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Die Vernichtung Eine Auswahl der autobiographischen Mitteilungen Werner Kahns schließt sich an. der Firma Herzog & Co. Ein vollständiges Exemplar dieses Briefwech - und die Erinnerungen sels habe ich mit dem Einverständnis von Werner Kahn dem Stadtarchiv Eschwege Werner Kahns übergeben. von Dietfrid Krause-Vilmar Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. Die Anprangerung Im Rahmen meines Gutachtens zur politi - Am Anfang stand eine kleine Notiz. „Die schen Tätigkeit des Eschweger Bürgermeisters Firma Herzog & Co., Duftmittel Fabrik,“ – so Dr. Alexander Beuermann war ich auf einen notierte der Eschweger Bürgermeister am in den Akten nachweisbaren Vorgang einer so 3.Mai 1937 handschriftlich – „hat einen irre - genannten Arisierung eines Eschweger Unter - führenden Namen, weil der Anschein er - nehmens gestoßen. Die staatlichen Maßnah - weckt wird, als handele es sich um eine ari - men waren dabei gegen Friedrich (bzw. Fritz) sche Firma. So kommt es, dass dort fortge - Kahn gerichtet, den im Jahre 1937 alleinigen setzt Parteistellen kaufen, obgleich die Firma Inhaber der Firma Herzog & Co. rein jüdisch ist.“ 1 Die Sache sei mit Assessor Den Kontakt mit seinem Sohn Werner Kamlah, dem Registerrichter am Amtsgericht Kahn erhielt ich durch dessen Vetter Kurt Eschwege, besprochen worden. „Er wird die Pappenheim (Schmalkalden), mit dem ich Firma zur Änderung veranlassen.“ Auch no - seit Jahren in Verbindung stehe, da er uns tierte er, dass am 20. September 1927 bei wichtige Dokumente und Bilder zur Ge - der Eintragung der Firma in das Handels - schichte seines Vaters Ludwig Pappenheim register „Herzog sofort von der Vertretung zur Verfügung stellte. Ludwig Pappenheim ausgeschlossen“ war. Nicht ermittelbar war, war einer der ersten politischen Schutzhaft - auf welchem Weg der Stadtchef zu dieser gefangenen des Konzentrationslager Breite - Feststellung gekommen war bzw. wer ihn auf nau; über sein Schicksal hatte ich in meiner diesen zehn Jahre zurück liegenden Vorgang Monographie (Marburg, 2. Aufl. 2000) be - aufmerksam gemacht hat. Der Landrat und richtet. die Gestapo zogen in den folgenden Mona - Als mir im November 2009 Kurt Pappen - ten das Verfahren an sich und erreichten heim ein Familienbild zeigte, auf dem seine schließlich die Löschung der Firma Herzog Tante Luise Kahn, geb. Pappenheim, zu & Co. – und damit die Existenzgefährdung sehen war – die Ehefrau von Friedrich Kahn der Familie Kahn, die sich angesichts der be - – fragte ich nach und erhielt den Hinweis auf drohten und enteigneten Lage entschloss, den in Rio de Janeiro lebenden Sohn Werner über Frankfurt nach Brasilien auszuwandern. Kahn. Kurt Pappenheim rief ihn an und be - richtete von unseren Forschungen. So kam Zur Firmengründung im Jahre 1926 es Ende November 2009 zu einem Telefon - Der damals 30-jährige Dr. Walter Kahn, gespräch mit Herrn Kahn, an das sich eine der Bruder des 1937 beschuldigten Fritz intensive Korrespondenz anschloss. Diese Kahn, und der damals 28-jährige Ernst Her - Korrespondenz klärte gegenseitig die Vor - zog hatten im Februar 1926 die Firma Her - gänge der Enteignung der Firma Herzog & zog & Co. gegründet. Dr. Walter Kahn hatte Co. auf, die deshalb zunächst knapp darge - gerade sein Studium der Chemie abgeschlos - stellt werden soll. sen. Ernst Herzog war Werkmeister in der 4 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Eschweger Spazierstockfabrik Schloss & Co. Für Ernst Herzog war es dem Vertrag nach gewesen. Der Teilhaber dieser Fabrik Isidor ein Weg, ohne eigenes Risiko möglicher - Schloss war ein Onkel von Walter Kahn. weise die entgangene Lohnzahlung zu erhal - Über die Motive und den Anlass der Firmen - ten. Als die erwarteten Gewinne ausblieben, gründung berichtete Friedrich Kahn im Mai verließ er die Firma im April 1928 und wid - 1937, als er vor dem Registerrichter in Esch - mete sich einer eigenen Stockfabrik unter wege vorgeladen war: seinem Namen. Von seiner Seite lag weder „Ich war früher Mitinhaber bei der Stock - zu diesem Zeitpunkt noch später eine Äuße - fabrik Schloß u. Co. (Inhaber waren weiter rung zum Firmennamen vor, die auf ein mein Vater und mein Onkel Schloß). Die mögliches Nicht-Einverständnis mit den Brü - Firma war verschuldet und musste einge - dern Kahn schließen lässt. Notariell willigte hen. Herzog war Werkmeister in der Fa. er in die Fortführung der Firma durch Dr. Schloß. Er hatte noch eine Gehaltsforde - Walter Kahn unter dem eingeführten Namen rung gegen die Firma Schloß, die nicht Herzog & Co. ausdrücklich ein. 4 beitreibbar war. Ich wollte dann eine neue Existenz gründen – durch meinen Bruder, Die Firma Herzog & Co. der Chemiker ist, verfiel ich auf die Her - Die Firma war im Februar oder im April stellung von Desinfektionsmitteln und der - 1926 gegründet worden und hatte ihre Ge - gleichen. Mein Bruder hat dafür Erspar - schäftsräume zunächst im Haus der Schwie - nisse in geringfügigem Umfange (viel - gereltern Friedrich Kahns, der Familie Julius leicht 500, – M.) zur Verfügung gestellt. Pappenheim, in der Schildgasse 8 in Esch - Später stellte die Familie auch noch Dar - wege. Zunächst kann es sich nur um eine lehen zur Verfügung, wie sie auch am An - kleine Firma mit drei bzw. höchstens vier fang durch Verfügungsstellen der Räume Angestellten gehandelt haben. Von den her - half. Mein Bruder wollte den Herzog für gestellten Artikeln „habe ich in Erinnerung die aussichtslose Gehaltsforderung gegen ein Badesalz (mit Fichtennadelgeruch), die Fa. Schloß entschädigen und nahm Schmierseifen, ein Produkt, welches Verstop - ihn mit in die Firma. [… Herzog] sollte fungen von Röhren in den Küchen auflöste, nur berechtigt sein, sich an den Über - das Eisstreumittel (Solvo-Glace), welches pa - schüssen der Firma für seine Forderung tentiert wurde, vielleicht eine Art Seifenpul - nach und nach zu befriedigen; da aber in ver, ein Reinigungsmittel für Gläser, Flaschen den ersten Jahren keine Überschüsse er - etc. (im Grunde auch eine Seife) […]“ 5 zielt wurden, ist er aus der Firma ausgetre - Herzog & Co. firmierte als Hersteller che - ten. Er war im ganzen zwei Jahre lang haf - mischer Erzeugnisse und Vertrieb techni - tender Gesellschafter. Die Firma ist des - scher Neuheiten (1927), als „Großvertrieb halb nicht Kahn u. Co. genannt worden, technischer Neuheiten“ und „Hersteller des da hier in Eschwege sieben oder acht Fir - automatischen Feuerlöschers ‚Apyr’“ (Juni men namens Kahn bestanden; es hat uns 1928), als „Hersteller chemischer Erzeug - fern gelegen, den nichtarischen Charakter nisse“ (August 1928) und später als „Chemi - der Firma zu verbergen. [...]". 2 sche Fabrik, Eschwege, Desinfektionsmittel / Mit dieser Aussage stimmt die Vereinba - Parfümerien / Putzmittel / Seifen / Bäder“ rung zwischen Dr. Walter Kahn und Ernst (1933). 6 Die Firma hatte anscheinend erst Herzog vom Februar 1926 überein, in der Anfang der 30-er Jahre die Umsätze erheb - festgelegt worden war, dass etwaige Verluste lich steigern können. 7 Bis 1936 muss eine allein von Dr. Kahn getragen werden, wäh - weitere Umsatzsteigerung erreicht worden rend die Verteilung der Gewinne einer be - sein, so dass anzunehmen ist, dass die Ge - sonderen Vereinbarung vorbehalten war. 3 schäfte im Jahr 1937 gut liefen. 8 Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 5

Politische und justizielle Verfolgung solch klarer Weise vornehmen lässt, dass die Die Recherchen des Bürgermeisters beim Firma von jedermann sofort als jüdisches Amtsgericht Eschwege hatten ergeben, dass Unternehmen erkannt werden kann.“ Zudem Herzog im Jahre 1927 von der Vertretung sollten „alle Reichs-, Staats- und Kommunal - „sofort ausgeschlossen worden“ war. Dieser behörden des Regierungsbezirks Kassel von Satz, vor allem das „sofort“ darin, war nicht dort aus [i.e. Gestapo] verständigt werden, zutreffend. Im Register hieß es, dass „zur dass die Firma Herzog & Co. in Eschwege Vertretung der Gesellschaft (…) lediglich der ein jüdisches Unternehmen ist.“ Der Landrat Chemiker Dr. Walter Kahn ermächtigt (ist)“. schrieb: „Das Täuschungsmanöver hat sich Die Feststellung einer Vertretungsberechti - anscheinend glänzend bewährt, was daraus gung ist ein üblicher Vorgang und schließt hervorgeht, dass der Jude Kahn sich gegen bereits definitorisch die übrigen Mitglieder die vom Bürgermeister Dr. Beuermann schon der Gesellschaft von der Vertretung aus. In vor einiger Zeit beim Amtsgericht beantragte diesem Fall war aus den dargelegten Grün - Firmenänderung im Handelsregister wehrt.“ den zu keinem Zeitpunkt des Bestehens der Gestapo, Landrat, und Bürgermeister ent - Firma eine Vertretung Ernst Herzogs verein - falteten bei der Verfolgung dieser Sache bart worden. 9 Mit der für das Jahr der Fir - nicht nachlassende Aktivitäten, die bis in den mengründung (1926) abwegigen Unterstel - Regierungsbezirk Kassel hinein reichten. 12 lung, Kahn habe Herzogs Namen benutzt, Die Gestapo Kassel ersuchte am 21. Mai war Kahns Entgegenkommen, Herzog eine 1937 den Landrat um die Vernehmung Fritz Möglichkeit zu eröffnen, seine entgangenen Kahns und bat um „eine Stellungnahme des Lohnforderungen zu realisieren, ins Gegen - Bürgermeisters in Eschwege […] über den teil verkehrt worden. Die Tatsache, dass An - Stand des Verfahrens bezüglich der von ihm gehörige der jüdischen Familie Kahn Inhaber beim Amtsgericht Eschwege beantragten Fir - der Firma Herzog & Co. waren, ist zu kei - menänderung.“ Dr. Beuermann berichtete, nem Zeitpunkt verschwiegen, sondern seit dass das Amtsgericht Eschwege als Register - 1927 in Eschwege öffentlich bekannt ge - gericht gleichzeitig eine Verfügung „an den macht und wiederholt öffentlich mitgeteilt Juden Kahn (erlässt), binnen kurz bemesse - worden. 10 Gleichwohl wurde ein „Täu - ner Frist unter Androhung einer Ordnungs - schungsmanöver“ Friedrich Kahns unter - strafe die Firma zu ändern.“ Dies geschah stellt. Dabei wurde auch die Tatsache über - postwendend. Das Amtsgericht Eschwege gangen, dass Friedrich Kahn an der Verein - gab Fritz Kahn am 2. Juni 1937 auf, sich des barung mit Ernst Herzog im Rahmen der Fir - Gebrauchs der Firma Herzog & Co. zu ent - mengründung im Jahr 1926 nicht beteiligt halten und zweitens die Löschung der Firma gewesen war. Er hatte die unter diesem zum Handelsregister anzumelden. Mit der Namen bestehende Firma erst im August vorgeblich nur auf Namensänderung zielen - 1933 von seinem Bruder übernommen. den Intervention war faktisch die „Arisie - Auch dieser Vorgang war in Eschwege öf - rung“ des Unternehmens eingeleitet worden. fentlich bekannt gemacht worden. 11 Am Fritz Kahn wird gewusst haben, dass eine 19. Mai 1937 wandte sich der Eschweger Umbenennung der Firma auf seinen Namen Landrat Dr. Schultz an die Geheime Staats - im Frühjahr 1937 als unmissverständliches polizei Kassel betr. „Tarnung einer jüdischen Signal zu deuten war. Ihm stand nur mehr Firma als arisches Geschäft“. Dr. Schultz die Zeit zur Verfügung, die gegebenenfalls hielt es für erforderlich, von Seiten der Ge - eine Beschwerde und Klage eröffnete. Es be - stapo die Firma zu schließen, wenn sie nicht darf keiner großen Vorstellungskraft, um sich innerhalb einer Frist die Änderung ihrer Fir - die geschäftlichen Folgen für die Firma, ins - menbezeichnung im Handelsregister „in besondere für die Mitarbeiter, ab dem Früh - 6 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 jahr 1937 auszumalen. Fritz Kahn war sich von Amts wegen gelöscht worden. Auch ist im Klaren darüber, dass er an einem Verkauf inzwischen von dem bisherigen Inhaber Fritz nicht mehr vorbeikam und sondierte sofort Kahn der Antrag auf Löschung der Firma bei Verkaufsmöglichkeiten. Auch diese wurden dem hiesigen Amtsgericht gestellt worden. freilich durch die Drohung mit der Preisgabe Der Betrieb der bisherigen Fa. Herzog & Co. des eingeführten Firmennamens behindert. 13 ist durch Kauf in den Besitz der Fa. Ernst Gegen die Verfügungen des Amtsgerichts Haiss in Haslach im Kinzigtal im Schwarz - Eschwege legte er mit Hilfe eines Rechtsan - wald übergegangen. Soweit hier bekannt ist, walts Beschwerde ein, die dem Landgericht handelt es sich bei der Fa. Haiss um eine ari - in Kassel zur Entscheidung übergeben wurde. sche Firma […]“. Mehrere Nachfragen seitens des Bürger - Am 2. Dezember 1937 hatte Friedrich meisters, des Landrats und der Gestapo Kas - Kahn dem Amtsgericht mitgeteilt: „Zur Ein - sel beim Amtsgericht Eschwege führten zu tragung in das Handelsregister melde ich an, der wiederkehrenden Antwort, dass das dass die Firma erloschen ist.“ Landgericht Kassel noch immer nicht ent - schieden habe ( z. B. am 22. Juli 1937, 16. Sep - Zum weiteren Schicksal der Familien tember 1937 , 22. Oktober 1937). Am 15. Au - Fritz Kahn und Dr. Walter Kahn gust 1937 hatte Dr. Beuermann handschrift - Fritz Kahn, seine Ehefrau Luise, geb. Pap - lich notiert: „Die Beschwerde liegt z. Zt. penheim und ihr Sohn Werner Kahn verlie - noch bei der Kammer für Handelssachen in ßen wenige Monate später die Stadt Esch - Kassel vor. Kahn nützt die Fristen immer bis wege und zogen nach Frankfurt am Main. Im zum äußersten aus.“ Als man dort am 2. Au - November 1938 wurde Friedrich Kahn für gust 1937 die Beschwerde Kahns zurück - vier Wochen im Konzentrationslager Dachau wies, wandte sich sein Anwalt an das Berli - inhaftiert. Aufgrund glücklicher Umstände ner Kammergericht, das am 11. November und eines von den Schweizer Geigy Werken 1937 ebenfalls die Beschwerden zurück - ermöglichten Visums, mit denen die Brüder wies. Die Urteilsbegründung des Berliner Kahn einen Lizenzvertrag für die Herstellung Kammergerichts war, wie mir von rechtshis - eines Eisstreumittels geschlossen hatten, ge - torisch kundiger Seite mitgeteilt wurde, mit lang ihm und seiner Familie im Juli 1939 die der damaligen Kommentarliteratur zum BGB Flucht und Emigration nach Brasilien. Fried - nicht vereinbar; sie sicherte die Wunschvor - rich Kahn und Luise Kahn starben in Rio de Ja - stellungen der Geheimen Staatspolizei ab. neiro, er am 6. Juli 1951, sie am 27. Juli 1963. Inzwischen hatte diese den Druck ver - Die Schwierigkeiten der Rückerstattungs - schärft. Sie teilte dem Landrat am 22. Ok - verfahren nach dem Krieg dokumentiert ein tober 1937 mit, dass sie von ihm erwarte, Schreiben eines beauftragten Anwalts. „Auf „dem Übergang der Firma in andere Hände eine Anfrage nach der Firma Herzog & Co., besondere Aufmerksamkeit zu schenken und Eschwege“, so schrieb eine Hamburger An - vor etwa eintretenden Veränderungen sofort waltskanzlei an das Amtsgericht Eschwege zu berichten.“ Bereits am 5. November 1937 im September 1949, „haben wir von Ihnen teilte Dr. Schultz der Gestapo mit: „Wie ver - die Auskunft erhalten, dass die genannte traulich festgestellt wurde, steht Kahn nach Firma in Ihrem Handelsregister nicht einge - wie vor wegen des Verkaufs seines Geschäfts tragen und dort unbekannt sei. Nach unse - mit auswärtigen Personen in Verhandlung.“ ren Unterlagen kann diese Auskunft jedoch Am 10. Dezember 1937 berichtete der nicht richtig sein. Laut Urkunde des Reich - Eschweger Kriminal-Oberassistent Held - spatentamtes vom 20. Oktober 1937 ist das mann: „Wie hier bekannt geworden ist und Reichs patent 651803 der Firma Herzog & festgestellt wurde, ist die Firma inzwischen Co., Eschwege, erteilt. Alleiniger Inhaber war Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 7

Herr Fritz Kahn, früher Eschwege, jetzt: Rio Anfang der dreißiger Jahre, weil er kein de Janeiro, Rua Magelhaese Castro 9. Herr ‚Arier‘ war. Er heiratete 1931 Grete Heu - Kahn musste 1939 aus rassischen Gründen mann und zog im selben Jahr mit ihr nach auswandern. 1941 wurde sein Vermögen auf Dortmund, wo die Familie seiner Frau eine Grund des Reichsbürgergesetzes als zu Gun - Wohnung hatte. Walter hat keine Stellung sten des Deutschen Reiches verfallen erklärt. mehr finden können, und ich weiß nicht, Es ist anzunehmen, dass die genannte Firma wie die Familie bis zu ihrer Deportation in den Jahren nach 1937 aufgelöst oder ari - nach Litauen ihr tägliches Brot kaufen siert worden ist […]“ 14 Erst 1950 kam es zu konnte. Beide hatten eine im Jahr 1935 ge - einem Vergleich mit der Firma Ernst Haiss, borene Tochter Hanna. Ich habe vergeblich Süddeutsche Stahl-, Eisen und Metallgesell - in Erfahrung zu bringen versucht, was aus schaft in Haslach i. K. (Baden) 15 , und 1951 der Familie meines Onkels wurde. Bei mei - zu einer gerichtlich festgestellten Rückzah - nen Recherchen fand ich Briefe von Walter lungsverpflichtung der von den Finanzbehör - und Grete an meine Eltern; diese Korrespon - den einbehaltenen Gelder, überwiegend Er - denz bricht im Jahre 1941 ab. Ich bin sicher, löse aus seinem Patentrecht. 16 Die Durchfüh - dass sie Opfer der Nazi-Mörder wurden. 18 rung des Rückerstattungsverfahrens gegen Meine Mutter Luise hatte drei Geschwis - die Firma Noga-Werk (Norddeutsche Öl-Ge - ter: Ludwig, Anna und Meta. Anna heiratete sellschaft Anders & Bergmann) war „nicht Louis Westheim und lebte in Leipzig. Meta möglich“, da die Firma nach Stade/Mecklen - heiratete Bernhard Rosenberg. Die Familie burg in die damalige Ostzone bzw. DDR ver - Rosenberg blieb in Eschwege. Ludwig zogen war. 17 wohnte mit Frau und Kindern in Schmalkal - den, Thüringen. Sowohl mein Vater wie auch Ludwig Pap - Aus den Erinnerungen des damals penheim und andere Mitglieder unserer Fa - zwölfjährigen Werner Kahn milie haben im Ersten Weltkrieg gedient. Mein Vater ist mit militärischen Orden aus - Zur Familie gezeichnet worden. „Ich bin am 7. August 1925 in Eschwege Mein Großvater, er muss Ende 70 oder geboren. In meiner Familie war ich das ein - Anfang 80 Jahre alt gewesen sein, hatte eine zige Kind. Mein Vater Friedrich Julius Kahn, starke Erkältung, als die SA in seinem Haus Sohn von Max und Rosa Kahn, war am erschien und ihn zwang mitzukommen, um 13. März 1889 in Eschwege geboren, und seine Stimme für Adolf Hitler in die Urne zu meine Mutter Luise Kahn, geb. Pappenheim, stecken. Dabei holte er sich eine Lungenent - Tochter von Julius und Emma Pappenheim, zündung und starb.“ am 1. April 1902, auch in Eschwege. So weit ich mich erinnere, waren Max Kahn und Ju - Die späten zwanziger lius Pappenheim gebürtige Eschweger. Ich und frühen dreißiger Jahre nehme an, dass die Familien Kahn und Pap - „Mein Großvater Max war Teilhaber der penheim über Jahrhunderte Eschweger Bür - Spazierstock-Fabrik Schloß & Co. in Esch - ger waren. Meine Großmutter mütterlicher - wege. Dieser Betrieb wurde im Jahr 1925 ge - seits stammte aus dem Rheinland. schlossen. Zusammen mit seinem Bruder Mein Vater hatte einen jüngeren Bruder, Walter gründeten mein Vater und Ernst Her - Dr. Walter Kahn, der nach Beendigung sei - zog im Jahr 1926 die Firma Herzog & Co., ner Studien an der Berliner Universität dort welche sich der Fabrikation von bestimmten eine gute Stellung als Chemiker gefunden chemischen Produkten widmete. Herr Her - hatte. Dr. Walter Kahn verlor seine Stellung zog trat bald aus der Firma aus. Die neue 8 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Firma entwickelte sich langsam, wurde je - stand ich den politischen Umschwung nicht. doch auch von der großen wirtschaftlichen Unsere Familie war musikalisch begabt. Krise der späten zwanziger Jahre getroffen. Mein Vater spielte Violine und meine Mutter Nach der Machtübernahme der Nazis setz - Klavier. Meine Eltern hatten Freunde, die ten die Verfolgungen der Juden ein, und ich auch Violine, Bratsche und Cello spielten erinnere mich, dass in Gesprächen meiner und Trios, Quartette und Quintette (meist Eltern die schlechte Verkaufslage Thema war, wurde Mozart, Schubert, Schumann und weil die Kundschaft nicht mehr von Herzog Beethoven gespielt) fanden in unserem Haus & Co. kaufen wollte; viele Kunden wussten, statt. Als Kind saß ich auf dem Boden und dass der Besitzer ‚ein Jude‘ war. hörte zu, aber das Beste war für mich, wenn Die Fabrik befand sich in der Schildgasse, die Musikanten anfingen sich zu streiten, ein paar hundert Meter von unserer Woh - weil der eine oder der andere nicht im nung am Schlossplatz entfernt, und als Kind Rhythmus war oder eine falsche Note ge - war ich häufig dort, um die Arbeit zu beob - spielt hatte. Als ich sechs oder sieben Jahre achten. Mein Großvater Julius Pappenheim alt war, kaufte mein Vater mir eine halbe hatte ein Lebensmittelgeschäft (Großhandel) Geige und bis zu unserer Auswanderung im Parterre des Familienhauses. Er ist kurz hatte ich Geigenunterricht.“ nach meiner Geburt im Jahr 1925 gestorben, und das Geschäft wurde zunächst von mei - Die Nazizeit ner Großmutter und meiner Mutter weiter „Kurz nach der Machtübernahme der geführt. Noch in den zwanziger Jahren Nazis wurde aus dem Schlossplatz der wurde es dann von der Schwester meiner Adolf-Hitler-Platz und aus der Forstgasse die Mutter Meta Rosenberg und deren Mann Horst-Wessel-Straße. In den dreißiger Jahren Bernhard übernommen und in das Haus wurde der Adolf-Hitler-Platz der Versamm - Ecke Bahnhofstraß e/ Sedanstraße (jetzt Schil - lungsplatz der SA, die alle zwei oder drei lerstraße) verlegt. Monate durch die Stadt marschierte, meis - Das Haus meiner mütterlichen Großeltern tens in Fackel zügen, und sich dann auf dem [Pappenheim] stand an der Ecke Schloss - Platz in militärischer Reihe aufstellte, um die platz/Forstgasse. In diesem Haus sind sowohl Rundfunkübertragungen von Hitlers Hetz - meine Mutter als auch ich geboren. Wie reden zu hören, welche auch meine Eltern lange das Haus der Familie gehörte, ist mir mithören mussten, weil wir ja dort wohnten. nicht bekannt. Ich kann mir den Gemütszustand meiner Das Wohnzimmer, die Küche und das Eltern gut vorstellen. Schlafzimmer meiner Großmutter befanden Ab 1932 wurde ich in die jüdische sich im ersten Stock, meine Eltern und ich Schule, die hinter der Synagoge in der Schul - schliefen im zweiten Stock. straße gelegen war, geschickt. Gegenüber In den späten zwanziger und frühen drei - der Synagoge, auf dem heutigen Sophien - ßiger Jahren spielten wir immer auf dem platz (?) stand ein Lyzeum, in welchem wir Schlossplatz und häufig in dem Schlosshof. unseren täglichen Turnunterricht hatten. Das Wir waren so ungefähr fünf oder sechs Kin - hörte bald nach 1933 auf. Vom Schlossplatz der. Nach Hitlers Machtübernahme waren bis in die Schulstraße war es ein Weg von alle verschwunden, mit Ausnahme von etwa 15 Minuten. Ab Mitte der dreißiger einem Jungen, ungefähr in meinem Alter, Jahre war es uns jüdischen Kindern nicht auch Jude, dessen Familie Katzenstein am mehr möglich, alleine in die Schule zu Schlossplatz wohnte. Der Vorname meines gehen. Wir wurden von einem Erwachsenen letzten Freundes dieser Zeit ist mir leider ent - begleitet und geschützt. Das war notwendig, fallen. In meinem achten Lebensjahr ver - weil es für die Hitlerjugend eine Art Sport Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 9 war, uns jüdische Kinder auf der Straße zu gegenüber dem Philanthropin eine Wohnung umzingeln und mit ihrem Ledergürtel zu in einem Haus in der Hebelstraße. schlagen. Die Polizei war nicht zu sehen. Das letzte große Ereignis der Familie war Unser Lehrplan war der offizielle der deut - meine Bar Mitzwah Feier im August 1938. schen Regierung, nur dass wir auch Hebrä - Fast die ganze Familie war anwesend, wenn isch lernten. ich mich nicht irre, auch mein Onkel Louis Zu meinen Erinnerungen der Eschweger Westheim und meine Tante Anna. Aber Nazi-Zeit gehört auch Der Stürmer , unter kurze Tage später erfuhren wir, dass das Ehe - Leitung von Julius Streicher, den man an fast paar verschwunden war. Später hörten wir, jeder Ecke in einem mit Glas bedeckten Kas - dass sie in der Dunkelheit der Nacht nur mit ten lesen konnte. Diese ‚Zeitung‘ hatte die einem kleinen Koffer über die Grenze nach ‚unmenschlichen‘ Juden immer als Haupt - Belgien geflüchtet waren. Ihr ganzer Besitz motiv. Der Jude wurde mit einer sehr großen in Leipzig blieb unberührt – so als ob sie nur Nase und hängender Unterlippe gezeichnet. verreist wären. Die Familie Aronstein (Ge - Erwähnt wurde ab und zu, dass die Juden burtsname meiner mütterlichen Großmutter) das Blut christlicher Kinder zu ihrem Pesach hatte verschiedene Verwandte, die schon (Ostern) Fest tranken, sowie auch andere ver - lange in Holland ansässig waren und welche logene Geschichten. Dass Bürger jüdischen sie aufgenommen haben. Westheims warte - Glaubens schon Jahrhunderte in Deutsch - ten in Holland auf ein Visum aus Brasilien, land gelebt, viel zur deutschen Kultur, Wis - wo meine Cousine Ruth Bornstein (geb. senschaft, und zum Geschäftsleben beigetra - Westheim) schon wohnte. Und das war gen sowie im Ersten Weltkrieg an der Seite schließlich unsere Rettung.“ nicht-jüdischer deutscher Bürger gekämpft hatten, war kein Thema. Juden galten in der Die Auswanderung arischen Weltanschauung als schädliche „Die Wochen und Monate seit Anfang ‚Untermenschen‘ , die man nicht als Deut - 1938 waren ausschließlich den Bemühun - sche betrachten konnte und so schnell wie gen gewidmet, ein Visum in irgendeinem möglich ausmerzen musste. Land der Welt zu bekommen. Die meisten Ich dachte lange Zeit, dass meine Eltern Staaten hatten ihre festgelegten Aufnahme- mich deshalb 1936 in eine Pension in Frank - Quoten schon für Jahre erreicht. Eine Ein - furt geschickt hatten, um dort meine schuli - wanderung ohne ein Visum war nur in sche Bildung auf dem Philanthropin (Hebel - Shanghai und Bolivien möglich, soweit ich straße 17), der besten jüdischen Schule in mich erinnern kann. Meine Eltern rechneten Frankfurt, weiter zu fördern, und um den At - aber damit, dass Anna es fertig bringen tacken der Hitlerjugend aus dem Wege zu würde, ein Visum für unsere Einwanderung gehen. Denn in der Großstadt Frankfurt nach Brasilien zu erhalten. Das brasiliani - waren die jüdischen Kinder nicht so be - sche Visum traf dann auch Anfang 1939 ein. kannt, und sie wurden nur selten von Jungen Hätten wir schon im Laufe des Jahres 1938 der Hitlerjugend verfolgt. Der „gelbe Stern“ ein Visum nach USA, England oder in ein war noch nicht eingeführt. Aber nachdem irgendwie mehr „zivilisiertes“ Land bekom - ich Einzelheiten der Verfolgung meines Va - men, wäre ich heute nicht in Rio. Inzwi - ters im Jahr 1937 zur Kenntnis genommen schen kam die ‚‘. Am 15. No - habe, nehme ich eher an, dass mein Vater vember 1938 erschien die SS in unserer mich von diesen Problemen frei halten Wohnung und gab meinem Vater 30 Minu - wollte. Meine Eltern kamen erst Anfang 1938 ten Zeit um zu packen. Sie durchsuchten die nach Frankfurt, nachdem sie die Firma Her - ganze Wohnung und dann nahmen sie mei - zog hatten verkaufen müssen. Sie mieteten nen Vater mit. Ein paar Wochen später er - 10 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 hielten wir eine kurze Briefkarte von ihm. Er Wir kamen hier in Brasilien im Juli 1939 war in Dachau. Man hat ihn am 15. Dezem - an, also kurz vor der Invasion in Polen. ber 1938 entlassen. Die Szene noch auf der Meine Eltern hatten praktisch kein Geld oder Treppe, die zu unserer Wohnung im dritten Möbel retten können, aber mein Vater war Stockwerk führte, wird mir nie aus dem Kopf stolz, dass er wenigstens einen Eisschrank gehen. Er hatte es überlebt, aber noch Monate und Matratzen mitbringen durfte. lang hatte er Träume und schlief schlecht. Der Anfang unseres Lebens hier in Rio Nach Erhalt des Visums wurde gepackt. Es war sehr schwer. Ungefähr ein Jahr nach un - musste eine Liste über die Sachen vorgelegt serer Ankunft in Brasilien begann ich halb - werden, die wir zur Auswanderung mitneh - tags zu arbeiten, um vormittags in die Schule men wollten. Diese Liste habe ich hier ge - gehen zu können. Abends lernte ich noch funden. Es musste buchstäblich z. B. jedes Stenographie, Schreibmaschine und Eng - Paar Strümpfe aufgeführt werden, mit ge - lisch. Ich bekam dann eine bessere Stellung schätzten Preis und der Angabe, ob sie neu als Korrespondent. Mit 18 Jahren wurde es oder gebraucht waren. Vor der Ausreise eine ganze Stelle. Die letzten Jahre vor mei - kamen die Behörden und genehmigten nur nem Abitur ging ich abends in die Schule. einen kleinen Teil der Sachen, die meine Meine Eltern waren mit dem Kampf der Eltern für die Ausreise vorgesehen hatten. neuen Existenzgründung voll beschäftigt. Mein Vater hatte mit Hilfe seines Bruders Dann startete ich ein Maschinenbau-Inge - ein neues Eisstreumittel entwickelt, welches nieur Studium am Massachusetts Institute of er in Deutschland, England, Frankreich und Technology in USA, teilweise von meinem der Schweiz patentiert hatte. Er bemühte Vater, teilweise mit finanzieller Hilfe eines sich um Lizenz-Verträge im Ausland. In Freundes von mir, und teilweise mit einem Deutschland hatte er bereits einen Lizenz - Stipendium der Universität finanziert. Mein vertrag mit den damaligen Albert-Werken Vater starb in Rio de Janeiro am 6. Juli 1951 abgeschlossen. In der kurzen Zeit, die uns vor Beendigung meines Studiums. damals zur Verfügung stand, haben sich im Die Rosenberg Kinder und Enkelkinder Ausland nur die Geigy-Werke, damals ein wohnen jetzt in den Vereinigten Staaten und großer Schweizer chemischer Konzern, dafür sind amerikanische Bürger. Die zwei Enkel - interessiert. Geigy hat dafür gesorgt, dass wir kinder der Familie Westheim (Zuname Born - ein Visum für die Durchreise durch die stein) wohnen hier in Rio. Schweiz mit einem Aufenthalt von wenigen Ohne Adolf wäre ich bestimmt heute ein Tagen erhielten. Ein Lizenz-Vertrag wurde guter Deutscher […], und hätten wir nicht abgeschlossen, aber da im September der das Brasilien-Visum Anfang 1939 erhalten, Krieg anfing, hat mein Vater nie etwas von wäre ich heute schon lange vergessen. Aber den vereinbarten Zahlungen in Deutschland das Visum hat es mir möglich gemacht, ein oder der Schweiz gesehen. Daher unsere Ab - ‚Weltbürger‘ zu werden und ein viel besseres reise durch die Schweiz und Abfahrt mit Verständnis zu haben für das, was auf der einem französischen Schiff ab Genua. Welt so vor sich geht.” Ich will nur noch erwähnen, dass uns noch ein letzter Schreck erwartete. Wenige Kilometer vor der Schweizer Grenze wurde der Zug angehalten, und die Gestapo stieg ein, um alle Dokumente zu prüfen. Als Juden, dachten meine Eltern, würden sie uns wieder aus dem Zug rausholen, aber glück - licherweise ist das nicht geschehen. Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 11

Fritz Kahn in Uniform, 1915

Eisernes Kreuz 2 .Klasse für Fritz Kahn, 1918 12 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Belegschaft der Spazierstock-Fabrik Schloss & Co., 1920

(von links) Walter, Fritz, Luise und Elsa Kahn, 1930 Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 13

Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 1935

Luise und Fritz Kahn, 1950 14 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Anmerkungen und von beiden Partner unterschrieben worden war, lautete: „Für alle eingegangenen Verkäufe, 1 Sämtliche in diesem Abschnitt nicht besonders Verbindlichkeiten haftet allein Dr. Kahn. Er ist nachgewiesenen Zitate stammen aus: HHStA daher zur Vertretung der Firma nach außen 483, Nr. 4975. Bei diesem Bestand handelt allein berechtigt. Die Vertretung nach außen sich um Aktenstücke des Landrats von Esch - geschieht durch Zeichnung der Firma seitens wege, die im Rahmen der Spruchkammerver - Dr. Kahn.“ (Kopie dieser Vereinbarung von fahren vorgelegt worden waren. dem Sohn Werner Kahn, Rio de Janeiro, zur 2 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. Verfügung gestellt) Auch zu keinem späteren Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - Zeitpunkt dieser Firma, die 1927 zur OHG um - zog & Co. gewandelt wurde, war eine Vertretung von 3 Vereinbarung zwischen dem Chemiker Dr. Ernst Herzog vereinbart worden. Walter Kahn, , Pappel Allee 23, und dem 10 Amtliche Anzeigen teilten Dr. Walter Kahn und Werkmeister Ernst Herzog, Eschwege (Kopie Fritz Kahn als Inhaber mit. Vgl. Eschweger dieser Vereinbarung von dem Sohn Werner Tageblatt Nr. 229 vom 30.9.1927; Eschweger Kahn, Rio de Janeiro, zur Verfügung gestellt). Tageblatt vom 11.5.1928 (Dr. Walter Kahn); 4 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. Eschweger Tageblatt vom 2.9.1933 (Fritz Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - Kahn). zog & Co. Nr. 64 des Notariatsregisters Dr. 11 Tageblatt vom 2.9.1933. Das Amtsgericht teilte Otto Peyser. mit: „In das Handelsregister Abteilung A ist am 5 Aus einem Brief Werner Kahns an Vf. vom 28.8.1933 bei der Firma Herzog & Co. einge - 15.2.2010. tragen worden: Inhaber der Firma ist jetzt der 6 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. Fritz Kahn in Eschwege, die ihm erteilte Pro - Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - kura ist erloschen.“ zog & Co. Firmenbriefbogen aus der Korres - 12 HHStA 483, Nr. 4975. LR Eschwege an Staats - pondenz mit dem Amtsgericht Eschwege. polizeistelle Kassel am 19.5.1937. „Die An - 7 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. nahme des Reisenden Benno Ewald Gross, dass Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - der im Geschäft des Fritz Kahn beschäftigte zog & Co. Die Bilanzsumme stieg von Kaufmann Uth zweiter Mitinhaber der Firma 4.225,90 RM (für 1927) auf 12.191,32 RM (für sei, hat sich durch die Einsicht des Bürgermeis - 1932), wie die dem Amtsgericht vorgelegten ters Dr. Beuermann in das Handelsregister als Aufstellungen nachweisen. unzutreffend erwiesen.“ Der Landrat hatte 8 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. zuvor den Reisenden Benno Ewald Gross ver - Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - nommen, der „auf Befragen in Arolsen“ (von zog & Co. Rechtsanwalt Dr. Siegmund Doern - wem, war nicht ermittelbar) die Firma Herzog berg wies in seinem Einspruch am 11.6.1937 & Co. als „arische“ Firma bezeichnet hatte. darauf hin, dass die Firma etwa 12 Personen 13 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. als Vertreter und Angestellte beschäftige, und Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - dass die Gehälter, Provisionen, Löhne und der - zog & Co. Ein Kaufinteressent wies am gleichen im Jahre 1936 etwa 12.000 RM betru - 30.9.1937 gegenüber dem Amtsgericht darauf gen. – Die Bilanzsumme der Gewinn- und Ver - hin, dass ein Kauf für ihn nur bei Beibehaltung lustrechnung der Firma betrug für das Jahr des eingeführten Firmennamens in Frage käme. 1935 23.759,93 Mark, für das Jahr 1936 sogar Er bat um Weiterführung unter dem Namen 26.552,72 Mark; erst im folgenden Jahr 1937, „Herzog & Co.“ und ergänzte: „Sollten Sie je - als im Sommer der Verkauf in Gang gesetzt doch mein Ansinnen ablehnen, werde ich von werden musste, sank der Betrag auf 25.002,76 den Kaufverhandlungen sofort zurücktreten.“ Mark. HHStA Wiesbaden 676-1668. 14 Stadtarchiv Eschwege. Amtsgericht Eschwege. 9 § 2 einer „Vereinbarung zwischen dem Chemi - Abt. II. Akten zum Handelsregister Firma Her - ker Dr. Walter Kahn, Berlin, Pappel Allee 23, zog & Co. Das Schreiben liegt als Blatt der und dem Werkmeister Ernst Herzog, Esch - Akte bei; ob es beantwortet wurde, ist nicht er - wege“, die am 16. Februar 1926 ausgefertigt sichtlich. – Im Nachtrag zur „Namensliste der Dietfrid Krause-Vilmar: Die Vernichtung der Firma Herzog & Co. und die Erinnerungen Werner Kahns 15

deutschen Patentschriften mit Angabe der Klas - sen, Unterklassen und Gruppen“ für das Jahr 1937 ist unter der Nr. 651803 unter dem Ak - tenzeichen H 141478 V/19b, 6/01 als Tag der Bekanntmachung der Patenterteilung der 30.9. 1937 und als Tag der Ausgabe der Patentschrift der 20.10.1937 aufgeführt. 15 HHStA Wiesbaden 519-A-365 Eschwege. 16 HHStA Wiesbaden A-8493 Frankfurt a .M. 17 HHStA Wiesbaden 519-A-364. Die Firma Noga-Werk hatte nach Abschluss des Kaufver - trags vom 29./30.3.1938 „die Maschinen und Einrichtungen frei Waggon Station Eschwege“ übernommen. 18 Im Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewal - therrschaft in Deutschland 1933–1945 (Online- Version) finden sich die Namen Walter Kahn (geb. 6.5.1896 in Eschwege), Grete Kahn geb. Heumann (geb. 20.8.1901 in Dortmund) und Hanna Hedwig Johanna Kahn (geb. 3.6.1935 in Dortmund). Sie wurden am 27.1.1942 von Gelsenkirchen – Dortmund aus in das Ghetto Riga deportiert. 16 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Ich habe nichts zum Leben … ren. Er wuchs mit den älteren Halbgeschwis - tern Meyer (1856–1919) und Helene (1865– Zum Schicksal 1931) sowie dem jüngeren Bruder Moritz (1867–1922) in der Wallgasse 18 auf. Wäh - der Familie Ferdinand rend seine Schwester und die Brüder unver - Heilbrunn in Eschwege, heiratet blieben, heiratete Ferdinand am 6.1.1906 in Reichensachsen Clara Stein, die Wallgasse 18 auch dort am 3.9.1885 geborene und älteste von drei Töchtern des Viehhändlers Salomon von York-Egbert König Stein (1856–1934) und dessen Ehefrau Sofie geb. Schloss (1859–1917). Ferdinand und Clara Heilbrunn bezogen am 14.3.1906 eine eigene Wohnung in der Die Familie Bismarckstraße 6, ab 1907 wohnten sie in Ferdinand Heilbrunn wurde am 15.8.1875 der Friedrich-Wilhelm-Straße 13 bzw. 17 als Sohn des Pferdehändlers Victor Heil - und 9. Nach dem Tod seines Bruders Meyer brunn (1816–1893) aus Wichmannshausen konnte Ferdinand am 23.10.1919 mit seiner und dessen 2. Ehefrau Liebchen geb. Pohly Familie in das Elternhaus in der Wallgasse 18 (1831–1900) aus Bremke in Eschwege gebo - zurückkehren. Dem Paar waren inzwischen drei Kinder geboren worden: 1.) am 24.10.1906 der Sohn Viktor; nach einem Fahrradunfall kam er im November 1938 mit der Diagnose Schizophrenie zu - nächst nach Haina und dann über Gießen nach Brandenburg/Havel, wo er am 1.10.1940 im Rahmen der Euthanasie umgebracht wurde. Für ihn wurde am 21.6.2011 ein Stol - perstein vor dem Haus Wallgasse 18 gesetzt. 2.) am 10.12.1907 die Tochter Grete; sie besuchte 1927/28 die Staatliche Kunstschule in München sowie Werkstätten für Mosaik und Glaskunst und war dann in Jena in einer

Ferdinand und Clara Heilbrunn, um 1910 Die Kinder Heilbrunn, um 1920 York-Egbert König: Zum Schicksal der Familie Ferdinand Heilbrunn in Eschwege, Wallgasse 18 17

Seidenfabrik und bei den Glaswerken Schott 3.) am 5.2.1912 der Sohn Erich; er begann als Spritzerin, Designerin und Malerin tätig. 1930 in Kassel eine Lehre als Bankkauf - Am 17.10.1932 heiratete sie in Eschwege mann. Im Frühjahr 1933 ging er jedoch mit - den aus Jena stammenden und bis heute in hilfe einer zionistischen Organisation nach Thüringen bekannten und geschätzten Glas - England, wo er sich zum Tischler ausbilden künstler Fritz Körner (1888–1955). Im Volks - ließ, und wanderte 1935 nach Palästina aus. haus Jena gründeten sie ein gemeinsames Seit den 1940-er Jahren wohnte er mit seiner Atelier. Ab 1933 war nicht nur sie, sondern Frau Henny geb. Hartheimer in und auch ihr nichtjüdischer Ehemann Repressa - gründete dort einen Tischlereibetrieb, den er lien und Berufsverboten ausgesetzt. Der ein - zu einer Möbelfabrik ausbaute, außerdem ar - zige Sohn Friedrich wurde am 22.3.1942 ge - beitete er als Innenarchitekt. In Israel wurden boren und wuchs unentdeckt und sicher bei die Kinder Jael und Itzhak geboren. Erich Freunden der Familie in der Umgebung Heilbrunn starb am 12.9.1979 in Haifa. Jenas auf. Noch am 29.1.1945 wurde Grete Ferdinand und Clara Heilbrunn, und mit Körner nach Theresienstadt deportiert; sie ihnen zunächst auch Viktor, blieben in Esch - überlebte jedoch, weil das KZ bereits wenige wege zurück und waren nach der Ernennung Wochen später von der Sowjetarmee befreit Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 wurde. Nach ihrer Rückkehr nahmen Fritz der Verfolgung durch das NS-Regime ausge - und Grete Körner ihre künstlerische Arbeit in liefert. In der Zeit zunehmender Bedrückung Jena wieder auf. Nach dem Tod Körners ver - erfuhren sie von dem Ehepaar Karl (1904– brachte sie ihre letzten Jahre in Berlin-Pan - 1978) und Lina (1910–1985) Ludwig 1 Zei - kow, wo sie am 10.8.1983 starb. chen der Mitmenschlichkeit und bis zuletzt selbstlose Unterstützung 2.

Fritz und Grete Körner, um 1950 Karl und Lina Ludwig, um 1955 18 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Am 8.12.1941 3 wurden sie zusammen mit Das Haus anderen Eschwegern jüdischer Herkunft von Die Geschichte des Hauses Wallgasse 18 Eschwege über Kassel nach Riga deportiert lässt sich laut vorhandener Aufzeichnungen und dort im Frühjahr 1942 ermordet. Für Fer - im Stadtarchiv Eschwege bis in die ersten dinand und Clara Heilbrunn wurden am Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zurückver - 10.8.2009 Stolpersteine vor ihrem ehemali - folgen. Ab 1740 befindet es sich in jüdi - gen Wohnhaus Wallgasse 18 gesetzt. schem Besitz (Leiser Wertheim). Laut Steuer - Bereits am 18.12.1941 kündigte das Fi - kataster für die Stadt Eschwege aus dem nanzamt im Eschweger Tageblatt für den Jahre 1769 umfasst das Grundstück Haus 23.12.1941 um 10 Uhr einen öffentlichen und Stallgebäude mit Garten, zwei weitere Verkauf gegen Barzahlung im Haus Wall - Häuser sowie eine als Garten umgenutzte gasse 18 an. Ein weiterer Verkauf wurde am Baustätte. Ferdinands Vater Victor Heilbrunn 18.11.1942 für den 24.11.1942 um 9 Uhr wird 1864 erstmals als Eigentümer genannt. anberaumt. Bei diesen und andern Verkaufs - Nach dem Tod seines älteren, unverheirate - aktionen aus jüdischem Besitz wurden Mö - ten Bruders Meyer übernimmt Ferdinand das belstücke, Haushaltsgegenstände, Geschirr Anwesen ab 1920 selbst und betreibt hier und Wäsche angeboten, bevorzugt kaufbe - einen Pferdehandel mit Kleintransporten. rechtigt sollten „kinderreiche und bedürftige Aufgrund der gesetzlichen Neuregelung Familien, jung Verheiratete und Familien, der Mietverhältnisse für Juden wurde auch deren Ernährer im Felde stehen“ sein. Im Fall das Haus in der Wallgasse ausgewählt, um der Eheleute Heilbrunn vermerkt das Finanz - Juden, die ihre eigenen Wohnungen hatten amt Eschwege auf diese Weise Einnahmen aufgeben müssen, dort zu konzentrieren. Sie von 1772,40 RM. 4 sollten nämlich vornehmlich nur noch bei jüdischen Hauptmietern oder Hausbesitzern untergebracht werden. Im Hause Heilbrunn wohnten daher zwischen Januar 1939 und September 1942 zusätzlich 16 weitere Per - sonen: Familien mit Kindern, Ehepaare und Alleinstehende. Auf das Geschehen hatte das Ehepaar Heilbrunn keinen Einfluss. Für das Anwesen interessierte sich der Glasermeister Ernst Lehne (1903–1977) 5 und schloss am 28.7.1938 einen Pachtvertrag 6 mit Ferdinand Heilbrunn ab, zunächst für zwei Jahre bei automatischer Verlängerung im Falle der Nichtkündigung. Darin überlässt der Eigentümer dem Pächter „den großen Pferdestall und den daran angrenzenden Schuppen für monatlich 20 RM“. Es werden Umbauten gestattet, da Lehne beabsichtigt, dort seine Werkstatt und ein Glaslager einzu - richten. Die Änderungen sind bei Auflösung des Vertrages wieder zu entfernen. Außer - dem soll der Pächter für eine entsprechende Entwässerung sorgen, die Kosten sind ihm bei einem möglichen Verkauf des Grund - Zeitungsanzeigen mit Verkaufsankündigungen stücks zu erstatten. Der Eigentümer räumt York-Egbert König: Zum Schicksal der Familie Ferdinand Heilbrunn in Eschwege, Wallgasse 18 19

sohnes Fritz Körner in Jena zum gemeinsa - men Erben von Ferdinand und Clara Heil - brunn noch am 20.11.1941 hielt den staat - lichen Zugriff jedoch nicht auf. 7 Einige Zeit später konnte Ernst Lehne das Anwesen, be - stehend aus bebautem Wohnraum von 3 Ar 49 m² und einem Hausgarten von 7 Ar 87 m² für 7300 RM erwerben. Zum Grundbesitz gehörten noch zwei Äcker von 17,18 Ar am Felsenkeller und von 11,80 Ar auf der Struth, die jedoch vom Reichsfiskus nur verpachtet wurden. Insgesamt erzielt die Finanzverwal - Haus Wallgasse 18 tung aus Nutzung (Miete und Pacht) und Ver - kauf 10354 RM, dem stehen jedoch 14322 RM an geleisteten Ausgaben gegen über 8. Nach dem Ende der NS-Herrschaft steht auch das Grundstück Wallgasse 18 unter treu - händerischer Aufsicht durch die Professoren - witwe Else Vocke 9, die zur Beseitigung bau - licher Mängel aufgefordert wird. Die Abwäs - ser sollen binnen kurzer Zeit an das städti - sche Kanalnetz angeschlossen werden 10 .

Das Geschäft Ferdinand Heilbrunn betreibt einen Pfer - dehandel mit Kleintransport. Dazu verfügt er über drei Pferde und drei Kutschwagen. Die Lageplan Wohnhaus in der Wallgasse 18 Geschäftsverbindungen reichen bis ins Thü - ringische hinein. Die Gewinne bleiben aber dem Pächter ein Vorkaufsrecht ein. Am eher bescheiden. Zur Absicherung werden in 16.6.1941 wird zwischen beiden Parteien den 1920-er Jahren mehrere Hypotheken ein Nachtrag vereinbart, in dem der Haus - notwendig. In den auf die NS-Machtergrei - eigentümer „den großen Pferdestall mit Bo - fung folgenden Jahren verschlechtert sich die denraum, den daran angrenzenden Wagen - Situation durch die Ausgrenzungsmaßnah - schuppen mit Bodenraum und den westlich men rapide, so dass es spätestens ab 1936 angrenzenden Platz, wo inzwischen Gara - nahezu unmöglich wird, den steuerlichen gen entstanden sind“ für nunmehr monatlich Verpflichtungen nachzukommen und die 35 RM an Lehne verpachtet. Hypotheken zu bedienen. Heilbrunn bittet Nach der Deportation verfiel das Grund - durch Eingaben beim Finanzamt wiederholt stück per 25.11.1941 zunächst entschädi - um Zahlungsaufschub, um Ermäßigung oder gungslos an das Reich, weil nicht nur hier Rückzahlung der Vorauszahlungen oder die Eigentümer mit unbekanntem Ziel außer - ganz um Erlassung der Steuerschuld 11 . So halb des Reiches abgewandert oder abge - schreibt er, um auf seine prekäre Situation schoben waren. Die Bestätigung dieser Tat - aufmerksam zu machen, am 19.2.1936: Ich sache war für die Behörden stets von großer werde von Verwandten unterstützt, wie ich Bedeutung, um zugreifen zu können. Die bereits aus der Winterhilfe Unterstützung er - testamentarische Einsetzung des Schwieger - halten habe. Am 8.10.1936 weist er wegen 20 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

gensbetrag von 4000 RM. Damit entfällt die Abgabe überhaupt, weil das Vermögen we - nige als 5000 RM beträgt. Ab Dezember 1940 muss Heilbrunn als 65-jähriger eine Beschäftigung als Hilfsarbeiter beim Straßen - bau bei Wanfried annehmen, dafür erhält er von der Firma Fritz Tribian einen Wochen - lohn von zwischen 10 und 16 RM. Bis dahin hatte er seit Beginn desselben Jahres monat - lich 39 RM aus der jüdischen Wohlfahrts - unterstützung und von einem Neffen 50 RM erhalten, dem er im Tausch Pakete mit Ge - müse und Eingemachtem schickt. Kurz nach der Verschleppung und Ermor - dung ihrer Eltern beantragt Grete Körner als in privilegierter Mischehe lebende Tochter die Überlassung der noch im Hause verblie - Familie Heilbrunn, um 1920 benen Einrichtung und strengt später, auch im Namen ihres nach Palästina/Israel ausge - rückständiger Zahlungen auf stattgefundene wanderten Bruders Erich, ein Wiedergutma - Möbelpfändungen hin. Außerdem lebe er chungsverfahren an, das sich mit rechtsan - von Geld, das ihm Verwandte und Bekannte geben, davon müsse er auch das Geschäft betreiben, und am 23.10.1937: Ich erhalte 1 seit etwa 1 ⁄2 Jahren von der israelitischen Gemeinde 20 RM monatliche Unterstützung, außerdem Winterhilfe, sodann am 28.6. 1938: Ich kann keine Einkommensteuer zah - len, da ich im letzten halben Jahr keine Ein - künfte hatte und vom 30. Juni an hat man mir das Geschäft genommen. Mit deutschem Gruß, und schließlich am 12.7.1938, dass er keinerlei Einkünfte mehr habe, denn mein Geschäft ist mir genommen. Ich habe nichts zum Leben, wenn ich nicht unterstützt würde, muss von Almosen leben. Tatsächlich war es am 6.7.1938 zur amtlichen Ge - schäftsabmeldung gekommen. Im April 1938 war jedoch noch ein Wandergewerbeschein ausgestellt worden. Bei der Ermittlung der Höhe der sog. Judenabgabe erweist sich die schlechte finanzielle Lage als hilfreich. Sein immobiles Vermögen wird zunächst auf 7000 RM geschätzt und die Abgabe anteilig auf 1400 RM festgesetzt, zahlbar in 4 Raten à 350 RM. Nach Einspruch und Neufestset - zung ergibt sich jedoch nur noch ein Vermö - Kennkartenantrag Ferdinand Heilbrunn 1938 York-Egbert König: Zum Schicksal der Familie Ferdinand Heilbrunn in Eschwege, Wallgasse 18 21

am beruflichen Fortkommen von Ferdinand und Viktor Heilbrunn erhalten die Erben knapp 4000 DM. 14

Anmerkungen

1 wohnhaft Stad 3 und Grüner Weg 16 b 2 Die Verbindung reißt auch nach dem Ende des Terrors nicht ab. Noch über viele Jahre hinweg stehen sie mit der Tochter Grete Körner in brieflichem Kontakt und berichten über die Er - eignisse in Eschwege und den Stand der Dinge in der Wallgasse; Materialsammlung Friedrich Kennkartenantrag Clara Heilbrunn 1938 Körner. 3 weitere Transporte fanden am 31.5. und 6.9.1942 statt; insgesamt wurden 111 Personen von Eschwege aus deportiert. waltlichem Beistand über viele Jahre hin - 4 StAMR 601/11, Nr. 312 zieht und dann auch noch durch die Tat - 5 bis 1974 wohnhaft Enge Gasse 14, vorher 3 sache erschwert wird, dass Jena ab Oktober und 10 1949 in der neu gegründeten DDR liegt und 6 Materialsammlung Friedrich Körner die Reisemöglichkeiten nunmehr nicht nur 7 Materialsammlung Friedrich Körner in diesen Angelegenheiten erschwert sind. 8 StAMR 601/11 Nr. 312 9 Die neue Bürokratie arbeitet, zum Teil mit vgl. dazu den Beitrag „In Vierbach versteck t...“ in diesem Heft den vorherigen Mitarbeitern, nicht weniger 10 Akte Wallgasse 18, Archiv Bauaufsicht Esch - präzise als die alte. Die Aufhebung der ent - wege sprechenden NS-Gesetze reicht nicht aus, 11 hierzu und im folgenden StAMR 601/11 Nr. 29 um den status quo ante einfach wieder her- und 312 zustellen. Nachweise über Nachweise sind 12 Materialsammlung Friedrich Körner, Berlin. Für zu erbringen, um die Rechtmäßigkeit der An - Akteneinsicht und Überlassung von Materialien sprüche zu belegen. danke ich ihm an dieser Stelle sehr herzlich. Die Ackergrundstücke werden von der 13 er war 1938 in Buchenwald interniert Stadt Eschwege für den sozialen Wohnungs - 14 HStAWI 518 Nr. 16179; für die Auskunft danke bau erworben. Ernst Lehne muss den Kauf - ich Frau Katharina Stengel. preis für das Haus Wallgasse 18 noch einmal in DM leisten. 12 Für Freiheitsentziehung des Vaters Ferdinand Heilbrunn, 13 für Schäden 22 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Zwei Paar Schuhe … nenstatus, weil das Frauenstudium in Preu - ganz verbraucht … ßen offiziell erst zum Wintersemester 1908/09 eingeführt wurde. Hier lernte sie auch ihre langjährige Freundin Klara Löben - Dr. Margarete Kahn stein (1883 –?) aus Hildesheim kennen, deren (1880 –1942) Vater ursprünglich aus Datterode bei Esch - aus Eschwege erklärt wege stammte und mit der sie Fächerwahl und Studienverlauf teilte. Nach einigen Se - ihr Vermögen mestern wechselten sie nach Göttingen, um ihr Studium bei David Hilbert fortzusetzen, von York-Egbert König der neben dem Franzosen Henri Poincaré als der international herausragendste Mathema - tiker galt. Im Juni 1909 wurde sie zum Dr. phil. promoviert, die Mathematik war zu der Margarete Kahn war sowohl die erste Ab - Zeit noch Teil der philosophischen Fakultät. iturientin als auch die erste Frau aus Esch - Mit ihrer Dissertation über „Eine allgemeine wege, die einen Doktortitel erreichen Methode zur Untersuchung der Gestalten al - konnte, und in dem Zusammenhang auch gebraischer Kurven“ konnte sie einen Beitrag die erste Frau in der preußischen Provinz zur Lösung der von Hilbert aufgeworfenen Hessen-Nassau, die in Mathematik promo - Fragen leisten. An die Fortsetzung einer wis - viert wurde. 1 senschaftlichen Karriere an der Universität Margarete Kahn wurde am 27.8.1880 als war aber noch nicht zu denken, da sich Tochter von Albert Kahn, Fabrikant und Teil - Frauen in Deutschland erst ab 1920 habili - haber einer Mechanischen Weberei, gebo - tieren konnten. Deshalb war abgesehen von ren. Die Familie lebte zu der Zeit am Stad einer möglichen Anstellung in der Industrie 29, später auch in der Friedrich-Wilhelm- nur eine schulische Laufbahn möglich. Dazu Straße 23, am Hospitalplatz 3, an den Anla - legte Kahn im Juli 1910 zusätzlich die staatli - gen 8 b bzw. in der Bahnhofstraße 17. Grete che Prüfung für das höhere Lehramt ab. Die wuchs mit dem ältern Bruder Otto (1879– notwendige praktische Ausbildung von zwei 1932) und der jüngeren Halbschwester Jahren absolvierte Grete in Kassel. Unmittel - Marta (1888–1942) auf. Sie besuchte zu - nächst die Volksschule und dann die Höhere Töchterschule, die sie mit der „Selekta“, einer neu eingerichteten Aufbauklasse, ab - schloss. Weil es finanziell möglich war, konnte ihr zwischen 1901 und 1904 zusätz - lich Privatunterricht gewährt werden. Dabei konnte sie sich Kenntnisse aneignen, die für die angestrebte Abiturprüfung erforderlich waren. Diese Prüfung legte sie im August 1904 extern am Königlichen Gymnasium für Knaben in Hersfeld ab, das damals von Dr. Konrad Duden geleitet wurde. Mit dem Abi - Familienfoto (von links) tur in der Tasche konnte Grete noch zum stehend: Nana Kahn, Erich Ursell, Otto Kahn, Wintersemester 1904/05 in Berlin ihr Stu - Julius Ursell, Günther Ursell dium der Mathematik, Physik und Philoso - im Stuhl: Julie Kahn, Marta Ursell phie aufnehmen, zunächst mit dem Hörerin - vorn: Lisa Ursell, Dr. Grete Kahn, Margret Ursell York-Egbert König: Dr. Margarete Kahn (1880 –1942) aus Eschwege erklärt ihr Vermögen 23 bar nach ihrer Prüfung wurde sie zur Ober - verwitwete Schwester Marta Ursell bei sich lehrerin ernannt und trat im Oktober 1912 in der Rudolstädter Straße 127 in Schöne - ihre erste Stelle am Gymnasium Kattowitz berg aufgenommen, die in Attendorn mit an. 1917 wurde sie an das Schiller-Gymna - dem Fabrikanten Julius Ursell (1882–1936) sium in Dortmund berufen. Eine zwischen - verheiratet gewesen war und um die es nach zeitlich angestrebte Anstellung am Lyzeum der Arisierung der Fabrik und der Ausreise ihrer Heimatstadt Eschwege war nicht zu - ihrer Kinder Erich (1915–1995), Margret stande gekommen. Zum Sommerhalbjahr 1929 (1918 –2009) und Lisa (1919–1973) nach wechselte sie an ein Lyzeum in Berlin-Tegel England sehr einsam geworden war. Im No - und schließlich zum Winterhalbjahr 1929/30 vember 1938 war die Familienvilla demo - noch einmal nach Berlin-Friedrichshain. Mit liert und geplündert worden, so dass eigent - dem Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland lich auch Marta zur Auswanderung ent - wurde auch ihre Existenz bedroht. schlossen war. Nach dem Verkauf des Hau - In Berlin verfügte der Kommissarische ses wurden die verbliebenen beweglichen Stadtschulrat bereits Anfang April 1933, dass Güter verpackt und nach Bremen verfrach - die jüdischen Lehrer sofort zu beurlauben tet, wo sie bis zu einem späteren Ausreiseter - seien. Das Gesetz über die Wiederherstel - min eingelagert wurden. Der Ausbruch des lung des Berufsbeamtentums vom 7. April Krieges vereitelte jedoch das Vorhaben. Das 1933 versetzte Beamte „nichtarischer Ab - Umzugsgut ging in der Folgezeit „verloren“. stammung“ dann in den Ruhestand, die Be - Zunächst fand Marta kurzzeitig Unterkunft stimmung galt jedoch nicht für Beamte, die bei Verwandten ihres Vaters in Wuppertal-El - vor dem 1. August 1914 verbeamtet waren. berfeld. Der Weg in die Heimatstadt Esch - Dadurch konnte Grete Kahn noch einmal in wege kam nicht in Betracht, weil ihre Mutter den Schuldienst zurückkehren, jetzt als Klas - dort bereits im Mai 1934 verstorben war. senlehrerin und Vertretung für einen verstor - Daher meldete sie sich im Dezember 1939 benen Kollegen am Oberlyzeum in Berlin- endgültig von Attendorn nach Berlin zu ihrer Pankow. Aber nach Verabschiedung des Schwester Grete ab. Die ihr bis dahin noch Reichsbürgergesetzes vom 15.9.1935 wurde verbliebenen und vorausgeschickten Hab- sie als „Volljüdin“ zum 30.10.1935 erneut seligkeiten erreichten ebenfalls nie ihr Ziel. beurlaubt und mit Wirkung vom 1.1.1936 Und wie ihre Schwester musste Marta dann endgültig in den Ruhestand versetzt. In Fra - ebenfalls in der Fabrik für Schneeketten gen des ihr nunmehr zustehenden Ruhe - arbeiten. gehalts war sie der Willkür der Behörden Nach der gesetzlichen Neuregelung der ausgesetzt, als Überlegungen angestellt wur - Mietverhältnisse mit Juden musste Grete ihre den, ob pensionierte Beamte nicht auch mit Etagenwohnung aufgeben und sich ab Juli einem geringeren Ruhegehalt auskommen 1941 mit ihrer Schwester Marta ein Zimmer könnten. Ein geheimer Erlass aus dem bei dem jüdischen Hauptmieter Stefan Ross Reichsarbeitsministerium vom Dezember in der Motzstraße 75 2 teilen. Es handelte sich 1938 forderte überdies die Arbeitsämter auf, um ein Vorderzimmer mit Badezimmer- und für die Beschäftigung arbeitsloser Juden bei Küchenbenutzung, mit 2x Warmwasser in öffentlichen und privaten Unternehmen zu der Woche und WC im Badezimmer. Der sorgen. Und so wurde ihr spätestens zu dem monatliche Mietzins von 45 Mark sowie ein Zeitpunkt eine Arbeit bei der „Nordland Untermietezuschlag von 6 Mark waren bis Deutsche Schneekettenfabrik“ in der Lüt - zum 1.4.1942 bezahlt, als beide am zowstraße 105 zugewiesen, 48 Wochenstun - 28.3.1942 aus einem Sammellager in der Le - den mit einem Stundenlohn von 55 Pfennig. wetzowstraße in den polnischen Ort Piaski, Im Dezember 1939 hatte Grete Kahn ihre Bezirk Lublin, deportiert wurden (11. Trans - 24 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 port nach Trawniki mit insgesamt 950 Perso - 100 Bücher, ca. 100 RM nen). Für den Transport in den Tod berech - 1 Lexikon, einbändig, 2 RM nete die Reichsbahn je 50 Mark aus dem ver - 1 Atlas (veraltet), – bliebenen Bargeld. Seither gelten Dr. Grete Sofakissen, 25 RM Kahn und ihre Schwester Marta Ursell als 1 Teewagen, 15 RM verschollen. 3 Beisetztische, 15 RM Wenige Tage vor der Deportation, am 1 Putzschrank, 3 RM 14.3.1942, hatten die beiden Frauen noch Haken, Schirmständer, 3 RM ihr verbliebenes Geldvermögen, ihre Mobi - 1 Küchenschrank, 10 RM lien und persönlichen Dinge in sog. Vermö - 10 Kochtöpfe (alle sehr verbraucht), 6 RM genserklärungen 3 für die Finanzbehörde an - 25 Teile Küchengeschirr, 20 RM geben und bewerten müssen. 1 Bügeleisen, 3 RM Neben Angaben zur Person, zu Wohnung 1 Nähmaschine, 30 RM und Arbeit führt „Dr. Margarete Sara Kahn, 1 Staubsauger, 5 RM Studienrätin, Fabrikarbeiterin, Jüdin“ darin 1 Theaterglas, 5 RM im Einzelnen aus: 1 Reisekoffer, 5 RM 2 kleine Werkzeuge, 2 RM Aktiva: 100 RM Bargeld im Schreibtisch, 1 Speiseservice, 9tlg, 15 RM davon 50 RM Transportkosten und 50 RM für 1 Kaffeeservice, 9tlg, 15 RM den Lebensunterhalt. 9 Wasser/Weingläser, 8 RM Guthaben auf Konten verschiedener Berli - 4 kleine Bestecke, 4 RM ner Banken und Sparkassen: 5584,29 RM 2 kleine Löffel, 1 RM (stehen unter Sicherung). 2 silberne Essbestecke, 15 RM Persönlicher Besitz mit Wertangabe: 6 Kuchengabeln, 3 RM 1 Kleiderschrank, 60 RM verschiedene Gegenstände aus Kristall, 1 Bettstelle, 50 RM 20 RM 1 Teppich, 100 RM 4 Tischdecken, 8 RM 1 Steppdecke, 20 RM 6 Servietten, 3 RM 2 Matratzen(schoner), 5 RM 7 Kaffeedecken, 20 RM 2 Nachttischlampen, 6 RM 4 Einschlaglaken, 20 RM 1 Wäschetruhe, 5 RM Topflappen, 1 RM 1 Schreibtisch und Sessel, 150 RM 1 Badelaken, 3 RM 2 Bücherschränke, 300 RM 11 Frottiertücher (sehr verbraucht), 6 RM 1 Bücherregal, 5 RM 6 Handtücher, 3 RM 1 Tisch, groß, 15 RM 10 Küchentücher, 4 RM 2 Tische, klein, 8 RM 2 kleine Kissen, 3 RM 2 Stühle, 15 RM 7 Kissen (sehr verbraucht), 3 RM 1 Sofa, 30 RM 2 Decken, 25 RM 3 Sessel, 150 RM verschiedene Deckchen, 5 RM 1 Deckenbeleuchtung, 10 RM 1 Wollkleid, 3 RM 1 Schreibtischlampe, 5 RM 2 Kunstseidenkleider (ganz verbraucht), 1 Teppich, 250 RM 30 RM 5 Brücken, 200 RM 1 Rock, 10 RM 1 Papierkorb, 2 RM 3 Blusen (verbraucht), 6 RM 2 Stores/Gardinen, 20 bzw. 10 RM 1 Pullover, 5 RM 1 Vorhang, 15 RM 2 Unterkleider, 5 RM 1 Hocker, 2 RM 20 Teile Damenwäsche, 20 RM York-Egbert König: Dr. Margarete Kahn (1880 –1942) aus Eschwege erklärt ihr Vermögen 25

8 Paar Strümpfe (ganz verbraucht), 3 RM Am 2.6.1942 wird Gretes Haushalt ge - 2 Paar Handschuhe, 2 RM räumt, die Möbel werden bei der Firma Fritz 2 Morgenröcke, 10 RM Roth, Spedition und Lagerei, Berlin-Kreuz - 2 Paar Schuhe (ganz verbraucht), 5 RM berg, Reichenberger Straße 154 eingelagert Bilder im Wert von 200 RM und erneut taxiert: 1 Gruschel, Vasen usw., 20 RM 1 Herrenzimmer, 600 RM In der Summe ergibt sich ein Wert von 3 Sessel, 110 RM 2204 RM. 1 Bücherschrank, 90 RM 1 Schreibtischlampe, 4 RM Bereits am 12.3.1942 hatte sie eine Erklä - 6 Teppiche und Brücken, 1760 RM rung unterschreiben müssen, mit der sie an - zusammen ergibt sich die Summe von erkannte, dass das ganze Vermögen als be - 2564 RM. schlagnahmt galt, sie keine Verfügung mehr Den Staubsauger behält die Vermögens - darüber hätte, Verstöße geahndet würden verwertungsstelle kurzerhand für sich. und sie keine Nachsicht zu erwarten hätte, wenn bei Kontrolle vor dem Abtransport Ver - Der Hausrat wird bald darauf öffentlich stöße erkannt würden. zum Verkauf angeboten. Am 30.4.1942 wird die Wohnungseinrich - Am 11.6.1942 erwerben Rudolf Sobczyk tung durch einen Beamten der Finanzverwal - in Lichtenrade einen eichenen Kleider - tung noch einmal bewertet, er schätzt alles schrank für 150 RM und der Amtsrat Ernst auf 3103 RM ein. Volkmann in Zehlendorf Gegenstände für Im August 1941 hatte Grete Kahn bei der 187 RM (Bett, Decke, Kissen, Gardinen, Ho - wahrscheinlich mit ihr befreundeten Marie cker, Bücher, Tischchen). Beutler in Charlottenburg, Sybelstraße 64 Am 21.10.1942 kauft sich A. Cichor in noch einige Teile ihrer Einrichtung unterstel - Berlin N 20 (Gesundbrunnen) einen kleinen len können: Bücherschrank für 75 RM und Elise Schulz, 1 Vitrine, 1 Anrichte, 1 Tisch, 6 Stühle, ebenda, übernimmt für sich am 22.10.1942 1 Stehlampe, 1 kleiner Teppich, 1 Karton mit „aus dem Vermögen der abgeschobenen kleinen Bildern, 2 Familienbilder. Jüdin Margarete Sara Kahn, Motzstraße 75“ Marie Beutler zeigte den Sachverhalt am Gegenstände im Wert von 256 RM. 14.9.1942 beim Oberfinanzpräsidium an; als Im Dezember 1942 hebt die Devisenstelle die Dinge am 14.Oktober 1942 offiziell be - des Oberfinanzpräsidiums gegenüber der wertet wurden, war sie ebenfalls bereits „ab - Vermögensverwertungsstelle in Berlin NO 40 geschoben“: (Altmoabit) die Sicherungsanordnung für die 1 Vitrine, 70 RM Bankguthaben vom 31.10.1939 auf, da 1 Anrichte, 100 RM Grete Kahn „am 30.3.1942 mit unbekann - 1 Tisch, 20 RM tem Ziel abgewandert“ und das Vermögen 7 Stühle, 25 RM dadurch dem Reich verfallen sei. Auch das 1 Stuhl (defekt), 2 RM zuständige Finanzamt in Wilmersdorf und 1 gebrauchter Boucléteppich, 20 RM die Geldinstitute werden darüber informiert, 1 gebrauchter Vorleger, 2 RM dass „das Vermögen der außerhalb des Rei - 1 Bild, 8 RM ches abgeschobenen Margarete Sara Kahn 2 Familienbilder (Rahmenwert), 4 RM dem Reich verfallen“ sei, es wird um Über - 1 Karton mit kleinen Bildern, 5 RM weisung der Kontoguthaben an die Ober - 1 Stehlampe, – finanzkasse gebeten. Insgesamt wurde ein Wert von 256 RM er - Die Geldinstitute hatten auch von sich aus mittelt. die Behörden informiert, dass sie Konten für 26 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Grete Kahn führten. Aus devisenrechtlichen an der auch „über Grundbesitz verfügenden Gründen fragen sie nach, ob der Aufenthalts - Firma A.A.Ursell in Liquidation“ beteiligt sei. ort bekannt ist und ob dieser außerhalb des Ein Teil sei dem Reich verfallen. Man will Reiches liegt. Die Staatspolizeileitstelle teilt den Tag der Abschiebung wissen und bittet daraufhin mit, dass „die Jüdin Kahn mit dem um Zusendung der beglaubigten Abschrift 11. Osttransport unter Nr. 10165 am 30.3.1942 der Einziehungsverfügung. Darauf teilt der evakuiert“ worden sei, und das für ihre letzte Oberfinanzpräsident in Berlin mit, dass die Wohnung zuständige Polizeirevier meldet Jüdin Ursell im März 1942 abgeschoben noch einmal an das Oberfinanzpräsidium wurde und das Vermögen dem Reich verfal - „am 30.3.1942 abgewandert mit unbekann - len sei. Sie sei zwar mit 2 0% an der Firma tem Ziel“. Damit glaubte man sich nach gel - beteiligt, die Verwaltung des Grundbesitzes tendem Recht auf der sicheren Seite und könne aber nicht von der Liquidierung des strich Geldguthaben und Verkaufserlöse im Gesamtvermögens getrennt werden. Wert von 7454,16 RM ein. Auch das Amtsgericht Attendorn fragt im Februar 1943 beim zuständigen Meldeamt in Gretes Schwester Marta Ursell hatte in Berlin an, wann und wohin die Witwe Ursell ihrer Vermögenserklärung 4 nicht mehr viel, ihren Aufenthaltsort verlegt habe, damit man was anzugeben war. Sie war offensichtlich feststellen könne, ob das Vermögen dem mit einem letzten Koffer nach Berlin gekom - Reich verfallen sei. Das Meldeamt teilt mit, men: dass die „Jüdin Marta Sara Ursell, geb. Kahn, 2 Wollkleider, 20 RM am 10.8.1888 in Eschwege geboren, (in Ber - 2 Sommerkleider, 4 RM lin) mit deutscher Staatsangehörigkeit gemel - 1 Rock (ganz verbraucht), 2 RM det war und am 30.3.1942 mit unbekanntem 3 Blusen (verbraucht), 5 RM Aufenthalt abgemeldet ist“. Die Banken rea - 1 Pullover, 2 RM gieren ebenfalls wie bereits oben erläutert, 1 Unterkleid, 50 Pfg wenn z. B. die Städtische Sparkasse Olpe 5 Paar Strümpfe (verbraucht), 2 RM mitteilt, dass die Girozentrale der Landes - 1 Paar Handschuhe, 1 RM bank Westfalen in Münster beauftragt wurde, 1 Hüfthalter, 50 Pfg den vorhandenen Betrag von 125 RM an die 1 Paar Schuhe (vertragen), 2 RM Wertpapierabteilung der Deutschen Reichs - Briefpapier, 1 RM bank zu überweisen. Die Oberfinanzkasse bestätigt diesen und andere Vorgänge. Wenige Dinge im Wert von 40 RM also. Hinzu kamen 65 RM an Bargeld für Trans - Dr. Grete Kahn und ihre Schwester Marta portkosten und Lebensunterhalt. Einige Wert - Ursell wurden schikaniert, verfolgt, entrech - papiere und Bankkonten ergaben zusammen tet, beraubt und schließlich ermordet. Ihr Be - weniger als 2000 RM. Aus der Liquidation sitz wurde bewertet, entwendet und verwer - der Firmen ihres verstorbenen Mannes Julius tet. Ihre und damit die Ausplünderung aller Ursell waren Passiva von 9414,43 RM ver - Emigranten und Deportierten war Teil einer blieben, so dass bei Gegenrechnung kein gnadenlosen Vernichtungsmaschinerie. Die Vermögen mehr zu verzeichnen war. finanzielle Ausbeute kam der NS-Kriegswirt - Der für ihre westfälische Heimatstadt At - schaft zu Gute. Dabei sorgten eine gut aus - tendorn zuständige Oberfinanzpräsident in gebildete Beamtenschaft und eine vorbild - Münster bittet im September 1942 um Über - liche Bürokratie für einen reibungslosen Ab - tragung und Verwertung des noch in seinem lauf im Rahmen der herrschenden Legalität. Bezirk liegenden Grundbesitzes der „Jüdin Und deutsche Volksgenossen scheuten vor Marta Sara Ursell geb. Kahn“, die mit 20 % dem Erwerb jüdischen Eigentums nicht zu - York-Egbert König: Dr. Margarete Kahn (1880 –1942) aus Eschwege erklärt ihr Vermögen 27 28 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 York-Egbert König: Dr. Margarete Kahn (1880 –1942) aus Eschwege erklärt ihr Vermögen 29 30 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

rück, wenn sie als Schnäppchenjäger unter - Anmerkungen wegs waren und preiswerte Mobilien und Immobilien, deren Herkunft ihnen wahr - 1 zur ausführlichen Biografie vgl. York-Egbert scheinlich nur selten unbekannt war, zu er - König über Dr. Margarete Kahn in: Eschweger gattern suchten. Geschichtsblätter 21/2010, S. 69 –74 und 22/ 2011, S. 67 –76; außerdem York-Egbert König / Christina Prauss / Renate Tobies: Margarete Kahn . Klara Löbenstein. Mathametikerinnen-Studien - rätinnen-Freundinnen, Berlin 2011 (= Jüdische Miniaturen 108). 2 das Haus gehörte einem gewissen Konsul von Tiedemann in Charlottenburg. 3 LHA Potsdam, Rep.36 A OFP Berlin-Branden - burg 18119; auf diese Akte beziehen sich alle Angaben zu Wohn- und Besitzverhältnissen der Schwestern Kahn. 4 wie Anm. 3. 31

Nachforschungen Archivquellen und Gespräche mit Zeitzeu - gen so viele Informationen wie möglich über über das Schicksal das Ehepaar Kahn und ihre Kinder Heinz der Eschweger Familie und Margot zu erforschen. Über mein heuti - Julius und ges Wissen möchte ich berichten. Selma Klara Kahn Die Familie Julius Kahn bestand aus: Julius Kahn , geb. am 9.1.1883 in Esch - von Jochen Schweitzer wege, am 6.9.1942 deportiert, am 23.1.1943 in das Vernichtungslager Auschwitz depor - tiert, dort ermordet; Selma Klara Kahn , geborene Neuhahn, 1. Vorbemerkung geb. am 5.10.1885 in Grebenstei n/Krs. Hof - Ich bin 1942 in der Niederhoner Str. 54 in geismar, am 6.9.1942 deportiert, ebenso wie Eschwege geboren und als Kind dort aufge - ihr Mann in Auschwitz ermordet; 2 wachsen. Meine Eltern sind Anfang 1935 mit Heinz Kahn , geb. am 12.8.1912 in Esch - der Gründung der Molkerei Eschwege dort - wege, emigriert am 17.6.1938 in die USA hin gezogen. Auch meine drei älteren Ge - und im November 1980 in Great Neck/Nas - schwister sind in der Molkerei Eschwege auf - sau, USA, gestorben; gewachsen. Margot Kahn , geb. am 27.2.1921 in Esch - Als ich vor einigen Jahren in dem Buch wege und am 25.1.1939 dort gestorben. „Juden in Eschwege“ von Anna Maria Zim - mer in der „Liste der jüdischen Personen, die Zunächst berichte ich über die zwischen 1932 und 1942 in Eschwege regis - triert waren“ 1 entdeckte, dass drei Tage vor 2. Stockfabrik Julius Kahn jr. oHG meiner Geburt am 6.9.1942 auch ein jüdi - und über Julius Kahn sches Ehepaar, das früher in der Niederhoner Die Fabrik bildete die wirtschaftliche und Str. 54 gewohnt hat, nämlich Julius und finanzielle Grundlage der Familie Kahn. Selma Klara Kahn, von Eschwege nach The - Laut Adressbuch der Stadt Eschwege exis - resienstadt deportiert wurde, ist mein beson - tierte die Stockfabrik Julius Kahn jr. oHG deres Interesse am Schicksal dieser jüdi - mindestens seit 1907. 3 Mitgesellschafter war schen Familie geweckt worden. der jüngere Bruder von Julius Kahn, Hermann Kahn (geb. 1888), der ebenfalls am 6.9.1942 Die Familie Julius und Selma Klara Kahn nach Theresienstadt deportiert wurde. mit ihren beiden Kindern Heinz und Margot Bereits 1916 hatte Julius Kahn das Grund - war eine jüdische Familie in Eschwege. Die stück und Gebäude in der Niederhoner Kahns lebten seit mehreren Generationen Straße 54 gekauft. Zuvor befand sich dort hier. Sie waren in das gesellschaftliche Leben eine kleine Privatmolkerei, die allerdings voll integriert. Julius Kahn wurde sogar für Konkurs machte. Der letzte Gesellschafter seinen Mut mit dem Frontkämpfer-Abzei - dieser ehemaligen Privat-Molkerei hieß Hup - chen ausgezeichnet. Ab 1933 erlebten sie feld. Für ihn war noch eine sogenannte ‚Auf - immer stärker von Eschweger Bürgern und wertungshypothek‘ von 10.500, – RM im Nachbarn fürchterliches und unbeschreibli - Grundbuch eingetragen. ches Leid. In dem stattlichen Hauptgebäude aus der Über diese Familie Kahn hat noch nie je - Gründerzeit befanden sich neben der Stock - mand etwas geschrieben. Ich habe daher in fabrik auch die Wohnräume der Familie den letzten fünf Jahren versucht, über viele Kahn. 32 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Das Hauptgebäude des Grundstücks Niederhoner Straße 54 mit der Gründerzeit-Fassade, die bis in die 1970-er Jahre bestand; heute ist die Fassade stark verändert.

Alle Vorgänge über die Firma Julius Kah njr. „Eine Milchversorgungsstelle für die hie - lassen sich anhand der Steuerakten des Fi - sige Stadt wird hier am 1. März eingerich - nanzamtes Eschwege rekonstruieren, die sich tet. Von diesem Zeitpunkt an verlegt die im Hessischen Staatsarchiv in Marburg befin - Zentralmolkerei Niederhone ihren gesam - den, und zwar in den Akten über die Veran - ten Molkereibetrieb in die Räume Nieder - lagung der Firma zur Einkommens-, Ge - honer Str. 54, die früher zu diesem Zweck werbe- und Umsatzsteuer, zur Feststellung erbaut wurden. Die zur Zeit in den Räu - des Vermögens sowie zur „Judenabgabe“. 4 men befindliche Stockfabrik wird in die Nach den Rückgängen der Umsätze durch Hofgebäude verlegt …“. die Wirtschaftskrise und die Inflation in den Mein Vater, Wilhelm Schweitzer, wurde 1920-er Jahren wuchs das Geschäft wieder; der erste Direktor der zum 1.1.1935 gegrün - die Bilanzsumme für die Stockfabrik im Jahr deten neuen Molkereigenossenschaft Esch - 1930 betrug ca. 100.000, – Reichsmark (RM). wege eGmbH. Dies ergibt sich u. a. aus sei - Die Wende setzte 1933 mit Beginn der ner Spruchkammerakte, die sich im Haupt - Machtübernahme der Nationalsozialisten ein staatsarchiv in Wiesbaden 5 befindet. Das be - durch die Boykottmaßnahmen gegen Juden. deutete, entsprechend der Mitteilung in der Sie schränkten auch den Betrieb der Stockfa - Zeitung, dass nach dem Einzug meiner Eltern brik so stark ein, dass es schon 1934 zu (mit ihrem ersten von vier Kindern) die Fami - einem Verlust von 1.700, – RM kam. lie Kahn zunächst in das Hintergebäude der Das weitere Schicksal der Stockfabrik Ju - Niederhoner Str. 54 umziehen und später lius Kahn ergibt sich auch aus der folgenden ganz ausziehen musste. Mitteilung im Eschweger Tageblatt vom Das Ende der Stockfabrik Julius Kahn jr. 30.1.1935: wurde dann mit dem erzwungenen (Ramsch-) Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 33

Verkauf des Grundstücks und Gebäudes der neuen Arbeiter mehr eingestellt werden, so Niederhoner Straße 54 an die neue Molkerei dass die Produktion der Stockfabrik (im sowie mit weiteren repressiven Maßnahmen Hinterhaus der Niederhoner Str. 54) schließ - gegen jüdische Betriebe (Boykott und „Ari - lich ganz eingestellt werden musste. Die sierung“) eingeleitet. Dies geht auch (rück - Kahns als Inhaber behalfen sich damit, dass blickend) aus einem sehr ausführlichen Arti - sie zunächst einen Basttaschen-Handel in kel meines Vaters im Eschweger Tageblatt das Geschäft aufnahmen. Aber auch das half hervor, der am 31. Januar 1940 erschienen nur wenig, denn 1937 betrug der Gesamtge - ist. Darin schrieb mein Vater unter der Über - winn der Gesellschaft nur noch 3.800,– RM. schrift „Das Molkereiwesen im Kreis Esch - Entsprechend den NS-Verordnungen zur Ari - wege“ unter anderem: „Alsbald nach der sierung der deutschen Wirtschaft musste der Machtübernahme … erfolgte am 1.3.1935 Betrieb zum 31.12.1938 ganz eingestellt und die Inbetriebnahme der Molkerei …“. die Firma gelöscht werden. 8 Die Gründung der Molkereigenossen - Die Liquidierung betraf nicht nur die Spa - schaft wird von meinem Vater also bewusst zierstockfabrik, sondern auch die weitere als Folge der Machtübernahme der National - Firma „Wachswarenfabrik Cäcilienhof sozialisten bewertet und begrüßt. Vermutlich GmbH“, Niederhoner Str. 3, an der Julius gab es auch politischen Druck gegenüber Kahn als Mitinhaber beteiligt war. Neben Ju - den Milchbauern, nunmehr ihre Milch nur lius Kahn waren als Gesellschafter noch sein noch an die Molkerei Eschwege zu liefern. Bruder Hermann und Louis Weinstein in den Die Politik der Nationalsozialisten und die Akten eingetragen. Letzterer konnte noch im Neuordnung der Milchwirtschaft seit 1933 März 1939 nach England emigrieren. haben sich also sehr günstig ergänzt. Dies Die Fa. „Wachswarenfabrik Cäcilienhof kann man auch aus „Persilscheinen“ des GmbH“ ist am 1.9.1938 durch „Verkauf“ Kurhessischen Verbandes ländlicher Genos - (Zwangsverkauf) auf Fritz Tribian, einen of - senschaften (Raiffeisen) e.V. Kassel entneh - fenbar nationalsozialistisch eingestellten men. Mein Vater war bei diesem Genossen - Kaufmann, übergegangen. Nach den Steuer - schafts-Verband bis Ende 1934 als Molkerei- unterlagen betrug der Verkaufspreis nur noch Instruktor und Revisor beschäftigt. Die Ari - 15 % des in der Buchführung verzeichneten sierung des Grundstücks und des Gebäudes Wertes. Im Eschweger Tageblatt vom in der Niederhoner Straße 54 und ihr 1.9.1938 wird diese „Geschäftsübernahme“ (Zwangs-)Verkauf an die Molkereigenossen - durch eine Anzeige mitgeteilt: Die Firma schaft war also die Voraussetzung für die „Wachswarenfabrik Cäcilienhof GmbH“ sei Gründung der Molkereibetriebs. 6 an diesem Tage „käuflich“ in den Besitz von Der Verkaufserlös für das Grundstück und Fritz Tribian übergegangen. die Gebäude betrug nur 52.000,– RM und Im Text der Anzeige heißt es u .a.: lag damit sehr weit unter dem tatsächlichen „Ich liefere die bislang geführten Erzeug - Wert. Zu diesem Problem des verfolgungs- nisse wie Schuhcreme / Bohnerwachs/ bedingten Vermögensverlusts und zum Lederfett / Kern- und Feinseifen / Wasch - Zwangsverkauf hat später das Bundes-Ver - pulver / Scheuerpulver usw. in hochwerti - waltungsgericht ein entsprechendes Urteil gen Qualitäten bei größter Preiswürdig - über Entschädigungen gefällt, das diesen keit. Sachverhalt bestätigt. 7 Es wird mein Bestreben sein, meine Kund - Vermutlich führten die Repressionen schaft in jeder Weise zufriedenzustellen. gegen Juden in Eschwege auch dazu, dass Heil Hitler! zwei Angestellte von Julius Kahn die Stock - Fritz Tribian, Chemische Fabrik“ fabrik verlassen mussten; es durften keine 34 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

In einer Verfügung des Finanzamtes Esch - Eschwege zur Kenntnis gegeben. Vier Raten wege vom 24.6.1939 wurde in den Steuer - à 550,– RM wurden also noch vorher ge - akten von Julius Kahn vermerkt: „Bei der Ver - zahlt. anlagung 1938 war das Einkommen so ge - Am Schluss seines mit „Ergebenst“ unter - ring, dass eine (Steuer-)Vorauszahlung für zeichneten Antrags heißt es: 1939 nicht mehr stattfindet. Ich setze daher „Da meine Auswanderung nach den Ver - Vorauszahlungen für 1939 auf 0, – RM fest. einigten Staaten infolge meiner hohen Infolge der Geschäftsaufgabe ist das Einkom - Wartenummer vor Ablauf von 1 bis 1 ½ men so gering, dass eine Veranlagung für Jahren nicht möglich sein dürfte, so wird 1939 nicht stattfindet.“ 9 mir das verbliebene kleine Vermögen Die Spruchkammerakte von Fritz Tribian 10 kaum ausreichen, um meinen Lebens - ist außerordentlich bemerkenswert und inter - unterhalt bis dahin und die Kosten der essant, so dass dieser Vorgang einer eigenen Auswanderung zu bestreiten. Ich bemerke Nachforschung bedarf. Er hat laut Finanzamt noch, dass ich Frontkämpfer und im Be - Eschwege nach der Geschäftsübernahme des sitz des Frontkämpferabzeichens bin.“ Cäcilienhofs sein steuerpflichtiges Jahresein - Vor Ablauf seiner Wartezeit wurden ab kommen von 836, – RM im Jahr 1939 auf 1941 alle weiteren Emigrationen verboten; 145.525, – RM im Jahr 1943 gesteigert. Sein damit war das Schicksal des Ehepaars Kahn Vermögen stieg nach der Übernahme von quasi entschieden. 11.700, – RM im Jahr 1940 auf 89.516, – RM Diese Dokumente aus den Staatsarchiven im Jahr 1944. Weil er angeblich ein be - in Wiesbaden und Marburg müssen im Zu - sonders humanes Verhältnis zu Juden hatte sammenhang gesehen werden mit den zu - und bis 1942 etwa 30 jüdische (Zwangs-)Ar - nehmenden Repressionen gegen die jüdi - beiter beschäftigte, u. a. auch Moritz Neu - schen Bürger in Eschwege. 11 hahn (den Bruder von Selma Kahn und Vor - Die trockenen, sachlichen Finanzamts - sitzenden der jüdischen Gemeinde), der akten verschweigen, wie Julius Kahn und nach der schriftlichen Darstellung von Tri - seine Familie schon im Vorfeld des späteren bian 1942 „mit den übrigen Eschwegern jü - Holocaust von den Behörden wie auch inter - discher Konfession nach Theresienstadt aus - essierten „arischen“ Bürgern und Firmen gebürgert wurde“, beschrieb er sich quasi als wirtschaftlich und beruflich und damit auch Widerstandstäter. Die Nachfolgefirma von persönlich zugrunde gerichtet wurden. Die Fritz Tribian existiert heute noch. Firmen-Nachfolger konnten vom „arisierten“ Am 30.10.1939 stellte Julius Kahn folgen - jüdischen Vermögen profitieren. den Antrag an den Oberfinanzpräsidenten in Die Judenvermögensabgabe galt als Kassel „Betrifft Judenvermögensabgabe“ „Wegbereiter zu der völligen und endgülti - von Julius Israel Kahn – Kennort Eschwege – gen Entjudung der deutschen Wirtschaft“. 12 Kennnummer A 00143- „… erlaube ich mir Auch in der Ausstellung und dem Film des die höfliche Bitte …, mich von der Zahlung Hessischen Fernsehens „Der legalisierte der 5. Rate der Judenvermögensabgabe in Raub. Wie in Hessen die Juden ausgeplün - Höhe von RM 550,– entbinden zu wollen, dert wurden“ wird anhand zahlreicher Film - da mein Vermögen nur noch RM 4.200,– be - sequenzen und Dokumente gezeigt, wie jü - trägt, wovon RM 2.800,– im Rückkaufswert disches Vermögen bis hin zum Hausrat in einer Lebensversicherung bei der Allianz … arische Hände überging. So muss man an - AG bestehen“. Dies wurde auch von der nehmen, dass auch in Eschwege ab 1940 „Reichsfluchtsteuerstelle“ des Finanzamts zahlreiches Mobiliar, Geschirr und andere Frankfurt-West „zwecks Sicherung einer et - Haushaltsgegenstände – auch aus dem Haus- waigen Reichsfluchtsteuer“ dem Finanzamt halt der Familie Julius und Selma Kahn – Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 35 sehr günstig in arische Eschweger Haushalte Eschwege abwenden können. Wie solche kam. schrecklichen Zwangsmaßnahmen aussa - In der Entschädigungsakte 13 wurden von hen, schilderte Sonia Lipton in einem Ge - ihrem Sohn Heinz z. B. zur Wohnungsein - spräch, das von A. M. Zimmer wiedergege - richtung folgende Angaben gemacht: Glas - ben wurde. 15 Möglicherweise wurde wegen schrank mit vielen porzellanen Geschirren des Attests auch die Deportation des Ehe - und Figuren, Klavier, großes Buffet mit Ge - paars Kahn hinausgeschoben, ohne dass sie schirr für 24 und Silber für 24, großer Aus - jedoch verhindert werden konnte. Senatsrat ziehtisch, Stühle, Schreibtisch und Chaise - Dr. Gebhard war bei Eschweger Bürgern be - longue, Sessel, schwerer Teppich, Kleider - liebt; er wurde auch „der gute Onkel Dok - schränke, Kommoden, u. a.m. Wo sind diese tor“ genannt – so von Lisa Schmitz in ihren Gegenstände in Eschwege geblieben? Erinnerungen an die letzten Kriegstage in Der Historiker Götz Aly hat über die deut - Eschwege. 16 Ähnliches berichtete mir auch schen Profiteure dieser Enteignungen sehr Dr. Hans-Heinrich Koch aus Eschwege in ausführlich geforscht. 14 Das folgende Zitat einem Gespräch im August 2011. dürfte zweifellos auch für Eschwege zutref - fen: 3. Selma Klara Kahn , geb. Neuhahn, geb. am „Wer von den Vorteilen für die Millionen 5.10.1885 in Grebenstein, Kreis Hofgeismar, einfacher Deutscher nicht reden will, der wurde am 6.9.1942 nach Theresienstadt de - sollte vom Nationalsozialismus und vom portiert und dann weiter nach Auschwitz, Holocaust schweigen.“ wo sie ermordet wurde. Der genaue Todes - Julius Kahn durfte sich an keiner Stelle zeitpunkt steht nicht fest. auch nur andeutungsweise über die vielen Repressionen und Verluste beklagen, denn sonst wäre der Druck auf ihn und seine Fa - milie vermutlich nur größer geworden und eine „Schutzhaft“ z .B. in das KZ Buchen - wald (in das damals schon etliche Eschweger Juden eingeliefert wurden) verhängt worden. Hinzu kam, dass Julius Kahn fast ein Drit - tel seines verbliebenen Vermögens, fast 2.000,– RM, bereits für eine „Reichsflucht - steuer“ gezahlt hatte, um die Auswanderung seines Sohnes Heinz im Juni 1938 zu ermög - lichen. Wie sehr ihn und seine Frau diese Ereig - nisse, nicht zuletzt auch der Tod ihrer Toch - ter Margot, physisch und psychisch zerstör - ten, wird in einem Gesundheitsattest des Sanitätsrats Dr. Gebhard aus Eschwege be - scheinigt, das sich merkwürdigerweise eben - falls in den Steuerakten befand. Mit diesem Attest hatte der angesehene Sanitätsrat Dr. Gebhard, der nach dem Krieg Eschweger Ehrenbürger wurde, möglicher - weise eine Anordnung zum Einsatz von Ju - lius Kahn bei Zwangsarbeitsmaßnahmen in Attest von Dr. Gebhard, 6.11.1939 36 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Über Frau Kahn finden sich in den Akten ab 1.11.1938 Friedrich Wilhelm Str. 24. leider nur wenige Angaben; die meisten In - Dort wohnte die Familie des formationen habe ich aus den Entschädi - Bruders und Schwagers Mo - gungsakten für Julius, Selma und Heinz Kahn ritz Neuhahn und seiner Frau im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wies- Emmy. Außerdem wohnten baden entnommen. 17 dort – vermutlich sehr beengt Sie wurde in Grebenstein (Kreis Hofgeis - – noch eine Vielzahl weiterer mar) geboren. Ihre Familie Neuhahn zog am jüdischer Familien. 1.9.1910 nach Eschwege, dort war sie seit - Bevor die Kahns mit den letz - dem polizeilich gemeldet. Selma Klara Neu - ten in Eschwege noch verblie - hahn heiratete am 24.8.1910 Julius Kahn in benen Juden aus Eschwege Eschwege, und zwei Jahre nach ihrem Um- deportiert wurden, wurden sie zug kam dort ihr Sohn Heinz zur Welt. eingewiesen Ihr Vater Josef Neuhahn (geb. 1851) wird ab 2.1.1942 in das Haus in der Wallgasse in der „Liste der jüdischen Personen in Esch - 18 (ein sog. „Judenhaus“); der wege“ als Witwer/Rentner vermerkt; er ist vorherige Eigentümer, Ferdi - am 24.4.1937 verstorben; die Todesursache nand Heilbrunn, war zuvor ist nicht bekannt. Als seine Tochter ist in der schon am 8.12.1941 depor - Liste auch die jüngere Schwester von Selma tiert worden. Klara Kahn, Frieda Neuhahn (geb. 1890), Am 6.9.1942 wurden Julius und Selma vermerkt, ebenso wie ihr Bruder, Moritz Klara Kahn zunächst nach Neuhahn (geb. 1882). Er war mit Emmy, geb. Theresienstadt und später Stein, verheiratet. Moritz Neuhahn war bis weiter nach Auschwitz depor - zu seiner Deportation der bekannte Vorsit - tiert, wo sie ermordet wurden. zende der jüdischen Kultusgemeinde in Ihr Todesdatum ist nicht be - Eschwege. Ihm wurde von der SS die furcht - kannt. bare Aufgabe aufgezwungen, die jeweiligen Personen für den Abtransport in den Depor - 4. Die Deportation lief folgendermaßen ab: tationszügen mit auszusuchen und für einen Die Abfahrt des Transportzuges am Bahnhof reibungslosen und zügigen Verlauf zu sor - Eschwege war um 5.23 Uhr. Alle Personen gen. durften nur wenige persönliche Gegenstände Moritz Neuhahn, wie auch seine Frau mitnehmen, die sie selbst tragen konnten. Emmy, wurde dann ebenfalls mit dem letzten Der Zug fuhr mit einem „Begleitkommando“ Transport am 6.9.1942 nach Theresienstadt zunächst bis Kassel. Dort wurden alle Perso - deportiert und später in Auschwitz ermordet. nen an die Staatspolizei „abgeliefert“. 18 In Kassel wurde der Transport nach There - Über die Aufenthaltsorte der Familie Ju - sienstadt zusammengestellt, insgesamt 844 lius Kahn in Eschwege gibt eine Karteikarte Personen aus Nordhessen und Thüringen. des Einwohnermeldeamtes Eschwege Aus - Das Sammellager in Kassel war in der Turn - kunft, wobei angenommen werden muss, der Bürgerschule an der Schillerstraße. dass diese Umzüge nach 1938 nicht mehr Mit der Zugnummer Da 511 fuhr der Zug freiwillig erfolgt sind und zum Schluss vom dann am 7. September weiter über Bebra, Bürgermeister angeordnet wurden: Weimar zunächst nach Chemnitz; dort Seit 1.10.1916 Niederhoner Str. 54 waren noch bis zu 90 Juden aufzunehmen. ab 1. 7.1935 vorübergehend Bismarckstr. 3 In Theresienstadt ist der Zug am 8. Septem - ab 22. 9.1936 Niederhoner Str. 3 ber eingetroffen; er wurde dort als Transport („Cäcilienhof“) Nr. „XV/1“ verzeichnet. Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 37

Was die Juden im KZ Theresienstadt er - 5. Kahn, Margot , wurde am 27.1.1921 in der wartete, schilderte sehr detailliert und er - Niederhoner Str. 54 geboren und starb am schütternd Margot Kleinberger (2011) in dem 25.1.1939 in der Friedrich-Wilhelm- erst jüngst erschienenen Buch: „Transport - Straße 24. nummer VIII/1 387 hat überlebt“. Als Kind Sie ist auch in Eschwege zur Schule ge - wurde auch Ruth Klüger (die erste Frau von gangen. Im „Grundbuch der Städtischen Hö - Werner T. Angress, s.u.), nach Theresienstadt heren Mädchenschule in Eschwege“ steht sie deportiert. Sie überlebte und schilderte The - in der Liste der Schülerinnen des staatlichen resienstadt als Vorstufe zur Hölle, weil die Lyzeums mit der „Abgangsklasse“ UIII meisten Juden anschließend weiter nach (Untertertia, d. h. 8. Klasse) v. 31.8.1935. Auschwitz deportiert und dort ermordet wur - Danach mussten alle jüdischen Schülerinnen den. 19 Tief beeindruckend sind auch „Die das Eschweger Lyzeum verlassen; es wurde Geschichten von 732 jungen Holocaust- dann als „judenrein“ vermeldet. Wahr - Überlebenden“, die von Martin Gilbert in scheinlich wird Margot Kahn ähnlich wie an - dem Buch „Sie waren die Boys“ geschildert dere jüdische Schüler und Schülerinnen wurden. 20 auch von Mitschülerinnen gequält und von Lehrern getriezt, wie dies u. a. von Karl Die Realität in diesem KZ war grauenhaft Goldsmith über seine Schulzeit in Eschwege und fast unbeschreiblich. Es fehlte an allem. berichtet wurde. 22 Sie ist vermutlich auf dem Im September 1942 war die Höchstzahl der Foto auf S.136 im Buch „Juden in Eschwege“ dorthin deportierten Juden mit über 53.000 abgebildet. erreicht; die normale Einwohnerzahl vor Nach der Einwohnermeldekartei ist als dem Krieg betrug dort 7.000 Personen. Jetzt einziger auswärtiger Aufenthaltsort für sie waren die Räume voll gepfercht, die hygieni - Eisenach vermerkt worden, wo sie am schen Zustände katastrophal, die Menschen 4.10.1938 – vermutlich schon schwer krank unterernährt, die medizinische Versorgung – in der Löbartstr. 2 wohnte. Wen sie dort völlig ungenügend und die Sterberate pro besuchte bzw. bei wem sie dort wohnte und Tag sehr hoch – allein im September 1942 ob sie sich in Eisenach medizinisch behan - starben 3.941 Menschen. deln ließ, ist leider nicht mehr zu ermitteln, Die meisten eingelieferten Juden wurden denn nach Auskunft des Stadtarchivs in Eise - gleich weiter deportiert nach Treblinka und nach sind alle diese Akten am Ende des Krie - ab Oktober 1942 nach Auschwitz. Alle ges durch Bomben vernichtet worden. Etwa wuss ten, was sie dort erwartete. 1 ½ Monate später kehrte sie wieder zu In das KZ Theresienstadt wurden zwi - ihren Eltern nach Eschwege zurück, wo sie schen November 1941 und dem 20. April dann nur zwei Monate später, am 25.1.1939, 1945 ca. 141.000 Juden deportiert, davon also zwei Tage vor ihrem 18. Geburtstag, starben 36.000 dort und 88.000 wurden starb. Ihr Grab auf dem jüdischen Friedhof weiter in Vernichtungslager wie Auschwitz wurde noch nicht gefunden. deportiert und dort ermordet. Etwa 17.000 Im Sterbebuch der Stadt Eschwege befin - haben überlebt und sind am 5. Mai 1945 be - det sich für das Jahr 1939 unter der Nr. 34 freit worden. Von den drei Lagerkomman - am 26. Januar die entsprechende Eintragung danten wurden zwei nach dem Krieg verur - bzw. Beurkundung durch den Standesbeam - teilt und hingerichtet, einer (Anton Burger) ten Wenderoth. Danach wurde ohne Vorlage konnte sich unter falschem Namen eine eines ärztlichen Totenscheines der Tod von neue Existenz in Westdeutschland aufbauen Margot „Sara“ Kahn von Hermann „Israel“ und starb unbehelligt 1991 in Essen. 21 Kahn, dem Onkel von Margot, angezeigt. Ihre Eltern waren dazu offenbar gesundheit - 38 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 lich nicht in der Lage. „Rachendiphtherie, Heinz Kahn hatte am 17.12.1956 (nun Herzmuskelschwäche“ wurde als Todesursa - unter seinem neuen Namen Henry Cornes in che eingetragen. Eine solche Infektionser - New York lebend) einen Antrag gestellt auf krankung ist heute bei uns äußerst selten und Grund des „Bundesgesetzes zur Entschädi - wäre möglichweise auch damals bei einer gung für Opfer der nationalsozialistischen frühzeitigen Diagnose und ausreichenden Verfolgung – Bundesentschädigungsgesetz medizinischen Behandlung und medikamen - (BEG) vom 29. Juni 1956“. 24 tösen Versorgung mit Antibiotika heilbar ge - Die Entschädigungsansprüche wurden wesen. Einen jüdischen Arzt gab es in Esch - über eine Rechtsanwaltskanzlei in Kassel wege damals schon nicht mehr. beim Regierungspräsidenten in Kassel ange - meldet für „Schäden durch Freiheitsentzug, Insofern ist Margot Kahn ein Opfer der ju - Schäden am Eigentum und Schäden durch denfeindlichen Lebensverhältnisse in Esch - Zahlung von Sonderabgaben, Geldstrafen, wege. Man kann sie damit auch als Opfer Bußen und Kosten“. der NS-Herrschaft betrachten. Nach einem demütigenden und pein - Das Sterben dieser jungen Frau muss elen - lichen sowie auch sehr langwierigen Verfah - dig und grauenvoll gewesen sein und es ren, das über 10 Jahre dauerte, wurden dem hatte offenbar auch grauenvolle Auswirkun - Sohn Heinz als „Erben“ nach den Bestim - gen auf die Eltern. Nachdem ihr Sohn Heinz mungen des BEG u.a. für die 43 Monate KZ- bereits ein halbes Jahr vorher in die USA Haft für seine Eltern „als Erben“ je Monat emigriert war und sie damit nun ohne ihre 150,– DM als „Entschädigung“ ausgezahlt. Kinder waren, wurde ihre Lage immer ver - Seinen Lebenslauf musste Henry Cornes zweifelter. „eidesstattlich“ in dem Entschädigungsver - fahren versichern: „Ich bin am 12.8.1912 in Eschwege gebo - 6. Kahn, Heinz, der Sohn, wurde am 12.8. ren und besuchte zunächst die dortige 1912 in Eschwege geboren, er konnte am Volksschule, alsdann die Friedrich-Wil - 17.6.1938 noch in die USA auswandern. Er helm-Schule und habe im Jahre 1932 dort starb im November 1980 in Nassau, New das Abitur gemacht. Ich war anschließend York State. bei „Kaiser & Co“, Eschwege, in der Lehre Auf der Einwohnermeldekartei in Esch - und als Angestellter tätig. Als ich gezwun - wege wurden folgende Aufenthaltsorte für gen war, diese Stelle aufzugeben, ging ich ihn vermerkt: in das väterliche Geschäft, die ‚Fa. 20.3.1935 nach Hervest Dorsten Wachswarenfabrik Cäcilienhof GmbH (Ferienhaus ‚Berta‘) und Julius Kahn‘ in Eschwege. 17.10.1935 nach Alt Schermbeck Im Jahre 1938 wanderte ich nach USA aus 11.5.1936 nach Gut Groß-Breesen, und war hier bis 1942 auf einer Farm Krs. Trebnitz bei Breslau tätig. Alsdann wurde ich hier zum Heeres - Am 10.1.1938 (also nach 20 Monaten dienst bis 1945 eingezogen und anschlie - Ausbildung) kam er nach Eschwege zu - ßend war ich im Kriegsministerium be - rück. Am 17.6.1938 wurde er abgemeldet schäftigt. Zur Zeit bin ich als Accountant zur Auswanderung in die USA. tätig. Elmhurst-New York, 11.11.1957 … Weitere Informationen lassen sich aus Unterschrift: Henry Cornes“ den „Entschädigungsakten“ erschließen, die sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Es existieren noch zwei Fotos von Heinz Wiesbaden befinden: 23 Kahn , die ihn zusammen mit seinen Klassen - Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 39

freund, der Kreisrabbiner von Eschwege, der damals offenbar noch an der Friedrich-Wil - helm-Schule jüdische Religionslehre unter - richtete. 25 Wiederum aus den Wiesbadener Akten er - gibt sich, dass Heinz Kahn im Juli 1938 mit der „SS Königsstein – Bernstein Linie“ von Antwerpen nach New York ausgereist ist. Die Kosten dürften sich nach den Unterlagen auf 400,– RM belaufen haben.

Die Recherchen in den USA gestalteten sich sehr schwierig. Bekanntlich gibt es in den USA kein Einwohnerverzeichnis bzw. keine Meldebehörden. Daher habe ich mich zunächst an das Leo Baeck Institute in New York gewandt. Heinz Kahn ganz rechts mit Bierhumpen in der linken Hand. Von der Direktorin, Frau Karen Franklin, (Family Research Program), habe ich die fol - gende Auskunft über die dort geführte Datei von Henry Cornes bekommen.

Name: Henry Cornes Birth Year: 1912 Race: White, not yet a citizen (noch kein US-Bürger) Nativity State or Country: Germany Enlistment Date: 10 Nov 1942 Vierter von links ist Heinz Kahn mit Brille und (Einberufungsdatum) einem Kahn’schen Spazierstock in der rechten Enlistment State: Virginia (Einberufungsstaat) Hand. Enlistment City: Richmond (Einberufungsstadt, kameraden von der Friedrich-Wilhelm- nahe Hyde Farmlands) Schule im Sommer 1931 und nach bestande - Branch Code: Branch Immaterial nem Abitur im Februar 1932 zeigen. (unwesentliche Einheit) In seinen Akten befindet sich auch die Militärischer Zweig bzw. Einheit: Kopie seines Abiturzeugnisses vom 24.2. Warrant Officer, USA 1932. Für seine Leistungen erhielt er u. a. in (Dienstgrad zwischen Religionslehre ein „gut“, ebenso wie in Eng - Offizier und Unteroffizier) lisch, Latein und Physik, während er in Grade Code: Private (unterster Dienstgrad, Kunsterziehung und Leibeserziehung ein (Dienstgrad): etwa Gefreiter, wohl gemeint „nicht genügend“ bekam. Zum staatlichen der Dienstgrad von H .K. bei Prüfungsausschuss gehörte auch Dr. Baß - Einberufung) 40 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Term of Enlistment: Adresse: 575 Lexington Ave, New York, Enlistment for the duration of NY 10043, the War or other emergency, später: Great Neck, New York State, plus six month, subject to the 11021, Nassau County discretion of the President Todesdatum: November 1980 or otherwise according to law in Nassau, NY (Einberufung für die Dauer Keine Eintragung im Heirats- und des Krieges oder einer Scheidungsregister, keine Verwandte. anderen Ausnahmesituation, plus sechs Monate, gemäß Heinz Kahn / Henry Cornes starb also im einer Anordnung des Alter von 68 Jahren in dem kleinen Ort Präsidenten oder sonstiger „Great Neck“ im Staate New York, etwa entsprechender Gesetze) 50 km nord-östlich von New York City am Component: Selectees (Enlisted Men) Long Island Sound. (Gruppe?): (ausgewählte Gruppe – von Weitere amtliche oder halbamtliche Infor - einberufenen Männern – z.B. mationen habe ich über Henry Cornes bisher weil jüdischer Immigrant?) nicht herausgefunden, weil er nicht verheira - Source: (Quelle): Civil Life (kommt aus dem tet war und offenbar auch in den USA keine Zivilleben) Angehörigen hatte. Weitere Recherchen über Education: (Bildung): Internet bei der Gemeinde in Great Neck 2 years of college (2 Jahre haben auch keine weiterführenden Aus - amerikanisches College, d.h. künfte mehr ergeben. sein deutsches Abitur wurde Im Verlauf meiner Recherchen über Heinz nicht berücksichtigt) Kahn / Henry Cornes waren besonders drei Civil Occupation: Casting Machine Operator Personen sehr wichtig und hilfreich, die (Zivilberuf) (Gussform-Maschinen- Heinz Kahn persönlich kannten. Diese Per - Arbeiter) sönlichkeiten, Überlebende des Holocausts, Marital Status: Single, without dependents und die Schilderungen ihres Lebensweges (Familienstand): (ledig, ohne haben mich stark beeindruckt: Familienangehörige Height: 66 (167,6 cm) 7. Ernst Cramer, Martin Doernberg Weight: 142 (64 kg?) und Werner T. Angress Diese drei waren von 1936 bis 1938 Bei der Übersetzung haben sowohl ein ebenfalls Teilnehmer der Ausbildungs-Lehr - US-Armeeangehöriger wie auch ein eng - gänge in Lehrgut Groß-Breesen in Schlesien lischer Armeeangehöriger geholfen; es blei - und mit Heinz Kahn zusammen; sie kannten ben kleine Unklarheiten bei Berufsbezeich - ihn gut. Er wurde von allen „HAKA“ genannt nungen. und wurde zum Sprecher des ersten Ausbil - dungsjahrgangs gewählt; die Jungen dieses Es gibt außerdem ein privates Einwohner- Jahrgangs nannte man daher die „HaKa- Such-Institut, das „US Search Institute“ , das nesen“. gegen Gebühren für US-Bürger über ameri - Ich habe über Internet-Recherchen eine kanische Bürger Auskünfte erteilt. Durch Ver - Vielzahl von Informationen über Aufenthalts - mittlung einer amerikanischen Staatsbürgerin orte, über Groß-Breesen in Schlesien und habe ich 2008 folgende Auskunft von „US die Hyde Farmlands in Virginia, USA , finden Search“ über Henry Cornes bekommen: können, die hier nicht alle wiedergegeben werden können. Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 41

7.1 Ernst Cramer (geb. 1913) wurde nach 1958 holte ihn Axel Springer in seinen seiner landwirtschaftlichen Ausbildung in Verlag nach Berlin, wo er zunächst stellver - Groß-Breesen nach der Reichspogromnacht tretender Chefredakteur der WELT und dann am 9.11.1938 verhaftet und ins KZ Buchen - einer der geschäftsführenden Redakteure wald deportiert. Nach einigen Wochen grau - dieser „Springer-Zeitung“ wurde. Sein weite - envoller Erfahrungen wurde er auf Grund rer Aufstieg führte ihn über die Leitung des seines Emigrationsantrages wieder entlassen Verlegerbüros von Axel Springer in die Ge - und konnte 1939 noch in die USA emigrie - schäftsführung der Axel Springer Holding. ren, während sein Bruder und seine Eltern Nach dem Tode von Axel Springer 1985 von den Nazis ermordet wurden. Im An - wurde er Alleinherausgeber der „Welt am schluss arbeitete er in den Hyde Farmlands Sonntag“ und später Vorstandsvorsitzender (Virginia, USA), wohin auch HAKA gekom - der Axel Springer Stiftung. Ernst Cramer galt men war. Hyde Farmlands war ein größeres nach Axel Springer als die prägendste Person landwirtschaftliches Anwesen, das Ende der des Verlagskonzerns. Er starb am 19. Januar 1930-er Jahre von einem Kaufhausbesitzer 2010 im Alter von 96 Jahren in Berlin an den aus Richmond (USA) erworben wurde, um Folgen eines Herzinfarkts. Bis zuletzt arbei - dort eine neue Heimstatt für aus Deutschland tete er noch jeden Tag in seinem Büro im geflohene junge Juden zu schaffen. Axel-Springer-Hochhaus in Berlin. Der Überfall Japans auf Pearl Harbour hat dann dieser Gemeinschaftsfarm „Hyde Farm - 7.2 Pfarrer i .R. Martin Doernberg (geb. am lands“ ein Ende bereitet, da fast alle männ - 4.3.1920), heute wohnhaft in Bad Nenndorf, lichen jüdischen Einwanderer, die auf dem hat ebenfalls ein äußerst bewegtes Leben ge - Gut arbeiteten, in die amerikanische Armee führt. Er stammte aus Eschwege und kannte eintraten bzw. einberufen wurden, so auch schon von dort her Heinz Kahn gut. Ich habe im Jahre 1942 Ernst Cramer, Werner T. An - mit ihm lange telefoniert und ihn schließlich gress und Heinz Kahn. Bei der Einberufung auch in seinem Haus in Bad Nenndorf be - zur amerikanischen Armee bekamen alle Emi - sucht und mich lange mit ihm und seiner granten die Möglichkeit, ihren Namen zu Frau unterhalten. Er war ebenfalls zur Ausbil - amerikanisieren; Heinz Kahn wählte darauf - dung in Groß-Breesen. Nach seinen Schilde - hin den Namen Henry Cornes . Er hatte am rungen war das ehemalige Rittergut Groß- Ende des Krieges den Dienstgrad des „War - Breesen ein Ausbildungslehrgut für landwirt - rant Officer“, das ist ein amerikanischer schaftliche Berufe für „nicht-zionistische Ju - Dienstgrad zwischen Offizier und Unteroffi - den“, die eine Auswanderung planten und zier. Nach Martin Doernberg kam HAKA auch dafür einen Beruf erlernen mussten. als Soldat nach Deutschland. Ob er noch ein - Sein Vater, Erwin Doernberg, hatte eine mal nach Eschwege kam, ist nicht bekannt. Drogerie in Eschwege, Am Stad 23; diese Ab 1941 studierte Ernst Cramer Agrono - musste verkauft werden und zwar an Frau mie und wurde dann Soldat der US Army im Wollenhaupt aus Wanfried. Eine Wiedergut - Zweiten Weltkrieg. Als solcher kehrte er machung für diesen Zwangsverkauf der Dro - 1945 als US-Hauptmann in seine Vaterstadt gerie oder weiterer Ansprüche nach dem Augsburg zurück. Bis 1948 blieb er in der Bundesentschädigungsgesetz hat es nach sei - US-Militärveraltung in Bayern und wurde ner Auskunft nicht gegeben. dann stellvertretender Chefredakteur der Martin Doernberg wurde ebenso wie die „Neuen Zeitung“ in München. 1954 kehrte anderen Gross-Breesener nach der Reichspo - er wieder in die USA zurück und wurde Kor - gromnacht verhaftet und in das KZ Buchen - respondent der Nachrichtenagentur United wald deportiert. Dort traf er auch seinen Press International (UPI). Vater wieder. Martin Doernberg hat mir u. a. 42 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 auch das „Spießrutenlaufen“ nach dem Aus - dann nach Sheerbrooke in Quebec (Kanada) laden aus den Waggons am Bahnhof in Wei - evakuiert und dort in einem Lager interniert. mar auf dem Weg ins nahe KZ Buchenwald Nach seiner Rückkehr nach England nach geschildert, d.h. die Juden mussten zunächst dem Krieg hat er sich in der anglikanischen durch ein Spalier von Weimarer Bürgern lau - Kirche taufen und konfirmieren lassen. Er fen, die mit Peitschen und Stöcken auf sie arbeitete in seiner anglikanischen Gemeinde einschlugen. Unbeschreiblich auch seine auch als Prädikant (Prediger). 1960 kam er Schilderungen von dem grausamen KZ- nach Deutschland zurück und wurde als Lagerleben: Musiklehrer in der Hermann-Lietz-Schule in 13–15.000 Menschen mussten in 4 Bara - Bieberstein (bei Fulda) eingestellt. Er konnte cken hausen; 10 Menschen schliefen auf dort auch als „Prädikant“ predigen. 1968 er - einer Pritsche. Nach seinen Schilderungen hielt er eine Stelle als Musik- und Religions - konnte er diese nahezu unbeschreiblichen lehrer in Barsinghausen bei Hannover und Qualen vor allem dadurch überleben, dass wurde auch dort in der evangelischen Ge - er sich als junger Musiker vollkommen in meinde als Prädikant und Organist aktiv. „seine“ Musik von verschiedenen Komponis - Durch Vermittlung und auf Empfehlung des ten – u. a. Mahler, Bruckner, Brahms – hin - örtlichen Pfarrers konnte er eine Eignungs - eindenken konnte. Durch diese intensive prüfung bei der Hannoverischen Landeskir - Konzentration in die im Gedächtnis gespei - che ablegen und wurde damit protestanti - cherten Konzerte konnte er diese geliebte scher Pfarrer und anschließend Pastor in der Musik vor seinem „inneren Ohr“ hören. Er evangelischen Gemeinde in Hohenbostel am hat nach eigenen Angaben auf diese Weise Deister. die Leiden und Schmerzen weniger intensiv Seiner Leidenschaft, der Musik, blieb er empfunden. immer treu und schrieb auch selbst einige Weil sein Vater eine Auszeichnung als Kompositionen, die u .a. im NDR übertragen Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs besaß (er wurden. Martin Doernberg ist ein sehr gläu - starb 1941 in Eschwege) und Martin Doern - biger Mensch und ist trotz seiner leidensvol - berg bereits einen Ausreiseantrag gestellt len Biographie nie bitter geworden. Er sucht hatte, wurde er nach wenigen Wochen wie - stets das Gute im Menschen. der aus Buchenwald nach Eschwege entlas - sen und konnte danach 1939 nach England 7.3 Werner T. Angress wurde am 27.6.1920 auswandern. Seine Mutter, die das jüdische in Berlin geboren und starb dort am Heim in Eschwege bis zur Auflösung leitete, 5.7.2011. hat sich am Tag vor ihrer Deportation nach Nachdem er 1936 in Berlin auf Druck der Theresienstadt am 6.9.1942 in Eschwege das Nazis die Schule verlassen musste und seine Leben genommen. Dabei soll ihr Sanitätsrat Eltern ihm die Emigration ermöglichen woll - Dr. Gebhard passive Sterbehilfe geleistet ten, bewarb er sich zunächst im Ausbil - haben, wofür Martin Doernberg ihm – wie er dungslehrgut Groß-Breesen für eine land - mir erzählte – später dankbar war, weil er ihr wirtschaftliche Ausbildung, also für einen damit das zu erwartende Leiden und Sterben Beruf, der als eine Voraussetzung für die Ein - im KZ ersparte. wanderung in die USA galt. Nach seiner Martin Doernberg arbeitete in England zu - Auswanderung trafen sich Heinz Kahn und nächst in einer Gärtnerei in Burgess Hill. Werner Angress in den USA wieder auf einer Nach der Invasion der Alliierten in Frank - Farm in Virginia, den Hyde Farmlands. reich bzw. Holland wurde er „als Deutscher“ Heinz Kahn war auf der Farm vornehm - (wie auch andere deutsche Emigranten in lich als Buchhalter und „Zahlmeister“ tätig. England) zunächst in England interniert und Angress schildert ihn als einen sehr verant - Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 43 wortlichen und hilfsbereiten Menschen, der verschärfende Judenverfolgung der National - jedoch in persönlichen Fragen Distanz hielt. sozialisten gekauft, um dort ein Ausbildungs - Werner Angress hat nach dem Krieg lehrgut für junge nicht-zionistische Juden zu Henry Cornes noch einmal kurz in Florida errichten. Sie erhielten dort eine Ausbildung, getroffen, bevor er den Armeedienst verließ, die u. a. eine der Voraussetzungen für die während Henry Cornes noch einige Jahre in Aufnahme in ein Einwanderungsland war. der Verwaltung des US-Kriegsministeriums Die Teilnehmer des letzten Lehrgangs wur - tätig war. den nach der Reichspogromnacht am 9.11.1938 nach Buchenwald deportiert. Die Angress wurde später in den USA Profes - meisten wurden dann als zukünftige Emi - sor für europäische Geschichte an den Uni - granten nach einigen Wochen wieder entlas - versitäten in Berkley und New York. Er war sen. Die SS hat danach das Lehrgut geschlos - mit der bekannten Literaturwissenschaftlerin sen und darin ab 1940 ein Arbeitslager für Prof. Dr. Ruth Klüger verheiratet (gemeinsam polnische Zwangsarbeiter eingerichtet. ein Sohn). Über Groß-Breesen und sein „Netzwerk“, 1988 zog er wieder nach Berlin. Dort die „Groß-Breesener“, kann man sehr um - habe ich ihn im März 2010 in seiner Woh - fangreiche Informationen im Internet finden, nung besucht und ausführlich mit ihm ge - u. a. bei Wikipedia, bei „UU Faithworks“, sprochen. Seine Persönlichkeit und seine Le - über „Gross Breesen Projekt Exihibit“ (eine bensgeschichte haben einen tiefen Eindruck Ausstellung in verschiedenen Staaten der bei mir hinterlassen. Er starb am 05. Juli USA; dort kann man auch ein Video über 2011 in Berlin. Ich bin dankbar, ihm noch Groß Breesen mit Luftbildaufnahmen u.a. begegnet zu sein. herunterladen), Berichte darüber u. a. auch im „The River Reporter“ v. 14.8.2008, im Über Heinz Kahn / Henry Cornes habe „The Chronicle of Higher Education“ v. ich jedoch hinsichtlich seines Schicksals 3.1.2010 und im US Holocaust Memorial nach 1945 von den „Groß Breesenern“ Museum in Washington. keine weiteren Informationen mehr erhalten, Die Juden, die in Groß-Breesen ausgebil - weil sie nach dem Krieg von ihm nichts det wurden, sind auch nach dem Krieg in mehr gehört haben. Er hatte sich an dem aller Welt in Kontakt geblieben. Dazu dien - Groß-Breesener Netzwerk bzw. den Rund - ten u. a. Rundbriefe, in denen die „Groß- briefen und Treffen nicht mehr beteiligt. Of - Breesener“ regelmäßig ihre Erlebnisse und fenbar hat er auch am jüdischen Leben in Erfahrungen aufschrieben und austauschten. New York nicht mehr aktiv teilgenommen, Diese Briefe fasste dann Ernst Cramer zusam - sonst hätte das Leo Baeck Institut in New men, gab sie heraus und verschickte sie an York vermutlich noch weitere Informationen. die mehr als 130 noch lebenden Mitglieder dieses Netzwerkes nach Argentinien, Brasi - lien, Chile, Kolumbien, Bolivien, Australien, 8.1 Exkurs Israel, USA, Kanada, Großbritannien, Frank - Groß Breesen (heute Brzezno) , bei Ober - reich, Costa Rica u. a. m. nigk im Kreis Trebniz, ist ein altes Schloss Ernst Cramer hielt dieses Netzwerk zusam - mit einem 567 ha großem Gut, etwa 30 km men. Es fanden auch einige Treffen statt, u. a. nördlich von Breslau gelegen. Es gehörte im Mai 1986 in Shavej Zion in Israel, über einem reichen polnischen Juden namens das ausführlich in einem Rundbrief berichtet Willi Rohr. 1936 wurde es von der „Reichs - wurde und wovon auch Fotos existieren. vertretung der Deutschen Juden“ unter Lei - tung von Leo Baeck in Reaktion auf die sich 44 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Mir wurden vier solcher etwa 70 Seiten fessor an einem College in Richmond, Virgi - umfassender Rundbriefe von Martin Doern - nia. Nach seiner Rückkehr nach Deutsch - berg überlassen. Weitere Rundbriefe, u. a. land wurde er ab 1950 ordentlicher Profes - „Letter 11“, der schon im Oktober 1941 aus sor an der Universität . Von 1961 Richmond, Virginia, versandt wurde, existie - bis 1968 war er Vorsitzender des Bundes der ren im Internet. Im Sonderarchiv Moskau Psychologen, danach ihr Ehrenvorsitzender. existieren eine umfangreiche Literaturliste Von vielen ‚Groß-Breesenern‘ wurde er als und weitere Materialien wie auch neuer - charismatische Persönlichkeit, der sie viel zu dings weitere Dokumente im Jüdischen Mu - verdanken haben, verehrt. seum in Berlin. Ebenfalls über das Integrationsprojekt für 8.2 Exkurs jüdische Immigranten, die „Hyde Farm - Zur Chronologie der „Entjudung“ und lands“ in Virginia, USA, findet man umfang - zur Arisierung der deutschen Wirtschaft reiche Informationen im Internet, u .a. in Mit der Reichspogromnacht (der soge - einem Artikel der Berliner Morgenpost vom nannten „Reichskristallnacht“) vom 9. auf 23.11.2009 von Dirk Westphal über „Die fa - den 10. November 1938 war das NS-System belhaften Ritchie Boys“. Der Artikel schildert zur konsequent betriebenen „Entjudung“ die Erlebnisse von Werner T. Angress, wie er übergegangen, an deren Ende die in der be - in Groß Breesen ausgebildet wurde und rühmten Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1939 in die USA emigrierte. Er kam dann 1942 beschlossene „Endlösung“, d. h. die auch auf die Hyde Farmlands, wo er seine planmäßige Vernichtung der jüdischen Mit - Agrarausbildung fortsetzte. Angress schil - bürger auch in den bis dahin besetzten Ge - derte in dem Gespräch, dass er nach seiner bieten durch Deportation in die KZs stand. Einberufung in Virginia zu einer Spezialein - Doch schon die Chronologie der antijüdi - heit von deutschen Emigranten kam, die schen Gesetze und Verordnungen seit An - nach der Invasion deutsche Kriegsgefangene fang 1938 sprach eine deutliche Sprache im in Europa verhören sollte. Zu seiner Einheit Hinblick auf die Bestrebungen des Systems, gehörten auch Stefan Heym, Hans Habe, sich jüdischen Vermögens im großen Stil zu David Robert Seymour, Klaus Mann u. a., die bemächtigen: sich die „Ritchie Boys“ nannten. 26.4.1938: Verordnung über die Anmel - Über den Pädagogischen Leiter von Groß dung jeglichen Vermögens v. Juden über Breesen, Curt Bondy (1894–1972), gibt es 5.00 0RM ebenfalls eine Fülle von Literatur und Inter - 9.–10.11.1938: „Reichskristallnacht“: Zer - net-Informationen. Er war nach 1918 Mitbe - störung von Synagogen und Geschäften gründer des sozialistischen Studentenbun - 12.11.1938: Verordnung über die „Sühne - des. Von 1923 bis 1925 war er pädagogi - leistung“ der Juden deutscher Staatsangehörig - scher Assistent bei Professor Hermann Nohl keit, die sogenannte „Judenvermögensab - in Göttingen und habilitierte sich 1925 in gabe“ , in Höhe von insgesamt 1 Mrd. RM, von Hamburg im Bereich Sozialpsychologie und Hermann Göring verkündet. Jeder Jude, der Sozialpädagogik. Er zählte sich zu den Re - über 5.000 RM Vermögen besaß (was den Be - formpädagogen. Von 1936 bis 1939 leitete hörden ja nun bekannt war: s. o.), musste er auf Bitten von Leo Baeck das Ausbildungs - davon 20 % an die Reichskasse, zahlbar in lehrgut Groß-Breesen. 1938 wurde er eben - vier Raten (also 4 x 5 %) jeweils zu Beginn des falls für einige Monate verhaftet und ins KZ neuen Quartals, abführen. Umgesetzt wurde Buchenwald deportiert. Er konnte aber noch die Verordnung von den Finanzbehörden im 1940 über Spanien und Portugal in die USA Verein mit Inkasso-Firmen wie der Creditre - emigrieren. Von 1940 bis 1950 war er Pro - form und den Sparkassen und Banken. Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 45

Ab Januar 1939 wurde in Zehntausenden In der Regel verloren Juden mehr als 90 % von Einzelfällen Sicherungsanordnung für ihres Vermögens. Gesetzliche Grundlage zu Vermögenswerte jüdischer Mitbürger erlas - ihrer Ausplünderung war neben der Juden - sen, d. h. ihre Konten bei den Geldinstituten vermögensabgabe die sogenannte Reichs - wurden gesperrt. fluchtsteuer , die schon 1931 eingeführt wor - Ebenfalls 12.11.1938: Ausschaltung der den war, um Kapitalabflüsse während der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, Deflationszeit zu verhindern. Dem NS-Re - d. h. generelles Arbeitsverbot für Juden . Die gime kam die Reichsfluchtsteuer als probates Judenvermögensabgabe – so das Kalkül – Instrument zur Judenausplünderung sehr ge - musste also in Zukunft aus der Substanz auf - legen. gebracht und bezahlt werden. Die Juden Da die mit der Veranlagung befassten Fi - selbst sollten also ihre Vermögenswerte geld - nanzbehörden in der Regel nicht darüber im flüssig machen, indem sie ihre Häuser ver - Bilde waren (und sich dafür auch nicht inter - kauften, ihre Wertgegenstände verpfändeten essierten), was mit den deportierten Juden usw. Diese oft mühsamen Handlangerdienste fortan geschah, waren die Betreffenden, da zur Auffüllung der Reichskasse sollten sie, "verschubt", postalisch nicht mehr greifbar. bevor sie letztlich der physischen Vernich - Daraus wurde geschlossen, dass sie sich of - tung zugeführt wurden, noch übernehmen. fensichtlich ihrer Steuerpflicht entzogen hat - Somit arbeiteten die Juden, von denen viele ten, was als Straftatbestand der vorsätzlichen schon nach der 2., spätestens der 3. Rate der Steuerflucht bewertet wurde. Die Konten - Judenvermögensabgabe finanziell am Ab - blätter der einzelnen Juden, auf denen ihre grund standen, an ihrem finanziellen Ruin Steuerrückstände penibel verzeichnet waren, gezwungenermaßen aktiv mit. wurden (unabhängig davon, ob sie noch leb - Ebenfalls 12.11.1938: Ausschaltung der ten oder nicht) bis kurz vor Kriegsende Juden aus dem Kulturleben (Verbot des Be - weitergeführt. 26 suchs von Konzerten, Theatern, Kinos usw.) 15.11.1938: Entfernung jüdischer Kinder 9. Persönliche Nachbemerkung aus den Schulen Ich fühle mich heute, als Sohn des Wil - 28.11.1938: Einführung von Wohnbe - helm Schweitzer, der mit der Gründung und schränkungen für Juden („Judenhäuser“) Leitung der Molkerei Eschwege in der 3.12.1938: Juden wird die Verfügung über Niederhoner Straße 54 quasi auch am ihre Wertpapiere entzogen Schicksal dieser Familie Julius Kahn beteiligt 5.12.1938: Kürzung von Pensionen jüdi - war, auch persönlich sehr betroffen. Ich scher Beamter fühle mich besonders verantwortlich dafür, 12.12.1939: Genereller Depotzwang für dass die jüdische Familie Kahn aus Esch - Wertpapiere in jüdischem Besitz wege nicht in Vergessenheit gerät. Mit diesen 1.1.1939: Einführung der Zwangsvorna - Informationen möchte ich dazu beitragen, men „Sara“ und „Israel“ dass ihr Leben und ihr Leidensweg über den 19.10.1939: Erhöhung der Judenvermö - Tod hinaus gewürdigt und für die Geschichte gensabgabe von bislang 20 % auf nunmehr Eschweges dokumentiert werden und immer 25 % des jeweiligen privaten Vermögens bewusst bleiben. (der am 1.9.1939 begonnene Zweite Welt - Ohne die vielen „normalen“ nicht-jüdi - krieg kostete viel Geld; da waren zusätzliche schen Menschen in Eschwege und an - Finanzmittel willkommen) derswo, die bei der nationalsozialistischen 20.10.1940: Beginn der ersten großen Gewaltherrschaft passiv und aktiv mitwirkten planmäßigen Deportation von Juden (im und die Verfolgung der Juden billigten, un - Gau Baden in das KZ Gurs in Südfrankreich) terstützten und zum Teil profitierten, wären 46 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 die unbeschreiblichen Verbrechen der Ju - Verpflichtung der Kinder, Enkel und Urenkel, denverfolgung, des Holocaust und die vielen sich immer wieder gegen solche verbrecheri - anderen Gräueltaten der Nazis nicht mög - schen Bestrebungen einzusetzen, sie schon lich gewesen. Die immer währende Erinne - im Keim zu bekämpfen und immer wieder rung daran soll dazu beitragen, dass solche über die NS-Geschichte aufzuklären. Verbrechen niemals verharmlost werden. In diesem Sinne sollen dieser Text und In dem Buch von Peter Longerich (2006): auch die Stolpersteine vor dem Haus Nieder - „Davon haben wir nichts gewusst! – Die honer Straße 54 in Eschwege an das Schick - Deutschen und die Judenverfolgung 1933– sal der Familie Kahn erinnern und ihnen ein 1945“, weist der Autor nach, dass die Juden - Stück ihrer Würde zurück geben. verfolgung nicht nur vor aller Augen statt - fand, sondern dass das NS-Regime an die „Volksgenossen“ auch immer wieder gezielte Hinweise auf die Vernichtung der Juden gab: „… sie wurden so zu Mitwissern und Kom - plizen.“ Ich selbst weiß heute jedoch nicht, wie ich mich damals verhalten hätte. Daher schreibe ich diesen Text nicht aus dem Ge - fühl der moralischen Überlegenheit. Es ist aber die politische Verantwortung der Nach - geborenen in unserer Demokratie und in einer Zivilgesellschaft, es ist die moralische

Stolpersteine für Julius und Selma Kahn, 21.6.2011 Jochen Schweitzer: Nachforschungen über das Schicksal der Eschweger Familie Julius und Selma Klara Kahn 47

Anmerkungen

1 Zimmer 1993, S. 314ff. 2 Gedenkbuch, www. Bundesarchiv.de. 3 Vgl. Sparkasse Werra-Meißner 1994. 4 StA MR, Bestand 601/11 Nr. 223, ca. 400 Sei - ten. 5 HHStA W, Az. ES 3075. 6 HHStA W, Az. ES 3075, Bl. 136 u. 138. 7 BVerwG 7 C 13.01. 8 StA MR, Bestand 601/11 Nr. 223. 9 Wie vor. 10 HHStA W Abt. 520 / ESW NB Nr. Wanfried II 44153. 11 Vgl. Zimmer 1993, insb. die Seiten 125ff. 12 Aly 2005, S. 56; siehe dazu auch den Exkurs. 13 HHStA W, Nr. 15547. 14 Vgl. Aly 2005. 15 Zimmer 1993, S. 266ff. 16 Schmitz 2001, S. 54 u. 57. 17 HHStA W, Abt. 518 Nr. 15548. 18 Vgl. dazu die Dokumente in A. Zimmer 1993, S. 204 –212. 19 Klüger 1994. 20 Gilbert 2007. 21 Benz, W. 2001; Gottwaldt, A. u. Schulle, D. 2005; Gilbert, M. 2007. 22 Zimmer 1993, S. 142ff. 23 HHStA W, Nr. 15547–15549, ca. 200 S. 24 BGBl. I, S. 559. 25 Zur Geschichte des Kreisrabbiners Dr. Heinrich Zwi Baßfreund, siehe ausführlich Zimmer 1993, S. 251ff. 26 www.sonett-archiv.de/sonett-forum 48 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Literaturangaben Jahren 1941 und 1942. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. Bd. 47, 1963 Adler, Hans G . (1960): Theresienstadt 1941–1945. – Bd. 85, 2000. Tübingen. Kleinberger, Margot (2011): Transportnummer Adler, Hans G. (1974): Der verwaltete Mensch. VIII/1387 hat überlebt. München: Piper. Studien zur Deportation der Juden aus Deutsch- Klüger, Ruth (1994): Weiter leben. Eine Jugend. land. Tübingen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Aly, Götz (2005): Hitlers Volksstaat – Raub, Ras - Longerich, Peter (1998): Eine Gesamtdarstellung senkrieg und nationaler Sozialismus. Frank - der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Mün- furt/M.: S. Fischer. chen: Piper. Aly, Götz (2011): Auf dem Boden des Neids. Schmitz, Lena (2001): Die letzten Kriegstage in Essay. In: Der Spiegel, Nr. 31 v .1.8.2011, S.126ff. Eschwege. In: Eschweger Geschichtsblätter Heft Aly, Götz (2011): Warum die Deutschen? Warum 12/2001, S .54 –68. Geschichtsverein Eschwege. die Juden? – Gleichheit, Neid und Rassenhass. Selbstverlag. Frankfurt/M.: Fischer. Sparkasse Werra-Meißner (Hrsg.) (1994): Über Angress, Werner T. (1985): Generation zwischen Stock und Stein. Von Fuhrleuten, Stock- und Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Drit - Peitschenmachern im Land der Werra. In: Ge - ten Reich. In: Hamburger Beiträge zur Sozial- schäftsbericht 1993. Eschwege. und Zeitgeschichte. Hamburg: Christians. Zimmer, Anna Maria (1993): Juden in Eschwege. Barkai, Avraham (1988): Vom Boykott zur „Entju - Entwicklung und Zerstörung der jüdischen Ge - dung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der meinde – von den Anfängen bis zur Gegenwart. Juden im Dritten Reich 1933–1945. Frankfurt Eschwege: Selbstverlag Dr. M. Zimmer. a. Main: Fischer. Benz, Wolfgang (1995): Der Holocaust. Mün - chen: C. H. Beck. Burk, Henning und Wagner, Dietrich (2002): Der große Raub. Wie in Hessen die Juden ausge - plündert wurden. Ein Film des Hessischen Rundfunks zur Ausstellung „Legalisierter Raub“. Frankfurt: Hessen Fernsehen – hrMedia. Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherr - schaft in Deutschland von 1933 bis 1945. www.Bundesarchiv.de Gilbert, Martin (2007): Sie waren die Boys. Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Über - lebenden. Berlin: Verlag für Berlin-Branden - burg. Grams, Damian und Thom, Micha (2009): Wir haben sie nie wieder gesehen. Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Schwalbach/Ts.: Wochenschau. Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Jobst Siedler. Gottwaldt, Alfred und Schulle, Diana (2005): Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Wiesbaden: Marix Verlag. Kingcreen, Monica (2000): Die gewaltsame Ver - schleppung der Juden aus den Dörfern und Städten des Regierungsbezirks Kassel in den 49

Anwälte ohne Recht Gedichte haben seine alte Heimat an der Werra zum Thema. Eine Bilderfolge über die sieben Werke der Barmherzigkeit, zu der Bo - Zum Schicksal jüdischer denheim Text und Musik geschrieben hatte, Juristen in und aus dem kam wiederholt zur Aufführung, u. a. auch in Werraland Allendorf. Darüber hinaus genoss er in der Öffentlichkeit hohes Ansehen durch seine Vereinsarbeit und Vortragstätigkeit. Nach der von York-Egbert König und Karl Kollmann Machtergreifung der Nationalsozialisten zog er sich ins Privatleben zurück und verließ das Haus kaum noch. Obwohl er schon in seiner Jugendzeit Protestant geworden war, Die Überschrift greift den Titel einer Wan - wurde ihm 1941 die Aufnahme ins ev. Kran - derausstellung der Bundesrechtsanwaltskam - kenhaus, wo er sich nach einem häuslichen mer in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sturz behandeln lassen wollte, mit dem Hin - Juristentag auf, die zwischen 2000 und 2010 weis auf seine jüdische Herkunft verweigert. in verschiedenen Städten des In- und Aus - Schließlich fand er im katholischen Kranken - lands zu sehen war. Sie vermittelte Einblicke haus Hilfe, aber er war bereits so entkräftet, in das Schicksal deutscher Juristen nach dass er kurz darauf starb. Eine Beerdigung 1933 und kennzeichnete die Situation der auf dem städtischen Friedhof wurde von den Betroffenen, die zu Menschen ohne bürgerli - Behörden ebenfalls abgelehnt. Erst nach dem che Rechte wurden, nur weil sie Juden oder Ende der NS-Herrschaft konnte seine Urne jüdischer Herkunft waren. von Bielefeld-Sennestadt nach Melle ins Fa - Bei der Betrachtung der die Ausstellung miliengrab seiner Frau Elisabeth geb. Starcke begleitenden oder an den jeweiligen Veran - (1883–1969) überführt werden. staltungsorten zusätzlich erarbeiteten Litera - Dr .jur. Feodor Cah n(1886–1965) tur fiel auf, dass unter den ausgegrenzten, stammte aus Eschwege. Mit den Eltern Simon verfolgten und ermordeten Rechtsanwälten und Rosalie geb. Fleck und dem jüngeren und Richtern auch einige Erwähnung fanden Bruder Friedrich verzog er im Jahre 1900 oder Würdigung erfuhren, die ihre Wurzeln nach . Nach dem Jurastudium ver - im Werraland hatten oder dort tätig waren. brachte er seine Referendarzeit in Köln, legte Zusätzliche Details ergaben sich im Zu - in Berlin sein Assessorenexamen ab und pro - sammenhang mit der geplanten Herausgabe movierte in Jena. Aus dem Weltkrieg kehrte eines Memorialbuches für die ehemaligen er als Unteroffizier zurück und war zunächst jüdischen Eschweger Mitbürger. als Hilfsrichter in Bonn tätig, bevor er 1925 als Landgerichtsrat nach Krefeld berufen Georg Bodenheim (1867–1941) wurde in wurde. 1933 wurde er zwangsweise in den Allendorf an der Werra geboren, wo Vater Ruhestand versetzt und kehrte nach Bonn und Großvater eine expandierende Papierfa - zurück. In den Jahren 1943 und 1944 musste brikation betrieben. Die Familie stammte ur - er Zwangsarbeit bei der städtischen Müllab - sprünglich aus Abterode. Nach dem Jurastu - fuhr leisten. Es folgten Verhaftung und Ein - dium in Göttingen und München trat Boden - weisung in ein Lager in Thüringen, aus dem heim in den preußischen Justizdienst ein und er jedoch fliehen konnte. Bis zum Ende des war dann viele Jahre als Amtsrichter und Krieges überlebte er im Verborgenen. 1946 Rechtsanwalt in Melle bei Osnabrück tätig. kehrte er an den Rhein zurück, wurde wie - Nebenbei war die Schriftstellerei seine Lei - der in den Justizdienst eingestellt und zum denschaft, besonders die Lyrik. Viele seiner Landgerichtsrat in Bonn ernannt, 1947 dann 50 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 zum Oberlandesgerichtsrat in Köln. Von Eschweger Tuchfabrikanten Otto K. und des - 1950 bis zum Eintritt in den Ruhestand im sen Ehefrau Jenny geb. Schuster, war eben - Jahre 1954 war er Landgerichtsdirektor in falls als Rechtsanwalt tätig und wanderte Bonn. nach Israel aus. Dr. jur. Friedrich Cahn (1889–1965), Bru - Dr. jur. Wilhelm Kahn (1903–1933), ein der des vorigen, war zuletzt als Oberregie - Sohn des Eschweger Kaufmanns Simon rungsrat in Berlin tätig. Er konnte nach Eng - Kahn, meldete sich, nachdem er in Gießen land emigrieren und heiratete 1943 in Lon - und Freiburg studiert hatte, im Frühjahr 1926 don Friederike Kuhn († 1956). Nach dem nach Kassel ab. Wenige Monate später ver - Ende der NS-Herrschaft kehrte er wieder ließ er die Stadt schon wieder mit zunächst nach Deutschland zurück und starb in Bonn. unbekanntem Ziel. Später unterhielt er je - Dr. jur. Siegmund Doernberg (1880–?) doch eine Kanzlei in Berlin und starb dort als war ein Sohn des Eschweger Kaufmanns 30-jähriger am 30.9.1933 an den Folgen Bernhard Doernberg und dessen Ehefrau Ber - eines Unglücksfalles. Dazu berichtet eine tha geb. Eichenberg. Er hatte in Rostock pro - Notiz aus der Friedhofsverwaltung von Ber - moviert und wurde 1906 als Rechtsanwalt lin-Weißensee von einem „Sturz aus dem beim Amtsgericht Eschwege zugelassen. Fenster morgens um vier Uhr“. Unter den 1920 wurde er zum Notar bestellt und ab damals gegebenen Umständen muss man 1928 als Rechtsanwalt auch am Landgericht wohl von einem Freitod ausgehen. Kahns Kassel zugelassen. Seine Kanzlei befand sich Leiche wurde nach Eschwege überführt und zuletzt in der Reichensächser Straße 6. 1938 am 3. Oktober auf dem jüdischen Friedhof musste er seine Tätigkeit aufgeben und beigesetzt, von seinen Eltern als „unser Stolz, wurde einige Wochen in Buchenwald inter - Stütze und schönste Hoffnung“ beklagt. Die niert. Im Mai 1939 folgten er und seine Ehe - Mutter Clara Kahn geb. Silberberg starb zwei frau Käthe geb. Kahn ( *1890) den beiden Jahre später nach schwerer Krankheit in Göt - Söhnen Karl Justus ( *1914) und Ernst Walter tingen, der Vater wurde nach Theresienstadt (*1919) nach Chile. deportiert, nur seine Schwester Irmgard Dr. jur. Erich Heilbrunn (1902–?) wurde (1916 –2003) konnte durch Emigration über - in Kassel geboren. Sein Vater Isaak stammte leben. aus Reichensachsen, seine Mutter Magda Siegmund Kaiser (1882–1942), ein Sohn geb. Rosenthal aus Ostpreußen. Erich hatte des Eschweger Tuchfabrikanten Moritz K. in Göttingen promoviert und wurde 1929 und dessen Ehefrau Jettchen geb. Heilbrunn, nach einem Zwischenaufenthalt in Weh - war zuletzt als Rechtsanwalt in Frankfurt am lau/Ostpreußen beim Amtsgericht Eschwege Main tätig. Mit seiner nichtjüdischen Ehefrau zugelassen, wenig später auch beim Landge - Dora Martha geb. Kühn hatte er 3 Kinder. richt Kassel. Er übte seine Tätigkeit in der 1942 wurde er nach Auschwitz deportiert Bahnhofstraße 28a bzw. in der Reichensäch - und dort ermordet. ser Straße 6 aus. Im Frühjahr 1933 wurde Dr. jur. Ludwig Katzenstein (1883–1942) seine Zulassung wegen nicht arischer Ab - wurde in Eschwege als Sohn des Kaufmanns stammung widerrufen. 1934 ging Heilbrunn Gustav K. und dessen Ehefrau Julie geb. Lö - wieder nach Kassel und von dort nach wenstein-Kaiser geboren. Ab 1920 war er in Sondershausen, wo er 1935 die aus Düssel - Dortmund ansässig und als Oberlandesge - dorf stammende Elvira Carola Cohn ( *1903) richtsrat tätig. Nach seiner Entlassung aus heiratete. Ihnen soll die Flucht nach England dem Justizdienst ist Köln als nächster Aufent - gelungen sein, näheres ist jedoch nicht be - haltsort bekannt. 1941 wurde er mit Frau kannt. und Tochter ins Ghetto Lodz deportiert, wo Isfried Heinz Kahn (1908 –?), Sohn des er 1942 den Tod fand. Seine Frau Anna geb. York-Egbert König und Karl Kollmann: Zum Schicksal jüdischer Juristen in und aus dem Werratal 51

Teutsch ( *1893) und beider Tochter Lore erfolgte die Bestellung zum Notar. Als aner - (*1922) gelten seither als verschollen und kannter Frontkämpfer durfte er nach 1933 wurden amtlich für tot erklärt. noch weiter praktizieren, bis man ihn 1937 Dr. jur. Martin Katzenstein (1885–1948), mit einem Scheinverfahren wegen Parteiver - Sohn des Färbers und Kaufmanns Saroni K. rats überzog. Er wurde zu 8 Monaten Ge - und dessen Frau Ida geb. Plaut aus Esch - fängnis verurteilt. Die Strafe wurde später er - wege, meldete sich 1907 nach Volkmarsen mäßigt. Zu einer Verbüßung kam es aber ab, 1908 finden wir ihn in Kassel wieder. nicht mehr, da Kugelmann Deutschland in Hier war er mit der ev. Verkäuferin Ella Stöbe Richtung Palästina verließ. In Tel Aviv wurde aus Leipzig befreundet und hatte mit ihr den er 1940 nach einer Sprach- und juristischen Sohn Martin (1908–1962). Nach einem Prüfung als Anwalt und Notar zugelassen. Zwischenspiel in Eschwege ging er 1912 1966 beantragte er seine Wiederzulassung in nach Hagen, später war er in Berlin noch bis Deutschland und unterhielt nun eine zusätz - 1938 als Anwalt und Notar tätig. Im Juli liche Kanzlei in Kassel, die überwiegend 1939 wanderte er mit seiner Frau Anna Char - Wiedergutmachungsangelegenheiten bear - lotte geb. Boehm ( *1893), der Tochter eines beitete. Bis 1973 war er außerdem beim Justizrats, die er 1926 geheiratet hatte, und Oberlandesgericht Frankfurt als Rechtsan - der gemeinsamen Tochter Anna ( *1922) walt zugelassen. nach Chile aus, wo er 1948 starb. Viktor Levi (1881–1943), Sohn des Esch - Dr. jur. Robert Katzenstein (1886 –?) weger Fabrikanten Wolf Levi und der Caro - stammte ebenfalls aus Eschwege und war ein line geb. Oppenheim, war seit 1910 als Sohn des Bankiers Michaelis K. und dessen Rechtsanwalt in Eschwege zugelassen, ab Ehefrau Emilie geb .Drexler in der Forstgass e17 . 1923 auch als Notar, 1929 erfolgte die Zu - Seine anwaltliche Tätigkeit übte er ab 1913 lassung als Rechtsanwalt beim Landgericht in Duisburg aus. Dort war er Vorstandsmit - Kassel. Er unterhielt seine Kanzlei in Esch - glied des Anwaltsvereins, Präsident einer wege zuletzt An den Anlagen 2. 1933 wurde Freimaurerloge und politisch bei der DDP er kurzfristig in Schutzhaft genommen. Das engagiert. 1938 wurde er verhaftet und ins Amt des Notars musste er aufgeben, als KZ nach Dachau gebracht. Nach seiner Ent - Rechtsanwalt durfte er noch bis 1938 prakti - lassung durfte er als Rechtsberater für Juden zieren. 1940 wurden er, seine Frau Margot tätig sein. 1939 wanderte er mit seiner Frau geb. Lindenfeld (1890–1943) und die ge - Helga geb. Kauders ( *1899) und dem jünge - meinsame Tochter Gisela (1925–1943) in ren Sohn Edgar ( *1927) nach Honduras aus, das Haus Forstgasse 17 und 1942 in das wo er 1971 noch lebte. Der ältere Sohn Kurt Haus Schulstraße 3 einquartiert. Im Septem - (*1924) war kurz vorher nach England aus - ber 1942 wurden sie nach Theresienstadt de - gereist. portiert und dort ein Jahr später ermordet. Dr .jur .Herman n Kugelmann (1891–1975), Dr .jur. Siegmund Löbenstein (1883–1959) Kaufmannssohn aus Witzenhausen, hatte wurde in Datterode geboren. Ab 1911 war er nach dem Abitur die Rechte in Genf, Mün - als Anwalt und Notar in Herne tätig, wo er chen, Berlin und Marburg studiert. Kurz sich auch kommunalpolitisch betätigte und nach Beginn seiner praktischen Ausbildung 1928/29 für die SPD Mitglied der Stadtve - in Kassel und Witzenhausen meldete er sich rordnetenversammlung war. 1933 verlor er jedoch freiwillig zum Heeresdienst. Nach seine Zulassung und war für einige Jahre in dem Krieg konnte er die Ausbildung been - Bonn ansässig, bevor er in die USA emi - den und promovierte außerdem 1921 in grierte. Nach dem Krieg kehrte er an den Marburg. Noch im selben Jahr erhielt er die Rhein zurück und erhielt eine Anstellung Zulassung zum Rechtsanwalt in Kassel, 1927 beim „Jewish Trust“, der erbloses Vermögen 52 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 jüdischer Bürger und früherer jüdischer Ge - katholischen Frau Toni geb. Martin ( *1893) meinden treuhänderisch verwaltete. Löben - und den Kindern Hans-Rudolf ( *1923) und stein war mit Louise Karoline geb. Strobel Gabriele ( *1925) wanderte er dann auch tat - (*1899) verheiratet, mit ihr hatte er die Töch - sächlich im Oktober 1936 nach New York ter Margot ( *1922) und Helga ( *1927). aus. Dr .jur. Albert Narewczewitz (1894– Dr. jur. Harry Stern (1894–1968) stammte 1943) war der jüngste von drei Söhnen des aus Reichensachsen, wo sein Vater Isaac St. Eschweger Kaufmanns Nathan N. und des - einen Viehhandel betrieb. Im Jahre 1904 zog sen 2. Frau Emma geb. Stern. Er studierte die Familie nach Eschwege um. Harry be - Jura in Berlin und Marburg. Nach dem Ersten gann sein Studium noch 1912 in Marburg, Weltkrieg hielt er sich in Kassel und Mainz konnte es aber erst nach der Rückkehr aus auf, später in Berlin, wo er 1929 Edith Kahn dem Ersten Weltkrieg fortsetzen. Als Ge - (*1907) aus Eschwege heiratete. Von dort richtsassessor gelangte er 1923 nach Erfurt. wurden beide 1943 nach Auschwitz depor - Dort betrieb er dann mit dem aus Mühlhau - tiert. Sein Bruder Georg (1891 –?) war in sen gebürtigen Dr. jur. Alex Heilbrun (1879– Eschwege als Zahnarzt tätig, er zog 1936 zu - 1942) eine der maßgebenden Anwaltspraxen nächst nach Frankfurt und emigrierte dann Thüringens. Außerdem saß er der zionisti - nach England, wo er unter dem Namen schen Ortsgruppe vor und war Vorstandsmit - Narev lebte. Sein zweiter Bruder Erich glied der jüdischen Gemeinde Seine Zulas - (1893–1943) war Studienrat an der Frie - sung wurde 1938 aufgehoben, er wurde ver - drich-Wilhelm-Schule und kam in Theresien - haftet und zeitweise in Buchenwald inter - stadt ums Leben, während seine Ehefrau niert. Nach seiner Entlassung konnte er ein Gertrud geb. Dalberg ( *1903) und sein Sohn Visum für Brasilien erhalten und emigrierte Robert ( *1935) den Holocaust überlebten mit seiner Frau Lotte geb. Löwenthal ( *1904) und über die Schweiz nach Neuseeland aus - und der Tochter Hanna ( *1935) im Jahre wandern konnten, wo auch sie ihren Famili - 1939 zunächst nach England. Der Ausbruch ennamen auf Narev verkürzten. des Zweiten Weltkriegs verhinderte jedoch Dr .jur. Otto Peyser (1890 –?) war der die geplante Weiterreise und so blieb die Fa - Sohn des Rechtsanwalts Marcus Peyser und milie auf Dauer in London. dessen Ehefrau Alma geb. Auerbach in Wit - Dr. jur. Herbert Westheim (1887–1932), zenhausen. Nach dem ersten Staatsexamen zweiter Sohn des Kaufmanns Aron W. und nahm er am Ersten Weltkrieg teil und wurde dessen 1. Ehefrau Jenny geb. Oppenheimer, mit dem Eisernen Kreuz II .Klasse ausge - Bruder des Kunstkritikers Paul W. (1886– zeichnet. 1920 promovierte er in Göttingen, 1963), hatte sich nach seinem Studium als legte sein zweites Examen ab und erhielt Jurist in Frankfurt am Main niedergelassen. 1921 die Zulassung als Rechtsanwalt am Nachdem er sich bereits seit 1910 in Anleh - Landgericht Berlin. 1922 zog er nach Esch - nung an seinen Förderer Levi Brinkmann, in wege, wo auch die Eltern bereits seit 1895 dessen Firma auch der Vater beschäftigt war, gelebt hatten, und eröffnete seine Kanzlei An Brinkmann-Westheim genannt hatte, erhielt den Anlagen 6. 1926 wurde er auch zum er 1931 ganz offiziell das Recht, für sich und Notar bestellt. Um ihm die Zulassung entzie - seine Familie den Namen Brinkmann zu füh - hen zu können, wurde er als Kommunist ver - ren. leumdet. Die Vorwürfe erwiesen sich jedoch Dr .jur. Franz Winkler (1910 –2000) wurde als haltlos, sodass er doch noch weiterarbei - in Eschwege als Sohn des Bankiers Louis ten konnte. Nachdem er 1936 erklärt hatte, Winkler und dessen Ehefrau Rosa geb. nach Amerika reisen zu wollen, wurde ihm Schwarzhaupt geboren. 1914 zog die Fami - die Zulassung endgültig entzogen. Mit seiner lie nach München um. Nach seinem Jurastu - York-Egbert König und Karl Kollmann: Zum Schicksal jüdischer Juristen in und aus dem Werratal 53 dium war er in München als Referendar tätig Quellen: und promovierte auch dort; politisch betä - tigte er sich in der DDP und war Mitglied der Thomas Beck, Datterode örtlichen Zionistischen Organisation. 1933 Eckart Schörle, Erfurt trat er als Mitarbeiter in das Bankhaus † Dr. Horst Schütt, Bad Sooden-Allendorf Schwarzhaupt ein. 1937 emigrierte er nach Archiv Stiftung Neue Synagoge Berlin – Palästina und war dort bis zu seiner Auswan - Centrum Judaicum Bezirksämter von Berlin: Mitte, derung nach Amerika im Jahre 1950 Direktor Charlottenburg-Wilmersdorf der Bank. In New York war er Bundesarchiv Berlin ebenfalls in leitenden Stellungen bei Banken Landesarchiv Berlin und Finanzinstituten tätig und darüber hin - Staatsarchiv Leipzig aus langjähriger Vizepräsident des Leo Staatsarchiv Osnabrück Baeck-Instituts. Winkler war verheiratet mit Stadtarchive Bonn, Dortmund, Duisburg, Emden, Marianne geb. Imberg (1914 –2004). Erfurt, Eschwege, Kassel, München, Sonders - hausen Standesamt Kassel Anwalt ohne Recht. Schicksale jüdischer Anwälte in Deutschland nach 1933, hg. v. d. Bundes - rechtsanwaltskammer, Berlin 2007 Hans Bergemann und Simone Ladwig-Winters: Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus, Köln 2004 York-Egbert König / Karl Kollmann: Anwälte ohne Recht. Zum Schicksal jüdischer Juristen in und aus dem Werratal, in: Das Werraland 63, 2011, S.11ff. Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, Berlin ²2007 Klaus Luig: … weil er nicht arischer Abstammung ist. Jüdische Juristen in Köln während der NS- Zeit, hg. v. d. Rechtsanwaltskammer Köln, Köln 2004 Marita Schröder-Teppe: Wenn Unrecht zu Recht wird … Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Kassel nach 1933, hg. v. d. Rechtsanwaltskammer Kas - sel, Gudensberg-Gleichen 2006 54 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

In Vierbach versteckt … Hedwig Schlier und Else Vocke – zwei Frauenschicksale in bewegter Zeit von Karl Kollmann und York-Egbert König

Als im Sommer 2010 eine Anfrage an das Standesamt der Gemeinde Wehretal und an das Stadtarchiv Eschwege gerichtet wurde, in der nähere Angaben zu einem Vorgang ge - sucht wurden, der sich in Vierbach während des 2. Weltkriegs ereignet haben sollte, war man in beiden Behörden zunächst skeptisch, ob überhaupt dieser Ort Vierbach, heute ein Ortsteil von Wehretal, gemeint sein könnte.

Hedwig Schlier mit ihren Söhnen, um 1935 Karl Kollmann und York-Egbert König: Hedwig Schlier und Else Vocke – zwei Frauenschicksale in bewegter Zeit 55

dann geschah, berichtet ihre Nichte Ingeborg Lichtblau: „Eines Tages im Sommer des Jahres 1944 klopfte es dort an ihre Türe und eine schutz - lose, verfolgte Jüdin bat um Aufnahme. Es war die Frau eines mit der Familie befreun - deten Kunstprofessors aus Kassel, Else Vocke. Diese war seit dem Tod ihres trotz aller Ras - sengesetze standhaft zu ihr stehenden Ehe - mannes vogelfrei geworden als Volljüdin. Hedwig Schlier nahm sie zu sich auf. Da Frau Vocke in ihren Ängsten und Beklem - Hauptstraße Nr. 28 in Vierbach, 2011 mungen es im Haus nicht aushielt, konnte Frau Schlier nicht verhindern, dass diese Die Geschichte von einer Pfarrersfrau, die in auch am hellen Tage auf die Straße lief. jenem kleinen Dorf in den letzten Kriegsjah - Leute aus dem Dorfe, die sie gesehen hatten, ren einer jüdischen Frau Obdach auf ihrem verlangten vom damaligen Bürgermeister Gut gewährt haben sollte, wollte so gar nicht von Vierbach, dass man das zur Anzeige dorthin passen; schließlich gab es dort bringen müsse. Wörtlich erwiderte der Bür - weder einen Gutshof noch ein Pfarrhaus. germeister: ‚Die Frau Pfarrer wird wissen, Und dass in einer so kleinen Dorfgemein - was sie tut, das geht uns nichts an.‘ Sie schaft die Anwesenheit einer fremden Jüdin wurde nicht angezeigt! Bis zum Kriegsende, unerkannt geblieben sein sollte, war kaum dem Ende der Naziherrschaft, haben die bei - glaubhaft. Die daraufhin angestellten Re - den Frauen angstvolle Tage und Nächte ver - cherchen im Stadtarchiv Eschwege wiesen bracht, immer in der Ungewissheit, doch diese Episode jedoch nicht allein als Tatsa - noch abgeholt zu werden. Obendrein kam che nach, sie deckten vielmehr ein hochinte - eine neue Belastung auf die alleinstehende ressantes Geflecht von Personen und Ereig - Frau Schlier zu. Die Tochter von Else Vocke nissen in bewegter Zeit auf, wie es zunächst kam nach siebenmonatiger Flucht aus Schle - kaum erwartet worden war. 1 sien mit Mann, zwei Kleinkindern und Haus - Die Pfarrersfrau Hedwig Schlier in Leipzig gehilfin nach Vierbach und musste mitbeher - erwarb spätestens 1941, vielleicht schon bergt und versorgt werden für Monate.“ 3 1929 in Vierbach ein Haus von dem Land - Else Vocke zog im April 1946 nach Esch - wirt Jakob Mänz. Es handelte sich um ein wege, Hedwig Schlier im September 1953 Wohnhaus mit Nebengebäude, Hofraum nach Kassel. Das Haus in Vierbach wurde an und Hausgarten sowie einen Stall mit Schup - Wilhelm Schädel verkauft. Damit war die pen, außerdem eine Scheune, die 1929 Episode in dem kleinen Dorf im Vierbachtal durch einen Anbau vergrößert wurde, und zu Ende. Wie verlief aber das Schicksal der ein Backhaus, das im selben Jahr neu aufge - beiden Frauen und ihrer Familien vor und baut wurde. Das Haus trug zu jener Zeit die nach jener Zeit? Die Nachforschungen im Nr. 18, später die Nr. 52 und ist heute die Nr. Stadtarchiv Eschwege erbrachten interes - 28 in der Hauptstraße. 2 Hedwig Schlier hatte sante Zusammenhänge und zeigen – wieder das Anwesen für ihre beiden Söhne erwor - einmal – auf, wie sehr die kurze Epoche des ben; beide fielen allerdings im Weltkrieg. Nationalsozialismus in Deutschland nicht Nachdem auch ihr Ehemann an die Front nur die Weltgeschichte verändert, sondern musste, ging sie von Leipzig nach Vierbach, die Lebensläufe der Menschen nachhaltig wo der Aufenthalt sicherer erschien. Was beeinflusst und geprägt hat. 56 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Hedwig Schlier geborene Dreising wurde tav Adolf Vereins in Leipzig“ übernehmen zu am 30.7.1893 als Tochter des Militärarztes können. Dort begann er seine Tätigkeit am Dr. Ulrich Dreising (geb. 30.3.1854 in Küs - 1.4.1930. Nach vier Jahren wechselte er trin, gest. 28.08.1941 in Kassel) und Selika dann jedoch wieder ins Pfarramt, und zwar geb. Weber (geb. 14.4.1866 in Rio de Ja - ab 1.4.1934 an der reformierten Kirche in neiro, gest. 4.11.1929 in Kassel) in Hünfeld Leipzig. Dort blieb er bis zum 20.2.1953. geboren. Ihr älterer Bruder Wolfgang wurde Schliers Ehefrau verließ Leipzig vermut - am 26.1.1892 in Magdeburg geboren; er fiel lich 1943 wegen der zunehmenden Luftan - als Soldat im 1. Weltkrieg am 24.4.1915. Die griffe und zog auf ihren Hof in Vierbach, jüngere Schwester Mathilde erblickte am während er selbst in der Stadt blieb. Die bei - 3.5.1900 in Mühlhausen/Thüringen das Licht den Söhne wurden an die Front einberufen der Welt. Sie heiratete 1925 in Kassel Max und fielen beide in Rumänien. Das Ehepaar Lange aus Dessau; die Familie zog dann Schlier kam aber nicht gleich nach Kriegs - nach München. 4 Die Familie Dreising zog ende wieder zusammen, sondern es sollte im Jahr 1901 von Mühlhausen nach Kassel, noch acht Jahre dauern. Beide fanden ihre wo sie mehrere Jahre unter verschiedenen neue alte Heimat in Kassel; Richard Heinrich Adressen lebten und dann hier verstarben. Schlier konnte am 14.4.1953 über Berlin Hedwig Dreising heiratete am 19.4.1921 dorthin übersiedeln, seine Ehefrau verließ in Kassel den Pfarrer Richard Heinrich Vierbach am 4.9.1953. Beide lebten in Kas - Schmier, der seinen Namen 1927 in Schlier sel in der Frankfurter Straße 80, bis sie sich ändern ließ. 5 Dieser war am 19.9.1892 als 1967 entschlossen, in ein Altenheim nach Sohn von Valentin Schmier und Minna geb. Homberg/Efze zu gehen. Dort verstarb Ri - Rohde in Verna bei Homberg/Efze geboren chard Heinrich Schlier bereits am 18.2.1968 worden. Nach dem Abitur in Marburg stu - und seine Witwe zog zurück nach Kassel, dierte er Theologie, zunächst ein Semester in wo sie dreimal die Adresse wechselte, bevor Jena, dann in Marburg mit einer Unterbre - sie 1977 in das Pflegeheim „Steigenberger chung 1913 –14 in Berlin. In die Studienzeit Hof“ bei Penzberg ging, in die Nähe ihrer fiel dann der Kriegsdienst im 1. Weltkrieg, zu einzigen Verwandten, ihrer Schwester Ma - dem er am 5.11.1914 eingezogen wurde und thilde und deren Kindern. Dort ist sie am bis zum Kriegsende am 24.12.1918 bleiben 4.11.1982 verstorben. musste. In Flandern erlitt er eine Gasvergif - Auch der Lebenslauf der von Hedwig tung und war zuletzt an der elsässischen Schlier beschützten Jüdin Else Vocke ist sehr Front eingesetzt. Ende 1919 bestand er seine stark von den politischen und gesellschaft - Prüfungen in Marburg, besuchte dann das Predi - lichen Rahmenbedingungen bestimmt wor - gerseminar in Hofgeismar und wurde am 25.3. den. Else Lindemann kam am 11.4.1894 in 1921 in der Martinskirche in Kassel ordiniert. Roslasin im Kreis Lauenburg/Pommern als Seine erste Pfarrstelle hatte er vom Tochter von Moses Lindemann und Amalie 1.4.1921 bis zum 31.8.1922 als Hilfspfarrer geb. Maschke zur Welt. Von ihrer ersten Ehe in Niederaula inne. Es folgten Pfarrstellen in (verh. Baehr) ist wenig bekannt; zwei Töch - Hilmes (1922 –1927) und als 2. Pfarrer in ter wurden in Breslau geboren und trugen Bettenhausen (1927 –1930). In dieser Zeit später den Namen Vocke: Susanna am wurden dem Ehepaar zwei Söhne geboren: 6.5.1911 und Sophie am 4.5.1915. Susanna Werner Richard am 3.2.1922 und Wolfgang zog Ende 1925 als Studentin von Berlin nach am 19.2.1925, beide in Kassel. Am Kassel und meldete sich am 20.5.1931 nach 19.11.1929 bat Schlier um Entlassung aus Breslau ab. Sophie kam zur selben Zeit aus dem Amt, um „die Stelle eines theologischen Berlin nach Kassel zu den Eltern und mel - Berufsarbeiters im Zentralvorstand des Gus - dete sich am 25.3.1934 nach Berlin ab. Über Karl Kollmann und York-Egbert König: Hedwig Schlier und Else Vocke – zwei Frauenschicksale in bewegter Zeit 57 das weitere Schicksal der beiden jungen Hindenburg, gemeinsam mit dem Medailleur Frauen konnte bisher nichts ermittelt wer - Franz Krischker. den. Vermutlich war es Susanna, die nach Vocke schuf zahlreiche Groß- und Klein - mündlicher Auskunft nach siebenmonatiger plastiken sowie Reliefs, z .B. an der Jahrhun - Flucht aus Schlesien mit ihrem Mann, zwei derthalle in Breslau. Der Künstlerbund Kindern und einer Hausgehilfin in Vierbach Schlesien würdigte 1925 seine Universalität um Hilfe anklopfte. Sie wanderte später nach und formulierte: „So wirkt Vocke als ein Amerika aus. wahrer und eigenartiger Meister der besten Else Baehr geb. Lindemann zog am Kunst unserer Zeit, die ihm hoffentlich noch 3.10.1924 von Neidenburg/Ostpreußen manche Gelegenheit zur Entfaltung seines nach Kassel in die Frankfurter Straße 72. Am Könnens bieten möge.“ 6 Vocke gestaltete 4.2.1925 heiratete sie in Kassel den Kunst - den Jobsiade-Brunnen in Bochum und die professor Alfred Vocke, der am selben Tage Fenster im Sitzungssaal des Reichsrates. Von zu ihr zog; bald jedoch (am 27.11.1925) ihm stammen auch die 1924 entstandenen wechselte das Ehepaar zur Albrechtstraße Reliefs am Hotel „Kasseler Hof“ (Café Polter) 47, wohin dann auch die beiden Töchter in Kassel, die sich – nach Beschädigung Elses kamen. Am 3.5.1928 zog die Familie in 1942 und Wiederaufbau in der Knipping- die Augustastraße 15 um. Schule 1987 – nun im Keller der Berufs - Alfred Vocke wurde am 24.4.1886 in schule in der Schillerstraße befinden. Vocke Breslau geboren und erhielt dort seine Aus - arbeitete mit allen Materialien. Das hessi - bildung an der Staatlichen Akademie für sche Landesmuseum Kassel widmete ihm Kunst und Kunstgewerbe. 1923 erhielt er vom 18. April bis 16. Mai 1948 eine Ausstel - eine Professur an der Staatlichen Kunstaka - lung. Es wurden etwa 20 Objekte (Plastiken, demie in Kassel und zog am 31.7.1924 dort - Plaketten und Medaillen) sowie 10 Zeich - hin in die Menzelstraße 15, um dann nach nungen gezeigt; dies war nur ein äußerst ge - seiner Heirat in die Frankfurter Straße 72 zu ringer Restbestand seiner Arbeiten, die fast wechseln. Von Mai bis September 1932 war völlig den Bombenschäden in Breslau und das Ehepaar Vocke auf Reisen. Am Kassel zum Opfer gefallen waren. 7 Einige 1.10.1933 erhielt Professor Alfred Vocke den seiner Werke waren nochmals 1952 in der Ruf an die Vereinigten Staatsschulen für Freie Jubiläums-Ausstellung 175 Jahre Kasseler und Angewandte Kunst in Berlin. 1937 Akademie zu sehen. wurde er wegen seiner jüdischen Ehefrau Else Vocke floh bald nach dem Tod ihres entlassen, arbeitete aber als freier Künstler in Mannes nach Vierbach, wo sie sich sicher Berlin weiter. Nachdem seine Wohnung und wähnte, und bat um Aufnahme im Hause sein Atelier in Berlin durch Bombenschäden von Hedwig Schlier. Über ihren dortigen zerstört worden waren, zog er 1943 wieder Aufenthalt ist oben schon berichtet worden. in seine Geburtsstadt Breslau. Dort fiel er am Am 30.1.1946 meldete sie sich in die nahe 18.2.1944 einem Bombenangriff zum Opfer. Kreisstadt Eschwege ab und bezog dort eine Professor Alfred Vocke ist als Bildhauer Wohnung in der Stresemannstraße (heute: und Medailleur tätig gewesen. Die Münz - Bismarckstraße) 3. Am 25.2.1949 wechselte stätte Berlin prägte zwei Münzen unter sei - sie in die Obere Friedenstraße 20. Else ner Mitwirkung: Vocke war in Eschwege als Treuhänderin für Das Zwei- und Fünfmarkstück von 1934 ehemaliges jüdisches Eigentum zuständig; Potsdamer Garnisonkirche mit Datum 21. das Haus Niederhoner Straße 6 war sogar März 1933. zeitweise direkt in ihrem Besitz. In ihrer Die Zwei- und Fünfmarkstücke von 1935 Funktion als Treuhänderin kümmerte sie sich bis 1939 mit dem Brustbild von Paul von vor allem um die Eigentumsansprüche von 58 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 jüdischen Überlebenden des Holocaust bzw. Anmerkungen von denjenigen, denen die Emigration gelun - gen war. Sie war aber auch für bauliche 1 Für freundliche Unterstützung bei den Recher - Maßnahmen in den Häusern zuständig, die chen zu diesem Beitrag danken wir dem Stadt - oft mit Flüchtlingen bis unters Dach voll be - archiv Kassel, dem Stadtarchiv Hünfeld und legt waren und große bauliche Mängel auf - dem Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am wiesen. Ihr Ansprechpartner bei der Verwal - Main. 2 StA MR, Kataster II, Wipperode Nr. 5, Haus tung war ausgerechnet der ehemalige Bür - Nr. 18. – Dem Ehepaar Wennemuth als heuti - germeister in der NS-Zeit, Dr. Alex Beuer - gen Eigentümern ist für zusätzliche Informatio - mann, nun in seiner Funktion als besoldeter nen herzlich zu danken. Stadtrat. Mancher Aktenvermerk in den Bau - 3 Aus einer Kurzbiografie von Hedwig Schlier, ausichtsakten zeigt, wie Beuermann mit den verfasst von Ingeborg Lichtblau, München. Ansprüchen der ehemaligen Eigentümer 4 Ihre Tochter Ingeborg verh. Lichtblau gab mit oder deren Treuhänderin umging. Es verwun - ihrer Anfrage den Anstoß zu diesem Beitrag. dert kaum, dass Else Vocke mit ihrer Aufgabe 5 Nachfolgende Angaben aus der Personalakte in Eschwege einen schweren Stand hatte und im Archiv der ev. Landeskirche von Kurhessen den Anforderungen nicht immer gewachsen und Waldeck. 6 war. Künstlerbund Schlesien, Bd. 1, Schweidnitz 1925, S. 11 –14 (Beitrag von Max Berg). Nach einer kurzen Abmeldung nach Ber - 7 Katalog in der Hess. Landesbibliothek Kassel, lin am 29.3.1956 kehrte Else Vocke am 8° Hass. lit. 52. 3.11.1956 nach Eschwege zurück, diesmal 8 Weilheimer Tageblatt, 11./12. Juli 1981. in die Obere Friedenstraße 10. Bald jedoch ging sie wieder nach Berlin-Grunewald, Ilmenaustraße 9. Sie verstarb jedoch nicht dort, sondern in Frankfurt am Main, und zwar am 2.5.1962 in einem Rettungswagen auf der Fahrt von der Loreleistraße 10 in das städtische Krankenhaus in der Gotenstraß e6. Ihre Tochter, die nach Amerika ausgewan - dert war, erinnerte sich an die Wohltäterin in Vierbach und veranlasste aus der Ferne deren späte Ehrung. Im Juli 1981, kurz vor ihrem 88. Geburtstag, erhielt Hedwig Schlier im Altenheim „Steigenberger Hof“ bei Penz - berg von Landrat Manfred Blaschke das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. 8 So erfuhr ihr wagemutiger Einsatz für einen von Verfolgung bedrohten Mitmenschen eine zwar späte, aber auf jeden Fall anerken - nende Ehrung. Auch in Vierbach selbst ist das Schicksal der beiden Frauen noch nicht ganz vergessen. Einige ältere Einwohner er - innern sich noch daran, dass Else Vocke und ihr Schutzengel nicht denunziert wurden und das kleine Dorf dies Geheimnis nicht an die Schergen des Systems preisgab. 59

Vom Untergang bürger - licher Lebenswelten – Der Kaufhausgründer Lehmann Löbenstein aus Datterode und seine Kinder von Christina Prauss

Haus der Familie Löbenstein Nr. 82 Datterode Die Wurzeln der Familie Löbenstein rei - chen im nordhessischen Datterode bei Esch - Herz Löbenstein starb 1879, Esther 1887; sie wege, im heutigen Werra-Meißner-Kreis, bis liegen auf dem Alten Friedhof in Sontra be - ins Jahr 1683 zurück, als Meyer Calman, aus graben. 1 Ihr Sohn Lehmann Löbenstein hatte Gerbershausen im Eichsfeld zugezogen, erst - in Hildesheim die Kinder Dora, Klara, Hans, mals Schutzgeld bezahlte und sich mit seiner Frieda und Erna, deren Lebensgeschichte Familie dort ansiedelte, die seit dem Anfang hier skizziert werden soll. des 19. Jahrhunderts den Namen Löbenstein Vor einigen Jahren fand man im Haus trägt. Baruch, 1720 geboren, hatte einen Nr . 82 in Datterode eine Laubhüttentür der Sohn Meier Baruch Löbenstein, der mit sei - Familie Löbenstein, die ihre traditionelle Le - ner Frau Jettchen den Sohn Kalman Löben - bensweise und Frömmigkeit bezeugt, denn stein bekam. Kalman und seine Frau Taub - das Laubhüttenfest, das über eine Woche chen Naftali waren die Eltern von Herz Lö - lang in einer Laube im Freien gefeiert wird, benstein, der 1812 in Datterode geboren erinnert an den Auszug aus Ägypten, bei dem wurde. Herz Löbenstein war mit der 1817 das Volk Israel auf dem Weg in das verhei - geborenen Esther Kugelmann verheiratet und ßene Land vierzig Jahre ohne Obdach war. der Vater von Lehmann Löbenstein, der am Die Laubhüttentür gelangte Ende der 27. März 1847 in Datterode zur Welt kam. 1990-er Jahre ins Israel Museum in Jerusalem und wurde dort wissenschaftlich ausgewer - tet; heute befindet sie sich im Besitz eines Sammlers, der sie 2006 bei Sotheby’s in Tel Aviv ersteigerte. 2 Die Löbensteins hatten sich in der Region, in der nahegelegenen Stadt Eschwege, in Sontra, Rotenburg und Fulda weit verzweigt und waren mit den jüdischen Familien Op - penheim, Wallach, Heilbrunn, Goldschmidt, Pfifferling, Levy und vielen anderen ver - wandt und verschwägert. Biblische Leit - namen der Löbenstein waren Naphtali, in der sinngemäßen Übertragung „Herz“, so Haus der Familie Löbenstein Nr. 82 wie Baruch nach dem Urvater der Familie Datterode Löbenstein in Datterode. Sie lebte mit den 60 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Magazin und Geschäftshaus Löbenstein, Datterode mit Firmenschild

Magazin und Geschäftshaus Löbenstein, Datterode mit Schlitten

Schon früh hatten die Löbensteins aus Datterode Akademiker hervorgebracht, so den Arzt Dr. Arthur Löbenstein 4 und Dr. Fritz Laubhüttentür Familie Löbenstein, Löbenstein, den 1888 geborenen Sohn von Datterode Lehmanns Bruder Baruch. Bekannt ist auch Gad Loebenstein, Enkel Baruchs und in Ber - christlichen Nachbarn bis in die 1930-er lin geborener Sohn des Kaufmanns Moritz, Jahre in nachbarschaftlichen Beziehungen. der sich als Wissenschaftler auf dem Gebiet Ihre Kinder gingen in die Dorfschule, sie des Pflanzenschutzes und der Pflanzenpa - stellten sogar Bürgervorsteher und einige von thologie einen Namen machte und als Pro - ihnen fielen als Patrioten im Ersten Welt - fessor an der Hebräischen Universität von Je - krieg. Sie waren in der Gegend überwiegend rusalem lehrte. 5 Während der Shoa wurden als Kaufleute, einige als Viehhändler tätig. 3 zahlreiche Mitglieder der Familie ermordet Das Lagerhaus der Familie Baruch Löben - oder in alle Welt zerstreut, 6 unter ihnen auch stein in Datterode ist noch auf einem alten Dr. jur. Siegmund Löbenstein aus Datterode, Foto zu sehen; es zeigt Baruch, den jüngeren der 1933 seine Zulassung verlor, nach den Bruder von Lehmann Löbenstein, mit seinem USA emigrierte und nach dem Zweiten Welt - Nachbarn Wilhelm Mark um 1912. krieg für den Jewish Trust erbloses Vermögen Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 61 von Juden treuhänderisch verwaltete. 7 Joe Zum großen Teil schneiderten Frauen da - Loebenstein, der ebenfalls seine Wurzeln in mals ihre aufwändig verarbeiteten Kleider Datterode hat, besuchte unlängst das Dorf noch selbst, ebenso nähten sie Wäsche, die seiner Väter. Er war viermal in Folge Bürger - sie in Handarbeit kostbar bestickten. Die Zu - meister von Hackney, einem Stadtteil Lon - taten dafür, wie Stoffe, Garne, Spitzen, Na - dons, und Sprecher der Union of Orthodox deln, Knöpfe und Bänder konnten sie in den Hebrew Congregations. 8 Immer schon waren Manufakturhandlungen kaufen, auch Um - Töchter und Söhne der Familie durch Heirat schlagtücher, Strümpfe, Mützen, Hand - fortgezogen, brachen nach den Vereinigten schuhe, Gürtel, Hosenträger, Schirme und all Staaten auf oder sie versuchten an anderen, das, was sie selbst nur schwer herstellen weiter entfernten Orten ihr Glück. konnten. Eine Spezialabteilung der Firma für So hatte Lehmann Löbenstein sein Hei - Heimtextilien kam in dem Haus Friesen - matdorf Datterode noch jung verlassen. straße 4 unter: Dort wurden Teppiche, Gar - Wohl nach seinen kaufmännischen Lehrjah - dinen, Gobelins und Möbelstoffe angeboten ren zog der 22-jährige 1869 von Lüneburg – Velours und Moquette – so wie Wachs - nach Hildesheim und gründete dort fünf tuch, Linoleum und vieles mehr. 12 Sieht man Jahre später zusammen mit seinem Kompag - auf alten Bildern des späten 19. Jahrhunderts non Emil Freudenthal 1874 das Textilhaus die textile Überfrachtung bürgerlicher Wohn - Löbenstein & Freudenthal in der Altpetri - zimmer, die mehrfach übereinander platzier - straße Nr. 9. Familie Freudenthal besaß eine ten Tischdecken, gehäkelten Schondeckchen Baumwollweberei in Hildesheim und produ - auf Sesseln und Chaiselongues, Kissen und zierte Erzeugnisse aus Halbleinen. Die Altpe - schwere Vorhänge mit Troddeln und Quas - tristraße und die Friesenstraße mit Friesen - ten, vor allem aber die reiche Ausstattung stieg gehörten zum alten Jüdischen Viertel mit orientalischen Teppichen, lässt sich er - Hildesheims, ganz in der Nähe der Jüdi - messen, wie bedeutsam Heimtextilien in der schen Schule und der repräsentativen, schö - Wilhelminischen Zeit gewesen sind. Der nen Synagoge am Lappenberg, die in der hohe Bedarf an diesen Dingen in den wach - Mitte des 19. Jahrhunderts mit großzügiger senden bürgerlichen, darunter auch gutsitu - Unterstützung zahlreicher, auch nichtjüdi - ierten Kreisen, konnte von Firmen wie Lö - scher Spender erbaut werden konnte. Der benstein & Freudenthal befriedigt werden. Gemeindevorsteher Freudenthal hatte an der Auch in Göttingen wurde in diesen Jahren Initiative, dieses Gebäude zu errichten, eine Filiale eröffnet. Für Käufer und Händler einen entscheidenden Anteil. 9 Auch der gleichermaßen vorteilhaft war auch eine In - „Kaufmann L. Loebenstein“ war in der jüdi - novation im Zahlungswesen, für dessen Ein - schen Gemeinschaft aktiv und ein angesehe - führung das Modehaus 1882 mit einer Ge - ner Mann, denn 1883 wählte sie ihn in den schäftsanzeige warb: „Baarzahlung“ sollte „engeren Ausschuß“ in das ehrenvolle Amt das Verschicken von Rechnungen und lei - des Vorstandes der Synagogen-Gemeinde. 10 dige Mahnverfahren ersetzen, so könnten die Dem erfolgreichen Unternehmen Löbenstein Preise günstiger gestaltet werden. 13 & Freudenthal, das bald einen großen Kun - Ganz neu brachte das Haus erstmals denkreis bediente, waren die Verkaufsräume „Herren-Confection“ nach Hildesheim, die zu klein geworden, und die „Manufactur- etwa zeitgleich mit der Reichsgründung, seit und Modewaaren-Handlung“ bezog schon den 1870-er Jahren, industriell produziert 1882 in der Altpetristraße Nr. 1, an der Ecke wurde und erschwinglicher war als traditio - zur Schuhstraße, ein neu errichtetes Ge - nell maßgeschneiderte Kleidung. Kunden schäftshaus mit wesentlich erweiterter aus weniger wohlhabenden Schichten wie Verkaufs fläche. 11 die Landbevölkerung und Arbeiter konnten 62 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 nun ihre Garderobe fertig kaufen und sich hendes, von Bäumen umstelltes Haus mit für Sonntage und feierliche Anlässe für einen einem großen Garten, zur Straßenseite ein Monatslohn Anzüge leisten, die wie beim Säulenportikus mit Balkon. Es stand direkt Schneider handgefertigt, ebenfalls ein Leben neben dem Backstein-Prachtbau der Städti - lang hielten. Konfektion wurde allmählich schen Höheren Töchterschule und in der billiger und unter anderem wegen eines Nähe der Sedanstraße, die mit seinen grün - standardisierten Größensystems immer bes - derzeitlichen Villen eine der besten Adressen ser. In der Zwischenkriegszeit kamen Konsu - Hildesheims war. Auf dem Nachbargrund - menten aus der Mittelschicht, Angestellte stück Goslarsche Straße Nr. 65, das Eigen - und Beamte dazu, die wenig verdienten, tum des Preußischen Staates war, wurde spä - trotzdem aber repräsentativ gekleidet sein ter sehr dicht am Wohnhaus Löbenstein ein mussten. Der Textilhandel profitierte davon, Erweiterungsbau der Städtischen Höheren indem er auf jene gesellschaftlichen Ent - Töchterschule errichtet, der die schöne Bau - wicklungen reagierte und industrielle Fort - situation des Hauses ästhetisch jedoch stark schritte zu nutzen verstand. 14 beeinträchtigte. Beide Etagen wurden bis in Geht man heute durch die Altpetristraße, die 1920-er Jahre allein von der Familie be - so vermutet man nicht mehr, dass sie und die wohnt. 16 Friesenstraße als Verlängerung des damals viel engeren Hohen Wegs in der Kaiserzeit zu den pulsierenden Geschäftsstraßen gehör - ten. Hier rumpelten pausenlos Straßenbah - nen vorbei an den von jüdischen Familien geführten Textilgeschäften Jos. Jacobson in der Friesenstraße 20, an Meyerhof am Platze , heute Pelizaeus-Platz, und vorbei an der Alt - petristraße Nr. 7, an dem Wäschegeschäft der Familie Pommer, aus der 1889 Erich Pommer, ein Filmproduzent Hollywoods her - vorging. Vorn im Eckhaus, in der Altpetri - straße Nr. 1, kamen noch die ersten vier Kin - Goslarsche Straße Hildesheim, Wohnhaus der Löbenstein zur Welt: Dora am Löbenstein, Städtische Höhere Töchterschule 5. Juni 1880, Klara am 15. Februar 1883, und Elisabethschule (v .h.n.v.) Hans am 28. März 1886 und Frieda am 16. Mai 1888. Lehmann Löbenstein hatte am In einer denkwürdigen Weihnachtsnacht 7. November 1876 Sophie Schönfeld, die brannte 1898 das Geschäftshaus in der Alt - Tochter des Produktenhändlers Samuel petristraße Nr. 1 völlig nieder, aber schon Schönfeld und seiner Frau Frieda geb. Hirsch - um 1900 konnte Löbenstein & Freudenthal feld aus Brandenburg an der Havel nach sei - auf dem Hohen Weg Nr. 14 eines der mod - ner geschäftlichen Etablierung geheiratet. 15 ernsten Textilkaufhäuser in der Region eröff - Familie Löbenstein wohnte in den ersten nen. Jahren in der Altpetristraße Nr. 1 im oberen „Bei dem Neubau des Konfektionshauses Stockwerk, bis sie in ein eigenes Wohnhaus Löbenstein & Freudenthal am Hohen Weg in der Goslarschen Straße Nr. 64 einziehen wird das Vorbild des Pariser Warenhauses konnte, das Lehmann Löbenstein um 1889 überdeutlich. […] Das üppige, neugoti - für Frau und Kinder baute; hier wurde die sche Dekor des Dachgeschosses sollte mit jüngste Tochter Erna am 11. Juni 1893 gebo - der ungewohnten Glasfläche versöhnen. ren. Es war ein elegantes, im Grünen frei ste - Um das Schaufenster vor neugierigen, Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 63

allzu unvorsichtigen Betrachtern zu schüt - manns, indem man wertvolle geschäftliche zen, war ein gusseisernes Gitter vorge - Erfahrungen an möglichst renommierten, er - stellt. […] Das tektonische Gefüge, die folgreich geführten Häusern sammelte. So großflächige Fassadenverkleidung gussei - volontierte Hans Löbenstein in Krefeld, Dort - serner Skelettkonstruktionen, kam bei die - mund, Hamburg, in den Metropolen sen Bauten voll zur Geltung. Das Ergebnis und Berlin und erwarb damit Urbanität und waren lichtdurchflossene, gewaltige Glas - Weltläufigkeit. 18 Nach seiner Rückkehr 1909 flächen. Sie können als Vorläufer der heu - nach Hildesheim brachte er den reich illus - tigen Glasarchitektur bezeichnet werden trierten Firmenkatalog „Perser=Teppiche“ und bezeugen eine vollkommen neue Ma - heraus, der im Stil der Zeit anspruchsvoll ge - staltet und um 1910 in Charlottenburg ge - druckt worden war. Hans Löbenstein war kunstsinnig, gebildet und im Sinne der kunst - gewerblichen Bewegung seiner Zeit den schönen Dingen des Alltags zugetan; er setzte auf die gehobenen Ansprüche des Bür - ger- und Großbürgertums an eine gediegene Wohnkultur. Dem Katalog ist eine vierzehn - seitige Einführung „Zur Geschichte des orientalischen Teppichs“ vorangestellt, die aus dem zuerst 1909 erschienenen und immer noch lieferbaren Standardwerk „Handbuch der orientalischen Teppich - kunde“ schöpft. 19 Die Broschüre bezieht sich ebenso auf die spektakuläre Ausstellung „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“ in München 1910, die auf die Faszination des Orients im europäischen Kulturraum traf und im Geschmack dieser Zeit, in der präch - tigen textilen Gestaltung bürgerlichen Wohn - raums, ihren Ausdruck fand. Nur wenige Gebiete kunstgewerblichen Geschäftshaus Löbenstein & Freudenthal, Schaffens können sich einer soweit in die Hoher Weg 14 Vorzeit zurückreichenden Geschichte berüh - men, wie dasjenige der orientalischen Tep - terialästhetik.“ 17 pich-Erzeugung. Und zwar gilt dies nicht Der Aufstieg von Lehmann Löbenstein aus bloß von den kleinen Teppichen, die noch kleinen dörflichen Verhältnissen und sein mit heute dem besonderen Bedürfnisse der No - Kreativität, Gespür für den Markt und kauf - maden dienen, sondern auch jene Klasse männischem Talent erworbener Wohlstand von Teppichen, die durch gesteigerte Grö - sollte nach der Tradition selbstverständlich ßen, Feinheit und künstlerisch gehaltene Ver - von seinem einzigen Sohn Hans, dem Hoff - zierungen dem verfeinerten Luxus einer nungsträger der Familie und künftigem höher organisierten Gesellschaftsklasse zu Nachfolger in der Firma, gehalten und ver - entsprechen geeignet sind. mehrt werden. Wirtschaftswissenschaft war Beschrieben werden Herstellungstechni - noch kein Studienfach an Universitäten, ken, Herkunftsregionen, Material und Pflege, stattdessen lernte man den Beruf des Kauf - auch werden die Schwierigkeiten genannt, 64 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Katalog Löbenstein & Freudenthal „Perser=Tep - Katalog Löbenstein & Freudenthal „Perser=Tep - piche“ piche“ die Einkauf und Transport der Teppiche für hier nicht weiter erörtern.“ die Kaufleute mit sich brachten, die diese an Mit dem Katalog „Perser=Teppiche“ er - zentralen Stapelplätzen für den deutschen probte Löbenstein jun. ebenso eine neue Art Markt beschafften. Dem Leser werden die von Werbemittel: Kunden und Leser des lange Tradition des Handels mit orientali - Bändchens erhielten schon zuhause durch schen Kostbarkeiten über die Seidenstraße die ausgesuchten Abbildungen und interes - und andere Wege vor Augen gestellt. santen, sachkundigen Darstellungen einen „Solche Stapelplätze sind Taebriz in Per - Eindruck von den angebotenen, mit Preisen sien, Tiflis, Smyrna, und dem Einkäufer verzeichneten Teppichen und konnten dann am bequemsten erreichbar, Constantino - entspannt größere Ausgaben wie die, einen pel. Aber selbst dort ist der Einkauf nicht anzuschaffen, beim Stöbern planen. Auf dem so leicht, wie man sich vielleicht den Umschlag des Katalogs ist das sinnreiche Fir - Handel hier zu Lande vorstellt. […] So - menlogo des Textilhauses zu sehen. Es zeigt dann gehört dazu die Beherrschung vieler für den Namen Löbenstein einen Löwen auf orientalischer Sprachen, da die Händler einem Stein, der ein Schwert in der Klaue nur gewöhnlich die Sprache ihres Heimat - hält; ein Hinweis auf den hebräischen Vor - landes sprechen. Welche Schwierigkeiten namen des Juniors Naftali, in der Bedeutung dem Einkäufer nach Abschluß des Kaufes von Kämpfer und Kraft. Dahinter geht in erwachsen, um seine Waren auch richtig einem Tal eine lachende, strahlende Sonne nach Hause zu bekommen, wollen wir auf, Symbol für den Namen Freudenthal. Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 65

„Herz“ im Sinne von Vitalität und Kraft, das war auch der administrative Name, den sein Großvater und andere Vorfahren aus Dat - terode trugen. Weder Hans’ Witwe noch seine Schwes - tern traten nach seinem Tod in die Firma ein, denn in der Geschäftsleitung waren Frauen noch nicht üblich. Deshalb wurde 1917 der Handelskonzern von Alfred Conitzer, der wie Lehmann Löbensteins Frau Sophie Schönfeld aus Brandenburg an der Havel kam und in den 1920-er Jahren über 24 Fili - alen und Anteile an Textilkaufhäusern in Deutschland besaß, Teilhaber der Firma Lö - benstein & Freudenthal. Das Unternehmen kooperierte mit dem Hertie-Konzern, was im Übrigen einen zentralen Einkauf der Waren möglich machte und sehr viel wirtschaft - licher war. 21 Der Firmengründer und Kom - pagnon Emil Freudenthal war schon 1915 gestorben; sein Sohn Kurt hatte zwar Agrikul - tur studiert und als Landwirt in Kenia gear - Ehrengrab Hans Löbenstein beitet, blieb aber im Geschäft, das nun als Jüdischer Friedhof Hildesheim, „Offene Handelsgesellschaft Kurt Freuden - Peiner Landstraße thal“ eingetragen war. Ein weiterer Gesell - schafter wurde der Hildesheimer Max Flei - Mit erst dreißig Jahren fiel der Kaufmann schner. 22 Aber die komplexen Eigentumsver - Hans Löbenstein, wie so viele junge Männer hältnisse des Unternehmens können hier in diesen Jahren patriotisch gesonnen, im nicht rekonstruieren werden. Der Firmen - Ersten Weltkrieg in der Schlacht an der name Löbenstein & Freudenthal blieb aller - Somme. Von ihm blieb ein Ehrengrab mit dings erhalten, unter dem man 1924 das 50- Eisernem Kreuz und Eichenlaub auf dem jü - jährige Jubiläum begehen konnte. dischen Friedhof an der Peiner Landstraße. Das 50-jährige Geschäftsjubiläum kann Wie an der Symbolik auf dem Grabstein heute das weit und breit bekannte Modewa - erkennbar – Schwert und Davidstern inein - rengeschäft von Löbenstein & Freudenthal ander geschwungen und ein Eisernes Kreuz feiern. Im Firmentitel verkörpern sich die – war Löbenstein ein hochdekorierter Front - Namen der Gründer, die am 18. August soldat und überzeugter Patriot. Die Inschrift 1874 in ganz kleinen Anfängen den Grund - lautet: Hier liegt begraben Naftali Sohn d. Je - stock zu heutiger Größe legten. Sie gaben in huda. Ein Kriegsheld. Gefallen am 6. Kislew unermüdlicher Schaffenskraft, ganz von be - 5677 Hans Löbenstein fürs Vaterland gefal - sten kaufmännischen Grundsätzen geleitet, len 2.12.1916 bei Monchy Frankreich. Ein ihrem Geschäft Schwung zu gedeihlicher glücklicher zufriedener Mensch ist für eine Aufwärtsentwicklung. So genügten bald die große Sache männlich gestorben. 20 alten Geschäftsräume nicht mehr, es mußte In diesem Zusammenhang übersetzt Joe wieder und wieder zu Erweiterungen ge - Lobenstein, ein in London lebender Famili - schritten werden. Nach erfolgreichen Zeiten enangehöriger den Namen Naftali mit kamen aber auch Rückschläge, und der 66 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 schlimmste war es wohl, als das Geschäfts - Hans Löbenstein hinterließ die gemein - haus in der Nacht zum 25. Dezember 1898 same Tochter Annie Loebenstein. Gefragt, ob völlig niederbrannte. Emil Freudenthal ist sie sich an ihren Vater erinnerte, antwortete nach einem arbeitsreichen Leben 1915 ge - sie noch mit über 90 Jahren: Sehr gut. An storben. Auch Herrn Löbenstein veranlaßte dem Abend kam er zu mir und tanzte mit sein hohes Alter, die Leitung des Geschäfts in mir in seinem Arm. 27 Als Tochter eines Front - jüngere Hände zu geben. Einst hatte er sie kämpfers erhielt sie ein Stipendium und stu - dem Sohne zugedacht, doch dieser ist 1917 dierte zunächst in Göttingen u. a. auch bei vor dem Feind gefallen. Der heutige Rück - dem hochrangigen Mathematiker Edmund blick am 50. Gründungtage ist trotz allge - Landau, ebenso wie ihre Tante Klara Löben - mein schweren wirtschaftlichen Tiefstandes stein, die noch erwähnt werden wird. Ihre zugleich hoffnungsvoller Ausblick auf weite - Dissertation „Eine Methode zum Austausch res Emporsteigen, getragen von guter alter des leichten Wasserstoffs gegen Deuterium Ueberlieferung. 23 in schwerlöslichen Substanzen“ hatte sie in Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte München am Institut für Physikalische Che - Hans Löbenstein 1913 die um sechs Jahre mie begonnen, welches mit Hilfe der Rocke - jüngere Edith Dux aus Hildesheimer Familie feller Foundation 1925 errichtet worden war, geheiratet. Die Tochter von Georg Dux war und 1939 in Basel abgeschlossen. 28 In Mün - Enkelin des Bankgründers August Dux und chen wurde sie von dem Privatdozenten Dr. wuchs am Paradeplatz Nr. 3 an der Ecke Hans Fromherz und dessen Doktorvater Pro - Friesenstraße auf, heute Paul-von-Hinden - fessor Dr. Kasimir Fajans betreut, der sich auf burg-Platz. In der von einem großen Garten dem Gebiet der Isotopenforschung einen umgebenen Villa befand sich bis in die Namen gemacht hatte und 1935 als Jude 1920-er Jahre auch die Bank „August Dux & nach den USA emigrierte. Fromherz wech - Co“, die in der Kaiserzeit zu den führenden selte zur IG Farben nach Ludwigshafen, weil Häusern zählte. 24 Als Vorsteher der Jüdi - er sich mit Fajans Nachfolger Klaus Clusius schen Gemeinde hatte sich August Dux nicht verstand. Wahrscheinlich wäre Annie 1889/90 in einem Rechtstreit zwischen Stadt ohne die Verbindungen ihrer Betreuer in die und Synagogen-Gemeinde um die Bebauung Schweiz nicht einmal über die Grenze ge - ihres Friedhofes in der Teichstraße hervorge - kommen. Die 1940 in Basel veröffentlichte tan. Man einigte sich aber durch Vermittlung stark gekürzte Druckfassung ihrer Disserta - des Landesrabbinats darauf, dass nach der tion widmete Annie Loebenstein „dem An - Umbettung der Gebeine auf dem Grund ein denken“ ihres jüngeren Bruders Hugo Mey - jüdisches Altersheim errichtet werden sollte. erhof, der 1924 geboren wurde und in den Das noch heute bestehende Haus wurde in 1930-er Jahren ein Internat in Canterbury be - der Teichstraße Nr. 27 unter dem Namen suchte, wo er an einer Krankheit starb. Im „Wolf und Henriette Dux Stiftung“ 1901 fer - Widerspruch dazu wurde ihm von seiner tig gestellt, was allerdings im Hinblick auf Tante Agnes Landenberger geb. Dux, die die talmudische Vorschrift der fortdauernden über Großbritannien nach New York ent - Totenruhe ungewöhnlich war. 25 Nach dem kommen war, in Yad Vashem ein Gedenk - Tod Hans Löbensteins heiratete Edith 1923 blatt gewidmet mit dem Hinweis, dass er in zweiter Ehe Otto Meyerhof, der das Bank - 1942 mit 18 Jahren in Theresienstadt ermor - haus August Dux & Co inzwischen als Direk - det wurde. 29 tor leitete. Beide wurden im Juli 1942 nach Als Wissenschaftlerin erstellte Annie Loe - Theresienstadt und Edith weiter nach benstein später im schweizerischen Fribourg Auschwitz deportiert, wo sie ermordet zusammen mit Friedrich Dessauer Atomta - wurde. 26 feln für Schulen und Labore und lernte dort Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 67

1943 ihren späteren Mann, den belgischen branche kam. Er war der Sohn des Kauf - Widerstandskämpfer Jean Kestelyn kennen, manns Ruben, genannt Rudolph Rubensohn den sie nach Jahren der Mutlosigkeit als staa - in Koblenz, der aus Beverungen an der tenlose Displaced Person 1948 heiratete. In Weser stammte 31 und dessen Bruder Her - Belgien wurde Annie Loebenstein 1949 bei mann in Kassel eine Jutefabrik gegründet der ACEC (American Council of Engineering hatte. Hermanns Sohn, demnach Bernhards Companies) in Charleroi als Ingenieurin an - Cousin, war Otto Rubensohn, der bekannte gestellt, aber 1955 entlassen, weil sie Mit - Altertumsforscher, Archäologe und in den glied in der Gewerkschaft FGTB war und 1910er Jahren der Gründungsdirektor des deshalb verdächtigt wurde, Kommunistin zu Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Auch der sein. Dadurch verlor sie ihre Reputation als ebenso anerkannte Altphilologe und Litera - Wissenschaftlerin. Sie bildete sich weiter zur turhistoriker Max Rubensohn war Bernhards mehrsprachigen Sekretärin in Brüssel und ar - Vetter. 32 beitete zehn Jahre für eine ostdeutsche Wirt - Bernhards Vater Rudolph Rubensohn schaftsvertretung, wo sie zur Simultanüber - führte seit etwa 1868 in der Firmungsstraße setzerin aufstieg. Ihre besten Jahre erlebte sie 38 in einem klassizistischen dreigeschossi - als Professorin am Deutschen Institut für gen, inzwischen denkmalgeschützten Haus 33 Übersetzung, so ihre Tochter Cathérine. Die eine „Manufactur und Modewaarenhand - nach ihrer Großmutter benannte Edith Keste - lung“, die im Adressbuch Koblenz inserierte: lyn praktiziert als Ärztin in Brüssel. Annie „Hoflieferant Ihr. Maj. Der Königin von Preu - Loebenstein starb am 26.10.2010 im wallo - ßen. Seiden-, Mode-, Manufaktur-, Gardi - nischen Braine-L’Alleud im Alter von 96 Jah - nen-, Leinen- und Weisswarenhandlung, ren. 30 Sonnen u .Regenschirme. Specialität: Damen- Mit seinem Lebenswerk hatte Lehmann Confection.“ 34 Löbenstein seiner Familie eine wirtschaftli - Rudolph Rubensohn war seit 1860 mit che Lage geschaffen, die seinen jüngeren Henriette Herz verheiratet, die 1837 in Was - Töchtern eine selbstbestimmte und unabhän - serbilligerbrück an der Mosel, nahe der gige Lebensweise ohne Existenzdruck er - Grenze zu Luxemburg, als nichteheliche laubte, in weit größerem Maße als es ande - Tochter von Isabella Herz auf dem Heimweg ren Frauen möglich war. Souverän durften von Paris, wo sie Mode gelernt haben soll, sie ihren Neigungen nachgehen, ihre Bega - zur Welt kam. Rudolphs Schwiegermutter bungen entfalten und über ihre Lebenspla - Isabella, die Tochter eines Weinhändlers aus nung selbst entscheiden. Die vier Schwes - Beilstein/Mosel, war später mit Bernhard tern Löbenstein hatten wenig konventionelle Fulda verheiratet und bis zu ihrem Tod 1875 Lebensläufe. Die älteste Tochter Dora aller - die eigentliche Geschäftsführerin des von ihr dings hatte nicht mehr als die Städtische Hö - eingeführten Modegeschäfts, in das Rudolf here Töchterschule absolviert, auch wenn es Rubensohn im Grunde wohl nur eingeheira - eine Privilegierung und besondere Leistung tet hatte; in ihrem Testament hatte sie unter weniger Hildesheimer Mädchen war, und anderem das jüdische Waisenhaus in Pader - dann geheiratet, ohne eine weitere Ausbil - born großzügig bedacht. 1898 zog Rudolph dung genossen zu haben. In den Hildeshei - nach Hamburg zu seiner Tochter Klara Euge - mer Melderegistern wird sie als „Haustoch - nie Kohsen, war aber weiterhin Eigentümer ter“ geführt. 1903 noch selbstverständlich des Hauses in Koblenz, bis 1909 das Ge - war sie als die älteste Tochter mit 23 Jahren schäft in andere Hände überging. Gründe für offensichtlich im Interesse der Familie eine seinen Wegzug sind nicht bekannt, könnten arrangierte Ehe mit dem Kaufmann Bernhard aber mit antisemitischen Attacken der von Rubensohn eingegangen, der aus der Textil - Anton Simonis herausgegebenen Zeitung 68 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

„Koblenzer Volksfreund“ zu tun haben. 35 phie Löbenstein starb 1928 in Hildesheim. 37 Auch die Rubensohns waren in den religiö - Erna, die jüngste der Töchter Löbenstein, am sen Traditionen fest verwurzelt, als Repräsen - 11. Juni 1893 zur Welt gekommen, war laut tant der Synagogen-Gemeinde Koblenz hatte Melderegister Lehrerin und lebte in Hanno - Rudolph Rubensohn außerdem in langjäh - ver und Berlin, wo sie 1923 – damals unge - rige, aufreibende Streitigkeiten im Vorstand wöhnlich spät – mit 30 Jahren Erich Karg ge - um den Rabbiner eingreifen und schlichten heiratet hatte. müssen. 36 Auch Bernhard, neben drei Töch - Wie alle Töchter der Familie schloss Klara tern der einzige Sohn Rudolphs, hatte Ko - mit der Prima neun Schuljahre an der Städti - blenz verlassen und dort nicht die Geschäfts - schen Höheren Töchterschule in Hildesheim nachfolge angetreten. Er zog nach seinen ab und war dann 1899 eine der hoch begab - Lehrjahren 1895 zurück nach Kassel, in die ten und motivierten Schülerinnen, welche Nähe seiner Verwandten in Höxter und Be - die „Selekta“, eine an der Töchterschule neu verungen, und hatte dort mit Dora, geborene eingerichtete Aufbauklasse, besuchen konn - Löbenstein, eine Familie gegründet. Die Ab - ten. Die vier Selekta-Schülerinnen des fol - sicht, mit dieser Heirat die beiden Textil- und genden Jahrgangs 1900/1901 waren im Übri - Konfektionshäuser Rubensohn und Löben - gen alle „israelitischer“ Konfession, unter stein & Freudenthal miteinander zu verbin - ihnen Gertrud, die 1885 geborene Tochter den, ist durchaus vorstellbar. des Firmenkompagnons Emil Freudenthal, Aber das Ehepaar Dora und Bernhard Ru - der alle drei Mädchen, Franziska, Gertrud bensohn blieb in Kassel und wurde später und Elisabeth zur Töchterschule schickte. 38 geschieden, was in der Weimarer Zeit noch Die Schule war mit Musikraum und Flügel, selten und nicht nur wegen der nachzuwei - Bibliothek, Sternwarte, Hörsaal und Labor senden Verschuldensgründe wie zum Bei - vorbildlich ausgestattet und zeigte hohe An - spiel Trunksucht und Ehebruch, sondern vor sprüche an einen musischen und naturwis - allem wegen streitiger Unterhaltsfragen ein senschaftlich-technischen Unterricht. Da die Unglück für die wirtschaftlich abhängigen Mädchenschule in städtischer Trägerschaft Frauen und ihre Kinder war. Nach dem war, entschieden Bürgermeister und Magis - Scheitern ihrer Ehe zog Dora im Januar 1925 trat nicht nur darüber, ob Tanzstunden in der nach Hildesheim in ihr Elternhaus zurück, Schule gegeben werden durften, sondern begleitet von ihrem minderjährigen, 1909 in auch selbst über die Einstellung der Lehrer. Kassel geborenen Sohn Erich. Doras erster, Diverse, sich emanzipierende Kreise wollten 1904 in Kassel geborener und nach dem sich von Kirchen und staatlichen Behörden Großvater aus Koblenz benannten Sohn Ru - nicht mehr bevormunden lassen. Bei der dolf Rubensohn, war „Kaufmännischer Ange - glanzvollen Feier zum 50. Jubiläum der stellter“. Er verbrachte 1923/24 als „Volon - Schule im Jahr 1908 waren Klara Löbenstein tär“ ein Jahr im Hause Löbenstein und zog und ihre Schwester Frieda als Ehemalige 1930 nochmals in Hildesheim zu. Von selbstverständlich unter den 400 geladenen einem Einstieg Rudolfs in die Unternehmen Gästen. 39 Schuldirektor Dr. Tesdorpf Rubensohn oder bei Löbenstein & Freuden - wünschte sich in seiner Ansprache, es sollten thal ist nie die Rede. Zum erhofften geschäft - „in der Frauenwelt kraftvolle Persönlichkei - lichen Erfolg war es für ihn wie schon für sei - ten herangebildet werden, zum Wohle der nen Vater Bernhard wohl nie gekommen. gesamten Menschheit“. 40 Er spielte damit auf Kurz nach dem 50-jährigen Firmenjubiläum die Vorlesungen über Pädagogik des Aufklä - starb Lehmann Löbenstein 1925 in Hanno - rungsphilosophen Immanuel Kant an: „Es ist ver-Linden, Doras Mann Bernhard wenig entzückend sich vorzustellen, daß die später 1926 in Kassel. Lehmanns Frau So - menschliche Natur immer besser durch Er - Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 69 ziehung werde entwickelt werden, und daß gende Dur-Tonleiter sollte das Notenlernen man diese in eine Form bringen kann, die und Singen vom Blatt erleichtern. Frieda der Menschheit angemessen ist. Dies eröff - Loebenstein blieb eine Pionierin und passio - net uns den Prospekt zu einem künftigen nierte Verfechterin dieser Lehre bis an ihr glücklichern Menschengeschlechte.“ Die Lebens ende. Töchterschule feierte die rasanten Fort - Weil in Preußen erst 1908 Abitur und Stu - schritte der Mädchenbildung, denn von ge - dium von Frauen möglich waren, legte Klara bildeten Frauen versprach man sich in ihrem Löbenstein 1904 nach privater Vorbereitung als natürlich angesehenen Aufgabenfeld der und mit Sondererlaubnis extern am Real - Erziehung als Mütter und Lehrerinnen einen gymnasium I, einer Schule für Jungen in zivilisierenden Einfluss auf die Gesellschaft. Hannover, das Abitur ab. Die später nach „Bei der Erziehung muß […] der Mensch ihrem Begründer Adolf Tellkampf benannte kultiviert werden. Kultur begreift unter sich Tellkampfschule war eine auf Naturwissen - die Belehrung und die Unterweisung. Sie ist schaften, Technik, Wirtschaft und moderne die Verschaffung der Geschicklichkeit. Diese Sprachen ausgerichtete Knabenschule, deren ist der Besitz eines Vermögens, welches zu Abschluss seit 1900 als Universitätsreife an - allen beliebigen Zwecken zureichend ist. Sie erkannt wurde. 44 Die Förderung von Natur - bestimmt also gar keine Zwecke, sondern wissenschaft und Technik während der Kai - überläßt das nachher den Umständen.“ 41 So serzeit war ein wesentlicher Faktor der hatte Hans Löbenstein als Kaufmann einen wachsenden wissenschaftlichen und wirt - kenntnisreichen Teppich-Katalog herausge - schaftlichen Bedeutung des Deutschen Rei - ben können, weil er die Feuilletons seiner ches, die vom Bürgertum getragen wurde. Zeit zu lesen verstand. Nach bürgerlichem Trotz aller Vorbehalte gegen derart be - Verständnis war Erziehung und Bildung nicht gabte Frauen bis heute entschied sich Klara eine berufliche Qualifizierung, vielmehr die Löbenstein für ein Studium der Mathematik Bedingung für ein kultiviertes Leben in gei - und Physik, und zwar in Berlin und Göttin - stiger Unabhängigkeit und Verantwortung für gen, wo sich die Mathematik-Professoren sich selbst und Andere. Das galt auch für David Hilbert und Felix Klein als vorurteils - manche Frauen. freie Förderer des Frauenstudiums hervorge - Ihre Bestimmung im Sinne Kants, so tan hatten. In dieser großen Zeit der Natur - scheint es, hatten die Schwestern Klara und wissenschaften in Göttingen war Felix Klein Frieda Löbenstein gefunden – Klara in der seit 1908 als Vorsitzender der Internationa - Mathematik, Frieda in der Musik und deren len Mathematischen Unterrichtskommission Lehre. Schon mit 13 Jahren hatte Frieda Kla - „maßgeblicher Motor der mathematischen vierstunden erteilt, noch ehe sie an der Städ - Unterrichtsreformbewegung“ , die eine Neu - tischen Höheren Töchterschule 1903/04 das ausrichtung des mathematisch-naturwissen - „Schulziel erreicht“ hatte. 42 Dann erwarb sie schaftlichen Unterrichts in Bezug auf seine an privaten Instituten ihre musikalische und Funktion, Anschaulichkeit und Anwendbar - musikpädagogische Ausbildung, die aus ei - keit zum Ziel hatte und auch die Mädchen - genen Mitteln vom Vater bezahlt werden schulen erfasste. 45 musste. Als eine der Ersten studierte sie in Schon 1909 wurde Klara Löbenstein in Hannover am 1909 gegründeten „Schulge - Göttingen von David Hilbert, einem Mathe - sangsseminar des Tonikado-Bundes“ ,43 die matiker von internationalem Ruf, promo - von Agnes Hundoegger entwickelte Tonika- viert, der in seinem berühmten Institut in Do-Methode, in der Musikpädagogik eine Göttingen die namhaftesten Mathematiker Revolution. Die mit den Handzeichen do, seiner Zeit versammelte, auch Hermann re, mi, fa, so, la, ti, do dargestellte aufstei - Weyl und Richard Courant zählten in diesen 70 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

merksamkeit und Gedächtnis beruhten auf streng an den Naturwissenschaften orientier - ten Untersuchungsmethoden, seine Doktor - prüfungen waren gefürchtet und wurden „Fe - gefeuer“ genannt – seine Frau soll oft be - schwichtigend eingeschritten sein. 47 Bezeichnenderweise wurden Studentin - nen, zunächst mit dem Status der Gasthöre - rin, nicht wie männliche Kommilitonen in den Göttinger Vorlesungsverzeichnissen mit Na men und Wohnadressen geführt, gleich - gültig ob sie privat bei Zimmerwirten unter - kamen oder in den Häusern von Studenten - verbindungen wohnten. Auch im Jahr 1909, als Klara Löbenstein bereits ordentlich im - matrikuliert werden konnte, ist keine einzige Studentin vermerkt. Von Mai bis Oktober 1906 hatte sie im Schildweg 28 im ersten Stock ein Zimmer zur Untermiete in der Wohnung von Elfriede Kuhlenbeck genom - men, die als Doktor-Witwe , in einem ande - ren Jahrgang des Adressbuchs als Gymnasial- David Hilbert Oberlehrerwitwe verzeichnet war und wie in der Universitätsstadt traditionell mit Mietein - Jahren zu seinen Doktoranden. Deren Emi - nahmen wohl ihre Witwenpension aufbes - gration beklagte man später als „brain serte. Ab April 1907 wohnte Klara Löben - drain“. Klara Löbenstein widmet sich in ihrer stein im Hainholzweg 20, wieder im gut situ - Dissertation „Über den Satz, dass eine ierten Ostviertel, zwischenzeitlich meldete ebene, algebraische Kurve 6. Ordnung mit sie sich in ihre Heimatstadt Hildesheim und 11 sich einander ausschließenden Ovalen nach Berlin zum Studium ab. 48 nicht existiert“ einem der berühmten „23 Klara und Frieda Löbenstein hatten nach Hilbertschen Probleme“, von denen bis ihrem Studium Lehrberufe ergriffen, viel - heute einige noch ungelöst sind. Es geht in leicht weil es noch keine anderen Möglich - ihrer Arbeit um ein zentrales Thema David keiten gab, wahrscheinlich aber aus Nei - Hilberts, nämlich um algebraische Kurven in gung. Sie blieben beide ehelos, denn Heirat der Geometrie. Diese Kurven 6. Ordnung und Berufstätigkeit von Frauen schlossen werden durch Polynome 6. Ordnung, also einander noch aus. Aber Lehrerinnen konn - mit Variablen in der 6. Potenz, beschrieben. ten doch ein relativ autonomes Leben füh - Kurven dieser Art finden heute in CAD-Syste - ren, ohne in den Haushalten Angehöriger als men, Computer Aided Design, in der Dar - geduldete „Tanten“ leben zu müssen und stellung von beliebigen Flächen Verwendung von deren Großzügigkeit abhängig zu sein. und machen so Architekten zum Beispiel Von Hildesheim aus verzog Klaras Schwester dreidimensionale Entwürfe möglich. 46 In Frieda mit 24 Jahren 1912 nach Berlin-Schö - ihrem dritten Fach Psychologie wurde sie neberg, um ihr in Hannover begonnenes von Georg Elias Müller geprüft, einem Bahn - Musikstudium fortzusetzen, nun im Haupt - brecher der experimentellen Psychologie. fach Klavier und mit den Schwerpunkten Müllers Arbeiten zu Wahrnehmung, Auf - Theorie und Chor. 49 Wo sie sich einschrieb, Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 71 ist nicht bekannt, denkbar ist das Stern’sche In der maßgeblichen Zeitschrift „Melos“ er - Konservatorium, eine der führenden Musik - schienen 1929 und 1930 die Beiträge „Musi - schulen in Europa, an der sie von 1921 an kalische Erziehung durch das Klavier“ und selbst als Dozentin tätig war. „Die neue Musik in der Musikerziehung des Große Namen sind unter den Schülern Kindes“. 52 und Lehrern des Konservatoriums zu finden: Auch Klara Löbenstein schlug die pädago - Bruno Walter, Hans von Bülow, Arnold gische Richtung ein. Die Frage, ob sie mit Schönberg und Otto Klemperer. ihren Voraussetzungen an der Universität In den bürgerlichen Salons der Kaiserzeit hätte weiter forschen und lehren können, hatte sich eine reiche Musikkultur entfaltet. wenn sie nur später geboren wäre, muss un - Man pflegte Gesang, Klavierspiel und jede beantwortet bleiben. Das erste Vorberei - musikalische Ausdrucksform; Musiktheater, tungsjahr für das Höhere Lehramt, heute Re - Chöre und Orchester erlebten einen Auf - ferendariat genannt, leistete sie 1911 in Hil - schwung. Deshalb wurde am Konservato - desheim an dem noch jungen Andreas-Real - rium auch ein breitangelegter Instrumental - gymnasium ab, dem heutigen Scharnhorst - unterricht erteilt, ebenso wurden Kapellmeis - gymnasium, einem damals naturwissen - ter und Klavierlehrerinnen mit hoher Profes - schaftlich orientierten Gymnasium für Jun - sionalität ausgebildet. Da das Konservato - gen, das sich 1885 von dem humanistischen, rium völlig ohne öffentliche Subventionen also auf alte Sprachen und traditionelle Bil - oder Stiftungsvermögen auskam und nur mit dungsinhalte konzentrierten Andreanum ab - Schulgeldern finanziert wurde, hatte das na - gezweigt hatte. Ihr zweites Vorbereitungsjahr türlich seinen Preis, der die Möglichkeiten absolvierte sie 1912 an der Sophienschule in durchschnittlicher Einkommen weit über - Hannover. Diese zukunftsweisende Mäd - stieg. 50 chenschule hatte schon vor 1908 Kurse für Als Lehrerin für Gehörbildung am Stern’ die Reifeprüfung von Mädchen eingerichtet, schen Konservatorium formulierte Frieda die auch von Schülerinnen aus dem weite - 1922 ihr musikpädagogisches Bekenntnis ren Umland, die dort nicht weiter kamen, mit dem zeitgenössischen Musikpsychologen besucht worden waren. Ernst Kurth: Das Hören und Erleben des mu - Vielleicht inspiriert durch ihren Lehrer sikalischen Kunstwerks sei kein berechenba - Felix Klein, der in Göttingen die Reform ma - rer Vorgang, vielmehr ein psychisches „Mit - thematisch-naturwissenschaftlicher Didaktik strömen“ im „lebendigen Fließen der an Schulen wesentlich angestoßen hatte, re - Musik“. 51 zensierte Klara Löbenstein 1912/13 für die 1926 wurde Frieda Loebenstein als Do - Zeitschrift „Die Lehrerin“ neue Rechenbü - zentin für Klavierpädagogik an das Seminar cher für höhere Mädchenschulen. Denn „die für Musikerziehung der Hochschule für Neuordnung des höheren Mädchenschulwe - Musik in Berlin berufen. Besonders wichtig sens vom Jahre 1908 hat den Rechenunter - war ihr die musikalische Gehörbildung bei richt so gründlich umgestaltet, daß die bis Kindern, die sie, als Voraussetzung für den dahin benutzten Rechenbücher unbrauchbar richtig gesungenen Ton, mit der Tonika-Do- geworden sind.“ Bisher hatten Mädchen wie Methode unterstützen konnte. Zahlreiche sie selbst in zehn Schuljahren eine Art Mitt - Schriften, in ihrer Klarheit und Liebe mit lere Reife erlangen können und weniger Ma - denen von Maria Montessori vergleichbar, thematik als alltagstaugliches Rechnen ken - sind uns aus dieser Zeit erhalten. Das Lehr - nengelernt. Deshalb lehnte Klara Löbenstein buch „ Das Klavier im Spiel der Kleinsten“ im Unterricht so genannte Rechenvorteile war bahnbrechend. Ihr Werk „Klavierpäda - ab, also die bequeme Anwendung schemati - gogik“ wurde 1960 noch einmal aufgelegt. scher Regeln, ohne die Rechenoperation be - 72 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 wusst nachzuvollziehen. Denn die „abge - kürzte, beim praktischen Rechnen aus - schließlich verwendete Regel muß künstlich herbeigeholt werden, anstatt organisch aus den vorausgehenden Betrachtungen heraus - zuwachsen. Der Zusammenhang zwischen Theorie und Anwendung bleibt so locker, daß die Schülerinnen bald ganz darüber hin - wegsehen und nach der fertigen Regel divi - dieren, ohne sich über ihre Herkunft Re - chenschaft ablegen zu können.“ Klara Lö - benstein verlangte, dass das Vorstellungs- Lyzeum Landsberg/Warthe und Abstraktionsvermögen durch algebrai - sche Übungen gefördert werden und veri- sollte. In erster Linie konnten unverheiratete, table Mathematik auch in den Unterricht an sprich unversorgte Frauen ihren Lebensunter - Mädchenschulen eingehen sollte. halt als Lehrerinnen unabhängig und ohne Ihre erste Stelle als Oberlehrerin trat Klara Statusverlust verdienen und so im Ergebnis Löbenstein an der Höheren Mädchenschule natürlich die Erziehung ihres eigenen Ge - und Lehrerinnenbildungsanstalt 1913 im schlechts mitgestalten. französischen Metz an, das in der Kaiserzeit Am Lyzeum unterrichtete Klara Löbenstein als Hauptstadt Lothringens zum Deutschen vorwiegend Mathematik an der angeglieder - Reich gehörte. Wohl wegen der Kriegsereig - ten Studienanstalt, die etwa der heutigen nisse dort war sie ab September 1916 ins gymnasialen Oberstufe entspricht. 1925 ist brandenburgische Landsberg/Warthe (poln. sie als „Studienrat“ im Adressbuch von Gorzów Wielkopolski) gegangen. Gewiss Landsberg eingetragen, wo sie in der Schön - haben Frauen, auch die jüdischer Herkunft, hofstraße Nr. 28 wohnte, einem Haus, das durch den im Ersten Weltkrieg entstandenen immer noch steht. Lehrermangel eine Chance erhalten, in den Während dieser Jahre bewahrte sie sich Höheren Schuldienst einzutreten, weil Leh - die Liebe zu ihrer 430 km entfernten Hei - rer, die kriegsversehrt, gefallen oder an der matstadt Hildesheim. Wie sonst hätte sie Front waren, an allen Schulen fehlten. Aber 1927/28 eine so weite Studienfahrt mit ihrer schon in der Kaiserzeit waren Kinder aus Prima so kenntnisreich und anspruchsvoll or - kleineren Verhältnissen über ein Universi - ganisieren können und dafür diese Worte ge - tätsstudium Studienräte geworden und damit funden: sozial aufgestiegen. Das galt nicht für Klara Müde kam man abends in Hildesheim an. Löbenstein und ihre Schwester Frieda, deren Als man aber plötzlich mitten in der Alt - Familie eine der wohlhabendsten in Hildes - stadt zwischen den alten Fachwerkbauten heim war. Klaras Promotion, eine großartige stand, da war alle Müdigkeit vergessen. Als und respektable Leistung, führte aber nicht Standquartier war die neue Mädchenju - eigentlich in eine Karriere. Ruft man die Bel - gendherberge ausgewählt, ein geschmack - letristik der Kaiserzeit als Zeugen auf, so gal - voll und sauber, ja in jeder Beziehung mus - ten oft Lehrerinnen jeden Ranges als bedau - tergültig eingerichtetes Mädchenheim. Am ernswerte Geschöpfe, für die sich kein Mann nächsten Morgen hielt ein Hildesheimer gefunden hatte. Es war eine Existenzform Künstler einen einleitenden Vortrag über zweiter Wahl. Auch die Wertschätzung des die geschichtliche Entwicklung Hildes - Lehrerberufes entsprach bei weitem nicht heims bis zur Jetztzeit. Er übernahm auch derjenigen, die er Jahrzehnte später genießen während der nächsten Tage meist die Füh - Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 73

rung der Schülerinnen und verstand es, sie turwissenschaftlichen Fächer wesentlich ein - in die romantisch e53 und gotische Bau - geschränkt wurden, Chemie auf das Putzen weise und den Baustil der Renaissance ein - und Kochen und Mathematik auf das Rech - zuführen und sie zu begeistern für die Kost - nen im Haushalt. Die Kultivierung der barkeiten mittelalterlicher kirchlicher und Menschheit im Sinne Kants hatte einen profaner Kunst. Manch stiller Winkel, sinn - schweren Rückschlag erlitten. voller Hausspruch, prachtvoller Fassaden - Klaras Schwester Frieda Loebenstein lei - schmuck, wertvoller Kunstgegenstand tete an der Hochschule der Künste in Berlin wurde durch ihn den Schülerinnen zugäng - eine „Übungsschule“, an der 5- bis 13-jäh - lich gemacht, der sonst vielen Besuchern rige Kinder aus ärmsten Verhältnissen ein verborgen bleibt. Am nächsten Vormittag Jahr lang unentgeltlich unterrichtet wur - wurden ein Teil der Altstadt, der Dom, der den. 55 Diese Übungsschule wurde zum An - Marktplatz und das Rathaus besichtigt. Am griffsziel der NS-Presse, die sie einen „Hau - Nachmittag ging es in die Umgebung der fen überzüchteter Kinder“ nannte, die sich Stadt, ins sogenannte Berghölzchen. Am „unter einem Fräulein Loewenburg (sic) un - Sonnabend konnten die Schülerinnen in glaublich aufdringlich produzierten.“ Sie der Michaeliskirche, der monumentalen wurde in dem Artikel als „Kulturbolschewis - Gottesburg aus dem 11. Jahrhundert, einem tin und Jüdin“ beschimpft. 56 Während ihrer Vortrag über diese Kirche beiwohnen, den Lehrtätigkeit an der Hochschule in der Fasa - der Braunschweiger Professor Meyer vor nenstraße in Charlottenburg wohnte sie um den Teilnehmern der Göttinger Philologen - die Ecke, in der Dahlmannstraße 13, nahe tagung hielt. Daran schloß sich für die dem Kurfürstendamm. Noch am 1. März Schülerinnen die Besichtigung der Magda - 1933 wurde sie wegen ihrer jüdischen Her - lenenkirche. Unvergeßlich wird allen der kunft entlassen, obwohl sich Direktor Georg Anblick bleiben, als sich die schweren Tre - Schünemann, der sie 1926 an die Hoch - sortüren öffneten und der kostbare Dom - schule der Künste geholt hatte, noch im Ja - schatz (Bernwardskreuz, Bernwardsleuch - nuar um die Verlängerung ihres Arbeitsver - ter, Bernwardssarg usw.) gezeigt wurde. 54 trages bemühte. 57 Ihre Existenz war erschüt - Klara Löbenstein verwaltete außerdem die tert und wie sie im April 1933 Hellmuth Lehrer- und Schülerinnen-Bibliothek und die Köhler schrieb, wollte sie sich neu orientie - Finanzen der Schule, bis sie am 16. Oktober ren. „Ich hätte schon eher geantwortet, wenn 1935 m. sofortiger Wirkung beurlaubt und nicht bei mir alles noch so unbestimmt zum 1. Januar 1936 in den Ruhestand ver - wäre.“ 58 Zunächst hielt sie Vorlesungen in setzt wurde. Kollegen waren schon zum ihrer Privatwohnung in Charlottenburg und 1. Oktober 1933 nach § 3 BBG, dem Gesetz bat im Oktober 1934 den Direktor Schüne - zur Wiederherstellung des Berufsbeamten - mann, ihr interessierte Hörer zu schicken. tums vom 7. April 1933, entlassen worden. Sie las über Gregorianik. „Ich habe mich Sie hatte nach einer Ausnahmebestimmung, lange Zeit mit der Materie beschäftigt und nach der vor dem Ersten Weltkrieg in den gebe in kurzer Zeit ein methodisches Buch Schuldienst eingetretene Beamte bleiben für die Einstudierung des Chorals, zusammen konnten, noch zwei Jahre an der Schule mit einem Beuroner Pater heraus.“ 59 Es war unterrichten können, dann zog sie sofort der Organist und Benediktiner Corbinian nach Hildesheim zurück. Aus dem Lyzeum Gindele aus der Erzabtei Beuron, mit dem mit Studienanstalt in Landsberg wie auch aus sie 1936 das immer noch gültige Standard - der Goetheschule in Hildesheim, der Nach - werk über Gregorianik: „Der Gregorianische folgerin der Töchterschule, wurden nach Choral in Wesen und Ausführung“ publi - 1933 Frauenoberschulen, an denen die na - zierte und darüber in die katholische Kirche 74 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012 fand. Der heutige Erzabt Theodor Hogg OSB: zur Liturgie, die für sie in Zukunft eine große „P. Corbinian Gindele, den ich noch persön - persönliche Bedeutung bekam. Während der lich kannte, hat ihren Namen bisweilen er - Jahre der Verfolgung erhielt Frieda Loeben - wähnt. P. Corbinian gehörte zum Schüler - stein von den Johannesschwestern Schutz kreis von Hindemith und lernte so Frau Loe - und Unterstützung bei der am Ende unaus - benstein kennen. “60 Mit der von Guido von weichlichen Emigration. Arezzo entwickelten Solmisation, der Dar - Wie schwer es war, die Auswanderung zu stellung von Tonfolgen mit Handzeichen und organisieren, zeigt ein von August 1938 bis Wortsilben, wurden seit dem 11. Jahrhundert August 1939 geführter Briefwechsel zwi - in Klöstern Gregorianische Choräle geübt schen Sr. Adelgunde, einer Johannesschwes - und gesungen, in der Reformbewegung um ter in Leutesdorf und Dr. Wizinger vom Ka - 1900 integrierte man sie in die Tonika-Do- tholischen Hilfsausschuss des Bischöflichen Lehre. Im Vorwort der Ausgabe von 1936 Ordinariats in Berlin, der als „Hilfsausschuß lesen wir: „So wurde auf die frühen methodi - für katholische Nichtarier“ 1935 gegründet schen Mittel, auf die aretinischen Silben zu - wurde und in der Oranienburgerstraße 13/14 rückgegriffen“ und um die „Ergebnisse der seinen Sitz hatte. Sr. Adelgunde schreibt am neueren Pädagogik“ erweitert. 25.11.1938: Das Buch erschien in dem kleinen katho - „Nun möchte ich noch in einem anderen lischen Verlag „Das Innere Leben“ in Ora - Fall Ihren Rat und Ihre Hilfe erbitten: Wenn nienburg nördlich Berlin im Immaculata - ich mich recht entsinne, sprachen wir bei haus, das von Johannesschwestern geführt meinem Dortsein auch darüber, dass bei wurde. Als Autorin wird „Sr. Frieda Maria uns eine nichtarische Novizin sei. Wie die Loebenstein“ genannt; sie war als Klausur - Verhältnisse heute sind, wird sie m[…] aus - schwester in den von Pater Johannes Maria wandern. Sie ist eine geistig hochstehende Haw gegründeten Orden des Johannesbun - Persönlichkeit und stellt gerne ihr ganzes des von Maria Königin eingetreten, dessen Wissen und Können (Musik – war haupt - Mutterhaus in Leutesdorf am Rhein, im Kreis amtlich an der Staatlich. Akademischen Neuwied stand. 61 In Berlin führten Johannes - Hochschule für Musik in Berlin; hat amtli - schwestern in St. Hedwig den Haushalt von che Lehrbefähigung für Klavier, Musik-Pä - Domprobst Bernhard Lichtenberg 62 , wegen dagogik und Musik-Psychologie,) in den seines öffentlichen Eintretens für die Verfolg - Dienst der Kirche und Liturgie. Können Sie ten inzwischen selig gesprochen und ein Ge - evtl. für diese auch einen Schiffsplatz ver - rechter unter den Völkern, und das Christkö - mitteln? Wenn ja, geben Sie uns bitte bald nigshaus, ein Hospiz und Heim für obdach - Bescheid, damit sie sich einen Pass besor - lose und entlassene strafgefangene Männer. gen kann. Ist sonst noch etwas nötig? Wie Schon bald nach ihrer Entlassung aus der wird es mit der Regelung der finanziellen Hochschule wurde Frieda Löbenstein über Seite werden? Sie besitzt Hypotheken von 1 ein Jahr von dem Orden „Liturgisch-Mariani - insgesamt ca. RM 46.000, wovon jetzt ⁄5 sches Apostolat“ auf ihre Taufe 1934 vorbe - nach dem neuen Gesetz abgegeben wer - reitet. Am 12.4.1934 war sie aus dem Juden - den muss. Müssen die Hypotheken ver - tum ausgetreten. 63 Auf Bitten von Pater Pe - kauft, bzw. an einen anderen abgegeben trus Appel unterrichtete sie im Christkönigs - werden? Welcher Teil des Vermögens darf haus in der Petersburger Straße Gregoriani - wohl mitgenommen werden? Wenn Ihnen sche Choräle. Sie studierte dort mit Ordens - da die bestehenden Bestimmungen be - leuten, Ministranten, Bewohnern des Hospi - kannt sind, würde ich Sie freundlich um zes und Obdachlosen Gesänge für Andach - nähere Auskunft bitten.“ ten und Messen ein; sie entdeckte ihre Liebe Im Antwortschreiben wird die Schwester Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 75 zunächst ermahnt, das Nennen von Namen schaffte mir bei Vinzentinerinnen ein kos - und das Wort „Nichtarier“ zu vermieden, um tenloses Nachtquartier. Die Unterhaltung nicht Behörden aufmerksam zu machen. Aus mit ihm machte mir viel Mut. Mein Gott - der im Diözesanarchiv Berlin bewahrten vertrauen wurde neu gestärkt. Während Akte „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordina - der Seereise gab ich mich ganz der gött - riat Berlin“ 64 geht hervor, dass man nach den lichen Vorsehung anheim. Als das Schiff Pogromen Mädchen und Frauen zum Bei - abfuhr, war kein Priester zu sehen. Aber in spiel in Klöstern und Pensionaten unter - Boulogne, am Abend desselben Tages, brachte, für ihre Ausbildung sorgte und Män - stiegen fünf Karmelitenpatres ein. So wur - ner in berufliche Positionen ins Ausland ver - den täglich fünf Messen gelesen. Vor mei - mittelte. Mit Zähigkeit holte sie die Buch - ner Abreise hatte ich vorsorglich noch händlerin Elisabeth Behr aus dem KZ Lich - etwas von der Arbeit in der Sakristei ge - tenburg, versorgte sie mit Ausreisepapieren, lernt. So konnte ich den Patres behilflich Geld und Kleidung und organisierte ihre Pas - sein. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, sage mit Hilfe des Raphaelsvereins, der Aus - was in Brasilien aus mir werden würde. wanderungen betreute. Zweifellos kamen Als die Bucht von Rio de Janeiro in Sicht dem Katholischen Hilfswerk die internatio - kam, wurde mir doch recht schwer ums nalen Kontakte der Orden, Missionswerke Herz. Schließlich erschien der Zuckerhut , und kirchlichen Verbände zugute, die nach der berühmte Berg in Rio, und daneben Holland, Spanien, Frankreich, Südamerika und auch nach Shanghai reichten. Immer wieder mit dem Hinweis „wie mündlich be - sprochen“ korrespondiert Sr. Adelgunde mit einer in Berlin lebenden Schwester eines Pa - ters, der in Shanghai lebt; er wird gebeten, sich von dort um Arbeitsnachweise für Flüchtlinge zu bemühen. Sie nimmt auch Kontakt zu der Benediktinerin, der „ehrwür - digen Mutter Maragarita“ in Kopenhagen auf, um einen Ort für Frieda Loebenstein zu finden. Der Erzabt von Beuron rät von Däne - mark ab, es sei zu nahe am Deutschen Reich und hätte von den Nazis besetzt werden können. Er riet zu Brasilien, wohin sie im Sommer 1939 gelangte, nachdem sie noch, um einen Pass zu bekommen, in die Schweiz reisen musste. Frieda Loebenstein berichtet von ihrer Auswanderung: „Meine zehn Mark, die ich aus Deutsch - land mitnehmen durfte, waren schnell ver - braucht. In London suchte ich das Büro für katholische Ausreisende auf, wo mich ein Priester empfing, der in Deutschland gute Beziehungen hatte. Auch dort war ein an - derer Priester, der einmal Exerzitien bei Vater Johannes gemacht hatte und Leutes - Sr. Paula Loebenstein im Habit dorf gut kannte. Der Priester des Büros ver - der Benediktinerinnen 76 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

der Corvocado mit der riesenhaften Chris - berg kaufen konnten; die Hypothek wurde tusstatue auf dem Gipfel. So grüßte der 1937 im Grundbuch eingetragen. 1941 Heiland mich mit ausgebreiteten Armen, haben die Schwestern und der Ordensgrün - und ich faßte Mut. “65 der Johannes Haw im Immaculata-Haus In Sao Paulo unterrichtete Frieda Loeben - nach der erzwungenen Auflösung und Ent - stein einige Monate als Musiklehrerin und eignung ihrer Gemeinschaft eine Unterkunft trat dann am 14. August 1939 der Gemein - gefunden. In DDR-Zeiten diente das Imma - schaft der Benediktinerinnen in der Abadia culatahaus als Alten- und Ferienheim, nach de Santa Maria bei. Nach der Profess 1941 dem Ende der SED-Herrschaft stand es leer, nahm sie den Namen Paula an und lebte 1998 wurden das Gelände und die Immobi - dort als Irma Paula Loebenstein. Gegen ihre lie verkauft. Seit 2010 befindet sich darin die ursprüngliche Intention baute sie mit Unter - „Jugendschule Strausberg e .V.“, die nach stützung des Ordens eine Musikschule, des - dem Vorbild der Pädagogin Maria Montes - sen Oberin erkannte, wie charismatisch und sori arbeitet. 68 Gewiss hätte das Frieda Loe - genial sie die Tonika-Do-Methode mit Gre - benstein gefallen. gorianik verband. Mit dem Tonika-Do-Bund Aus den Akten des langwierigen Wieder - in Hannover und seinem ehemaligen Vorsit - gutmachungsverfahrens geht hervor, dass zenden Alfred Stier stand sie nach der Nazi - „der Chef der Sicherheitspolizei und des herrschaft wieder in brieflichem Kontakt, 66 Sicherheitsdienstes am 15.1.1943 die Fest - obwohl er, zwischen 1933 und 1948 zudem stellung getroffen habe, dass das Vermögen Landeskirchenmusikdirektor der sächsischen der Klägerin auf Grund der 11. Verordnung Landeskirche, keinen Hehl aus seinem anti - zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 semitischen Ressentiment gemacht haben dem Reich verfallen sei.“ Nach Kriegsende soll. 67 Schwester Paula starb am 6. Mai reichte Justizrat Franz Hentrich im Namen 1968, wenige Tage vor ihrem 80. Geburts - von Frieda Loebenstein im Mai 1949 Klage tag. Nach ihr ist eine Straße, die Rua Irma auf Rückerstattung des Vermögens ein, dar - Paula Loebenstein, in Sao Paulo benannt. unter auch Guthaben bei der Sparkasse Neu - Noch vor ihrer Emigration hatte Frieda wied mit der Begründung: „Die Beschlag - Loebenstein dem Orden der Johannes - nahme und Einziehung wird auf Grund des schwestern aus ihrem Vermögen ein Darle - Gesetzes 120 Art. 1 angefochten und Rück - hen gegeben, damit diese vom Liturgisch- zahlung der eingeholten Beträge verlangt.“ Marianischen Apostolat ein Haus in Straus - Da die Beschlagnahme ein „Staatsakt“ war, wurde gegen das Land Rheinland-Pfalz Klage bei der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Koblenz geführt, die diese an die Oberfinanzdirektion Köln überwies, von dort wurde sie an den Finanzminister weitergereicht. Wegen fehlender „Sachbe - fugnis“, das heißt wegen gesetzlicher Grund - lagen, konnte die Sache nicht entschieden werden. Zwar zog im Juli 1950 Frieda Loe - benstein ihre Klage zurück, aber in den Jah - ren 1949 bis 1953 bat ihr Rechtvertreter Hentrich immer wieder um Mitteilung, „ob Immaculata-Haus Strausberg nunmehr für die britische Zone ein Wieder - Kaiserstraße 142 –143 gutmachungsgesetz erlassen ist“ . Denn die (heute Hennickendorfer Chaussee 2) Rück erstattungen wurden bis zum einheit - Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 77 lichen Bundesentschädigungsgesetz von 1953 von den Ländern wahrgenommen. In der „Rückerstattungssache Loebenstein Deutsches Reich“ , zu dessen Rechtsnach - folgerin sich die Bundesrepublik Deutsch - land erklärte, hatte noch einmal die Allge - meine Treuhand Organisation, eine Körper - schaft öffentlichen Rechts mit Sitz in Hanno - ver, und die Jewish Trust Corporation Forde - rungen gegen die Bundesvermögensverwal - tung in Köln angemeldet. Es erging der Be - schluss, den Rückerstattungsanspruch zu - Rückwärtige Ansicht des Wohnhauses rückzuweisen, denn Dritte könnten nach Art. Löbenstein, Goslarsche Straße 64 mit Garten, 9 Abs. 2 REG, also Reichsentschädigungsge - Hildesheim um 1940 setz, keine Forderungen erheben, wenn die Geschädigte Frieda Loebenstein selbst darauf Lothringer Straße 54, heute Weinbergsweg 1, verzichtet hätte. Ihr dürfe „nicht die Mög - in Berlin besaß, flohen in die Niederlande, lichkeit genommen werden, ihre Ansprüche wo sie aufgegriffen und am 5. Mai 1943 in in einem anderen Verfahren mit Aussicht auf Sobibor ermordet wurden. 73 Eine Tochter Erfolg weiterzuverfolgen“ .69 Das hat am Ende Gertruds und Enkeltochter Emil Freudenthals Frieda Loebenstein nicht mehr getan. Das konnte nach New York fliehen, ihre Urenkelin Verfahren hatte sich im Gestrüpp der Para - Bea Winkler Bayer lebt heute in Manhattan. graphen und den noch ungeordneten Zum Zeitpunkt der Arisierung des väter - Rechtsverhältnissen Nachkriegsdeutschlands lichen Unternehmens lebte Klara Löbenstein verfangen. Erst 1986, wenige Jahre vor dem schon wieder in ihrem Elternhaus, das sie Mauerfall, haben die Johannesschwestern zusammen mit ihrer Schwester Dora Ruben - die Hypothek für das Haus in Strausberg lö - sohn und zwei Mieterinnen bewohnte. Im schen können. 70 Die Reste von Frieda Loe - Adressbuch steht sie als: „Löbenstein, Dr., bensteins Vermögen, das nach Abzug schika - nöser Abgaben wie zum Beispiel der Reichs - fluchtsteuer hier zur Rede steht, stammen vermutlich auch aus dem Verkauf ihrer An - teile am väterlichen Unternehmen Löben - stein & Freudenthal in Hildesheim. Schon im Oktober 1936 fand ein restloser, verlustreicher Ausverkauf aller Waren des 1874 von Lehmann Löbenstein und Emil Freudenthal gegründeten Mode- und Textil - hauses statt, nachdem es, wie Angestellte später berichteten, im Vorfeld zu Boykotten und Attacken gekommen war. 71 Das Ge - schäft wurde nach 60 Jahren arisiert und an die Familie Kressmann verkauft, die bereits ein ähnlich eingeführtes, großes Haus in Schwerin besaß. 72 Gertrud, die Tochter Emil Freudenthals und ihr Mann Ignaz Hadra, der Wohnhaus Löbenstein, Hildesheim, in Berlin die Germania-Apotheke in der Goslarsche Straße 64, um 1940 78 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Studienrätin i.R.“ staatspolizeilicher und steuerlicher Hinsicht Den Niedergang der Familie und des seitens der zuständigen Behörden gegen die Hauses zeigt ein Foto des Hauses aus dem Zustimmung zur Auswanderung Einwendun - Jahr 1940. Die Fassade wurde rückgebaut, gen erhoben werden und forderte die An - der Portikus abgebrochen, die Säulen stehen tragstellerin auf, ihre Einkommens- und Ver - als Stümpfe an einer maroden Veranda. Of - mögensverhältnisse darzulegen . Die Ge - fensichtlich fehlten die Mittel, um es instand - heime Staatspolizei teilte mit, dass durch die zuhalten. 1938 musste das einst elegante „Transferierung der anfallenden Zinsen ihres Wohnhaus der Familie Löbenstein an einen gesperrten Vermögens in Höhe von 3000, –RM Arzt verkauft werden. jährlich der Lebensunterhalt der Löbenstein Spätestens seit Ende des Jahres 1938 war (sic!) hinreichend gesichert“ sei. Am 9. August Klara Löbenstein in der Friesenstraße 3 ge - 1939 wurde ihr Ersuchen um die Pensions - meldet, auch während der Volkszählung am zahlung abgelehnt. 17. Mai 1939. Sie lebte dort in dem Ge - Der Hildesheimer Anwalt Goldberg be - schäftshaus Stern & Co Manufakturwaren richtete Jahre später in seinen Erinnerungen, von Albert Stern, in einem der schrecklichen dass Dr. Klara Löbenstein nach Argentinien Judenhäuser, wo Hildesheimer Juden unter fliehen konnte. 74 Tatsächlich kam sie am katastrophal beengten Verhältnissen zu - 5. Oktober 1941 mit dem Dampfer Monte sammenrücken mussten. Unter den Bewoh - Albertia in Buenos Aires an. Wann sie nern waren auch Frauen und Töchter aus Deutschland verließ und von wo sie 1941 guten bürgerlichen Familien, die 1942 von nach Argentinien aufbrach – von Spanien hier aus deportiert worden sind – viele von oder noch von England aus, ist nicht be - ihnen alt, verarmt oder alleinstehend, die kannt. Das internationale Schiffsregister vielleicht im Vertrauen auf den Respekt vor weist für 1941 eine „Monte Albertia" nach, dem Alter, ihrer sozialen Stellung oder auch die unter spanischer Flagge fuhr und in Bil - wegen der patriotischen Gesinnung der Fa - bao beheimatet war. „ Da es eine britische milie dageblieben waren. All das traf ja auf Zulassung zum Transport von Passagieren Klara Löbenstein zu. Sie erlebte noch die Po - hatte, könnte es also auch aus Großbritan - grome und öffentlichen Misshandlungen von nien gekommen sein – dies ist aber eher eine Juden im November 1938 mit dem Brand vage Vermutung“ .75 der Synagoge am Lappenberg. Eine der größten jüdischen Gemeinden Unter diesem unvorstellbaren Druck sah der Welt befand sich seinerzeit in Buenos auch Klara Löbenstein, wie andere in Hildes - Aires, wo schon der Bankier Albert Plaut und heim verbliebene Juden, nur noch die Ret - Fabrikant Gustav Fränkel aus Hildesheim mit tung in der Emigration. Mit der vagen Aus - ihren Familien Zuflucht gefunden hatten. 76 sicht, „in einer Quäkerkolonie in England unterzukommen und sich dort hauswirt - schaftlich zu betätigen“ , um dann nach Pa - lästina weiterzureisen, bat sie am 14. März 1939 die Behörden, ihr nach „Verlegung ihres Wohnsitzes ins Ausland“ die Pension weiterzuzahlen. Denn über ihr Geld, das auf einem Sperrkonto der Deutschen Bank läge, dürfe sie nicht verfügen. Über ihren Antrag ist ein Schriftwechsel erhalten. Das Reichs - ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin fragte nach, ob in Abb . 17: „Monte Albertia“ Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 79

Eine der wichtigen Anlaufstellen für Emigran - der Löbenstein es noch gekannt hatten – mit ten in Buenos Aires war der 1933 gegründete seiner reichen Tradition, Kultur und Zivilisa - „Hilfsverein deutschsprechender Juden“, ab tion, der jüdischen und bürgerlichen Lebens - 1939 „Asociación Filantrópica Israelita“, AFI, welt war für immer untergegangen. genannt, der mit den Einreiseformalitäten, bei der sozialen Eingliederung der Flücht - Für Auskünfte und Hinweise danke ich linge, der Arbeits- und Wohnungssuche mit Thomas Beck, Heimatverein Datterode; Prof. Sprachkursen und Sachspenden behilflich Dr. Peter Fromherz, München (Annie Loe - war. Aus der Kartei deutsch-jüdischer Ein - benstein); Gerlinde Griepenburg-Burow, wanderer im Archiv des AFI, Karten-Nr.: Hannover (Realgymnasium I, später Tell - 8634, geht hervor, dass sich Klara Löbenstein kampfschule); Dr. Karl Kollmann Stadtarchiv hier am 23. Oktober 1941 meldete. Sie Eschwege (Löbenstein Eschwege); Elizabeth wurde als Studienrätin eingetragen. „Sprach - Levy, Jerusalem (Stammbaum Familie Löben - kenntnisse: Englisch, Französisch, Spanisch stein Datterode); Gad Loebenstein, Jerusa - und Hebräisch. Angefordert von der Schwes - lem; Jo Lobenstein, London/ Hackney; Mar - ter Erna Karg. Reise bezahlt durch Erich Karg. git Mennicke, Stadtarchiv Kassel (Ruben - Gute Stellung als Lehrerin in Mathematik sohn); Fritz Ostkämper, Höxter (Rubensohn); und Sprachen!" Die Kargs waren in der Ca - Paula Plaut, Buenos Aires; Claudio Fraenkel, bezón 2815 gemeldet, einer damals noch Asociación Filantrópica Israelita, Buenos schwach besiedelten, preiswerten Wohnge - Aires (vormals „Hilfsverein deutschsprechen - gend. Am 21. Dezember 1941 erhielt sie der Juden“); Helene Thill, Koblenz; Alfred eine Empfehlung vom Britischen Konsulat in Wildauer, Oberfinanzdirektion Hannover; Buenos Aires, 77 was für einen vorangegange - Nicolai M. Zimmermann, Bundesarchiv Ber - nen Aufenthalt in Großbritannien spricht. In lin diesem Zeitraum war die Einreise nach Ar - gentinien schon sehr erschwert und nur noch im Rahmen von Familienzusammen - führungen möglich und zwar mit dem Nach - weis, dass der Angehörige für seinen Lebens - unterhalt selbst oder die Verwandten dafür aufkommen konnten. So hatten die Schwes - tern Klara und Erna Löbenstein in der Emi - gration wieder zusammengefunden. Wussten sie von Frieda Löbenstein in Sao Paulo? Im Gedenkbuch des Bundesarchivs für die er - mordeten Juden sind ihre Schwester Dora und ihre Neffen Rudolf und Erich Rubensohn nicht vermerkt. 78 Überlebten sie? Konnten sie entkommen? Blieben sie zusammen? Standen die Schwestern in Verbindung? In ihrer Heimatstadt Hildesheim verbrann - ten in den letzten Kriegsmonaten 1945 bei Bombenangriffen die alten Straßen der Stadt, das Geschäftshaus der Familie, das Eltern - haus und die Höhere Töchterschule in der Goslarschen Straße sowie das Andreas-Real - gymnasium. Das Hildesheim – wie die Kin - 80 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

Anmerkungen Stadt Hildesheim, Zeitraum: 1874 –1945. 19 Rudolf Neugebauer / Julius Orendi: Handbuch 1 Karl Kollmann / Thomas Wiegand: Spuren der orientalischen Teppichkunde. Leipzi g1909. einer Minderheit. Judenfriedhöfe und Synago - 20 Christian Augustin, Hildesheim, hat mit Schü - gen im Werra-Meißner-Kreis. Hg. vom Mu - lern der Robert-Bosch-Gesamtschule den Jüdi - seumsverein Bischhausen/Wichmannshausen schen Friedhof an der Peiner Landstraße doku - e.V., Kassel 1996, S. 105. Grab-Nr. 18 und 63. mentiert. – LAGIS Landesgeschichtliches Informations - 21 Georg Wenzel (Bearb.): Deutscher Wirtschafts - system Hessen http://web.uni- führer. Lebensgänge deutscher Wirtschaftsper - marburg.de/hlgl/lagis/juf_xs. sönlichkeiten. Hamburg 1929. – Julius H. Kriz - html – Auskunft Liz Levy, Jerusalem: Stamm - sian: Fluchtziel Bolivien 1933–1945. Eine Ma - baum der Familie Löbenstein Datterode. terialsammlung. Norderstedt 2009. S. 54ff. 2 Thomas Beck: Eine alte Tür aus Datterode. Hei - 22 Helmut von Jan: Die Katastrophe der Hildes - matverein Datterode e.V. erforscht mit Erfolg heimer Juden 1938 –1988. Zum Gedächtnis der den Verbleib einer jüdischen Laubhüttentür 50-j. Wiederkehr. In: Alt-Hildesheim. Jahrbuch (Sukkah=Laubhütte) aus dem Dorf. In: Eschwe - für Stadt und Stift Hildesheim, 59 (1988), ger Geschichtsblätter 20 (2009), S. 62 –64. S.103. 3 Homepage Heimatverein Datterode. 23 HiAZ v. 18. August 1924. Geschäftsanzeige 4 Auskunft Dr. Karl Kollmann, Eschwege. Kressmann. 5 Liz Levy, Jerusalem: Stammbaum der Familie 24 Gebauer, Stadt Hildesheim (1950), S. 161. Löbenstein Datterode. – Auskunft Prof. Dr. Gad 25 Jörg Schneider, Die jüdische Gemeinde in Hil - Loebenstein, Rehovot. desheim 1871 –1942 (Schriftenreihe des Stadt - 6 Dokumentation des Stadtarchivs Eschwege in archivs und der Stadtbibliothek Hildesheim, Vorbereitung. Bd. 31), Hildesheim 2003, S. 127, Anm. 25. 7 York-Egbert König / Karl Kollmann: Anwälte 26 Yad Vashem, The Central Database of Shoa ohne Recht. Zum Schicksal jüdischer Juristen Victims’ Names. Online in und aus dem Werraland. In: Das Werraland, 27 Ansprache ihrer Tochter Cathérine Loeben - 63. Jhgg., 2011. S. 11 –12. stein-Kestelyn bei ihrem Begräbnis 2010 8 Homepage Heimatverein Datterode. – Aus - 28 Annie Loebenstein: Eine Methode zum Aus - kunft Thomas Beck, Datterode. tausch des leichten Wasserstoffs gegen Deute - 9 Herbert Reyer, Die „Erbauung einer neuen Sy- rium in schwerlöslichen Substanzen. Die Dis - nagoge“ am Lappenberg. In: Hildesheimer All - soziationskonstanten der Harnsäure. Disserta - gemeine Zeitung v. 6.11.1999. Aus der Heimat, tion Basel 1940. Curriculum vitae. – Auskunft S. 21. Prof. Dr. Peter Fromherz, MPG München 10 StAHi Bestand 102 Nr. 9116, Acta betr. Die 29 H. von Jan S. 101. – Yad Vashem Database. Wahl der Vorsteher, Rechnungsführer und der Gedenkblatt Agnes Landenberger Mitglieder des engeren Ausschusses 1873– 30 F. Dessauer / A. Loebenstein: Neue Karte der 1920. Atome mit Ergänzungen. Zürich: Rascher (um 11 HiAZ v.18.8.1924. Jubiläumsanzeige. 1948); L’Annonce Brabanconne Nr. 40, 12 Hildesheimer Adressbücher dieser Jahre. 4.11.2010 13 HiAZ v. 7.10.1882, Nr. 236. Geschäftsanzeige. 31 Jüdische Residentenliste Koblenz, Stadtarchiv 14 Wolfgang König: Geschichte der Konsumge - Koblenz. sellschaft. S. 193f. 32 Auskunft Fritz Ostkämper, Höxter. 15 Auskunft Stadtarchiv Brandenburg. – Adressver - 33 Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland- zeichnis Stadt Brandenburg 1879 bis 1889. Pfalz 2010 16 Häuserverzeichnis der entsprechenden Adress - 34 Adressbuch Koblenz 1868, 1879 und 1883. bücher Hildesheim. 35 Adressbuch Koblenz 1897. – Helene Thill, Le - 17 Maike Kozok: Welten hinter Glas – Schaufen - bensbilder jüdischer Koblenzer und ihre ster um 1900. In: HiAZ v. 11.3.2006. Aus der Schicksale (Veröffentlichung der Stadtbiblio - Heimat. thek Koblenz 21). Koblenz 1987. S. 363. – 18 StAHi Best. 102 Nr. 7427. Meldeakten der Stadtarchiv Koblenz: Jüdische Residentenliste. Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 81

36 Max Bär, Aus der Geschichte der Stadt Koblenz Die Musikerziehung. Hannover, im Verlag d. 1814–1914. Koblenz 1922. S. 322. Tonika-Do-Bundes 1922. 37 StAHi Melderegister. – Adressbücher Hildes - 52 Frieda Loebenstein: Das Klavier im Spiel der heim, entspr. Jahrgänge. Kleinsten (= HeftR Prakt. Musik in Kindergarten 38 StaatsB Berlin: Ah 18765 – 1878/1906, und Hort, H. 5) Dresden 1932. – Dies. Klavier - Schulschr. Hildesheim, höhere Töchterschule. pädagogik. 2. neubearb. Auflage. Heidelberg H. von Jan, S. 103. – Wilhelm Tesdorpf: Fest - 1960. – Dies.: Musikalische Erziehung durch schrift zur Feier des 50-j. Bestehens der Städti - das Klavier. In: Melos 8. Jg., Juni 1929, H. 5/6. schen Höheren Töchterschule zu Hildesheim S. 222 –226. – Dies. Die neue Musik in der Mu - 1858-1908. Hildesheim 1908. S. 64 u. 67. sikerziehung des Kindes. In: Melos, 1930. H. 39 vgl. Christina Prauss, Goetheschule, S. 39ff. – 5/6, S. 223 –225. Tesdorpf, Festschrift S. 63 und Verz. d. Festteil - 53 hier dürfte wohl eher romanisch gemeint sein. nehmer S. 7. 54 BBF/DIPF/Archiv, Personalberichte GUT Pers 40 HiAZ vom 2.April 1908, Nr. 92, S. 1 160. Bl. 3, 46 u. 59. – BBF/DIPF Jahresbericht 41 Immanuel Kant; Vorlesungen zur Pädagogik, über das Schuljahr 1927/28 am städtischen Ly - gehalten im Wintersemester 1776/77. Nieder - zeum mit realgymnasialer Studienanstalt in schrift von Friedrich Theodor Rink 1803. Landsberg a.W. – BBF/DIPF Personalbogen, on - 42 Ber. Schulj. 1903/1904 – Tesdorpf, Festschr. line. – Adressbuch Landsberg 1925. S. 66, vgl. Prauss, Schule der Frauen S. …f. / 55 Dietmar Schenk: Das Stern’sche Konservato - HiJB: großer Anteil jüdischer Schülerinnen aus rium der Musik. Ein Privatkonservatorium in dem bildungsambitionierten Bürgertum. Berlin, 1850 –1915. In: Musical Education in 43 BBF/DIPF/Archiv, GUT PERS 850: Namensver - Europe (1770 –1914). Vol.2. Ed. by Michael zeichnis des Direktors und der fest angestellten Fend and Michel Noiray. Berlin 2005. S. 131. akademisch gebildeten Lehrer 1922. 56 – Rhode-Jüchtern in: Schenk S. 226f., dort zi - 44 BBF, s .u.: Jahresberichte der Höheren Töchter - tiert „Der Tag“ v. 10.7.1932. schule Hildesheim und des Realgymnasiums 57 Homepage UDK Berlin. – Dietmar Schenk: Die Hannover. – Auskunft Gerlinde Griepenburg- Hochschule für Musik in Berlin. Preußisches Burow, Hannover. Konservatorium zwischen romantischem Klas - 45 Walter Nissen, Christina Prauss, Siegfried sizismus und Neuer Musik. Stuttgart, Steiner Schütz. Göttinger Gedenktafeln. Ein biographi - 2004. S. scher Wegweiser. Göttingen 2002. 58 UDK Universitätsarchiv: Bestand 200, Nr. 2. 46 Dank für die Erklärung an Anne Brandt, Nachlass Hellmuth Köhler. Sehnde. 59 Rhode-Jüchtern in: Schenk … S. 123. – Staats - 47 Walter Nissen et al. Göttinger Gedenktafeln. bib. Berlin SBPK, Nachlass G. Schünemann N. S. 158. Mus. Nachla. 75, C 1789. Postkarte vom 48 Stadtarchiv Göttingen: Meldekartei Klara Lö - 9.10.1934. benstein. – Entsprechende Vorlesungsverzeich - 60 E-Mail von Erzabt Theodor Hogg OSB, nisse der Georgia Augusta Göttingen. 23.2.2010. 49 Melderegister Hildesheim – Noch nicht Berli - 61 Sr. Maria Frieda Loebenstein / P. Corbinian ner Adressbuch 1914. – Anna-Christine Rhode- Gindele: Der Gregorianische Choral in Wesen Jüchtern „… ich war doch durch die acht Jahre und Ausführung, Oranienburg 1936. Druck Im - Hochschulluft sehr verwöhnt.“ Charlotte Schle - maculatahaus Oranienburg. – „Ich nehme Sie singer, Frieda Loebenstein und Charlotte Pfeffer auf …“ Schwester Maria Paula Löbenstein im Exil. In: Echolos. Klangwelten verfolgter O.S.B., Sao Paulo (Brasilien) In: Jubiläumsheft Musikerinnen in der NS-Zeit. Hg. v. A.-Ch. „Christus Komm“ 1958 zum 40jährigen Beste - Rhode-Jüchtern u. Maria Kublitz-Kramer. Biele - hen des Johannesbundes. (Freundliche Gabe feld 2004. S. 219. von Generaloberin Sr. Lutgardis Pauwelyn, 50 Vgl. Dietmar Schenk: Das Stern’sche Konserva - Leutesdorf a .Rh. 2010.) torium, spez. S. 275, 286, 292. 62 Auskunft Sr. Bernadette Pruß, Kloster Alexan - 51 Frieda Loebenstein: Intervallmethodik als Mittel derdorf. funktionaler Gehörbildung. Sonderdruck aus: 63 Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin/ Cen - 82 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

trum Judaicum. 64 Diözesanarchiv – Berlin: DAB I/1 –2, Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin. 65 Paula Löbenstein O.S.B., Sao Paulo (Brasilien) In: Jubiläumsheft „Christus Komm“ 1 66 Vgl. Walter Heise: Frieda Loebenstein. Eine Spurensuche. In: Freundesgabe für Sabine Giesbrecht. Hrsg. v. Hartmuth Kinzler. (SchrR d. FB Erziehungs- und Kulturwiss. Bd. 18) Uni - versität Osnabrück 2003. 67 Alfred Stier: Lobgesang eines Lebens. Ein Buch der Erinnerung und Hoffnung. Kassel 1964. – Thomas Phlebs: Die richtige Methode oder Worüber Musikpädagogen sich streiten. pdf.Datei auf uni-giessen.de 68 Auskunft Schwester Luitgardis Pauwelyn, Leu - tesdorf a .Rh. – Homepage Johannesbund Leu - tesdorf a .Rh. – Homepage Jugendschule Straus - berg e.V. 69 Archiv Bundesamt für zentrale Dienste und of - fene Vermögensfragen. – Dank an Alfred Wil - dauer, Hannover, für die Erläuterungen. 70 Grundbucheintrag. Archiv des Johannes-Bun - des Leutesdorf a .Rh. 71 Jörg Schneider, Jüdische Gemeinde, S. 457 72 Homepage Modehaus Kressmann Schwerin und Hildesheim 73 Yad Vashem. The Central Database of Shoa Victim’s Names. Gedenkblatt des Schwieger - sohns Harry Winkler und der Enkeltochter Bea Winkler Bayer, New York. 74 Helmut von Jan (s.u.) S. 103. 75 Auskunft Bundesarchiv Berlin. – Auskunft Schiffahrtsmuseum Wilhelmshaven. 76 H. von Jan S. 99. 77 Auskunft Claudio Fraenkel (AFI) und Paula Plaut, beide Buenos Aires. 78 Auskunft Bundesarchiv Berlin. – Nicht online Yad Vashem Database. Christina Prauss: Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufmannsgründer Lehmann Löbenstein… 83

Quellen- und Literaturverzeichnis STADTARCHIV KASSEL – Meldekartei (Familie Rubensohn) BUNDESARCHIV BERLIN LAGIS Landesgeschichtliches Informationssystem – Volkszählung 17. Mai 1939. (Klara Löbenstein Hessen / Jüdische Friedhöfe in Hildesheim, Friesenstraße 3 gemeldet) STADTARCHIV GÖTTINGEN – Bestand Reichsministerium für Wissenschaft, – Vorlesungs- und Personalverzeichnisse der Ge - Erziehung und Volksbildung. Personalakte orgia Augusta 1904 –1910. Klara Löbenstein R 4901 / 19273 (Pensionsfort - – Einwohner-Melde-Register 1906 –1910. zahlung) STADTARCHIV HILDESHEIM ARCHIV BUNDESAMT FÜR ZENTRALE DIENSTE – Hildesheimer Allgemeine Zeitung HiAZ v. UND OFFENE VERMÖGENSFRAGEN. (BADV) 7.10.1882. Nr. 236. Geschäftsanzeige – Oberfinanzdirektion Berlin – Bundesvermö - – Hildesheimer Allgemeine Zeitung HiAZ v. gensabteilung. Bestand Oberfinanzdirektion 18.8.1924. Das 50-jährige Geschäftsjubiläum. Köln Geschädigten Kartei, Sign.: 6672 (Frieda – Hildesheimer Allgemeine Zeitung HiAZ v. Loebenstein, Entschädigungsverfahren) 10.5.1936. Geschäftsanzeige. (Arisierung und ARCHIV DER STIFTUNG NEUE SYNAGOGE Neueröffnung Kressmann) BERLIN / CENTRUM JUDAICUM – Bestand 102 Nr. 9116, Acta betr. Die Wahl der – Austrittskartei der Jüdischen Gemeinde (Frieda Vorsteher, Rechnungsführer und der Mitglieder Loebenstein) des engeren Ausschusses 1873–1920. (Leh - DIÖZESANARCHIV BERLIN mann Löbenstein) – DAB I/1 –2. Hilfswerk beim Bischöflichen Ordi - – Adressbücher Hildesheim nariat Berlin 1938 –1952 – Best. 102 Nr. 7427. Meldeakten der Stadt Hil - STAATSBIBLIOTHEK BERLIN desheim. Zeitraum 1874 –1945. – Jahresberichte der Städtischen Höheren Töch - terschule Hildesheim – 1878/1906. Schulschrif - BECK, Thomas: Eine alte Tür aus Datterode. Hei - ten Ah 18765 (Klara Löbenstein) matverein Datterode e.V. erforscht mit Erfolg – Bericht über das Schuljahr 1903/1904 Städti - den Verbleib einer jüdischen Laubhüttentür sche Höhere Töchterschule, von Direktor Dr. (Sukkah) aus dem Dorf. In: Eschweger Ge - Wilhelm Tesdorpf, S. 29. Ah 18765 – 1878/ schichtsblätter, 20 (2009), S. 62ff. http://www. 1906, Schulschr., Hildesheim, höhere Töchter - heimatverein-datterode.de/juden_geschichte.html schule. BRADE, Anna-Christine: Frieda Loebenstein . In: – Nachlass Georg Schünemann N. Mus. Nachla. Pianisten in Berlin. Klavierspiel und Klavieraus - 75, C 1789 (Frieda Loebenstein) bildung seit dem 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Diet - BIBLIOTHEK FÜR BILDUNGSGESCHICHTLICHE mar Schenk und Wolfgang Rathert. Berlin FORSCHUNG BERLIN (BBF) – ARCHIV 1999. S. 82 f. – Archivdatenbank/ Personalbögen der Lehrer – (vorm. Brade): RHODE-JÜCHTERN, Anne- höherer Schulen in Preußen. Klara Löbenstein. Christine „… ich war doch durch die acht Jahre http://www.bbf.dipf.de/cgi-opac/hans.pl Hochschulluft sehr verwöhnt.“ Charlotte Schle - – Jahresbericht über das Schuljahr 1927/28 am singer, Frieda Loebenstein und Charlotte Pfeffer städtischen Lyzeum mit realgymnasialer Stu - im Exil. In: Echolos. Klangwelten verfolgter Mu - dienanstalt in Landsberg a.W. DE-B478 Sign.: sikerinnen in der NS-Zeit. Hg. v. A.-Ch. Rhode- 2AS 4930 Jüchtern u. Maria Kublitz-Kramer. Bielefeld, – Personalberichte 1922 – 1940 Städt. Lyzeum Aistesis Verlag 2004. S. 215 –241. m. Oberlyzeum u. realgymn. Studien-Anst. – Die „Kestenbergianerinnen“ . In: Leo Kesten - Landsberg a./W. - Sammlungen der Gutachter - berg. Musikpädagoge … Hg. v. Susanne Fon - stelle des BIL. BBF/ DIPF/ Archiv, GUT Pers. taine. 160. FESTSCHRIFT. 150 Jahre Tellkampfschule. Höhere UNIVERSITÄT DER KÜNSTE, UNIVERSITÄTS - Bürgerschule – Realgymnasium – Tellkampf - ARCHIV: Bestand 200, Nr. 2 (Sammlung Frieda schule. Hannover Juni 1985. Loebenstein). – Bestand 107 (Tonika-Do-Bund). GRUNER, Wolf: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national - 84 Eschweger Geschichtsblätter 23/2012

sozialistische Deutschland 1933–1945 . Bd. I. führung. Berlin 1938. Deutsches Reich 1933 –1937. München 2008. – „Ich nehme Sie auf …“ Schwester Maria Paula HEISE, Walter: Frieda Loebenstein. Eine Spurensu - Löbenstein O.S.B., Sao Paulo (Brasilien) In: Ju - che. In: Freundesgabe für Sabine Giesbrecht. biläumsheft „Christus Komm“ 1958 zum 40- Hrsg. v. Hartmuth Kinzler. (SchrR d. FB Erzie - jährigen Bestehen des Johannesbundes. hungs- und Kulturwiss. Bd. 18) Osnabrück LÖBENSTEIN, Klara: Ueber den Satz, dass eine 2003. S. 121 –154. ebene, algebraische Kurve 6. Ordnung mit 11 JAN, Helmut von: Die Katastrophe der Hildeshei - sich einander ausschliessenden Ovalen nicht mer Juden 1938 –1988. Zum Gedächtnis der existiert. Dissertation Georg-August-Universität 50-j. Wiederkehr . In: Alt-Hildesheim. Jahrbuch Göttingen, Göttingen 1910. für Stadt und Stift Hildesheim, 59 (1988), S .101 – Literaturbericht. Neue Rechenbücher für hö - u. 103. here Mädchenschulen. In: Die Lehrerin. Organ KOLLMANN, Karl; WIEGAND, Thomas: Spuren des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenver - einer Minderheit. Jüdische Friedhöfe und Sy- eins, 29 (1912/13), Heft 23, S.181 ff. nagogen im Werra-Meißner-Kreis . Kassel 1997. NEUGEBAUER, Rudolf; ORENDI, Julius: Hand - http://www.alemannia- buch der orientalischen Teppichkunde. Leipzig judaica.d e/ werra_meissner_kreis_friedhoefe.ht 1909. m PRAUSS, Christina: Amalie Loewenberg. Studien - KÖNIG, Wolfgang: Geschichte der Konsumgesell - rätin an der Goetheschule in Hildesheim. In: schaft. Stuttgart 2000. (= VJSchr. f. Sozial- u. Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom 14. Juni Wirtschaftsgeschichte, Beih. 154) S. 193f. 2008. KÖNIG, York-Egbert; Prauss, Christina; Tobies, – Eine Schule der Frauen. Aufstieg, Fall und Neu - Renate: Margarete Kahn, Klara Löbenstein. Ma - beginn der Goetheschule in Hildesheim. Göt - thematikerinnen – Studienrätinnen – Freundin - tingen 2009. nen, Berlin 2011 (Jüdische Miniaturen 108). – Jüdische Töchter- und Goetheschülerinnen aus KOZOK, Maike: Welten hinter Glas – Schaufens - Hildesheim, verfolgt, ermordet und vertrieben. ter um 1900. In: Hildesheimer Allgemeine Zei - In: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt in Stift Hil - tung vom 11. März 2006. Aus der Heimat. desheim, 81 (2009), S. 135 –156. KRIZSIAN, Julius H.: Fluchtziel Bolivien 1933 – – Verfolgt, ermordet – unvergessen. Zur Erinne - 1945. Eine Materialsammlung. Norderstedt rung an Schülerinnen der Städtischen Höheren 2009. S. 54ff. Töchter- und Staatlichen Goetheschule unter A.[NNIE] LOEBENSTEIN / F.[RIEDRICH] DES - der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. SAUER: Neue Karte der Atome mit Ergänzun - Hildesheim 2010. gen. Zürich (um 1948) SCHENK, Dietmar: Das Stern’sche Konservato - LOEBENSTEIN, Frieda: Intervallmethodik als rium der Musik. Ein Privatkonservatorium in Mittel funktionaler Gehörbildung . Sonderdruck Berlin, 1850 –1915. In: Musical Education in aus: Die Musikerziehung. Hannover, im Verlag Europe (1770 –1914). Vol. 2. Ed. by Michael d. Tonika-Do-Bundes 1922. Fend and Michel Noiray. Berlin 2005. S. – Das Klavier im Spiel der Kleinsten (= HeftR 275 –297. Prakt. Musik in Kindergarten und Hort, H. 5) – Die Hochschule für Musik in Berlin. Preußi - Dresden 1932. sches Konservatorium zwischen romantischem – Klavierpädagogik . 2. neubearb. Auflage. Hei - Klassizismus und Neuer Musik. Stuttgart 2004. delberg 1960. S. 128, 131, 166 –-167. – Musikalische Erziehung durch das Klavier. In: SCHNEIDER, Jörg: Die jüdische Gemeinde in Hil - Melos 8. Jg., Juni 1929, H. 5/6. S. 223 –226. desheim von 1871–1942. Dissertation Georg- – Die neue Musik in der Musikerziehung des Kin - August-Universität Göttingen 1998. (Schriftenr. des. In: Melos, 1930. H. 5/6, S. 223-225. d. Stadtarchivs u. d. Stadtbibl. Hildesheim, 31) LOEBENSTEIN, Sr Maria Frieda; GINDELE, P Cor - Hildesheim 2003. http://webdoc.sub.gwdg.de/ binian: Der Gregorianische Choral in Wesen diss/1999/schneider/inhalt.htm und Ausführung. Oranienburg 1936 STIER, Alfred: Lobgesang eines Lebens. Ein Buch – Der Gregorianische Choral in Wesen und Aus - der Erinnerung und Hoffnung. Kassel 1964.