „noch mehr auf Fußball.“ Spielern die Vorhände küssen – etwa in- Dabei passen die Ansprüche der Akteu- Turniere, die wegen des Booms kreiert dem sie „appearance money“ zahlen, eine re zum System – bei den Turnieren werden wurden, finden jetzt ihr natürliches Ende. garantierte Gage fürs bloße Erscheinen. die Top-Profis wie Staatsgäste umschwirrt. So steht der 1990 gegründete Grand Slam „Die Herrschaften“, sagt der St. Pölte- Zum Verwöhnprogramm gehört in Monaco Cup seit kurzem ohne Sponsoren da – Un- ner Turnierdirektor Hans Holzer, „stecken die Offerte, sich steuergünstig im Fürsten- ternehmen wie Coca-Cola oder Beck’s ha- in der Regel zwischen 100000 bis 250000 tum niederzulassen; in Palma de Mallorca ben das Interesse verloren. Die Daseins- Dollar ein.“ Der Weltranglisten-Erste darf wurde bei der Spielerparty eine Harley berechtigung der einwöchigen Veranstal- noch einmal mit einem Zuschlag von 80000 Davidson verlost; und in Halle am Teuto- tung bestand in dem horrenden Preisgeld, Dollar rechnen. Selbst bei den höher do- burger Wald stehen eine Woche lang Tag das weltweit unerreicht blieb: 6,7 Millionen tierten Super-9-Turnieren, bei denen der und Nacht 20 Hostessen parat, „hübsche Dollar. Nächstes Jahr soll das Ereignis mit Weltverband Antrittsgagen verbietet, kas- Mädels, die die Spieler ein bisschen ver- der Weltmeisterschaft verschmolzen wer- sieren die Spieler kräftig ab. Das Startgeld, wöhnen und“, wie Turniersprecher Frank den – die findet dann allerdings aus markt- berichtet ein Branchenkenner, wird dann Hofen es formuliert, „für das Wohlfühl- wirtschaftlichen Gründen nicht mehr in mit einem „Promotion-Vertrag“ verschlei- klima sorgen“. Spiel, Satz und Room- Hannover statt, sondern in Lissabon. ert: Der Profi stellt sich beispielsweise für Service. Fachkundige Köpfe streiten über Wege Fotoaufnahmen zur Verfügung. Neidisch schauen die Vermarkter auf das aus der Baisse. Während Ion Tiriac Tennis Zu selten regt sich Widerstand gegen die Damentennis, das bis vor drei Jahren in ei- immer noch für die fernsehtauglichste Abzockerei. So verzichtete Niki Pilic, der ner schweren Rezession steckte. Dann er- Sportart hält, fordert RTL-Chefredakteur Chef des Sandplatzturniers in München, schien eine neue Spielerinnen-Generation Hans Mahr „Regeländerungen“. Doch die dieses Jahr auf ein Engagement des Aus- auf der Bühne – und die Manager der Tur- nierserie erklärten ihnen, es sei gut, dem 17 16,8% Marktanteil Publikum etwas von sich preiszugeben. Seither sind die Rollen geschäftsför- 16 15,5% dernd verteilt: Die Weltranglisten-Erste Weniger am Netz Martina Hingis gibt das Biest, die Russin 15 Herrentennis Anna Kurnikowa die Kindfrau, die Fran- bei ARD und ZDF zösin Mary Pierce die Diva. Und, Höhe- 14 Marktanteil in Prozent, punkt der Show, die Williams-Schwestern Zuschauer in Millionen, Jahresdurchschnitt Venus und Serena geben die Ghetto-Kids. 13 Zuschauer Die Top-Akteure im Herrentennis ha- 1,2 1,2 0,8 0,7 0,6 ben kein Image; sie haben nicht mal Spitz- 12 namen, die Respekt bekunden. Borg war „Ice Borg“. McEnroe war „Big Mac“. Und 11,8% 11 10,5% Becker war „Der Rote Baron“. 10,3% Kafelnikow dagegen wird zuweilen „Ka- Quelle: ARD, ZDF bis 31. laschnikow“ genannt. Er hat sich den un- 10 Okt. DPA galanten Spitznamen verbeten. 1995 1996 1997 1998 1999 Profi Kafelnikow Maik Grossekathöfer, Michael Wulzinger

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Werbeseite Prisma Wissenschaft•Technik

ELEKTRONIK Rock aus dem Füller r sieht aus wie ein fetter EFüllhalter, passt in jede Jackentasche und macht Musik: Letzte Woche stellte die Firma Sony den „Vaio Music Clip“ vor. In dem rund 12 Zentimeter langen und zwei Zentimeter dicken Stab verbirgt sich ein komplettes Abspielgerät für Mu- sikdateien aus dem Internet. Ge- füttert wird das Gerät per Kabel

MPI FÜR ASTRONOMIE am heimischen PC, wobei eine „Iso“-Aufnahme der Milchstraße (weiß), Sternenstaub (rot) Sicherheitssoftware darüber wacht, dass der Benutzer urhe- ASTRONOMIE „Iso“ lieferte. Im langwelligen In- berrechtlich geschützte Titel auch frarotbereich erscheint der – brav bezahlt. Bei vollem Spei- Staub der Sterne ansonsten unsichtbare – Sternen- cher (64 Megabyte) garantiert der staub rötlich. Die Dichte der Mate- tönende Stift bis zu zwei Stunden eidelberger Astronomen haben riekörnchen, Reste zerborstener Dauerberieselung. Ein Klangreg- Him Universum „unerwartet Sonnen, sei „bis zu zehnfach ler mit drei Voreinstellungen für große Staubmassen“ entdeckt – höher“ als bislang angenommen, so Rock, Pop und Jazz soll das Hör- winzige Partikel aus Gold, Eisen, der Astronom Dietrich Lemke: vergnügen steigern. Der Music Silizium und anderen schweren „Allein der Staub der Milchstraße Clip kommt nächstes Jahre zum Elementen. Gestützt wird die The- ergäbe zusammengepresst einen Preis von etwa 300 Dollar auf se vom „dusty universe“ durch Würfel mit einer Kantenlänge von den amerikani- sensationelle Bilder, die der Satellit einer Milliarde Kilometern.“ schen Markt. „Vaio Music Clip“

Feuersteinhandel vor 5000 Jahren ARCHÄOLOGIE Göttingen IserlohnIserlohn Feuersteinbergwerk

R h e Fundstätten mit Ötzi – Verkäufer in Baiersdorfer Plattenfeuerstein Monti-Lessini-Feuerstein

von Flintstein? Pilsen iner neuen Hypothese zufolge starb der Glet- Baiersdorf scherläufer Ötzi, den Experten bisher für einen Don 100 km E a Jäger oder Hirten hielten, als Außendienstmitarbeiter u eines Flintsteinwerks. „Vor 5200 Jahren existierte in Augsburg Landshut Europa ein weit verzweigter Handel mit Feuerstein“, Hornstaad sagt der Geologe Alexander Binsteiner vom Landes- Bodensee Rosenheim amt für Denkmalpflege in Landshut. Neue Funde zei- Tesserriegel gen, dass der prähistorische Handel von zwei Berg- Fundort von Ötzi werken dominiert wurde, die hochwertigen Rohstoff lieferten – den Flint-Gruben in den Lessinischen Al- Alpen pen (beim Gardasee) und Baiersdorf (in Bayern).Von Monti Lessini Gardasee

dort reisten Händler über weite Strecken bis nach Niedersach- sen, Böhmen und Österreich, um das begehrte Material zu ver- kaufen. Binsteiner vermutet, dass auch Ötzi – er hatte mehre- re Feuerstein-Utensilien vom Gardasee im Gepäck – als Mitglied einer Handelskarawane über den Alpenhauptkamm zog. „Was soll ein Viehtreiber oder ein Jäger in einer 3000 Meter hohen Ge-

CORBIS SYGMA steinswüste?“, fragt der Forscher. „Vieles spricht dafür, dass der Steinzeit-Mumie Ötzi Mann bei einem Verkaufstrip nach Bayern verunglückte.“

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UMWELT POLARFORSCHUNG Ökoleder dank Rhabarber Wesen im Frost er Wostoksee, 4000 Meter unter dem antarktischen Eis liegend, stockdunkel und it Rhabarberpflanzen lassen sich Dminus vier Grad kalt, scheint Leben zu enthalten. Trotz der extrem unwirtlichen MTierhäute weich gerben. Biochemi- Bedingungen in dem 12000 Quadratkilometer großen Untergrundgewässer haben ker von der Hochschule in Bernburg US-Forscher dort jetzt robuste Kleinstlebewesen nachgewiesen. „Bei einer Tiefe von (Sachsen-Anhalt) haben aus den Wur- 3590 Metern stießen zeln des Knöterichgewächses ein Extrakt wir auf Mikroorganis- gewonnen, das Leder „in hoher Qua- Stich durchs Eis men“, erklärt David lität“ färbt und gerbt. Das Öko-Verfah- Die Erforschung des Karl, Ozeanograf an ren soll Kürschnern als Alternative zur Wostoksees der Universität von Chromsalz-Gerbung dienen. In Deutsch- Hawaii. Aus Angst vor land entstehen bei dieser Methode bis- einer Verunreinigung her 175000 Tonnen an umweltschädli- 0m des Sees trieben die chen Abfällen. Auf den Testfeldern des ANTARKTIS Experten ihren Boh-

Instituts wachsen Rhabarbersorten mit Wostoksee SPL/AG. FOCUS rer nicht bis in das zehn Kilo schweren Wurzeln, aus denen Geplanter Jupitermond-Roboter Wasser selbst, son- die hellorange Tinktur gewonnen wird. „Cryobot“ (Nasa-Zeichnung) dern nur in eine Erste Kollektionen von Schuhen und Ta- Schicht knapp ober- schen sind bereits auf dem Markt. Auch 1000 km halb der Flüssigkeitsblase. In diesem Ab- die Firma Audi zeigt Interesse an den schnitt, er besteht aus wiedergefrorenem sauren Stielen. Sie prüft derzeit die Eig- Seewasser, fanden sich die abgestorbenen nung von mit Rhabarber behandeltem BOHRLOCH Mikroben. Die spektakuläre Entdeckung Leder für Autositze und Armaturen. hat auch die Astronomen inspiriert. Unter EISDECKE Tiefe dem Frostpanzer des Jupitermondes Euro- 3600m pa wogt ein ähnlich bizarres Gewässer. GEFRORENES METEOROLOGIE SEEWASSER Derzeit basteln Nasa-Ingenieure an einem 3800m Roboter („Cryobot“), der den fernen Spione über den Wolken Mondozean untersuchen soll. Voll sterili- WOSTOKSEE siert soll die Stahldrohne, in einem Bohr- iese Woche präsentiert die Raum- gestänge sitzend, dereinst in die Tiefe ab- Dfahrtbehörde Esa eine neue Gene- FELSUNTERGRUND 4300m tauchen. Ziel der geplanten Mission ist die ration von Wetterspähern. Jeder der ins- Suche nach außerirdischem Leben. gesamt drei geplanten „MSG-Satelliten“ soll 20-mal mehr Informationen liefern als sein Vorläufer. Hauptinstrument ist ein verbessertes Bildaufnahmegerät SEUCHEN („Radiometer“), das laut Esa „einzigar- tige Möglichkeiten“ zur Erfassung von Allianz gegen den Aussatz Wolkendecken und Nebelfeldern sowie der „Messung der Erdoberflächen- und ine Anti-Lepra-Allianz, letzte Wolkengipfeltemperaturen“ biete. Statt EWoche in Abidjan (Elfenbeinküste) gegründet, hat dem Aussatz den Kampf angesagt. Rund 2,5 Millionen Menschen weltweit sind von der Seu- che befallen, die zu schweren Verstüm- melungen führt. Die neue Initiative, angeführt von der Weltgesundheitsor- ganisation WHO, will die Geißel mit Hilfe der „Multidrug Therapy“ zurückdrängen, einer sechs- bis zwölf- monatigen Behandlung mit drei Präpa- raten, die den Erreger töten. In den

EUMETSAT letzten 15 Jahren wurden so bereits MSG-Satellit (Fotomontage der Esa) zehn Millionen Kranke geheilt und die Lepra in 98 Ländern eliminiert. Nun bisher alle 30 Minuten liefern die Spione soll auch der Krankenstand im Rest alle 15 Minuten ein Wetterbild. Auch die der Welt – vor allem in Ländern Zen- „Vorhersage und Warnung vor schweren tralafrikas, aber auch in Indien, Indo- Stürmen und anderen Phänomenen mit nesien oder Brasilien – drastisch ge- hohem Gefahrenpotenzial“ würden ent- senkt werden. Die nötigen Medika- scheidend verbessert. Der Start des ers- mente stellt der Schweizer Pharma-

ten MSG-Satelliten soll noch im Jahr konzern Novartis kostenlos zur Ver- A. TAUBERT 2000 erfolgen. fügung. Lepra-Kranke in Ägypten

250 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Umstrittene Rennbahn Das Deutsche Elektronen-Synchrotron (Desy) wurde 1959 als Großforschungs- zentrum in Hamburg gegründet. In dem 6,3 Kilometer langen Beschleunigerring Hera, der durch einen Tunnel unter dem führt, lassen die Wis- senschaftler Protonen und Elektronen

aufeinander prallen, um so die Struktur / ARGUS R. JANKE der Materie zu untersuchen. 3400 Wis- Großforschungszentrum Desy senschaftler, darunter rund 1200 Teil- chenphysiker, forschen an dem Zentrum. Jetzt planen sie eine neue Teilchenrennbahn: den 33 Kilometer langen Linearbeschleuniger Tesla. In einem Beitrag für den SPIE- GEL brachte der Elementarteilchenphysiker Hans Graßmann, 39, der an der Suche nach dem Top-Quark beteiligt war, scharfe Kritik gegen das Desy vor: Seit Jahren wer- de dort nur noch irrelevante Physik betrieben.Andere Beschleuniger wie das Cern bei Genf oder das Fermilab bei Chicago seien dem Desy weit überlegen. „Sperrt das Desy zu!“, forderte Graßmann, der an der Universität im italienischen Udine lehrt. Harald Fritzsch, 56, Professor für Theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hält Graßmanns Forderung für Unsinn. Er arbeitet seit Anfang der sieb- ziger Jahre daran, die Wechselwirkung der Quarks zu verstehen, und hofft, seine Theorien mit Hilfe des Desy überprüfen zu können. Graßmann wie Fritzsch haben in Büchern versucht, ihr Fach einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Teilchendetektor am Desy: „Merkwürdige und

SPIEGEL-STREITGESPRÄCH Am Ende der Aufklärung? Die Teilchenforscher Harald Fritzsch und Hans Graßmann über den Nutzen des Desy und die Zukunft der Physik

SPIEGEL: Herr Professor Fritzsch, hier sitzt SPIEGEL: 250 Millionen Mark zahlt der Steu- der Mann, der gefordert hat: „Sperrt das erzahler alljährlich für das Desy.Was recht- Desy zu!“ Würden Sie ihn dafür am liebs- fertigt diesen Aufwand? ten auf den Mond schießen? Fritzsch: Mich hat vor etwa 20 Jahren Björn Fritzsch: Gut formuliert. Es war ein Biolo- Wiik vom Desy davon überzeugt, dass die ge, der mich auf den Artikel hinwies. „Was damals geplante Hera-Maschine eine gute ist das denn für ein Unsinn?“, hat er mich Idee ist.Warum? Wiik erklärte: „Um etwas gefragt. Daraufhin hätte ich Herrn Graß- Neues zu finden, muss man etwas Neues mann in der Tat gern auf den Mond ge- anfangen.“ Hera war in der Tat etwas Neu- schossen. Ich habe mich aber auch über es: Zum ersten Mal wurden Atomkernteil- A. PENTOS den SPIEGEL geärgert. Wenn so ein Arti- A. PENTOS chen, also Protonen, frontal fast mit Licht- kel schon erscheint, dann hätte ich mir we- Teilchenphysiker Graßmann, Fritzsch geschwindigkeit gegen Elektronen ge- nigstens ein relativierendes Wort dazu ge- „Forschung ist immer Spekulation“ schossen. Das halte ich in der Tat für rele- wünscht. Und eine andere Überschrift. Die vant: Es erlaubt uns herauszufinden, ob Parole „Sperrt das Desy zu!“ war doch si- Empörung galt vor allem der Tabuverlet- die Quarks wirklich elementar sind oder cher nicht Herrn Graßmanns Erfindung. zung: Man wendet sich als Elementarteil- ob sie vielleicht aufbrechen, wie viele es Graßmann: Aber natürlich war sie das. chenphysiker nicht an die Öffentlichkeit. damals vermuteten. Hera ist eine gute Ma- Fritzsch: Dann dürfen Sie sich über Protes- Fritzsch: Für mich ist das Desy immer ein schine, um diese Vermutung zu testen. te allerdings nicht wundern. Vorzeigelabor gewesen. Es ist das Flagg- Graßmann: Das geht mit den Maschinen am SPIEGEL: Herr Graßmann, Herr Fritzsch ist schiff der deutschen Grundlagenforschung. Cern oder am Fermilab auch, zum Teil so- nicht der Einzige, der sich über Ihren Ar- Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, gar besser. Seit Jahren tut das Desy nichts tikel geärgert hat. Wir haben aus vielen warum Sie sich so dagegen wenden. anderes, als zu verkünden: „Wir haben physikalischen Instituten empörte Zu- Graßmann: Nehmen wir einmal an, dass ich neue Physik entdeckt“ – nur um dann schriften bekommen. Haben Sie auch Zu- Recht habe und das Desy macht tatsäch- gleich wieder einzuschränken: „Wir haben stimmung geerntet? lich keine interessante Physik, warum doch keine neue Physik entdeckt.“ Dafür Graßmann: Durchaus, wenn auch nicht aus wäre es dann so unerhört, das Desy zu muss man doch keine 250 Millionen Mark der Teilchenphysik. Bezeichnend bei den schließen? im Jahr ausgeben. oft extrem heftigen Reaktionen meiner Fritzsch: Es macht aber interessante Physik. Fritzsch: Aber ich bitte Sie, was soll denn Kollegen fand ich, dass es ihnen gar nicht Graßmann: Da bin ich eben anderer Mei- das Desy anderes sagen? Die beobachten so sehr um den Inhalt zu gehen scheint. Die nung. Das muss doch erlaubt sein. dort einige Ereignisse, die sehr merkwür-

252 der spiegel 47/1999 Graßmann: Aber natürlich. Ich habe aus meiner Bibliothek ein hoch interessantes Buch mitgebracht, das mich in mei- ner Jugend sehr beeindruckt hat. (Er legt „Quarks“ von Harald Fritzsch auf den Tisch.) Dieses Buch handelt davon, wie die Welt aus Teil- chen aufgebaut ist.Vermutlich gibt es davon neuere Ausga- ben; mein Exemplar ist 18 Jah- re alt. Fritzsch: In diesem Jahr ist ge- rade eine neue Auflage er- schienen. Graßmann: Nun, ich habe es so lieb gewonnen, dass ich es noch in dieser Fassung in mei- ner Bibliothek habe.Wenn Sie sich nun dieses Buch anschau- en, finden Sie, dass darin eine Menge Sachen fehlen, die man heute unbedingt noch ergän- zen müsste. Zum Beispiel ist in

P. GINTER / BILDERBERG P. diesem Buch nicht die Rede noch unerklärte Ereignisse“ von W- und Z-Teilchen – die hatte man damals noch nicht dig und noch unerklärt sind. Bisher aber ist Graßmann: Das Desy jedenfalls hat auf mei- entdeckt.Auch das Top-Quark taucht nicht die Intensität des Teilchenstrahls zu gering, nen Artikel nur mit einem Feuerwerk von darin auf. um diese Phänomene richtig zu verstehen. Scheinargumenten reagiert. Fritzsch: In der neuen Auflage ist das alles Deshalb muss man sie jetzt verstärken und Fritzsch: Sie sprechen immer von „dem drin. Ich habe es jährlich aktualisiert. dann sehen, was herauskommt. Das ist ein Desy“. Aber das Desy ist keine Einheit. Es Graßmann: Genau. Dass Neutrinos eine langwieriger Prozess. So ist das in der For- besteht aus Physikern, nicht nur deutschen Masse haben, müsste zum Beispiel auch schung, und das sollten Sie auch wissen. übrigens. Da arbeiten Italiener, Amerika- noch rein. Das alles sind Durchbrüche, die Graßmann: Sie verteidigen eine Position, die ner, Holländer, Engländer. Sie sind es, die in den letzten 18 Jahren geschehen sind. das Desy inzwischen schon klammheimlich sich über Ihren Artikel ärgern, nicht „das Aber nun zeigen Sie mir auch nur einen geräumt hat. Diese angeblich so wichtigen Desy“. einzigen Satz, den Sie geändert haben auf- Phänome gibt es doch überhaupt nicht. Graßmann: Das heißt: Viele Forscher kön- grund der Physik, die am Desy passiert ist. Fritzsch: Ich habe die Daten selbst ange- nen nicht irren? Fritzsch: Mit Hilfe von Hera war es möglich, schaut. Ich habe sie selbst studiert. Fritzsch: Schon die Tatsache, dass so viele bei der Untersuchung der Protonen-Fein- Graßmann: Die sind bedeutungslos, sie sa- Physiker aus dem Ausland zum Desy gehen struktur in andere Energiebereiche vorzu- gen überhaupt nichts. und dort experimentieren, zeigt, dass sie stoßen. So konnten wir feststellen, ob die Fritzsch: Sie zeigen in eine gewisse Rich- das von Interesse finden. Theorie, die wir schon seit vielen Jahren tung, die interessant ist. Graßmann: Ich bestreite ja gar nicht: Die hatten, stimmt. Ich ging in meinem Buch Graßmann: Unsinn. Elementarteilchenphysik ist eine extrem davon aus. Aber es war unklar. Mittlerwei- Fritzsch: Es könnte sein, dass schon in ei- wichtige und interessante Sache. Aber das le sind die Unklarheiten zum großen Teil be- nem Jahr gerade am Desy die ersten Hin- Desy macht eben leider irrelevante Physik. seitigt. Das ist ein Verdienst des Desy. weise für einen Zusammenbruch unserer SPIEGEL: Machen andere Teilchenbeschleu- SPIEGEL: Wie viel Geld ist es denn wert, heutigen Vorstellung von der Teilchenwelt niger denn relevantere Physik? beharrlich zu bestätigen, was die Theoreti- gefunden werden. Graßmann: Das ist reine Spekulation. Aus Kerne, Teile, Teilchen Die Struktur der Materie den Daten jedenfalls folgt das nicht. Mit bloßem Auge lässt Fritzsch: Forschung ist immer Spekulation. Der Durchmesser eines Atoms beträgt Der Atomkern wiederum besteht Wir gehen in unbekannte Regionen. Und sich nicht erkennen, dass sich die Materie knapp ein millionstel Millimeter. In sei- aus Protonen und Neutronen, die das Desy macht das auch. aus Atomen nem Innern befindet sich der Atomkern, ihrerseits aus jeweils drei Quarks Graßmann: Die Physik hat die Aufgabe, zur zusammensetzt. der von Elektronen umschwirrt wird. zusammengesetzt sind. Weiterentwicklung unseres Weltbildes bei- Diese wechselwirken durch den zutragen. Und das Desy tut das nicht. Austausch von Gluonen. Fritzsch: Die Maschine existiert, und wir müssen sie für die Physik nutzen. Es gibt, Atomkern Proton wie gesagt, Hinweise darauf, dass da etwas Neutron Merkwürdiges passiert. Und das müssen wir untersuchen. Mit Hera können wir die De- Elektronen tails der Quark-Wechselwirkung studieren. Gluon Ich selbst gehöre zu denen, die diese Theo- Quarks rie Anfang der siebziger Jahre aufgestellt –3 haben, und habe ein ganz natürliches Inter- 10 m 10–10m 10–15m esse, dass diese Physik weitergeführt wird.

der spiegel 47/1999 253 ker in ihren Büchern oh- nehin schon schreiben? Fritzsch: Eine Theorie auf- zustellen und sie experi- mentell zu testen, sind zwei verschiedene Dinge. Auch heute gibt es Phänomene in der Teilchenwelt, die völlig unverstanden sind. Die ex- trem hohe Masse des Top- Quarks zum Beispiel hat mich völlig verblüfft. Und auch Herr Graßmann wird kaum wissen, warum das Ding so schwer ist. Ich hät- te gewettet, dass es viel leichter ist, und ich hatte auch Theorien dafür. Man muss seine Theorien eben immer wieder aufs Neue testen. Irgendwann brechen sie zusammen, die Frage ist nur, wo und wann. SPIEGEL: Nach welchen Beschleunigerring Maßstäben wird entschie- den, ob ein neuer, teurer Beschleuniger nun interessante Ergebnisse zu liefern ver- spricht oder nicht? Fritzsch: Natürlich hat man das auch bei Hera im Voraus überlegt. Es galt damals als durchaus möglich, dass die Quarks genau in dem Energiebereich aufbrechen, in den Hera vordringt. Dann hätte man eine völlig neue Substruktur gefunden, was natürlich eine sehr wichtige Entdeckung gewesen wäre. Man findet aber bis heute nichts. Ich will das einmal vergleichen mit einem Kri- minalfall, den der Detektiv Sherlock Holmes löste: Der entscheidende Hinweis war die Tatsache, dass ein Hund in der Nacht nicht bellte. Hier ist es ähnlich: Wenn man etwas nicht findet, kann das genauso wichtig sein, wie wenn man etwas findet. Nullexperimente sind natürlich nicht sehr beliebt bei den Experimentalphysikern. Aber sie sind manchmal sogar wichtiger als die anderen. Graßmann: Es mag ja richtig sein, dass Hera nicht von Anfang an sinnlos war. Aber nachdem man jetzt mehrere Jahre lang Da- ten genommen hat, ist klar: Es gibt für Hera keine Zukunft mehr. Ich beklage gar nicht, dass man da etwas gemacht hat und dann gescheitert ist. Das konnte man damals nicht wissen. Schlimm ist, dass die Leute jetzt sagen: Wir haben diesen Beschleuni- ger nun mal, und da lassen wir ihn eben weiterlaufen – einfach deshalb, weil wir ihn haben. Es gibt am Desy sicher Leute, die neue, kluge Ideen vorbringen könnten. Stattdessen geht das Desy immerzu in die- selbe Richtung, wie ein großer Öltanker, der einmal in Fahrt ist. Ich bin genau des- wegen gegen Desy, weil es von Schaden für die deutsche Teilchenphysik ist. Fritzsch: Hera jetzt zuzumachen, hielte ich für glatten Wahnsinn. Das wäre ein Miss- brauch von Steuergeldern. Im übrigen kön- nen Sie nicht sagen, das Desy habe keine

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treiben.Wenn die Physiker es wirklich nut- zen, um neue Ideen und Verfahren zu ent- wickeln, dann wird das sicher hoch inter- essant. Ein Labor wie das Desy muss viel mehr Ideen produzieren, Vorstellungen, Denkweisen. Es muss zum Geistesleben der Gesellschaft, die es trägt, etwas bei- tragen. Fritzsch: Aber das tut es doch. In Hamburg waren 14000 Leute beim Tag der offenen Tür. Desy hat mal einen Vortrag von mir im Rahmen einer Tagung organisiert: 2500 Zuhörer im Kongresszentrum. Die Ham- burger sind stolz auf das Desy. Die Eigen- heimbesitzer dort waren stolz, dass die Ma- schine zwanzig oder dreißig Meter unter ihrem Grundstück hindurchgeht. Graßmann: Das belegt nicht die wissen- schaftliche Qualität. Da wird die schwarz- rot-goldene Flagge missbraucht, um Miss- stände zu kaschieren. SPIEGEL: Was dürfen wir uns denn vorstel- len unter „neuen Denkweisen“? Wie soll- in einem Tunnel am Cern bei Genf: „Wir brauchen mehr Ideen“ te denn eine der Öffentlichkeit zugewand- tere, lebendigere Physik aussehen? Visionen: Wie Sie wissen, ist jetzt der neue Fritzsch: … eine einfache Konsequenz der Graßmann: Eine lebendigere Physik hat Linearbeschleuniger Tesla geplant. Quantentheorie. man dann, wenn man es schafft, die Phy- SPIEGEL: Muss denn der Mensch in immer SPIEGEL: Wann kommt dieser Prozess zum sik in unserer Kultur zu verankern. Wir feineren Details wissen, wie es im Innern Stillstand? müssen über Physik sprechen, und zwar des Protons aussieht? Fritzsch: Irgendwann wird man keine Be- kritisch. Eine Kommunikation, die nur Be- Fritzsch: Es könnte sehr wohl sein, dass schleuniger mehr bauen können. Dann wird wunderung und Lob erlaubt, ist keine. Mei- die Quarks nicht die letzte Antwort sind, man nach neuen Wegen suchen müssen. ne Kritik am Desy ist nur ein Beispiel. Ich dass also noch eine weitere Substruktur Aber man sollte einen falschen Eindruck will aufmerksam machen auf den schlei- existiert. Man kann natürlich die Frage vermeiden: Die Beschleuniger werden im- chenden Rückzug der Physik aus unserer stellen: Ist das letztlich so wichtig? Damit mer größer, die Kosten aber nicht zwangs- Gesellschaft und damit einhergehend den stellt man dann aber die Grundlagen- läufig höher. Ihr Anteil am Forschungsbud- Rückzug von Verstand und Vernunft. Dar- forschung überhaupt in Frage. Man sollte get ist gleich geblieben oder sogar zurück- an gemessen sind die 250 Millionen, die dabei nicht vergessen: Es gibt eine Menge gegangen. Wir sollten auch den Maßstab man am Desy ausgibt, eigentlich irrelevant. Spin-offs. Wenn wir gute Grundlagen- nicht aus dem Auge verlieren: Um das Cern, Wir sind an einem Punkt, wo wir uns fra- forschung machen, produzieren wir auch das Desy und die anderen Zentren in Eu- gen müssen, ob wir das Ende der Auf- gute Wissenschaftler und gute Ingenieure. ropa zu bezahlen, muss jeder Europäer pro klärung miterleben. Das Desy hat nicht umsonst die besten Jahr drei Viertel des Preises einer Maß Bier Fritzsch: Mir scheint das, ehrlich gesagt, Elektroingenieure, die wir in Deutschland bezahlen – wobei ich die bayerischen Bier- sehr verquast – obwohl ich das Anliegen haben. preise zu Grunde lege, nicht die Hamburger. durchaus teile. Auch mich beunruhigt der SPIEGEL: Björn Wiik, den Sie vorhin zitier- SPIEGEL: Ein neuer Linearbeschleuniger in Abstand, der sich mittlerweile zwischen ten, hat es als „Fluch der Teilchenphysik“ Hamburg würde jedenfalls Milliarden kos- Naturwissenschaft und allgemeiner Bevöl- bezeichnet, dass die Maschinen, mit denen ten. Wird auch er vor allem Nullexperi- kerung auftut. Aber viele Forscher in man etwas anschauen will, umso größer mente liefern? Deutschland widmen sich doch inzwischen werden, je kleiner das ist, was man sich Graßmann: Das hängt letzten Endes von der Popularisierung von Wissenschaft, auch anschaut … den Menschen ab, die das Instrument be- mit gutem Erfolg. Der Abstand ist nicht Wissenschaft größer, er ist vielleicht sogar SPIEGEL: Was ist denn Ihrer etwas kleiner geworden. Auffassung nach die Physik? SPIEGEL: In den letzten neun Graßmann: Die Physik hat in Jahren hat sich die Zahl der der Geschichte überall da Studienanfänger im Fach eine entscheidende Rolle Physik halbiert … gespielt, wo wichtige Wei- Fritzsch: Gott sei Dank chenstellungen für unsere nimmt sie inzwischen aber Identität gemacht worden wieder langsam zu. Trotz- sind. Die europäische Auf- dem: Es studieren zu wenig klärung zum Beispiel ist junge Leute Informatik, nicht denkbar ohne Physik. Physik oder Ingenieurwis- Die Physik muss Fixpunkte senschaften. Dagegen muss liefern, damit sich die Phi- man kämpfen. Aber das ist losophie, die Politik, die Re- schwierig. Für viele ist es ligion und die Kunst ent- nicht mehr schick, sich mit wickeln können. Ohne die den schwierigen Fragen der Koordinaten, die die Physik Naturwissenschaften zu be- liefert, kommen Sie mit der schäftigen. Die Physik war Philosophie oder der Politik die Wissenschaft unseres nicht weiter. Und deshalb ist ausgehenden Jahrhunderts. es so schlimm, dass die Phy- Sie hat die Gesellschaft sik auf dem Rückzug ist, in wie keine andere verändert. bedrohlichem Ausmaß.

Es fing an mit der Quanten- GINTER / BILDERBERG P. Fritzsch: Das ist aber eine theorie, ging weiter zur Detektor-Reparatur am Desy: „Die Vernunft ist auf dem Rückzug“ sehr romantische Vorstel- Kernphysik, zur Atombom- lung von Physik. Ich glaube, be natürlich und den Kernreaktoren, bis sik sei nichts als eine Ansammlung von Sie messen ihr da eine zu große Bedeutung hin zur Festkörperphysik und den Chips. Formeln, sie bestehe aus Kondensatoren zu. Das nächste Jahrhundert ist in meinen Ein großer Teil der Bevölkerung interes- und Computern. Das ist absolut nicht das, Augen nicht das Jahrhundert der Physik siert sich wirklich für diese Dinge. Aber was Physik tatsächlich ist. Die Physik hat oder der Biologie, sondern das Jahrhun- es ist halt nur ein Teil. Was uns fehlt, sind eine ganz und gar andere Rolle. dert der Vernetzung der verschiedenen sozusagen die anderen 70 oder 80 Pro- Fritzsch: Sind Sie da überrascht, wenn Sie Wissenschaften. zent. mal unser Schulsystem anschauen? Graßmann: Ich bin überzeugt davon, dass SPIEGEL: Entfremdet sich die Physik nicht Graßmann: Das Schulsystem ist doch ein die Physik die entscheidende Rolle spielen auch von den Menschen, indem sie immer Produkt unserer Gesellschaft. wird – wenn sie sich nicht ganz aus der schwieriger, immer unanschaulicher wird? Fritzsch: Ich finde es auch absurd, dass Gesellschaft zurückzieht. Fritzsch: Zweifellos. Das fing ja schon mit Physik und Chemie in den Gymnasien erst Fritzsch: Ich will die Gefahr gar nicht be- der Quantentheorie an. Sie ist faszinie- so spät gelehrt werden. Wir müssen den streiten, dass im nächsten Jahrhundert der rend, aber unanschaulich. angelsächsischen Weg einschlagen. Dort Fundamentalismus erstarken könnte. Wir Graßmann: Ach was, jedes Kind kann die werden die Kinder bereits sehr früh mit sehen das ja schon in den USA. Da gibt es Physik begreifen. einem gemeinsamen Fach Naturkunde eine technische Elite und den großen An- Fritzsch: Das stimmt nicht ganz. Richard konfrontiert, wo alles vorkommt, auch teil der anderen, die keine Ahnung haben Feynman, mein früherer Kollege in Pa- möglichst vernetzt. Später sollte man es von Naturwissenschaft und den schlimms- sadena, hat mir immer gesagt: „Du aufspalten in Physik, Chemie und Biologie. ten Vorstellungen huldigen. Das führt dann verstehst erst dann ein Problem, wenn du De facto ist es jedoch so, dass Abiturienten zu Entscheidungen wie im US-Staat Kan- es auch deiner Großmutter erklären Medizin studieren wollen und nie richti- sas, wo christliche Fundamentalisten die kannst.“ So weit hatte er recht. Wenn gen Physikunterricht hatten. Das ist ein biblische Schöpfungsgeschichte gleichwer- ich Vorträge für die Öffentlichkeit halte, Skandal. tig neben die Evolutionstheorie gestellt ha- dann merke ich manchmal bei der Vorbe- Graßmann: Der Physikunterricht vermittelt ben – ein Skandal. Ich bin auch erschreckt reitung, wie ich auch fachlich neue Ideen eben den völlig falschen Eindruck, die Phy- darüber, dass große Teile der russischen bekomme. Man muss nicht Mathematik sik sei eine Ansammlung von Formeln, die Bevölkerung mittlerweile an alles mögliche können, um etwas über die Quarks lernen man gar nicht verstehen kann. Und ge- glauben, aber im Gegensatz zu früher im- zu können.Wenn ich Kollegen höre, die sa- braucht würden sie nur, um irgendwelche mer weniger für Naturwissenschaft übrig gen: „Hier kann ich Ihnen nicht weiter- neuen Geräte zu bauen. haben. Wir müssen sicher darauf hinwir- helfen, da müssen Sie erst die Lagrange- ken, dass die Physik, die bis an die Wurzeln Gleichung studieren“, dann kann ich aus- unserer Existenz geht, bis an die Urknall- rasten. explosion, wirklich Fuß fasst in der Ge- Graßmann: Ja, aber nichts anderes sage ich sellschaft. doch. SPIEGEL: Ein wachsender Teil der Bevölke- Fritzsch: Es gibt allerdings Verständnisstu- rung, so scheint es, wendet sich auch in fen, wo es ohne Mathematik schwierig Deutschland der Esoterik zu. wird. Die Mathematik ist von zentraler Be- Fritzsch: In solchen Entwicklungen sehe ich deutung in der Physik. in der Tat eine echte Gefahr. Und sie ist Graßmann: Die Mathematik braucht man, schlimmer als die Gefahren, die durch die um neue Physik zu entwickeln, nicht um Nuklearwaffen entstanden sind. Der wach- sie zu erklären. Viele Leute glauben, Phy- sende Irrationalismus ist die eigentliche

A. PENTOS Gefahr der Zukunft. * Johann Grolle (M.), im Arbeitszimmer von Professor Graßmann, Fritzsch, SPIEGEL-Redakteur* SPIEGEL: Herr Fritzsch, Herr Graßmann, Fritzsch an der Universität München. „Physik ist nicht mehr schick“ wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Dentistry“ bei ihrer Gründung vor 15 Jah- ren lediglich 60 Mitglieder, sind es in- ZAHNMEDIZIN zwischen 4000. Die „New York Times“ rief bereits das „goldene Zeitalter der Zähne“ aus. „Die lachen bis zum Zäpfchen“ Einstiegsdroge für die komplette Dental- Restauration ist häufig die Chemikalie Unter deutschen Jugendlichen nimmt die Karies Wasserstoffsuperoxid. Mit Hilfe dieses Bleichmittels – auch zum Blondieren von rapide ab, die Zahl der Zahnärzte aber steigt. Jetzt entdeckt die Haaren geeignet – entgilben die Ärzte kof- Branche das perfekte Lächeln als neue Geldquelle. fein- und rotweingegerbte Zähne. Zieht der neue Glanz erst den Blick auf die Mundöffnung, fallen dort plötzlich weitere Hässlichkeiten ins Auge: wucherndes Zahn- fleisch, Fehlstellungen oder der schrundige Schneidezahn, der in der Jugend auf einen Fahr- radlenker gekracht ist. Hauchdünne, aufgeklebte Keramikverblendungen, so ge- nannte Veneers, verwandeln die Zahnruinen Stück für Stück wieder in naturidentische Gebisse. Oralchirurgen wie Berstein möbeln auch zu- rückweichendes Zahnfleisch auf, modellieren es, setzen bei Bedarf künstliche Zahnwurzeln und korrigieren zunehmend auch bei Erwachsenen mit Zahnspangen schief gewachse- nes Kauwerkzeug. Auch die Körperschmuck- Szene hat nach Piercing und Tattoos die Zähne entdeckt. Zahntechniker Bernd Heine-

U. BAATZ / LAIF BAATZ U. mann ist über die Nachfrage Ästhetik-Zahnarzt Berstein: „Am liebsten lattengerade und kalkweiß“ entzückt. Seit Januar bietet sein Labor im hessischen chon im Empfang der Düsseldorfer der verbesserten Vorsorge und vor allem Neckargemünd neben dem üblichen Gemeinschaftspraxis soll nichts an der verstärkten Fluoridierung des Speise- zahntechnischen Sortiment ausgefallenen Sbohrenden Schmerz erinnern. Nicht salzes zu. Auf Dauer, so möchte es schei- Zahnschmuck an: Keramik-Kronen mit die klinische Kühle eines zahnärztlichen nen, gehen der Zunft die Patienten aus. Da eingebrannten Blümchenornamenten, Ambulatoriums erwartet den Patienten, kommt die neu entdeckte Zahnschönheit aufklebbare Goldfolien („Dazzler“) in sondern die Wärme eines gutbürgerlichen gerade recht. Form von Delfinen, Anarchie- oder Dol- Wohnzimmers. Wer hierher kommt, ist Im Schnelldurchgang rekapituliert Ber- larzeichen und abnehmbare Zahnkappen bereit, etwas dazu zu bezahlen – oft sogar stein die Geschichte seines Fachs: „Einst mit eingefassten Brillanten. „Für Frank- sehr viel. ging es nur darum, den Schmerz loszu- furter Banker, die sich so etwas nur in „Bis zu 25000 Mark kann die ästhetisch- werden, dann sollten die Zähne möglichst der Freizeit erlauben können“, erklärt der kosmetische Zahnbehandlung kosten“, lange halten, und heute wollen die Men- Zahntechniker, der stolz darauf ist, dass sagt Alexander Berstein, 38, und fügt so- schen eben auch noch ein Hollywood- er schon vor 30 Jahren den Tänzer Ru- gleich hinzu: „Pro Kiefer natürlich.“ Zu- Lächeln.“ Blitzende Oral- sammen mit zwei Kollegen hat er eine Ni- Kunstwerke gelten als weit- sche im immer härter umkämpften Markt hin sichtbares Statussymbol, entdeckt. Nicht Löcher stopfen, Kronen sie signalisieren Jugend, Er- setzen und Prothesen anpassen ist sein Ta- folg und Biss. Seine Zusatz- gesgeschäft, sondern ästhetische Zahnver- ausbildung für kosmetische sorgung. „Dentalästhetica“ heißt das an- Techniken hat Berstein denn geschlossene zahnheilkundliche Privat- auch im Land des teuren institut. Lächelns absolviert – Kali- Während in den letzten zehn Jahren die fornien. Zahl der Zahnärzte in Deutschland um 30 In den USA sind makel- Prozent anstieg, nahm unter deutschen lose Frontzähne, „am liebs- Jugendlichen die Karies rapide ab. Waren ten lattengerade und kalk- vor einem Jahrzehnt bei Zwölfjährigen in weiß“ (Berstein), selbst für Westdeutschland im Schnitt noch 4,1 Zäh- Ältere inzwischen unver-

ne löchrig, waren es 1997 nur noch 1,4. Den zichtbar. Hatte die „Ameri- / ARGUM STOCKMEIER Rückzug der Karies schreiben die Experten can Academy of Cosmetic „Dazzler“: Ist der Trend out, wird die Folie entfernt

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Dass das Geschäft mit den Sonderleis- Wenig Löcher, viele Bohrer tungen boomt, bestätigen auch die Bilan- Zahnarztbehandlungen* Niedergelassene Zahnärzte zen der Kassen: Während in den gesetzli- in den alten Bundesländern in den alten Bundesländern chen Krankenkassen die Leistungsausga- Veränderung gegenüber 1970 in Prozent ben für die Zahnbehandlung je Versicher- 42071 tem innerhalb von zehn Jahren nur um 4,3 0% 40025 Prozent stiegen, schossen diese bei den pri- vaten Kassen, die bis zu 80 Prozent der FÜLLUNGEN Sonderleistungen übernehmen, um 84 Pro- zent in die Höhe. –20% 33018 Ob allerdings der teure Trend zum schö- 29991 nen Gebiss auch für gute Qualität bürgt, ist zumindest zweifelhaft. Ende letzten Jahres 27443 27651 –40% sondierte das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen die Güte ZAHNEXTRAKTIONEN der Versorgung. 20 Probanden suchten je- –60% weils 10 verschiedene Zahnärzte auf und ließen sich von ihnen einen Heil- und Kos- *von den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet Quelle: Bundeszahnärztekammer tenplan aufstellen. Das Ergebnis: mangel- hafte Befunderhebungen, drastisch unter- 1970 75 80 85 90 95 97 1970 7580 85 90 95 98 schiedliche Behandlungskonzepte und Dif- ferenzen bei den Kostenvoranschlägen von dolf Nurejew mit einem Brillanten ver- Bei dem Erhalt der Zähne allein blieb es bis zu 600 Prozent. „Völlig beliebig“ nennt sorgte. nicht. „Weil man heute eben schöne Zäh- Klaus Zok, einer der Autoren, die ärztli- Noch sind 90 Prozent der Kunden Frau- ne haben muss“, stellt die Illustrierte chen Strategien. en. Besonders beliebt sind unter ihnen glit- „Schweizer Woche“ fest, leistet man Einer hat mittlerweile den Kampf um zernde Edelsteine. Manche Kundinnen las- sich gern auch noch etwas mehr: Über eine bessere Zahnmedizin unter gesetz- sen sich die Preziosen gar außen auf die 300 Franken jährlich lässt sich der lichen Rahmenbedingungen aufgegeben. Backenzähne montieren. „Die haben ei- Durchschnittsschweizer die Zahnkosme- Armin Jäkel, 56, behandelt nur noch pri- nen so großen Mund“, sagt , tik kosten. vat. „Für eine stramm wissenschaftliche „dass sie bis zum Zäpfchen lachen.“ Ist In Deutschland hingegen lohnte sich die Behandlung“, sagt der Eckernförder der Trend wieder out, lässt sich der Zierrat Prophylaxe lange Zeit nicht. „Zu Hoch- Zahnarzt, „brauche ich eben Zeit.“ Für entfernen: Dazzler rückstandslos, Brillan- Zeiten der Prothetik“, sagt Berstein, „gab 20 Mark Pauschale könne er nur vier Mi- ten hinterlassen ein kleines Loch. es eine Menge Versäumnisse.“ Die Ärzte nuten lang untersuchen. Eine aufwendige Doch auch die eher konventionell an- bohrten munter drauf los; die Diagnose von Kieferfunktion mutende Prophylaxe erweist sich für fin- hörigen Patienten nahmen es und Zahnstatus aber dauere dige Zahnärzte als lukrativ.Bei mangelnder duldsam hin; die Kassen zahlten „Wenn der schon mal eine Stunde. Das Er- Mundhygiene droht durch Parodontose der – zu 100 Prozent. Patient nicht gebnis der anschließenden ge- Zahnausfall, und durch das Bakterium Heute sind auch in Deutsch- krank ist, kann wissenhaften Versorgung wissen Streptococcus mutans erneuter Löcherfraß. land die Preise happig und die das Gebiss besonders Patienten mit ra- Kaum erlahmt die hartnäckige Dauerpfle- Ansprüche höher. Unter Bun- so schief sein, senden Kopfschmerzen und ge, flackert Karies wieder auf. Ärzte wie desgesundheitsministerin Antje schmerzhafter Kaumuskulatur Berstein fordern deshalb umfangreiche Huber stiegen die Kassen 1977 wie es will“ durch fehlerhafte Kieferstellun- Dentalhygiene auch an Stellen, zu denen aus der Vollfinanzierung des gen zu schätzen. nur die Fachkraft vorstößt: Politur, Reini- Zahnersatzes aus. Seitdem leisten die Pa- Jäkel ist Dental-Idealist. Die Erhaltung gung mit Polierstreifen zwischen den Zäh- tienten einen zunehmend größeren Eigen- der eigenen Zähne, weiß er, ist eine le- nen und Kürettage unterm Zahnfleisch. anteil, an Luxus-Versorgungen beteiligten benslange Aufgabe. Den Kosmetik-Exzes- Doch wer bezahlt diesen aufwendigen sich die gesetzlichen Kassen gar nicht. sen der Amerikaner steht er skeptisch ge- Kampf ums Naturgebiss? Wer finanziert Im letzten Jahr trug das Bundesgesund- genüber. „Wenn der Patient nicht krank das Streben nach dem makellosen heitsministerium vorübergehend dem neu- ist, kann das Gebiss so schief sein, wie es Lächeln? Spangen für Erwachsene werden en Schönheitsideal Rechnung. Die Kassen will“, sagt er. von den gesetzlichen Krankenkassen nur in vergüteten zumindest die Kosten der Ba- Bis sich die deutschen Zahnmediziner seltenen Fällen erstattet, Veneers oder gar sisversorgung, was darüber hinausging, durch ästhetische Ansprüche der Patien- Zahnschmuck nie. Und selbst der Anreiz zahlten die Patienten dazu: Der Eigen- ten und mehr Konkurrenz fachgerechte zur Vorsorge ist für Patient wie Zahnarzt anteil der üblichen Goldkrone betrug rund Regeln für eine bessere Zahnmedizin ver- mager. Bezahlt wird zweimal im Jahr eine 300 Mark, die schönere Keramik gab es für ordnen, mag Jäkel nicht warten.Vor einem Zahnsteinentfernung für je 27 Mark, das 600 Mark Aufpreis. Bundesgesundheitsmi- halben Jahr hat er den Qualitätszirkel war’s. nisterin Andrea Fischer jedoch stoppte den „MacDent“ gegründet. Bis jetzt hat Jäkel Dass sorgfältige Vorsorge fruchtet, zeigt kurzen Ausflug in die teilfinanzierte Ästhe- ein Dutzend Mitstreiter in verschiedenen das Beispiel der Schweiz. Dort bilanzierten tik für Arme. Seit Anfang dieses Jahres ge- Bundesländern, die sich vor allem einem die Zahnärzte bei Zwölfjährigen schon vor hen Sonderwünsche wie Vollkeramiken strikten Prophylaxe-Konzept verpflichten. zehn Jahren nur 2,0 Löcher pro Gebiss.Als wieder voll zu Lasten des Patienten. Vorgesehen sind außerdem jährliche Kon- Ursache des Eifers beim Zähneputzen gilt, Vieles deutet allerdings darauf hin, dass trollbesuche bei den Kollegen. dass Plomben und Kronen in der Schweiz die Patienten bereit sind, für ihr Mund- Die Qualitätswächter sollen in jeder Pra- teuer sind. Schon seit Jahrzehnten über- werkzeug tief in die Tasche zu greifen. Die xis willkürlich drei Akten ziehen und die nehmen die Krankenkassen dort nicht Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung Patienten einbestellen. „Stellt sich dabei mehr die Kosten für Zahnbehandlungen ermittelte in einer Umfrage unter 342 heraus, dass einer Murks gemacht hat“, er- von Erwachsenen. Prophylaxe zahlt sich Zahnärzten, dass die Hälfte aller Patienten klärt Jäkel, „fliegt er aus unserem Verein für den Bürger also aus. „offen für Zuzahlungen“ seien. eben raus.“ Harro Albrecht

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RAUMFAHRT „Reden macht wenig Sinn“ Ein Berliner Psychologe und drei russische Ärzte ließen sich monatelang in eine lange Röhre einsperren. Sie durchlitten das Psycho-Experiment mit bitterem Ernst.

einen 45sten Geburtstag feierte Bernd Ärzte am Mittwoch vorletzter Woche aus ih- Training auf dem „Fly-Wheel“ Johannes auf dem Rückflug vom rer Kapsel kletterten, sprach Johannes die Alltag in der nachgebauten Raumstation SMars. Das Fest verlief deshalb eher bewegenden Worte: „Back on earth again!“ Angst vor russischem Schlendrian spartanisch: Dicht gedrängt saßen er und Schön gesagt, nur leider falsch. Die vier seine Mannschaft in der Raumschiffkabine Helden waren bloß Simulanten. Im Dienst ten. Hoch motiviert, mit vier Pfund Kaffee und sangen schwermütige Balladen. der Forschung ließen sie sich 110 Tage lang und einem Päckchen Skatkarten beladen, in eine nachgebaute Raumstati- bestieg er Ende Juli die Röhre. on einsperren. Die knapp 50 Der Deutsche, ein durchtrainierter Mann Meter lange Röhre, „Isolator“ mit einer gewissen militärischen Zackig- genannt, steht im Moskauer keit, nahm seinen Job bitter ernst. Als ers- „Institut für Biomedizinische tes versuchte er, seine Mannen für die Mis- Probleme“ und hat sich keinen sion zu motivieren. „Alles, was den Dingen Zentimeter vom Fleck bewegt. hier drin einen fassbaren Sinn gibt, hilft Forscher des Instituts hatten uns“, erklärte er, „also stellen wir uns vor, sich das Psycho-Experiment im dass wir zum Planeten Mars fliegen.“ Auftrag der russischen Raum- Schon bald musste der Psychologe aller- fahrtbehörde ausgedacht.Auch dings seine deutsche Ordnungsliebe zü- die europäische Raumfahrt- geln; überall auf der Pseudo-Raumstation agentur Esa und die japanische herrschte russische Improvisation: Auf der Nasda beteiligten sich. Der Test Toilette hingen vier Schläuche ins Becken, galt der Frage, wie es Multi- durch die das Kondenswasser aus der Atem- kulti-Raumfahrer auf engstem luft abströmen sollte. Das funktionierte Raum miteinander aushalten – mehr schlecht als recht. Also tropfte es von

P. BLAKLEY / SABA P. ein Probelauf für das Zusam- der Decke, es breitete sich Schimmel aus. Psychologe Johannes*: „Back on earth again!“ menleben auf der künftigen In- Russischen Schlendrian hatte Komman- ternationalen Raumstation ISS. dant Johannes wie nichts anderes gefürch- Drei Wochen später endete die entbeh- Johannes hatte schon bei einem früheren tet. Energisch versuchte er gegenzusteu- rungsreiche Reise durchs All. Als der deut- Isolationsversuch mitgewirkt. Um ihm die ern, etwa beim regelmäßigen Stubenputz. sche Psychologe und die drei russischen erneute Teilnahme schmackhaft zu ma- Der Berliner Psychologe bestand darauf, chen, beförderten ihn die Versuchsleiter dass der Isolator einmal pro Woche von * Nach Abschluss des Experiments, im Hintergrund der flugs zum Kommandanten und unterstell- oben bis unten desinfiziert werden müsse. Einstieg zur nachgebauten Raumstation. ten ihm eine Crew aus drei russischen Ärz- Eine lästige Pflicht. Schon bald schoben Freizeitgestaltung

„Nur so können wir herausfinden, wo- durch Konflikte zwischen Innen und Außen Test der Unterdruckhose entstehen“, erklärt Wiktor Baranow, der Vorbereitung für den Einsatz am Flugsimulator Leiter des Experiments. „Anfangs sind das die Russen wichtige Arbeiten vor; die Be- vielleicht nur Kleinigkeiten.Aber sie könn- Seinen Frust strampelte der Deutsche hausung blieb, wie sie war. Schweigend ten uns helfen, die zunehmende Entfrem- auf dem Fahrrad herunter. Am Ende hatte griff Johannes selbst zum Putzeimer. dung innerhalb eines Teams rechtzeitig zu er sieben Kilo abgenommen – im Gegen- Auch sonst gab er es rasch auf, Probleme, erkennen und zu verhindern.“ satz zu seinen eher gemütlich veranlagten so wie er es an der Uni gelernt hatte, durch Bei all der Wissenschaft blieb Johannes russischen Mitstreitern, die im Schnitt so- Reden zu lösen. „Das können sich nur Psy- noch genug Zeit, die Russen das Skatspiel gar ein paar Kilo zulegten. chologen so ausdenken“, begriff der Psy- zu lehren. Als Einsatz dienten Schokorie- Kurz vor der Landung wurde es endlich chologe, „aber tatsächlich hat es wenig Sinn gel, gereizt wurde natürlich auf Deutsch, einmal richtig spannend. Per Telefon ereil- – es dauert zu lange.“ Und Zeit an Bord und den Satz „Trrumf ist das Chärrz vom te die Männer eine Alarmmeldung: Ein De- war schließlich kostbar, hatten die Wissen- Schpiel“ verwendeten die Russen bald bei fekt sei aufgetreten, die Raumflieger müss- schaftler doch wichtige Aufgaben: Sie tes- jeder sich bietenden Gelegenheit. ten noch zweimal die Erde umkreisen. Die teten eine Unterdruckhose, die in der Allmählich verschmolz das Team zu ei- Landung verschob sich um drei Stunden – Schwerelosigkeit den Blutfluss in die unte- ner verschworenen Gemeinschaft, die laut eine letzte Psycho-Prüfung zum Abschluss. re Körperhälfte erleichtern soll; oder sie Johannes von einem Gedanken beherrscht Als die Eingeschlossenen blass mit ange- schwitzten auf dem „Fly-Wheel“, einem war: „Wir machen hier nicht irgendein Ex- spannten Gesichtern aus der Röhre klet- Rudergerät für die spätere Raumstation ISS. periment – wir sind auf einer Mission.“ terten, weinte einer von ihnen. Sie durften also all die furchtbar aufregen- Dennoch zeigten sich nach etwa zwei Die Auswertung der medizinischen und den Dinge tun, mit denen sich auch echte Monaten erste Ermüdungserscheinungen. psychologischen Daten wird wie immer Raumfahrer die Zeit vertreiben. Immer häufiger starrte Johannes nur noch viele Jahre dauern.Vielleicht, so hoffen die Richtig nervtötend waren die endlosen dumpf auf den Bildschirm mit Wolken und Forscher, wird die Moskauer Weltraum- Fragebögen, die aus der Außenwelt zu ih- blauem Himmel darauf. Einmal pro Woche WG sogar bereit sein, über die im Isolator nen drangen. Denn die Fragen wiederhol- durfte er 20 Minuten lang mit seiner bul- aufgetretenen Konflikte zu reden. ten sich. Mal wollten die Japaner, dann garischen Ehefrau telefonieren. Sie spra- Kommandant Johannes dämpft allerdings wieder die Deutschen wissen: „Spüren Sie chen über die Fische im heimatlichen Aqua- Hoffnungen auf allzu pikante Enthüllun- Rückenschmerzen? Haben Sie Muskelka- rium oder übers aktuelle Fernsehpro- gen: „Eine gute Mannschaft trägt ihre Kon- ter? Wo? Und wie haben Sie geschlafen?“ gramm. flikte nicht nach außen.“ Irina Schedrowa Werbeseite

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Türme im Schlick Erdgas aus dem Wattenmeer 10km

Gasförderung Probebohrung abgeschlossen; Probebohrung geplant Förderung geplant Borkum

Ameland Schiermonnikoog Terschelling

Ems

Vlieland Blija

Zuidwal

Harlingen Leeuwarden Groningen Landsat-Satellitenaufnahme

VVD setzt sich für das Projekt ein. „Eine UMWELT explosive Situation“, meint Umweltminis- ter Jan Pronk (PvdA). Jetzt muss Premier Wim Kok vermitteln. Kampf ums Watt Schon Ende der fünfziger Jahre ent- deckten die Niederländer in der Provinz Im niederländischen Wattenmeer soll erneut nach Gas gebohrt Groningen das größte Gasfeld Europas. Seither mauserte sich das Land nach Russ- werden – für das Land ein Milliardengeschäft. Doch land und Norwegen zum wichtigsten Erd- Umweltschützer fürchten um die einzigartige Naturlandschaft. gasproduzenten Europas. Rund 85 Prozent der Einnahmen fließen in die Staatskasse – enn Paul de Cock von der nie- re sieben bis acht Jahre mit Erdgas ver- zusammen 100 Milliarden Mark in den letz- derländischen „Waddenvereni- sorgt. Doch die NAM, zu je 50 Prozent im ten 20 Jahren. Sozialsystem und Wohlstand Wging“ aus seinem Küchenfenster Besitz von Esso und Shell, hat die Rech- der Holländer gründen maßgeblich auf schaut, sieht er den Deich, darauf ein paar nung ohne den Wirt gemacht. Eine Arma- dem Schatz unter ihren Füßen. Schafe und dahinter das graue Meer. „Die da von 22 Naturschutzorganisationen in- Anfang der siebziger Jahre formierte letzte richtige Wildnis in Holland“, klusive WWF und Greenpeace hat sich sich erster Widerstand. Denn bald nach Er- schwärmt der Naturschützer und lässt den mittlerweile gegen den Energieriesen ge- schließung der Gasfelder auf dem Festland Blick über westfriesisches Vorland und Kie- stellt. Jetzt droht selbst die niederländi- erhielt die NAM 1969 die „ewige“ Kon- bitze im Torkelflug schweifen. sche Regierungskoalition am Wattkampf zession auch für das Gas im Watt. Seither Als „prinzipiell horizontal“ beschreibt Schaden zu nehmen. liefern sich Umweltschützer und Energie- de Cock die weite Wattlandschaft. Doch in Auf Antrag der regierenden sozialde- riese regelmäßig juristische Scharmützel. letzter Zeit drängt sich vor seinem geistigen mokratischen Arbeiterpartei PvdA votier- Mehrfach gelang es der „Waddenvereni- Auge Vertikales ins Bild. Fördertürme ragen te das Parlament jüngst fast geschlossen ging“ und ihren Mitstreitern, Probeboh- dann aus dem Schlick, stählerne Gitter- gegen die Gasförderung im Watt.Allein die rungen im Watt zu verzögern. Seit Mitte masten wachsen in den Himmel, Gasfeuer an der Koalition beteiligte rechtsliberale der Achtziger wird zwar auf Ameland, bei spiegeln sich in den Prielen. Blija und in Zuidwal Wattengas ge- „Wenn die hier eine Bohranlage fördert (siehe Grafik). Die groß- aufstellen, dann ist das, als ob man flächige Erschließung des Watten- auf einem Rembrandt einen Be- meeres konnten die Umweltschüt- cher Joghurt umwirft“, schimpft zer jedoch bislang verhindern. der Umweltschützer. Nun reißt den NAM-Managern „Die“, das sind die Techniker langsam der Geduldsfaden. Sie der Nederlandse Aardolie Maat- pochen auf ihr lizenziertes Recht schappij, der niederländischen zur Gasförderung. „Wir ziehen Erdgasgesellschaft NAM. Im Wat- Schadensersatzforderungen in Be- tenmeer, direkt vor de Cocks tracht“, droht Vorstandssprecher Haustür, will das Unternehmen Frank Duut. An zwölf Stellen im nach Erdgas bohren. Bis zu 170 Watt will der Konzern Probe- Milliarden Kubikmeter Gas ver- bohrungen durchführen. An drei mutet der Konzern unterm Standorten könnte die Förderung holländischen Schlick. Könnten bereits beginnen. „Es wäre falsch, sie gefördert werden, wäre der wenn sich die Regierung bei der

Staat um rund neun Milliarden / LAIF / HOLLANDSE HOOGTE K. ZWANEVELD Entscheidung nur von Emotionen Mark reicher, das Volk für weite- Test-Bohrplattform im Watt: Gefahr durch Bodensenkungen? leiten lässt“, sagt Duut. „Die Fak-

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Niederländisches Wattenmeer: „Prinzipiell horizontale Landschaft“ ten sprechen für uns. Die Gasförderung hat mehr als 20 Zentimeter abgesackt ist. Ver- keinen Einfluss auf die Natur.“ ändert habe sich das Ökosystem jedoch Das sehen die Umweltschützer anders. nicht. „Die Umweltschützer lügen“, kon- Das Vorhaben, so glauben sie, bedeute eine statiert der Industrie-Sprecher. ernste Gefahr für das Watt.Vor allem war- „Wir sehen keine Beeinträchtigung der nen sie vor den Folgen von Bodensenkun- Salzmarschen“, assistiert Norbert Dankers, gen, die beim Abpumpen des Gases fast Biologe am niederländischen Alterra unvermeidlich sind. „Ein Drittel der Watt- Greenworld Research Institute. Seit 1986 flächen könnte buchstäblich wegsacken“, überwacht er mit staatlich kontrollierten, sagt Greenpeace-Mitarbeiter Martijn Lo- indes von der NAM bezahlten Studien die dewijkx. Erdgasanlage auf der Ostspitze der Friesen- Schon wenige Zentimeter Senkung insel Ameland. könnten katastrophale Folgen für das fra- „Tellerförmig“ habe sich der Wattboden gile Ökosystem haben, befürchtet er. Die rund um die seit 1986 laufende Anlage ge- matschigen Sandflächen vor den Deichen, senkt, berichtet Dankers. Weil das Watt zweimal täglich von der Flut überspült, nun jedoch häufiger überflutet werde, la- gelten als Kinderstube für viele Fischarten gere sich mehr Sediment ab, der den Ver- und sind einer der wichtigsten Zugvögel- lust fast wieder wettmache. „Die Watt- rastplätze Europas. Durch den unterirdi- fläche wird sich etwas verkleinern“, räumt schen Gasentzug gleichsam tiefergelegt, der Biologe ein. „Nach fünf bis zehn Jah- drohe dem System der GAU, glaubt Lode- ren ist aber wieder alles beim Alten.“ wijkx. Schon sieht er Seehundbänke samt Im Vergleich zu den Folgen des klima- Heulern auf Nimmerwiedersehen in den bedingten Meeresspiegelanstiegs sei der Fluten versinken. Höhere Wasserstände mögliche Landverlust zu vernachlässigen, könnten die Salzwiesen vernichten. Wat- glaubt Dankers.Auch Tourismus, Fischerei vögeln wie Rotschenkel oder Knutt drohe und Militärübungen setzten der Natur- Nahrungsknappheit. landschaft zu. „Man stelle sich vor, die Re- Langfristig befürchtet der Umwelt- gierung würde einen Teil des Geldes aus schützer den Ausverkauf des Naturraumes: der Gasförderung in den Schutz des Wat- „Ist die Gasförderung erst erlaubt, können tenmeeres pumpen“, sagt er. „Das würde andere wirtschaftliche Aktivitäten nicht dem Naturraum viel mehr helfen als der mehr gestoppt werden.“ Auch vor Unfäl- derzeitige Protest.“ len, die das Watt dauerhaft verseuchen Wattenmeer-Advokat de Cock ist es leid, könnten, warnt Lodewijkx. „Kein Mensch um Zentimeter und Geld zu feilschen. kann die Risiken abschätzen.“ „Menschen wollen immer alles messen NAM-Sprecher Duut hält das alles für können“, klagt der Umweltschützer. „Das Panikmache. „Den Umweltschützern fehlt Wattengas liegt hier seit Millionen von Jah- jedes Verantwortungsgefühl“, sagt er. ren.Warum muss ein derart empfindliches „Hier geht es um ein Milliardengeschäft.“ Gebiet überhastet erschlossen werden?“ Das Unternehmen beteuert, sich im „Mein Herz hängt am Wattenmeer“, Wattenmeer strikten Umweltauflagen zu sagt der Naturschützer und hofft auf ähn- unterwerfen. So sollen die Gasfelder hori- liche Einsichten der Politiker. Die nächste zontal angebohrt werden, damit die För- Runde im Kampf ums Wattenmeer steht deranlagen statt im Watt auf dem Festland in Den Haag am 8. Dezember an. Ob die stehen können. Probebohrungen verspricht Regierung wegen des Gases die Koalition die NAM nur noch zwischen Oktober und gefährden werde, sei zwar fraglich, glaubt Februar durchzuführen, wenn weder Jung- de Cock. Die Öffentlichkeit stehe jedoch fische noch Zugvögel im Watt weilen. Aus- klar auf Seiten der Watt-Schützer. schließlich per Schiff, nie mehr im lärmen- Ein kürzlich erschienener Kommentar den Helikopter, werde man die Techniker der Zeitung „NRC Handelsblad“ zur Bohr- künftig an ihren Arbeitsplatz bringen. Lizenz der NAM brachte den Volkszorn Zwar muss Duut einräumen, dass der auf den Punkt: „Ewige Genehmigungen Wattenboden stellenweise bereits jetzt um sind total out.“ Philip Bethge

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HERZINFARKT Leben unter der Lupe Eine Stadt lebt für die Forschung: Gesundheitsdaten, seit fünf Jahrzehnten erhoben an 10000 Bürgern der US-Kleinstadt Framingham, brachten viele bis dahin unsichtbare Feinde des menschlichen Herzens ans Licht.

betes und Bewegungsmangel blieben im Laufe der Jahr- zehnte im Schleppnetz der amerikanischen Gesundheits- fahnder hängen. Der Begriff des „Risikofaktors“ ist seit Framingham in den Grund- wortschatz der Kardiologen eingeflossen. Um ihren Lorbeer in den Hallen der Medizingeschich- te brauchen sich die Einwoh- ner der Stadt deshalb nicht zu sorgen. Beim 50-jährigen Jubiläum der Langzeitstudie im Herbst letzten Jahres pras- selten die Komplimente der Gesundheitspäpste wie reife Früchte auf die Teilnehmer. Framingham, erklärte Daniel Levy, derzeitiger Direktor der Studie, habe „mehr als jede andere Stadt in den USA

S. JOHNSON dazu beigetragen, die Ge- Herzstudien-Stadt Framingham: Lorbeer in den Hallen der Medizingeschichte sundheit unseres Landes zu fördern“. nzählige Schikanen ließen die Be- in zweijährigen Abständen nach allen Re- Auch der nüchternen „New York Times“ wohner des kleinen Städtchens geln der medizinischen Diagnostik durch- waren die „berühmtesten Versuchskanin- Uüber sich ergehen. Seit 1948 haben leuchtet. chen der Welt“, wie sie der Autor nannte, die Mediziner sie immer wieder gemessen Den Probanden, zu erkennen an den eine Eloge wert. Wenn alle Menschen, und gewogen, geröntgt, in den Computer- weißen Herzen auf ihren Bademänteln, die der Herzstudie einen Teil ihres Le- tomografen gesteckt oder zur Blutabnah- wurde die ärztliche Inquisition niemals zu bens verdanken, zur Jubiläumsgala an- me gebeten. viel. Nur knapp fünf Prozent der ersten gereist wären, hieß es dort, dann hätten Manche der menschlichen Testkandida- Testgeneration von 1948 scherten aus der die Veranstalter „Millionen und Aber- ten verbrachten die Nächte verkabelt mit Untersuchung aus. 1971 rekrutierten die millionen von Klappstühlen auftreiben“ Elektroden. Andere wurden vom Finger Forscher über 5000 Nachkommen der Ur- müssen. des Urologen traktiert oder auf einen sprungskohorte. Jetzt warten bereits die Viel Ehre für ein Unternehmen, das schier endlosen Parcours von Hör-, Seh-, Kinder dieser zweiten Generation darauf, 1948, mitten in der „Fleisch-Butter-und- Gedächtnis-, Leistungs- und Intelligenz- in das Forschungsprogramm aufgenommen Eier-Ära“ („New York Times“), eher laut- tests geschickt. „Es war nicht immer ange- zu werden. los und bescheiden begonnen hatte. Einer nehm“, erinnert sich ein Teilnehmer, „aber Der gigantische Aufwand hat sich ge- von vier amerikanischen Männern über 55 ich sagte mir: Für die Wissenschaft tust du lohnt. Dank der „Framingham-Herzstu- erkrankte in jenen Jahren am Herzen. das. Was immer sie von uns verlangten, die“ gilt der Infarkt in der Medizin nicht Herz-Kreislauf-Erkrankungen rangierten – wir haben es gemacht.“ mehr als unerklärlicher Maschinenschaden damals wie heute – an der Spitze der To- 50 Jahre lang haben rund 10000 Bürger des Pumpmuskels. desursachenstatistik. Doch über die Hin- von Framingham, einer unscheinbaren Zwar wurde die Beteiligung von Bakte- tergründe wussten die Mediziner vor 50 65000-Einwohner-Stadt in der Nähe von rien (Chlamydia pneumoniae) an der Ent- Jahren so gut wie nichts. Boston, in der Gummiaufkleber und Hi- stehung von Herzschäden, derzeit heißes- Als die Studie begann, qualmten noch 70 Fi-Lautsprecher produziert und General- tes Thema der Infarktforschung, zuerst in Prozent der amerikanischen Männer. Nach Motors-Wagen montiert werden, an einer Schweden aufgedeckt. Doch die Forscher den Entbehrungen der wirtschaftlichen De- Art medizinischer Rasterfahndung teilge- in Framingham waren es, die mit als erste pression und des Weltkriegs stellten die nommen. den Zusammenhang zwischen erhöhten Hausfrauen der US-Mittelschicht ihren Sie wurden nach ihren Essensgewohn- Blutfettwerten und Herzinfarkt erkannt Ehemännern bevorzugt fettreiche Kost auf heiten und Ängsten, nach Alkohol haben. den Tisch. Wer an der Pumpe kränkelte, und Zigaretten, Ausbildung, Kopfschmer- Auch andere schädliche Einflüsse wie dem rieten die Mediziner zu einem mög- zen und Schlafgewohnheiten befragt und Nikotin, Bluthochdruck, Übergewicht, Dia- lichst vorsichtigen und bewegungsarmen

274 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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Leben. Körperliche Anstrengungen, gar π Frauen sind gegen Herz-Kreislauf-Er- Trägheit der Couch-Potatoes rühren nach Training, waren tabu. krankungen besser gefeit als Männer, Ansicht dieser Mediziner in vielen Fällen Erst die vom Nationalen Herz-, Lungen- weil ihnen das weibliche Sexualhormon von biografischen Konflikten her, für die und Blut-Institut der USA finanzierte Östrogen einen unsichtbaren Schutz- die Risikofaktoren allein noch keine Er- Langzeitstudie brachte Licht ins Dunkel schild verleiht. Nach dem Versiegen der klärung liefern. des Ursachengeflechts. Hormonquelle jenseits des Klimakte- „Welche Lebenskonstruktionen es sind“, Dabei hatten es die Emissäre der Studie riums steigt auch ihr Herzrisiko – die kritisiert Annelie Keil, Gesundheitsfor- anfangs nicht leicht, Teilnehmer für den Hormonsubstitution beruht auf dieser scherin an der Uni Bremen, „die beim Ein- aufreibenden Medizinmarathon zu ködern. Erkenntnis der Framingham-Forscher. zelnen im Laufe der Zeit bis auf die Ebe- „Man musste die Leute förmlich anbet- ne der Zellen durchschlagen, wurde durch teln“, erinnert sich eine heute 83-Jährige. Framingham nicht beantwortet.“ „Keiner hatte es gern, dass ihm andere im Dennoch haben die US-Mediziner mit Privatleben herumschnüffelten.“ Die Zei- ihrer Langzeitstudie den Vormarsch des ten haben sich geändert: „Jetzt“, sagt die Zivilisationsleidens zumindest verlang- Frau, „würden sie sich den Arm dafür bre- samt. Die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkran- chen lassen, dass sie in die Studie aufge- kungen ist in den USA in den vergangenen nommen werden.“ 30 Jahren um über 50 Prozent gesunken. Gut zehn Jahre vergingen nach 1948, bis Die potenziellen Opfer sind vorsichtiger die US-Forscher die Millionen von Ge- geworden: Nur noch 28 Prozent der ame- sundheitsdaten gesichtet hatten und in rikanischen Männer rauchen, der regel- Fachblättern erste Teilergebnisse veröf- M. PETERSON / SABA VISUM FOTOS: mäßige „Work-out“ zählt zum gesell- fentlichten. Seither hat vieles, was die Stu- schaftlichen Ritual. die aus der Kleinstadt Framingham über Seit einigen Jahren destillieren die Fra- die unsichtbaren Feinde des Herzens ans mingham-Forscher aus ihren Daten auch Licht brachte, das medizinische Wissen re- Erkenntnisse über andere Zivilisations- volutioniert: leiden wie Krebs, Diabetes, Alzheimer, π Bluthochdruck zählt auch im Alter nicht Osteoporose, Schlaf-, Hör- und Sehstö- zu den lässlichen Sünden des Wohl- rungen. Auch genetische Untersuchungen stands. Wer für den systolisch gemesse- gehören seit 1987 zum Untersuchungspro- nen Blutdruck einen Wert von 100 plus gramm. Alter akzeptiert, riskiert Schäden für Doch was auch immer die Mediziner Herz und Kreislauf. Bei einem 70-Jähri- beispielsweise in den Genen der Studien- gen mit einem systolischen Blutdruck teilnehmer noch entdecken werden, eine von 170 ist das Schlaganfall-Risiko ver- Botschaft halten sie schon heute für aus- vierfacht. Framingham-Forscher wie Wil- gemacht: Den im Erbgut verschlüsselten liam Castelli, Leiter der Studie von 1979 Befehlen wird beim Kampf gegen die bis 1995, haben den idealen Blutdruck Herz-Kreislauf-Geißel keine größere Be- radikal nach unten korrigiert.Werte von deutung zukommen als dem Verhalten und mehr als 140/90 erschienen ihnen als dem Lebensstil der Menschen. „Überge- zu hoch. Nach neuesten Empfehlungen wicht etwa“, erklärt Christopher O’Don- der WHO sollten sie nicht über 130/85 nell vom Nationalen Herz-, Lungen- und liegen. Blut-Institut, „trägt ebenso viel zum Blut- π Nikotin schadet dem Herzen, mit dieser hochdruck bei, wie es die Gene tun.“ Erkenntnis begann für die Framingham- Nicht mehr alle Mitstreiter der Jahr- Forscher ein jahrzehntelanger Clinch mit Tests zur Herzstudie in Framingham hundertstudie können sich in ihrem Ruhm der Tabakindustrie. Er endete erst 1981, „Weltberühmte Versuchskaninchen“ als Daten spendende Medizinpioniere son- als Framingham-Daten auch die Zweck- nen. Nur jeder Dritte aus der Testgenera- behauptungen der Zigarettenhersteller Schulmediziner haben das mit der Fra- tion von 1948 ist noch am Leben. Dass die Lügen straften, Filter könnten die Ge- mingham-Studie in die Lehrbücher einge- Übriggebliebenen ihren Körper nach so sundheitsgefahren bannen. gangene Risikofaktoren-Modell in der Ver- langen Jahren noch immer bereitwillig in π Idealgewichtige leben nicht länger als gangenheit gelegentlich zu mechanistisch den Dienst des medizinischen Fortschritts Mollige. Wer mit Messer und Gabel in interpretiert. Eine Art Fahndungsmedizin stellen, erfüllt manche mit einer Art kind- Maßen sündigt und ein paar Pfund zu nach Herzkillern setzte ein. lichem Stolz: „Sie glauben gar nicht, wie viel auf die Waage bringt, muss dafür Ebenso wichtige „weiche“ Faktoren wie oft ich den Satz hier schon gehört habe: nicht eher sterben. Der Jo-Jo-Effekt vie- psychosozialer Stress, Angst, depressive ,Ich bin nämlich noch einer von den ers- ler Diäten, bei denen die Pfunde erst Verstimmungen, soziale Isolation, man- ten, wissen Sie, Frau Doktor‘“, erzählt purzeln und sich anschließend wieder gelnde Anerkennung, Hoffnungslosigkeit Sue Anderson, klinische Managerin der an die Hüften hängen, zieht den Pump- oder auch emotionale Überforderung wur- Studie. muskel stärker in Mitleidenschaft als ein den zwar immer wieder als Gefahren für Seit die Mediziner ihren Versuchsper- moderater Speckring. Echte Fettsucht das Herz genannt, aber nicht weiter ver- sonen neuerdings auch nahe legen, ihr bleibt dagegen ein ernst zu nehmender folgt. Gehirn nach dem Tod dem nicht weit von Risikofaktor. Ein Fehler, den die Mediziner erst seit Framingham entfernten Harvard Brain π Körperliche Aktivitäten bringen den kurzem ausbügeln, denn über 50 Prozent Tissue Resource Center in Belmont zu Pumpmuskel wieder auf Vordermann. aller Herzerkrankungen sind nach Ansicht vermachen, gesellt sich zur Genugtuung Wer nach dem ersten Knacks im Kör- von Psychokardiologen mit den Standard- gelegentlich auch ein Schuss Selbst- permotor ängstlich auf jeden Sport ver- Risikofaktoren von Framingham allein ironie: „Am Ende“, unken die Studien- zichtet, hat bei der Wiedergenesung und nicht zu erklären. Auch das riskante Ver- Oldies verschmitzt, „haben wir also doch bei der Vorbeugung gegen den Zweitin- halten von Rauchern, Vielessern und noch das Hirn gehabt, nach Harvard zu farkt die schlechteren Karten. Workaholics sowie die lebensgefährliche gehen.“ Günther Stockinger

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„Deutlich mehr als 80 Prozent der Arbeit“, so der Neckarsulmer Werksleiter Otto Lind- ner, „werden nun durch Automaten erle- digt.“ Audi will bis zu 60000 A2 pro Jahr produzieren und sich in Zukunft sogar noch weiter vorwagen: Ab 2005 soll auch der A6, von dem jährlich knapp 200000 Exemplare gebaut werden, mit Alu-Karosse vorfahren. Dem A2 ist die Aufgabe zugedacht, an den Marktanteilen der A-Klasse von Mer- cedes zu knabbern. Das Basismodell wird vom 75-PS-Benziner aus dem Baukasten des VW-Konzerns angetrieben. Der Clou der Baureihe aber ist die „A2 1.2 TDI“-Version, die im Sommer in den Handel kommt. Mit dem dreizylindrigen Turbodieselmotor (61 PS) wird dies, nach dem VW Lupo, das zweite deutsche Drei- literauto sein. Noch denken die Audi-Stra- tegen darüber nach, ob sie das Ökomobil mit einem vergleichsweise bescheidenen „Kampfaufpreis“ von nur gut 1000 Mark in den Markt drücken sollen. Weniger Masse führt zu geringerem Ver- Produktion der A2-Karosserie: Aussöhnung mit den Robotern brauch – diese simple Formel lässt den A2 TDI mit 2,99 Litern Kraft- stoff 100 Kilometer weit AUTOMOBILE kommen. Die Alu-Karosse- rie wiegt 43 Prozent weniger Wettstreit der als vergleichbare Stahlbau- ten; das Auto, das im Innen- raum mehr Platz als der A3 Werkstoffe bietet, wiegt als TDI nur 825 Kilogramm. Das Dreiliterauto A2 von Audi Von der Leichtbauweise des A2 werden die Käufer wird das erste Massenauto sein, auch bei ihrer Versicherung dessen Karosserie ganz aus Spar-Audi A2: Knabbern an der A-Klasse von Mercedes profitieren. Die Assekuran- Aluminium besteht. Ab 2005 soll zen haben signalisiert, dass auch der A6 stahlfrei sein. zaghafte Versuche: In Neckarsulm hat- sie den A2 wegen geringerer Reparatur- ten die NSU-Werke, damals „Königlicher kosten bei Bagatellunfällen in die Vollkas- ie schüchterne Einser-Abiturien- Hoflieferant“, schon 1913 einen Prototyp koklasse 11 einstufen wollen – die zweit- ten mühten sich die hohen Her- aus Aluminium entwickelt – und wenig niedrigste von 30 möglichen Eingruppie- Wren im Neckarsulmer Audi-Werk, später verworfen. 1948 holperte der erste rungen. ihren Stolz unter Kontrolle zu halten. Land-Rover aus Alu durchs Gelände, 1990 Lob gibt es von allen Seiten, selbst Endlich, nach Monaten kränkender Kri- verarbeitete Honda den Rohstoff Bauxit Greenpeace findet wohlwollende Worte für tik am Fahrverhalten ihrer TT-Baureihe, in der Alu-Karosse seines Sportwagens Audis Alu-Engagement. Schon nach dem konnten Vorstandschef Franz-Josef Paef- NSX. zweiten Recycling der Leichtbau-Karosse, gen und Technik-Vorstand Werner Misch- Im Wettstreit der Werkstoffe setzte sich sagt deren Autoexperte Günter Hubmann, ke auftrumpfen und die Vorzüge ihres fast immer der Stahl durch – auch wenn sei „die Energiebilanz im Vergleich mit der Hightech-Produkts A2 anpreisen. der durchschnittliche Alu-Anteil in Perso- Stahlproduktion gleich“. Der Stolz der Ingenieure ist nicht unbe- nenwagen seit 1955 von 19 auf 85 Kilo- Wer aber wird bereit sein, für das Ingol- gründet: Die Entwicklung des kompakten gramm stieg. Die Herstellung von Alu- städter Dreiliterauto mit der Alu-Karosse A2, der im Frühsommer nächsten Jahres minium ist energieintensiv und teuer, das Geld draufzulegen? Vorstandschef Paefgen bei den Händlern stehen soll, kommt ei- Material stand zudem lange im Ruch, nicht hält sich mit optimistischen Prognosen nem Quantensprung in der Automobil- genügend verwindungssteif zu sein. Robo- zurück. Mit 50000 Käufern rechne er, aber technik gleich. ter reagierten auf Alu mit Arbeitsverwei- nur jeder Zehnte werde sich für den Tur- Erstmals verzichtet ein Hersteller in der gerung, der hohe Anteil von Handarbeit bodiesel entscheiden. In den letzten Jahren Massenfertigung auf den Einsatz von Stahl rechnete sich für die Autokonzerne nicht. sei „der Anspruch an bessere Fahrleistung beim Karosseriebau und setzt ganz auf das Seit 1994 bietet Audi die aus Aluminium und mehr Komfort deutlich schneller ge- Leichtmetall Aluminium. „Aus optischen hergestellte Limousine A8 an, in der sich wachsen als die Bereitschaft, für geringen Gründen“ soll der Einstiegspreis knapp auch Kanzler Gerhard Schröder werbe- Verbrauch einen Mehrpreis zu zahlen“. unter dem des A3 liegen – für rund 32000 wirksam durch die Republik chauffieren Ein stiller Helfer könnte die rot-grüne Mark wird Audi ein Vernunftauto anbieten, lässt. Beim teuren Flaggschiff – Jahrespro- Bundesregierung sein: Der im Zuge der dessen Karosserie mit geringem Ener- duktion 15000 Exemplare – kann es sich Steuerreform in den nächsten Jahren dras- gieaufwand recycelbar ist. der Konzern leisten, nur 20 Prozent der tisch steigende Benzinpreis, so ein Audi- Anders als im Flugzeugbau fristete der Arbeitsschritte Robotern zu überlassen. Stratege, werde dem Absatz des Dreiliter- Leichtbau in der Autobranche bisher ein Für die A2-Herstellung gelang es, die Ma- autos „gewiss nicht schaden“. Nischendasein. Zwar gab es immer wieder schinen mit dem Leichtmetall auszusöhnen. Carsten Holm

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FILM „Wie beim Gladiatorenkampf“ Roland Emmerich, 44, deutscher Hollywood-Regisseur („Independence Day“, „Godzilla“), über Gewalt im Kino und seinen Zeitreise-Thriller „The 13th Floor“, der jetzt in die deutschen Kinos kommt

SPIEGEL: Herr Emmerich, ähnlich wie an amerikanischen High Schools laufen jetzt auch in Deutschland Jugendliche Amok mit tödlichen Folgen. Tragen Filme wie „Tötet Mrs.Tingle!“ dar- an eine Mitschuld? Emmerich: Nun ja, im Kino sieht es eben oft sehr cool aus, wie Leute umgebracht werden. Doch viele Jugendliche können of- fenbar nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Fik- tion. Die erschießen jemanden, und dann lachen sie sich tot, weil sie gar nicht kapieren, dass der nicht mehr aufsteht. SPIEGEL: Hat es im Kino nicht schon immer Gewalt gegeben? Emmerich: Richtig, und doch hat sich in den letzten Jahren et- was verändert. Als Sam Peckinpah 1969 in Zeitlupe zeigte, wie Geschosse menschliche Körper zerreißen, waren die Zuschau- er ungeheuer schockiert. Wenn heute in einem Film am Ende der Gute den Bösen auf brutalste Art und Weise umbringt, ju- beln alle wie verrückt – wie beim Gladiatorenkampf. SPIEGEL: Klingt wie ein Schuldeingeständnis. Emmerich: Jeder muss mit sich selbst abmachen, wie weit er gehen will. 1992 habe ich „Universal Soldier“ gedreht mit Jean- Claude Van Damme und Dolph Lundgren. Was sollte ich da anderes machen, als sie sich die Köpfe einschlagen zu lassen? SPIEGEL: Drehen Sie so etwas gern?

Emmerich: Nein, es war eine rein CINETEXT mechanische Angelegenheit. Bumm- Emmerich-Film „Universal Soldier“ (1992) bumm-bumm – und das war’s. Nachdem meine Mutter den Film SPIEGEL: Auch in dem von Ihnen produzierten neuen Film „The gesehen hatte, sagte sie: Roland, das 13th Floor“ gibt es einen Kopfschuss zu sehen. war schon ziemlich extrem. Schon Emmerich: Ja, aber es ist ein realistischer Kopfschuss. Jemand

DPA deswegen habe ich auf so etwas stirbt tatsächlich, das zeigt die Grausamkeit des Tötens. So et- Emmerich keine große Lust mehr. was nur anzudeuten hätte bei weitem nicht diese Wirkung.

LITERATUR aus der wunderbar filigrane Schelmen- es Harald Schmidt und das Stamm- roman „Herrn Kukas Empfehlungen“. tischklischee gern den Polen nachsagen. Waldemars Traum Knapps Held heißt Waldemar und ist Waldemar staunt: „Mir wurde klar, nur vordergründig ein unschuldig- dass ich soeben einen Künstler bei der vom Steinzeitsex traumäugiger Parzival; in Wahrheit Arbeit gesehen hatte.“ lernt er, angeleitet von den Tipps des In scheinbar kunstlosen, geradlinigen unger Mann aus Polen bricht, fast höchst zwielichtigen Orakel-Onkels Sätzen voller hintergründigem Humor Johne Geld, zu seiner ersten Reise in Kuka aus der Warschauer Heimat, sehr erzählt Knapp von erotischen und kapi- den Westen auf – und landet dabei unter schnell, sich in der westlichen Groß- talistischen Versuchungen, lässt seinen miesen Ausbeutern, fremdenfeindlichen stadt durchzuschlagen. Dabei Helden von „regelmäßigem alten Damen und pfiffigen Tagedieben ist Wien naturgemäß ein mit Steinzeitsex“ delirieren und in im schönen, schaurigen Wien. Im allerlei Skurrilitäten gesegne- böse Fallen tappen – und zim- schlimmsten Fall hätte aus diesem Buch ter Schauplatz, der obendrein mert aus den Verwirrungen eine Art Papalagi-Roman der Neunziger von bizarren Typen bevölkert des Zauberlehrlings Waldemar werden können, voller wohlfeiler Kritik wird. Ausgerechnet ein Stutt- eines der unterhaltsamsten an der westlichen Dekadenz, gesehen garter Medizinstudent bei- und durchtriebensten Bücher diesmal nicht mit den Staune-Augen spielsweise erweist sich in die- der Saison. eines Südsee-, sondern eben eines Ost- sem Buch als skrupelloser block-Insulaners. Im Glücksfall des in Kleptomane, der so virtuos Radek Knapp: „Herrn Kukas Empfeh- Wien lebenden und aus Polen stammen- Feinkostspezialitäten und lungen“. Piper Verlag, München; 252 Sei- den Autors Radek Knapp, 35, wurde dar- Walkmen zusammenklaut, wie ten; 38 Mark.

der spiegel 47/1999 283 Szene

AUSSTELLUNGEN Kunst der Verfemten ie hießen „Schreckenskam- Smer“ oder „Entartete Kunst“: Ausstellungen, in denen die Nazis von 1933 an moderne Kunst ver- höhnten. Sie prangerten Werke von bekannten Avantgarde-Ma- lern wie Wassily Kandinsky oder Max Beckmann an – aber auch von Kollegen, die erst dabei waren, sich einen Namen zu ma- chen: junge Künstler, um 1900 geboren, die einmal eine zweite Generation der Moderne bilden sollten. Malverbote verhinderten

schon den Beginn ihrer Karrie- MUSEUM BADEN ren. Einige konnten emigrieren, Isenburger-Bild (1926/30) nicht wenige starben im Krieg oder in Konzentrationslagern. Die Überlebenden aber fanden nach 1945 mit ihrer oft figürlich und expressiv orientierten Kunst schwer Anschluss an die neue abstrakte Zeit im Westen oder an den sozialistisch genormten Realismus im Osten Deutschlands. Viele Bilder aus der Vorkriegszeit Nagel-Gemälde (um 1927), Soucek-Zeichnung (1933, o.) verschwanden auf Speichern. Der Kunstantiquar Gerhard Schneider stieß in den achtziger Jahren ten Porträts. Nagel, vom NS-Kunstterror zermürbt, auf einen der verschollenen Kunstschätze, er be- war 1942 nach mehreren Herzinfarkten mit 50 Jah- gann zu forschen und zu sammeln. Jetzt stellt das ren gestorben. Eric Isenburger, Jahrgang 1902, Museum Baden in Solingen-Gräfrath unter dem flüchtete 1939 nach Frankreich – und landete im Titel „Verfemt, Vergessen, Wiederentdeckt“ 540 Internierungslager. Ihm gelang eine zweite Flucht Gemälde und Grafiken aus Schneiders Bestand bis 12. März in die USA. Der Mann, der in den späten zwanziger Jahren aus. Sie stammen von meist unbekannten, oft aber hoch das ernste Bildnis eines „Jüdischen Mädchens“ geschaffen talentierten Künstlern; darunter der Maler Slavi Soucek oder hatte, blieb wie viele seiner namenlosen Künstlergeneration sein Kollege Valentin Nagel mit seinen kubistisch beeinfluss- auch im Exil ein Außenseiter.

Kino in Kürze

„Es beginnt heute“. Weit weg von Paris (Philippe Torreton) leitet die Vorschule „Wonderland“. Was er anpackt, ist jedes und den Beziehungsspielchen selbstver- einer Kleinstadt, in der die Arbeitsplät- Mal frisch und lebhaft: Das macht Mi- liebter Metropolen-Yuppies, die der fran- ze rar sind und die Familien an Armut, chael Winterbottom zum Power-Mann zösische Film sonst so liebevoll ausbrei- Alkohol, Gewalt oder Hoffnungslosig- unter den jüngeren britischen Regisseu- tet, ist dieses herbe sozialrealistische keit zerbrechen. Wie Sisyphos stemmt ren. Diesmal verfolgt er mit 16-mm-Hand- Drama angesiedelt. Sein Held Daniel sich Daniel gegen den grassierenden Ver- kamera und ungefiltertem O-Ton ein fall, versucht, Sozialarbeiter Wochenende lang die Mitglieder einer zu alarmieren, Gelder zu be- Londoner Kleinbürgerfamilie: ein vom schaffen und verstörte, miss- Leben zermürbtes Elternpaar, dazu drei handelte Schützlinge zu ret- erwachsene Töchter und ein spätgebore- ten. Mit leidenschaftlicher ner Sohn, die alle längst mit den eigenen Wut schildert Regisseur Ber- Miseren ihre eigenen Wege gehen. Nichts trand Tavernier, wie gerade Sensationelles geschieht; Frust siegt über die Schwächsten der Gesell- Lust; man trifft sich, ohne sich viel zu sa- schaft von der Politik im Stich gen zu haben; ein Hund wird vergiftet, gelassen werden. „Es beginnt und ein Kind wird geboren, das den Na- heute“ ist weniger ein klassi- men Alice bekommt, weil man doch nie scher Spielfilm als eine Be- aufhört zu hoffen, diese Welt könnte standsaufnahme und ein Ap- sich als „Wonderland“ erweisen. Mit ei- pell: das verzweifelte SOS ei- ner Hand voll wunderbarer Schauspieler

ARSENAL nes Sisyphos, dem allmählich lässt Winterbottom aus banalem Lebens- Szene aus „Es beginnt heute“ die Kräfte ausgehen. rohstoff Lebenswahrheit hervorscheinen.

284 der spiegel 47/1999 Kultur

POP Postumer Krieg Am Rande er Hotelgast in Zimmer 524 des Schwer hystorisch DRitz Carlton in Sydney war nackt, als er gefunden wurde; sein Hals hing in er wachsende Bauch, das der am Türgriff befestigten Schlinge ei- Dschwindende Haar, die Ver- nes Ledergürtels. Selbstmord? Ein Un- ständnislosigkeit in den Gesich- fall beim Experimentalsex? Darüber tern der Jüngeren, wenn der reife- streitet Paula Yates, die Verlobte des To- re Fußballfreund sehnsuchtsvoll ten, bis heute, zwei Jahre danach, mit den Namen Wolfgang den australischen Behörden, die den Fall längst unter der Rubrik „Suizid“ zu den Overath ausruft – ech- Akten gelegt haben. Ein Skandal war es te Kümmernisse des auf jeden Fall – denn der Tote hieß Älterwerdens. Dann Michael Hutchence, war erst 37 Jahre alt aber gibt es Sorgen, und Sänger der australischen Popgruppe die hätte der Ange-

INXS. Zuletzt hatte vor allem sein Zwist AFP / DPA jahrte gern. Sie stehen mit Yates’ Ex-Mann, dem „Live Aid“- Hutchence (1997) in der „FAZ“, hinter Konzert-Organisator Bob Geldof, für der offenbar nicht hässliche Schlagzeilen gesorgt. Nun gibt Und als hätte er die erbitterten Kämpfe nur ein kluger, son- es einen postumen Kommentar zur Lie- um sein Erbe vorausgesehen – es geht dern manchmal auch besschlacht: „Alles ist erlaubt in der um mehrere Millionen Pfund –, tönt ein wackelnder Kopf Liebe und im Krieg“, singt Hutchence Hutchence in „Slide Away“: „Ich will auf einem zum zweiten Todestag er- einfach nur davonsegeln – und wieder steckt. „Wie lange wird schienenen Soloalbum (V2 Records). lebendig werden.“ es dauern“, fragt der Herausgeber Frank Schirrmacher, „bis irgend- ein relevanter Künftiger uns all- samt und das, wofür wir stehen, KULTURGESCHICHTE archäologischer Fundstücke und zahl- zu Geschöpfen des letzten Jahr- reiche – erstmals öffentlich zugängliche tausends erklären wird?“ Stummfilmheld Freud – Handschriften Freudscher Schlüssel- Wie aufregend schrecklich, diese texte; dazu Originaldrucke wie die drohende numerische Entwertung: enau ein Jahrhundert nach dem Er- schmucklose Broschüre „Warum Gscheinen der „Traumdeutung“, ei- Krieg?“, in welcher der Völkerbund Ätsch, ich hab die 20 in meinem nem Hauptwerk Sigmund Freuds, erin- 1933 den Briefwechsel zwischen Freud Geburtsjahr und ihr bloß die 19. nern zwei Ausstellungen in Wien an den und Einstein veröffentlichte. Kritisches Nun müssen die „FAZ“-Leser zu- Begründer der Psychoanalyse. „Konflikt zum Paternalismus der Seelendoktorei sammen mit vielen Edelfedern un- und Kultur“ heißt die umfangreichere gibt es ebenfalls: „Freud war der Vater ter dem Titel „Das Moses-Pro- der Psychoanalyse. jekt“ über das hundsgemeine Wei- Mutter hatte sie keine“, verkündet im Großfor- terfließen der Zeit nachdenken mat ein feministisches und die hochwichtige Frage, ob die Bonmot von Germaine Gegenwart „elegisch“ oder gar Greer. Als fortwirkende „vergeudet“ sei – als gäbe es am Diskussion, nicht als Ende der Geschichte den großen starres Museumsobjekt Spaßbewerter und Abrechner. zeigt auch die Parallel- Schon recht: Rückblicke zum Jahr- ausstellung „Psycho- analyse in Bewegung“ tausendende sind angebracht, so ihren Gegenstand – in viel Zeit für Geschichte muss sein. der legendären Berg- Aber die Frage, wie es der in der SIGMUND FREUD HAUS ARCHIV WIEN COURTESY MARK PATERSON ASS. / LIBRARY OF CONGRESS / LIBRARY ASS. MARK PATERSON COURTESY gasse 19, wo der Erfor- Gegenwart ergrauende Mensch Freud (1938), Notizen für eine BBC-Rundfunkrede (1938) scher des Unbewussten schaffen könnte, mit historischen von 1891 bis 1938 lebte Selbstbeschreibungen künftigem von beiden, die zunächst in Washington und praktizierte. Das Kernstück dieser Vergessen oder künftigem Nase- zu sehen war und nun bis zum 6. Febru- Schau ist ein 16-mm-Stummfilm von ar im „Aurum“ der Nationalbibliothek 1929, in dem der Freud-Analysand und rümpfen durch später Geborene am Josefsplatz präsentiert wird. Im Kamera-Amateur Philip R. Lehrman den zuvorzukommen, hat doch schwer Zentrum dieser Schau steht, hinter Meister im Kreise seiner Schüler zeigt. hystorische Züge. Gegen ge- Glas, eine Rekonstruktion der berühm- Unter ihnen eine von Freud analysierte schichtliche Blässe hilft geschicht- ten Couch mit dem originalen Teppich- Urgroßnichte Napoleons – Marie Bona- liche Reflexion wenig. Überwurf. Darum herum gruppieren parte (1882 bis 1962), die mit ihrem er- Immerhin, ihr 2000er, ihr habt die sich so verschiedenartige Dokumente erbten Vermögen 1938 dem greisen und wie das (glänzende) Abiturzeugnis und krebskranken Gelehrten zur Flucht vor Nullen, wir aber hatten Overath. die Steinbeile des besessenen Sammlers den Nazis ins Londoner Exil verhalf.

der spiegel 47/1999 285 Kultur

MUSIK Von der Wall Street nach Walhall Der amerikanische Multimillionär Alberto Vilar ist der spendabelste Mäzen der internationalen Musikszene. Jetzt will der Investor und Opernfreak auch in Deutschland einsteigen: Bayreuth und Baden-Baden können auf reichen Dollarsegen hoffen. Von Klaus Umbach

per ist Opium fürs Volk der Melo- nossen: „Unglaublich, traumhaft, jedes Mal nur so zum Fenster rein. Für sein lieb Kind manen. Belcanto benebelt herrlich großartiger.“ verschenkt er ein Vermögen. Odie Sinne, schon ein einziges ho- So einer wie Vilar steckt nicht nur seine „Ich kann keine Schecks ausstellen, um hes C stimmt high, jedes satte Crescendo geschäftlichen Flugrouten, sondern seinen den Hunger in Biafra zu stillen, das ist Sa- sorgt für den Kick zur seligen Dröhnung. ganzen privaten Lebensplan nach den che der Politiker“, kommentiert Vilar sei- Oper singt die Leute um den Verstand, und Hochburgen der Gesangskultur ab, Kurs ne zielgerichtete Geberlaune, „aber ich genau deshalb gehen die Leute hin. Salzburg und Wien, London und St. Pe- helfe den Menschen, Spaß an der Oper zu Mit „Aida“ im Ohr heben sie ab, Mimis tersburg, Bayreuth, Glyndebourne, New haben. Ich weiß, wie man Money macht, eiskaltes Händchen treibt ihren Puls, die York. Vilar jettet nach Noten. hoffe, Gutes zu tun und an meiner Legen- chromatischen Räusche von Wagners Die 30 Räume seines Appartements in de zu basteln.“ Dabei ist dieser großzü- „Tristan“ entzücken gar ihre Lenden. Und Manhattan hat er als Schrein der Tonkunst gigste Mäzen der heutigen Musikszene hängen sie erst mal am Stoff, dann knien ausstaffiert, mit Zimmerdecken wie im längst Legende – ein Robin Hood aller Tos- sie ein Leben lang vor ihrer heiligen Salzburger Mozarteum und Kronleuchtern cas und Traviatas. Maria mit dem Nachnamen Callas. Kurz- wie in der New Yorker Met, mit Statuen Allein letztes Jahr hat er der New Yor- um, der gemeine Opernnarr ist selten ganz von Mozart und Mozarts Don Giovanni in ker Met 25 Millionen Dollar überwiesen, bei Trost. den Gemächern und einem gläsernen Ess- zusätzlich für vier Neuproduktionen je Doch so einer wie dieser Amerikaner ist tisch in Form einer Laute. 2 Millionen zugesagt und für künftige Pro- selbst unter all den schöngeistigen Schwär- In diesem Fundus fühlt er sich wohl, die- jekte noch einmal 20 Millionen in Aussicht mern und Spinnern ein Radikaler, ein ser Single und, nach eigener Einschätzung, gestellt. schrulliger, manischer Extremist, der bei „gesellschaftlich scheue Mensch“: „Mein 2,5 Millionen Dollar stiftete er der New der ersten Koloratur den klaren Kopf ver- Leben brauche ich mit niemandem zu teilen: Yorker Carnegie Hall für die Restaurie- liert: „Wenn ich eine tolle Stimme höre, keine Katze, keine Frau, kein Hund.“ Kaum rung ihrer Fassade an der Seventh Avenue, bin ich weg“, diagnostiziert Alberto Vilar, Kino, kaum Bücher, kaum Fernsehen. Nur wo ein neues Theater eingerichtet werden 59, seine Sucht, „ein paar schöne Töne, Oper, Oper, Oper – und Dollars zuhauf. und ich raste aus.“ Von Oper kann dieser So einen wie diesen Alberto Vilar hat Mister den Hals nicht voll kriegen. die Welt noch nicht gesehen, nicht mal die Jedes Jahr sitzt er, im Schnitt, rund hun- verrückte Welt der trällernden Primadon- dert Abende in Musiktheatern und Kon- nen und der schmachtenden Tenöre. Denn zertsälen. 1998 hat er sechsmal dieselbe In- Vilar ist vielfacher Millionär und schmeißt, szenierung von Puccinis „Turandot“ ge- wie es aussieht, den Singtempeln das Geld S. HARTZ / AGENTUR FOCUS / AGENTUR S. HARTZ Metropolitan Opera in New York: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle“ Festspielhaus Baden-Baden: Ein riesiger Tempel

286 der spiegel 47/1999 wird auch deren geplanter tall und viel Glas der greisen Königinmut- Prokofjew-Oper „Krieg ter gewidmet. und Frieden“ kräftig un- Queen Mum, ganz in Grellblau und trotz ter die Arme greifen. Schnupfens guter Dinge, gab ihm denn Für den neuen „Fidelio“ auch die Ehre, der Weihe der Halle per- im Sommer 2000 kann sönlich beizuwohnen, „und sie hat sich bei auch das britische Nobel- mir sehr herzlich bedankt“, sagt Vilar stolz. Festival Glyndebourne mit „Dass jemand danke sagt, ist leider keine einer Millionen-Spritze Selbstverständlichkeit.“ aus Vilars Kasse rechnen, London jedenfalls dankt ihm. Schon ist und eben erst hat dieser der Name des Gönners unübersehbar in Wohltäter die Starsopranis- den Stein der neuen Opernhausfassade ge- tin Jessye Norman für ei- meißelt: Die Floral Hall heißt fortan Vilar nen Abend an seine frühe- Floral Hall. Der Samariter steht damit un- re Universität in Pennsyl- ter Denkmalschutz. vania engagiert: „Macht Nun, im neuen Millennium, zieht es den locker 100 000 Dollar“, globalen Gönner auch nach Deutschland. sagt er, ein teurer Spaß. Hier, in Bachs und Beethovens Germany, Letzten Dienstag hatte hat er seinerzeit zwei Jahre bei der Army Vilar sogar einen königli- gedient und den Standort genutzt, um sei- chen Auftritt. Kurz bevor ne klassische Plattensammlung aufzu- nächsten Monat Londons stocken und eine Stereoanlage von Grun- völlig renovierte Covent dig zu erstehen, damals der letzte Schrei Garden Opera wieder er- der Technik. Jetzt kommt er als gemachter öffnet wird, durfte er in Mann zurück, und nun halten auch die kleinstem, feinstem Kreise Deutschen die Hände auf: Haste nich’ mal

S. VALESKA schon mal jene Floral Hall ’ne Million? Opernmäzen Vilar: „Keine Katze, keine Frau, kein Hund“ betreten, deren viktoria- Natürlich hat er. Aber so ein ausgebuff- nische Kuppel sich einst ter Geldvermehrer investiert – Oper hin, soll. Gleichzeitig sicherte er dem Institut über einem Blumenmarkt wölbte und Oper her – nicht ins Blaue, weder in Bay- für die nächsten Jahre die sündhaft teuren deren maßstabgetreues Remake nun das reuth noch in Baden-Baden, die neuerdings Gastspiele der Wiener Philharmoniker zu. neue Foyer überdacht, wo die Ladys and ganz oben in seiner Gunst stehen. „Das al- Sechs Millionen Dollar will er in den Gentlemen auf ihrem Weg zu Augen- les“, sagt der Nadelstreifen in Sarastros ge- nächsten fünf Jahren für die Salzburger schmaus und Ohrenweide demnächst lust- dämpftem Tonfall, „will und muss wohl Festspiele lockermachen. Dem Mariinski- wandeln werden. überlegt sein.“ Theater im chronisch klammen St. Peters- Rund 30 Millionen Mark hat Vilar für Auf dem Grünen Hügel hat er schon burg finanzierte er einen „Lohengrin“ und Covent Gardens Comeback bereits ausge- vor Jahren Feuer gefangen. „Of course“ geben oder noch in petto. mag er Wagners Opern, der Komponis- Der Wiederaufbau der tenenkel Wolfgang mache als Festspielchef Floral Hall ist vor allem „a very good job“, der Bayreuther Chor durch seine milden Gaben sei „the best worldwide“, die Akustik „a finanziert worden, und er dream“. hat diesen prachtvollen Klar, wenn an diesem mythischen Ort Dom aus filigranem Me- die Kasse nicht mehr stimme, weil sich bei- REX FEATURES T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. auf höchst wackligem Grund Covent Garden Opera in London mit Vilar Floral Hall: Jetten nach Noten

der spiegel 47/1999 287 spielsweise die öffentliche Hand zurück- ziehe, dann werde er helfen; Ehrensache. Diese Woche hat er daheim in New York zur Wagner-Party geladen. Wolfgang und Gudrun, das festspielleitende hohe Paar, sind Ehrengäste, 85 handverlesene Herr- schaften der Wagner-Society kommen zum Gipfel. Nicht ausgeschlossen, dass der Gastge- ber schon bald dem legendären Bayernkö- nig Ludwig II. nacheifert und sein Füllhorn auch über dem Festspielhaus öffnet. Seine Schecks sind bekanntlich nicht von Pappe, und dem amtierenden Festspielchef, dem viele gern längst den Thron vor die Tür ge- setzt hätten, käme so ein Freak in Spen- dierhose jetzt gerade recht. Zögerlicher äußert sich Vilar zu einem Engagement in Baden-Baden, wo die Geld- not ungleich größer ist: Schon ein paar Mal stand dort der riesig dimensionierte Fest- spieltempel vor dem Kollaps und dem Kon- kurs, und immer noch steht er auf wackli- gem Grund. Das Haus sei zu groß, die Stadt zu klein und zu arm, sagt Vilar.Aber natürlich reizt ihn, der längst den Durchmarsch von der Wall Street nach Walhall geschafft hat, der spekulative Kitzel um eine fragwürdige In- vestition. Immerhin wird auch am Rand des Schwarzwalds Oper gespielt, da spitzt er wie immer die Ohren. Schon ein paar Mal war Vilar vor Ort der Helfer aus der Bredouille. Das Baden-Ba- dener Gastspiel des Met-Orchesters unter James Levine hat er „mit vielen Millionen Dollar“ ermöglicht, und als eine Tour des St. Petersburger Mariinski-Theaters an die Oos auf der Kippe stand, übernahm er ein- fach die kompletten Kosten, und die Zu- schauer durften gratis ins Haus. Aber auf ein längerfristiges Konzept und damit eine feste Bindung will er sich noch nicht festlegen. Kann sein, dass er mit drei, vier anderen, vermutlich deutschen Inves- toren gemeinsame Sache macht; über einen Gesellschaftervertrag ist schon ver- handelt worden, auch über Vilars mögli- che Rolle als Primus; abwarten. Helfen, diesen Koloss wieder flottzuma- chen, will er auf jeden Fall. Aber Peanuts, das weiß er, reichen da nicht: „Das kostet viel, viel Geld.“ Wie kommt eigentlich ein amerikani- scher Geschäftsmann dazu, Millionen aus seiner Privatschatulle in Opernbühnen und Orchestergräben zu stecken, bis weit ins badische Hinterland? Ist es ein smarter Spleen? Oder philanthropisches Sen- dungsbewusstsein, das in den Augen kriti- scher Beobachter bei Vilar längst zu reak- tionärem Kulturgehabe wurde? Eher das Resultat eines – letztlich segensreichen – Erziehungsfehlers. Für Vilar, den Mann aus New Jersey, der als Sohn eines kubanischen Zuckerbarons geboren wurde, ist der manische Hang zur klassisch-europäischen Musik einfach die skurrile Folge väterlichen Liebesentzugs.

der spiegel 47/1999 Kultur

Der Herr Papa hatte auf Castros Kuba sein ganzes Ver- mögen verloren.Aber er war fest davon überzeugt, dass der linke Vogel auf der Insel schon bald umgebracht werde und sich die Zeitläufte dann wieder zum Bes- seren, zu vollen Kassen, wenden würden. Für diesen Fall sollte Alberto vorbereitet sein und folglich Banker werden. Doch der Junge hatte, als er zehn war, anderes vor und den Kopf voll Klassik: Geige wollte er lernen oder Dirigent werden. In jeder freien Minute hörte er Plat- ten mit Klaviersonaten, Opern- arien, Sinfonien. Er sei ein „Langhaar“, schalt ihn der Va- ter, dieser Latino-Macho wie aus dem bösen Bilderbuch, und be- stand auf einer Laufbahn Rich- tung Wall Street. Alberto parier- te – Big Business vor Augen, große Oper im Sinn, viel Wut im Bauch. Sein Groll über das väterliche

Diktat sitzt tief, bis heute, und NEUMAYR F. FOTOS: aus dem Groll wurde eine Ob- Salzburger Busoni-Inszenierung „Doktor Faust“: „Im wahrsten Sinne glücklich“ session: Er, Alberto Vilar, möch- te als heiligster aller Mäzene in die Mu- Versteht sich, dass so ein steinreicher das viele Geld geblieben?“ Und auch dass sikgeschichte eingehen. Könnte hinhauen, Kassenwart auch gern sieht, wenn die Oper die Met ihre Mäzene nicht hinreichend wür- die Mittel dafür sind da. klotzt: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle.“ digt, macht ihn gelegentlich zornig.Wenn er Nach High School und College verding- Franco Zeffirelli, Italiens Grossist für Büh- das Programmheft aufschlage, lese er erst te sich Vilar zunächst bei der Citibank, be- nenpomp und Garderobenplunder, ist bis einmal, wer das Libretto geschrieben habe. gann 1967 als Portfolio-Manager und Ana- heute sein Lieblingsregisseur, von dem „Und was ist mit dem Kerl, der den Scheck lyst und gründete 1980 die Firma Amerin- kann er nicht genug kriegen. unterschrieben hat?“ do Investment Advisors. Mit ihr setzte er in Im zweiten Akt von Zeffirellis steinalter Und doch ist Vilar kein Berserker, kein der Morgenröte der Hightech-Ära auf die „Bohème“ an der Met tummeln sich hun- Vielfraß des Musiktheaters, der Bullshit Zukunftsmärkte des Internet, kaufte sich derte von Mitwirkenden im Guckkasten, schreit, wenn keiner aast. Bei allem Hang bei Microsoft, Compaq, Intel, Oracle, Cis- ein Esel ist darunter und auch ein Pferd da- zur großen Kiste sieht er die Oper nicht mit co und Yahoo ein, gewann einige der größ- bei: „Das ist richtige Oper“, sagt Vilar dann Scheuklappen und hat durchaus auch ein ten Pensionsfonds in den USA und England begeistert, „so ist die Met! Great!“ Ohr für Nuancen, für leise Klänge und Zwi- als Kunden und verwaltet heute, als Kein Wunder auch, dass er empfindlich schentöne. Amerindo-Präsident mit Zwölf-Stunden- reagiert, wenn sich Widerspruch regt. Die neue Salzburger Busoni-Inszenie- Tag, ein Vermögen von über acht Milliar- Nachdem die „New York Times“ Zeffirel- rung von „Doktor Faust“, die der nicht ge- den Mark. Tendenz: steigend. lis letzte „Traviata“ verrissen hatte, emp- rade traditionshörige Peter Mussbach auf fahl er deren Kritiker, „bes- die Bühne gebracht hat, findet er „fantas- ser angeln zu gehen“, der tisch, einfach großartig“. Die neutönerisch Typ verstehe „nichts von gestimmte Vortragsreihe des Pianisten seinem Job.“ Das Publikum Maurizio Pollini lobt er als „eines der auf- – „und das ist nicht blöd“ – regendsten Erlebnisse meines Lebens“. habe getobt und er seine Und wenn er an einem Sonntagmorgen zwei Millionen Sponsoren- in Salzburgs Großem Festspielhaus sitzt Dollar goldrichtig angelegt. und anderthalb Stunden „nonstop“ Bruck- Nein, in Geschmacksfra- ner oder Mahler hört, dann hebt dieser gen ist Mister Vilar nicht ge- coole Börsenhai regelrecht ab, „dann bin rade pingelig. Noch immer ich im wahrsten Sinne glücklich“. rühmt er seine Weitsicht, Bei Wotan, dieser glückliche Alberto vor Jahren zu Bob Wilsons Vilar hat sich die Oper verdient und um die „Lohengrin“ keinen mü- Oper verdient gemacht. Er ist der leibhaf- den Cent beigesteuert zu tige Beweis dafür, dass Dow Jones und haben: „Nichts als Kno- „Don Giovanni“ durchaus zum Zweck- chen“ habe es auf der Büh- bündnis taugen. Bayreuth und Baden- ne gegeben: „Wo, ver- Baden könnten daraus schon bald Kapital dammt noch mal, ist nur schlagen, ganz Deutschland sollte daraus seine Lehren ziehen: Opernnarren sind * Mit Opernsänger Thomas Hamp- zwar Narren, aber – demnächst wohl in al- Salzburger Partygast Vilar (r.)*: Räusche in den Lenden son, Begleiterinnen. len Theatern – unverzichtbar. ™

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Der Spektakelwert kann es nicht sein, abgefilmter Wirklichkeit ist gar nicht so KINO denn den hat die Schauermär nicht. Keine leicht nachzuahmen. Das „Blair Witch Pro- Special Effects, keine Stars. Dazu reichte ject“ aber verrät sich nicht. Es bleibt in je- Reine Hexerei das Geld nicht, logisch. Das langte nicht der Einstellung glaubhaft. mal für eine Profi-Kamera oder einen Ka- Die im Wald herumirrenden Darsteller Die Schauerfabel „Blair Witch meramann: „Blair Witch Project“ ist von haben die richtigen Durchschnittsgesich- seinen Darstellern (die 400 Dollar pro Wo- ter und tragen die richtige Kleidung, sie Project“ war der Überraschungshit che bekamen und im Film ihre eigenen Na- pflegen den richtigen Sarkasmus und spre- des amerikanischen Kinojahres – men tragen) selbst auf einem High-8-Cam- chen unverfälschten Jugendslang – ein- ob zu Recht, lässt sich nun auch in corder und einer 16-Millimeter-Kamera ge- schließlich der rund 150 „fucks“, mit denen Deutschland überprüfen. dreht worden. sie ihre Sätze garnieren. Insofern kann sich jeder jugendliche Zu- s war eine Schnapsidee, schauer an ihre Stelle alpträu- einer dieser Late-Night- men. Heather, Joshua und Mike EGedankenblitze, die einem sind Statthalter der amerikani- einfallen, wenn man ziemlich schen Jugend mit ihrer Sorg- jung ist, zu viel Zeit, zu wenig losigkeit, ihrer Selbstgewissheit Geld und ziemlich was getrunken und dem festen Glauben, dass hat. Einer fragte: Was hat uns zu- nichts wirklich schief gehen letzt wirklich Angst eingejagt? kann. Und dann haben alle gegrübelt Aber es geht natürlich schief. und irgendwelche halb verges- Die drei merken nach einiger senen Alien-Filme aus ihrem Zeit, dass sie im Kreis laufen; Gedächtnis hervorgekramt, der- sie verlieren ihre Landkarte; sie entwegen sie sich als Kinder finden sonderbare Steinkreise schlotternd im Schrank verkro- um ihr Zelt; in den Bäumen chen hatten. baumeln rätselhafte, aus Zwei- Am Ende sagte einer: Genau gen gebastelte Fetische. Sie so einen Film sollten wir dre- streiten um die Anführerschaft,

hen. Aus 999 von 1000 solcher FOTOS: ARTHAUS schreien sich an, verlieren die Ideen wird nie etwas, höchstens Darstellerin Heather Donahue Nerven. Ihre Selbstsicherheit ein schwerer Kater am Morgen schwindet so schnell wie ihr danach. Aber ein paar besesse- Proviant. ne Jungs von einer Filmhoch- Die Zivilisation fällt von ih- schule in Florida widmeten nen ab; darunter lauern atavis- diesem Gedankenblitz einige tische Angst und Aberglauben. Jahre ihres Lebens. Heute ist Aus den vernunftgläubigen Bil- die Schnapsidee wohl der pro- derjägern des ausgehenden 20. fitabelste Film aller Zeiten: Jahrhunderts werden Gejagte „Blair Witch Project“. Herstel- einer Schimäre. lungskosten 35000 Dollar, US- Taumelnd, widerwillig und Kassensturz 170 Millionen fassungslos steigen sie in einen Dollar. Schrecken hinab, der ihr Welt- Hollywood war baff in die- bild auseinander reißt. Wer sem Sommer, und die Medien Heather, Joshua und Mike als erklärten den Leinwand-David, Statthalter seines eigenen Erle- der den arroganten Goliath in bens akzeptiert, wer glaubt, der Gunst der Zuschauer nie- dass es genauso gut ihn hätte dergerungen hatte, zum Helden treffen können, den liefert das einer neuen filmischen Ära Darsteller Joshua Leonard, Michael Williams „Blair Witch Project“ der Frage (SPIEGEL 33/1999). Die Zau- Szenenfotos aus „Blair Witch Project“: Gejagte einer Schimäre nach dem Unerklärlichen in der berformel des „Blair Witch Pro- Welt aus. ject“, so lautete der Konsens, steckte in Die Regisseure Daniel Myrick, 35, und Dieses innere Grauen trägt den Film, seiner PR-Kampagne. Eduardo Sanchez, 30, hatten sich für die und darum muss er es nicht abbilden. Ob Zugegeben: Zwischen Dreh und Film- amateurhaften, irritierend unruhigen Bilder tatsächlich eine Hexe hinter den ketzeri- start lag ein cleverer, gut einjähriger Wer- im Anti-Hollywood-Stil eine einleuchtende schen Jungfilmern her ist oder nicht, bleibt befeldzug via Internet, der den Film so Erklärung ausgedacht: Angeblich sehen wir offen. Es fließt kein Blut, es geschieht nicht geschickt seiner Zielgruppe – der ameri- einen Zusammenschnitt von authentischen viel Furchterregendes, sekundenlang bleibt kanischen Jugend zwischen 16 und 24 – als Aufnahmen, die drei Filmstudenten namens die Leinwand gar dunkel, während un- Geheimtipp verkaufte, dass es gar nicht Heather, Joshua und Mike während einer heimliche Geräusche durch die Nacht spu- nach Hype aussah. Und dazwischen lagen mehrtägigen Recherche in den Wäldern von ken. Aber die Erwartung des unabwend- auch rund 15 Millionen Dollar, die der Ver- Maryland gedreht haben. Die drei waren baren Schicksals klebt zäh und schwarz leih letztendlich in den Feinschliff des An- einer alten Hexenlegende auf der Spur und wie Teer an der Geschichte. fängerwerks und in die Publicity steckte. verschwanden – wie vom Erdboden ver- Was hat uns zuletzt wirklich Angst ein- Aber kein Film der Welt schafft so riesi- schluckt. Nur ihre Ausrüstung tauchte ein gejagt? Die Macher des „Blair Witch Pro- ge Zuschauerzahlen, wenn er nicht selbst Jahr danach wieder auf. ject“ haben nicht nur die richtige Frage ge- einen unwiderstehlichen Reiz ausstrahlt. Die meisten gefälschten Dokumentarfil- stellt. Sie haben auch die richtige Antwort Irgendetwas muss dran sein an der rätsel- me, „mockumentaries“ genannt, verraten gefunden: Es ist der Gedanke an die eige- haften Hexe. sich irgendwann, denn die Kunstlosigkeit ne Sterblichkeit. Susanne Weingarten

290 der spiegel 47/1999 Werbeseite

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Da leben lauter nette Leute“ Filmemacher David Lynch über „The Straight Story“, die idyllische mittelwestamerikanische Provinz und Überlebenskämpfe in Hollywood

Eine einfache Geschichte, eine gerade SPIEGEL: Mr. Lynch, wahrscheinlich hören Geschichte, eine wahre Geschichte: Alvin Sie die ganze Zeit: „The Straight Story“, Straight, 73, ein knorriger Sonderling aus das ist nicht der David-Lynch-Film, den dem Dorf Laurens in Iowa, will seinen man von Ihnen erwartet hätte. Geht es Ih- Bruder im Dorf Mount Zion in Wisconsin nen vielleicht auch selber so? besuchen. Weil Alvin keinen Führerschein Lynch: In der Tat, und ich weiß immer noch hat, doch seine Unabhängigkeit keinesfalls nicht genau, was ich dazu sagen soll. Man preisgeben will, unternimmt er die 400-Ki- muss sich rückhaltlos in eine Geschichte lometer-Reise ostwärts rittlings auf einem verlieben, sonst wird nichts daraus, und Motor-Rasenmäher mit einer Spitzenge- diesmal war es diese kleine Geschichte, die schwindigkeit von knapp zehn Stunden- so große Emotionen auslöst. Es ist wahr, ich kilometern. Das war 1994. Der Regisseur habe noch nie in einem Film so viel daran David Lynch, 53, hat nun Straights aben- gesetzt, alle Zuneigung auf eine Figur zu teuerliche Fahrt als Spielfilm rekonstru- bündeln. iert: Aus dem kuriosen Road Movie wird SPIEGEL: Was Sie als Filmemacher berühmt eine bewegende Lebensreise. gemacht hat, war ein geradezu visionärer

Lynch-Film „The Straight Story“: Reise auf dem

Blick für den unterschwelligen Horror, für das Abgründige und Zerstörerische unter der harmlosen Oberfläche des Alltags, be- sonders in einer ländlichen oder dörflichen Szenerie. Ein Film wie „Blue Velvet“ oder eine Fernsehserie wie „Twin Peaks“, die Sie konzipiert haben: Das waren geradezu Lektionen in Misstrauen gegenüber dem Schein der Harmlosigkeit und der schein- heiligen Harmonie. Lynch: Soll ich widersprechen? SPIEGEL: Und nun überraschen Sie uns mit einem Film, der ganz ungebrochenes Ver- trauen in diese Harmonie ausstrahlt. Das ist wie ein Widerruf. Es gibt in dieser ganzen „Straight Story“ keinen Bösewicht. Überrascht das nicht auch Sie selbst? Und ist es eine Wendung von Dauer? Lynch: Was soll ich sagen? Ich glaube, ich weiß es nicht. Die wesentlichen Entschei- dungen – zum Beispiel, was ich als Nächs- tes machen werde – geschehen ganz ir- rational, ganz intuitiv. Ich weiß wirklich nicht, wovon mein nächster Film handeln wird, ich kann es im Grunde erst wissen, wenn ich mich so heftig in eine Geschich- te verliebe, dass ich sie einfach machen muss. Vielleicht wird es ganz finster sein. SPIEGEL: Sie empfinden die Güte, die Mil- de von „The Straight Story“ also gar nicht als etwas Besonderes? Lynch: Auch im Leben von Alvin Straight gab es ganz dunkle, ganz schreckliche Zei- ten, und der Film verschweigt sie nicht, seine alptraumhaften Kriegserlebnisse et- wa oder das Schicksal seiner Tochter.Aber G. SMITH / FSP Regisseur Lynch: „Der Himmel lächelte auf uns herab“ Das Gespräch führte Redakteur Urs Jenny.

292 der spiegel 47/1999 was ich erzähle, ist eine Geschichte, die im Wesentlichen in Wisconsin spielt, und Sie können sich einfach nicht vorstellen, wie gutartig man dort ist. Da leben lauter net- te Leute. Ich konnte es selber nicht fassen, vor acht Jahren, als ich mit meiner Freun- din Mary Sweeney zum ersten Mal in den Ort kam, wo sie herstammt; ich war gera- dezu alarmiert von dieser Nettigkeit und dachte, man mache sich über mich lustig. Aber diese Leute sind wirklich so. Nie- mand will Alvin Straight böse, und um seiner Geschichte ge- recht zu werden, muss man ihr auch darin treu bleiben. Natür- lich geschehen in Wisconsin ge- nauso grauenhafte Dinge wie überall auf der Welt, aber nicht in dieser Geschichte. Keine Ge- schichte fasst die ganze Wahr- heit über einen Ort oder eine Person. SPIEGEL: Wie sind Sie an diesen Stoff aus dem wirklichen Le- ben geraten? Hat Ihre Lebens- gefährtin Mary Sweeney Sie darauf gebracht, die seit lan- gem Ihre Cutterin ist und nun

SENATOR zum ersten Mal, zusammen mit Rasenmäher John Roach, auch Ihre Dreh- buchautorin? Lynch: Natürlich war es Mary. Sie stammt aus Wisconsin, aus der Gegend, die Alvin Straight durchquerte; sie war von seiner Geschichte schon fasziniert, als sie vor fünf Jahren davon hörte; sie sammelte alle Zei- tungsartikel über ihn und sah einen Film- stoff darin. Es hat aber gedauert, bis sie die Filmrechte dafür bekam, und dann hat sie sich an die Recherchen-Arbeit gemacht, zusammen mit John Roach, mit dem sie befreundet ist, seit sie zusammen in die Vorschule kamen. Ich habe mich heraus- gehalten, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass das ein Stoff für mich wäre. Als ich aber das Drehbuch gelesen hatte, sah die Sache ganz anders aus. Ich war ein- fach hingerissen. SPIEGEL: Entsprechen denn nur die äußeren Fakten seiner Reise der Realität oder auch, was man über seinen Lebenslauf und ein- zelne Episoden der Reise erfährt? Lynch: Ich würde sagen, halb und halb. Das sind sicher alles wahre Geschichten, die man sich in der Gegend erzählt, aber nicht alle hat Alvin Straight selbst erlebt. SPIEGEL: Manche Details haben ja doch einen auffällig absurd-komischen David- Lynch-Touch. Lynch: Das war keine Absicht. Und wie zum Beispiel Alvin über einen Hügel auf einen Ort zugerollt kommt und ein bren- nendes Haus vor sich sieht, weil dort gera- de eine Feuerwehrübung stattfindet – das ist absolut authentisch. Wir haben uns wirklich Mühe gegeben, Alvins Reise von Station zu Station exakt zu rekonstruieren, von Laurens in Iowa nach Mount Zion in Wisconsin. Es war logisch und notwendig,

der spiegel 47/1999 der Route und der Chronologie zu folgen, weil ja Alvin im Lauf der Zeit ein Bart wächst, und wir haben für die Film-Reise nicht viel länger als er selbst, vier Jahre zuvor, gebraucht, gute sechs Wochen, vom Spätsommer in den Herbst hinein. SPIEGEL: Ist Ihnen unterwegs, wenn Pro- bleme auftauchten, nicht angst und bange geworden, mit Ihrem einzigen Hauptdar- steller Richard Farnsworth knapp unter 80 und dem Kameramann Freddie Francis ein bisschen über 80? Lynch: Der Himmel lächelte auf uns herab. SPIEGEL: Hat Ihnen niemand, bevor die Sa- che konkret wurde, nahe gelegt, für die Hauptrolle einen Star zu gewinnen? Lynch: Ich habe einen Star! Oder könnten Sie sich einen Besseren vorstellen? SPIEGEL: Niemand, der den Film gesehen hat, wird sich einen anderen vorstellen können. Er ist großartig. Aber wäre der Name einer wirklich berühmten Hol- lywood-Legende für dieses ausgefallene Projekt nicht eine Attraktion gewesen? Lynch: Wir haben viele Namen erwogen, auch wirklich berühmte, aber am Ende al- les Nachdenkens war ich mir so sicher, dass ich nicht einmal Probeaufnahmen für nötig hielt. Richard Farnsworth, der mehr als ein

halbes Hollywood-Leben als Stuntman zu / KEYSTONE RÖHNERT Pferde verbracht hat, sagt noch heute , dass Isabella Rossellini in „Blue Velvet“ (1986): Blick für den unterschwelligen Horror des Alltags er gar kein Schauspieler sei. Aber ich fin- de, ein Schauspieler ist jemand, der eine mus für diese alte Musik einfach über- Klanglandschaft, über die Jocelyns Stimme Person ganz von innen heraus glaubhaft wältigt. Ich habe allerdings nicht wie sie sich aufschwingt. machen kann, und diese Gabe hat Richard eine Wallfahrt nach Bingen gemacht. SPIEGEL: Früher, so hört man, sollen Sie ein in ganz ungewöhnlichem Maß. Jocelyn hatte damals gerade meinen guter Trompeter gewesen sein. SPIEGEL: Sie müssen im letzten Jahr in ei- Freund Monty Montgomery geheiratet, Lynch: Nun ja. Als ich Chet Baker zum ner besonders versöhnlichen Stimmung ge- den Produzenten meines Films „Wild at ersten Mal hörte, habe ich kapituliert. wesen sein: Sie haben mit der jungen Sän- Heart“, und ich hatte mir endlich ein ei- SPIEGEL: Sie sagen, Ihre Wahl von Film- gerin Jocelyn Montgomery „Lux Vivens“ genes Aufnahmestudio in einem Anbau stoffen und Ihr künstlerisches Vorgehen produziert, eine CD mit Liedern der heili- hinter meinem Haus eingerichtet, und seien ganz intuitiv.Aber Sie gelten doch als gen Hildegard von Bingen, die in so himm- dort haben wir als erste Produktion „Lux ein höchst methodischer, rationaler, präzis lischen Harmonien schwelgt, dass man sie Vivens“ gemacht. organisierter Film-Arbeiter. nur als Weihnachtsgeschenk empfehlen SPIEGEL: Von Ihnen sind also die Arrange- Lynch: Beides ist notwendig, glaube ich. kann*. Wie kam es dazu? ments, aber Sie spielen doch auch ver- Man kann nicht nur wild herumspinnen Lynch: Jocelyn ist eine wunderbare Sänge- schiedene Saiten- und Schlaginstrumente und verrückt sein, sonst findet man ja sei- rin, und sie hat mich mit ihrem Enthusias- auf der Platte? ne Pinsel und Farbtöpfe gar nicht und Lynch: Das Wort „Arrangement“ klingt zu bringt nichts zu Stande. Das Methodische * Jocelyn Montgomery with David Lynch: „Lux Vivens“. wichtig. Was ich entwickelt habe, könnte und Organisierte ist die Voraussetzung, das Mammoth Records, New York. man eine „soundscape“ nennen, eine Fundament, auf dem man sich dann seinen Kultur kreativen Impulsen überlassen und so ver- und was man mir anbietet, haben andere agenturen, deren Interesse bei solchen Pro- rückt spielen kann, wie man nur will. schon abgelehnt. Ich rechne so wenig mit jekten das Entscheidendste ist. SPIEGEL: Das ist die Antwort eines Malers, solchen Offerten, dass ich nicht einmal SPIEGEL: Was wird nun daraus? nicht eines Filmemachers. mehr einen Agenten habe. Lynch: Die Serienidee ist natürlich erledigt. Lynch: Ich sehe da keinen Unterschied. SPIEGEL: Dennoch haben Sie sich Anfang Aber bei einem so teuren Pilotfilm, dessen SPIEGEL: Aber Sie müssen doch wissen, dass dieses Jahres nach langem Zögern noch Handlung ja offen bleibt, ist man immer 95 Prozent aller Regisseure in Hollywood einmal auf eine höchst kommerzielle Un- verpflichtet, als Krisenreserve ein behelfs- mit Vorliebe darüber klagen, dass sie sich ternehmung eingelassen. Sie haben eine mäßiges Ende zu drehen. So auch ich. Mit mit ihren fabelhaften Ideen nicht durch- Fernsehserie konzipiert, mit einer jun- diesem Ende wird der Sender ABC, der setzen können und dauernd Kompromisse gen Frau als Hauptfigur, die bei einem ihn finanziert hat, „Mulholland Drive“ ir- eingehen müssen. Sie etwa nicht? Autounfall ihr Gedächtnis verloren hat, gendwann als Fernsehfilm ins Programm Lynch: Nein. Jedenfalls nicht mehr. Mit dem und Sie haben mit offenbar beträcht- nehmen, und der Disney-Konzern, dem die Film „Dune“ („Der Wüstenplanet“) bin lichem Aufwand den Pilotfilm für diese Rechte gehören, wird ihn wohl auch im ich, weil ich noch jung und ahnungslos war, Serie „Mulholland Drive“ gedreht. Der Ausland zu vermarkten versuchen. So sind bedauerliche Kompromisse eingegangen Ausgang der Sache soll katastrophal ge- Überlebenskämpfe in Hollywood. Aber und dafür bestraft worden, aber das ist wesen sein. natürlich trauere ich einer verlorenen bald 20 Jahre her. Lynch: Der Anfang immerhin war über- Chance nach. SPIEGEL: Aber Sie mussten auf manches haupt nicht katastrophal, und die Drehar- SPIEGEL: Haben Sie eigentlich eine Schub- Wunschprojekt verzichten, weil es sich beiten haben großen Spaß gemacht. Ich lade mit unrealisierten heimlichen Wunsch- nicht finanzieren ließ? war überzeugt, dieser Pilotfilm müsse projekten? Lynch: Eigentlich nicht. Ich hatte immer zweistündig sein, und habe ihn so ange- Lynch: Es gibt solche Projekte, aber jedes wieder das Glück, dass eine Sache, wenn legt, habe mich dann aber nötigen lassen, muss auf den richtigen Augenblick war- ten. Wann er gekom- men ist, lässt sich oft schwer sagen. Darum halte ich auch immer nach neuem Stoff Ausschau. SPIEGEL: In einem In- terviewbuch* steht, Sie würden gern aus Kaf- kas Erzählung „Die Verwandlung“ einen Film machen. Gibt es ein Drehbuch dazu? Lynch: Es gibt ein Drehbuch. Ich liebe diese Erzählung, die SIPA PRESS SIPA CINETEXT so wunderbar einfach Lynch-Film „Wild at Heart“ (1990), TV-Serie „Twin Peaks“ (1990): „Man kann so verrückt spielen, wie man nur will“ und so vieldeutig ist, komisch, absurd, ver- ich sie mit aller Kraft wollte, auch wirklich ihn auf 88 Minuten zusammenzustutzen, zweifelt.Aber ich weiß nicht, ob dafür jetzt zu Stande kam. Aber mir ist bewusst, das und das war ein wirkliches Gemetzel. die richtige Stimmung wäre. Man muss das ist im Film-Business ein sehr seltenes Diese Fassung hat den Geldgebern nicht spüren, und diese Ungewissheit beunru- Glück. gefallen, dem Testpublikum nicht und am higt mich. Stellen Sie sich vor, Fellini wür- SPIEGEL: Kommt es vor, dass große Studios wenigsten den Leuten von den Werbe- de heute „Achteinhalb“ herausbringen – Ihnen Projekte anbieten? vielleicht würde das kein Mensch sehen Lynch: Es kommt vor. Aber ich glaube, ich * David Lynch: „Lynch über Lynch“. Herausgegeben wollen. Es ist eine andere Welt. von Chris Rodley. Aus dem Amerikanischen von Ma- stehe bei denen nicht auf der so genannten rion Kagerer.Verlag der Autoren, Frankfurt am Main; 356 SPIEGEL: Mr. Lynch, wir danken Ihnen für A-Liste, das heißt, ich bin nicht erste Wahl, Seiten; 39 Mark. dieses Gespräch. Werbeseite

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den heutigen Marktstrategen dorthin gelegt werden, wo früher einmal das Herz war – aber können Manager im Print-Bereich überhaupt lesen*? Eine winzige, dabei alles entscheidende Fälschung verband die beiden Männer- freunde: Unseld, Peter Suhrkamps desi- gnierter Nachfolger, hatte Johnsons erstes Manuskript „Ingrid Babendererde“ 1957 abgelehnt. Das zweite, „Mutmassungen über Jakob“, holte er aus Suhrkamps Ster- bezimmer und Johnson in den Verlag, den jetzt Unseld leitete. Auf Wunsch Johnsons wird der Vertrag zurückdatiert auf Anfang März 1959, als Suhrkamp noch am Leben war. Sie fangen gleichzeitig an: der junge, knapp 25-jährige Autor, der mit Erschei- nen seines ersten Buches aus der DDR nach West-Berlin umzieht; und Unseld, zehn Jahre älter, Erbe des legendären Ver- legers von Brecht und Benjamin, brennend vor Ehrgeiz, endlich etwas zu „bewegen“. Den Tag, an dem Unseld den Verlag übernimmt, den 1. April, werden sie im- mer wieder begehen, als wär’s der Hoch- zeitstag. Es war Liebe erst auf den zweiten Blick, aber dafür umso inniger: Unseld selber chauffiert seinen Autor nach Schloss Elmau zur Tagung der Gruppe 47 und schiebt ihn in den westdeutschen Litera- turbetrieb hinein. Er macht und tut und werbetrommelt – und setzt den Anfänger sofort durch. Mit Hans Magnus Enzens- berger und Martin Walser gehört Uwe Johnson zum engsten Beraterkreis des Ver-

H. TAPPE / DER SPIEGEL XXP H. TAPPE lags, wird mit Gutachten betraut, empfiehlt Schriftsteller Johnson (1964): „Todesstrafe, abzuleisten durch Ableben“ Bücher zur Übersetzung, soll eine mehr- sprachige europäische Literaturzeitschrift herausgeben. AUTOREN Damit sein Autor eine bessere Wohnung bekommt, schickt Unseld ein Leumunds- zeugnis an das Bezirksamt Berlin-Schöne- Liebe auf den zweiten Blick berg, verschafft ihm ein Stipendium in die römische Villa Massimo, sorgt für Einla- Der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Uwe Johnson dungen nach Paris und nach Harvard und setzt ihn auf eine monatliche Rente von erzählt ein wahres Märchen aus alter Zeit – von der Fürsorge und anfangs 600 Mark. Der Einsatz lohnt sich Leidenschaft eines Verlegers für seinen Herzens-Autor. auch finanziell, die „Mutmassungen“ ver- kaufen sich, obwohl spröde und alles an- inen Herrn Holtzbrinck soll es ja ge- dere als Zuckerwatte. Unseld glaubt an sei- ben in Stuttgart, aber wer ist Herr nen schwierigen Autor, schenkt ihm, mit EBertelsmann? Kennt jemand den vertraglicher „Vereinbarung“, 5000 Mark. Herrn S. Fischer persönlich, war schon mal Das vertrauliche „Du“ braucht seine einer mit Frau Rowohlt essen oder mit Frl. Zeit, aber man kommt sich rasch nahe. Hanser in der Tanzstunde? Die deutschen „Yours, truly“ unterschreibt sich Johnson, Verlage haben in den letzten Jahren die Unseld fragt mit „herzlichen Grüßen“ Welt erobert bis nach Kolumbien und nach der Arbeit und wie sein Autor voran- Hongkong, aber Verleger gibt es nicht mehr. komme. Im Konzern weiß die Linke viel zu genau, Gelegentlich drängt ihn Unseld, „lesba- was die Rechte tut, ein brummendes Profit- rer“ zu schreiben. „Das dritte Buch über Center hilft über die schlimmsten Defizite Achim“ erscheint im Sommer 1961, als in der Literatur hinweg. eben die Mauer errichtet wird. Johnson ist In diesem Herbst ist ein Buch erschie- jetzt „Dichter der beiden Deutschland“ nen, das von einer unendlich fernen, einer und erfolgreich. Er geht für zwei Jahre nach märchenhaften Vergangenheit erzählt. Es New York, betreut Schulbücher und sam- war einmal und wird nie wieder so sein: ein * Uwe Johnson/Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“. Verleger, der Bücher liebt und noch mehr R. DREXEL / BILDERBERG Herausgegeben von Eberhard Fahlke und Raimund seine Autoren. Der Briefwechsel zwischen Verleger Unseld Fellinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 1220 Siegfried Unseld und Uwe Johnson müsste „Wir müssen über Deine Finanzen reden“ Seiten; 68 Mark.

298 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur melt Material für die „Jahrestage“, für das so bis zum Abend, ohne dass das Papier be- „Leben der Gesine Cresspahl“ aus Meck- wegt worden wäre.“ lenburg. Unseld fasst sich in Geduld und versucht Unseld expandiert, entwirft neue Rei- den Geschäfts-Freund zurück an die Arbeit hen, noch eine Taschenbuch-Edition, ein zu führen, bittet ihn um Beiträge für Suhr- Wissenschaftsprogramm. Sein Freund kamp-Anthologien, Übersetzungen, orga- Johnson zieht sich zurück, wird immer nisiert die Frankfurter Poetik-Vorlesungen kleiner, verschneckt. In Berlin findet er sich nach der Rückkehr aus New York nicht mehr zurecht; die Kommune 1 hatte in sei- Bestseller ner Wohnung das berüchtigte Pudding- Attentat auf den amerikanischen Vizeprä- Belletristik sidenten vorbereitet. Max Frisch leiht ihm Geld, und Johnson 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter kauft sich ein Haus in Sheerness-on-Sea, Suhrkamp; 49,80 Mark verschanzt sich in einem Arbeitsgefängnis hinter der Flutmauer. Immer mehr verfins- 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert tert sich ihm die Laune, immer ungnädiger Steidl; 48 Mark reagiert er auf noch die leisesten Irritatio- nen, ist bei jeder Gelegenheit gekränkt 3 (4) Noah Gordon Der Medicus und wird für Unseld schließlich zu einem von Saragossa Blessing; 48 Mark Versorgungsfall. Der Geschäftsmann aber möchte auch 4 (3) Elizabeth George Undank ist der als Schöngeist gelten, und bereitwillig be- Väter Lohn ; 49,90 Mark zeigt ihm der Schriftsteller seine Dank- barkeit. Häuft noch weiteres Lob auf einen Hut, der Unseld zum Ehrendoktor macht 5 (5) Thomas Harris Hannibal („deine Würde ist dir wie der Gelegenheit Hoffmann und Campe; 49,90 Mark angemessen“), gratuliert ihm von Autor zu Autor, wenn Unselds Vorlesungen „Der 6 (7) Ken Follett Die Kinder von Eden Autor und sein Verleger“ auch auf Fran- Lübbe; 46 Mark zösisch herauskommen. Nur bei Unselds legendärer Selber-Schreibübung „Letzte 7 (12) Frank McCourt Abfahrt“ vermisst der strenge Lektor das Ein rundherum Literarische und empfiehlt eine Zirkula- tion allenfalls im engsten Kreis. Die Er- tolles Land zählung erscheint erst sieben Jahre nach Luchterhand; 48 Mark dieser freundschaftlichen Ablehnung. Immer auf der Suche Natürlich lässt auch dieser Briefwechsel und nirgendwo Lücken; zu einer vollständigen Parallel- daheim: ein irischer Geschichtenerzähler Biografie reicht es nicht. Dafür sieht man in Amerika sich zwischendurch zu oft, bespricht man- ches auch am Telefon. Weil es sich hier aber um ein Haupt- und Staatsunterneh- 8 (9) Marianne Fredriksson men handelt, ist diese noble Edition ange- Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark reichert mit Reisenotizen, die der uner- müdliche Beweger Unseld anfertigte, wenn 9 (6) Donna Leon Nobiltà er seine Autoren aufsuchte. Diogenes; 39,90 Mark Die vielfachen Zerwürfnisse mit En- zensberger, Frisch,Walser (und am Ende ist 10 (10) Henning Mankell der eingemauerte Autor eigentlich mit al- len zerfallen) lassen sich immerhin ahnen. Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark Das Personenverzeichnis allerdings ent- stellt sogar Haus-Autoren; Uwe Johnson, 11 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind dieser heilige Pedant, hätte bei seinem Heyne; 32 Mark Freund Unseld darauf bestanden, deswe- gen das ganze Buch einzustampfen. 12 (8) John Irving Witwe für ein Jahr Dieser Briefwechsel ist ein Dokument Diogenes; 49,90 Mark fast unwandelbarer Treue, in der Unseld erst wankend wird, als Johnson die Chro- 13 (13) Henning Mankell nik seiner „Jahrestage“ auf drei, dann auf vier Bände aufteilt und den letzten Band Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark schließlich zehn Jahre lang schuldig bleibt. Ein Herzinfarkt, eine Ehe-, dann eine form- 14 (14) Siegfried Lenz Arnes Nachlass vollendete Schreibkrise verzögern den Ab- Hoffmann und Campe; 29,90 Mark schluss. Nichts mehr von der Fröhlichkeit des gemeinsamen Aufbruchs 1959, dafür 15 (–) Thomas Brussig Am kürzeren Stillstand, Depression: „… unvermittelt Ende der Sonnenallee Volk und Welt; 28 Mark sitze ich vor dem Tastenfeld gelähmt, und

300 der spiegel 47/1999 für ihn. Und es hilft: Aus einem Geburts- desstrafe“ über sich, „abzuleisten durch tagsgruß für Max Frisch entsteht die Ableben“. Johnson tut es ihm gleich, kehrt „Skizze eines Verunglückten“, in der John- in sein Wortstanzwerk zurück und ver- son sein eigenes Scheitern literarisch be- nichtet sich durch Arbeit. Kein halbes Jahr, arbeiten kann und durch die er zu den nachdem der letzte Band der „Jahresta- „Jahrestagen“ zurückfindet. Der Mörder ge“ erschienen ist, stirbt Uwe Johnson im Joe Hinterhand verhängt seine „eigene To- Alter von 49 Jahren. Dieser Briefwechsel erzählt noch einmal die Geschichte einer Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich unglücklichen Liebe. ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Unseld war Motor des frühen Erfolgs, wurde dann der Mäzen einer schier uner- Sachbücher träglichen Schreibkrise – und der Vertrau- te, mit dem Johnson sein Ehe-Unglück 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben besprach. „So bist du für mich der mensch- DVA; 49,80 Mark liche Ort geworden“, schreibt er seinem 2 (2) Oskar Lafontaine Verleger am 1. April 1979 zum 20-jährigen Jubiläum, „ohne den das einsamste Leben Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark unmöglich ist.“ Johnson schreibt diese Lie- beserklärung ausnahmsweise mit der Hand 3 (3) Sigrid Damm Christiane und verspricht zugleich, die „Jahrestage“ und Goethe Insel; 49,80 Mark noch im selben Jahr abzuschließen. Er wird diese letzte Lieferung noch öf- 4 (4) Corinne Hofmann ter versprechen, Unseld wird vorsichtig Die weiße Massai A1; 39,80 Mark und immer drängender nachfragen, bis er seinem liebsten Autor schließlich den 5 (6) Waris Dirie Wüstenblume Scheidebrief schickt. Die Liebesgeschichte Schneekluth; 39,80 Mark ist zu Ende, das Geschäft geht weiter. „Lieber Uwe“, schreibt Unseld am 7. 6 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, Dezember 1982, „wir müssen über Deine lebe! Scherz; 46 Mark Finanzen reden. Der Soll-Saldo war am 30.11.1982 DM 230094,89. Auf dieser Basis 7 (7) Ulrich Wickert kann ich die monatlichen Zahlungen nicht Vom Glück, Franzose zu sein mehr ad infinitum leisten.“ 3000 Mark hat Hoffmann und Campe; 36 Mark Unseld seinem Freund und Geschäftspart- ner jeden Monat auszahlen lassen; im kom- 8 (10) Hans J. Massaquoi menden März soll Schluss sein damit. Neger, Neger, Schornsteinfeger! Zweieinhalb Wochen später antwortet Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark Johnson, seinerseits ganz geschäftsmäßig. Falls Unseld ihn und die „Jahrestage“ doch 9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur länger finanziere, kann er ihm nach der finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Lebensversicherung die Tantiemen aus sei- nem Urheberrecht anbieten. Gern sei er 10 (8) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist auch bereit, seine Schulden als Lektor im ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Hause abzuarbeiten, und schließlich bräch- ten die Typoskripte seiner Bücher noch 11 (13) Dietrich Schwanitz Bildung mal 18 000 Mark. Einen elenderen Brief Eichborn; 49,80 Mark kann man sich kaum vorstellen. Johnsons Witwe Elisabeth erinnert sich an 12 (14) Ruth Picardie Es wird mir Max Frisch, der Unseld einmal als „Renn- fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark stallbesitzer“ bezeichnet habe und die Au- toren als seine Pferde. „Sie laufen für ihn.“ 13 (–) Malika Oufkir/ Uwe Johnson hat manches Rennen für sei- Michèle Fitoussi nen Besitzer gewonnen und am Ende doch Die Gefangene verloren. Marion vom Schröder; Am 12. März 1984 schickt der Verleger ein 39,90 Mark Telegramm nach Sheerness: „Erbitte dring- lich Deinen Anruf“. Johnson liegt da bereits Zwanzig Jahre in seit Wochen tot in seinem Wohnzimmer. Kerkern und Wüsten- Der Kalender ist für den 21. und 22. Febru- Verliesen: ein Frauen- schicksal in Marokko ar 1984 aufgeschlagen. Bereits fünf Monate vorher beendet Johnson seinen Briefwech- sel mit Unseld; auch bei ihm ist ein Tele- 14 (12) Daniel Goeudevert gramm die letzte Äußerung. Es kommt aus Mit Träumen beginnt die Realität New York, wo sich Uwe Johnson zu Dreh- Rowohlt Berlin; 39,80 Mark arbeiten für einen Fernsehfilm aufhält. Er möchte dort offenbar nicht angerufen wer- 15 (11) Klaus Bednarz den: „NO CALLS SORRY.PLAN STANDS Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark REGRETFULLY UWE“. Welcher Plan? Willi Winkler

der spiegel 47/1999 301 sein musste. „Sehr autoritär“ sei seine Mut- ter gewesen und „überangepasst wie alle Ausländer“: Jedes Behördenschreiben habe er für seine Eltern „auf der Stelle be- antworten“ müssen. Naidoo selbst war, außerhalb der Wohnung, keineswegs so ängstlich: Er lernte Kickboxen und ver- diente später Geld als Türsteher. Bei Schlä- gereien war er aber vorsichtig: „Ich hatte Angst vor Narben, weil ich Popstar werden wollte.“ In diversen Kirchen- und Gospelchören hatte Naidoo gesungen, bevor 1992, nach Mittlerer Reife und abgebrochener Koch- lehre, endlich ein Angebot von einer Plat- tenfirma kam – und das sogar für eine ame- rikanische Produktion. Naidoo schrieb ei- nige Lieder und flog begeistert zu Studio-

C. ASHFORD / PICTURE PRESS aufnahmen in die Staaten. Mit der Eupho- Sänger Naidoo, Produzent Hofmann bei MTV-Feier in Dublin: „Kelch mit Tränen“ rie war es vorbei, als er das fertige Album hörte. „Da war nichts mehr von meinen Dafür, dass Naidoo seine Heilsbotschaf- Ideen übrig geblieben“, sagt er. STARS ten so erfolgreich verkündet, sind aller- Immerhin hatte Naidoo, wie er erzählt, dings auch irdische Plattenproduzenten am letzten Tag des trübseligen Jahres 1992 Jesus der verantwortlich: die Frankfurter Moses Pel- noch zu seiner Bestimmung gefunden.Am ham, Thomas Hofmann und Martin Haas, Silvesterabend habe er, traurig und allein die vor fünf Jahren mit dem „Rödelheim zu Hause, zufällig die Bibel aus dem Bü- Hitparaden Hartreim Projekt“ den Siegeszug des cherschrank gegriffen, den Petrus-Brief deutschsprachigen HipHop mit in Gang aufgeschlagen und sich erleuchtet gefühlt. MTV kürte Xavier Naidoo zum setzten und später die Rapperin Sabrina Nun, da er seine spirituellen Botschaften Setlur zum Star machten. zu Geld gemacht hat, verkündet Naidoo, er besten deutschen Künstler. Für die Markteinführung von Naidoo werde mit dem Erlös auf Erden Gutes tun: Nun verkündet der gottgläubige wiederholten die drei eine Strategie, die sie Arbeitsplätze wolle er schaffen in seiner Star auf einem Live- bei Setlur schon erprobt hatten: Zuerst war verarmten Heimatstadt und hat mit Freun- Album neue Heilsbotschaften. Naidoo als Background-Sänger bei Pro- den den Plattenvertrieb „Die Söhne Mann- duktionen ihrer Firma 3p zu hören. Dann heims“ gegründet. Wie viele Jobs es sind, uf diesen Erretter hat die deutsche ging er 1997 mit Setlur auf Tournee, sang ihr will er nicht sagen: „Wir sind noch am An- Popbranche gewartet. Auf einen, Stück „Freisein“, und die Rapperin trat im fang.“ Außerdem möchte er, dass es „in Ader sie von sinkenden Umsätzen dazugehörigen Video auf. Seine erste eige- Mannheim keine Obdachlosen mehr gibt erlöst, einen, der die Generationslücke ne Single, „20000 Meilen“, war ein Ach- und kein Kind mehr hungrig zur Schule nach Herbert Grönemeyer und Marius tungserfolg, die zweite, „Nicht von dieser gehen muss“ – wenn sonst schon niemand Müller-Westernhagen füllt und der endlich Welt“, stand 15 Wochen in den Charts. Sei- die Mannheimer Hungersnot bemerkt hat. ins Ausland, ja, vielleicht sogar nach Ame- nen größten Hit hatte Naidoo mit „Sie sieht Vom Elend der Welt schirmt der Popstar rika exportiert werden kann. mich nicht“: Er ist die Nummer sechs der sich ansonsten meist mit sonnig-gelben Nun scheint es, als sei der Messias da: bestverkauften Singles des Jahres. Brillengläsern ab. Xavier Naidoo, 28, verkaufte von seinem Trotzdem ist er nicht zufrieden: „In Früher stellte Naidoo merkwürdige na- 1998 erschienenen Debütalbum „Nicht von Deutschland leben 80 Millionen Menschen turwissenschaftliche Theorien auf und be- dieser Welt“ mehr als eine Million Stück, – was sind da eine Million verkaufte Al- hauptete, die Abgase seiner alten Merce- er singt wie Grönemeyer, nur besser; vor ben?“ Jedenfalls nicht genug für einen, der des-Kollektion würden durch das Ozon- elf Tagen hat ihn der Musiksender MTV sich schon vor der ersten Veröffentlichung loch ins All entweichen. Neuerdings profi- Europe in den Popadel aufgenommen und vorgenommen hatte, mehr Platten als Grö- liert er sich mit nebulösen Prophezeiungen zum „besten deutschen Künstler“ gekrönt. nemeyer zu verkaufen – weil der doch Nai- als Orakel: Im nächsten Millennium werde Xavier wird ausgesprochen wie „Sa- doos Vorbild ist. „Ich bin größenwahnsin- sich Deutschland und überhaupt alles völ- viour“, und als Retter versteht er sich auch: nig, weil ich ein Träumer bin“, sagt der lig ändern. Vielleicht zum Schlechteren. „Meine Augen rot, vom Weinen schwach, Sänger, „größenwahnsinniger als alle an- Vielleicht aber auch zum Besseren.Als Be- den Kelch mit Tränen aufgefüllt, mei- deren bei 3p.“ Und das ist schwer, wofür weis für die Verlässlichkeit seiner Voraus- ne Wunden ins Leintuch eingehüllt“, singt schon spricht, dass im 3p-Konferenzraum sagen führt er an, dass er schon im Sommer der Jesus der Hitparaden und kündet ein Foto der Produzenten hängt: Da sit- das Lied „Armageddon“ geschrieben und seinen Jüngern die frohe Botschaft: „Ich zen sie mit Anzug und selbstzufriedenem Erdbeben angekündigt habe – es folgte die hab gute Aussichten durch weise Voraus- Gesicht vor einem Berg von Geldbündeln. Katastrophe in der Türkei. sichten.“ Naidoos Mutter ist Südafrikanerin iri- Für alle Fälle schiebt Naidoo einen Mo- Gerade ist Naidoos erstes Live-Album scher Abstammung, sein Vater wurde in ses-Witz hinterher: Der habe nach ein paar auf Platz neun der Charts eingestiegen. Es Südafrika geboren und hatte deutsche und verregneten Tagen so fest an die Sintflut ge- ist eine Dokumentation seines Kreuzzugs indische Vorfahren. Die Mutter war Schnei- glaubt, dass Gott die Erde überflutete, um für den rechten Glauben und für souligen derin, der Vater Industrieschweißer. Die Moses nicht zu enttäuschen. Pop, denn Naidoo hatte auch einen Gos- beiden hatten sich in London kennen ge- Da möchte man lieber gar nicht wis- pelchor dabei. „Gott hat mir mein Talent lernt und zogen später nach Mannheim, sen, an welche kommenden Katastrophen gegeben“, sagt er, „damit ich über ihn und wo der Vater eine Stelle als Schichtarbeiter Naidoo noch so glaubt. die Bibel singe.“ hatte – weshalb es zu Hause immer leise Marianne Wellershoff

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THEATER Kotzbrocken mit Gänsekiel In Basel präsentiert Katharina Thalbach das jüngste Stück ihres Ex-Gefährten Thomas Brasch – eine Soap um den 1819 ermordeten Autor August von Kotzebue.

r war der Goethe fürs gemeine Volk deutschen Euphorie damals angewidert lie- – ein rastloser Routinier für Massen- gen ließ. Jetzt hat er das ernste Politstück Eware. Die Bühnen der frühen Bie- wieder herausgekramt und wie ein Win- dermeier-Zeit belieferte er unablässig mit zer mit einer anderen (Ton-)Lage ver-

einer Unzahl von Melodramen, Komödien schnitten: mit Teilen von Kotzebues FOCUS / AG. HOEPKER / MAGNUM / XXP T. und Schwänken. Der studierte Jurist war „Kleinstädtern“ von 1802 – leicht bearbei- Brasch, Katharina Thalbach (1976): Mut zur Theaterdirektor, eine Art Geheimagent für tet, versteht sich. Ein Dichter und sein den russischen Zaren, lebte in Reval, St. Werk – Aug in Aug auf einer Bühne. „Kleinstädter“-Episoden und Rahmen- Petersburg und , wurde verbannt In Basel kam dieser dramaturgische handlung sind streng getrennt. Auf der und wieder begnadigt, brachte mit einer Wechselbalg am vergangenen Freitag in großen Bühne, die aussieht wie ein Wirts- Schmähschrift die gesamte deutsche Ge- der Regie von Braschens ehemaliger Le- haussaal mit gelegentlichem Spielbetrieb, lehrtenschaft gegen sich auf, er zeugte bensgefährtin Katharina Thalbach, 45, zur ist eine Minibühne installiert. Dort haust ein Schock Kinder – und erfand, als flugs Uraufführung. das „Kleinstädter“-Grauen. Und dort bril- herniedersausenden Brand- liert – jedenfalls in der Ge- schutz zwischen Bühne und neralprobe – Katharina Thal- Zuschauersaal, den eisernen bachs Tochter Anna, 26, und Vorhang. spielt sich, zum ersten Mal Politisch aber war August unter Mutterns sanfter Fuch- von Kotzebue für die rebel- tel, flott nach vorn. lierende Jugend seiner Zeit Sie quiekt und krächzt, ein rechter Kotzbrocken. Der jauchzt und chargiert im Anti-Demokrat verteidigte knappen Minirock als ero- die deutsche Kleinstaaterei, tisch bedürftiger Twen in ei- stellte sich den aufbegeh- nem bunten Wohnzimmer im renden Studenten entgegen, wilden Rausch groß gemus- die ein einig deutsches Vater- terter Tapeten. Hier lässt land forderten, und wurde – die Regisseurin die „Klein- Hauptperson in einem der städter“ mit ihrer Klipp- großen deutschen Kriminal- Klapp-Dramaturgie ganz un- fälle – am 23. März 1819 im verkrampft als vorgeäffte, Alter von 57 Jahren von dem archaische Comedy-Soap ab- Burschenschaftler Karl Lud- rollen. Mit Kalauern von heu- wig Sand erstochen. te und zeitlosen Konstellatio- Dieser Mord und vielleicht nen von gestern. noch seine Spießer-Komödie Der krosse Backfisch Sabi- „Die deutschen Kleinstäd- ne (Anna Thalbach) verab- ter“, in der es um kleinbür- scheut den ihr zugedachten gerliche Wohlanständigkeit Langweiler von nebenan und und ihre Brüchigkeit geht und will stattdessen einem frem- die in dem sprichwörtlich den Jüngling an die Wäsche. gewordenen Ort Krähwinkel Oma bringt wie immer alles spielt, haben Kotzebue einen durcheinander, und Vattern, blassen Schimmer von Un- der Bürgermeister, denkt so- sterblichkeit beschert. Die an- wieso nur an die Karriere. deren seiner über 200 Stücke Und siehe da: Die Klamot- sind im Aktenschredder der tendramaturgie klappt immer Theatergeschichte gelandet. noch. Kein Gag zu platt, kein Nun hat sich der Dichter Theatertrick zu alt, als dass Thomas Brasch, 54 („Mer- er nicht noch immer funktio- cedes“), des fast vergesse- nierte. nen Kollegen angenommen. Plötzlich stehen sie in ei- „Stiefel muss sterben“ heißt ner schönen Ahnen-Reihe, das Stück, das Brasch wäh- Kotzebue und Al Bundy, Mil- rend des letzten deutschen lowitsch und die „Golden Vereinigungsrausches 1989 in Girls“. Und wie im Fernsehen

der Mache hatte und über S. HOPPE werden nun auch auf der der allgegenwärtigen deutsch- Anna Thalbach in „Stiefel muss sterben“: Dem Jüngling an die Wäsche Bühne die blödesten Witze

304 der spiegel 47/1999 mit Beifall vom Band und ein- gespielten Lachern bejubelt. Theater als TV – TV-Theater. Und irgendwie – Kunststück! – ist selbst die gnadenlose Par- odie noch komisch. Damit es mit dem aufge- drehten Unsinn nicht zu arg wird und der Abend nicht gar zu bunt gerät, agiert zwischen dem aufgemotzten Kotzebue- Quatsch der Dichter selbst oder jedenfalls einer, den Thomas Brasch dafür hält. Kotzebue, dieser frühe Thea- ter-Tycoon (Vincent Leitters- dorf), wetzt da zwischen den Klamotte aufgepeppten Comedy-Einla- gen brav und altväterlich den Gänsekiel, klagt über das eintönige Mann- heim und schwätzt am Stehpult davon, end- lich den Roman seines Lebens zu schreiben. Alles soll dann mal herauskommen, die politischen Eskapaden in Russland und die amourösen mit der Magd Berta im Bett zum Beispiel. Lebenslügen? Endlich weg damit! Und als ob das reichlich bewegte, wenig erforschte und kaum einem Theatergänger geläufige Leben des historischen Kotzebue nicht reichte für einen Abend, hat sich Brasch noch mancherlei Zutat ausgedacht. Das beginnt schon mit einem Prolog, ei- ner rührenden, aber leider unwahren Ge- schichte: Ein düsterer Herr weissagt dem Dichter in dessen Mannheimer Theater während der Vorstellung melodramatisch – als sei’s ein Stück von Kotzebue – genau neun Monate vor der Untat das mörderi- sche Ende. Auch sonst erfindet Brasch den einen oder anderen Lebens- und Gedan- kenlooping zur spärlich überlieferten Dich- ter-Vita keck hinzu. Für Zuschauer mit geistesgeschicht- lichem Assoziationsvermögen bietet er Herrn Hegel auf („Ich bin Polizist, Ma- dame“), der das angekündigte Attentat auf Kotzebue verhindern soll und sich statt- dessen in klappernden Reimen und hin- terlistigen Intrigen ergeht. Zum Glück setzt Katharina Thalbach gegen allzu tief gründelndes Dichter- betasten couragiert auf Begradigung – und bügelt, gewohnt komödiantisch, allzu verstiegene Momente mit theatralischen Effekten und rigorosen Kürzungen im aus- ufernden Text glatt. Kotzebue wird durch all den Budenzau- ber nicht weniger rätselhaft: Einmal zei- gen Thalbach und Brasch, wie der Dichter in einem Zinkzuber voll heißem Moorbad versinkt, um seinen vom vielen Dichten krummen Rücken gerade zu biegen. Auf der Basler Bühne ist die braune Brühe nur eine Plastik-Folie, ein theatrali- scher Fake – und somit ein höchst ein- prägsames Bild für einen der erfolgreichs- ten Bluffer der deutschen Bühnen-Ge- schichte. Joachim Kronsbein

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ben muss, und Dürrs notorische Sonnigkeit wärmt sogar ihn. Es ist ein Theaterliebha- ber zu feiern, der sich diese Liebe etwas kosten lässt: Dürr hat einen „Heinz-Dürr- Stückepreis“ gestiftet, mit 40 000 Mark für den Autor plus 75 000 Mark für das Theater, das sein Stück uraufführt, nobel dotiert. Die Nennung des Sponsornamens darf man dabei nicht schlicht als Zeichen von Eitelkeit nehmen, Dürr verspricht sich eben von seinem Namen eine „Hebelwir- kung“ bei seinesgleichen: Es könnten doch gut noch ein paar reiche Männer (oder Frauen) mehr darauf kommen, dass es Lust macht, Geld für Kunst auszugeben. Dürr gibt sich gern, als sei alles leicht. Trotz sämtlicher Gelegenheitsposten, die einer wie er neben seinem Hauptjob na- turgemäß innehat (einem guten halben

G. KLEMENS Dutzend Aufsichtsratssitze, zum Beispiel Berliner „Baracken“-Inszenierung „Shoppen und Ficken“: Theater mit Hand und Fuß bei Stinnes, Preussag, Mannesmann und so weiter), scheint er ungestresst Zeit für Din- ge zu haben, die doch Mühe machen, auch MÄZENE wenn es nur zum eigenen Vergnügen ist: Dürr der Jazzfan, Dürr der Kunstsammler, Dürr der Theaternarr. Die „Wirtschafts- Sponsor mit Hebelwirkung woche“ hat ihn bei Gelegenheit sogar ver- dächtigt: „Sein Wunschtraum wäre wohl, Heinz Dürr verleiht in Berlin den „Heinz-Dürr-Stückepreis“: selbst Künstler zu sein.“ Sicher ist, dass er die Kunst und den Um- einmal und nie wieder. gang mit Künstlern liebt, woraus er die Le- benserfahrung gewonnen hat, dass es auch äre er nicht fast zwei Meter groß, de er dann vom Bundeskanzler persönlich denen „ganz schön ums Geld geht, beson- so möchte man ihn ein schlaues gekeilt, um Bundesbahn und Reichsbahn ders wenn sie älter geworden sind“. Zu sei- WKerlchen nennen. Heinz Dürr zu einem privatwirtschaftlichen Konzern nen schwäbischen Freunden gehören Mar- wirkt trotz seiner Länge jungenhaft und zusammenzuklopfen, wozu er einen Frei- tin Walser und Siegfried Unseld, und der auch mit 66 Jahren flexibel und flink in fahrschein auf allen Strecken bekam. wiederum hat ihm den Kontakt zu Tho- Rede wie Widerrede. Ein Schwabe. Er ge- Am Mittwochvormittag in der vergan- mas Bernhard vermittelt: Dürr und Frau nießt es, als einer der Top-Manager im Lan- genen Woche prangt Dürr auf einem Po- sind in die österreichische Einöde gepil- de zu gelten, und genießt es noch mehr, dium im pompösen Max-Reinhardt-Salon gert, um dem über alles verehrten Lieb- sich durch vorlaute Sprüche hervorzutun, des Berliner Deutschen Theaters an der lingsdichter ihre Aufwartung zu machen. die unter seinesgleichen mit einem grum- Seite des Intendanten Thomas Langhoff, Dürrs Kunst-Vorlieben sind unorthodox melnden „Hört, hört!“ zur Kenntnis ge- der immer wie ein runzliges Winteräpfel- und geprägt von einer Abneigung gegen nommen werden. chen aussieht, das man besonders lieb ha- das Feierlich-Repräsentative. Es darf ruhig Zum Beispiel, dass man ein Unterneh- ordentlich krachen. Als die men nicht als Profitmaschine betrachten CDU den Stuttgarter Schau- solle, vielmehr als eine „gesellschaftliche spieldirektor Claus Peymann Veranstaltung“, auch dass die Deutschen wegen angeblicher RAF- „viel zu materialistisch“ seien. Oder dass Sympathie aus dem Ländle man bei einem Spitzenmanager keinen ho- vertrieben hatte, setzte der hen IQ erwarten dürfe – denn zu viel Be- CDU-Mann Dürr sich an denklichkeit lähme den Raubtierbiss, ein die Spitze eines schwäbi- aus der klassischen Dramenliteratur als schen Peymann-Fanclubs, Hamlet-Syndrom bekanntes Verhängnis. der demonstrativ zu des- Dürr selbst, versteht sich, darf als die glän- sen Thomas-Bernhard-Pre- zende Ausnahme von der IQ-Regel gelten. mieren nach Bochum fuhr. Schon vor 20 Jahren hat er den ererbten Seit Dürr in der Nach- Familienbetrieb, einen auf Lackiertechnik Wende-Zeit beschlossen hat, spezialisierten „Mittelstands-Multi“, an- Berliner zu werden, versucht gestellten Managern anvertraut (die in- er, dem dahindümpelnden zwischen einen Jahresumsatz von zwei Theaterbetrieb der Metropo- Milliarden Mark ausweisen), um sich „ge- le etwas Zunder zu geben. sellschaftlichen Veranstaltungen“ größeren Das von ihm „postdrama- Stils zu widmen: in den achtziger Jahren tisch“ genannte Treiben von als Sanierer der AEG, wo er sich nach Ex- Regisseuren allerdings, die pertenmeinung wacker schlug, bis nichts sich den Stoff für ihre Thea-

mehr zu sanieren da war. Am Rand der BILDERDIENST ULLSTEIN terabende selbst zusammen- Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 wur- Feiernde Langhoff, Buhr, Dürr: „Weizen in der Spreu“ manschen und -panschen, ist

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Werbeseite Kultur ihm zu diffus, er hat es gern etwas „dra- Punkt bringe“, lobte aber die Betriebs- men- und fabelfixierter“, also mit etwas ratsszenen („da kenn ich mich aus“) als mehr Hand und Fuß. „absolut treffend“. Dem moralischen Fazit Ein von ihm dirigierter Geldgeber-Zirkel des Werks, „Ehrlich ist noch keiner reich namens „Freunde des Deutschen Thea- geworden“, wollte er aber, mit Verlaub, ters“ hat mit jährlich 100000 Mark die „Ba- nicht beipflichten: „Irgendwo muss es auch racke“ des Deutschen Theaters alimentiert, gute Menschen geben.“ wo Thomas Ostermeier durch die Auf- Sein Einsatz für das gesamtdeutsche führung jener jungen britischen Stücke mit Eisenbahnwesen ist Heinz Dürr, wie er den unaussprechlichen Titeln berühmt meint, schlecht gedankt worden: Als er vor werden durfte, leider weniger durch neue zwei Jahren vom Vorstands- auf den Auf- deutschsprachige Autoren. sichtsratsvorsitz der Bahn AG wechselte, So entstand die Idee zum „Heinz-Dürr- tat ihm sein Kanzler den Tort an, sich ge- Stückepreis“ für junge Talente (Alters- gen seinen Wunsch und Rat für einen Mann grenze 38), erstmals ausgelobt für unge- namens Ludewig als Nachfolger zu ent- spielte Werke mit Gegenwartsthematik im scheiden, auf den Dürr von sehr hoch oben September 1997, doch herabschaute: Das war dann nicht verliehen, kein Macher mit Biss, weil die „hochkarätige“ kein Power-Typ, son- Jury (eine bedeuten- dern ein bürokratischer de Schauspielerin, drei Abwickler. bedeutende Dramatur- Die ungemein dy- gen) unter gut hundert namische Art, mit der Einsendungen nichts Dürr alsbald an Lude- fand, was sie einem Pu- wigs Stuhl zu sägen blikum hätte zumuten begann, machte im mögen. SPIEGEL (9/1999) als Nach diesem Fehl- „Machtkampf der Son- schuss versuchte, so derklasse“ (und also Dürr, „einer der gro- vielleicht auch als Stoff ßen Meister der Re- für einen Dramatiker, giekunst“, dessen Na- der über Betriebsrats- men jeder kennt, ihm kabalen hinauswachsen die Preissumme abzu- will) von sich reden:

schnacken mit der Ver- / ZENIT D. BALTZER Als auch die neue SPD- heißung, für so gutes Peymann mit Brecht-Standbild Regierung Dürrs Ansin- Geld könne man sich nen abwies, den CDU- ein Peter-Handke-Stück schreiben lassen. Mann Ludewig einen Kopf kürzer zu ma- Doch Dürr blieb standhaft, lobte den Preis chen, warf Dürr Anfang dieses Jahres sei- erneut aus, und auch die Jury bewies an- nen Bahnaufsichtsjob Knall auf Fall hin. gesichts von 235 eingereichten Bühnen- Etwaige dadurch entstandene Leerstellen werken viel Ausdauer im Bemühen, ein in seinem Terminkalender waren mit Pos- paar „Weizenkörner in der Spreu zu fin- ten bei Zeiss und Krone AG rasch gefüllt. den“ (Dürr). Was aber das deutsche (und insbeson- Der adrette Glückspilz, der sich bei die- dere das Deutsche) Theater angeht, so ser Mittwochsfeier im Deutschen Theater nutzt Dürr den Anlass im Max-Reinhardt- mit dem Spender und einem 40000-Mark- Salon zur Erklärung, dass der nun verlie- Scheck fotografieren lassen darf, heißt Hei- hene erste Heinz-Dürr-Stückepreis auch ko Buhr, ist 35, kommt aus Neumünster, der letzte sei: Für einen umtriebig-un- lebt jetzt in Kiel und hat als Qualifikation geduldigen Tatmenschen muss die lang- eine abgeschlossene Banklehre sowie ein wierige Preis-Prozedur (bis zur Premiere in Literaturstudium samt Doktorarbeit (über vielleicht einem Jahr) „ineffizient“ sein. das Selbstmordmotiv im Drama der Auf- Künftig soll eine inzwischen aus dem Fa- klärung) vorzuweisen. Der Preis für sein milienvermögen neu entstandene Heinz- Werk „Ausstand. Ein Schaustück“ (vier und-Heide-Dürr-Stiftung neben wissen- weitere liegen in der Schublade) sei, so sagt schaftlichen und sozialen Zwecken auch er, nach 17 Jahren erfolgloser Schriftstelle- der Theaterkultur dienen, indem sie jeweils rei seine erste echte „Entlohnung“. drei oder vier Stipendien vergibt, deren Buhrs Drama, so ließ die Jury verlauten, Empfänger sich dann ein Jahr lang an einer handle von Wirtschaftskrise, Arbeitslo- Bühne umtun dürfen. sigkeit, drohender Werftschließung oder Das Deutsche Theater allein wäre damit Übernahme durch einen koreanischen überfordert. Auch der Dürrsche „Ba- Multi sowie einem Auftragsmord, der alles racken“-Protegé Ostermeier, künftig Ber- glatt macht, und es verbinde Kroetzschen liner Schaubühnen-Chef, und der Groß- Kleine-Leute-Realismus mit Dürrenmatt- meister des Thomas-Bernhard-Kults Pey- scher Parabelhaftigkeit. Sponsor Dürr er- mann, künftig Berliner-Ensemble-Boss, laubte sich, ein wenig schulterklopfend, die könnten sich dann also eines Stipendiaten Meinung, man sollte bis zur Aufführung erfreuen. Wie gesagt, irgendwo muss es „des eine oder andre noch a bissle auf den auch gute Menschen geben. Urs Jenny

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was mehr als Männer, und die unter 35- Jahr haben Reclam, Bertelsmann, Eichborn BUCHMARKT Jährigen – sieh an – lauschen Büchern lie- und Heyne nachgezogen. Allerdings auf ber als die schon sehschwächeren 55-Jähri- der Sparspur: Auffallend viele Produktio- Doppelte Zeit gen. Wer hören will, verzichtet deshalb nen wurden bei öffentlichen Lesungen mit- aber nicht aufs Lesen: Mehr als zwei Drit- geschnitten, das drückt die Kosten. Immer mehr etablierte Verlage tel der Interessierten, auch das wurde er- Der Frankfurter Eichborn Verlag prä- mittelt, sind zugleich Buchkunden. sentiert die „Essais“ von Montaigne (gele- drängen mit eigenen Programmen Vom wachsenden Erfolg der Audio- sen von Otto Sander) und die Reihe „Die auf den Markt für Hörbücher. Bücher profitiert seit Jahren vor allem Der Andere Bibliothek im Ohr“. Der Münch- Der Erfolg der Audio-Literatur Hörverlag (DHV). 1993 wurde er von acht ner startet mit 29 Titeln (dar- erstaunt die Fachleute. renommierten Verlagshäusern (darunter unter Amelie Fried, Horst Tappert und Bill Hanser, Suhrkamp, Klett-Cotta, Kiepen- Gates), die meist auch in Buchform vorlie- och Anfang der neunziger Jahre heuer & Witsch, Verlag der Autoren) in gen. Das Bertelsmann-Programm „BMG- waren die Prognosen düster: Das München gegründet und brachte es bin- Wort“ bietet Comedy-Ware – und soll, NHörbuch, ein traditionell vernach- nen weniger Monate zum Marktführer. Der wünscht sich Geschäftsführer Karl Heinz lässigtes Medium, galt als Minderheiten- Hör-Ableger vertreibt Schauspieler-Lesun- Pütz, „vor allem junge Leute ansprechen“. Vergnügen für Senioren und Sehschwache, gen von anspruchsvollen Goethe- bis zu Wer bereits im Hörbuch-Geschäft ist, bestenfalls als Einschlafhilfe für Studien- horrortriefenden Stephen-King-Texten, baut angesichts der vielen neuen Mitbe- räte. Nennenswerte Umsätze, so viel philosophische Reden von Theodor W. werber fix das eigene Angebot aus. So hat schien klar, waren von dem akustischen Adorno ebenso wie Original-Lesungen von der Hamburger Verlag Hoffmann und Cam- pe, seit 1996 dabei, kürzlich die Merian-Reihe „Die Lust am Reisen“ mit zehn Titeln vorgelegt, weitere zehn Titel erschienen im Oktober. Der Berliner Aufbau Verlag, seit drei Jahren im Hör-Geschäft, hat mit dem Südwestrund- funk, dem Mitteldeutschen Rundfunk und dem Deutsch- landradio rasch den Audio- Verlag (DAV) gegründet. „Wir wollen“, sagt DAV- Geschäftsführer René Strien, „einer der großen Spieler werden.“ Unter den 33 neu- en DAV-Titeln finden sich etliche, zu denen es keine Buchvorlage gibt – Hörspie- le, Features und historische Aufnahmen. „Mir ist wich- tig“, so Strien, „das Hörbuch als eigenes künstlerisches Produkt zu etablieren.“ Trotzdem: Kultur-Konser- vative bemäkeln nicht nur,

M. TRIPPEL / OSTKREUZ M. TRIPPEL dass die Vorlese-Produkte im Hörbuch-Kundin (in Berlin): Vom Stief- zum Hätschelkind der Branche Handel teurer sind als ihre ge- druckten Vorlagen, sondern Literaturvergnügen nicht mehr zu er- Ingeborg Bachmann und Elke Heidenreich. vor allem, dass die Originale oft willkürlich warten. Der Umsatz ist ein sorgsam gehütetes Be- gekürzt vorgetragen werden. Für Hörbuch- Vorbeigeschätzt: Das Hörbuch (neu- triebsgeheimnis, soll aber in den vergan- Fans fällt das kaum ins Gewicht, gibt es deutsch: Audio Book) hat sich vom Stief- genen Jahren Wachstumsraten von über 30 doch einen unschlagbaren Vorzug gegen- zum Hätschelkind der Verlagsbranche ent- Prozent ausgewiesen haben. über dem Papier: Man kann Hörbücher wickelt. Inzwischen, so weiß das „Börsen- Allein Jostein Gaarders „Sofies Welt“ beim Autofahren oder Bügeln abspielen – blatt für den Deutschen Buchhandel“, ver- wurde 50000-mal als CD und Musikkas- „Double your time“, heißt die Parole. treiben in Deutschland 150 Verlage mehr sette verkauft, bei einem Stückpreis von Der wachsende Konkurrenzdruck in der als 4000 Titel mit einem Gesamtumsatz 143 beziehungsweise 98,80 Mark. Zum Ver- Hör-Branche inspiriert zu ausgefallenen von etwa 50 Millionen Mark. Die „FAZ“ gleich: Die 1997 zum Hörbuch des Jahres Werbeideen. So vereinbarte DHV-Chefin spricht von einer „angeblichen Renaissance gewählte Lesung von Victor Klemperers Baumhöver gerade eine Kooperation mit des Hörens“. Und das „Handelsblatt“ ju- „Tagebüchern 1933 – 1945“ aus dem Auf- dem Autoverleiher Europcar: In dessen biliert: „Der Markt boomt.“ bau Verlag brachte es bisher nur auf 5000 Leihwagen sollen demnächst Trailer-Kas- Der vermeintlich unerwartete Hör-Trend verkaufte Exemplare. „Es ist uns gelungen, setten ausliegen. Im Übrigen, sagt Baum- deutete sich aber bereits – für jeden nach- ein attraktives Programm zu etablieren und höver, glaube sie fest an Odysseus. Der lesbar – vor knapp drei Jahren an: in einer es vom Makel der schnöden Zweitverwer- verstopfte einst den Gefährten die Ohren, Umfrage des Börsenvereins des Deutschen tung zu befreien“, erklärt DHV-Chefin nicht die Augen, um den Sirenen zu wi- Buchhandels. Das damalige Ergebnis: 40 Claudia Baumhöver, 40, den Erfolg. derstehen. „Es sind die Dichter, die es ver- Prozent der erwachsenen Deutschen in- Auf den hofft aber auch eine zuneh- stehen, uns mit Worten zu verführen.“ teressieren sich für Hörbücher, Frauen et- mende Zahl von Konkurrenten. In diesem Hört, hört. Sven Siedenberg

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mehr von Kritikern als von Käufern ge- schätzt wurden. POP Tennant hat ein Landhaus im Norden Englands erworben, wo er gern mit Gum- mistiefeln der Marke „Wellington“ und sei- Rückzug ins Iglu nem Yorkshire-Terrier Kevin den Gärtnern bei der Arbeit zuschaut, während Lowe in Berühmt wurden die britischen Pet Shop Boys als den vergangenen Jahren fast nonstop zwi- schen London, New York und Ibiza auf zynisch-coole Pop-Dandys. Auf Deutschlandtour beweisen sie Party-Ausflug war. Eines Tages aber nervte nun Mut zu bizarren Kostümen und zum großen Gefühl. ein Taxifahrer den führerscheinlosen Mul- timillionär Tennant mit der Frage, wie denn enn der Pop-Monarch Elton John Andeutung und Verrätselung ist schließ- so das Leben als Frührentner sei – und er besonders gute Freunde in sein lich essenziell in diesem Job. „Uns bereitet befand, dass es „überfällig war, mal wieder WAnwesen bei Windsor lädt, dür- schon das Einkaufen der Garderobe ge- ein wenig Staub aufzuwirbeln“. fen sie mit ihm schon mal in den Stall ge- waltigen Spaß“, sagt Chris Lowe. Mit ihrem neuen Album und noch mehr hen. Den hat der Star zu einer Mischung Wenn sie wollten, könnten die Pet Shop mit ihrem Tourneespektakel erinnert das aus Lagerhaus und Museum ausbauen las- Boys den Rest ihrer Tage längst mit Shop- Duo nun zum Jahrtausendende an seine sen: „Alles, was wir am Entertainer Elton ping verbringen. Tennant und Lowe gelten erstklassige Erfolgsbilanz – und will end- John lieben, ist da: der glitzernde Base- als erfolgreichstes britisches Pop-Duo der lich auch jenen oberschlauen Kritikern den ball-Anzug und die Captain-Fantastic-Uni- vergangenen zwei Jahrzehnte. Einen Num- Mund stopfen, die den beiden Pop-Dan- form, die er in den siebziger Jahren trug“, mer-eins-Hit zu haben, so behaupteten sie dys bis heute die Anerkennung als Stil- schwärmt der regelmäßige Elton-John-Gast mal, sei für sie ungefähr so aufregend, wie Pioniere der jüngeren Musikgeschichte ver- Neil Tennant, „es ist ein Traum.“ eine Tasse Tee zu trinken – und entspre- weigern. Von Freunden wie Elton John und David chend entspannt gehen sie auch heute noch Damit schon die Bühne fabelhaft aus- Bowie haben die Briten Neil Tennant, 45, zu Werke, obwohl ihre jüngeren Platten sieht, hat der gelernte Architekt Chris Lowe und Chris Lowe, 40, bekannt die Star-Architektin Zaha Ha- unter dem Namen Pet Shop did engagiert: „Jeder Auftritt Boys, die Neigung übernom- soll wirken wie ein Fest, das men, Popmusik als großen wir alle paar Jahre für unsere Kostümball zu inszenieren. besten Freunde geben“, sagt Sie finden, wirkliche Stars Lowe. Deshalb steht da eine seien zu äußerer Attraktivität große Treppe, auf der sie als verpflichtet. „Wir sind eher Gastgeber auf und ab stolzie- unauffällige Typen und dazu ren können, und darunter ein noch schüchtern“, sagt Ten- Iglu, in das sie sich verkrie- nant, „also verkleiden wir chen, wenn ihnen der ganze uns so lange, bis wir einiger- Trubel unheimlich wird. maßen aufregend aussehen.“ Ordentlich geklotzt wird Verdammt hohe Ansprü- nicht nur bei den Kostüm- che in einer Zeit, in der im- wechseln, sondern auch bei mer mehr Musiker aussehen der musikalischen Ausstat- wie ihre Fans und auf der tung. Mit Band, schwarzem Konzertbühne in den glei- Gospelchor und einer Matro- chen Fitness-Klamotten von sengarde im Rücken singt Adidas, Nike und Gap her- Neil Tennant die Hits von umturnen wie die Menschen „West End Girls“ bis „Go im Publikum – und so haben West“ mit einer Wehmut, die sich die Pet Shop Boys anläss- besagt, dass es so schön nicht lich ihres neuen Albums bleiben kann und vielleicht „Nightlife“ und einer Welt- nie wieder wird. tournee, die sie von dieser Zwischendurch spielt Ten- Woche an nach Deutschland nant ganz lässig den einen führt, nochmals mit viel Spaß oder anderen der gemeinsa- in Schale geworfen. Fahlweiß men Disco-Hits allein zur haben sie sich die Gesichter akustischen Gitarre. Die gepudert; dazu tragen sie größte Leidenschaft aber zei- Sonnenbrillen und gelbblon- gen die Briten bei der Ver- de Struwwelperücken. neigung vor ihrem großen In dieser Verkleidung äh- Idol, der im März dieses Jah- neln die beiden Briten dem res gestorbenen britischen irren Killer der „Halloween“- Sängerin Dusty Springfield. Horror-Filmreihen; Tennant Tennant und Lowe hatten besteht allerdings darauf, das ihr in den späten achtziger Ganze sei eher als „Hom- Jahren zu einem so spekta- mage an den kleinen Prin- kulären wie würdevollen zen“ gedacht. „Aber egal – Comeback verholfen, und bei

soll sich doch jeder denken, K. MAZUR der Beerdigung hielt Tennant was er will.“ Das Spiel mit Duo Pet Shop Boys: „Wir sind schüchterne Typen“ die Grabrede.

314 der spiegel 47/1999 Auch sonst ist die Begeisterung, mit der die Pet Shop Boys das Spätwerk von unter Einfallsnot leidenden Pop- und Rocksän- gerinnen aufpolieren, längst legendär. Tina Turner haben sie ebenso betreut wie Liza Minnelli, und selbst das von der britischen Presse oft verhöhnte ewige Pop-Mädchen Kylie Minogue ließen sie auf der neuen Pet-Shop-Boys-Platte mitsingen und leisten Beistand beim kommenden Minogue- Werk. ALL ACTION / ACTION PRESS / ACTION ALL ACTION Tennant, Lowe mit Pop-Diva Turner Begeisterung für Sängerinnen in Not

Höchst grimmig reagierten Tennant und Lowe, als der britische Autor Roger Scru- ton vergangenes Jahr in seinem Buch „An Intelligent Person’s Guide to Modern Cul- ture“ lästerte, „dass der Beitrag der Pet Shop Boys zu ihrer eigenen Musik eher minimal“ sei. Nach eigener Aussage haben die beiden Stars Scruton wegen Rufschä- digung verklagt, das Verfahren laufe noch; schließlich gelten die Pet Shop Boys ande- ren Kritikern mittlerweile als Komponis- ten, deren Werk dem von John Lennon und Paul McCartney ebenbürtig sei. Berüchtigt sind Tennant und Lowe al- lerdings auch ihrerseits wegen ihrer Nei- gung zu hämischen Kommentaren über die Pop-Konkurrenz: „Natürlich habe ich stets behauptet, dass U2 und Police das Schlimmste sind, was ich mir vorstellen kann“, sagt Tennant, „aber so böse war das nie gemeint. Ich gestehe: Einige Police- Hits habe ich mir heimlich sogar gern und immer wieder angehört.“ Klingt ganz so, als seien die Pet Shop Boys milde geworden und hätten sich vom alten, eleganten Zynismus verab- schiedet. Was etwa hat es zu bedeuten, dass im Booklet der neuen CD klein gedruckt vermerkt ist, der Tonträger sei „Carbon Neutral“ hergestellt, also nicht umweltbedenklich? Auf Nachfrage füh- len sich die Künstler ertappt: „Wir wissen auch nicht, was das bedeutet. Müssten wir im Lexikon nachschlagen“, sagt Lowe. „Aber wir möchten uns auf keinen Fall als Vertreter einer guten Sache oder als Retter der Regenwälder hervortun. Die- sen Teil der Show überlassen wir lieber anderen.“ Christoph Dallach

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Elias, Manfred Ertel, PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 E-Mail: [email protected] von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Christian Malzahn, PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Abonnement für Blinde Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. 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Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Hauke Goos, Lothar (0065) 4677120, Fax 4675012 Gorris, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 werden anteilig berechnet. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Jo- hannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, WARSCHAU Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dirk WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach Kurbjuweit, Dr. Jürgen Neffe, Rainer Schmidt, Cordt Schnibben, Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Alexander Smoltczyk, Barbara Supp Fax 3473194 WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Maik Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger 5331732, Fax 5331732-10 ✂ SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Abonnementsbestellung SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Oder per Fax: (040) 3007-2898. SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Richter- Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig- monatliche Programm-Magazin. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Hefte bekomme ich zurück. Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg,Anke Wellnitz. Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, E-Mail: [email protected] Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Margret Spohn, Rainer Staudhammer,Anja Stehmann, Dr. Claudia Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Name, Vorname des neuen Abonnenten Michael Walter, Stefan Wolff Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten PLZ, Ort TITELBILD Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver Wiedner, Peter Zobel Peschke, Monika Zucht KOORDINATION Katrin Klocke Ich möchte wie folgt bezahlen: REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND LESER-SERVICE Catherine Stockinger BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– BONN Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfäl- Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 tigungen auf CD-Rom. ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel.(069) 9712680, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 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316 der spiegel 47/1999 Chronik 13. bis 19. November SPIEGEL TV

SAMSTAG, 13. 11. mit hat die Industrie ihren Beitrag von MONTAG vier auf fünf Milliarden Mark erhöht. 23.00 – 23.35 UHR SAT 1 BERLINER FESTE „Bambi“-Verleihung und Unternehmenssprecher betonen, dies sei SPIEGEL TV REPORTAGE erster Bundespresseball in der Hauptstadt. das letzte Angebot. Feste Feiern! – Die Partymacher SONNTAG, 14. 11. PARTEISPENDENAFFÄRE Der Ex-CDU- ATOMAUSSTIEG Vertreter der Regierungs- Schatzmeister Walther Leisler Kiep wird koalition kündigen an, in Kürze ein zehn Stunden von der Augsburger Staats- Atom-Ausstiegsgesetz vorlegen zu wollen anwaltschaft vernommen. Er bestreitet – notfalls auch gegen den Willen der Detailwissen über Geldtransfers. Der Kraftwerksbetreiber. Haftbefehl gegen ihn bleibt bestehen. MAUERSCHÜSSE Politiker mehrerer Par- FLUGZEUGABSTURZ US-Behörden konzen- teien befürworten eine Begnadigung des trieren sich auf die Annahme, ein Pilot letzten Staats- und Parteichefs der DDR, habe die EgyptAir-Maschine absichtlich Egon Krenz. abstürzen lassen. Ägyptische Ermittler SPIEGEL TV zweifeln an dieser Theorie. Partygäste MONTAG, 15. 11. DONNERSTAG, 18. 11. HANDEL China wird in die Welthandelsor- Ihr Kapital sind dicke Adressbücher und exzellente Kontakte zu den Wichtigen ganisation (WTO) aufgenommen, 13 Jahre OPERNHÄUSER Generalmusikdirektor und Wichtigtuern: Dutzende von so ge- war über den Beitritt gesprochen worden. Christian Thielemann gibt bekannt, dass nannten Event-Managern profitieren von er aus Verärgerung über den künftigen KONZERNE Der Frankfurter Bauriese Phi- der boomenden Party-Szene. Beobach- Intendanten Udo Zimmermann und den lipp Holzmann räumt überraschend eine tungen hinter den Kulissen. Milliarden-Überschuldung ein. Berliner Kultursenat seinen Vertrag als Generalmusikdirektor nicht verlängern DONNERSTAG DIENSTAG, 16. 11. wird. 22.05 – 23.00 UHR VOX WIRTSCHAFT Der Sachverständigenrat zur FREITAG, 19. 11. Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen SPIEGEL TV EXTRA Entwicklung stellt seine jüngste Prognose FUSIONEN Die britische Mobilfunkfirma Der Luxustempel vor. Die Wirtschaft wird nach Ansicht der Vodafone Airtouch hat ihr ursprüngliches Durchschnittlich 80000 Kunden stürmen „fünf Weisen“ im kommenden Jahr um Übernahmeangebot für Mannesmann um täglich das KaDeWe am Berliner Witten- 2,7 Prozent wachsen, der Arbeitsmarkt 38 Milliarden Mark auf 243 Milliarden er- bergplatz. werde davon aber kaum profitieren. Die höht. Mannesmann zeigt sich unbeein- Arbeitslosenquote werde minimal sinken, druckt. Sowohl die Aktien von Vodafone FREITAG von 10,5 auf 9,9 Prozent. als auch von Mannesmann sinken. 22.10 – 0.15 UHR VOX

SPORT Die mehrmalige Grand-Slam-Sie- TSCHETSCHENIEN-KONFLIKT In der Ab- SPIEGEL TV THEMENABEND gerin Steffi Graf nimmt im New Yorker schlusserklärung des Gipfeltreffens der Stalingrad – Madison Square Garden vor 12000 Zu- Organisation für Sicherheit und Zusam- Anatomie einer Entscheidungsschlacht schauern Abschied vom Profi-Tennis. menarbeit in Europa (OSZE) hat Russ- Im Spätsommer 1942 dringen die An- land erstmals eine Vermittlerrolle der MITTWOCH, 17. 11. griffsspitzen der deutschen 6. Armee in OSZE für eine politische Lösung der die von der Roten Armee erbittert ver- ZWANGSARBEITER-STREIT Bundesregierung Tschetschenienkrise anerkannt. Ungeach- teidigte Stadt ein. Im November werden und deutsche Industrie bieten NS-Opfern tet dessen lehnt der russische Außenminis- die Angreifer eingeschlossen. insgesamt acht Milliarden Mark an. Da- ter Igor Iwanow eine Vermittlung ab. SAMSTAG In der Nacht zum Donners- 22.15 – 0.20 UHR VOX tag prasselte ein kosmi- SPIEGEL TV scher Staubsturm auf die SPECIAL Erdatmosphäre nieder – er Die letzte Fahrt der „Bismarck“ erzeugte tausende von Dokumentation über das einst größte Sternschnuppen. deutsche Schlachtschiff, den Einsatz im Nordatlantik, seine Versenkung und die Suche nach dem Wrack.

SONNTAG 22.50 – 23.40 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Mobiltelefone unter Verdacht – wie ge- fährlich sind Handys wirklich? Brand- stifter im Staatsdienst – ein V-Mann des Verfassungsschutzes packt aus; Die Autobahn der Albaner-Mafia – wie ge- stohlene deutsche Limousinen in Tirana landen. REUTERS

der spiegel 47/1999 317 Register

Gestorben zeug. Mit natürlichen Gen-Scheren, so ge- nannten Restriktionsenzymen, gelang es Paul Bowles, 88. Bekannt wurde er in dem Mediziner und Molekularbiologen Deutschland eigentlich nur mit seinem Ro- 1969 erstmals, Erbgut punktgenau zu zer- man „Der Himmel über der Wüste“ (1949), legen. Die Schneidetechnik ermöglicht und auch das erst sehr verspätet durch die unter anderem die Entschlüsselung des erfolgreiche Verfilmung von Bernardo Ber- menschlichen Erbguts. 1978 erhielt der tolucci aus dem Jahre 1990 – wobei der Wissenschaftler den Nobelpreis für Medi- zin. Daniel Nathans, der seit 1981 Chef der Fakultät für Molekularbiologie und Genetik an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore war, starb dort am vergan- genen Dienstag an Leukämie.

Robert Kramer, 60. Der Geist der ameri- kanischen Jugendrevolte und der Anti- Vietnamkriegs-Bewegung haben sein Werk geprägt: Mit agitatorischen Kurzfilmen und spröden Bildberichten, die sich auf der Grenze zwischen Dokumentarischem und

GASTAUD / SIPA PRESS / SIPA GASTAUD Fiktivem hielten, war er ein Chronist seiner alte Schriftsteller als Kommentator der Generation. Von 1980 Geschichte eindrucksvoll ins Bild kam. an lebte Kramer in Bowles, Sohn eines New Yorker Zahnarz- Frankreich, wo er als tes, begann seine künstlerische Laufbahn intellektueller Rebell als Komponist, er schrieb vor allem Büh- größere Sympathien nen- und Filmmusik. Seit 1947 lebte er in als in seiner Heimat Tanger, das er zuvor auf einer seiner vie- genoss, zeitweise auch

len Reisen kennen gelernt hatte. Marokko in Portugal (dort war AP und die Wüste spielten fortan eine große er an dem Film „Der Rolle in den Romanen und Erzählungen, Stand der Dinge“ von Wim Wenders be- zu denen ihn vor allem seine Frau Jane an- teiligt), doch über Festivals und die Zirkel geregt hatte, die 1973 starb. Schreiben ver- von Gleichgestimmten hinaus hatte sein lor danach für ihn an Interesse – da er ihr Werk kaum Wirkung: auf Distanz respek- nicht mehr vorlesen könne, sagte er. Paul tiert als Verkörperung der heimatlosen US- Bowles starb am vergangenen Donnerstag Linken, blieb er doch immer ziemlich al- in Tanger. lein. Robert Kramer starb am 10. Novem- ber in Rouen (Frankreich) an Meningitis. Horst P. Horst, 93. Für mehrere Generatio- Karl Feuerstein, 59. Der Mannheimer, der nen von Mode- und 1955 als Lehrling bei Daimler-Benz ange- Werbefotografen war fangen hatte, bewegte in dem Konzern sein Stil, die Art, seine mehr als mancher Vorstand. Dass der Ab- Motive auszuleuchten, bau von über 30000 Arbeitsplätzen ohne sein „dramatic light- Entlassungen vollzogen wurde, dass die ing“ maßgebend. 1930 A-Klasse von Mercedes-Benz in Rastatt ge- aus Deutschland nach baut wird, sind nur einige der Erfolge

Paris gekommen, woll- BILDERDIENST ULLSTEIN Feuersteins, der die letzten zehn Jahre te er eigentlich bei Le als Betriebsratsvorsitzender wirkte. Ein Corbusier Architektur studieren, machte Klassenkämpfer war Feuerstein nie. Ein- dann aber als „Vogue“-Fotograf und Meis- fluss nahm er im direkten Gespräch mit ter der Oberfläche Fotogeschichte. Die Be- den Vorstandsvorsit- rühmten, Schönen und Reichen wie Maria zenden, mit Edzard Callas, Greta Garbo, Marlene Dietrich, Reuter und Jürgen Gertrude Stein, Andy Warhol, den Herzog Schrempp. Doch da- von Windsor, er fotografierte sie alle – vom bei scheute er deut- Studium der antiken Statuen inspiriert – in liche Worte nicht. der kühlen Strenge des Klassizismus, so Als Schrempp die dass sie so unnahbar und doch verführe- Lohnfortzahlung im risch wirkten wie ein Stillleben. Horst P. Krankheitsfall kip-

Horst starb vergangenen Donnerstag in AP pen wollte, drohte Palm Beach Gardens/Florida. Feuerstein mit Ar- beitskampf („Auf einen groben Klotz Daniel Nathans, 71. Dem Sohn russisch- gehört ein grober Keil“) und stoppte den jüdischer Immigranten verdankt die mo- Vorstoß. Karl Feuerstein starb vergange- derne Genforschung ihr wichtigstes Werk- nen Dienstag.

318 der spiegel 47/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Bill Clinton, 53, US-Präsident, und Ehefrau Hillary, 52, sind in der Gunst der Ameri- kaner weiter abgesunken. Bei einer Um- frage des Boulevard-Blatts „New York Post“, wer die schlimmsten Vertreter des Menschengeschlechts in den letzten 1000 Jahren waren, erhielten die beiden gera- dezu bestürzende Ergebnisse. Bill Clinton sei, so votierten die Leser, nach Adolf Hit- ler die zweitschlimmste Gestalt des ausge- henden Jahrtausends.Auch Gattin Hillary, derzeitige Konkurrentin von New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani um den Posten des Senators für die Weltstadt, kommt kaum besser weg. Sie wurde nach den Massenmördern Stalin, Pol Pot und Josef Mengele auf den sechsten Rang ver- wiesen, noch vor Saddam Hussein und dem Organisator der Transporte von Ju- den in die Vernichtungslager, Adolf Eich- mann. An dieser „Millennium-Umfrage“ hatten sich 19184 Leser beteiligt.

Rolf Schwanitz, 40, aus Jößnitz stam- mender SPD-Staatsminister und Beauf- tragter für die neuen Bundesländer, miss- traut der Sicherheit im Bundeskanzleramt.

Seinen Laptop mit den politisch wichti- PRESS BULLS gen Daten wollte der Ost-Politiker näch- Branson auf Werbetour tens, Passwort hin oder her, nicht un- Richard Branson, 49, britischer Kon- und druckte ganzseitig ein Foto von Bran- geschützt im Amt zernherr (Virgin Records,Virgin Airways), sons Fuhre. lassen, das proviso- fuhr dieser Tage umgeben von Models auf risch im Gebäu- einem Pritschenwagen durch London. Der Jacques Chirac, 66, französischer Staats- de des ehemaligen Wagen war verglast und als gigantisches präsident, bestätigte auf einer Provinzreise Staatsrats der DDR Handy gestaltet, die Mädchen waren split- wieder einmal, dass er ein guter Esser und untergebracht ist. ternackt, räkelten sich in roten Kissen und Biertrinker ist. Bei einer Begegnung mit Auch der Haus- schienen zu telefonieren. Der Multimilliar- dem Volk von Marseille anlässlich des 2600. dienst schien ihm där und gescheiterte Ballonfahrer, der sich Geburtstags der Hafenstadt beschied der nicht sicher genug. zu Werbezwecken auch schon mal selber Gourmand einen über den vermeintlich zu So ersann der ge- bloß zu einem nackten Mann ins Bett niedrigen Brotpreis lamentierenden Bäcker lernte Diplomjurist gelegt hat, wollte mit dieser Fahrt auf unter tosendem Beifall: „Wenn alle Fran- eine mechanische ein weiteres Betätigungsfeld aufmerksam zosen so viel Brot essen würden wie ich, Verschlussvorrich- machen, auf seine neue Mobilfunkfirma würden Sie ein Vermögen machen.“ Für

F. OSSENBRINK F. tung für die Fest- Virgin Mobile. Der nicht eben zimperliche die anschließende Visite in dem Marseiller Schwanitz platte. Gelegentlich „Mirror“ reagierte britisch. „Du unan- Experimentierviertel für friedliche Ko- braucht Schwanitz ständiger Junge“, schimpfte das Massen- existenz von Immigranten hatte die multi- zur Aktivierung des Computers nun die blatt, „das ist ein bejammernswerter, elen- rassische „Vereinigung der Frauen jeglicher Hilfe seiner Büroleiterin – wenn er verges- der Versuch, mit einem völlig überflüssigen Herkunft“ (AFDTO) ein von Algerierin- sen hat, wo er den Schlüssel für das hoch- turbogeilen Foto in die Schlagzeilen zu nen, Afrikanerinnen und Spanierinnen an- gesicherte Hightech-Gerät versteckt hat. kommen, aber mach weiter so.“ Schrieb’s gerührtes präsidiales Festmahl vorbereitet:

Donald Trump, 53, amerikanischer Im- ber wusste er zu deklassieren: „Mach- mobilien-Mogul und selbst ernannter ten sie Milliarden Dollar in kurzer Zeit? Präsidentschaftskandidat, absolvierte am Nein. Können sie das überhaupt? No.“ vergangenen Montag in Miami seine Und selbst seine verflossenen Ehefrauen außenpolitische Jungfernrede. Vor einer (zwei) sowie auch die neueste Freundin Menge jubelnder Exil-Kubaner verriet an seiner Seite, Melania Knauss, 26, er, was er für den Máximo Líder Castro mit der er gelegentlich öffentlich Mono- übrig habe: „Persönlich nur zwei Worte: poly spielt, wusste Trump für seine Be- ,Adios, Amigo!‘“. Dabei vergaß der Ca- werbung um das Präsidentenamt einzu- sino- und Wolkenkratzer-Besitzer nicht setzen: „Der einzige Unterschied zwi- hinzuzufügen, das erste Hotel im freien schen mir und den anderen Kandidaten

Kuba sei seins. Die Kubaner schrien: AP ist, dass ich ehrlicher bin und die schö- „Viva Donald Trump!“ Seine Mitbewer- Trump, Knauss neren Frauen habe.“

320 der spiegel 47/1999 Paella. AFDTO-Präsidentin Marie-Rose Di November zu hören, ist „ein Kollege aus Vita informierte die Medien: „Er hat ge- dem ,heute journal‘“. Übrigens: Der gessen für drei.“ Nur beim Runterspülen Glückliche ist Berliner und heißt René. des spanischen Nationalgerichts führte der Elysée-Palast dann doch diskret Regie: Die Marlène Laffond, 26, französische Ver- Damen mussten den bereits georderten käuferin, siegte in einem republikanischen Lieblingstrunk Chiracs, mexikanisches Schönheitswettbewerb über das Top-Model Corona-Bier, durch elsässisches Kronen- Laetitia Casta, 21. Künftig wird sie statt der bourg 1664 ersetzen. Dass der Bierfreund korsischen Schauspielerin als Büste der na- mit sichtlichem Behagen schlürfte, über- raschte Insider nicht: Aus patriotischen Rücksichten hebt Chirac seit seinem Einzug in den Elysée die französische grüne Fla- sche, lässt sie jedoch vorher von seinen Leibwächtern heimlich mexikanisch um- füllen.

Anja Charlet, 30, Nachrichtensprecherin beim ZDF-„heute journal“, erhielt ver- gangenen Donnerstag eine späte Liebes- erklärung von der „FAZ“. Da bedauerte

ein Redakteur mit dem Kürzel L. J., dass AFP / DPA „alle Liebesbriefe, die sie von ihren Fans Laffond bekam, als sie noch Anja Wolf hieß“, nun „umsonst“ gewesen seien.Was der Redak- tionalen „Marianne“ das Rathaus ihres Hei- teur nicht mitbekommen hatte: Bereits ein- matdorfs Roulans bei Besançon zieren. Den einhalb Wochen vorher, am 6. November, Sieg verdankt die künftige Roulans-Mari- hatte das „heute journal“ die Heirat der anne einem Zornesausbruch des Bürger- Sprecherin verkündet. Nun war der „FAZ“- meisters ihrer 1005-Seelen-Kommune, Mann in Not: „Ein paar Tage hatte man das Georges Mailley, 73. Der „maire“ hatte aus ,heute journal‘ geschwänzt, und als man Protest dagegen, dass für die landesweite wieder einschaltete, war alles anders; man Wahl des Revolutionssymbols – frühere wollte seinen Ohren kaum trauen, als Wolf Modelle: Brigitte Bardot, Catherine De- von Lojewski zu dem vertrauten Gesicht neuve – nur Showstars aufgestellt worden mit dem neuen Namen überleitete.“ In Er- waren, einen lokalen Marianne-Wettbewerb füllung geht wohl „der Wunsch“ des en- ausgeschrieben. „Der Erfolg warf mich um“ thusiastischen Fans von der „FAZ“, „dass – so Monsieur le Maire: 38 Kandidatinnen die rotblonde Frau, die die Nachrichten zwischen 12 und 61 Jahren stellten sich, die mit der brüchigsten, chansonhaftesten Wahlbeteiligung erreichte den Lokalrekord Stimme der Welt verlesen kann, den Sen- von 63 Prozent. Roulans’ Marlène-Marian- der nicht verlässt“. Warum sollte sich das ne wird nun, im Unterschied zu den in Mas- Ehepaar, kaum getraut, schon wieder tren- senproduktion in der Gipserei des Pariser nen? Anja Charlets Ehemann, so war am 6. Louvre gefertigten Vorgängerinnen, in Gra- nit gehauen. Der lokale Amateur-Skulpteur Gilbert Moigeon, 70, hat sein Künstler-Ur- teil bereits fertig: „Nichts gegen die Casta, aber Marlène ist hinreißender.“

Christine Bergmann, 60, Bundesfamili- enministerin (SPD), geriet beim Kokettie- ren mit dem Alter an die Falsche. Vergan- gene Woche besuchte die Politikerin eine Grundschule in Berlin-Mitte und über- reichte den ersten so genannten Kinder- rechtekoffer stellvertretend für alle Kin- der der Republik. Auch eine Geburtstags- torte aus Anlass des 10. Jahrestages der Uno-Kinderrechtskonvention wurde auf- gefahren, bestückt mit zehn brennenden Kerzen. „Nun helft ’ner alten Frau mal beim Auspusten“, bat die Ministerin. Doch auf solche Töne ließ sich die siebenjährige Miriam gar nicht erst ein: „Von wegen alte Frau. Du hast doch eine viel größere

A. KIRCHHOF / ACTION PRESS A. KIRCHHOF / ACTION Lunge als wir.“

Charlet 321 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Ist Ber- Zitate ti Vogts zu anspruchsvoll geworden? Zu schleckig wie die schönen Frauen unserer in der „Süddeutschen Jugend, die immer nach dem Nächsten und Zeitung“ über Franz Josef Strauß noch Besseren guckten, und nun ziehen an und seinen Kritiker Rudolf Augstein: ihren einst erotischsten Stellen die Spinnen Fäden?“ Franz Josef Strauß und seine Kritiker. Von der Parteien Gunst und Hass verzehrt oder so ähnlich.War es Liebe? Oder Hass? Oder Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Der Hassliebe? Ein Verhältnis „in tödlichem Vater von Eva-Maria Fitze gilt in der Sze- Clinch“, wie Rudolf Augstein meinte. Um- ne als klassische Eiskunstlaufmutter.“ gebracht haben sich diese Gegenkamera- den allerdings nie und wenn doch, dann nur so, dass der gerade Niedergestreckte sofort wieder aufstand und weiter tat.Wer in der Nachkriegs-Publizistik darauf aus war, in der Politik Heuchelei und Gewäsch zu entlarven, konnte Straußens Maßstä- Aus der „Bild-Zeitung“ ben an sprachlicher Klarheit und seinem unbedingten Willen, verstanden zu wer- den, ohnehin den Respekt nie versagen. Der irritierte Augstein über einen Privat- besuch von Strauß bei ihm zu Hause: „An- dererseits war er aber auch derart präsent, dass man sagte: Der ist es!“ Aus den „Badischen Neuesten Nachrich- ten“ Michael Jürgs in der „Süddeutschen Zeitung“ in seinem Porträt des früheren Kohl-Beraters Andreas Aus der Tageszeitung „15 Uhr aktuell“: „In Fritzenkötter über einen Brief den nächsten zwei Jahren sollen Studien an Rudolf Augsteins an Helmut Kohl: menschlichen Versuchstieren die Ergebnis- se bestätigen.“ Da erinnerte sich der ehemalige Spin- Doctor an eine schöne Geschichte. Ge- denkfeier Adenauer in Rhöndorf. Kohl stu- Aus der „Hessisch-Niedersächsischen All- diert die Schleifen an den Kränzen. Bei gemeinen“: „Das Bad Wildunger PET der von Rudolf Augstein stutzt er und sagt, (Positron Emissions Tomograf) ist – nach na, von dem werde ich wohl keinen be- Hamburg und Frankfurt – das bisher drit- kommen. Eine Woche später ruft der Kanz- te in Hessen arbeitende Gerät.“ ler seinen Fritzi und zeigt ihm einen Brief: „Lieber Kanzler, doch, Sie kriegen Ihren Kranz. Rudolf Augstein.“ Das hat den Kohl beeindruckt, sagt Fritzenkötter, das hat ihm gefallen.

Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGEL- Bericht „Europa – Tatort eines Krimis“ über Schlamperei und Milliarden- verschwendung, die der EU-Rechnungs- hof enthüllte (Nr. 45(/1999):

Aus der „Augsburger Allgemeinen“ Die Europa-Abgeordneten fühlten sich auf den Schlips getreten. Seit Jahren schon ver- suchen sie, die EU-Kommission und die Aus einer Beilage der „Allgäuer Zeitung“: anderen europäischen Institutionen dazu „1968 ein kurzer Hoffnungsschimmer: Ge- zu bekommen, bei wichtigen Ereignissen waltsam beenden Sowjettruppen den ,Pra- zuerst das Parlament zu unterrichten und ger Frühling‘ und marschieren in der da- dann erst die Presse einzuberufen. Dass maligen ∏SSR ein.“ das Magazin SPIEGEL den Bericht des Eu- ropäischen Rechnungshofes ganze zehn Tage vor ihnen in die Hände bekommen Aus dem Kreta-Reiseführer des Nelles Ver- hatte, traf die Straßburger Volksvertreter lages, München: „Kreta hat alles miterlebt denn auch an einer besonders empfind- – den Untergang des Minoer-Reiches, den lichen Stelle. Ihre Rache: Sie strichen die Aufstieg Venedigs, die Islamisierung durch für Dienstag vorgesehene Debatte über die Türken, die Brutalität der Nazis und den Rechnungshofbericht von der Tages- den gegenwärtigen Tourismus – nichts ordnung und luden den Präsidenten des blieb der Insel erspart.“ Hofes, Jan Karlsson, wieder aus.

322 der spiegel 47/1999