Plenarprotokoll 11/161

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

161. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Inhalt:

Nachruf auf den Bundesminister a. D. Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. 12163 A Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Nachruf auf die frühere Vorsitzende des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bun- Petitionsausschusses und Parlamentarische des-Immissionsschutzgesetzes (Drucksa- Staatssekretärin Frau Lieselotte Berger . 12163 D che 11/5242) 12165 A

Begrüßung des Präsidenten des Reichstags Tagesordnungspunkt 4: des Königreichs Schweden und einer Dele- Abgabe einer Erklärung der Bundesre- gation 12164 B gierung zur Wirtschafts- und Beschäfti- gungspolitik Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Blüm, Bundesminister BMA 12165 B Rappe (Hildesheim) 12164 C Heinemann, Minister des Landes Nordrhein- Erweiterung und Abwicklung der Tagesord Westfalen 12170 C nung 12164 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 12173 C Dreßler SPD 12176 C Umbenennung des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen in „Ausschuß für Post Hauser (Krefeld) CDU/CSU 12180 A und Telekommunikation" 12164 D Stratmann GRÜNE 12181 D Tagesordnungspunkt 3: Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi . 12184 A Überweisungen im vereinfachten Verfah- Rappe (Hildesheim) SPD 12187 A ren Scharrenbroich CDU/CSU a) Erste Beratung des von der Bundesregie- 12189 B rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Frau Frieß GRÜNE 12191 A setzes zu dem Übereinkommen vom 10. März 1988 zur Bekämpfung wider- Heinrich FDP 12192B rechtlicher Handlungen gegen die Si- Weiermann SPD 12193 A cherheit der Seeschiffahrt und zum Pro- tokoll vom 10. März 1988 zur Bekämp- Linsmeier CDU/CSU 12195 A fung widerrechtlicher Handlungen ge- - gen die Sicherheit fester Plattformen, die Tagesordnungspunkt 5: sich auf dem Festlandsockel befinden Beratung der Großen Anfrage der Abge- (Drucksache 11/4946) ordneten Dr. Martiny, Roth, Schäfer (Of- b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- fenburg), weiterer Abgeordneter und der brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Fraktion der SPD: Schutz des Lebensmit- derung des Wohnungsbindungsgesetzes tels Trinkwasser (Drucksachen 11/4293, (Drucksache 11/4482) 12164 D 11/5179) II Deutscher — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Lennartz SPD 12197 B c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernäh- Frau Garbe GRÜNE 12198D rung, Landwirtschaft und Forsten zu der Frau Limbach CDU/CSU 12200 B Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Vorschlag für eine Verordnung Grünbeck FDP 12202 B (EWG) des Rates über viehseuchenrecht- liche Fragen beim innergemeinschaftli- Frau Dr. Lehr, Bundesminister BMJFFG 12205 A chen Handel mit Embryonen von Haus- Frau Blunck SPD 12207 B rindern und ihre Einfuhr aus dritten Ländern (Drucksachen 11/4238 Nr. 2.9, Kroll-Schlüter CDU/CSU 12209 A 11/5040) Kiehm SPD 12211 C d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernäh- Dr. Göhner CDU/CSU 12213 B rung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Tagesordnungspunkt 6: rung: Vorschlag für eine Verordnung Beratung der Zweiten Beschlußempfeh- des Rates über die viehseuchenrechtli- lung und des Berichts des Ausschus- chen Bedingungen für den innergemein- ses für Raumordnung, Bauwesen und schaftlichen Handel mit Geflügel und Städtebau Bruteiern sowie für ihre Einfuhr aus zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Drittländern (Drucksachen 11/4337 Bauschäden Nr. 10, 11/5041) zu dem Antrag der Abgeordneten e) Beratung der Beschlußempfehlung des Dr.-Ing. Kansy, Ruf, Dr. Vondran, weite- Petitionsausschusses: Sammelübersicht rer Abgeordneter und der Fraktion der 126 zu Petitionen (Drucksache 11/5185) CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Nolting, Zywietz, Frau Dr. Se- f) Beratung der Beschlußempfehlung des gall, Dr. Feldmann und der Fraktion der Petitionsausschusses: Sammelübersicht FDP: Bauwerkschäden (Drucksachen 127 zu Petitionen (Drucksache 11/5186) 11/343, 11/798, 11/4368) g) Beratung der Beschlußempfehlung des Beratung der Beschlußempfehlung und Petitionsausschusses: Sammelübersicht des Berichts des Ausschusses für Raum- 128 zu Petitionen (Drucksache 11/5187) ordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die Bundesre- h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht gierung: 129 zu Petitionen (Drucksache 11/5188) Zweiter Bericht über Schäden an Gebäu- den i) Beratung der Beschlußempfehlung des Zwischenzeitliche Veränderungen und Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität Erfolge bei der Schadensvorbeugung und Geschäftsordnung: Antrag auf Ge- und Schadensbeseitigung — Zusätzliche nehmigung zur Durchführung eines Maßnahmen — (Drucksachen 11/1830, Strafverfahrens (Drucksache 11/5200) . 12222 A 11/4368) Ruf CDU/CSU 12214 B Tagesordnungspunkt 8: Conradi SPD 12216B a) Erste Beratung des von der Abgeordne- ten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion Dr. Hitschler FDP 12218B DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stif- Frau Teubner GRÜNE 12219 C tung „Entschädigung für NS-Zwangsar- Echternach, Parl. Staatssekretär BMBau 12220 C beit" (Drucksache 11/4704) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 7: Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE Beratungen ohne Aussprache GRÜNEN: Politische und rechtliche In- a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung itiativen der Bundesregierung gegen- des von der Bundesregierung einge- über den Nutznießern der NS-Zwangsar- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum beit (Drucksache 11/4705) Europäischen Übereinkommen vom c) Beratung des Antrags der Abgeordneten 16. Mai 1972 über Staatenimmunität Frau Dr. Vollmer, Dr. Lippelt (Hannover) (Drucksachen 11/4307, 11/5132) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Indivi- b) Beratung der Beschlußempfehlung des dualentschädigung für ehemalige polni- Rechtsausschusses: Übersicht 13 über sche Zwangsarbeiterinnen und Zwangs- die dem Deutschen Bundestag zugeleite- arbeiter unter der NS-Herrschaft durch ten Streitsachen vor dem Bundesverfas- ein Globalabkommen (Drucksache sungsgericht (Drucksache 11/4789) 11/4706) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 III d) Beratung des Antrags der Fraktion der Tagesordnungspunkt 9: SPD: Errichtung einer Stiftung „Entschä- Beratung der Großen Anfrage der Abge- digung für NS-Unrecht" (Drucksache ordneten Kittelmann, Wissmann, Frau 11/4838) Geiger, weiterer Abgeordneter und der e) Beratung des Antrags der Fraktion der Fraktion der CDU/CSU sowie der Frak- SPD: Aufstockung des Härtefonds für tion der FDP: Ost-West-Wirtschaftsbezie- Nationalgeschädigte beim Hohen hungen (Drucksachen 11/1553, 11/2260) Flüchtlingskommissar der Vereinten Na- 12240 D tionen (Drucksache 11/4841) Kittelmann CDU/CSU f) Beratung des Antrags der Fraktion der Dr. Gautier SPD 12243 C SPD: Errichtung einer Stiftung „Entschä- digung für Zwangsarbeit" (Drucksache Funke FDP 12246B 11/5176) Stratmann GRÜNE 12247 B in Verbindung mit Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi . 12250B Vahlberg SPD 12251D Zusatztagesordnungspunkt 3: 12254 B Beratung der Unterrichtung durch die Lattmann CDU/CSU Bundesregierung: Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 10: über Härteleistungen an Opfer von na- Zweite Beratung und Schlußabstimmung tionalsozialistischen Unrechtsmaßnah- des von der Bundesregierung einge- men im Rahmen des Allgemeinen brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Kriegsfolgengesetzes vorgesehenen Lei- Europäischen Übereinkommen vom stungen und Erleichterungen bei der Be- 26. November 1987 zur Verhütung von weisführung (Drucksache 11/5164) Folter und unmenschlicher oder er- niedrigender Behandlung oder Strafe in Verbindung mit (Drucksachen 11/4028, 11/4819) Seesing CDU/CSU 12256 C Zusatztagesordnungspunkt 4: 12257 A Beratung des Antrags der Abgeordneten Singer SPD Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der Irmer FDP 12258 C CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP: Bericht über Meneses Vogl GRÜNE 12259 C private Initiativen im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär BMJ . . . 12260 B Weltkriegs (Drucksache 11/5254) Tagesordnungspunkt 11: in Verbindung mit a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht (Drucksache 11/5151) Zusatztagesordnungspunkt 5: 124 zu Petitionen Beratung des Antrags der Abgeordneten b) Beratung der Beschlußempfehlung des Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der Petitionsausschusses: Sammelübersicht CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder 125 zu Petitionen (Drucksache 11/5152) und der Fraktion der FDP: Bericht über Frau Garbe GRÜNE 12261 B den Härtefonds für Nationalgeschädig- te beim Hohen Flüchtlingskommissar Frau Dempwolf CDU/CSU 12261 D der Vereinten Nationen (Drucksache 11/5255) Frau Ganseforth SPD 12262D, 12264 B Frau Dr. Vollmer GRÜNE . . . 12223D, 12232A Funke FDP 12263D, 12267 C Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 12225 C Frau Limbach CDU/CSU 12265 D Waltemathe SPD 12228 A Frau Nickels GRÜNE 12267 B Lüder FDP 12230A Tagesordnungspunkt 12: Lambinus SPD 12232 C Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten Weiss (München), Frau Rock, Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 12233 C Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜ- Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 12234 A NEN: Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt (Drucksa- Carstens, Parl. Staatssekretär BMF . . . 12235 C chen 11/4099, 11/4949) IV Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Weiss (München) GRÜNE 12268 C Graf SPD 12277 C Oswald CDU/CSU 12270B Dr. Blens CDU/CSU 12279B Bamberg SPD 12272 B Such GRÜNE 12279 D Gries FDP 12274 B Lüder FDP 12281 A Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär BMV 12276D Spranger, Parl. Staatssekretär BMI . . . 12281 D Wüppesahl (fraktionslos) 12282 C Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nächste Sitzung 12283 C Wartenberg (), Dr. Penner, Dr. Nö- bel, weiterer Abgeordneter und der Frak- Anlage 1 tion der SPD: Datenschutzrechtliche Anforderungen an das Schengener In- Liste der entschuldigten Abgeordneten . 12285* A formationssystem (S.I.S.) (Drucksache 11/5023) Anlage 2 in Verbindung mit Deutsch-sowjetische Erklärung über die Nichtigkeit des Hitler-Stalin-Pakts Zusatztagesordnungspunkt 6: MdlAnfr 7 22.09.89 Drs 11/5225 Beratung des Antrags der Fraktion DIE Jäger CDU/CSU GRÜNEN: Datenschutzrechtliche Pro- bleme einer Europäischen Fahndungs- SchrAntw StMin Frau Dr. Adam-Schwaetzer union (Drucksache 11/5245) AA 12285* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12163

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Bonn, den 28. September 1989

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- banden sich Bescheidenheit im Persönlichen mit ren, die Sitzung ist geöffnet. Grundsatz- und Überzeugungstreue. Er hatte, wie seine Freunde sagen, eine Vorliebe für die Arbeit im (Die Abgeordneten erheben sich) stillen, doch war seine bescheidene Zurückhaltung Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemali- nicht als Mangel an Selbstbewußtsein zu verstehen. ges Mitglied, den Bundesminister a. D. Dr. Bruno Er war immer zur Stelle, wenn es um die Behauptung Heck, der am 16. September im Alter von 72 Jahren ethischer Fundamente von Macht und Politik ging. plötzlich verstorben ist. Mit seinem mutigen und aufrichtigen Eintreten für Am 20. Januar 1917 im württembergischen Aalen das von ihm als richtig Erkannte hat er sich weithin als Sohn eines Schloßgärtners geboren, im Zweiten große Achtung und Anerkennung erworben. Weltkrieg schwer verwundet, hatte Bruno Heck zu- Bruno Heck erhielt zahlreiche ausländische Aus- nächst Theologie und Philosophie und nach dem zeichnungen und war Träger des Großen Bundesver- Kriege klassische Philologie in Tübingen studiert. dienstkreuzes mit Stern und Schulterband. 1948 bestand er das Staatsexamen, 1949 das Assessor- examen, promovierte dann zum Dr. phil. und trat in Der Deutsche Bundestag wird seinem ehemaligen Rottweil in den höheren Schuldienst ein. Mitglied Bruno Heck stets ein ehrendes Gedenken Schon früh widmete sich Bruno Heck auch politi- bewahren. schen Aufgaben. Seit 1946 war er CDU-Mitglied, lei- Mit tiefer Trauer haben wir die Nachricht erhalten, tete ab 1948 den CDU-Ortsverband Rottweil und war daß unsere Kollegin „Lilo" Berger am Dienstag, dem drei Jahre lang Mitglied des Vorstandes der Jungen 26. September 1989, in den frühen Morgenstunden im Union in Württemberg. Als Bundesgeschäftsführer Alter von 68 Jahren verstorben ist. der CDU von 1952 bis 1958 wirkte er maßgeblich am Aufbau der Partei mit. Lieselotte Berger war Berlinerin — und darin war sie unverwechselbar. Sie gehörte zu dieser Stadt, in 19 Jahre lang, von 1957 bis 1976, war Bruno Heck der sie am 13. November 1920 geboren wurde und der Mitglied des Deutschen Bundestages, davon vier sie bis zu ihrem Tode eng verbunden blieb. Jahre lang, von 1957 bis 1961, Vorsitzender des Bun- destagsausschusses für Kulturpolitik und Publizistik. In Berlin wuchs sie auf, bereitete sich neben ihrer 1961 wurde er Parlamentarischer Geschäftsführer der Berufstätigkeit als Büroangestellte auf einem Abend- CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied des Bun- gymnasium auf das Abitur vor und wurde zunächst desvorstandes der CDU. einmal Dolmetscherin. Sie gehörte zu den Mitbegrün- Am 11. Dezember 1962 holte Bundeskanzler Kon- dern der Freien Universität, an der sie anschließend rad Adenauer ihn als Bundesminister für Familien- Soziologie, Philosophie und Publizistik studierte. und Jugendfragen in sein neugebildetes Kabinett. In Berlin begann auch ihr politischer Werdegang: Sein besonderes Augenmerk galt dem Familienla- zunächst als Referentin in der Landesgeschäftsstelle stenausgleich. Bruno Heck behielt dieses Amt auch -der Berliner CDU, später als Vorsitzende der CDU unter den nachfolgenden Bundeskanzlern Erhard und Landes-Frauenvereinigung, als Vorstandsmitglied Kiesinger, bis er 1968 aus der Regierung ausschied der CDU-Bundes-Frauenvereinigung und als stellver- und den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung über- tretende Landesvorsitzende der Partei. Sie war nach- nahm. Zugleich war Bruno Heck bereits neben seiner einander in einer Reihe von Arbeitsbereichen tätig, Ministertätigkeit seit 1966 geschäftsführendes Mit- war Dolmetscherin, Redakteurin, Referentin in der glied des Präsidiums der CDU und von 1967 bis 1971 Senatskanzlei, persönliche Referentin des Bürgermei- deren Generalsekretär. sters Amrehn und vor allem lange Zeit Beauftragte für Bruno Heck hat unserem Lande mit großer Hingabe soziale Arbeit des Landesverbandes der CDU Berlin. gedient, geprägt von einem in tiefem Glauben ver- Den sozialen Belangen und Notlagen der Bürger ge- wurzelten Verantwortungsbewußtsein und einem un- genüber war sie ihr ganzes Leben lang besonders auf- erschütterlichen Pflichtgefühl. In seinem Wesen ver- geschlossen. Man kann sagen, daß sie schließlich ge- 12164 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vizepräsident Cronenberg radezu den Ruf gewann, so etwas wie eine soziale der. Während des Aufenthalts wünschen wir Ihnen Institution zu sein. allen nützliche und interessante Begegnungen. Dieser Ruf ging ihr voraus, als sie 1971 Mitglied des Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich Bundestages wurde. Deshalb erhielt sie auch sehr die Freude, dem Kollegen Hermann Rappe zu seinem bald, nämlich im Januar 1973, das Amt einer Vorsit- 60. Geburtstag zu gratulieren. zenden des Petitionsausschusses. Dieses Amt hat sie (Beifall) über den ungewöhnlich langen Zeitraum von 14 Jah- Ich spreche ihm nachträglich die herzlichsten Glück- ren versehen und mit der ihr eigenen Energie und wünsche aus und freue mich besonders, ihm noch ein- Resolutheit ausgestaltet. mal von dieser Stelle aus gratulieren zu dürfen. Lieselotte Berger hat Wesentliches dazu beigetra- Meine Damen, meine Herren, nach einer interfrak- gen, die Bedeutung des Petitionsausschusses einer tionellen Vereinbarung soll die verbundene Tages- breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ihr rastlo- ordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der ser persönlicher Einsatz in zahllosen Einzelfällen hat Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt: zur Verankerung der Demokratie im Volk viel beige- 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu Feststel- tragen. lungen des Bundesrechnungshofes über Einflußnahmen der Industrie auf Untersuchungen und Entscheidungen des Bun- Unter Lieselotte Bergers Vorsitz wurden die Verfah- desgesundheitsamtes in Sachen Asbest (In der 160. Sitzung rensgrundsätze des Petitionsausschusses reformiert bereits erledigt.) und weiterentwickelt sowie die damit zusammenhän- 2. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN einge- genden verfassungsrechtlichen Probleme gelöst. Ihr brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des ist es zu verdanken, daß die Bestellung des Pe titions- Bundes-Immissionsschutzgesetzes — Drucksache 11/5242 — ausschusses im Grundgesetz verankert worden ist 3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Ver- und ein Bundesgesetz den Petitionsausschuß mit er- besserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über weiterten Rechten ausgestattet hat. Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Un- rechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfol- Als engagiertes Mitglied im Leitungsgremium der gengesetzes vorgesehenen Leistungen und Erleichterungen Internationalen Ombudsmannkonferenz hat Liese bei der Beweisführung — Drucksache 11/5164 — lotte Berger auch für die internationale Zusammenar- 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski beit auf dem Gebiet des Petitionswesens wichtige An- und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP: Bericht über private Initiativen im stöße geben können. Dies hat ihr auch über die Gren- Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten zen der Bundesrepublik Deutschland hinaus großes Weltkriegs — Drucksache 11/5254 — Ansehen verschafft. 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski Im März 1987 wurde Lieselotte Berger zur Parla- und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP: Bericht über den Härtefonds für mentarischen Staatssekretärin beim Bundeskanzler Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der und zur Bevollmächtigten der Bundesregierung in Vereinten Nationen — Drucksache 11/5255 — Berlin berufen, eine Aufgabe, in der sie sich erneut mit 6. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Daten- der ihr eigenen Hingabe für die Belange ihrer Heimat- schutzrechtliche Probleme einer Europäischen Fahndungs- stadt einsetzen konnte. union — Drucksache 11/5245 — Lieselotte Berger war eine Kollegin, die sich mit 7. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Frau Unruh: Novellierung des Heimgesetzes unermüdlicher Energie, mit Herz und Verstand der — Drucksache 11/5244 — Sorgen und Nöte hilfsbedürftiger Menschen annahm Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für und dadurch Vorbildliches für unsere Demokratie ge- den Beginn der Beratung abgewichen werden. leistet hat. Ich bin sicher, daß mit uns auch zahllose Bürgerinnen und Bürger um sie trauern. Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart wor- den, den Punkt 16 der Tagesordnung vor Punkt 15 Lieselotte Berger war Trägerin zahlreicher hoher aufzurufen. Auszeichnungen. Der Bundespräsident hat ihr im Mai 1987 das Große Verdienstkreuz mit Stern verliehen. Ich frage das Haus, ob es mit den soeben genannten Ergänzungen bzw. Änderungen der Tagesordnung Der Deutsche Bundestag wird „Lilo" Berger ein einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall. Es dankbares und ehrendes Gedenken bewahren. erhebt sich nämlich kein Widerspruch. Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Nun muß ich Ihnen noch bekanntgeben, daß sich Ich danke Ihnen. der Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen ein- mütig dafür ausgesprochen hat, entsprechend der Meine Damen, meine Herren, auf der Tribüne ha- Umbenennung des Bundesministeriums für Post und ben der Präsident des Reichstags des Königreichs Telekommunikation auch den Ausschuß umzubenen- Schweden, Herr Thage Peterson, und eine Delega- nen, und zwar in „Ausschuß für Post und Telekom- tion des schwedischen Reichstags Platz genommen.- munikation". Alle Fraktionen haben dem zuge- stimmt. Ich gehe davon aus, daß sich auch im Haus (Beifall bei allen Fraktionen) dagegen kein Widerspruch erhebt. — Dann ist dies Im Namen des Deutschen Bundestages und mit dem auch beschlossen. eben erfolgten Beifall begrüße ich Sie sehr herzlich in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Besuch unter- streicht die guten und freundschaftlichen Beziehun- Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 sowie gen zwischen den Parlamenten unserer beiden Län- den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12165

Vizepräsident Cronenberg 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren und ich will einen Ausblick auf Möglichkeiten für a) Erste Beratung des von der Bundesregie- mehr Arbeit und andere Arbeit in unserer Gesellschaft rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- geben. zes zu dem Übereinkommen vom 10. März Als wir im Oktober 1982 die Regierung übernah- 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher men, befand sich unser Land in einem Entwicklungs- Handlungen gegen die Sicherheit der See- tal und in einem Stimmungstief. Die regelmäßig erho- schiffahrt und zum Protokoll vom 10. März bene Infas-Umfrage ergab 1982: 63 % der Befragten 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher waren beunruhigt, pessimistisch über die politischen Handlungen gegen die Sicherheit fester Zukunftsaussichten. Für September 1989, sieben Plattformen, die sich auf dem Festlandsok- Jahre später, stellt Infas fest, daß 82 % der Bundesbür- kel befinden ger überwiegend zuversichtlich in die Zukunft der — Drucksache 11/4946 — deutschen Wirtschaft schauen. Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei den Ausschuß für Verkehr (federführend) GRÜNEN) Innenausschuß Rechtsausschuß — Sie gehören wahrscheinlich zu den 18 %. b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Anfang der 80er Jahre stagnierte unsere Wirtschaft. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ä n- Das Bruttosozialprodukt ging zurück. Man verschlei- derung des Wohnungsbindungsgesetzes erte den Vorgang damals hinter dem Kunstwort „Mi- — Drucksache 11/4482 — nuswachstum". 1982 ging die Wirtschaftsleistung um 1 % zurück, 1988 stieg sie real um 3,6 %, im ersten Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Halbjahr 1989 sogar um real 4,6 %. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ZP2 Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Ge- Die Realeinkommen der Arbeitnehmer sanken setzes zur Änderung des Bundes-Immissions- 1981 um 1,8 %, 1982 um 2,2 %; von 1985 bis 1989 schutzgesetzes haben sie insgesamt um 7,5 % zugenommen. — Drucksache 11/5242 — (Stratmann [GRÜNE]: Und die der Unterneh Überweisungsvorschlag: men?) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend) Also, zur Frage der Wende: An Stelle von Minus ein Sportausschuß Plus, an Stelle von Rückgang eine Zunahme, an Stelle Ausschuß für Wirtschaft von roten Zahlen jetzt schwarze Zahlen. Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Lippelt Haushaltsausschuß [Hannover] [GRÜNE]: Und eine korrigierte Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Statistik!) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Die Bürger werden entscheiden, welche Zahlen bes- zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — ser sind. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich auch dieses als beschlossen feststellen. Durch die Steuerreform 1990 und durch sinkende Beiträge infolge der Gesundheitsreform werden sich 1990 nochmals rund 3 % realer Einkommenszuwachs Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf: in den Taschen der Arbeitnehmer befinden. Mit ande- ren Worten: Der durchschnittlich verdienende Arbeit- Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung nehmer hat im nächsten Jahr gegenüber 1985 einen zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik realen Zuwachs an Kaufkraft von 2 100 DM Interfraktionell ist eine Debattenzeit von 2,5 Stun- den vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Phantastisch!) Das ist der Fall. Dann darf ich das als beschlossen — das ist sozusagen eine zweiwöchige Urlaubs- feststellen. reise — , dank einer vernünftigen, soliden Wirtschafts-, Wir können mit der Aussprache beginnen. Das Wort Finanz- und Sozialpolitik. hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, (Beifall bei der CDU/CSU) Norbert Blüm. Wenden wir auch den Blick auf den Arbeitsmarkt: Zu Beginn dieses Jahrzehntes, 1980, stieg die Arbeits- losigkeit dramatisch an, zwischen 1980 und 1983 um Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord- nung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit rund 1,37 Millionen Arbeitnehmer, die arbeitslos wur- dieser Regierungserklärung will ich eine kurze Bilanz- den. Das war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit um über die Ergebnisse von sieben Jahren Arbeitsmarkt- 154 %. Die Zahl der Kurzarbeiter — Kurzarbeit ist ja eine Teilarbeitslosigkeit — stieg um 539 000, also um und Beschäftigungspolitik geben. Denn es ist fast auf den Tag genau sieben Jahre her, daß diese Koalition knapp 400 %. Die Zahl der Arbeitsplätze — das ist, im Oktober 1982 die Verantwortung übernahm. Ich glaube ich, das wichtigste Datum — sank in der glei- will Antworten auf Fragen geben, die unsere Bürger chen Zeit um rund 1 Million. derzeit im Zusammenhang mit den zu uns kommen- Wie ist das Ergebnis heute? Die Zahl der Erwerbs- den Landsleuten, den Aus- und Übersiedlern, stellen, tätigen erreichte im Juli 1989 27,72 Millionen. Das ist 12166 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bundesminister Dr. Blüm der höchste Stand der Erwerbstätigen seit dem vermittelt. Das ist das beste Ergebnis seit 1977. Es Kriegsende. Das ist ein Beschäftigungsrekord in unse- zeigt, wie unser Arbeitsmarkt in Bewegung geraten rem Land. ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch das ist Allein gegenüber dem Juli 1988 stieg die Zahl der eine Wende!) Erwerbstätigen um 360 000, Seit Ende 1983 bis heute — Auch das ist eine Wende. ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäf- tigten um rund 1,5 Millionen gestiegen. Auch hier (Beifall bei der CDU/CSU) weise ich auf den Unterschied hin: In den letzten Jah- Die Arbeitgeber meldeten 1989 bisher knapp ren der Regierung Schmidt gingen knapp 1 Million 1,5 Millionen offene Stellen. So viele offene Stellen Arbeitsplätze verloren; jetzt haben wir 1,5 Millionen gab es seit 1977 nicht mehr. Arbeitsplätze gewonnen. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch das ist (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Da muß er eine Wende!) selber lachen!) Nach der Wende 1982 überschrieb die Wochenzei- Auch hier der Unterschied zwischen roten Zahlen und tung „Die Zeit" einen Beitrag mit der damals utopisch schwarzen Zahlen! klingenden Überschrift: „Hoffen auf das zweite Wun- (Beifall bei der CDU/CSU) der." Was damals als Utopie galt, ist heute Wirklich- Mit rund 65% waren Frauen an dem Arbeitsplatz- keit. Es ist kein Wunder, aber es ist das Ergebnis des gewinn überproportional beteiligt. Noch nie in der Fleißes der Arbeitnehmer, der Handwerker, der Un- Geschichte unserer Republik hatten so viele Men- ternehmer, der sich wieder lohnt. schen Arbeit, noch nie zuvor haben so viele Frauen Wir sind seit mehreren Jahren Exportweltmeister. einen Arbeitsplatz gefunden. Das ist das Ergebnis un- Unsere Arbeitnehmer haben durch wirtschaftliches serer Politik. Wachstum, stabile Preise, sinkende Steuern ein kräfti- (Beifall bei der CDU/CSU) ges Plus in ihren Taschen — bei kürzerer Arbeitszeit und längerem Urlaub. Daran sind viele beteiligt: viele, Europaweit sind wir Spitze im Kampf gegen Ju- viele Millionen fleißige Arbeitnehmer, Handwerks- gendarbeitslosigkeit. Der Anteil der Arbeitslosen un- meister, viele Unternehmer, viele kleine und mittlere ter 25 Jahren an der Zahl aller Arbeitslosen betrug im Unternehmer, die von den verbesserten Bedingungen Juli 1989 in Italien 53 %. Jeder zweite Arbeitslose in Gebrauch gemacht haben. Italien war ein Jugendlicher unter 25 Jahren. In Por- tugal betrug diese Zahl 42 %, in Spanien 41 %, in den Ich will hier ganz besonders mittelständische Un- Niederlanden 37 %, in Luxemburg 36 %, in Irland ternehmen erwähnen. 97 % der neuen Arbeitsplätze 33 %, in Frankreich 30 %. In Großbritannien betrug sind in den kleinen und mittleren Unternehmen ent- der Anteil 29 %. Fast jeder dritter Arbeitslose dort war standen. Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur unter 25 Jahren. wirtschaftlichen Besserung geleistet. (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Und dort (Beifall bei der CDU/CSU) regiert Frau Thatcher!) Auch an diesem Tag soll nicht vergessen werden, daß Mit weitem Abstand folgt die Bundesrepublik mit das Lehrstellenwunder ein Mittelstandswunder, ein 16,9 %. Betrachten Sie die Extreme: über 50 % in Ita- Handwerkerwunder war. Die haben für die junge Ge- lien und 16 % bei uns! neration mehr getan als alle sozialistischen Bildungs- ideologen zusammen! Der Lehrstellenmarkt hat sich gewandelt. Vor drei Jahren war noch das Stichwort „ Lehrstellenkatastro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) phe " in der Diskussion. Wir hatten mehr Lehrstellen- bewerber als Lehrplätze. Heute, drei Jahre später, ist Die deutschen Arbeitnehmer haben den Kopf nicht das Wort vergessen. Wir haben wieder mehr Lehr- in den Sand gesteckt, sie haben mitgemacht, haben plätze als Lehrstellensuchende. Wenn jemand fragt: sich weiterqualifiziert, haben angepackt. Die Politik Wo ist die Wende, dann sage ich ihm: Da ist die kann und soll die Bedingungen für den wirtschaftli- Wende. chen Erfolg verbessern. Mehr kann und darf eine frei- heitliche Politik nicht. Mehr kann und darf sie nicht! (Beifall bei der CDU/CSU) Bedingungsverbesserung ist das Ziel einer freiheitli- Ende August standen 149 000 unbesetzten Lehrstel- chen Politik. Sozialistische Wirtschaften wollen alles len noch 58 000 nichtvermittelte Bewerber gegen- bestimmen und den Produzenten und Konsumenten über. Mit anderen Worten: Es gibt dreimal so viele nichts überlassen. Sie wollen alles und erreichen offene, unbesetzte Lehrstellen wie Lehrstellenbewer- nichts, was in diesen Tagen augenfällig ist. ber. Wo ist die Wende? — Hier ist die Wende. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Unruh Wir haben die Bedingungen verbessert. Von 1983 [fraktionslos]: Nur, das glaubt Ihnen draußen bis 1988 haben wir 31 Milliarden DM für berufliche niemand!) Bildungsmaßnahmen ausgegeben. 2,8 Millionen Per- 334 000 Menschen haben im August ihre Arbeitslo- sonen wurden gefördert. Für berufliche Rehabilitation sigkeit beendet. In keinem August vorher gab es eine — das sind Rekordzahlen — : 13 Milliarden DM; für so hohe Abmeldung aus der Arbeitslosigkeit. Seit Jah- Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Zeitraum von resbeginn wurden 1,5 Millionen Menschen in Arbeit 1983 bis 1988: 15 Milliarden DM. Wir haben die Ar- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12167

Bundesminister Dr. Blüm beitsbeschaffungsmaßnahmen verdreifacht — von Einwanderungsprobleme. In Moskau habe ich noch wegen „Kahlschlag" ! keine Asylantenschlagen gesehen, in Ost-Berlin auch nicht. Wenn unser Land so schlecht wäre, wie die (Scharrenbroich [CDU/CSU]: So ist es!) Sozialdemokraten es machen, wenn das Elend und 1982 — Herr Heinemann, richten Sie das Ihren Anzei- das Chaos allgemein wären, dann frage ich mich, gengebern aus, die heute wieder von „Kahlschlag" warum alle Welt in das Wohlstandsland Bundesrepu- reden — wurden 7 Milliarden DM für aktive Arbeits- blik will. marktpolitik ausgeben; 1989 sind es 15 Milliarden DM. Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) würden Arbeitsmarktmaßnahmen abbauen? Können Wir legen dabei die Hände nicht in den Schoß. Wir Sie die Rechnung nicht verstehen: 7 Milliarden DM sind nicht selbstzufrieden. Natürlich gibt es Aufga- sind noch nicht einmal halb soviel wie die 15 Milliar- ben. Natürlich gibt es noch Armut bei uns. Sie muß den DM, die wir in diesem Jahr leisten. bekämpft werden. Aber als Massenelend ist sie Gott (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — sei Dank bei uns unbekannt. Wer das bestreitet, soll Günther [CDU/CSU]: Er meint Nordrhein- sich einmal in der Welt umsehen, um zu wissen, was Westfalen!) Elend ist. Und auch im kommenden Jahr wird die Bundesanstalt (Günther [CDU/CSU]: So ist es!) wieder 15 Milliarden DM ausgeben. Wir wollen Armut bekämpfen auch in unserem Lande. Ab 1990 werden die Bürger durch unsere Steuer- Aber Massenelend gibt es in unserem Lande Gott sei senkungsmaßnahmen um rund 49 Milliarden DM Dank nicht. Das ist auch der Erfolg des Fleißes seiner netto entlastet. Insgesamt 4,5 Millionen Erwerbstätige Bürger und einer guten Politik. werden nach der Steuerreform überhaupt keine Lohn- (Beifall bei der CDU/CSU) und Einkommensteuer mehr zahlen. Den Bundes- ländern fließen nach dem neuen Strukturhilfegesetz Wir wollen die Hände nicht in den Schoß legen. seit 1989 jährlich 2,4 Milliarden DM für Infrastruktur- Denn es gibt Schatten, auch auf dem Arbeitsmarkt. und Umweltmaßnahmen zu, allein dem Land Nord- Ich denke an die Langzeitarbeitslosen. Manche rhein-Westfalen 750 Millionen DM, 750 Millionen schließen die Augen vor der Langzeitarbeitslosigkeit. DM, mit denen Rau durch das Land geht und sich mit Wir müssen und wollen den Langzeitarbeitslosen hel- dem Absender verwechselt. fen, den Weg zurück zur Arbeit zu finden. Manche hat (Hauser [Krefeld] [CDU/CSU]: So ist es! Mit der Mut, manche hat sogar der Wille zur Arbeit ver- denen er sich brüstet!) lassen. Sie haben sich eingerichtet in einem Status „Draußen", eingerichtet in einem Gefühl, nicht ge- Wenn sich ein Briefträger mit dem Absender ver- braucht zu werden. Selbstvertrauen baut sich ab. Ge- wechselte, würde er als Hochstapler attackiert wer- gen diese Welle der Resignation kämpft unser Pro- den! gramm für die Langzeitarbeitslosen und gegen die (Beifall bei der CDU/CSU) Langzeitarbeitslosigkeit. Die realen Einkommen sind gewachsen, soziale Be- (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch bei die lastungen sind zurückgenommen worden. Meine Da- sem Thema liest die SPD nur Zeitung!) men und Herren, auch wenn Sie es nicht gerne hö- 1,75 Milliarden DM stehen dafür seit dem 1. Juli zur ren: Verfügung, nämlich für Lohnkostenzuschüsse, für Zu- (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Die SPD liest schüsse an Maßnahmenträger, die besonders schwer nur Zeitung!) Vermittelbaren helfen sollen, und zwar auch in bezug Ich behaupte nicht, daß es allen Deutschen gutgeht, auf die Motivation helfen sollen, zur Arbeit zurückzu- aber den Deutschen in der Bundesrepublik ging es finden. noch nie so gut wie im September 1989 — noch nie so Aber wir brauchen nicht nur Geld. Geld ist nur die gut! eine Sache. Wir brauchen eine große Kooperation des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) guten Willens für die Langzeitarbeitslosen. Deshalb appelliere ich an die Länder, auch an Nordrhein- Die SPD attackiert uns mit dem Vorwurf des „Kahl- Westfalen, einen runden Tisch zu bilden und um die- schlags", heute morgen wieder. Ich frage mich, sen runden Tisch alle Gutwilligen zu versammeln — je warum, wenn wir wirklich dieses kahlgeschlagene mehr, um so besser — : die Tarifpartner, Gewerkschaf- Land wären, ausgerechnet zu uns in dieses kahl ten und Arbeitgeber, die Kammern, die Kirchen, die geschlagene Land, Menschen aus aller Welt wollen. Wohlfahrtsverbände. Es gibt keine Patentrezepte. Wir Warum ausgerechnet zu uns? stellen das Geld zur Verfügung. Ideen müssen vor Ort (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Voll- geboren werden. Eine menschennahe Politik vor Ort - mer [GRÜNE]: Nun hören Sie doch mal mit wird auch den Langzeitarbeitslosen helfen. diesem Unsinn auf!) Eine große Herausforderung ist die Aufnahme un- Vor unseren Grenzen drängeln sich Menschen, die zu serer Landsleute, die als Aus- und Übersiedler zu uns uns wollen. Vor sozialistischen Grenzen drängeln sich kommen. Sie sind auch ein Stimulans für unsere Soli- Menschen, die raus wollen, um jeden Preis raus wol- darität. Sie werfen uns aus dem Trott der eingespiel- len. Das ist der Unterschied zwischen freiheitlichen ten Routine und fordern von uns schnelle Antworten. Systemen und sozialistischen Systemen. Sozialistische Der Wohnungsbau muß angekurbelt werden. Woh- Systeme haben Auswanderungsprobleme, wir hab en nungen für alle, für die Einheimischen und für die, die 12168 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bundesminister Dr. Blüm zu uns kommen! Das schafft auch Arbeit. Das ist auch Sozialistische Systeme sind es, die zur Auswanderung eine Hilfe für den Arbeitsmarkt. führen. Die Aus- und Übersiedler kommen mit nichts außer Meine Damen und Herren, Kampf gegen Arbeitslo- dem ungestillten Hunger auf Freiheit. Sie haben ge- sigkeit heißt auch Kampf gegen die, die es sich in der nug Sozialismus erfahren. Sie haben den Sozialismus Arbeitslosigkeit gemütlich gemacht haben und un- satt. Sie kommen mit Tatendrang und Vertrauen in sere Arbeitslosenversicherung ausnutzen. Wer den uns und in unsere Gesellschaftsordnung. Deshalb wirklich Arbeitslosen helfen will — und wir wollen stützen sie eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. ihnen helfen — , muß sie vor der Verwechslung mit Faulenzern schützen. Wer sie vor der Verwechslung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit Faulenzern schützen will, muß dem Mißbrauch Sie sind geradezu eine Mentalitätshilfe. Sie bringen und den Ausnutzern den Kampf androhen und den die Mentalität, seine Lebensgeschicke selber in die Kampf im Interesse der wirk lich Arbeitslosen führen, Hand zu nehmen, mit. Das könnte auch ein Schub denn die werden sonst mit denjenigen verwechselt, gegen die Gesinnung einer Hängemattengesellschaft die sich häuslich in der Arbeitslosigkeit eingerichtet werden. Sie bringen Zuversicht und damit auch ein haben. Stimulans gegen Pessimismus mit. Pessimismus ist ja (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine gut florierende Branche. Mit Miesmachen lassen sich ja bei uns gute Geschäfte machen. Die Lands- Man darf von den Verweigerern der Arbeit, von den leute, die den Sozialismus erfahren haben, werden auf Aussteigern, nicht auf jene schließen, die unter ihrer die Frustrationsexperten nicht hereinfallen. Da bin ich Arbeitslosigkeit leiden. Denen muß geholfen werden! ganz sicher. Die freie Gesellschaft hat eben für alles Wir helfen denjenigen, die arbeiten wollen und kön- ein Angebot, selbst für das Miesmachen. Das ist der nen, aber wir helfen nicht denjenigen, die arbeiten Schnickschnack, für den Freiheit auch tolerant sein können, aber nicht wollen. Denen helfen wir nicht! muß. (Beifall bei der CDU/CSU) Unsere Landsleute bringen die Erfahrung mit, was Ein Beispiel dafür, daß es solche gibt, bietet das Freiheit wert ist. Ich finde, in dieser Wohlstandsgesell- Arbeitsamt Neumünster, wo 344 Arbeitnehmer zur schaft könnte die Selbstverständlichkeit der Freiheit Teilnahme an einem Kurs aufgefordert wurden. Von zum Erlahmen unserer Kräfte führen. Insofern sind diesen 344 Arbeitnehmern sind 56 gar nicht zur Bera- unsere Landsleute, die mit der Erfahrung des Sozialis- tung erschienen. 39 lehnten die Teilnahme ohne mus zu uns kommen, geradezu eine Stütze eines wichtigen Grund ab. 38 haben sich aus der Arbeitslo- neuen Aufbruchs, sigkeit abgemeldet. 29 haben die Maßnahme ohne (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Sie de- wichtigen Grund nicht angetreten. 8 waren postalisch mentieren Herrn Dregger und Ihre Deutsch- nicht erreichbar. Das sind zusammen 170 Leistungs- landpolitik, weil Sie nicht mehr daran glau- empfänger; also sind 50 To gar nicht gekommen oder ben!) hatten kein Interesse. Die waren offenbar nicht von der Not getrieben, sonst wären sie ja wenigstens ge- der Freiheit und der Selbstverantwortung in unserem kommen. Die hatten offenbar keinen unstillbaren Leben einen größeren und stärkeren Platz einzuräu- Hunger nach Arbeit; sonst wären sie ja wenigstens men, als es in den Betreuungsgesellschaften sozialisti- einmal zum Arbeitsamt gekommen. Das legt doch den scher Art der Fall war. Verdacht nahe, daß sich diese Zahl auch in der Hoch- (Beifall bei der CDU/CSU) rechnung so bestätigen wird. Für unser Sozialsystem sind die Aus- und Übersied- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ler nicht nur eine Solidaritätsaufgabe, sondern sie hel- Ein weiteres Beispiel bietet das Arbeitsamt Ham- fen uns auch. Sie helfen unserem Rentenversiche- burg. Rund 1 800 Leistungsempfänger wurden dort rungssystem durch die Verjüngung. Gerade in einer gezielt zur Meldung aufgefordert. Sie sollten sich ein- Gesellschaft, die von Kinderarmut bedroht ist, helfen mal melden. Das ist ja keine unzumutbare Aufforde- sie unserem Sozialsystem. rung vom Arbeitsamt. Das Aussiedlerproblem wird nicht durch Integra- (Frau Unruh [fraktionslos]: Ich schicke Sie tion hier an der Wurzel gelöst, sondern durch Libera- auch einmal zu einem Kurs!) lisierung in den Herkunftsländern. Der Sozialismus 20 % haben sich — nur auf Grund dieser Einladung — treibt die Menschen aus ihrer Heimat. Das ist der sofort aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet. Auch die schwerste Vorwurf, den man dem Sozialismus ma- waren offenbar nicht von Not und Hunger nach Arbeit chen kann. getrieben. Sie haben sich sofort abgemeldet! (Beifall bei der CDU/CSU — Scharrenbroich Wir müssen nach neuen Möglichkeiten der Arbeit [CDU/CSU]: Der SPD bleibt die Sprache - suchen. weg! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die Spucke auch!) (Frau Unruh [fraktionslos]: Indem man blöd sinnige Kurse anbietet!) Denn niemand verläßt seine vertraute Umgebung aus Lust und Laune. Es ist der Sozialismus, der die Men- Eine Gesellschaft verliert jede Kraft, wenn man sich schen zur Aus- und Übersiedlung treibt. auf andere verläßt. Es ist ein sozialistischer Irrtum, zu glauben, der Staat könnte alles besser, wüßte alles (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Blasen Sie besser und machte alles besser. Freiheit und Verant- sich nicht so auf!) wortung haben ihr Subjekt in der Person des Men- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12169

Bundesminister Dr. Blüm schen. Der Sozialismus jeder Spielart verflüchtigt die sere Krankenversicherungsreform diesen Erfolg Problemlösung ins Kollektive und verdrängt deshalb hatte, Initiative und persönliche Verantwortung. Mitverant- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wortung ist ohne Freiheit nicht möglich. Sozialistische Gesellschaften sind ohne Schwung. Kreativität ist und zwar gegen alle Miesmacher! keine Sache von Planungsapparaten und Funktionä- Da redet die SPD von „Kahlschlag". Ja, wem haben ren. Sozialistische Gesellschaften folgen der Utopie wir denn geholfen? Wir haben den Beitragszahlern des Schlaraffenlandes und landen im gut verwalteten geholfen. Das sind Millionen kleiner Leute, die nicht Elend. mehr ausgenommen und nun davor bewahrt werden, daß sie für überhöhte Preise zur Kasse gebeten wer- (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Thema verfehlt!) den. Wir wollen eine Gesellschaft mit Selbstvertrauen. (Zuruf der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Wir wollen eine Gesellschaft, die sich selber etwas Bohl [CDU/CSU]: Die SPD ist sprachlos! Sie zutraut. Wir brauchen Mitbürger, die nicht immer und ist völlig ruhig!) überall Lösungen und Hilfen von anderen verlangen. Das war auch der Auslöser für unsere Gesundheitsre- Wir haben auch Vergeudung und Überversorgung form. Unser Gesundheitssystem stand in Gefahr, zur abgebaut, damit wir das Geld haben, um denen zu großen Trainingsstätte der Fremdsteuerung des Men- helfen, die die Hilfe am meisten notwendig haben, schen zu werden. Es erweckte den Anschein, als wäre nämlich den Pflegebedürftigen. 600 000 Schwerst- Gesundheit nur eine Frage der Lieferung von außen pflegebedürftige werden zu Hause versorgt: Mütter und nicht auch eine Leistung der Selbstverantwor- versorgen ihre Kinder, Väter versorgen ihre Kinder, tung. Frauen ihre Männer, Männer ihre Frauen, 600 000! Das sind die stillen Heiligen des Sozialstaats. An die Es stimmt nicht, wenn man sagt, daß, je teurer un- hat bisher niemand gedacht. Wir helfen ihnen mit sere Krankenversicherung ist, das um so besser für 5 Milliarden DM für die Schwerstpflegebedürftigen. unsere Gesundheit ist. Diese Annahme ist das Alibi Sie von der SPD diskutieren über die Pflegeversiche- dafür, aus der Krankenversicherung herauszuholen, rung. Das kennen die Schwerstbehinderten. Sie wis- war immer herauszuholen ist. Wenn die Kranken- sen seit 30 Jahren, wie man ordnungspolitisch-syste- kasse alles und jeden Preis zahlt, warum soll man matisch den Pflegebedürftigen hilft. Seit 30 Jahren! dann nicht alles mitnehmen? Der Verein der Mitneh- Und gemacht haben Sie nichts. Und so wird es mit mer hatte sehr viele Mitglieder, auch viele Mitglieder Ihnen weitergehen. Von den Diskussionen ohne Ent- unter den Leistungsanbietern. Unsere Gesundheitsre- scheidungen haben die Pflegebedürftigen nichts. Wir form ist ein Impuls, Selbstverantwortung zu stärken. haben nicht endlos diskutiert. Wir haben nicht große Systemdebatten geführt. Wir haben wie der Samariter Meine Damen und Herren, die Gesundheitsreform für den gehandelt, der in Not ist: Jetzt helfen — und ist doch erfolgreich. Arzneimittelpreise purzeln über keine großen Systemdebatten! Nacht um 30 % bis 50 %. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: CDU-Pro- Sie, meine Damen und Herren von der SPD, führen zente purzeln!) doch jetzt schon die Debatte, wie Sie die Pflegeversi- Das ist doch ein Erfolg für die Versicherten. Es ist doch cherung finanzieren wollen. Sie haben das Geld noch ein Erfolg für die Arbeitnehmer und für die Handwer- nicht und wollen es schon verteilen. Der Bär ist noch ker. Arzneimittelpreise — von denen behauptet nicht erlegt, und Sie verteilen das Fell. Sie kommen wurde, sie könnten gar nicht sinken, ohne daß die mir vor wie Jäger, die noch nie auf der Jagd waren, Forschung zusammenbrechen würde — sind über aber ständig das Fell verteilen wollen. Sie streiten Nacht um 30 % und mehr gesunken. Wann je sind die sich, Frau Fuchs, doch bereits, für was die Ökosteuer großen Pharmakonzerne so in Trab und ihre Preise so verwendet wird. Liebe Schwerstpflegebedürftigen, ins Rutschen gebracht worden wie durch den kleinen während ihr wartet, bis die SPD diese Diskussion aus- Norbert Blüm? Darauf bin ich sehr stolz. getragen hat, habt ihr von dieser Regierung bereits 5 Milliarden DM erhalten! (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — der FDP) Frau Unruh [fraktionslos]: Nein, das stimmt Brillenhersteller: Es wurde angedeutet, es gebe nicht!) keine Brillengestelle für 20 DM mehr. Die schönsten Ich sehe in der Pflege auch die große Aufgabe unse- Brillengestelle, noch schöner als meines, gibt es für res Sozialstaats. Unser Sozialstaat ist wohl ausgebaut. 20 DM in allen Optikerläden. Aber er hat noch weiße Flecken. Die Pflege ist eines der großen Themen. 210 Alterstagespflegeplätze hat (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es allein über 500 000 Hörgeräte: Über Nacht um 22 % geringere Preise! Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Darunter sind Über Nacht Garantiezeit verlängert! Heute lese ich mindestens 100 000, die Bedarf nach einem Altenta- eine Anzeige: Besser hören — jetzt auf Staatskosten. gespflegeplatz haben. Das sagen dieselben, die noch vor einem halben Jahr Das ist ein großes Feld auch des Arbeitsmarkts. Ich gesagt haben, die Hörgeräteversorgung werde zu- sehe in der Pflege auch die Möglichkeit, daß jene, die sammenbrechen. Über Nacht 22 % Preissenkung! Ich für die Hochtechnologie keine Begabung entwickeln gratuliere allen Versicherten, allen Patienten, daß un- und die ein Computer vielleicht gar nicht interessiert, 12170 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bundesminister Dr. Blüm ein Beschäftigungsfeld finden, wo menschliche Zu- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Mini- wendung verlangt wird. Neue Beschäftigungsfelder ster für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes — dafür brauchen wir die Phantasie: neue Beschäfti- Nordrhein-Westfalen, Heinemann. gungsfelder in sozialen Diensten, in der Zuwendung: (Bohl [CDU/CSU]: Die SPD ist heute morgen eine Infrastruktur für Pflege sprachlos!) (Frau Unruh [fraktionslos]: Na los, machen Sie es doch!) Minister Heinemann (Nordrhein-Westfalen): Herr mit einem Programm für professionelle, halbprofessio- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! nelle und ehrenamtliche Pflege. Dazu ermuntere Wir haben heute wieder einmal einen Norbert Blüm ich. erlebt, wie wir ihn kennen, (Bohl [CDU/CSU]: Die SPD ist ganz still (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Kleiner Norbert!) heute morgen! Wie kommt das eigentlich?) — das hat er gesagt — , der Propaganda mit Politik Der Bedarf, dessen bin ich ganz sicher, ist sehr groß. verwechselt. Viele Pflegekräfte sind arbeitslos. Sie könnten in die- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten sem neuen Beschäftigungsfeld eine sinnvolle Arbeit der GRÜNEN) finden. Ich sage Ihnen: Die Arbeitsmarktpolitik der Bundes- Ich sehe auch in unserer Familienpolitik einen ar- regierung ist auch nach den wohlmeinendsten Beob- beitsmarktpolitischen Bezug. Der Erziehungsurlaub, achtern gescheitert. familienpolitisch begründet, bringt eine arbeitsmarkt- (Widerspruch bei der CDU/CSU) politische Entlastung. Ein ganz konkretes Beispiel: — Hören Sie doch zu, Herr Hauser. Den Erziehungsurlaub haben an nordrhein-westfäli- schen Schulen 1 200 Lehrer in Anspruch genommen. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie sind nicht Das Land Nordrhein-Westfalen hat allerdings nur 500 im Landtag!) eingestellt. Die Bundesregierung bekämpft statt der Arbeitslosig- (Zurufe von der SPD) keit schon lange nur die Arbeitslosenstatistik, die mit immer neuen Tricks geschönt wird. Sie verdienen an dem Erziehungsurlaub, den Sie be- (Beifall bei der SPD — Kraus [CDU/CSU]: Wo kämpft haben. Sie verdienen daran, daß Sie die ar- leben Sie eigentlich?) beitsmarktpolitische Lücke nicht füllen. Das halte ich für eine widersprüchliche Politik. Nach dem Grundsatz „Frechheit siegt" sollen die Leute jetzt vor der Kommunalwahl in Nordrhein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Westfalen ausgerechnet in der Arbeitspolitik für An den Schulen in Nordrhein-Westfalen fallen Wo- dumm verkauft werden. che für Woche 300 000 Schulstunden aus; 29 000 Leh- Herr Blüm, Sie reden davon, was der Arbeitnehmer rer sind arbeitslos. Redet nicht soviel über Arbeitslo- verdient — ich würde mit Ihnen gerne ein Gespräch sigkeit, sondern besetzt die Stellen, die gebraucht über den Arbeitnehmer führen —, Sie sagen heute werden. Ein Ausfall von 300 000 Wochenstunden an morgen aber nicht, daß der Anteil der Arbeitnehmer- den Schulen heißt Verlust für die Kinder und könnte einkommen am Volkseinkommen von 1982 bis 1988 für die Lehrer Arbeit schaffen. Das ist unsere Auf- von etwas mehr als 66 % auf etwas weniger als 57 % gabe. zurückgegangen ist. (Beifall bei der CDU/CSU — Kraus [CDU/ (Dr. Vogel [SPD]: Da ist auch eine Wende!) CSU] : Die wollen nicht!) Das ist ein Tiefstand seit Bestehen der Bundesrepu- blik Deutschland. Das hat es seitdem noch nicht gege- 25 000 Kindergärtnerinnen und Kindergärtner sind ben. Das sind die Fakten. arbeitslos; in Nordrhein-Westfalen fehlen 100 000 Kindergartenplätze. Wir könnten das Soziale mit dem (Dr. Vogel [SPD]: Davon sagt er nichts!) Arbeitsmarkt verbinden. Dafür allerdings ist weniger Der Bundesarbeitsminister kündigt zwar immer sozialistische Planungsborniertheit gefordert. Dafür wieder Vollbeschäftigung an. Schon 1983 haben Sie ist eine Politik der Kreativität, der Mitverantwortung, weniger als 1 Million Arbeitslose versprochen — ich der Freude, anderen helfen zu können, gefordert und kann Ihnen Ihre Zitate einmal schicken —, aber die nicht, alles vom Staat zu erwarten. Zahlen sagen etwas anderes. Tatsächlich rutschte die Das ist unsere Botschaft: eine Gesellschaft mit Bundesrepublik trotz einer siebenjährigen guten Selbstvertrauen; Bürger, Arbeitnehmer, Unterneh- Weltwirtschaftskonjunktur in die schlimmste Massen- mer, Handwerker, Ingenieure und Geschäftsleute, die arbeitslosigkeit ihrer Geschichte. sich selbst wieder etwas zutrauen. Hilfe ja, aber in (Widerspruch bei der CDU/CSU) erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen eine Inzwischen sind es 3,8 Millionen Menschen — das Kultur, in der die Menschen nicht am Gängelband des sage ich Ihnen — , die einen Arbeitsplatz suchen. Dazu Staates geführt werden, sondern eine nachbarschaft- gehören die rund 1,3 Millionen Menschen, die schon liche Kultur, einen neuen familiären Aufbruch für längst jede Hoffnung auf Hilfe durch das Arbeitsamt Selbstverantwortung und Selbstvertrauen. aufgegeben haben und in keiner Arbeitslosenstatistik (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und mehr auftauchen. der FDP) (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12171

Minister Heinemann (Nordrhein-Westfalen) Dazu gehören die rund 200 000 Menschen, die aus der Aber wir haben diese Zuwachsraten nicht durch die Arbeitslosenstatistik herausmanipuliert worden sind. Arbeitsmarktpolitik des Bundes erreicht, sondern in Daneben hat sich noch die Rekordzahl von über 3 Mil- weiten Bereichen nur trotz dieser Politik. lionen Sozialhilfeempfängern, für die die Gemeinden (Lachen bei der CDU/CSU) mehr als 25 Milliarden DM aufwenden müssen, zum zunehmend dunkelsten Zukunftserbe dieser Regie- Wir treiben in Nordrhein-Westfalen aktiv den wirt- rung angehäuft. schaftlichen Strukturwandel voran, aber wir treiben eben auch die Arbeitsmarktpolitik aktiv voran. Bei (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Macht einmal uns gehen Wirtschafts- und Industriestandortförde- eine bessere Wirtschaftspolitik in Nordrhein- rung und unser Kampf um Arbeitsplätze Hand in Westfalen!) Hand. Wir sind nie dem Wunderglauben erlegen, daß Die Sozialämter und die Gemeinden müssen für Ihre eine Wirtschaft im Aufschwung die Arbeitslosen auto- Versäumnisse zahlen, Herr Blüm. Da sollten Sie ein- matisch von der Straße holt. Es genügt nicht, daß die mal nachfragen. Wirtschaft läuft. Es kommt darauf an, daß möglichst (Beifall bei der SPD) alle Menschen in unserem Land von einer guten Kon- junktur profitieren. Was, Herr Bundesarbeitsminister, Als die Regierung 1982 gegen die will diese Bundesregierung eigentlich tun, wenn die schwerste Weltwirtschaftsrezession der Nachkriegs- gute Weltwirtschaftskonjunktur einmal zurückgeht? zeit ankämpfen mußte, betrug die durchschnittliche Mit welchen Arbeitslosenzahlen müssen wir dann Arbeitslosendauer noch 7,6 Monate; im Durchschnitt rechnen? von 1988 lag sie bei 13,6 Monaten. Wer wirklich an der Wiedereingliederung der Lang- (Zurufe von der SPD: Aha!) zeitarbeitslosen interessiert ist, muß mithelfen, daß Keiner weiß heute, wann hier das Ende der Fahnen- diese Menschen wieder fit gemacht werden; denn stange erreicht wird. Doppelt so viele Menschen wie demjenigen, der sich erst wieder an einen konzen- im Jahre 1982 waren zum gleichen Zeitpunkt länger trierten Arbeitstag gewöhnen muß, müssen wir mehr als ein Jahr arbeitslos, und sogar über viermal so viele bieten — ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das aufge- Menschen als im letzten Jahr der Regierung Schmidt griffen haben, Herr Blüm — als nur Arbeitsbeschaf- waren länger als zwei Jahre arbeitslos. Das ist die fungsmaßnahmen. Bilanz, die Sie zu vertreten haben. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Was macht (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh denn Nordrhein-Westfalen dabei?) [fraktionslos]) — Ich sage Ihnen das gleich. Das sind die Menschen, denen Sie in die Augen blik- ken müssen, Herr Kollege Blüm. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Heiße Luft!) Wir machen Ihnen zum Vorwurf: Sie haben eine — Seien Sie doch nicht so unruhig. Sie hören es doch Traumausgangsbasis zur Bekämpfung der Massenar- noch. beitslosigkeit mit einem langen weltweiten Konjunk- Wer diese Menschen mittelfristig persönlich stabili- turhoch, das unserer Wirtschaft gewaltige Impulse ge- sieren und beruflich qualifizieren will, der braucht geben hat, leichtfertig verspielt. Schritte zur Entschuldung, der braucht persönliche (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Stabilisierung. Zur Qualifizierung muß viel mehr ge- CDU/CSU) tan werden. Wir müssen diesen Menschen helfen, eine erste Beschäftigung zu finden. Denn am Ende Wir freuen uns mit Ihnen über mehr sozialversiche- muß — das ist unabdingbar — eine Dauerbeschäfti- rungspflichtige Beschäftigte. Gerade auch in Nord- gung stehen. rhein-Westfalen haben wir mit unserer Politik der ökonomischen Erneuerung in ökologischer und so- Wir beginnen in Nordrhein-Westfalen ab 1990 mit zialer Verantwortung hier ganz besonders große Zu- einem solchen Konzept der Verknüpfung der Maß- wachsraten trotz enormer Verluste bei Kohle und nahmen und der Bündelung des Kampfes gegen Ar- Stahl sowie in der Bauindustrie erzielt. beitslosigkeit in den Regionen und stellen Mittel be- reit. Herr Blüm, ich bin — wie auch auf anderen Ge- (Frau Limbach [CDU/CSU]: Wo denn?) bieten — gern bereit, Ihnen das einmal zu zeigen. Ich — Sie kennen dieses Land anscheinend nicht. — Als bin sicher, dabei könnten Sie eine Menge lernen. die anderen auf der grünen Wiese aufbauen konnten (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ mit Geldern, die in Nordrhein-Westfalen erwirtschaf- CSU) tet wurden, haben wir Überangebote bei der Kohle und auch beim Stahl abbauen müssen. Die Bundesregierung schlägt aber den anderen Weg ein: nicht zusätzliches Engagement, nein, Abbau (Beifall bei der SPD) bestehender Einrichtungen. Sie sind anscheinend noch dem Gedanken des Wahl- (Bohl [CDU/CSU]: Sie sind doch pleite! Das kampfs 1985 verhaftet, als Sie dieses Land mit der ist doch wie in Brasilien oder Mexiko!) Möbelwagen-Theorie vergraulen wollten. Heute är- gern Sie sich darüber, daß es Wirtschaftsbosse sind, Mit der achten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz die diesem Land das beste Zeugnis ausstellen; ich haben Sie den arbeitsmarktpolitischen Handlungs- erinnere an Herrn Herrhausen und auch an Edzard spielraum der Bundesanstalt für Arbeit in Milliarden- Reuter. höhe eingeschränkt. (Beifall bei der SPD) (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!) 12172 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Minister Heinemann (Nordrhein-Westfalen) Die Folgen hat Ihnen der Vorstand der Bundesanstalt so kann ich nur sagen: Sicher sind diese Menschen vor wenigen Tagen bescheinigt. Mit der neunten hochmotiviert. Wir alle wünschen ihnen, nachdem sie AFG-Novelle wird die Arbeitsmarktpolitik jetzt end- dem Kommunismus den Rücken gekehrt haben, einen gültig abgeschrieben. Allein für 1989 werden weitere guten Start. fast 2 Milliarden DM für dringend erforderliche Ar- (Bohl [CDU/CSU]: Dem Sozialismus!) beitsmarktmaßnahmen gekürzt. Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Blüm, — Dem Kommunismus. dann hören Sie doch wenigstens auf Kardinal Hengs- (Bohl [CDU/CSU]: Der SED! Sozialismus! bach; denn es war doch Herr Hengsbach und es waren Euren Freunden!) Ihre Bürgermeister im Ruhrgebiet, die Sie am 15. Au- gust 1989 aufgefordert haben, endlich diese neunte —Da hat der Herr Blüm ja von seinen eigenen Freun- Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz zu ändern, weil den für das, was er vor wenigen Tagen verkündet hat, im Bereich des Bistums eine ungeheure Zahl von Ar- die beste Quittung bekommen, von Herrn Späth und beitsplätzen kaputtgeht. Hören Sie doch bitte auf Kar- anderen; ihm müssen ja die Augen tränen, wenn er dinal Hengsbach, wenn Sie uns schon keinen Glau- nur daran denkt. ben schenken. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Frau Fuchs [Köln] Aber es ist doch eine Beleidigung aller einheimi- [SPD]: Tut er nicht!) schen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Dabei kommen vor allem die Arbeitsbeschaffungs- (Frau Unruh [fraktionslos]: Genau!) maßnahmen unter die Räder. Für uns in Nordrhein- Westfalen bedeutet das 207 Millionen DM weniger für so zu tun, als wären nicht auch die hochmotiviert und den Arbeitsmarkt. Soziale Einrichtungen, Arbeitslo- leistungsbereit. seneinrichtungen wie Kleiderkammerprojekte, Re- cyclingprojekte oder Projekte zur ambulanten Alten- (Beifall bei der SPD) hilfe — um nur einige zu nennen — stünden sehr Es ist doch eine Beleidigung unserer Arbeitslosen, schnell vor dem Aus, wenn nicht wenigstens die Lan- wenn sie jetzt gegen DDR-Flüchtlinge ausgespielt desregierung mit einem Notunterstützungspro- werden sollen, Herr Blüm. gramm für 1990 hier eingesprungen wäre. (Beifall bei der SPD — Günther [CDU/CSU]: (Günther [CDU/CSU]: Das ist doch ihre Auf- Wer spielt die aus? Unsinn!) gabe!) Es ist kein Ruhmesblatt der Arbeitsmarktpolitik, wenn Auch das kann man nicht wegpropagieren. DDR-Übersiedler bei uns sofort Arbeit finden kön- Aber schon in den ersten sieben Monaten dieses nen, Jahres sind 40 % weniger Neuanträge gestellt worden (Kraus [CDU/CSU]: Fragen Sie doch mal, als im letzten Jahr. Das heißt: Die Arbeitsbeschaf- warum! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das fungsmaßnahmen gehen heute weitgehend zu ist ja Hetze!) Bruch. wir aber nicht in der Lage sind, unsere Arbeitslosen (Günther [CDU/CSU]: Ist doch gar nicht vergleichbar zu qualifizieren. wahr!) Und von Ihrem Programm zur Bekämpfung der Lang- Das Versagen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpo- litik der Bundesregierung zeigt sich eben gerade zeitarbeitslosigkeit taucht doch im Nachtragshaushalt rin, daß man bei uns nicht ausreichend bereit ist, für 1989 so gut wie gar nichts auf. Das heißt: da Arbeitslose für den Arbeitsmarkt fit und interessant zu 20 Schritte zurück und einen kleinen wieder voran. machen. Vielmehr läßt man sie im Abseits der Arbeits- Es ist ein Skandal und ein Armutszeugnis, wenn losigkeit allein. nach der neuesten Analyse des Berufsbildungsbe- richtes 1989 der Bundesregierung die Zahl der unge- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) lernten Menschen in unserem Lande steigt. Wo sollen Genau in diesen Zusammenhang paßt auch die denn diese Ungelernten in einer hochtechnisierten jüngste Äußerung des Herrn Haussmann. Wenn er es Industriegesellschaft später einmal untergebracht eine hochpolitische Aufgabe nennt, eine weitere Ver- werden? Hier züchtet man doch das Subproletariat kürzung der Wochenarbeitszeit zu verhindern, dann und die Problemgruppen von morgen. Hier kann man findet er sich dabei sogar in der Gesellschaft des Bun- sich nicht auf den Markt allein verlassen. Statt über deskanzlers wieder, angeblich zu hohe Lohnnebenkosten zu jammern, sollte hier endlich ein Schwergewicht staatlicher Zu- (Günther [CDU/CSU]: Ist eine gute Gesell kunftspolitik gesetzt werden. schaft!) - (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: für den die Forderung der Gewerkschaft nach der 35- Sprechblasen!) Stunden-Woche — in seinen Worten — „absurd, dumm und töricht" ist. Wenn man heute angesichts der DDR-Flüchtlinge immer wieder hört, hier kämen endlich wieder einmal (Günther [CDU/CSU]: Alte Kamellen!) motivierte potentielle Arbeitnehmer — auch Sie ha- Ich will nicht zu der öffentlichen Beleidigung des ben das heute gesagt —, Sachverstands der Tarifvertragsparteien Stellung (Frau Unruh [fraktionslos]: Zynismus!) nehmen. Ich will auch nicht eine jüngste Befragung Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12173

Minister Heinemann (Nordrhein-Westfalen) kommentieren, nach der 90 % aller Beschäftigten in führen. Ich freue mich darauf, wenn ich sie mit Ihnen der Bundesrepublik für Arbeitszeitverkürzung sind. führen kann; denn auch hier stellen Sie etwas in den (Günther [CDU/CSU]: In erster Linie sind die Raum, was nicht den Tatsachen entspricht. für Lohnzuwachs! — Kraus [CDU/CSU]: Was (Schulhoff [CDU/CSU]: Sie sind dem doch wollen Sie überhaupt?) gar nicht gewachsen! — Bohl [CDU/CSU]: Nehmen Sie Platz, Herr Eiermann!) Ich will aber den Zusammenhang zwischen Arbeits- zeitverkürzung auf der einen und der auch vom Bun- — Der Bundeskanzler kann ja mit den Ministerpräsi- desarbeitsminister gepriesenen Zahl neuer Beschäfti- denten darüber reden. Herr Blüm, Sie sind Arbeitsmi- gungsverhältnisse auf der anderen Seite deutlich ma- nister, und ich bin es ebenfalls. Ich will mit Ihnen fach- chen. Nach der Feststellung des Instituts für Arbeits- lich über diese Frage diskutieren. Dann sieht es an- markt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Ar- ders aus, als Sie das heute morgen dargestellt ha- beit — einer Einrichtung, für die Sie die Verantwor- ben. tung haben, Herr Blüm, und der Sie sicherlich nicht (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh widersprechen wollen — [fraktionslos]) (Zuruf von der CDU/CSU: Reden Sie mal mit den Handwerkern!) Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- hat sich das insgesamt bundesweit geleistete zeitliche ordnete Graf Lambsdorff. Beschäftigungsvolumen trotz der Zunahme an Stellen kaum verändert. Im Gegenteil — das ist der sprin- gende Punkt — : Die Gesamtzahl der jährlich geleiste- Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! Meine ten Arbeitsstunden hat sich eher verringert, und mit sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es lebe der mehr Arbeitsplätzen sind insgesamt sogar etwas we- Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Wir niger Arbeitsstunden geleistet worden. Das ist doch erfreuen uns an demselben denn auch im Deutschen ein Stück Erfolg der Arbeitszeitverkürzung. Das kön- Bundestag. Was das, was wir erörtert haben, damit zu nen Sie doch nicht wegdiskutieren. tun hat, überlassen wir mal getrost dem Urteil der Wähler. Manches scheint mir doch nicht so unmittel- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh bar von der Stimmabgabe für Gemeinderäte und für [fraktionslos]) Stadtverordnete abhängig zu sein. Das wird sich alles Verehrter Herr Blüm, wenn gestern Herr Franke am nächsten Sonntag zeigen. darauf hingewiesen hat, daß die Zahl der Teilzeitar- (Dreßler [SPD]: Das hat Ihre Regierung bean beitsplätze in den letzten Jahren um 2,2 Millionen tragt!) gestiegen ist, dann ist dazu zu sagen: Ein Großteil von — Nein, nein. Vollzeitarbeitsplätzen ist in Teilzeitarbeitsplätze um- gewandelt worden. Das ist nicht mein Ziel. (Dreßler [SPD]: Wir diskutieren über die Re -gierungserklärung!) (Zurufe von der CDU/CSU) Wir überlassen den Kommunalwahlkämpfern dieses — Sie sollten, bevor Sie dazwischenrufen, einmal ein Thema. Unternehmen leiten, wie ich das jahrelang getan Der Bundesarbeitsminister hat mit dieser Regie- habe. Dann wüßten Sie, daß Sie über den Weg der rungserklärung die Fakten der wirtschaftlichen Ent- Umwandlung eine ganze Menge Arbeit wegrationali- wicklung in der Bundesrepublik zutreffend aufge- sieren können. Das wäre nicht mein Ziel. zeigt. (Beifall bei der SPD — Scharrenbroich [CDU/ (Lachen bei der SPD) CSU]: Steinzeitsozialismus! — Bohl [CDU/ —Es war schon in der Haushaltsdebatte für Sie müh- CSU]: Was soll das, Herr Eiermann?) sam, der Tatsache etwas entgegenzusetzen, daß wir Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Herr Kollege seit sieben Jahren auf stabiler Grundlage, d. h. bei Blüm, ich will Ihnen nur noch eines sagen: Ich will mit relativ stabilen Preisen Wachstum haben, daß wir die Ihnen gerne über die Fragen der Gesundheitsreform höchste Beschäftigtenzahl und Exportrekorde haben. an jeder von Ihnen gewünschten Stelle diskutieren. Herr Heinemann, gucken wir doch einmal ein bißchen (Doss [CDU/CSU]: Ein unerträglicher Eier- über die Grenzen des Landes Nordrhein-Westfalen tanz!) hinaus — wenn Sie durch das Land ziehen, zeichnen Sie doch ein ganz anderes Bild, weil Sie Ihre eigenen Ich hätte mich gefreut, wenn Sie gestern statt Herrn Leistungen propagieren — Jagoda auf dem Managementkongreß der Ortskran- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) kenkassen aus Schleswig-Holstein, Bayern und Nord- rhein-Westfalen gewesen wären. Dort haben wir mit und nehmen zur Kenntnis, wie die Wirtschafts- und Fachleuten darüber diskutiert. Ihnen müßten die Oh- - Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung internatio- ren geklungen haben, welche Meinung Herr Heitzer nal unisono positiv beurteilt wird. und die Fachleute von Ihrer Gesundheitsreform ha- Herr Heinemann, ich trete Ihnen ja nicht zu nahe, ben. Diese Meinung vertrete ich im übrigen auch. wenn ich sage, daß wir soeben den Mann reden ge- (Beifall bei der SPD) hört haben, den man seit neuestem den teuersten Briefträger des Landes Nordrhein-Westfalen nennt. Er Ihre Versäumnisse bei den notwendigen Sachen sind reist mit Bewilligungsbescheiden von Versammlung dort sehr kritisiert worden. Ich sage Ihnen: Da sollten zu Versammlung. Das sind nützliche Dinge, die man Sie sprechen; da sollten Sie die Auseinandersetzung allerdings mit der Post schicken kann. Herr Schwarz- 12174 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Graf Lambsdorff Schilling wäre sicher dankbar, wenn er das Porto kas- Ich warne vor dieser sektoralen Betrachtung. Jeder sieren könnte. Aber wir wissen ja, warum Sie das Komplex für sich genommen mag richtig und mag tun. tragbar sein. Aber die Gesamtschau muß uns nach- denklich stimmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Albern!) Es ist richtig, daß wir Standortstärken haben. Dazu Sie haben die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, gehören eine hohes Qualifikationsniveau der Arbeit- Herr Heinemann, und deren Kürzung kritisiert. Sie nehmer, eine gute Ausstattung mit Kapital, eine gute wissen ebenso wie wir, daß es in diesem Bereich, ins- Infrastruktur, eine differenzierte Produkt- und Unter- besondere im kommunalen Bereich, bei der kommu- nehmensstruktur mit einer starken mittelständischen nalen Finanzierung und der kommunalen Nutzung Komponente. Aber wir dürfen unsere Belastungen von AB-Maßnahmen, einen erheblichen Anteil von nicht immer weiter erhöhen. Einer von Ihnen, nämlich Mißbrauch gegeben hat. der Kollege Rappe, hat es vor Monaten schon gesagt: ein bißchen Atemholen im EG-Wettbewerb. Eine Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schnaufpause in der Bundesrepublik täte uns wahr- Daß die Kommunen dies in Nordrhein-Westfalen be- scheinlich gut. — Die anderen schlafen ja nicht. Wir sonders stark versucht haben, ist verständlich; denn haben unseren Standort nicht verschlechtert. Aber das Land hat die Kommunen derartig mit Umlagen andere bemühen sich, besser zu werden und aufzuho- überzogen und ihnen soviel Geld weggenommen, daß len. Da liegt das Problem, nicht im Herunterreden des ihnen nicht viel anderes übrigblieb. deutschen Standortes. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Auch nicht neu!) Zurufe von der SPD) — Manchmal muß man Sachen sagen, die nicht neu Um die exzellente wirtschaftliche Situation in der sind, weil man sie nur durch Wiederholung bei Ihnen Bundesrepublik werden wir weltweit beneidet. Man an den Verstand bringen kann. Es hilft ja nichts. braucht nur irgendwohin zu fahren, dann sagen ei- nem die Leute, sie wünschten, sie hätten unsere Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — bleme, wenn man über deren Probleme redet. Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wir reden den Standort nicht herunter!) (Zuruf von der SPD: Aber die Arbeitslosig- keit!) Gerade im Hinblick auf die Vollendung des Bin- nenmarkts müssen unsere Unternehmen fit sein, um Manch einer scheint aber zu denken, das alles komme sich flexibel den Herausforderungen anzupassen. Wir von selbst, jetzt könnten wir kräftig zulangen und bei werden die positiven Effekte der Integration nur dann den Belastungen ordentlich draufpacken. Diese Argu- ernten, wenn wir im Standortwettbewerb unsere Qua- mentation, finde ich, ist ernst zu nehmen. Es heißt: Die lität bewahren. Da spielen nun einmal die Lohnkosten Bundesrepublik hat die höchsten Lohn- und Lohnzu- und die Fragen der Arbeitszeit eine zentrale Rolle. In satzkosten sowie die höchsten Produktionskosten dieser Situation, Herr Heinemann, wäre es eine fahr- weltweit. Die Antwort lautet dann: Der Standort Bun- lässige Pflichtverletzung, wenn der Bundeswirt- desrepublik Deutschland hat andere Vorteile; wir schaftsminister nicht mit aller Deutlichkeit auf Gefah- können uns das leisten. — Die Bundesrepublik hat die ren hinwiese, die sich aus bevorstehenden Tarifrun- höchsten Unternehmenssteuern. Die Antwort heißt den ergeben können. Keiner will die Tarifautonomie — wie zuvor — : Wir können uns das leisten. einschränken. Die Tarifautonomie, meine Damen und (Zuruf der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD]) Herren, ist integraler Bestandteil einer marktwirt- schaftlichen Ordnung. Die Tarifvertragsparteien sind — Frau Fuchs, Sie haben ja die Katze aus dem Sack autonom. gelassen. Wenn Sie an die Regierung kommen, dann wollen Sie die 35 Milliarden DM auch gleich ausge- (Dreßler [SPD]: Das ist völlig richtig!) ben. Das SPD-Präsidium hat die Katze, nicht den Fuchs, zwar gleich wieder in den Sack zurückgetan; —Die Tarifvertragsparteien, lieber Herr Dreßler, sind aber nicht sakrosankt. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber sie miaut weiter! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und der FDP) Die Majestätsbeleidigung, die offenbar mancher emp- aber im nächsten Jahr kommt sie wieder heraus. Sie findet, wenn es Kritik an den Tarifvertragsparteien planen ein großes Umverteilungs- und Abgabenerhö- gibt, ist außerhalb jeder Proportion. Auch unsere Ta- hungsprogramm. Das habe ich Ihnen hier schon vor rifvertragspartner haben sich wie jede andere öffent- Wochen gesagt, und Sie haben es dankenswerter- liche Institution der Kritik zu stellen. weise — ich finde das hervorragend — öffentlich klar- gemacht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Dreßler [SPD]) Die Bundesrepublik, meine Damen und Herren, heißt es, hat die schärfsten und teuersten Umweltauf- — Ich rede immer — damit Sie nicht für die falsche lagen. Antwort: Das können wir uns leisten; wir haben Seite Partei ergreifen, mache ich Sie darauf aufmerk- andere Vorteile. — Die Bundesrepublik hat die am sam — von den Tarifvertragsparteien. Ich meine also weitesten reichenden Mitbestimmungsregeln. Die- beide. Sehr viele Menschen im Lande sind nämlich selbe Antwort. — Sie hat die kürzesten Jahresarbeits- die Macht der Großorganisationen beider Seiten sehr zeiten. leid und suchen jemanden, der diesen großen Verbän- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12175

Dr. Graf Lambsdorff den und großen Organisationen auch einmal gegen Arbeitsplätze brauchen wir. Wer Arbeitszeitverkür- den Strich redet. zung will, der muß zumindest Beweglichkeit zugeste- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — hen. Darum geht es doch. Ich habe 1983 im Bundes- Zurufe von der SPD) tagswahlkampf landauf, landab gesagt: Wir können die 35-Stunden-Woche haben, wenn wir bereit sind, Mit Recht, meine Damen und Herren, schreibt die diese Stunden an sechs Tagen in der Woche — jeder „FAZ" heute — ich zitiere wörtlich — : einzelne natürlich nur an drei oder vier Tagen in der Politik und Öffentlichkeit müssen das Recht ha- Woche — abzuleisten. — Wer aber — wie das manche ben, das Beschäftigungskriterium zum Maßstab tun — glaubt, daß man die 35-Stunden-Woche als der Bewertung der Lohnpolitik zu machen. Maschinenlaufzeit einführen kann, der wird unsere (Zurufe von der SPD) Wettbewerbsfähigkeit sehr schnell ruinieren. — Wollen Sie das bestreiten? Lesen Sie es noch ein- (Zuruf von der SPD: Wer will denn das?) mal! Das können wir uns nicht leisten. (Abg. Dreßler [SPD] meldet sich zu einer Wir fordern seit Jahr und Tag mehr Flexibilität in Zwischenfrage!) der Tarifgestaltung, regional, branchenbezogen, sek- —Ich kann das nur gestatten, wenn es mir nicht ange- toral und zeitlich. Wir wollen mehr Teilzeitarbeits- rechnet wird, Herr Präsident. plätze. Muß man das nicht als Forderung an diese Tarifrunde richten, gerade im Interesse der Frauen, die Teilzeitarbeitsplätze suchen? Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) werde es nicht anrechnen. — Herr Abgeordneter Dreßler, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischen- Wir wissen ja, daß es vor Ort, bei Bet riebsräten und anderen, viel mehr Einsicht gibt, als das bei diesen frage zu stellen. großen flächendeckenden Verhandlungen immer wieder der Fall ist. Warum gibt es hier nicht mehr Dreßler (SPD): Graf Lambsdorff, würden Sie mir Beweglichkeit, nicht mehr Differenzierung, nicht bestätigen, daß der von Ihnen gerade zitierte Kom- mehr Rücksicht auf regionale und branchenmäßige, mentar aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auch ertragsmäßige Unterschiede? Ich wiederhole mit dem Satz beginnt, daß Herr Haussmann in ein diese Frage immer wieder. Fettnäpfchen getreten hat? (Heiterkeit bei der SPD) Vizepräsident Cronenberg: Graf Lambsdorff, nun möchte die Abgeordnete Frau Fuchs eine Frage stel- len. Ich nehme an, Sie gestatten das. Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Ja, das steht dort in der Tat, Herr Dreßler. Ist denn das Hineintreten in ein Fettnäpfchen etwa immer falsch? Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Ich nehme an, verehrter Herr Präsident, daß Ihre Zusage von vorhin auch für (Heiterkeit) diese Frage gilt. Es kann sehr wohl Fettnäpfchen geben, in die man einmal hineintreten muß, Vizepräsident Cronenberg: Ich werde so verfah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren. in die man deutlich hineintreten muß, um Aufmerk- samkeit zu erregen. Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Ich bedanke mich. (Unruhe — Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das war aber ein Lob für Herrn Haussmann!) Frau Fuchs (Köln) (SPD): Graf Lambsdorff, da Sie Worum geht es denn bei dieser Diskussion, meine immer wieder darauf hinweisen, daß wir mehr Teil- Damen und Herren? Wir haben einen leergefegten zeitarbeitsplätze brauchen, frage ich Sie: Stimmen Sie Facharbeitermarkt, und dabei spielen natürlich die mir darin zu, daß damit das Arbeitszeitvolumen nicht Flüchtlinge eine Rolle. Die Flüchtlinge werden von größer wird; denn Teilzeitarbeit ist doch eigentlich diesem Arbeitsmarkt doch so aufgesogen, wie ein eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich? trockener Schwamm Wasser aufsaugt. Warum denn? Natürlich auch wegen der Mobilität. Wir wünschen keinem Menschen, niemandem, daß er die Mobilität Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Sie, meine Damen und von Flüchtlingen hat. Herren, haben offensichtlich die Statistik, nach der gerade von Frauen Teilzeitarbeitsplätze gesucht wer- (Zurufe von der SPD) den — ich wundere mich darüber, daß Sie das fragen, Darüber soll es kein Mißverständnis geben. Frau Fuchs — , nicht zur Kenntnis genommen und Das läßt einen aber doch zu einigen Fragen bezüg- - nicht verstanden. Die Frauen wollen halbtags arbei- lich des Inhalts unserer Statistik kommen. Nicht die ten, um ihren Beruf mit ihren Haushaltspflichten, mit Zahlen sind falsch. Was sagen diese Zahlen aber ei- ihren Familienpflichten zu vereinbaren. gentlich aus? Welches Bild vermitteln sie uns? (Beifall bei der FDP — Abg. Frau Beck-Ober Weitere Arbeitszeitverkürzung bedeutet entweder dorf [GRÜNE]: Die müssen halbtags arbei mehr Überstunden oder weniger Produktion. Weniger ten, weil es keine Alternative gibt!) Arbeitszeit für Facharbeiter, das heißt: weniger Ar- Diese Arbeitsplätze brauchen wir, diese Arbeitsplätze beitsplätze für ungelernte Arbeitskräfte. Gerade diese müssen angeboten werden. 12176 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vizepräsident Cronenberg: Graf Lambsdorff, offen- beherrscht wird, bei denen offensichtlich viele nicht sichtlich ist die Fragestellerin nicht zufriedengestellt. mehr wagen, den Mund aufzumachen. Sie möchte noch einmal nachhaken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(FDP) : Herr Präsident, es wird Dr. Graf Lambsdorff Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- mir auch mit der zweiten Antwort vermutlich nicht ordnete Dreßler. gelingen, dieses Ziel zu erreichen. Dennoch will ich die Frage gern hören. (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus heiterem Himmel sind wir mit dieser Debatte beglückt worden. Frau Fuchs (Köln) (SPD): Ich möchte auf meine (Kraus [CDU/CSU]: Schöner Herbsttag! — Frage zurückkommen, ob Sie mit mir der Auffassung Weitere Zurufe von der CDU/CSU) sind, daß sich durch Teilzeitarbeitsplätze das Arbeits- zeitvolumen nicht erhöht. Es gibt keinen sachlichen, wohl aber einen politischen Grund: Der Bundesarbeitsminister macht sich Sorgen um das Abschneiden seiner Partei, der CDU, bei der Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Nein. Warum soll das Kommunalwahl am Sonntag in Nordrhein-Westfa- denn nicht geschehen? Natürlich erhöht es sich. len. Selbstverständlich erhöht es sich. Sie gehen immer (Zuruf von der SPD: Zu Recht!) davon aus, daß Teilzeitarbeitsplätze durch Aufteilung Daß er berechtigte Sorgen hat, liegt nicht zuletzt an eines Vollzeitarbeitsplatzes in zwei Teilzeitarbeits- seiner eigenen Politik. Deshalb können die Umfra- plätze entstehen. Das ist einfach nicht wahr. Schließen geergebnisse für ihn und seine Partei auch nicht bes- Sie sich einer vernünftigen Ladenschlußregelung an, ser sein, als sie sind, und sie sind wahrlich bescheiden, (Lachen bei der SPD) wie jedermann weiß. dann werden Sie sehen, wie viele Teilzeitarbeits- (Beifall bei der SPD — Urbaniak [SPD]: plätze es gibt, die das Arbeitszeitvolumen erhöhen. Durch seine Politik!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deshalb heißt die Parole des Bundesarbeitsmini- Meine Damen und Herren, Gewerkschaften und sters: noch einmal ein möglichst großes Rad drehen, Arbeitgeberverbände haben immer wieder Tarifver- noch einmal auf die Torwand schießen, selbst auf die träge für die geschlossen, die Arbeit haben. Sie haben Gefahr hin, daß er wieder einmal keinen Treffer lan- nichts oder wenig für die Arbeitslosen übriggelassen, det. die vor den Fabriktoren stehen. Dann haben sie die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Wider Probleme, die sie mit diesen Tarifverträgen bewirkt spruch bei der CDU/CSU) haben — — Meine Damen und Herren, wenn Regierungserklä- (Zuruf der Abg. Frau Dr. Timm [SPD]) rungen dieses Niveau erreichen, braucht sich nie- — Frau Kollegin Timm, haben Sie irgendeinen Zwei- mand zu wundern, daß sich große Teile von dieser Art fel daran, daß über 15 Jahre lang bet riebene Sockel- parlamentarischer Gestaltung abwenden. lohnerhöhungen zu dem hohen Anteil von nicht qua- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh lifizierten oder nur halbwegs qualifizierten Arbeits- [fraktionslos] — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: kräften in der Arbeitslosenstatistik geführt haben? Das hatten Sie ja schon vorher aufgeschrie Das ist Sockellohnarbeitslosigkeit, wie es Mindest- ben!) lohnarbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten gege- Die angekündigte Regierungserklärung zur Arbeits- ben hat. Das ist die Folge von Tarifverträgen. markt- und Beschäftigungspolitik degenerierte zum (Zuruf von der SPD: Weil die Betriebe zuwe- rhetorischen Geschwafel. nig ausgebildet haben! Das ist der Grund!) (Günther [CDU/CSU]: Das glaubt doch kein Ich habe mir als Bundeswirtschaftsminister in der Mensch!) Koalition, in der wir noch zusammen waren, immer Überschrift: Blüms Kampf gegen den Sozialismus — das Recht genommen, zu Wasser, auf dem Lande und in der Luft. (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Es wird nichts rich (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) tiger!) Das gleiche Gebräu vor jeder Wahl! dies wütend zu kritisieren. Ich bleibe dabei. Ich werde In der Sache hat die Bundesregierung nichts Neues das auch zukünftig kritisieren. Ich bitte den Bundes- zu bieten. Daß die Koalition auch in dieser Debatte ein wirtschaftsminister Haussmann, sich durch die K -ritik Zerrbild der Wirklichkeit entwirft, Wichtiges einfach an den von ihm gemachten Äußerungen ja nicht den wegläßt, ist auch nicht neu. Kein einziges Wort zum Schneid abkaufen zu lassen. Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettovolksein- (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das nächste Fett- kommen. Herr Blüm, warum sagen Sie nicht, wenn Sie näpfchen aufsuchen!) eine Regierungserklärung abgeben, Es gibt viele Leute im Lande, die das hören wollen, die (Kraus [CDU/CSU]: Das hat er oft genug ge Wert darauf legen, daß auch einmal Tacheles geredet sagt! Sie haben nicht zugehört und das schon wird in einer Sache, die von großen Organisationen vorher aufgeschrieben!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12177

Dreßler daß der Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Net- Meine Damen und Herren: Die Bundesregierung tovolkseinkommen von 66,3 % um 9,1 % auf 57,2 % instrumentalisiert die Flüchtlinge aus der DDR. Das im vergangenen Jahr gesunken ist? Warum sagen Sie ist schlechter politischer Stil. nicht, daß das der niedrigste Anteil der Arbeitnehmer (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) am gesamten Nettovolkseinkommen seit 1950 ist? Die gedankliche Verknüpfung soll heißen: Wer hier (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh arbeitslos ist, sei selber schuld. Das ist es, was an und [fraktionslos] — Scharrenbroich [CDU/CSU]: für sich übergebracht werden soll. Und deswegen ist die IG Metall für Arbeits- zeitverkürzung?!) Meine Damen und Herren, daß 20 000 gut ausgebil- dete junge Menschen bessere Chance haben als die Meine Damen und Herren, kein Wort, kein einziges mehr als 2 Millionen Arbeitslosen, ist doch kein Wun- Wort zum Anstieg der Zahl der Menschen, die laufend der. In der Wochenzeitung „Die Zeit" — Sie haben sie Sozialhilfe zum Lebensunterhalt beziehen. Warum zitiert; nun zitiere auch ich sie — konnte man am verschweigen Sie, Herr Blüm, daß die Zahl der Men- 15. September folgendes lesen: schen, die laufend Sozialhilfe zum Lebensunterhalt beziehen, seit Ihrer Amtszeit um 820 000 Menschen 90 Prozent der Ankömmlinge sind Facharbeiter. gestiegen ist? Warum verschweigen Sie das? 7 Prozent haben einen Hochschulabschluß, und nur 3 Prozent können keine Berufsausbildung (Zuruf von der SPD: Das ist ein Skandal! — vorweisen. 72 Prozent der Flüchtlinge sind zwi- Beifall bei den GRÜNEN) schen 20 und 30 Jahre alt. Die Zahlen belegen: Es Dementsprechend sind im gleichen Zeitraum auch die sind die Leistungsfähigsten, die der DDR den Sozialhilfeaufwendungen der Gemeinden gestiegen. Rücken kehren. Herr Blüm, für das Jahr 1988 werden die Aufwendun- Meine Damen und Herren, die Arbeitslosen können gen auf mehr als 28 Milliarden DM geschätzt. Warum da nicht mithalten. Fast 50 % haben überhaupt keine verschweigen Sie das? Berufsausbildung. 42 % sind älter als 40 Jahre. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben die Arbeits- 800 000 sind länger als ein Jahr arbeitslos, mit den förderung in diesem Jahr massiv abgebaut. Ohne Ihre bekannten Folgen, auch was die beruflichen Fähig- Einschnitte in die Arbeitsförderung gäbe es heute we- keiten angeht. Fast jeder vierte Arbeitslose hat ge- niger Arbeitslose. Das ist Ihr „Verdienst". Es gibt fast sundheitliche Probleme. Jeder sechzehnte ist schwer- 24 000 Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnah- behindert. men weniger als vor einem Jahr. Es gab in den ersten Da finden — technisch gesagt — Verdrängungspro- acht Monaten dieses Jahres, Herr Blüm, 72 000 Ein- zesse statt. Die Leistungsfähigsten überholen die, die tritte in Qualifizierungsmaßnahmen weniger als im schon lange warten. Wie kann man, wie Sie, Herr vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres, Blüm, das tun, das daraus resultierende Potential an gesellschaftlichen Konflikten auch noch schüren? Das (Hört! Hört! bei der SPD) ist im höchsten Maße verantwortungslos. allein 52 000 weniger Eintritte von Arbeitnehmern, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) die vorher arbeitslos waren. Herr Blüm, ich sage diesen Satz ganz ernst: Überlegen (Zuruf von der CDU/CSU: Wie war das Sie bitte, ob Sie damit nicht auch Radikalen in die 1982?) Hände arbeiten. Diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern haben Sie die (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Chance auf Integration im Arbeitsleben genommen. Widerspruch bei der CDU/CSU) Sie rühmen sich Ihres Programms zur Bekämpfung Ich füge hinzu: Nur durch Schaffung von Arbeitsplät- der Langzeitarbeitslosigkeit. Allerdings ist das bisher zen und eine gewaltige Steigerung der Qualifizie- kaum mehr als eine Alibiveranstaltung. Sage und rungsmaßnahmen kann das Konfliktpotential ent- schreibe 5 000 Langzeitarbeitslose haben die Arbeits- schärft werden. Darauf hat die Bundesregierung kei- ämter bisher unterbringen können. nerlei Antwort. (Frau Limbach [CDU/CSU]: Das sind 5 000 Sie verdrängen, daß Ende August 1989 über Leute, die jetzt Arbeit haben!) 106 000 Aussiedler und rund 32 000 Übersiedler bei Das heißt doch, die Bundesregierung ist zehn große den Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet waren. Bald Schritte zurückgegangen und ist nun dabei, wieder 100 000 Aussiedler sind in Deutsch-Sprachlehrgän- einen kleinen Schritt nach vorne zu gehen. 1,8 Milli- gen der Arbeitsämter. Nach diesen Lehrgängen sind arden DM haben Sie der Bundesanstalt für Arbeit in Qualifizierungsmaßnahmen notwendig. Sonst droht diesem Jahr mit der neunten Novelle zum Arbeitsför- Arbeitslosigkeit. Aber für solche Qualifizierungsmaß- derungsgesetz und der globalen Haushaltskürzung nahmen werden keine Mittel bereitgestellt. entzogen. Ganze 116 Millionen DM haben Sie zurück- (Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit!) gegeben. Auch im nächsten Jahr ist das, was Sie über Lohnkostenzuschüsse auswerfen, nicht vielmehr als Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit hat in der die Hälfte der durch die AFG-Kürzung entzogenen letzten Woche darauf hingewiesen, „daß sich die Inte- Mittel. Herr Blüm hat dem Bundesfinanzminister ein grationsaufwendungen der Arbeitsämter für Aus- und glänzendes Geschäft zu Lasten der Arbeitslosen be- Übersiedler als Folge des großen Zustroms im näch- sten Jahr auf annähernd 6 Milliarden DM belaufen sorgt. Das ist die Realität. werden. Allein die Sprachförderung, die der Vorstand (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) nicht als eine arbeitsmarktpolitische, sondern eher als 12178 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dreßler eine politische Aufgabe ansieht, für die die gesamte dem Gebiet der billigen Massenproduktion, son- Gesellschaft eintreten müsse, erfordere etwa 2,9 Mil- dern in der Fertigung hochwertiger Spitzenpro- liarden DM" . Gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind dukte durch hochqualifizierte und entsprechend aus Steuermitteln zu finanzieren, nicht aus Beitrags- bezahlte Arbeitskräfte. Sie sichern der deutschen mitteln der Versicherten zur Bundesanstalt. Industrie die Chancen im Innovations- und Qua- litätswettbewerb. Dies ist der eigentliche Stand- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) ortvorteil, Ich erinnere erneut daran: Der Bund muß endlich sei- ner eigenen Verantwortung gerecht werden. Schöne — der Bundesrepublik Deutschland — Worte reichen nicht. Die Integrationslasten durch der nur durch den Ausbau der Qualifizierungs- Aus- und Übersiedler dürfen nicht weiter die Bei- maßnahmen gesichert werden kann. tragszahler belasten, nicht länger zu Lasten von Qua- lifizierungsmaßnahmen gehen. (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) Gewerkschaften und Arbeitgeber unterstreichen die Notwendigkeit zum Ausbau von Qualifizierungs- Die gute Konjunktur, meine Damen und Herren, maßnahmen. In Betriebs- und Tarifvereinbarungen kommt auf dem Arbeitsmarkt nur in geringem Um- gibt es praktische Schritte zur Umsetzung; das wird fang an. Wann, wenn nicht in der Zeit der Hochkon- sich weiter ausbreiten. junktur, soll die Massenarbeitslosigkeit eigentlich wirksam abgebaut werden? Die Zahl der Arbeits- Unter dem Strich nützt das allerdings nichts, wenn plätze ist in der Tat gestiegen, nicht zuletzt wegen der gleichzeitig die Arbeitsmarktpolitik gegensteuert, die von den Gewerkschaften erkämpften Arbeitszeitver- Bemühungen der Tarifvertragsparteien negativ über- kürzung. holt. Es gibt viel zuwenig vorausschauende Personal- und Qualifizierungspolitik, aber viel zuviel Geschrei, (Günther [CDU/CSU]: Doch nicht in diesem daß das örtliche Arbeitsamt einen bestimmten Spezia- Umfang!) listen gerade nicht sofort im Angebot habe. Das, was Sie als Ihren Erfolg ausweisen, haben an- (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh dere, z. B. die Gewerkschaften, gegen Ihren erbitter- [fraktionslos]) ten Widerstand zustande gebracht. Sie schmücken sich, so gesehen, mit fremden Federn und wollen zu Die Bundesregierung brüstet sich mit geschätzten allem Überfluß die nächsten Tarifverträge schon im Erwerbstätigenzahlen, von denen sie selber nicht Vorwege zensieren. Ich sage Ihnen: Weder Arbeitge- weiß, was davon normale Arbeitsverhältnisse mit or- berverbände noch Gewerkschaften haben Ihren Rat dentlicher Entlohnung und ohne Bef ristung sind. Al- erbeten. Warum eigentlich auch? les wird eingerechnet: ungeschützte Teilzeitarbeit un- terhalb der sogenannten Geringfügigkeitsgrenze, be- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten fristete Beschäftigung ohne sachlichen Grund bis zur der GRÜNEN) Arbeit auf Abruf. Auch die Zahl selbständiger und Was Sie machen, ist ein lupenreiner Ang riff auf die mithelfender Familienangehöriger wird zugerechnet, im Grundgesetz verankterte Tarifautonomie, eine der unabhängig davon, ob es sich um sogenannte Küm- Säulen des demokratischen Sozialstaates. Die Tarif- merexistenzen handelt. autonomie hat sich in Jahrzehnten bewährt. Das ist Allein die regierungsamtliche Zahl von 2,3 Millio- Ihnen offensichtlich entgangen. Seit 1949 haben Ge- nen Beschäftigungsverhältnissen bis zu einem Mo- werkschaften und Arbeitgeberverbände 230 000 Ta- natseinkommen von 450 DM macht deutlich, daß die rifverträge abgeschlossen. Über 30 000 Tarifverträge Hurra-Zahlen der Bundesregierung bei Licht besehen sind zur Zeit gültig. Ich sage Ihnen: Statt den Han- auf ein Minimum an Beschäftigungszuwachs delnden der Tarifautonomie dankbar zu sein, tram- schrumpfen. peln sie auf ihnen herum. Das wird die SPD nicht unwidersprochen hinnehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Das Institut der Deutschen Wirtschaft bestätigt dies Arbeitszeitverkürzung ist als Instrument der Be- in seinen Veröffentlichungen: Die Zahl der Erwerbs- schäftigungspolitik unverzichtbar, sorgt für gerech- tätigen hat im Jahr 1988 nicht einmal den Stand des tere Verteilung der Arbeit. Angesichts von zwei Mil- Jahres 1980 erreicht. lionen Arbeitslosen kann man auf dieses Instrument nicht verzichten. (Günther [CDU/CSU]: Wie war das denn 1982? Das ist die Zahl, die man vergleichen Sie haben die Qualifizierungsmaßnahmen massiv muß!) abgebaut und beklagen heute den Fachkräftemangel. In der Tat — ich will wiederholen, was ich vor drei Nun beruft sich die Bundesregierung auf den Zeit- Wochen während der Haushaltsdebatte gesagt raum seit 1983. habe —: Ich will das wiederholen: Das Institut für Arbeits- Ein Ausbau der Qualifizierung ist zur Vorberei- markt- und Berufsforschung — eine Unterabteilung tung auf den nach 1992 beginnenden EG-Bin- der Bundesanstalt für Arbeit, diese eine nachgeord- nenmarkt unverzichtbar. Die Bundesrepublik ist nete Behörde des Bundesministeriums für Arbeit und wie kein zweites Land vom Export abhängig. Un- Sozialordnung, wohl unverdächtig von einem Sozial- sere Wettbewerbsvorteile liegen dabei nicht auf demokraten zu zitieren — sagt: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12179

Dreßler Längere Berechnungen zeigen, das Arbeitsvolu- Ende dieses Jahrzehnts bitter rächen werden, und ich men ist nicht gestiegen; mehr Arbeitsplätze sind habe das oft wiederholt. auf tarifliche Arbeitszeitverkürzungen und auf Zweiter Punkt. Die Anzeigen in den Zeitungen sind mehr Teilzeitarbeit zurückzuführen. den Arbeitsämtern partiell nicht gemeldet worden. (Beifall bei der SPD) Daraus machen Vertreter der Regierungskoalition ei- Die Zahl offener Stellen wird freihändig hochge- nen Aufruf, daß der Sinn des Quasi-Monopols der rechnet. Da wird viel heiße Luft produziert; das mer- Bundesanstalt für Arbeit überholt sei. Ich halte das für ken die Arbeitsämter immer dann, wenn konkret eine, wenn Sie so wollen, konzertierte Aktion, um das nachgefaßt wird. Monopol zu kippen. Wenn nämlich den Arbeitsäm- tern alle offenen Stellen gemeldet würden und wenn Die Arbeitslosenstatistik wurde und wird manipu- die Unternehmer nicht Vermittelbare, die auch heute liert. Weit über 100 000 ältere Arbeitslose und Nicht- hier vom Arbeitsminister als Menschen charakterisiert leistungsempfänger sind einfach ausgebucht worden. wurden, die angeblich nicht wollten, mit einem Ver- An der Statistikmanipulation wird weiter fleißig gear- merk in den Listen der Arbeitsämter entsprechend beitet. Die Bundesregierung macht sich zur Zeit in den würdigen würden, wären sie nicht mehr in Blüms Sta- Niederlanden schlau; sie will endlich weg von den tistik. Ich fordere Sie also auf: Lassen Sie uns gemein- Zahlen, die die Arbeitsämter melden. Sie will, so hört sam, alle im Bundestag vertretenen Parteien, die Un- man, Haustürbefragungen, damit derjenige, der im ternehmer endlich dazu bringen, daß sie mit der Bun- Untersuchungszeitraum auch nur eine Stunde gear- desanstalt für Arbeit auf der Grundlage des Gesetzes beitet hat, nicht mehr als Arbeitsloser ausgewiesen die Arbeitslosenstatistik einerseits und die Vermitt- wird. Ich komme zu dem Schluß: Ihr vorrangiges In- lungsbemühungen andererseits verstärken. teresse gilt dem Kampf gegen die Statistik, er gilt nicht dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Günther [CDU/CSU]: Das ist böswillig!) Immer wieder neu heißt es, die Zumutbarkeitskrite- Vizepräsident Cronenberg: Dies veranlaßt Graf rien müßten verschärft werden, der zeitweilige Aus- Lambsdorff, noch einmal nachzufragen. Ich nehme bildungsschutz müsse weg und, man höre und staune, an, daß Sie nichts dagegen haben. nur 2,5stündige tägliche Wegezeit sei auch viel zuwe- nig. Dreßler (SPD) : Natürlich nicht. (Günther [CDU/CSU]: Wer sagt das denn?) Arbeitslose, die ohne weitere Qualifikation nicht ver- Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Herr Kollege Dreßler, mittelbar sind, sollen aus der Statistik verschwinden; darf ich — abgesehen von der Tatsache, daß ich den mit schöner Regelmäßigkeit kommen Regierungsab- letzten Punkt mit Ihnen voll teile und einer Ermah- geordnete mit diesem Stammtischgeschwafel. nung eigentlich nicht bedarf, weil ich das unentwegt tue — aus Ihrer Antwort den Schluß ziehen, daß die Unternehmen und die Unternehmer lieber Geld für Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter, ge- teure Stellenanzeigen ausgeben, anstatt die kosten- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten lose Vermittlung der Bundesanstalt in Anspruch zu Graf Lambsdorff? nehmen?

Dreßler (SPD): Nach den Regeln von Graf Lambs- Dreßler (SPD): Das ist zum Teil zweifellos richtig, dorff selbstverständlich. weil die höchstqualifizierten Arbeitskräfte, nach de- nen in Anzeigen gesucht wird, auf dem Arbeitsmarkt, Vizepräsident Cronenberg: Die Regeln bestimme den wir zur Zeit in der Bundesrepublik haben, natür- zwar ich, aber selbstverständlich werde ich das gleich lich nicht zu finden sind. Das ist völlig klar. Das hat nie bestimmen. jemand bestritten, Graf Lambsdorff. Das ist völlig (Heiterkeit) zweifelsfrei. Das war übrigens zu Zeiten der Vollbe- schäftigung schon so. Sie finden sie so und so nicht. Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Das habe auch ich ei- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß gentlich so gedacht. — Herr Dreßler, würden Sie mir und sage: Es war für mich bemerkenswert, daß die bitte einmal sagen, wie Sie in das von Ihnen gezeich- Bundesregierung mit relativ schlechten Karten auf nete Bild des Arbeitsmarktes, der Arbeitsmarktstati- dem Gebiet der Beschäftigungs- und Arbeitsmarkt- stik usw. die Tatsache einordnen, daß Wochenende politik diese Debatte beantragt hat. Das ist für mich für Wochenende unsere Zeitungen voll von Stellenan- entweder der Mut der Verzweiflung, oder es ist ein zeigen sind, in denen fachlich ausgebildete Arbeits- gewisser Ausdruck einer Bunkermentalität, Ausfluß kräfte gesucht werden? der Tatsache, daß Teile der Bundesregierung be- stimmte Wirklichkeiten der Bundesrepublik Deutsch- land nicht mehr wahrnehmen. Dreßler (SPD): Graf Lambsdorff, ich habe bereits Ende der 70er Jahre — ich will nicht sagen: hellsehe- Bei den vergangenen Wahlen hat die Bundesregie- risch — , aber auch Anfang der 80er Jahre, als wir noch rung die Quittung dafür bekommen. Meine Prognose gemeinsam eine Regierung getragen haben, darauf ist: So wird es auch am kommenden Sonntag sein, und hingewiesen, daß sich die mangelnde innerbetriebli- ich finde: zu Recht. che Ausbildungsquantität und das Zurückdrängen (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das wollen wir von Auszubildenden in den Jahren 1978 bis 1985/86 mal dem Wähler überlassen!) 12180 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dreßler Schönen Dank. Da ist es natürlich sehr verständlich, wenn es Ihnen (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh außerordentlich peinlich ist, daß wir heute morgen [fraktionslos]) darauf aufmerksam machen können, daß die Progno- sen des Jahreswirtschaftsberichts nicht nur eingehal- ten, sondern wahrscheinlich deutlich übertroffen wer- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- den, daß wir mit den Zuwachsraten des ersten Halb- ordnete Hauser (Krefeld). jahres 1989 mit 4,6 % eine Entwicklung verzeichnen können, die wir 13 Jahre nicht mehr hatten, und wir Hauser (Krefeld) (CDU/CSU): Herr Präsident! daher mit Sicherheit davon ausgehen können, daß die Meine Damen und Herren! Ich verstehe sehr gut, daß Erwartungen des Jahreswirtschaftsberichts übertrof- es der SPD peinlich ist, daß hier heute morgen die fen werden. Entwicklung unserer Wirtschaft und auch unseres Ar- Meine Damen und Herren, es ist doch nicht zu be- beitsmarktes einmal in aller Deutlichkeit dargestellt streiten — da führt auch kein noch so kunstvolles Re- werden soll. Herr Kollege Dreßler, wenn Sie in Rich- chenkunststückchen, wie Sie es heute morgen hier tung auf den Bundesarbeitsminister von „Geschwa- vorgeführt haben, daran vorbei — , daß wir mit mehr fel" gesprochen haben, dann empfehle ich Ihnen, Ihre als 27,7 Millionen Beschäftigten den höchsten Stand Ausführungen einmal auf diese Vokabel hin zu be- haben, den wir je in der Bundesrepublik registrieren trachten, ob das, was Sie alles von sich gegeben ha- konnten, und daß die Zahl der Arbeitsplätze um etwa ben, nicht sehr viel mehr das Prädikat „Geschwafel" 1,3 Millionen ausgeweitet worden ist. verdient als das, was hier im übrigen gesagt worden ist. Meine Damen und Herren, ich bitte allerdings, sehr (Zustimmung bei der CDU/CSU) darauf zu achten, wo diese Arbeitsplätze entstanden sind. Sie sind nämlich nicht in den von Ihnen so oft Ich muß allerdings hinzufügen: Meine Damen und gehätschelten Großunternehmen entstanden, son- Herren, wenn ich höre, was hier an Weisheiten über dern in den vielen kleinen und mittleren Bet rieben in die Situation am Arbeitsmarkt verbreitet wird, dann unserem Lande, während in den Großbetrieben die habe ich den Eindruck, daß diejenigen, die das vortra- Arbeitsplätze reduziert wurden. Das heißt, diese Ent- gen, sich überhaupt noch nie wirk lich um die Sach- wicklung am Arbeitsmarkt, diese Entwicklung unse- verhalte am Arbeitsmarkt gekümmert haben, und rer Volkswirtschaft ist weitgehend das Verdienst des dann habe ich den Eindruck, Herr Minister Heine- Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland. mann, daß Sie noch nie in einem Unternehmen Ihres Landes Nordrhein-Westfalen gewesen sind, um sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — von dort entweder mit einem Handwerksmeister oder der Wiesche [SPD]: Auch der Landesregie auch dem Personalchef eines größeren Unternehmens rung von Nordrhein-Westfalen!) zu unterhalten und sich von dem einmal sagen zu las- — Nein, die Landesregierung Nordrhein-Westfalen sen, wie die Verhältnisse vor Ort tatsächlich aussehen. hat aus ihrer eigenen Kraft zu dieser ganzen Entwick- Das, was Ihnen Ihre Referenten ins Manuskript ge- lung gar nichts beigetragen. Wenn Sie diesen Zwi- schrieben haben, entbehrt jeder Grundlage und be- schenruf hier schon machen, will ich Ihnen sagen: Das ruht nicht auf wahren Sachverhalten. ZIM, das ZIP, das ZIN und wie alle diese Programme (Zustimmung bei der CDU/CSU und der heißen, die in Nordrhein-Westfalen kreiert worden FDP) sind, ist in Wirklichkeit die Weitergabe von Geldern, Meine Damen und Herren, daß das hier für Sie alles die hier im Deutschen Bundestag beschlossen und an peinlich ist, verstehe ich sehr wohl, beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen transferiert worden wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sind. in Berlin — ein Institut, das ja nicht gerade der derzei- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord tigen Regierungskoalition nahesteht — noch am neten der FDP) 21. September gesagt hat, daß wir einen Boom ohne Inflation hätten und daß die wirtschaftliche Lage in Der Ministerpräsident schickt jede Woche B riefe in diesem Jahr so günstig wie noch nie in diesem Jahr- die Landschaft und brüstet sich mit Leistungen, die er zehnt sei. überhaupt nicht finanziert. Er lebt von dem Geld, daß die Bundesregierung für die Strukturhilfe des Landes Wenn ich das jetzt, meine Damen und Herren von Nordrhein-Westfalen zur Verfügung stellt. Das ist die der SPD, in Relation setze zu dem, was der Kollege Realität — und nicht das, was Sie uns hier alles vor- Roth in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren erzählen. erklärt hat, dann ist das ein Unterschied wie Feuer und Wasser. Herr Roth hat z. B. gesagt, die Wi rt (Beifall bei der CDU/CSU) -schaftspolitik sei von zwanghaftem, realitätsfernem Meine Damen und Herren, wenn wir von dem Ar- Optimismus gekennzeichnet, der durch nichts be- beitsmarkt sprechen — der Kollege Dreßler hat so- gründet sei. Er hat dann empfohlen, rechtzeitig die - eben einige Beispiele gebracht — , dann bitte ich, sich Vorsorge für den Konjunkturabschwung zu treffen. auch hier einmal wirklich vor Ort umzusehen. Die Ich entsinne mich auch noch deutlich, daß der Kollege Frage, ob qualifizierte Arbeitskräfte am Markt zu fin- Roth, als wir hier über den Jahreswirtschaftsbericht den sind, ist nicht nur eine Frage besonders herausra- sprachen, darauf hinwies, daß die Ergebnisse, die im gender Positionen, sondern ist mittlerweile ein Pro- Jahreswirtschaftsbericht prognostizie rt wurden, nur blem, das sich quer durch die gesamten Unternehmen zu erreichen seien, wenn wir in der Wirtschaftspolitik zieht. total umsteuern. Er hat auch schon früher gesagt: Ein Aufschwung ohne Kraft geht zu Ende. (Zuruf des Abg. Gilges [SPD]) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12181

Hauser (Krefeld) — Entschuldigen Sie, ich will Ihnen jetzt einmal etwas gegen ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sagen: Eine Bäckerei und eine Konditorei sind, weiß abgebaut wird. Gott, keine Betriebe mit High-Tech-Berufen. Wenn (Zustimmung bei der CDU/CSU und der ich aber ein halbes Jahr brauche, um einen qualifizier- SPD) ten Konditor zu finden, dann ist das Problem nicht nur, besonders qualifizierte Arbeitskräfte am Markt zu fin- Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür. In Rich- den, sondern dann ist das ein Sachverhalt, der quer tung all derer, die auf dem Arbeitsmarkt für die Ein- durch alle Branchen geht und wo alle Bet riebe glei- stellung von Leuten verantwortlich sind, sage ich ganz chermaßen das Problem haben, vernünftige, qualifi- generell — Herrn Blüm brauche ich das gar nicht zu zierte, arbeitswillige Arbeitskräfte zu finden. sagen; der weiß das besser als Sie — : Es ist nicht zu verantworten, wenn man glaubt, daß Menschen, die (von der Wiesche [SPD]: Die haben Sie nicht das Alter Mitte 40 überschritten haben oder sogar ausgebildet, Herr Hauser!) 50 Jahre alt sind, für eine vernünftige Besetzung eines Deswegen werden die Leute, die aus der DDR in die Arbeitsplatzes im Grunde genommen nicht mehr ver- Bundesrepublik kommen, in allerkürzester Frist in Ar- wendet werden können. beitsplätze vermittelt; denn sie sind motiviert und be- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der reit, Arbeit zu übernehmen. SPD) (Zuruf von der SPD: Warum bleiben denn die Diese Menschen haben Lebenserfahrung und Berufs- Auszubildenden nicht in den Bet rieben?) erfahrung. Wenn jetzt mit Hilfe der Bundesregierung ein Teil der Kosten für die notwendige Einarbeitungs- — Als Sie nach Staatsprogrammen suchten und riefen, zeit übernommen wird, dann sollten wir alle miteinan- haben wir Lehrlinge ausgebildet in Größenordnun- der dazu beitragen, daß diese Mittel in Anspruch ge- gen, von denen Sie gar nicht zu träumen wagten. nommen werden, damit diese Leute wieder in Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Brot kommen. Dann würden wir einen ganz wich- tigen Teil der derzeitigen Arbeitsmarkt- und Arbeits- Ich finde es schon schofel, daß Sie, wenn der Mittel- losenproblematik gemeinsam lösen können. Ich halte stand und das Handwerk in den Krisenjahren in dieser es für eine wichtige gemeinsame Aufgabe, dies rüber- Weise Lehrlinge ausgebildet haben, heute so tun, als zubringen. Das liegt aber auch daran, daß über lange hätten sie ihre Aufgabe verpaßt. Wir haben damals Zeit der Eindruck erweckt wurde, als könnte man eine Aufgabe wahrgenommen, die Sie uns gar nicht schon im Alter von Mitte 50 aus dem Arbeitsleben zugetraut hatten. Sie wollten uns damals mit Fonds ausscheiden. Wenn man zudem einerseits den Vor- und mit allen möglichen Berufsbildungsabgaben kon- ruhestand propagiert und andererseits sagt, man frontieren. müsse länger arbeiten, paßt das auch irgendwo nicht (Zuruf von der SPD: Herr Hauser, ich habe mehr zusammen. Es wird dann eine Mentalität ent- Sie gefragt, warum sie nicht in den Bet rieben wickelt, die es sehr viel schwieriger macht, ältere geblieben sind!) Leute später wieder in den Arbeitsprozeß einzuglie- Wir haben das freiwillig getan. Wir haben die Lehr- dern. Ich halte diese Aufgabe aber für unverzichtbar. linge ausgebildet und dafür gesorgt, daß die Krise auf Wir müssen uns ihr gemeinsam widmen. dem Ausbildungsmarkt wirklich behoben worden Vielen Dank. ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute werden Tausende von unbesetzten Lehrstellen Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- registriert. Wir finden keine Lehrlinge mehr für diese ordnete Stratmann. Ausbildungsplätze. Und Sie fragen dann, warum wir nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte haben! Möglichkeiten, sich qualifizieren zu lassen, sind in Stratmann (GRÜNE): Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Fülle gegeben. Man muß nur den Wunsch und den Mitbürger! Der Arbeitsminister Blüm wollte heute Willen haben, die Chancen, die hier geboten werden, morgen Wahlkampf für NRW betreiben. Er miß- zu nutzen. brauchte dazu eine Regierungserklärung. In Erman- gelung einer eigenen Perspektive für Nordrhein- Meine Damen und Herren, wir müssen uns auch Westfalen schimpfte er statt dessen auf den Realsozia- darüber klar sein, daß die Entwicklung auf dem Ar- lismus, was wahrlich leichtfällt. beitsmarkt in vielen Branchen — ich denke jetzt nicht (Zustimmung bei den GRÜNEN) nur an das Baugewerbe, sondern auch an das verar- beitende Gewerbe der Metallindustrie — bereits zu Herr Blüm, Sie nehmen die Ursachen der Massen- Betriebsbehinderungen führt, so daß Bet riebe an die flucht aus der DDR in die Bundesrepub lik und die Grenzen der Kapazität kommen. Von daher kommen Motive der sich formierenden Oppositionsbewegung wir in eine große Schwierigkeit. in der DDR nicht zur Kenntnis, wenn Sie hier den Ein- druck zu erwecken versuchen, als wäre das Wasser Ich greife jetzt ein Stichwort auf, das hier heute mor- auf Ihre eigenen parteipolitischen Mühlen. gen mehrmals gefallen ist: die Langzeitarbeitslosen. Ich bin davon überzeugt, daß im Kreis der Langzeitar- (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der beitslosen noch ein sehr wertvolles Arbeitskräfte- CDU/CSU: Das ist die Wahrheit!) potential steckt. Herr Kollege Dreßler, ich bin mit Ih- Am vergangenen Wochenende haben sich über 80 nen der Meinung, daß wir alle miteinander darauf hin- Oppositionsgruppen und das „Neue Forum" in der wirken sollten, daß die völlig unbegründete Aversion DDR getroffen und einmütig festgestellt, Herr Blüm, 12182 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Stratmann daß sie zwar von dem real existierenden Pseudosozia- schweigen diese Zahlen. Ich sage nur, daß das „Neue lismus die Schnauze voll haben — was wir GRÜNEN Forum" und die 80 Oppositionsgruppen in der DDR sehr gut verstehen und auch immer unterstützt ha- diese Zahlen kennen ben — , daß sie aber dennoch die Einführung kapitali- stischer Verhältnisse in die DDR ablehnen. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Reden Sie ein mal mit Herrn Heinemann!) (Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] und sich deshalb gegen die Einführung des Kapitalis- — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Lassen Sie mus à la Blüm'scher Art, Lambsdorff scher Art und da mal Demokratie einkehren!) Haussmann'scher Art in die DDR wehren. Das haben sie deswegen so klar festgestellt, und des- (Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer wegen fordern sie auch ihre Mitbürgerinnen und Mit- [GRÜNE]) bürger in der DDR zum Bleiben auf, um die DDR von innen heraus zu verändern, Herr Blüm, weil sie die Es ist bezeichnend für das gesellschaftliche K lima in Fakten in der Bundesrepublik kennen, die Sie hier der Bundesrepublik, daß diese neue Armut und die systematisch verschwiegen haben. Es sind folgende anhaltende Massenerwerbslosigkeit nicht angepran- Fakten, Herr Blüm, die genannt werden müssen — gert werden. Herr Blüm, diese Zahlen der ansteigen- und die teilweise von den Sozialdemokraten schon den Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit sind -genannt worden sind — , weil sie bei der arbeitsmarkt nicht der ausschließliche, aber ein ganz wesentlicher und beschäftigungspolitischen Debatte eine entschei- Nährboden für das Ansteigen des Rechtsradikalis- dende Rolle spielen: Mindestens 150 000 Erwerbslose mus. Ihre Politik im Bundesarbeitsministerium und sind von Ihnen in den letzten Jahren durch statistische auch die Politik im Bundeswirtschaftsministerium sind Tricks aus der Statistik gestrichen worden. politisch mitverantwortlich für das Anwachsen des politischen Nährbodens des Rechtsradikalismus. (Zuruf von der CDU/CSU: Alte Hüte!) (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord Wenn Sie also unter die Zweimillionengrenze kom- neten der SPD) men, dann nur durch die Streichung von über 150 000 Es gibt Arbeitslosigkeit, Armut und materielle Exi- Erwerbslosen aus der Statistik. stenzunsicherheit — insbesondere beim unteren Drit- tel der Gesellschaft — , während das obere Drittel im (Günther [CDU/CSU]: Da ist keiner gestri- Geld schwimmt und die Gewinne der Unternehmer chen worden!) explosionsartig steigen. Die verdeckte Arbeitslosigkeit, die sogenannte stille Herr Blüm, wenn Sie sich mit dem jetzigen polni- Reserve, hat seit dem Regierungswechsel 1982 um schen Ministerpräsidenten Mazowiecki in Warschau mindestens eine halbe Million zugenommen. Der An- hinstellen und sich christlich auf die Schulter klopfend teil der Langzeiterwerbslosen — Herr Blüm, da tun hinausposaunen: Karl Marx ist tot und Jesus lebt, Sie immer so, als sei Ihnen das Schicksal der Langzeit- dann kann ich sagen — egal ob man sich Ch rist nennt arbeitslosen ein besonderes Anliegen — an der Er- oder nicht, das weiß jeder — : Jesus war deswegen so werbslosigkeit insgesamt hat sich seit 1982 verdop- umstritten und angefeindet, weil er sich ganz bewußt pelt. Inzwischen ist schon jeder dritte und jede dritte auf die Seite der Ärmsten und der Verachteten seiner Erwerbslose länger als ein Jahr erwerbslos. In den Gesellschaft geschlagen hat. Ruhrgebietsstädten liegt der Anteil der langfristig Er- werbslosen bei über 40 %. (Beifall bei den GRÜNEN) Die Regierung verweist auf den Beschäftigungszu- Ihre Politik, Herr Blüm, und die der Bundesregierung wachs der letzten Jahre. Sie verdrängt aber — darauf bewirkt im Endeffekt genau das Gegenteil. Sie ist hat Herr Dreßler mit Recht hingewiesen — , daß immer unsozial und unchristlich. Wenn Sie sich dafür in mehr unsichere Arbeitsverhältnisse entstanden sind, Warschau auch noch auf Jesus berufen — egal ob man nicht nur, aber insbesondere auch infolge Ihres Be- Christ ist oder nicht — , dann halte ich das für einen schäftigungsförderungsgesetzes. Es gibt mehr befri- zynischen Umgang mit der christlichen Tradition. stete Arbeit, mehr schlecht bezahlte Teilzeitarbeit und (Beifall bei den GRÜNEN) mehr ungeschützte sozialversicherungsfreie Beschäf- tigung. Nach einer Untersuchung des Wissenschafts- Ich erinnere an die unsozialen Auswirkungen Ihrer zentrums Berlin erfolgt inzwischen jede dritte Neuein- Steuerpolitik, die Streichung von Leistungen für Ar- stellung mit einem befristeten Arbeitsvertrag. beitslose und — auch das werden wir betonen — die Änderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes Insbesondere für das untere Drittel in unserer Ge- und damit die Untergrabung und Unterhöhlung der sellschaft hat die materielle Existenzunsicherheit in gewerkschaftlichen Streikfähigkeit. diesem Jahrzehnt erheblich zugenommen. Dies- kommt auch in dem dramatischen Anstieg der Zahl Um das zusammenzufassen, kann ich nur sagen: der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen zum Herr Blüm, Sie sind nicht der soziale Wohltäter, als der Ausdruck, die gerade offiziell auf 3,3 Millionen ge- Sie hier erscheinen wollen, schätzt worden ist. Seit dem Regierungswechsel im (Beifall bei den GRÜNEN) Jahre 1982 ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen um eine Million angestiegen. sondern ein sozialer Brandstifter, der für das Erstarken Warum sprechen Sie darüber nicht. Sie fühlen sich des Rechtsradikalismus in diesem Land mitverant- einer sozialchristlichen Politik verbunden und ver- wortlich ist. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12183

Stratmann Dieses Jahrzehnt wird in die Geschichte der Bun- ben den ökologischen Umbau der Industriegesell- desrepublik als das des sozialen Rückschritts einge- schaft gestellt wird. hen, obwohl der Gesamtreichtum der Gesellschaft sehr stark wächst. Nur auf dieses Faktum weisen Sie (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN und der Abg. Frau Unruh [fraktionslos]) hin, ohne die Kehrseite der Medaille zu erwähnen. Das Beispiel Schweden zeigt, wie auf der Grund- Der zentrale Hebel eines solchen Gesellschaftsver- trags muß es sein, auf die Notwendigkeit drastischer lage eines sozialstaatlichen Grundkonsenses in der Arbeitszeitverkürzungen hinzuweisen, weil eine dra- gesamten Gesellschaft Massenarbeitslosigkeit gar stische Arbeitszeitverkürzung der einzige in der nicht entstehen kann. Masse der notwendigen Arbeitsplätze wirksame He- Aus diesem Grund fordere ich zu einer Art neuem bel ist sozialstaatlichem Grundkonsens auf, zu einem sozial- staatlichen Gesellschaftsvertrag, dessen wichtige (Dr. Thomae [FDP]: So ein Schwachsinn!) Punkte ich sogleich darstellen werde. — in der Masse! —, um sinnvolle Arbeit für alle zu Zuvor sage ich etwas an die Adresse der Landesre- schaffen. gierung NRW. Ich verstehe, daß Herr Heinemann (Grünbeck [FDP]: Vom BAföG in die nicht mehr zugegen sein kann. Allerdings wäre es Rente?!) völlig falsch, zu meinen, die berechtigte Kritik von Herrn Heinemann und Herrn Dreßler an die Adresse Das sagen wir auch an die Adresse einiger Gewerk- der Bundesregierung sei zugleich im Umkehrschluß schaften, da wir auch im gewerkschaftlichen Bereich ein Beleg für den Erfolg sozialdemokratischer Poli- weithin eine Gewöhnung an Massenerwerbslosigkeit tik. feststellen. Nehmen wir die Tarifvorschläge, die ge- rade von Herrn Steinkühler für die anstehende Tarif- (Zurufe von der SPD: In Schweden ist es so- runde genannt worden sind. Dort wird die 35-Stun- zialdemokratische Politik!) den-Woche als tarifpolitisches Ziel erwähnt — klar —; Konkret: Vor einem Monat, mit Beginn des Schul- aber erst an dritter Stelle. An erster Stelle wird die IG jahrs in NRW, gab es einen Aufruf Duisburger Lehre- Metall mit der Forderung nach Einkommenserhöhun- rinnen und Lehrer an alle Duisburger Bürgerinnen gen in die Runde ziehen, an zweiter Stelle mit der und Bürger unter Bezugnahme auf die Schulpolitik in Forderung nach einem Umverteilungsausgleich und erst an dritter Stelle mit der Forderung nach Arbeits- NRW. Unter der Überschrift „Wir fühlen uns von den -Politikern in NRW verschaukelt" weisen die GEW zeitverkürzung. Lehrerinnen und -Lehrer darauf hin, daß sie bei der Was mir dort fehlt, ist dies: Wenn man einen gesell- letzten Tarifrunde bewußt auf Einkommenserhöhun- schaftlichen Grundkonsens und Gesellschaftsvertrag gen im Umfang von 5 % auf drei Jahre verzichtet ha- zur Überwindung der Erwerbslosigkeit anstrebt, dann ben, um finanziellen Spielraum für 5 000 Neueinstel- rücken Interessen von de facto mehr als 3 Millionen lungen zu ermöglichen. Statt 5 000 Neueinstellungen, Erwerbslosen in das Zentrum auch gewerkschaft- die durch diesen freiwilligen Verzicht möglich gewe- licher Arbeitszeitverkürzungspolitik. sen wären, wurden 500 Neueinstellungen vorgenom- men. Der Aufruf schließt mit dem lapidaren Satz an (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN) die Adresse der NRW-Landesregierung: „Das nennen Um das auch auf der Ebene der Instrumente zu wir Tarifbetrug. " erreichen, schlage ich folgendes vor — das ist noch Das findet seine Fortsetzung in den nackten Zahlen. nicht ein Vorschlag der Gesamt-GRÜNEN — , daß in Die Ausgaben der NRW-Landesregierung ohne die die gewerkschaftlichen Tarifkommissionen NRW-Kommunen betrugen 1980 37,5 Milliarden DM (Zuruf von der CDU/CSU: GRÜNE reinkom und 1988 47,4 Milliarden DM; sie stiegen somit um men!) mehr als 26 %. Die Finanzzuweisungen der NRW- Landesregierung an die NRW-Kommunen sind von nennenswert Vertreter und Vertreterinnen von Er- 1980 — 14,3 Milliarden DM — bis 1988 — 13,5 Milli- werbsloseninitiativen mit Stimmrecht aufgenommen arden DM — um 5,6 % geschrumpft, während die ei- werden, genen Ausgaben der Landesregierung um mehr als (Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer 26 % zugenommen haben. Damit ist die Landesregie- [GRÜNE]) rung mit der Bundesregierung für den geschmolzenen Finanzspielraum der Kommunen verantwortlich, der damit auch die Formulierung von gewerkschaftspoli- ja die entscheidende Grundlage auch für eine kom- tischen Zielen und Tarifzielen unmittelbar die Interes- munale Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik dar- sen von Erwerbslosen aufnimmt. Das hätte für die stellt. Diese Fakten müssen genannt werden, damit Gewerkschaften in der anstehenden Tarifrunde und hier kein falscher Eindruck entsteht. - bei den anstehenden Arbeitskämpfen einen großen Sinn. Drastische Arbeitszeitverkürzungen werden nur (von der Wiesche [SPD]: Schon mal was vom in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis von Ge- Steuerreformgesetz gehört?) werkschaften, Erwerbsloseninitiativen, Kirchen und Ich plädiere für einen gesellschaftlichen Grundkon- politischen Parteien durchgesetzt werden können, die sens, für einen Gesellschaftsvertrag der nächsten diese Position unterstützen. Sie werden die aktive Un- Jahre, in dem die Überwindung der Massenerwerbs- terstützung von über 3 Millionen Erwerbslosen in Ar- losigkeit und der Armut als das zentrale gesell- beitskämpfen auch auf der Straße leichter haben, schaftspolitische Ziel der gesamten Gesellschaft ne- wenn sie diese Erwerbsloseninitiativen mit Sitz und 12184 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Stratmann Stimme an der Formulierung ihrer tarifpolitischen die Folgen einer so grundlegenden Entscheidung vor- Ziele beteiligen; her hinzuweisen. (Beifall bei den GRÜNEN) Ich bin es leid, daß die beschäftigungspolitische das nicht in Alibiform. Wenn es so ist, daß 10 % aller Debatte in der Bundesrepublik immer nach dem glei- Erwerbstätigen erwerbslos sind, dann schlage ich vor, chen Ritual abläuft. Der Regierung wird in Sachen daß Erwerbslose in einer Größenordnung von 20 % an Tarifpolitik zunächst der Mund verboten, die Tarif- den gewerkschaftlichen Tarifkommissionen beteiligt partner treffen dann Entscheidungen für die Arbeits- werden, damit der gesellschaftliche Konsens und das platzbesitzer, und die Regierung wird anschließend gesellschaftliche Bündnis gegen solche politischen für ihre beschäftigungspolitische Untätigkeit ange- Brunnenvergifter wie Haussmann stärker werden. klagt. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Haussmann, Ich sage es hier noch einmal: Mit Dieses Ritual werde ich in Zukunft nicht mitma- Ihrer radikalen Absage an Arbeitszeitverkürzungen chen. geben Sie das wirksamste Instrument zur Überwin- dung der Erwerbslosigkeit aus der Hand und — auch (Beifall bei der FDP) das sage ich zu Ihnen persönlich — werden Sie ge- Deshalb warne ich — nicht zum erstenmal, und ich nauso wie Herr Blüm für das Erstarken des Rechtsra- werde das wiederholen — vor den Folgen einer undif- dikalismus in diesem Land verantwortlich. ferenzierten Arbeitszeitverkürzung. Danke schön. Meine Damen und Herren, wenn wir hier über Ta- (Beifall bei den GRÜNEN — Rauen [CDU/ rifautonomie diskutieren, so darf ich doch einmal die CSU]: „Brunnenvergifter"!) Gegenfrage stellen. Der Deutsche Bundestag hat vor einiger Zeit mit Mehrheit ein Gesetz zur Einführung des Dienstleistungsabends verabschiedet. Die Tarif- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Wirt- partner wollten diese Entscheidung des Parlaments schaftsminister, . durch Tarifverträge aushebeln. (Zuruf von der SPD: Was heißt „aushe Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: beln"?) Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kol- leginnen! Ich begrüße diese Debatte außerordentlich; Wie stellt sich denn hier die Frage der Tarifautonomie denn sie bietet die Chance, einiges erneut zu konkre- und der politischen Entscheidung? Deshalb warne ich tisieren. Es muß ja etwas Unglaubliches passiert sein: vor einer Vertiefung dieser Debatte. Es wird von Anarchie gesprochen, der Bundeskanzler Ich habe deshalb in Karlsruhe gesagt — und ich wird gebeten einzugreifen. Im Grunde ist folgendes wiederhole es — : Die Frage einer pauschalen Arbeits- passiert: Der Bundeswirtschaftsminister hat vor einer zeitverkürzung kann nicht ohne öffentliche Diskus- pauschalen Arbeitszeitverkürzung gewarnt, weil sie sion in der Bundesrepublik behandelt werden. Gift für die Chancen unserer Arbeitnehmer wäre. (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Da hat er der CDU/CSU) Recht!) Deshalb, Herr Stratmann, regen Sie sich ab, rüsten Sie Auch die Tarifpartner haben eine Basis, sie haben bitte verbal ab, und machen Sie Vertreter dieser Koali- Mitglieder. Wer jetzt schon mit Streik droht, wer in der tion nicht für politische Entwicklungen verantwort- Presse jetzt schon mit prall gefüllten Kriegskassen droht — — lich, für die Sie genauso viel Verantwortung haben wie wir! (Zuruf von der SPD: Herr Murmann war (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das!) Meine Damen und Herren, Liberale brauchen keine — Beide Seiten. Beide sprechen von prall gefüllten Nachhilfe in Tarifautonomie. Friedrich Naumann war Kriegskassen, Herr Murmann und Herr Steinkühler. einer der ersten, der für Koalitionsfreiheit eingetreten — Deshalb sehe ich der Diskussion an der Basis der ist. Ich persönlich achte die Tarifautonomie. Aber Gewerkschaften und der Arbeitgeber mit Gelassen- autonome Tarifentscheidungen vollziehen sich ja heit entgegen. Ich bin nicht davon überzeugt, daß nicht im luftleeren Raum. Es gibt auch in der Tarif au- jeder Facharbeiter, daß jeder Angestellte, daß jeder tonomie keine Rechte ohne Verpflichtungen. Es gibt Monteur, der im Ausland arbeitet, daß jeder Ingenieur keine Autonomie ohne Verantwortung. Die Entschei- eine Arbeitszeitverkürzung will. Diese Entscheidung dungen der Tarifpartner haben sich immer noch am ist noch nicht gelaufen. Gemeinwohl zu orientieren. (Beifall bei der FDP) Bei der Entscheidung über eine weitere Wochenar-- beitszeitverkürzung in der Bundesrepublik geht es Ihre Umfrage liegt mir nicht vor, ich kenne aber nicht nur um plus oder minus 1 % Lohnerhöhung. andere Umfragen, und ich kenne viele Gespräche. Es Nein, Gewerkschaften und Arbeitgeber treffen hier gibt in der Bundesrepublik viele qualifizierte Arbeit- eine grundlegende Entscheidung, die weit in die Le- nehmer, die eher an einer Lohnerhöhung, eher an benssituation aller Bürger eingreift und die die Wett- Vereinbarungen über Qualifikationsmaßnahmen in- bewerbssituation unseres Landes entscheidend be- teressiert sind als an mehr Freizeit. stimmt. Deshalb ist jeder Wirtschaftsminister — ei- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten gentlich auch jeder Sozialminister — gefordert, auf der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12185

Bundesminister Dr. Haussmann Diese Diskussion muß öffentlich geführt werden, da- Dr. Jens (SPD) : Herr Minister, werden Sie denn mit am Ende — nicht vorher — Gewerkschaften und auch weiter öffentlich darüber reden, daß die Frage Arbeitgeber wissen, was ihre Mitglieder denken. der Arbeitszeitverkürzung nicht eine Sache der Tarif- Das gleiche gilt für die Arbeitgeber. Ich habe den vertragsparteien ist, sondern daß sich, wie Sie sich Eindruck, daß eine Reihe von Großkonzernen — viel- sinngemäß ausgedrückt haben, die Politiker darum leicht sogar einige, bei denen Herr Steinkühler im kümmern müssen? Dies hat nach „Handelsblatt"- Aufsichtsrat sitzt — die 35-Stunden-Woche längst ab- Aussagen Ihr Parteivorsitzender als „Ungeschicklich- gehakt haben nach dem Motto: Wir verringern die keit" bezeichnet. Ich frage Sie: Werden Sie auch dar- Beschäftigung, wir führen mehr Roboter ein, wir inve- über weiter reden? Glauben Sie nicht, daß die Bun- stieren mehr in moderne Maschinen und nicht in desrepublik Deutschland irgendwann einmal Scha- Menschen. — den nimmt, wenn der Bundeswirtschaftsminister dau- ernd Ungeschicklichkeiten begeht? (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Hausmann, Bundesminister für Wirtschaft: Er- So, meine Damen und Herren, darf die Diskussion stens habe ich mich über die Unterstützung meines nicht laufen. Ich glaube, viele kleine und mittlere Be- Parteivorsitzenden in dieser Debatte nun wirklich triebe sehen die Sache völlig anders als ihre Kollegen nicht zu beklagen. in der Großindustrie. Deshalb muß nicht nur in den Zweitens zeigt mir die Debatte mit vielen Ingenieu- Gewerkschaften, sondern auch im Arbeitgeberlager ren, mit Facharbeitern, mit Vertretern vieler kleiner eine kritische Diskussion zur 35-Stunden-Woche und mittlerer Betriebe, daß diese Auseinandersetzung stattfinden, bitter notwendig ist. Deshalb werde ich sie fortfüh- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten ren. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bevor mit Streik gedroht wird. Vizepräsident Cronenberg: Eine weitere Zwischen- Deshalb werde ich weiter offen über folgendes re- frage des Abgeordneten Graf Lambsdorff? den: Wer die Arbeitszeit der Menschen immer mehr verkürzt, trägt zu einer immer stärkeren Verdichtung Dr. Hausmann, Bundesminister für Wirtschaft: Bitte der Arbeit bei. Wenn Herr Dreßler zu Recht sagt, daß schön, Herr Kollege. viele Menschen heute schon Mitte 50 aus dem Ar- (Lachen bei der SPD und der CDU/CSU) beitsleben ausscheiden müssen, dann muß doch die Frage erlaubt sein, ob das nicht mit dem Leistungs- Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Bundeswirt- druck zu tun hat, schaftsminister, können Sie mich vielleicht informie- (Zuruf von der SPD: Wer ist denn für die ren, ob ich unter Sehstörungen leide oder ob ich rich- Arbeitshetze verantwortlich?) tig sehe, daß der Minister Heinemann Sie angegriffen hat und nunmehr verschwunden ist, ohne das Ende indem aus den Menschen die gleiche Leistung in einer dieser Debatte abzuwarten? immer kürzeren Arbeitszeit herausgequetscht wird. (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: Ich der CDU/CSU) glaube, Sie haben keine Sehstörungen. Herr Heine- Das ist eine Frage, die längst in der Arbeitsmedizin mann ist leider nicht mehr da, was ich persönlich be- eine ganz große Rolle spielt. daure. (Zurufe von der CDU/CSU: Wo ist er denn? Die zweite Frage ist: Wer die Arbeitszeit der quali- — Das gibt es doch nicht, eine Rede ablassen fizierten Menschen in der Bundesrepublik verkürzt, und dann abhauen!) schafft keine Arbeit für weniger Qualifizierte. Ganz im Gegenteil, wer die qualifizierten Menschen länger Vizepräsident Cronenberg: Dies, Herr Minister, ver- arbeiten läßt, schafft auch Arbeit für weniger qualifi- anlaßt nun den Abgeordneten Dreßler durch eine zierte Menschen. Zwischenfrage eine Klarstellung, nehme ich an, vor- Drittens. Es ist schon komisch, einerseits die Über- nehmen zu wollen. — Bitte sehr, Herr Abgeordne- stunden anzuklagen und andererseits die Arbeitszeit ter. zu verkürzen. Meine Damen und Herren, das führt doch zu mehr Überstunden und führt doch nicht zu Dreßler (SPD): Herr Bundesminister, würden Sie Einstellungen. mir bestätigen, daß ich vor Beginn der Debatte bei (Zuruf von der SPD: Das ist ja das Ihnen war und Sie inklusive des Bundesarbeitsmini- sters gefragt habe, ob Sie akzeptieren, daß Herr Hei- Schlimme!) nemann zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Raum ver- Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. lassen hat, gehe, ansonsten nicht in die Debatte ein- - greifen werde, und Sie dem zugestimmt haben? (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das war aber Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, Sie ge- vielleicht vor der Rede von Herrn Heine statten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens? mann!)

Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: Ich Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: Ich stimme Ihnen zu, daß ich mit Ihnen besprochen habe, gestatte sie, ausnahmsweise. daß Herr Heinemann gleich nach Herrn Blüm reden 12186 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bundesminister Dr. Haussmann würde. Aber Sie haben mir nicht gesagt, daß Herr die im Außendienst tätig sind? Wer verkürzt denn die Heinemann dann vor meiner Rede abtritt. Und ich Arbeitszeit für Hausfrauen? Irgendwann wird diese hatte ihn persönlich darum gebeten, daß er mich in Zweiteilung unserer Gesellschaft, ein Teil auf dem seiner Rede nicht angreife, wenn er vorher den Bun- Weg zur 35-Stunden-Woche — destag verlasse. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Wissmann [CDU/CSU]: Er hat es trotzdem gemacht!) nach Herrn Lafontaine sind wir auf dem Weg zur 30- Stunden-Woche, die GRÜNEN haben neulich die 25- Stunden-Woche in die Debatte eingeführt — Vizepräsident Cronenberg: Ich mache die ehren- werten Abgeordneten Lambsdorff und Dreßler darauf (Stratmann [GRÜNE]: 30!) aufmerksam, daß Dreiecksfragen in unserer Ge- schäftsordnung nicht zugelassen sind. — na gut, dann müssen Sie sich aber beeilen, Herr Lafontaine ist auch schon bei 30 — Nachdem ich dies gesagt habe, frage ich den Mini- ster Haussmann, ob er eine weitere Zwischenfrage (Stratmann [GRÜNE]: Wir sind schon lange des Abgeordneten Lambsdorff zuläßt. — Bitte sehr. bei 30!) (Dr. Vogel [SPD]: Wer redet hier eigent- — Sie sind schon lange bei 30, früher als Herr Lafon- lich?) taine — ,

Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Minister, darf ich (Zuruf von der CDU/CSU: Die meinen aber Sie darum bitten, daß Sie in Zukunft auch einer so null!) regierungsgläubigen Opposition, wie wir sie haben, ein anderer nicht, nicht mehr halten. Es wird keinen empfehlen, auch die anderen Fraktionen von solchen Konsens geben, wenn ein Teil der Bevölkerung immer Verabredungen zu unterrichten? kürzer arbeitet, ein anderer Teil immer länger. Des- (Dr. Vogel [SPD]: Wenn Haussmann unter- halb führe ich diese Debatte sehr grundsätzlich. richtet ist, kann er es Ihnen ja sagen! Redet Ich finde, es ist noch eine andere Frage angemes- ihr beide doch miteinander! Kommunika- sen: Wofür wollen wir den Produktivitätsfortschritt tionsstörungen, keine Sehstörungen!) unserer Wirtschaft nutzen? Für den forcierten Marsch in die Freizeitgesellschaft, für mehr Qualifizierung, Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: Das für mehr Umweltschutz oder für die Modernisierung wäre sicher dem Stil des Hauses angemessen gewe- unserer Wirtschaft? Man kann nicht alles gleichzeitig sen. Aber Herr Dreßler hat mit mir darüber gespro- haben: Man kann nicht Spitzenreiter in der Sozialpoli- chen, und ich habe Herrn Heinemann gebeten, er tik bleiben; man kann nicht Vorreiter in der Umwelt- solle Angriffe gegen mich unterlassen, wenn er vorher politik werden und gleichzeitig immer kürzer arbei- weggehe. ten. (Dr. Vogel [SPD]: Sehnsucht nach Heine- mann! — Zuruf von der CDU/CSU: Ist der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schon weg? Ist ja ungeheuerlich!) Deshalb ist diese Diskussion eine politische Diskus- Meine Damen und Herren, Arbeitszeitverkürzung sion. Am Ende müssen die Tarifpartner entscheiden. in der Bundesrepublik findet isoliert statt. Kein ande- Aber sie müssen vorher wissen, was die Menschen in res Land in der Europäischen Gemeinschaft verkürzt unserer Gesellschaft von einer forcierten Arbeitszeit- seine Arbeitszeit. Kein anderes Land der Welt ver- verkürzung denken. kürzt derzeit seine Arbeitszeit wie die Bundesrepu- Sie haben das Thema Schweden angesprochen, das blik Deutschland. In der Bundesrepublik gibt es lan- ein sehr gutes Beispiel ist, was die Arbeitszeit angeht. gen Urlaub, was ich für richtig halte. In der Bundes- In Schweden herrscht die 40-Stunden-Regelarbeits- republik gibt es flexible Übergänge im Alter. In der zeit; in Schweden gibt es sehr viel mehr Teilzeitarbeit; Bundesrepublik gibt es mit die kürzeste Lebensar- in Schweden gibt es sehr viele betriebsbezogene, in- beitszeit. dividuelle Arbeitszeitmodelle. Die Firma Lux bietet (Zuruf von der SPD: Na und? Sind Sie dage- ihren Mitarbeitern 107 verschiedene Arbeitszeitvaria- gen?) tionen an. In dieser Richtung herrscht Handlungsbe- Ich halte es für fatal, auch noch die Wochenarbeitszeit darf bei uns, und zwar nicht nur bei den Gewerkschaf- in einer Situation weiter zu verkürzen, wo immer mehr ten, sondern auch bei den Bet rieben und den Kon- ältere Menschen in der Bundesrepublik darauf ange- zernen. wiesen sind, daß jüngere Menschen Beitragsleistun- Deshalb will ich am Schluß noch einmal sagen: Ich gen für die Rentenkassen, für die Arbeitslosenversi- persönlich achte die Tarifautonomie. Am Schluß müs- cherungskassen erbringen. Die gleiche Soziallast muß sen die Tarifpartner selber entscheiden. ja mit einer immer kürzeren Wochenarbeitszeit getra- gen werden. (Beifall des Abg. Scharrenbroich [CDU/ Meine Damen und Herren, ich sage es hier ganz CSU]) offen: Ich bin entschieden gegen eine Zweiklassenge- Aber sie sollen vorher wissen, was die Politik von sellschaft, was die Zeit angeht. Wer verkürzt denn die ihren Forderungen hält Arbeitszeit für die Selbständigen? Wer verkürzt denn die Arbeitszeit für die Menschen bei der Bundeswehr? (Zuruf von der CDU/CSU: Auch das Wer verkürzt denn die Arbeitszeiten für Menschen, stimmt!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12187

Bundesminister Dr. Haussmann und wie die Menschen in den kleinen und mittleren Nach mir wird der Kollege Scharrenbroich sprechen. Betrieben darüber denken, die Arbeitszeit immer wei- Es wäre schön, wenn er sich nicht nur in CDA-Veran- ter zu verkürzen. staltungen, sondern auch hier distanzierte, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Schar renbroich [CDU/CSU] : Abwarten!) Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- damit wir klar haben, ob die Regierung insgesamt der nete Rappe. Auffassung ist, die der Bundeswirtschaftsminister in die Worte gekleidet hat, „nicht allein" dürften oder sollten die Tarifparteien das machen. Rappe (Hildesheim) (SPD) : Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe ein bißchen die Sorge, Ich will in aller Klarheit und Ruhe, aber unmißver- daß der Kern der Angelegenheit nach dieser von den ständlich sagen: Ich bin davon überzeugt, daß Sie die Koalitionsparteien inszenierten Wahlveranstaltung Arbeitszeitverkürzungsdebatte als Vehikel benutzen. verlorengeht, denn bis auf die Sehstörungen von Graf Ich bin davon überzeugt: Wenn die Gewerkschaften Lambsdorff war das natürlich alles Wahlkampf geklin- reine Geldforderungen stellten, dann hätten Sie, da gel. Man wird sehen, was Sie davon am Sonntag in die Sie im System anderer Meinung sind, die gleiche Ent- Scheune fahren. wicklung aufgezeigt, den gleichen Hinweis auf die Aber wir wollen zum Kern kommen. Für uns, Herr Tarifautonomie gegeben; denn andere vor Ihnen ha- Bundeswirtschaftsminister, möchte ich noch einmal ben das ja auch schon in bezug auf Geld gemacht. Das auf die Frage kommen, die Sie soeben selber skizziert ist nichts Neues. haben. Ich habe den Auszug aus Ihrer Rede in Karls- (Dreßler [SPD]: Sehr richtig!) ruhe beim 77. Landesparteitag vorliegen. Der ganze Ich will also ganz deutlich festhalten, daß es aus Inhalt spricht dafür, daß das, was Sie in dem entschei- unserer Sicht hier natürlich um eine prinzipiell sehr denden Satz gesagt haben, nicht so nebenbei heraus- politische Frage geht. Es geht um eine Verletzung der gerutscht ist, sondern das Sie das überlegt und mit Verfassung und eine mutwillige Zerstörung der voller Absicht festgehalten haben. grundsätzlich konsensorientierten Tarifpolitik der Ta- Ich will vorweg sagen, Herr Haussmann: Es geht rifvertragsparteien, der Sozialpartner in diesem nicht um die Frage, ob sich Politiker überhaupt zu Lande. Dies muß beide Seiten treffen. Sie haben ja Tariffragen äußern sollen; das haben vor Ihnen auch auch beide Seiten bezüglich der Berechtigung zum andere Bundeswirtschaftsminister gemacht. Oftmals freien Spiel bei den Tarifverträgen und der Arbeit der empfand ich — oder mehrere von uns in den Tarifver- Tarifvertragsparteien angesprochen. Es gehört aber tragsparteien — das wenig hilfreich, egal von wem es zu den Grundbedingungen der sozialen Marktwirt- kam. Ich halte Ihre Äußerung, nachdem wir Tarif ver- schaft, dies nicht anzuknabbern. Wenn Sie das nicht träge mit dreijähriger Laufzeit haben und wissen, was zurücknehmen, dann, so denke ich, werden Sie die im nächsten Jahr von uns gemeistert werden muß, für Frage beantworten, was das „nicht allein machen dür- — ich will mich gelinde ausdrücken — Öl-ins-Feuer- fen" heißt. Schütten. Lassen Sie mich jetzt noch ein paar Minuten der (Beifall bei der SPD) Frage des Vehikels für Ihre politische Position, Ar- Das sage ich, weil ich ahne, welche klugen Bemer- beitszeitverkürzung, zuwenden. kungen kommen, wenn es 1990 so weit ist. (Abg. Dr. Haussmann [FDP] meldet sich zu Aber nun zu dem entscheidenden Satz, der lautet: einer Zwischenfrage!) „Und deshalb können nicht Funktionäre der Arbeit- — Ich möchte nicht; denn die zehn Minuten sind geber und der Gewerkschaften diese Frage im näch- gleich rum. sten Jahr allein entscheiden." (Dr. Haussmann [FDP]: Das ist sehr bedauer (Hört! Hört! bei der SPD) lich!) Wir möchten wissen, was das „nicht allein entschei- — Das ist auch für mich bedauerlich. Man könnte fra- den" bedeutet. Es geht nicht um Propagandageklin- gen, ob die Zeit angehängt wird. gel, nicht um Leitartikel, um Reden, um Wahlkampf- getöse, nein, es geht um diesen Kernsatz, den der Bundeswirtschaftsminister in diese Worte kleidet. Vizepräsidentin Renger: Mit Sicherheit. Vielleicht ist das ja die Antwort, die Sie erwarten. (Zuruf von der SPD: Den sollte er zurückneh- men! — Grünbeck [FDP]: Ach du meine Güte! Bauschen Sie das nicht so auf! Den Rappe (Hildesheim) (SPD): Sie hängen also an? Vorsatz müssen Sie dazu sagen!) Ich möchte dazu eine zweite Bemerkung machen. - Der Bundesarbeitsminister hat hier eine längere Rede Vizepräsidentin Renger: Ja, sicher. gehalten. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben die- sen Punkt, um den es seit Tagen geht, mit keinem (Hildesheim) (SPD): Bitte schön! Wort erwähnt, und Sie haben sich auch nicht distan- Rappe ziert. (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat sich deut- Dr. Haussmann (FDP): Herr Kollege Rappe, da ich lich dazu geäußert!) Sie außerordentlich schätze und mit Ihnen wiederholt 12188 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Haussmann Gespräche über Tarif- und Arbeitszeitpolitik geführt Kriegskassen drohen, statt eine öffentliche Debatte habe, mit ihren Mitgliedern über die Folgen pauschaler Ar- (Rappe [Hildesheim] [SPD]: Herr Minister, beitszeitverkürzung zu führen. deshalb stehe ich auch hier, weil ich denke, (Dr. Vogel [SPD]: Wer soll mitentscheiden? das muß anders gehen!) — Weitere Zurufe von der SPD) möchte ich Sie noch einmal herzlich fragen, ob Sie in Am Schluß eines solchen öffentlichen Prozesses müs- meiner bisherigen Rede nicht zur Kenntnis genom- sen natürlich die Tarifvertragsparteien autonom ent- men haben, daß am Schluß eines öffentlichen Mei- scheiden. nungsbildungsprozesses die Tarifpartner selbst ent- (Frau Unruh [fraktionslos]: Frage! So was scheiden müssen, daß sie aber vorher wissen müssen, geht doch hier nicht!) wie ihre Mitglieder über eine so prinzipielle Frage denken? Aber sie müssen vorher wissen, welche Folgen dies hat und wie ihre Mitglieder darüber denken. (Frau Steinhauer [SPD]: Schon einmal etwas Rappe (Hildesheim) (SPD): Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Die Kern- von der großen Tarifkommission gehört?) frage ist immer noch, ob Sie nicht nur hier, sondern auch vor dem Landesparteitag sagen können: Des- Rappe (Hildesheim) (SPD): Erstens, Herr Bundes- halb können nicht Funktionäre der Arbeitgeber und minister: Über die gefüllten Kriegskassen müssen wir der Gewerkschaften diese Frage im nächsten Jahr nicht reden. Das steht heute von Herrn Murmann in allein entscheiden. — Ich will wissen: Wer denn der „Bild"-Zeitung. Damit können wir die Frage bei- sonst? seite legen, wer es geschrieben hat. (Grünbeck [FDP]: Das hat er doch gerade Zweitens. Wir kommen hier nicht überein. Wenn gesagt!) Sie unterstellen, daß die Gewerkschaften eine Tarif- Der Vorschlag von Herrn Stratmann liegt ja wohl au- forderung im geschäftsführenden Hauptvorstand ei- ßerhalb jeder denkbaren Möglichkeit. Was heißt also ner Gewerkschaft beschließen, ohne ein Vierteljahr „nicht allein"? oder ein halbes Jahr vorher die Diskussion in den Ver- trauenskörpern und Tarifkommissionen zu führen, (Dr. Haussmann [FDP]: Ich habe die Antwort dann irren Sie. Das kann es also nicht sein, was Sie in meiner Rede eben gegeben! — Zurufe von meinen. Das gleiche ist bei den Arbeitgeberverbän- der CDU/CSU) den der Fall. Es bleibt bei der Kernfrage: Wen wollen — Nein. Herr Minister, in aller Ruhe, schön ruhig hin- Sie entsenden? Herr Stratmann — das ist ja überhaupt tereinander! eine merkwürdige Mischung — will Arbeitslosenin- (Dr. Haussmann [FDP]: Ich bin sehr ruhig!) itiativen entsenden, Am Ende, so sagen Sie, sollen die Tarifvertragspar- (Zuruf von den Grünen: Warum denn teien den Vertrag unterschreiben. Das ist klar; ich nicht?) nehme mal an, daß Sie das denken. die damit nichts zu tun haben, und Sie wollen irgend (Zuruf von der FDP: „Entscheiden" hat er jemanden entsenden, den Sie nicht skizzieren. Die gesagt!) Frage bleibt, was das „nicht allein" heißt. Ich bitte Sie, Aber Sie sagen: „Nicht allein entscheiden". Wer soll das geradezurücken und klarzumachen. Dann wären also außer den beiden Tarifvertragsparteien mitent- wir eine Ecke weiter. scheiden? Wer denn sonst? (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Sagen Sie: „Niemand", dann ist es gut!) Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann, Herr Dr. Haussmann (FDP) : Herr Rappe, ich frage Sie Rappe? nochmals: Haben Sie in meiner Rede, in meiner Ant- wort soeben nicht zur Kenntnis genommen, daß es Rappe (Hildesheim) (SPD): Nein, danke. nicht — — — Nun will ich doch noch ein paar Bemerkungen zu der Frage Arbeitszeitverkürzung machen. Ich bin mit Rappe (Hildesheim) (SPD): Nein, nein. Genau die- dem Bundeswirtschaftsminister einig da rin, daß das sen Satz und dieses Wort haben Sie nämlich nicht eine hochpolitische Frage ist, aber ich will Ihnen sa- benutzt, um das geradezurücken. gen, warum sie das auch aus unserer Sicht ist. — (Beifall bei der SPD) Solange diese Bundesregierung eine ernstzuneh- mende Aktion mit finanz- und wirtschaftspolitischen Darum geht es ja gerade, und man muß wissen, was Mitteln strukturverändernder Art zur Bekämpfung „nicht allein" heißt. Das wi ll ich wissen. Ich will wis- der Langzeitarbeitslosigkeit und zur Qualifizierung sen: Wen wollen Sie entsenden? nicht unternimmt, so lange — das sage ich Ihnen poli- tisch und eben nicht nur tarifvertraglich — werden Dr. Haussmann (FDP): Herr Rappe, ich habe die meiner Auffassung nach die Gewerkschaften in dieser Frage, ob Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß sozialen Marktwirtschaft und Gesellschaftsordnung ich es für falsch halte, wenn sich zu Beginn eines so die Frage der Arbeitszeitverkürzung als Hebelarm be- wichtigen Meinungsbildungsprozesses die beiden nutzen, damit in den Bet rieben eine funktionelle Wir- Hauptfunktionäre gegenüberstellen, mit gefüllten kung zur Qualifizierung, Weiterbildung und Einstel- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12189

Rappe (Hildesheim) lung entsteht. Die Gewerkschaften — das will ich hin- Sprecher meiner Fraktion, Wissmann, klargestellt —, zufügen — haben keine andere Möglichkeit. Wir sind es entscheiden die Tarifvertragsparteien. weder Parteiersatz noch Parlamentsersatz. Unser He- (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Traurig!) belarm ist die Tarifpolitik. (Beifall bei der SPD — Beifall der Abg. Frau Und, Kollege Rappe: Sie würden der Tarifautonomie Unruh [fraktionslos]) einen Gefallen tun, wenn Sie endlich einmal das ak- zeptieren würden, was der Wirtschaftsminister dazu Wir werden bei dieser Frage unbeirrbar bleiben. ganz klar gesagt hat. Wenn Sie nun fast moralische Kategorien in die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Debatte werfen, dann möchte ich Ihnen auch dazu in Widerspruch bei der SPD) der knappen Zeit kurz etwas sagen. Meine Damen und Herren, wenn Sie diejenigen, die Arbeit haben, Wenn ich sage, über Tarifverträge entscheiden danach fragen, was sie gerne möchten, dann sagen nach dem Grundgesetz nur die Tarifvertragspartner die — leider Gottes — immer nur: Geld. Wenn wir nur — das ist unsere Auffassung — , dann gilt hier das danach gingen, dann drückte sich der ganze tarifver- gleiche, was bei der Gesetzgebung für den Gesetzge- tragliche Spielraum nur in Geld aus. Ich frage Sie: Wer ber gilt: Über Gesetze entscheidet nur der Gesetzge- außer den Gewerkschaften besitzt denn die morali- ber, was ja auch von keiner Gewerkschaft — auch sche Qualität, überhaupt durchzusetzen, nicht in den heißen Auseinandersetzungen, die wir (Beifall bei der SPD) hatten — angezweifelt wird. Aber genauso wie die Gewerkschaften nicht selten — sogar öffentlich — daß der Spielraum zwischen Zeit und Geld aufgeteilt Stimmung gegen Regierungspolitik und Gesetzge- wird? Die Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik bung machen — dieses Recht nehmen wir ihnen ja gar nicht größere Eruptionen haben, geht doch auf diesen nicht — , Umstand zurück! (Dreßler [SPD]: Donnerwetter! — Lachen bei (Zuruf von der SPD: Ja!) der SPD) Es ist schlimm, daß Sie dies als Ang riffspunkt für Ihre hat die Politik das Recht — und ich sage: ja, sogar die Auseinandersetzung in dieser Frage nehmen. Pflicht — , vor einer falschen und gefährlichen Tarif- (Beifall bei der SPD) politik zu warnen. Zum Schluß noch eine Bemerkung: Wenn Sie meh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rere Reden, die heute morgen von Ihrer Seite über die Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Peinlich!) Qualifizierung von Arbeitslosen gehalten worden sind, in aller Ruhe nachlesen, dann werden Sie fest- Ja, dieses Recht nehmen wir uns heraus! Man kann stellen, daß es intellektuell überheblich und snobi- nicht nur vom Recht auf Arbeit sprechen und uns dann stisch ist, wie Sie mit den Menschen, die arbeitslos auch noch auf die Anklagebank setzen. Nein, dann sind, umgehen und sie im Gegensatz zu allen anderen reden und diskutieren wir über die Bedingungen für beurteilen. unsere Wirtschaftspolitik auch mit. (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh (Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Frau [fraktionslos] — Widerspruch bei der CDU/ Schulte [Hameln] [SPD]: Peinlich!) CSU) Ja, ich sage: Dafür muß man gegebenenfalls öffentli- Ich glaube, Sie werden von den Arbeitnehmern in che Meinung mobilisieren. Und das ist die Frage der Nordrhein-Westfalen und von deren Familien am Beeinflussung von Tarifpolitik, so wie wir sie hier 1. Oktober eine anständige Antwort darauf erhalten. heute dargelegt haben. (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [fraktionslos]) Meine Damen und Herren, selbst aufgeklärte So- zialdemokraten sehen das ja so ähnlich. Oskar Lafon- Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat nun Herr Ab- taine hat in der heißen Phase der Tarifauseinanderset- geordneter Scharrenbroich. zungen im öffentlichen Dienst (Günther [CDU/CSU]: Sich unverschämt ein gemischt!) Scharrenbroich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! — und wir sind noch gar nicht in der heißen Phase — gesagt, wie er sich Arbeitszeitverkürzung vorstelle. (Frau Unruh [fraktionslos]: Der doppelte Dazu kann man ja stehen, wie man will, aber er hat Christ ist das! — Günther [CDU/CSU]: Bes- sich in der heißen Phase eingemischt. Das ist etwas ser doppelt als gar nicht! — Weitere Zurufe ganz anderes als das, was der Wirtschaftsminister ge- von der CDU/CSU) - macht hat. Und auf die Frage des „Spiegel" in dem Ich erkläre hier für meine Fraktion noch einmal, daß Streitgespräch mit Hermann Rappe: „Stört Lafontai- wir Deutsch verstehen, und wir haben auch das ver- nes Vorstoß die laufenden Tarifverhandlungen im öf- standen, was der Bundeswirtschaftsminister gesagt fentlichen Dienst?" — sagt Lafontaine: Aber wann soll hat. Wenn er sagt „Darüber entscheiden allein die man dann eine solche Diskussion führen? Doch nicht, Tarifvertragspartner", dann heißt das, daß sie eben wenn die Verträge abgeschlossen sind. — Also, das, allein entscheiden und nicht noch andere mitentschei- was der Wirtschaftsminister inhaltlich — auch in sei- den. Also — das hat früher schon der Bundesarbeits- nem Diskussionsbeitrag hier — gemacht hat, ist ge- minister klargestellt, das hat der wirtschaftspolitische nau richtig. 12190 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Scharrenbroich Auch ich wiederhole an dieser Stelle die von mir votum hier endlich eine Veränderung, eine Wende schon früher an die IG Metall gerichtete Aufforde- herbeigeführt. rung, ihre Überlegungen hinsichtlich einer pauscha- (Dreßler [SPD]: Das war der 1. Oktober, Herr jetzt nicht weiter len Wochenarbeitszeitverkürzung Kollege!) zu verfolgen. Die Zahlen der Regierungserklärung beweisen, wie (Beifall bei der FDP) erfolgreich die Bundesregierung des Bundeskanzlers mit diesem Arbeitsminister ist. Allein der Die derzeitigen tarifpolitischen Überlegungen der IG Vergleich der deutschen Arbeitslosenzahlen mit den Metall gefährden nach meiner Auffassung die erfolg- Zahlen anderer Länder beweist die nationale Leistung reiche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser der christlich-liberalen Koalition. Wir wissen: Das ha- Bundesregierung. Eine 35-Stunden-Woche ist jetzt ben wir nicht allein gemacht. Wir haben die Rahmen- weder im Interesse der Arbeitslosen noch der Beschäf- daten gesetzt. Deswegen gilt Anerkennung und Dank tigten. Denn Wochenarbeitszeitverkürzungen führen auch den Unternehmen, den Handwerkern, den Ar- in vielen Re- beim derzeitigen Facharbeitermangel beitern, den Gewerkschaften und den Arbeitgeber- gionen und Branchen nur zu mehr Überstunden, zur verbänden. Alles das war nur möglich, weil die christ- Arbeitsverdichtung oder zum Wegrationalisieren von lich-liberale Regierung Vertrauen und Optimismus Arbeitsplätzen. Das wäre die Folge einer pauschalen geweckt hat, während die Sozialdemokraten — auch Arbeitszeitverkürzung. heute wiederum — an Modellen basteln, wie sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch Ökosteuern die Energiepreise künstlich in die Höhe jagen können. Die SPD-Bundesgeschäftsführe- Wir als Politiker sind hier aufgefordert und verpflich- rin, Frau Fuchs, hat dankenswerterweise aufgeklärt, tet, dies ganz deutlich zu sagen. daß es der SPD nicht nur um die Ökologie geht, son- dern auch, vielleicht auch in erster Linie, um die Auf- Neben Lohnerhöhungen und vermögenswirksa- füllung der Staatskassen. men Leistungen ist jetzt mehr Flexibilität in der Ar- beitszeit bis hin zur Altersteilzeit gefordert. Bei dieser (Reimann [SPD]: Zerbrechen Sie sich nicht Gelegenheit danke ich der DAG, daß sie bei den Tarif- unseren Kopf!) verhandlungen bei den Banken gerade die Altersteil Ich hatte nie Zweifel an dieser Absicht der SPD. zeit in ihr Forderungspaket aufgenommen hat. Das ist eine menschengerechte Arbeitszeitpolitik, so wie wir Am eindrucksvollsten sind die vorgetragenen Zah- sie uns wünschen. len in der Regierungserklärung über die Stimmungs- lage der Bevölkerung. Ich wiederhole: Laut Infas äu- Aber auch eine tarifvertragliche Absicherung der ßern sich jetzt unter Bundeskanzler Helmut Kohl 82 Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmer sollte der Bundesbürger „überwiegend zuversichtlich" über nach unserer Auffassung Gegenstand der Tarifver- die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Dagegen äu- handlungen werden. Die Arbeitnehmer müssen, ßerten sich 1982 unter Bundeskanzler Helmut meine ich, einen tarifvertraglich abgesicherten An- Schmidt 63 % der Befragten „beunruhigt" über die spruch auf die Veredelung ihrer Arbeitskraft — so politischen Verhältnisse. nenne ich das einmal — haben, damit sie auch im fort- geschrittenen Alter als Fachkräfte begehrt bleiben. (Günther [CDU/CSU]: Und mit Recht!) Übrigens ist Forbildung auch eine Form von Arbeits- Das ist praktisch die Quintessenz. Deswegen gehen zeitverkürzung. Vielleicht sollte man das der IG Me- wir den Wahlentscheidungen sehr beruhigt entgegen. tall noch sagen. Wenn man Arbeitszeitverkürzung ha- Die Resignation ist überwunden. Die reale Kaufkraft ben will, dann sollte man sich auf solche Formen kon- des Durchschnittverdieners liegt jetzt um 2 100 DM zentrieren, wo der einzelne entscheiden kann, ob er höher als zu Helmut Schmidts Zeiten. Wir haben den sie in Anspruch nehmen will oder nicht, was bei der Nachkriegsrekord bei der Zahl der Erwerbstätigen. Wochenarbeitszeitverkürzung eben nicht der Fall Ich möchte zum Schluß, Kollege Dreßler, doch noch ist. auf einige Ihrer Anmerkungen eingehen. Sie haben Sollten die Delegierten des IG-Metall-Kongresses gesagt, Kollege Dreßler — vielleicht darf ich Ihre Auf- die Zeichen der Zeit nicht erkennen, dann, so meine merksamkeit erregen — , mit unsere Politik würden ich, verlieren die Arbeitnehmer. Dann verliert auch wir den Radikalen in die Hände spielen. Das halte ich die IG Metall, und zwar Mitglieder. Denn die hoch- für eine provozierende, schlimme Ausführung. qualifizierten Angestellten der neuen technischen Be- (Reimann [SPD]: Aber die Wahrheit!) rufe werden eine Tarifpolitik der Unbeweglichkeit mit ihren Beiträgen meiner Ansicht nach nicht unterstüt- Wir wissen doch, daß die Radikalen viele wählen, die zen wollen. protestieren wollen. Warum protestieren die denn ei- gentlich? Sie protestieren, obwohl wir eine phantasti- Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß wir damit- sche Wirtschafts- und Beschäftigungslage haben. einiges klargestellt haben. Wir, die Politik, bringen Trotz der guten Lage protestieren sie, weil Sie, die uns durchaus in die Überlegungen zur Tarifpolitik Sozialdemokraten, die Opposition, nicht in der Lage ein. sind, die Leistungen dieser Bundesregierung wenig- stens einigermaßen anzuerkennen; Sie wollen alles in Aber der eigentliche Anlaß der heutigen Debatte Grund und Boden reden. ist, daß heute vor sieben Jahren die Regierung des Weltökonomen Helmut Schmidt in der Agonie lag. (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der Am 30. September hat das konstruktive Mißtrauens- SPD) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12191

Scharrenbroich Das ist der Grund dafür, daß es so viele Protestwähler lich. Das heißt, neu eingestellt wurde in der letzten gibt, daß wir so viele Radikale haben. Zeit nur durch Zwang, durch Tarifkämpfe und Streiks. Ich schließe mit der Bemerkung: Wir haben immer Arbeitsverhältnisse nach dem Prinzip des Heuerns noch zu viele Arbeitslose — das braucht uns niemand und Feuerns wurden nur mit dem größtmöglichen zu sagen, das wissen wir alle —, aber dadurch, daß die Widerstand teilweise verhindert. Arbeitsmarktpolitik gegriffen hat, vor allen Dingen Qualifizierung war ewig lang kein Thema, im Ge- durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, haben wir genteil: Es wurde immer mehr dequalifiziert. Im letz- jetzt die Chancen, durch besondere Programme den ten Jahrzehnt z. B. wurde insgesamt um Langzeitarbeitslosen zu helfen. Maßnahmen, die Ausbildung fast ein Drittel reduziert. Jetzt heißt es auf einmal: Es sonst versickert wären, werden jetzt zielgerecht die sind keine Facharbeiter und Facharbeiterinnen mehr Personengruppe erreichen, die wir damit erreichen da. wollen. Herzlichen Dank. Wer ist denn nach der Logik von Herrn Minister (Beifall bei bei der CDU/CSU und der FDP) Haussmann, Blüm und Konsorten schuld? Die Er- werbslosen und die Gewerkschaften sind dafür ver- antwortlich. Und Sie sind wieder aus dem Schneider, Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat Frau Abge- denn Sie würden gerne, aber es gibt ja keine Arbeits- ordnete Frieß. kräfte. Doch ich bin Herrn Minister Haussmann an sich (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Da- Frau Frieß ganz dankbar; denn er ist ehrlich. Sie, Herr Hauss- men und Herren! Die Auseinandersetzung um die mann, sagen frank und frei, was Sie wollen, wo viele Arbeitszeitverkürzung hat schon Tradition. Schon im- in der CDU/CSU, aber auch Teile in der SPD sich hin- mer haben Liberale und Konservative versucht, ge- ter angeblichen Verbesserungen verstecken. Sie for- meinsam mit den Unternehmern zugunsten des Profits dern Verzicht von Arbeitszeitverkürzung und weniger der Unternehmer Arbeitszeitverkürzung zu verhin- Lohn bei Neueinstellungen, was natürlich eindeutig dern. Am liebsten wäre es ihnen derzeit, wenn sich ein Eingreifen in die Tarifautonomie ist. Die CDU/ Löhne und Arbeitszeiten wieder an die Zeit vor CSU dagegen hat derzeit gesetzliche Maßnahmen er- 100 Jahren anpassen würden. griffen — ich erinnere an den § 116 AFG — , die die (Hinsken [CDU/CSU]: Mein Gott, wo leben Rechte der Beschäftigten massiv einschränken und Sie denn? — Grünbeck [FDP]: Abschaffen!) die ebenfalls ein Eingreifen in die Tarifautonomie dar- Was Herr Haussmann eben sagte, ist nichts Neues; stellen. es ist einfach Altes in neuem Gewand, nur haben sich die Argumente ein bißchen verändert. Früher wurde Genauso, denke ich, ist es bei der SPD. Sie fordern einmal die Arbeitszeit gegen das Einkommen ausge- heute eine Debatte über die Äußerungen von Herrn spielt, dann war Arbeitszeitverkürzung für Erwerbslo- Minister Haussmann, sind empört und regen sich jetzt sigkeit verantwortlich, und jetzt sind mittlerweile die vor der NRW-Kommunalwahl natürlich besonders Beschäftigten, die Arbeitszeitverkürzung fordern, auf, und gleichzeitig vertreten viele Teile der SPD schuld an der ganzen Misere der Welt. — wie auch Lafontaine — Lohnverzicht, Teilzeitar- beit, Flexibilisierung. Sie greifen damit — das wurde Ich will hier ein Zitat von Herrn Haussmann brin- auch aus Gewerkschaftskreisen und auch von Ihren gen: eigenen Kollegen angegriffen — natürlich auch in die Wer die Arbeitszeit verkürzt, sorgt gleichzeitig Tarifautonomie, in die Tarifauseinandersetzung ein. für die Zwangsstillegung von Wissen und Erfah- rung, die nicht nur bei uns, sondern auch in vielen Ich denke, Herr Minister Haussmann, Sie sagen, Entwicklungsländern dringend gebraucht wür- was Sie denken. Die anderen heucheln Verbesserun- den. gen, meinen aber dasselbe: Zugunsten des bundes- (Sehr richtig! bei der FDP) deutschen Kapitals und seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt sollen die Beschäftigten noch Diese Aussage bedeutet ja, daß Arbeitszeitverkür- mehr ausgebeutet, noch wehrloser, noch angepaßter zung Wissen verringern würde. Folglich würde das werden. auch heißen, daß die Menschen, die zur Zeit in der Dritten Welt 20 Stunden pro Tag arbeiten, überquali- Alle, wie Sie hier sitzen, greifen durch ihre Politik in fiziert werden. bestimmter Form in die Tarifautonomie ein. Sie neh- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — men Partei für die Unternehmer und deren Profite und Günther [CDU/CSU]: So einen Quatsch habe schwächen damit die Gewerkschaften in ihrer Mobili- ich selten gehört! — Frau Roitzsch [Quick- sierungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Ich born] [CDU/CSU]: Ist das grüne Mengen- finde das ja ganz in Ordnung — das meine ich ehr- lehre?) lich — , denn das ist eben Ihre Position. Auch wir GRÜ- NEN greifen in diese Diskussion ein, und wir nehmen Ich denke, es ist nicht eine Frage der Arbeitszeit, son- eindeutig Partei für die Gewerkschaften. Wir unter- dern es ist eine Frage von Qualifikation. stützen sie im Kampf um die 35-Stunden-Woche bei Damit sind wir beim Thema Facharbeiter-, vielleicht Lohnausgleich und sind sogar der Meinung — das hat auch Facharbeiterinnenmangel. Seit Jahren sind die Herr Haussmann schon gesagt — , daß derzeit schon Unternehmer an einer Beschäftigtensituation interes- die 30-Stunden-Woche anstehen müßte. siert, die sich an folgendem Motto orientiert: sowenig Arbeitsplätze, rechtlos, billig und so flexibel wie mög- (Beifall des Abg. Stratman [GRÜNE]) 12192 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Frieß Eine tägliche Arbeitszeitverkürzung ist für uns ei- lifizierte Arbeitskräfte zu finden, bereitfindet, auch ner der wichtigsten Ansätze zur Umverteilung der noch die Arbeitszeit an vorhandenen Arbeitsplätzen bezahlten Arbeit, aber auch der Hausarbeit. Neben zu verkürzen, der schafft keine Beschäftigung, son- den bereits registrierten Erwerbslosen gibt es noch dern der schafft im Gegenteil Arbeitslosigkeit. über 2 Millionen erwerbslose Frauen, denen das (Beifall bei der FDP) Recht auf einen gesicherten Arbeitsplatz ständig ab- gesprochen wird. Wir GRÜNEN fordern folglich be- Wir brauchen keine Arbeitszeitverkürzung, son- sonders für Frauen das Recht auf einen Arbeitsplatz. dern wir brauchen eine Flexibilisierung der Arbeits- Wir sind deswegen für Arbeitszeitverkürzung. Wir zeit, um die Arbeitskosten durch eine bessere Ausla- fordern Arbeitszeitverkürzung ferner als Vorausset- stung der Kapazitäten niedrig und damit unsere Kon- zung zur Pflicht zur Hausarbeit für Männer. kurrenzfähigkeit hochzuhalten. Wir brauchen mehr Arbeitsflexibilisierung, um den Bedürfnissen der (Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie zu Hause Menschen in ihren Familien gerecht zu werden. überhaupt einen Mann?) — Ja, Sie könnten auch einmal ein bißchen mehr (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der machen. CDU/CSU) In diesem Zusammenhang kritisieren wir natürlich Wir brauchen aber auch größere Anstrengungen der auch die Gewerkschaften. Wir sind der Meinung, daß Betriebe zugunsten einer Weiterqualifizierung ihrer die Gewerkschaften derzeit viel zu wenig für die In- Belegschaft, um dem bedrohlich werdenden Mangel teressen von Frauen, für Quotierung, für die unteren an Fachkräften abzuhelfen. Wenn die Arbeitszeitver- Lohngruppen — das bet rifft auch wieder Frauenar- kürzung zur Schulung und Weiterqualifizierung ge- beitsplätze — tun. Dafür werden wir uns einsetzen, nutzt wird, so ist dagegen nichts einzuwenden. und wir werden in die Tarifdebatte eingreifen, und Meine sehr verehrten Damen und Herren, die zwar zugunsten der Beschäftigten und vor allem im Grundvoraussetzungen für eine weitere nachhaltige Interesse der Frauen. Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt sind im wesent- (Beifall des Abg. Stratmann [GRÜNE] — lichen gegeben, nämlich Wirtschaftswachstum, Geld- Grünbeck [FDP]: Sie wollen also doch in die wertstabilität und sozialer Frieden. Dies sind Voraus- Tarifautonomie eingreifen!) setzungen, um eine möglichst sozial gerechte Gesell- — Ja, wie Sie auch. schaft zu erreichen. Denn nur was vorher erarbeitet worden ist, kann nachher verteilt werden. Nach wie vor problematisch ist allerdings die Wirt- Das Wort hat der Abgeord- Vizepräsidentin Renger: schaftsstruktur in einigen Regionen der Bundesrepu- ch. nete Heinri blik Deutschland. Aber das ist jetzt nicht mein Thema, sondern ich möchte noch eine Anmerkung als Sozial- Heinrich (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- politiker machen: Wir müssen das Instrumenta rium ehrten Damen und Herren! Es ist zwar müßig, Selbst- der Arbeitsmarktpolitik ausbauen. Wir brauchen eine verständlichkeiten dauernd zu wiederholen, aber da bessere Feinsteuerung. Dort, wo positive Ansätze er- es offensichtlich doch sehr viele Menschen gibt, die kennbar sind, müssen die Systeme weiter ausgebaut Selbstverständlichkeiten einfach nicht zur Kenntnis werden. nehmen wollen, müssen Sie sich einige Wiederholun- Ein positiver Ansatz z. B. ist, daß wir 4 % weniger gen gefallen lassen. behinderte Arbeitslose im Vergleich zum vergange- Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört für mich nen Jahr haben. Das reicht aber noch nicht, denn z. B. das Bekenntnis zur Tarifautonomie. Das stellt 125 000 gemeldete behinderte Arbeitslose sind nach auch von uns niemand in Frage. Wir haben das vorhin wie vor zuviel. sehr deutlich diskutiert. Dieses Bekenntnis zur Tarif- (Günther [CDU/CSU]: Sehr richtig!) autonomie bedeutet jedoch nicht, gleichzeitig auf Kri- tik und Bewertung des Verhaltens der Tarifparteien Seit Jahren fordern wir, daß die Behindertenquote von zu verzichten. Wir lassen uns jedenfalls weder von 6 % der Beschäftigten von den staatlichen und priva- Gewerkschaften noch von den Arbeitgeberverbänden ten Arbeitgebern eingehalten werden soll. Leider einen Maulkorb umbinden. Gottes bewegt sich in diesem Sektor so gut wie gar nichts. Das reiche Land Baden-Württemberg z. B. ist (Beifall bei der FDP) nach wie vor ein Schlußlicht in dieser Reihe. An Stelle Wenn das, was als Ergebnis von Tarifverhandlungen von Einstellungen von Behinderten bezahlt man viel herauskommt, zu Lasten von Wirtschaft und Gesell- lieber die Ausgleichsabgabe. schaft, vor allem aber zu Lasten der Arbeitslosen geht, dann ist ein Punkt erreicht, an dem ein verantwortli- Da alle Appelle bisher wenig gebracht haben, müs- cher Politiker mit seiner Meinung nicht mehr hinter sen wir uns überlegen, ob wir nicht die Ausgleichsab- von derzeit 150 DM anheben. dem Berg halten darf. - gabe (Reimann [SPD]: Das sind doch alles Behaup- (Frau Flinner [GRÜNE]: Das nützt doch über tungen!) haupt nichts!) Ich kann es Ihnen daher nicht ersparen, zu wieder- Damit erreichen wir erstens einen stärkeren Druck auf holen, daß ich eine Politik der generellen Arbeitszeit- die öffentlichen und p rivaten Arbeitgeber, ihren ge- verkürzung in der derzeitigen Situation für volkswirt- setzlichen Verpflichtungen auch nachzukommen, schaftlich unverantwortlich halte. Wer sich in Zeiten, und zweitens, mit den höheren Einnahmen die Ent- in denen es immer schwieriger wird, zusätzliche qua- lohnungen der Behinderten in den beschützenden Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12193

Heinrich Werkstätten auf ein angemessenes Niveau zu brin- Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie eine Zwi- gen. schenfrage, Herr Abgeordneter? (Günther [CDU/CSU]: Jawohl!) Weiermann (SPD): Bitte. Wir dürfen die Behinderten von dem gesellschaftli- chen Leben außerhalb der Werkstätten nicht völlig Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Herr Abgeordneter ausgrenzen. Weiermann, Ihnen ist ja auch bekannt, daß es lohnin- (Günther [CDU/CSU]: So ist es!) tensive und weniger lohnintensive Bet riebe gibt. Ih- Ihnen muß die Möglichkeit gegeben werden, ihre in- nen ist ferner ebenso wie mir bekannt, daß es zumin- dividuellen und persönlichen Bedürfnisse stärker als dest in unserer Region weder Hilfs- noch Facharbeiter bisher aus der eigenen Tasche finanzieren zu können. gibt. Ich frage Sie: Ist es wirk lich sinnvoll, in kleineren Auch diese Menschen haben Anspruch darauf, daß und mittleren lohnintensiven Betrieben die Arbeits- ihre Leistung, die durch ihre gesundheitliche und so- zeit zu verkürzen, Überstunden nicht zu leisten und ziale Situation bestimmt ist, angemessen anerkannt damit Aufträge nicht zu erfüllen? Schafft das mehr wird. Arbeitsplätze? Wie würden Sie sich als Unternehmer Herzlichen Dank. verhalten, wenn Sie vor dieser Problematik stün- den? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Weiermann (SPD): Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Bereichen, die kapitalintensiv arbeiten, Vizepräsidentin Renger: Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Weiermann. und den Bereichen, die lohnintensiv arbeiten. (Grünbeck [FDP]: Er redet von Arbeitsinten sität, nicht von Kapitalintensität!) Weiermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen! Natürlich gibt es solche Fälle. Nach dem Stand des Meine Herren! Ich hätte erwartet, Herr Bundesmini- Jahres 1989 haben aber die Industrie und das Ge- ster Haussmann, daß Sie heute die Gelegenheit nut- werbe insgesamt eine so deutliche Entwicklung ge- zen würden, an dieser Stelle deutlich zu sagen — — nommen, daß eine Zurückführung der Wochenar- (Zuruf von der CDU/CSU: Zuhören!) beitszeit zu finanzieren ist. Ich beweise das an einer — Wir haben zugehört, und wir haben festgestellt, daß anderen Stelle meiner Rede. Sie nicht von der Aussage Abstand genommen haben, (Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arns daß die Tarifvertragsparteien dies nicht allein lösen berg] [FDP]: Es geht nicht um die Finanzie können. Sie haben hier keine klare Aussage gemacht, rung, sondern darum, daß keine Arbeits wie es Ihnen angestanden hätte und wie es dem Ho- kräfte da sind, Herr Abgeordneter! — Dreß hen Hause auch gedient hätte. Das will ich an dieser ler [SPD]: Wer hat denn vorher nicht ausge Stelle einmal deutlich sagen. bildet, Herr Kollege?) (Beifall bei der SPD) — Da kann ich an dieser Stelle nur sagen: Es ist Wir kennen das von Ihrer Seite. Wir wissen, daß aus eigentlich eine Schweinerei, wenn sich diejenigen, dem Hause Lambsdorff in den letzten Jahren sehr die sich vorher der Ausbildung verweigert haben — häufig Angriffe auf Arbeitnehmer erfolgt sind. Aber nämlich die kleinen und großen Unternehmer —, wir können das auch an dieser Stelle ganz deutlich heute darüber beklagen, daß sie nicht genügend machen. Ich glaube, daß die „Stuttgarter Zeitung" Fachkräfte bekommen. sicherlich ganz richtig liegt, wenn sie von einem Pro- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ filierungszwang eines blassen Ministers schreibt. Das CSU: Sie wissen nicht, wovon Sie reden! Das stimmt doch wohl auch, meine Damen, meine Her- ist ja unmöglich! — Hinsken [CDU/CSU]: ren. Unverschämt ist das! — Cronenberg [Arns berg] [FDP]: Es fehlen ja auch unausgebil (Beifall bei der SPD) dete Leute! — Weitere lebhafte Zurufe von Arbeitszeitverkürzungen, wie sie von den Gewerk- der CDU/CSU) schaften gefordert werden, haben nachweislich posi- — Das ist nicht unmöglich. Das sind Tatsachen. tive Beschäftigungswirkung gezeigt. Dies nicht wahr- nehmen zu wollen und die Tarifvertragsparteien, die (Abg. Grünbeck [FDP] meldet sich zu einer sich auf solche Arbeitszeitverkürzung einigen, gar als Zwischenfrage) „Kartell zur Erzeugung von Arbeitslosigkeit" zu diff a -mieren, Vizepräsidentin Renger: Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? (Dr. Hitschler [FDP]: Das trifft ja leider zu!) ist schlicht gesagt eine Schweinerei. Weiermann (SPD): Nein danke. — Die von Herrn (Beifall bei der SPD) - Haussmann attackierte Tarifautonomie ist ein zu ho- hes Gut, als daß man solche Ausfälle tätigen kann. Das ist von Ihrem Herrn Lambsdorff vor wenigen Ta- gen gesagt und in der „Frankfurter Rundschau" so (Grünbeck [FDP]: Das ist Brunnenvergif zitiert worden. Das zeugt von einem — lassen Sie mich tung, was Sie da betreiben! Keine Ah das an dieser Stelle sagen — ganz erheblich gestörten nung!) Verhältnis zur Realität. Dies ist ein Schlag ins Gesicht Ich sage an dieser Stelle: Die Tarifautonomie ist ein der Tarifvertragsparteien und unserer ganzen Demo- unverzichtbares Kernstück unserer sozialen Demo kratie, meine Damen und Herren. kratie und als solches vom Grundgesetz geschützt. 12194 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Weiermann Wer sich daran vergreift, der handelt in diesem Zu- Stückkosten sind nach einer Berechnung der EG- sammenhang verfassungswidrig. Kommission seit 1983 rückläufig, mit Ausnahme des (Beifall bei der SPD — Grünbeck [FDP]: Bei Jahres 1987, in dem ein geringfügiger realer Anstieg der Neuen Heimat haben die Gewerkschaf- um 0,6 % verzeichnet werden mußte. ten das gemacht! Die haben sich daran ver- Die Bundesregierung behauptet, mehr Gewinne griffen!) bedeuteten mehr Investitionen und damit die Schaf- Plump und naiv ist der Vorstoß des Ministers nur auf fung zusätzlicher Arbeitsplätze. Ich kann an dieser den ersten Blick. Das hat zwar keinen Stil, meine Stelle sagen: Es fehlt nicht an den materiellen Mitteln Damen und Herren, aber das hat sicherlich System. zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern der Ko- Bei genauerer Betrachtung zeigen sich nämlich Paral- alition fehlt der politische Wille, sie zum zentralen lelen und Verweise, die auf eine langfristige Strategie Thema ihrer Innenpolitik zu machen. Das ist der schließen lassen. Schon vor drei Jahren hat Herr Punkt. Haussmann — damals noch wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion — den Versuch gemacht, (Beifall bei der SPD — Cronenberg [Arns die Tarifautonomie zur Diskussion zu stellen. Aller- berg] [FDP]: Nicht den guten Willen abspre dings hatte er damit ebensowenig Erfolg wie Bundes- chen!) kanzler Kohl, der 1984 die Forderungen nach Arbeits- Dahinter steht die Ideologie der Wende. Scheibchen zeitverkürzung als „dumm und töricht" abkanzelte. weise hat die Regierungskoalition seit 1983 versucht, Wir können an dieser Stelle festhalten: Die Aussage die sozialen Errungenschaften zu beschneiden und des Herrn Bundeskanzlers war dumm und töricht, die Gesellschaft auf ihre Art umzubauen. Das begann nicht die Arbeitszeitverkürzung. gleich nach der Regierungsübernahme mit den ersten Schritten zum Abbau des Sozialsystems und wurde Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie eine Zwi- und wird ergänzt durch die Einschnitte bei den Ar- schenfrage des Abgeordneten Cronenberg? beitnehmerrechten. Ich darf Sie, Herr Blüm, nur an die Folgen der Ge- Weiermann (SPD): Bitte! sundheitsreform,

Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Herr Abgeordneter (Dr. Blüm [CDU/CSU]: An welche Folgen Weiermann, ich frage Sie: Ist die K ritik an Tarifverträ- der Gesundheitsreform?) gen im Vorfeld und in der Bewertung demnach ein an die Folgen der Leiharbeit und an die Folgen, die Angriff auf die Tarifautonomie? auch die Steuerreform erbracht hat, erinnern. Da wer- den Menschen, die 1 Million DM verdienen, mit Weiermann (SPD): Die Kritik ist zunächst kein An- 30 000 bis 40 000 DM jährlich steuerlich entlastet, und griff auf die Tarifautonomie. Aber Herr Haussmann Rotationsdrucker werden mit 1 000 bis 2 000 DM be- hat gesagt, er will diese Tarifautonomie den Tarifver- lastet. Das sind die unsozialen Folgen der Steuerre- tragsparteien nicht allein überlassen. Das ist der form. Punkt. Ich erinnere an das Betriebsverfassungsgesetz, mit (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Dann lassen dem die Regierungskoalition versucht, einen Keil in Sie zumindest den Bundeskanzler Kohl aus die Arbeitnehmerschaft zu treiben und sie zu spal- dem Spiel heraus; denn der hat das bestimmt ten. nicht gesagt! — Gegenruf von der SPD: Der sagt im Zweifel alles! — Scharrenbroich Ich erinnere an das sogenannte Beschäftigungsför- [CDU/CSU]: Es gilt das, was Herr Hauss- derungsgesetz, mit dessen Hilfe die Bundesregierung mann hier im Parlament gesagt hat; das ein Heer von Arbeitnehmern minderen Rechts ge- gilt!) schaffen hat. Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland flo- (Dr. Blüm [CDU/CSU]: 150 000 sind in Arbeit riert. Das Leistungsbilanzsaldo spricht eine deutliche gekommen!) Sprache. Die Handelsbilanzüberschüsse betrugen im Jahre 1988 128 Milliarden DM, die Leistungsbilanz- Das geht doch nach dem Motto „heuern und feuern", überschüsse 85,1 Milliarden DM. Das Bruttosozialpro- und es sind nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen wor- dukt ist von 1982 bis 1988 um 524 Milliarden DM — den. Es sind mehr bef ristete Arbeitsplätze geschaffen d. h. um ein Drittel — auf über 2,1 Billionen DM ge- worden. Der Anteil der unbef risteten Arbeitsplätze ist stiegen. in diesem Zusammenhang ständig zurückgegangen. (Zustimmung des Abg. Cronenberg [Arns- Diese Punkte sind traurige Höhepunkte einer Politik berg] [FDP]) der Umverteilung von unten nach oben. Arbeitgeberverbände und die Bundesregierung be- Nun nimmt sich die Bundesregierung wieder ein- haupten, die hohen Lohnkosten bzw. die Lohnneben-- mal — nach einigen gescheiterten Anläufen — des kosten seien schuld an der angeblich sinkenden Lei- Tarifrechts an. Von Zeit zu Zeit muß wohl ein Probe- stungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ein Ver- lauf unternommen werden, um die Grenzen auszulo- gleich der Entwicklung der Bruttostundenverdienste ten. Einen solchen hat Minister Haussmann mit seiner in der Bundesrepublik mit denen in den wichtigsten Stellungnahme zur Tarifautonomie eben gestartet. westlichen Industrieländern sagt hingegen etwas Nichts anderes steckt hinter seinen Äußerungen vom ganz anderes aus. Die Bundesrepublik bildet hier so- vergangenen Wochenende. Meine Damen und Her- gar noch nach Japan das Schlußlicht. Die Reallohn ren, das ist der eigentliche Skandal. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12195

Weiermann Mittlerweile wird Herr Haussmann — und mit ihm haben die höchsten Löhne. Wir haben die höchsten die Regierung — begriffen haben, daß man sich über- Sozialleistungen. Wir haben die höchsten Spareinla- nommen hat. Aus diesem Widerspruch von tatsächli- gen. Wir haben die kürzeste Arbeitszeit. Wir haben cher und vermeintlicher Kraft resultiert die Lächer- den längsten Urlaub, wir haben die längsten Staus auf lichkeit, die den Vorstoß des Ministers kennzeichnet den Autobahnen und den Flughäfen. und zugleich den Zusammenhang mit der langfristi- (Dreßler [SPD]: Die kürzeste Arbeitszeit ha gen Strategie verdeckt. Meine Damen und Herren, ben wir nicht, Herr Kollege!) Tarifvereinbarungen von Gnaden eines Ministers sind Da stellt sich doch wirklich die Frage: Wie soll denn ein Wunschtraum, den diese Regierung noch sehr, sehr lange träumen wird; so lange jedenfalls, wie es nun das verteilt werden, was miteinander, von Arbeit- Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag gibt. gebern und Arbeitnehmern, unter Führung einer poli- tisch klugen und wirtschaftspolitisch starken Bundes- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. regierung verdient wurde? Diese Frage muß doch ge- (Beifall bei der SPD) stellt werden dürfen. Die Antwort müssen Gewerk- schaften und Arbeitgeber dann für sich selber dabei- haben, und zwar im Herzen und im Verstand, wenn Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- sie in diesem Sinn allein die Entscheidungen tref- nete Linsmeier. fen.

Linsmeier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie eine Zwi- sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen schenfrage des Abgeordneten Grünbeck? und Kollegen! Gestatten Sie mir vorweg auch für die CSU ein ganz klares Wort: An der grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie wird nicht gerüttelt. Die Linsmeier (CDU/CSU): Sehr gern. Väter der CSU gehören zusammen mit der CDU und mit führenden Persönlichkeiten der FDP zu den Be- Grünbeck (FDP): Herr Kollege, könnten Sie sich gründern der Marktwirtschaft in diesem Lande. Wir meiner Auffassung anschließen, haben keinerlei Nachholbedarf, (Zurufe von der SPD: Nein!) (Beifall des Abg. Scharrenbroich [CDU/CSU] — Zuruf von der FDP: Richtig!) daß es im Augenblick 800 000 offene Stellen gibt, die nicht zu besetzen sind, daß im Grunde genommen der festzustellen und festzuhalten, daß zur Sozialen Wirtschaftsminister damit recht hatte, auf die Gesamt- Marktwirtschaft konstitutiv und integral die Tarif- verantwortung der Tarifpartner — ohne Einschrän- autonomie gehört. Jeder, der hier versucht, Zweifel zu kung ihrer Entscheidung — hinzuweisen, und daß im streuen, geht an der Lebenswirklichkeit und an der Grunde genommen die Sozialdemokraten mit ihrem Grundeinstellung dieser Parteien vorbei. Angriff auf diesen Wirtschaftsminister von der eige- Natürlich haben auch Bundesminister Haussmann nen Unfähigkeit ablenken und damit verschleiern, und die Bundesregierung insgesamt nicht die Absicht, daß sich die Situation durch weitere Arbeitszeitver- die Tarifautonomie aufzulösen. kürzungen verschärfen würde? (Dreßler [SPD]: Sondern?) (Dreßler [SPD]: Jetzt überlegen Sie sich das Ich würde zumindest darum bitten, daß Sie die Dis- ganz genau! Er hat Sie hereingelegt!) kussion nicht auf einer formalen Ebene führen, also auf einer Ebene, auf der Sie sich sozusagen philolo- Linsmeier (CDU/CSU): Herr Kollege Dreßler, ich gisch an das Wörtchen „allein" hängen, sondern so bedarf Ihrer Aufforderung dazu nicht. führen, wie der Minister vorhin hier aufgetreten ist. Er hat gesagt: Ihr seid zwar allein zuständig, wenn ihr (Weiterer Zuruf von der SPD: Ja, hereinge entscheidet; legt, und das haben Sie gar nicht gemerkt! — Gegenruf des Abg. Grünbeck [FDP]: Ich (Dreßler [SPD]: Ihr dürft aber nicht allein ent- habe ja nicht nach Ihrer Auffassung ge scheiden!) fragt!) ihr dürft natürlich auch allein entscheiden, (Dreßler [SPD]: Aber?) Vizepräsidentin Renger: Können wir fortfahren? Wir aber wenn ihr entscheidet, haben die Zeit schon weit überschritten. (Dreßler [SPD]: Dann möchte ich dabei sein!) Linsmeier (CDU/CSU): Ich teile die Auffassung, die dann sind die dabei, die noch nicht im Arbeitsprozeß Sie soeben in Frageform gekleidet haben. Ich mache stehen, nämlich die junge Generation, die Arbeits- Sie darauf aufmerksam, daß ja nicht nur der Bundes- plätze erwartet; dann sind diejenigen dabei, die fra- - wirtschaftsminister in diesem Zusammenhang Fragen gen, wie viele Investitionen denn den Unternehmen stellt. Auch der Sachverständigenrat sagt zum Thema z. B. für den Umweltschutz bleiben, wie viele Mittel „Tarifpolitik für den strukturellen Wandel" : dann den Unternehmen für die Qualifizierungsmaß- Die Wachstumskräfte zu stärken erfordert eine nahmen betriebsinterner Art für die älteren Arbeitslo- Tarifpolitik, die den Strukturwandel unterstützt, sen verbleiben. die Investitionsbereitschaft und die Investitions- Dann stellt sich doch wirklich eine Frage auch für neigung fördert und bei der Gestaltung der Ar- die Gewerkschaften und die Arbeitgeberseite. Wir beitsbedingungen den individuellen Bedürfnis- 12196 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Linsmeier sen der Arbeitnehmer sowie den Erfordernissen panern lernen! — Stratmann [GRÜNE]: Wer der Betriebe gerecht wird. hat das gesagt?) (Grünbeck [FDP]: Ja, Sie müssen auch noch All das halte ich für unerträglich, und das füge ich den Sachverständigen das Wort verbieten!) hinzu. Dann, meine Damen und Herren, stehen in der Indem sie das Wirtschaftswachstum stärkt und Versammlung Bürgermeister auf, die sagen: Bei mir festigt, trägt die Tarifpolitik auch zu einem weite- am Bauhof brauche ich jemanden, in der Schlosserei, ren vordringlichen Ziel bei: die Beschäftigung zu in der Schreinerei, in der Spenglerei oder als Mau- erhöhen rer. (Grünbeck [FDP]: Sehr wohl!) (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt die Litanei „Arbeitslose sind Faulpelze" ! ) und Arbeitslose in den Produktionsprozeß einzu- gliedern. Die tarifpolitischen Schwerpunkte lie- Es kommen aber nicht nur Bürgermeister. Dann kom- gen in einer flexiblen und differenzierenden Ar- men die Mittelständler, Bäcker, Unternehmer, Freibe- beitsplatzgestaltung und der Förderung von Qua- rufler, die eine Palette von Mitarbeitern aufzeigen, die lifizierung und Weiterbildung der Beschäftig- sie suchen, die sie vergeblich suchen. ten. Ich bitte Sie sehr herzlich, auch das mit zu sehen; Wenn man Tarifautonomie so verstehen wollte, als auch das ist Teil der Realität. Ich habe vorhin die könnten die Tarifvertragsparteien außerhalb der poli- andere Seite der Realität aufgezeigt; aber es hat kei- tischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Rea- nen Sinn, diesen Teil der Realität wegzulassen. litäten stehen und Entscheidungen treffen, würde (Zustimmung bei der CDU/CSU) man sie allerdings fehlinterpretieren. Auch die Tarif- vertragsparteien müssen sich der Kritik, dem Rat und Denn bei mir im Wahlkreis werden diese Leute lang- dem guten Zureden anderer in dieser Gesellschaft sam sauer, wenn sie Ihre Reden hören. Auch das führt stellen. zu einer Spaltung und zu einer Konfrontation, die im Grunde unnötig wäre. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Scharrenbroich [CDU/CSU]: Natürlich!) (Beifall des Abg. Hinsken [CDU/CSU]) Tarifautonomie ist kein Maulkorberlaß für all diejeni- Wir müssen beides sehen. gen, die nicht am Tisch sitzen. Hinzu kommt natürlich auch — das Stichwort ist (Beifall bei der FDP) heute noch nicht gefallen — das Thema Schwarzar- Deshalb lassen wir uns durch eine herausgegriffene beit. Es gibt sicher an manchen Stellen ganz unheilige Allianzen, übrigens unheilige Allianzen bei der Aus- Formulierung nicht von der eigentlichen Problematik ablenken. Ich bitte auch Sie, sich so zu verhalten. nutzung des sozialen Netzes nicht nur auf der Arbeit- nehmerseite, bei Gott nicht. Auch auf der Arbeitge- (Grünbeck [FDP]: Sie hoffen vergeblich!) berseite — Ach, ich gebe da die Hoffnung nie auf. Ich halte (Grünbeck [FDP]: Auf der Verleiherseite!) Menschen grundsätzlich für lernfähig. wird manches ausgehandelt, z. B. Verträge zu Lasten Ich will mich hier noch zu einem Thema einklinken, eines Dritten, nämlich zu Lasten des Staates. über das vorher gesprochen wurde: die Massenar- beitslosigkeit. Ich muß gestehen, ich komme aus einer Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende Region der Bundesrepublik, nämlich aus dem Groß- dieser Debatte kurz zusammenfassen: Die Wirt- raum München, wo wir bei der Arbeitslosigkeit stati- schaftsdaten der Bundesrepublik sind so gut wie teil- stisch zwischen 4 und 6 % liegen, aber immerhin. Ich weise seit Jahrzehnten nicht mehr. Die politische Füh- will Sie einmal darauf aufmerksam machen, wie es rung hat die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt. mir geht, wenn ich in einer Veranstaltung über „2 Mil- Die Wirtschaft, das Handwerk, die Freiberufler und lionen Arbeitslose" rede. Und ich rede darüber, indem die Unternehmen haben richtig gehandelt. Die Ar- ich sage: Es gibt Regionen in der Bundesrepublik, wo beitnehmer waren wie immer in der Tradition der das teils traditionell — wie in manchen Bereichen der Bundesrepublik im Grunde gut ausgebildet, hochmo- Oberpfalz — , teils strukturell — wie hier im Lande tiviert, fleißig und bestrebt, das Beste zu geben. Nordrhein-Westfalen — sehr problematisch ist. Ich (Sehr richtig! bei der SPD) sage dazu, daß ich es für unerträglich halte, jeman- den, der 45 oder ein paar Jahre älter ist, der vielleicht Deshalb haben sich die Daten hervorragend verän- ein oder zwei Jahre nicht mehr im Beruf war, abzu- dert. Wir sind seit sieben Jahren in einem anhaltenden qualifizieren und für nicht mehr leistungsfähig zu hal- Aufschwung; er wird auch die nächsten Jahre anhal- ten. ten. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei (Lennartz [SPD]: In Gottes Ohr, daß er es Abgeordneten der SPD) hört!) Ich halte diesen Jugendfetischismus der 68er und der — Ich habe nichts dagegen, daß der liebe Gott es hört. folgenden Jahre, als man meinte, Leistungsfähigkeit Ich bin aber auch sehr dafür, daß es dann in der Rea- beginne mit 24 und höre mit 32 Jahren auf, für uner- lität eintritt. träglich. Die Räder der Konjunktur laufen auf Hochtouren. (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Auch dies soll- Auch Mittelstand und Handwerk haben dazu beige- ten die deutschen Unternehmer von den Ja- tragen. Sie profitieren davon; letztendlich profitieren Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12197

Linsmeier wir alle davon. Ich meine, wir sind auf dem richtigen In mehr als 1 200 der 6 300 Wasserwerke in der Bun- Kurs. Die Wende ist eingetreten. desrepublik Deutschland müssen ab dem 1. Oktober Danke. 1989 die Pumpen abgeschaltet werden, sollen die neuen, sinnvollen europäischen Grenzwerte einge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halten werden. (Beifall der Abg. Frau Blunck [SPD]) Vizepräsidentin Renger: Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Die Trinkwassergewinnung ist schon heute vielerorts nur mit aufwendigen Filter- und Desinfektionsverfah- Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 5: ren möglich. Unsere Wasserwerke werden chemi- schen Fabriken immer ähnlicher Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- ten Dr. Martiny, Roth, Schäfer (Offenburg), Ad- (Frau Blunck [SPD]: Das ist leider wahr!) ler, Bernrath, Blunck, Dr. Böhme (Unna), und sind dennoch nicht in der Lage, einen Großteil der Dr. Hartenstein, Heistermann, Ibrügger, Pestizide im Grundwasser zu analysieren, geschweige Dr. Jens, Kiehm, Kißlinger, Dr. Klejdzinski, denn herauszufiltern. Die großen Wasserversorger Koltzsch, Lennartz, Müller (Düsseldorf), Müller sind in Eile dabei, überregionale Ringleitungen zu (Schweinfurt), Odendahl, Oostergetelo, bauen, um in Zukunft belastetes Grundwasser mit Dr. Osswald, Dr. Pick, Pfuhl, Reuter, Dr. Schöf- weniger belastetem bis unter die Grenzwerte herab berger, Schütz, Sielaff, Stahl (Kempen), Weier- mischen zu können. Das sind die Fakten. mann, Dr. Wernitz, Weyel, Wimmer (Neuöt- ting), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD (Zuruf von der SPD: So ist es!) Schutz des Lebensmittels Trinkwasser Das deutsche Reinheitsgebot, meine Damen und Herren, gilt längst nicht mehr für das Wasser, mit dem — Drucksachen 11/4293, 11/5179 — deutsches Bier gebraut wird. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion (Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!) DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5261 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Die chemische Verseuchung unseres Grundwassers Beratung 90 Minuten vorgesehen, d. h. wir würden schreitet weiter fort und nimmt lebensbedrohliche bis 13.30 Uhr tagen, wenn Sie die 90 Minuten be- Formen an. Während sich der Landwirtschaftsminister schließen. Beschließt das Haus die 90 Minuten Rede- bei Bauerntreffen nur noch damit über Wasser halten zeit? — Kein Widerspruch; dann ist das so beschlos- kann, daß er sich über die neuen Grenzwerte lustig sen. macht und stereotyp den wenig sachdienlichen Ver- gleich mit Zuckerklümpchen im Bodensee herbetet, Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Abge- ordnete Lennartz. (Frau Blunck [SPD]: Das war unverantwort lich!) Lennartz (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! möchte die Bundesregierung unser Gesundheitspro- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer ist ei- blem Wasser am liebsten als organisatorische Auf- gentlich in der Bundesrepublik für sauberes und ge- gabe der Wasserwerke abtun. Denen bietet sie aller- sundheitsverträgliches Trinkwasser zuständig? dings dienstbeflissen an, mit mannigfaltigen Ausnah- megenehmigungen auf zehn Jahre bis zum Zwanzig- (Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: fachen des Grenzwertes behilflich zu sein. Dies, Wissen Sie das denn nicht?) meine Damen und Herren, ist unmöglich. So geht es Wer trägt eigentlich Verantwortung, wer hat Vorsorge nicht! zu treffen, damit wir nicht in Zukunft allesamt von einer chemischen Keule erschlagen werden? Sind es (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — die Endverbraucher, die dann zusehen müssen, wo es Frau Garbe [GRÜNE]: Ein Skandal!) etwas Trinkbares gibt, das einen nicht umhaut? Sind Für die SPD sind befristete Überschreitungen der es die sogenannten Produzenten des Trinkwassers, Grenzwerte nur dann akzeptabel, wenn sie im Einzel- die Wasserwerke, die alleine dafür sorgen sollen, daß fall streng toxikologisch begründet und mit einem er- sie all das Zeugs, das sie mit dem Grundwasser zutage folgversprechenden Sanierungsplan eng verzahnt fördern, herausfiltern können? Oder haben diejenigen und verknüpft sind. die Verantwortung, die Pflanzenschutzmittel produ- (Beifall bei der SPD) zieren, die chemische Industrie, oder diejenigen, die die Pflanzenschutzmittel auf die Felder spritzen, die An die 30 000 Tonnen Pestizide, die jährlich und mit Landwirte? Ist es gar die Politik, sind es die politisch steigender Tendenz auf deutsche Felder gespritzt Verantwortlichen, ist es die Bundesregierung, die mit werden, an die 1 800 Pflanzenbehandlungsmittel mit ihrem Handeln sicherstellen soll, daß die alltägliche 300 verschiedenen Wirkstoffen, schleichende Brunnenvergiftung aufhört? - (Frau Flinner [GRÜNE]: Nach Herrn Kiechle (Zuruf von der SPD: Richtig!) ist das gute fachliche Praxis!) Oder ist es die EG, die mit einer neuen, lästigen, über- Frau Kollegin, zogenen Trinkwasserverordnung nur die Pferde scheu macht? Meine Damen und Herren, das sind lei- (Frau Flinner [GRÜNE]: Weiß ich alles!) der auch noch heute, drei Tage vor Inkrafttreten der die todsicher irgendwann in irgendeiner Zusammen EG-Trinkwasserverordnung, die zentralen Fragen setzung ins Grundwasser gelangen, an den hochdo rund um unser Lebensmittel Trinkwasser. sierten Pestizideinsatz der Bundesbahn auf deren 12198 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Lennartz Gleisanlagen in Wasserschutzgebieten, in Wasserein- die die ökologische Funktion der Gewässer stören, die zugsgebieten, in Wasserschutzzonen, an ein Verbot durch normale Wasseraufbereitungsverfahren nicht von Pflanzenbehandlungsmitteln, für die kein Analy- beherrschbar sind, severfahren mitgeliefert wird, an einen ökologischen (Zustimmung bei der SPD und den GRÜ Umbau der Landwirtschaft mit weniger Dünger, mit NEN) weniger Giften wagen sich weder Minister Kiechle noch Restminister Töpfer heran, ganz zu schweigen die den Klärwerksbetrieb stören, die sich im Klär- von Frau Lehr. schlamm und Gewässerschlamm anreichern und eine landwirtschaftliche Verwertung der Schlämme aus- (Frau Flinner [GRÜNE]: Sehr richtig!) schließen. Dies kann man erreichen, wenn man wi ll. Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, (Frau Saibold [GRÜNE]: Man muß es errei verhält sich vielmehr wie jene namenlose naive Hof- chen!) dame Ludwigs XVI. zu Beginn der französischen Re- Meine Damen und Herren, diese Erkenntnisse ha- volution, die sich beim Anblick der hungernden Auf- ben wir nicht erst durch unsere Große Anfrage, die wir ständischen wunderte, warum das Volk denn keinen gestellt haben, erlangt. Man hätte uns als SPD-Bun- Kuchen ißt, wenn es kein Brot hat. Wird der Bundes- destagsfraktion folgen sollen, die wir bereits im Jahre kanzler, meine Damen und Herren, etwa bei der Neu- 1984 eine eigenständige Fraktionsanhörung durchge- jahrsansprache raten, naturreinen Saft zu trinken, führt haben, weil wir das Problem erkannt hatten. Wir wenn das Wasser ungenießbar ist? haben dann unsere Anträge vorgelegt. Unser Antrag „Sofortprogramm zum Schutz des Wasser" vom 2. Au- (Zuruf von der SPD: So ist es! Gut!) gust 1984 ist durch die Regierungskoalition abgelehnt worden. In drei Tagen schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann tritt die EG-Trinkwasserverordnung in Kraft. (Stahl [Kempen] [SPD]: Auch durch Baum! — Obwohl bereits 1980 beschlossen, trifft das neue EG- Grünbeck [FDP]: Völlig zu Recht abgelehnt! Recht die Bundesregierung weitgehend unvorberei- — Baum [FDP]: Reiner Aktionismus!) tet, ja, man kann sagen, daß Problembewußtsein beim Dann ist unser Antrag „Trinkwasserversorgung und Thema „Wasser" bei der Bundesregierung nicht er- Landwirtschaft" vom 22. August 1985 abgelehnt wor- kennbar ist. den. Ich gehe jetzt gar nicht auf alle Kleinen und Gro- ßen Anfragen ein, die seit Jahren von uns gestellt wor- (Frau Flinner [GRÜNE]: Richtig!) den sind. Eine flächendeckende Überwachung der Grund- (Baum [FDP]: Hätten eure Länderminister wasser- und Oberflächenwasserqualität gibt es mal besser gearbeitet! Wasserschutzgebiete nicht. in Nordrhein-Westfalen!) (Baum [FDP]: Herr Matthiesen sollte das tun! Wir haben frühzeitig die Alarmsignale der Wasser- Der Bund hat gar keine Wasserkompe- wirtschaft in der Bundesrepublik aufgenommen. tenz!) (Beifall bei der SPD) — Ich komme dazu, Herr Kollege. Sie sind — das muß man Ihnen heute wiederum ins Stammbuch schreiben — nicht in der Lage, mit der Die Belastung der Oberflächengewässer durch Chemie und mit der Landwirtschaft Regelungen zu Schwermetalle, Salzfrachten und Kohlenwasserstoffe treffen, die gesundheitsverträglich sind. Meine Da- wird nicht in die Qualitätsbewertung einbezogen. Das men und Herren, geben Sie Ihre Betonhaltung auf und könnte ja eventuell die Erfolgsstatistik verschlech- handeln Sie im Interesse der Gesundheit der Men- tern. Grund- und Quellwasser, aus dem 85 % — 85 %, schen in der Bundesrepublik Deutschland! meine Damen und Herren! — unseres Trinkwassers Schönen Dank. entnommen werden, ist bisher nur ansatzweise auf Belastungen untersucht worden. Ob jemand Angst (Beifall bei der SPD) vor dem Ergebnis einer ehrlichen und ungeschmink- ten Bestandsaufnahme hat? Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat die Abgeord- nete Frau Garbe. (Frau Blunck [SPD]: Das könnte man vermu- ten!) Frau Garbe (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsiden- Dabei wäre wirksame Trinkwassersicherung gar tin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Wasser nicht schwer, wenn denn der Blick geradeaus nicht ist Leben. Giftiges Wasser zerstört Leben. Wie ihr mit ständig durch Schielen auf diese oder jene Lobby ge- dem Wasser umgeht, so geht ihr letztlich mit euch trübt würde, meine Damen und Herren. selber um. Die Worte von Häuptling Seattle haben Aktualität. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) - (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) Wir Sozialdemokraten nennen eine einfache Grund- lage für alle Gesetze, Verordnungen, Verbote und Die Wasserpolitik in unseren Breiten ist seit Jahr- Anreize: Es dürfen keine Stoffe ins Wasser gelangen, zehnten eine zerstörerische. Ich muß es so formulie- die in bestimmten Konzentrationen toxisch, gefährlich ren, denn der Umgang mit dem Element Wasser zer- oder schädlich für Mensch, Tier und Pflanze sind, stört nicht nur das Leben anderer Arten, sondern wir werden uns selbst zerstören, wenn das so weiter- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) geht. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12199

Frau Garbe Verehrte Kollegen und Kolleginnen, wir haben uns schutz, bei der Zulassung von Pestiziden und in der im vergangenen Jahr eindringlich mit der Nordsee- Agrarpolitik. Von Vorsorge keine Spur! problematik auseinandergesetzt: Algenteppiche und Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesre- Robbensterben — das Jammern in der Republik war gierung hat es zu verantworten, daß die EG-Trink- unüberhörbar. Wir haben uns hier gegenseitig die wasserrichtlinie mit ihren Grenzwerten erst mit sie- besseren Programme vorgehalten. Die Nordsee wird ben Jahren Verspätung gültig wird. Die Bundesregie- aber weiterhin als Abfalleimer benutzt. rung hat es zu verantworten, daß die Zeit seit der (Frau Saibold [GRÜNE]: Genau!) Unterzeichnung der EG-Richtlinie bis heute nicht ge- Heute beschäftigt uns die nächste Schadstoffsenke: nutzt wurde, um die Voraussetzungen für die Einhal- das Grundwasser. Obwohl das Wasserhaushaltsge- tung der Grenzwerte zu schaffen. setz Grundwasser um seiner selbst willen als Teil des (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Wir sind das erste Naturhaushalts unter einen absoluten Schutz stellt, Land in der EG, das sie durchsetzt! Wir sind wird die schleichende Vergiftung des Grundwassers die ersten, die sie vollziehen!) von den Verantwortlichen in Bund und Ländern ge- duldet. Was im Grundwasser gelandet ist, verbleibt Bei der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes dort über Jahrzehnte oder Jahrhunderte. 1986 wurde kein Verbot der Überdüngung eingefügt, natürlich um der Lobby der industriellen Landwirt- (Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!) schaft und der chemischen Indust rie nicht wehtun zu Diese Hypothek für die folgenden Generationen ist müssen. Die Bundesregierung hat es versäumt, die bitter. Aus immer weiterer Entfernung mußte bereits Zulassungskriterien für Pestizide im Pflanzenschutz- in den letzten Jahrzehnten sauberes Wasser herbeige- gesetz rechtzeitig den Erfordernissen der EG-Richtli- führt werden. Nunmehr sind wir so weit, daß wir fest- nie im Hinblick auf Versickerungsneigung, Abbau- stellen müssen: Die Vergiftung ist flächendeckend; es barkeit und geeignete Nachweisverfahren anzupas- gibt kein sauberes Wasser mehr. Nur noch ausgeklü- sen. Weiterhin wurde versäumt, eine Verpflichtung gelte Überwachung der Trinkwasserversorgung, nur zum Rückruf von Wirkstoffen gesetzlich zu veran- noch hochtechnisierte und teure Reinigungssysteme kern, sofern sich nachträglich Anhaltspunkte für um sind in der Lage, uns Trinkwasser aufzubereiten, das welt- und gesundheitsschädliche Eigenschaften bei wir dann trinken dürfen, Bach- und bestimmungsgemäßer Anwendung erge- ben. Auch auf die nach der EG-Richtlinie vorgeschrie- (Frau Flinner [GRÜNE]: Nur abgekocht!) bene Nachweispflicht für Pestizidanwendungen wobei die Risiken einer Vergiftung tolerabel sind. Ob wurde verzichtet. Auf das Versäumniskonto dieser dieses Wasser schmeckt, ist eine andere Frage. Ob Regierung geht auch der Umstand, daß in der Pflan- dieses Wasser Leben oder aber die schleichende Ver- zenschutz-Anwendungsverordnung von 1988 nicht -giftung vermittelt, hat die bisherige Landwirtschafts einmal in den Wasserschutzgebieten alle grundwas- und Chemiepolitik zugunsten der Gifte entschieden. sergefährdenden Pestizide verboten wurden. Auch (Frau Flinner [GRÜNE]: Genauso ist es!) die Praxis der Deutschen Bundesbahn, deren Spritz- züge nicht einmal auf Wassereinzugsgebiete Rück- Meine Herren und Damen von der Bundesregie- sicht nehmen, ist hier anzusprechen. rung — sehr wenige sind da —, darüber hinaus wollen Sie uns auch noch für dumm verkaufen. In der Ant- Noch heute stehen für die Überwachung der Pesti- wort auf die Große Anfrage schreiben Sie: „Die Bun- zidbelastung des Trinkwassers keine praktikablen desregierung hält weiterhin an ihrer Auffassung fest, Multimethoden zur Verfügung. Nur für 181 der dem Vorsorgeprinzip 280 Wirkstoffe sind die Verfahren ausreichend emp- findlich; keines ist standardisiert. Die Metabolisie- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Sehr gut!) rung in den Nutzpflanzen ist fast völlig unaufgeklärt. Vorrang einzuräumen vor Reparaturmaßnahmen im Über Synergismen wissen wir gar nichts. Die Bundes- Wasserwerk. " regierung stellt lapidar fest: Seit 1986 hat sich die Überwachungssituation in der Praxis nicht entschei- (Baum [FDP]: Wollen Sie das denn aufge- dend geändert. Ich frage Sie, meine verehrten Kolle- ben?) gen und Kolleginnen: Verdient das den Beg riff der Aha, weiterhin Vorsorge. Nun wissen wir es. Vorsorge? (Frau Saibold [GRÜNE]: Papier ist gedul- Die Bundesregierung hat ein Pflanzenschutzgesetz dig!) zu verantworten, mit dem der chemische Pflanzen- Aber das Ende der Fahnenstange ist doch längst schutz zur Standardform der Landbewirtschaftung erreicht, Herr Kollege Göhner. Am 1. Oktober 1989 gemacht wurde, und zwar auf Kosten der Pflege des tritt die mangelnde Vorsorge offen zutage: Mit sieben- Bodens und der Pflege des Grundwassers. Vor dem jähriger Verspätung treten die Grenzwerte für Pesti- Hintergrund dieser Versäumnisse ist die Zulassung zide im Trinkwasser in Kraft. - von Grenzwertüberschreitungen für Pestizide durch Ausnahmegenehmigungen ein umweit- und gesund- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Und zwar aus rei- heitspolitischer Skandal. nen Vorsorgegründen!) (Beifall bei den GRÜNEN) Etwa 20 % der Wasserwerke in der Bundesrepublik können die Grenzwerte nicht einhalten und sind von Vage Sanierungsversprechen ersetzen das Recht von der Stillegung bedroht. Bei Hausbrunnen sieht die uns allen, sauberes, pestizidfreies Wasser trinken zu Situation noch katastrophaler aus. Das ist die abseh- können, ein Recht, das uns seit alters her zusteht und bare Folge jahrelanger Versäumnisse im Gewässer- das nunmehr durch EG-Richtlinie abgesichert werden 12200 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Garbe sollte. Nicht minder skandalös ist, daß am Stichtag Horror- und Katastrophengemälden ist eigentlich nie- nicht einmal sichergestellt ist, daß bei allen Wasser- mandem gedient. werken Untersuchungen auf Pestzide durchgeführt werden. (Frau Saibold [GRÜNE]: Mit Verharmlosung aber erst recht nicht!) Wenn jetzt für bis zu zehn Jahre Ausnahmegeneh- migungen ausgesprochen werden sollen und diese an — Mit Verharmlosung auch nicht. — Der Realität ins Sanierungspläne gebunden werden, dann ist das ein Auge zu sehen und sinnvolle Schritte in sinnvollen durchsichtiger Akt der Akzeptanzförderung. In kei- Abständen durchzuführen ist die Aufgabe der Politik, nem Bundesland wurde doch bislang konkretisiert, und der stellen wir uns. wie Sanierungspläne auszusehen haben. Ja, wir müs- sen befürchten, daß der dicke Hammer im Grundwas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ser erst noch kommt. Was wir heute erleben, ist die Zurufe von den GRÜNEN: Wie viele Jahre Gewißheit, daß die steigende Flut kommen wird. braucht ihr denn noch? — Ihr schiebt das zu lange hinaus!) Pestizide im Grund- und Trinkwasser sind die eine Seite der Medaille, Pestizide in den Nahrungsmitteln Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die die andere, Nitrate im Trinkwasser und in der über- Große Anfrage zu Recht darauf hingewiesen, daß ne- düngten Nahrung die dritte Belastung, die chlorierten ben der Sicherung einer quantitativ ausreichenden Kohlenwasserstoffe im Trinkwasser und in der Nah- Trinkwasserversorgung, die in der Bundesrepublik ja rung eine weitere Belastung. Die Verantwortlichen in grosso modo gegeben ist, vor allem die Qualität des unserem Land lassen zu, daß wir Menschen zu Schad- Trinkwassers im Vordergrund stehen muß. stoffsenken werden wie die Seehunde in der Nord- see. (Frau Saibold [GRÜNE]: Die Qualität läßt aber zu wünschen übrig!) Die Schlußfolgerung kann also nur sein: Soll in der Wasserpolitik dieses Landes eine Besserung herbei- Ich spreche jetzt einmal als Verbraucherin von Was- geführt werden, dann brauchen wir eine grundsätzli- ser: Die Verbraucher erwarten als Grundvorausset- che Wende in der Landwirtschaftspolitik und in der zung, daß das Trinkwasser von Krankheitserregern Chemiepolitik. frei ist. (Beifall bei den GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: So ist es!) Ein Aussitzen der Giftfrachten ist nicht möglich. Es muß unverzüglich gehandelt werden. So sieht das ja auch die Trinkwasserverordnung vor. Ich danke für die Aufmerksamkeit und möchte noch einen Satz hinzufügen: Ich bitte um Verständnis da- Schon bei dieser Grundforderung wird deutlich, daß für, daß ich das Plenum gleich verlassen muß. Ich habe eine Vielzahl von Umweltfaktoren — einige sind eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die auch mit dem schon genannt worden — anzusprechen ist, wenn es Parlament zusammenhängt. um die Qualität des Trinkwassers geht. Dabei darf (Beifall bei den GRÜNEN) man nicht nur bestimmte Punkte nennen, sondern da müssen auch einmal andere Punkte angesprochen werden. Zum Beispiel müssen Abwasserkanäle so Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat Frau Abge- dicht sein, daß kein verunreinigtes Wasser versickern ordnete Limbach. kann. Hier gibt es Sanierungsbedarf. (Frau Blunck [SPD]: Ja natürlich! Wer streitet Frau Limbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine denn darüber?) Damen und Herren! Die Bedeutung unseres Trink- Kläranlagen müssen so beschaffen sein, daß eine wassers als wichtigstes Lebensmittel überhaupt ist ja wirksame Reinigung des Wassers auch stattfindet. noch keineswegs jedermann bewußt. Trinkwasser kommt eben aus der Leitung, und oft wird uns erst bei (Frau Blunck [SPD]: Das sind alles Selbstver einer Reise in ein wasserarmes Land oder in Gebiete ständlichkeiten!) mit hoher Wasserbelastung und damit Gesundheits- gefährdung deutlich, wie wertvoll gutes, gesundes Hierbei muß man auch die vorhandenen Finanzie- Wasser ist, das auch noch jederzeit verfügbar ist. rungsprobleme lösen. Das ist wahr. Um so wichtiger ist es, daß sich der Bundestag mit (Zurufe von der SPD: Genauso ist es!) dem Gewässerschutz beschäftigt und daß er handelt, wie es beispielsweise meine Fraktion gemeinsam mit Da Sie sich jetzt alle so aufregen, will ich einmal dem Koalitionspartner — um nur ein Beispiel zu nen- folgendes sagen. In Nordrhein-Westfalen — Herr Len- nen — mit dem Antrag auf Gewässerschutz und Pflan-- nartz, Sie sind ja daher — gibt es ein sehr schlechtes zenschutz vom November 1987 oder wie es die Regie- Beispiel. rung mit der Novelle zur Änderung des Wasserabga- (Lennartz [SPD]: Nur gute Beispiele!) bengesetzes getan hat, die am 15. September, also erst vor wenigen Tagen, im Bundestag eingebracht Die SPD-Landesregierung führt das Wort Gewässer- wurde, und wie es auch heute auf Grund der Großen schutz zwar ständig im Munde, aber wenn es dann an Anfrage der SPD geschieht. Allerdings meine ich — die Flocken geht — ich bitte um Verzeihung für diesen das muß man insbesondere den GRÜNEN sagen; ein unparlamentarischen Ausdruck —, wenn es also ans wenig klang das aber auch bei der SPD an — : Mit Bezahlen geht, dann werden die entsprechenden Zu- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12201

Frau Limbach schüsse an die Gemeinden um fast ein Drittel redu- daß nicht die gesamte Kompetenz beim Bund liegt. Im ziert. Gegenteil: Der Bund hat nach dem Grundgesetz nur (Zuruf von der SPD: Das darf doch nicht wahr eine Rahmenkompetenz. sein! Es ist gesagt worden: Das wird über (Baum [FDP]: Leider!) Gebühren finanziert!) Die Länder könnten die Bundesgesetze mit eigenen Das ist nicht meine Aussage, sondern die Aussage des Landeswassergesetzen ausfüllen und präzisieren, und Städte- und Gemeindebundes. sie tun es zum Teil auch. Auch der Vollzug und die (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das sind die Tatsa- Kontrolle liegen bei den Ländern. Auch hier gibt es chen!) Defizite. Das wird auch deutlich, wenn man die Ant- wort der Bundesregierung liest. Wenn von gesundem Trinkwasser die Rede ist, dann gilt die Aufmerksamkeit natürlich auch den che- (Frau Flinner [GRÜNE]: Die Rahmenpro mischen Stoffen — das wurde ebenfalls schon ange- gramme für die Landwirtschaft werden von sprochen —, weil diese chemischen Stoffe das Wasser der Regierung erstellt!) tatsächlich belasten und auch gefährden können. Daß aus einer solchen Kompetenzverteilung auch (Zuruf von den GRÜNEN: Sie belasten es!) Nachteile erwachsen, kann man z. B. bei der Einrich- tung von Wasserschutzgebieten sehen. Hier gibt es eben Unterschiede, je nachdem, ob es eben eine akute Gefährdung gibt, ob man Vorsorge- (Sehr gut! bei der CDU/CSU) maßnahmen treffen muß oder ob es möglicherweise Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt da ja — von uns aus Gesundheitsgründen erforderlich ist, zu handeln. eingeführt — die Ausgleichszahlungen für Bewirt- Da ist die Regierung ja sehr weit gegangen, die Koali- schaftungsnachteile. tionsfraktionen auch; denn die Grenzwerte, die in der Trinkwasserverordnung festgelegt worden sind, sind (Zuruf von der SPD: Sie haben die Antwort so festgelegt worden, der bayerischen Landesregierung nicht gele sen!) (Zuruf von den GRÜNEN: Und was ist mit den Richtwerten?) Obwohl sehr leicht einzusehen ist, daß Landwirte, die Beschränkungen in Wassereinzugsgebieten unterlie- daß auch bei lebenslangem Gebrauch dieses Wassers gen, gegenüber solchen, bei denen das nicht der Fall Gesundheitsschäden nicht zu befürchten sind. ist, Nachteile haben — weil sie z. B. Einschränkungen (Lennartz [SPD]: Das darf nicht wahr sein! bei der Düngung und beim Gebrauch von Pflanzen- Wir haben keine Analyseverfahren!) schutzmitteln hinnehmen müssen, die die Erträge — Natürlich. Wasser, das vor zehn Jahren noch als möglicherweise geringer ausfallen lassen als beim absolut rein galt, gilt heute nicht mehr als rein, weil Nachbarn, für den diese Einschränkungen nicht gel- sich die Meßtechnik verfeinert hat. ten — , hat das Land Nordrhein-Westfalen — um das wieder einmal zu nennen — im Gegensatz zu Baden- (Lennartz [SPD]: Das ist doch nicht wahr! — Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern Frau Saibold [GRÜNE]: Ach, die Meßtech- nik?!) (Lennartz [SPD]: Was denn ?) Aber nicht jede Verfeinerung der Meßtechnik bedeu- bis heute noch überhaupt keine Ausgleichszahlungen tet auch eine Verschlechterung des Wassers. Da, wo vorgesehen es sich verschlechtert, muß auch gehandelt werden. (Lennartz [SPD]: Das ist auch richtig so! Das Das wird auch getan. darf doch nicht wahr sein!) (Schütz [SPD]: Dann müssen wir wohl die und auch für die Zukunft nur für einen Teil der Be- Meßtechnik wieder verschlechtern, und schränkungen Ausgleichszahlungen vorgesehen. dann haben wir es! — Weitere Zurufe von der SPD) (Lennartz [SPD]: Verursacherprinzip, Frau Limbach!) Kein Wunder, daß dann die Akzeptanz geringer ist, Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie, daß die Red- wenn es darum geht, so etwas durchzusetzen. nerin redet, meine Damen und Herren! (Zuruf von den GRÜNEN: Das ist ein Witz!) Noch ein letzter Punkt: Nicht nur der Gesetzgeber Frau Limbach (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Prä- kann einen Beitrag leisten, sondern auch der Verbrau- sidentin. cher. In diesem Zusammenhang wird auch der richtige (Zuruf von der SPD: Das ist ja peinlich!) Ansatz deutlich, daß nämlich Vorsorge besser ist als - Wenn z. B. das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz nachträgliche Aufbereitung von Trinkwasser. beim Hersteller dazu geführt hat, daß weniger um- (Lennartz [SPD]: Es ist schier unerträglich!) weltbelastende Produkte hergestellt werden, liegt es In diese Richtung geht ja auch das Handeln. im wesentlichen beim Verbraucher, die Mengen zu reduzieren. Mich ermutigt es überhaupt nicht, wenn Bei der Vielzahl von Maßnahmen, die auf diesem ich lese, daß die für die notwendige Reinigung erfor- Gebiet durchzuführen sind, darf aber nicht übersehen derlichen Mengen bei weitem überschritten werden. werden — das übersehen Sie ja absichtlich —, Einer Statistik habe ich entnommen, daß der Wasch- (Lennartz [SPD]: Was?) mittelverbrauch in den letzten Jahren um fast 30 12202 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Limbach gestiegen ist. Da frage ich mich, ob wir so viel saube- Das dauert seine Weile. Wer glaubt, man könne in der rer geworden sind oder ob nicht einfach zuviel von Technologie Lösungen aus dem Ärmel schütteln, der dem Zeug gebraucht wird. täuscht sich eben. Aber die deutsche Wasserwirtschaft (Frau Saibold [GRÜNE]: Das ist richtig!) hat diese Herausforderung immer angenommen und auch ausgefüllt. Wir wünschen uns da noch bessere und eindringli- chere Aufklärung, rechnen auch auf die Hilfe der Ver- Als einige Gründe, Ursachen für die zunehmende braucherverbände, denken da auch an leichter ab- Verschmutzung des Trinkwassers nenne ich: eine baubare Reinigungsmittel, die es ja auch gibt — ich sehr starke Zunahme von Zivilisationserscheinungen verwende beispielsweise Essigreiniger, mein Haus ist wie Bad und Küche, eine dichte Besiedlung, eine lei- deshalb nicht weniger sauber als vorher — , und z. B. stungsorientierte und ertragsorientierte Landwirt- an die Einschränkung von Dünge- und Pflanzen- schaft, eine hohe Industrie-, Handels-, Handwerks- schutzmitteln auch im Haus- und Kleingarten; denn und Gewerbedichte. Damit hat sich für die Trinkwas- da läuft ja auch eine Menge. serversorgung natürlich ein Problem gestellt. (Frau Flinner [GRÜNE]: Aber Herr Kiechle Eines dürfen wir voller Stolz sagen: Wer in der Welt macht solche Programme nicht!) etwas herumfährt, der muß feststellen, daß wir in der Alles in allem: Die Qualität des Trinkwassers wird Bundesrepublik — nicht nur von der Gesetzgebung, von vielen Faktoren beeinflußt. Im Rahmen eines so sondern auch von der Technologie her — im Grunde kurzen Redebeitrags genommen weltweit Spitze sind. Ich sage das nicht — oder nicht nur deshalb —, weil liberale Innenminister (Lennartz [SPD]: Der war viel zu lang!) das einmal eingeleitet haben. kann ich natürlich nicht zu allem Stellung nehmen. Aber eines kann festgehalten werden: Trinkwasser (Stahl [Kempen] [SPD]: Hahaha! — Weitere als Teil des Ökosystems Erde ist auch unserer Verant- Zurufe von der SPD — Gegenruf des Abg. wortung übergeben. Wir stellen uns dieser Verant- Baum [FDP]: Die Verordnung haben wir ge wortung. macht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — — Also, Herr Stahl, hoffentlich stellen Sie nicht auch Stahl [Kempen] [SPD]: Das tun Sie eben das noch in Frage; nicht! — Frau Flinner [GRÜNE]: Dann müßte (Stahl [Kempen] [SPD]: Nein, das nicht!) die Regierung handeln!) Sie waren doch daran beteiligt.

Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat Herr Abge- Ich glaube, wir haben große Fortschritte gemacht in ordneter Grünbeck. der gesamten Gesundheits- und Hygienepolitik, bei der Verwendung und Erforschung von Werkstoffen, (Stahl [Kempen] [SPD]: Was hat der mit Um- bei der Regeltechnik, bei der Aufbereitungs- und welt zu tun?) Analysentechnologie, die heute in einem noch nie gekannten Grat verfeinert wurde, und bei der Quali- Grünbeck (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- tätssicherung und Qualitätskontrolle. Aber ich gebe ehrten Damen und Herren! Die Anfrage selbst, die gerne zu: Neue Belastungen der Umwelt über Luft- öffentliche Diskussion und auch diese Debatte erfül- verschmutzungen — über eine Belastung haben wir len einen schon etwas mit Sorge. Denn man hat ei- heute noch gar nicht geredet: über die Belastung aus gentlich den Eindruck, daß es eher darum geht, die Deponien und Altlasten durch das Versickern von ganzen Dinge in einer ungerechtfertigten Art von Sickerwässern und Sickergasen — , über Einsatz von Verunsicherung und Panikmache zu betreiben, und Düngemitteln und Schädlingsbekämpfungsmitteln, weniger darum eine sachliche Auseinandersetzung über Abwasserprobleme, undichte Rohrleitungen und zu führen. durch andere Probleme sammeln sich an und erfor- dern Handeln. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Frau Flinner [GRÜNE]: Das stimmt über- (Frau Saibold [GRÜNE]: Schon lange!) haupt nicht! — Widerspruch bei der SPD) Die öffentlichen Wasserversorgungsunternehmen Ich halte das nicht für besonders glücklich; denn die investieren im Augenblick im Durchschnitt 2 Milliar- Probleme sind da und müssen gelöst werden. Aber es den DM für die ständige Verbesserung der Trinkwas- ist wesentlich schwieriger, Problemlösungen zu erar- serversorgung in der Bundesrepublik. beiten, als eine Anfrage zu formulieren; das ist das Problem. (Frau Saibold [GRÜNE]: Das sind die ökolo gischen und sozialen Folgekosten des Wirt (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Vor allen Din- schaftswachstums!) gen sollte man den Dreck erst einmal verhin- dern, Herr Kollege!) - Die Industrie gibt etwa die gleiche Summe dazu. Die Aufgabe ist, die Ursachen zu erkennen, die Wir- (Lennartz [SPD]: Warum wohl?) kungen zu erforschen und die Lösungen zu suchen. In der Industrie haben wir durch unser Abwasserab- (Zustimmung der Abg. Frau Schulte [Ha- gabengesetz sichergestellt, daß wir eine Kreislauffüh- meln] [SPD] — Frau Flinner [GRÜNE]: Sie rung von Wasser erreichen, die heute nicht nur zu wissen ja, wo es fehlt! — Stahl [Kempen] einer sparsamen Wasserverwendung, sondern in zu- [SPD]: Schauen Sie sich da doch einmal die nehmendem Maße auch zur Rückgewinnung von Opposition an!) Rohstoffen führt. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12203

Grünbeck Die dezentralen und zentralen Lösungen in der Wichtig ist für die Landwirtschaft und natürlich auch Wasserversorgung und in der Abwasserentsorgung im Hinblick auf den Schutz von Menschen und Tieren, hat die Bundesregierung für meine Beg riffe richtig diesen Einsatz richtig zu dosieren. beurteilt. Es ist richtig und ökologisch vernünftig, (Frau Saibold [GRÜNE]: Nein! Zu verhin nicht punktuell sehr viel Wasser an einer Stelle zu dern!) entnehmen, sondern, um den Grundwasserspiegel überall gleichmäßig zu erhalten, möglichst alle Was- Aber was ist denn Tatsache? Tatsache ist, daß wir servorräte zu verwenden und sie, wenn sie der Sanie- heute einen Grenzwert haben. Darum geht es ab rung bedürfen, der Sanierung auch zuzuführen. 1. Oktober. Dieser Grenzwert wird vielfach als ethi- scher oder ästhetischer Wert bezeichnet. Diesen Wert Die Probleme mit den Fernwassernetzen sind uns von 0,1 Mikrogramm hat man im Grunde genommen bekanntgeworden. als untersten Grenzwert bisher noch gar nicht ge- (Frau Saibold [GRÜNE]: Trotzdem werden kannt. Über dessen toxikologische Auswirkungen weiter Fernwassernetze gebaut!) liegt bis heute keine einzige wissenschaftlich exakte Untersuchung vor. Die Korrosion und die Verkeimung nehmen zu. Daß das nur zu lösen ist, wenn man Chlor zugibt, wissen (Frau Saibold [GRÜNE]: Und so lange wollen wir. Es gibt jedoch noch keine Ersatzmittel. Sie weitermachen? — Stahl [Kempen] [SPD]: Was wollen Sie eigentlich, Herr Kollege Deshalb wäre es richtig, wenn wir zu integrierten Grünbeck? Den Boden weiter verseuchen?) Lösungen in Ballungsräumen und in ländlichen — Liebe Frau Saibold, ich wundere mich manchmal Räumen kämen, und zwar beim Wasser und beim wirklich über eines in diesem Land: Jeder Pseudowis- Abwasser. Die Lösungen sind da. Neue Technologien senschaftler kann Dinge verkünden, die ungeprüft in bieten großartige Ausgangspunkte. der öffentlichen Diskussion übernommen werden, Schwerpunkt der Anfrage der SPD sind die Schäd- und damit Verunsicherungen schaffen. Aber das führt lingsbekämpfungsmittel. Vielleicht darf ich eines ein- doch zu keinen Lösungen. Das sind zweierlei Dinge. fließen lassen. Lassen Sie sich einmal das Wort Schäd- Ich möchte diese Sache um Gottes willen nicht ba- lingsbekämpfungsmittel auf der Zunge zergehen. gatellisieren. Was bedeutet das eigentlich, Schädlinge zu bekämp- fen? (Frau Flinner [GRÜNE]: Die chemische Indu strie will weg von dem Wert 0,1!) (Lennartz [SPD]: Was sind denn Schäd- Aber eines müssen wir natürlich berücksichtigen. linge?) Beim Eindringen der Schadstoffe kommt es zuerst ein- Wenn ich das völlig ausschließe und wenn ich das mal darauf an, welche Bodenschichten da sind. Es gibt verbiete, völlig unterschiedliche Bodenschichten. Es gibt natür- lich auch völlig (Lennartz [SPD]: Was ist ein Schädling, Herr unterschiedliche Beständigkeiten. Kollege?) (Frau Blunck [SPD]: Das soll man bei der Zulassung der Mittel berücksichtigen!) muß ich einen Ersatz dafür haben. Es gibt heute Beständigkeiten von wenigen Tagen bis (Frau Flinner [GRÜNE]: Damit machen Sie hin zu — leider — 500 Tagen, etwa bei Atrazin oder auch die Nützlinge kaputt! Haben Sie das Simazin. Diese Stoffe muß man ganz anders bewerten noch nicht gemerkt?) als solche, die schneller zerfallen. — Ich habe nur darum gebeten, sich das einmal auf (Frau Saibold [GRÜNE]: Aber diese Erkennt der Zunge zergehen zu lassen. Offensichtlich haben nisse hat man schon lange!) Sie es getan. Ich glaube, daß wir auch noch einmal die Analysen Ich darf einmal feststellen, was die Tatsachen sind. ansprechen müssen. Es wurde der Vorwurf erhoben, Ich bagatellisiere das nicht. daß wir keine Analysen zur Verfügung stellen. (Lennartz [SPD]: Was ist denn ein Schäd- (Frau Blunck [SPD]: Richtig!) ling?) Wer hat sie denn? Um das alles durchzuarbeiten — Ich bringe das schon vor. das ist ein ganzes Forschungsprogramm. Es geht hier- bei nicht um das Geld. Das Geld ist bereitgestellt. Es (Lennartz [SPD]: Was ist ein Schädling?) geht um die Dynamik, darum, wie man Analysewerte —Lassen Sie mich nur ausreden. Ich habe Ihnen auch ermittelt. zugehört, sehr aufmerksam sogar, obwohl mir das (Frau Blunck [SPD]: Warum muß das nicht nicht immer leichtgefallen ist. der Hersteller machen?) (Lennartz [SPD]: Das glaube ich Ihnen - — Sie dürfen mir glauben, daß ich davon etwas ver- gern!) stehe. Deshalb sage ich Ihnen: Die Analysen zu ermit- teln, welche Wirkstoffe wie und in welcher Zeit er- Wir bringen heute etwa 100 Tonnen pro Tag an kennbar gemacht werden können, das ist eine Auf- Schädlingsbekämpfungsmitteln aus. 1 700 verschie- gabe von Forschung und Entwicklung. dene Mittel sind im Handel. Etwa 200 Wirkstoffe wer- den in völlig unterschiedlicher Form bei der Konfek- tionierung dieser 1 700 Mittel verwendet. Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie eine Zwi- (Lennartz [SPD]: 300!) schenfrage der Frau Abgeordneten Saibold? 12204 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Grünbeck (FDP): Aber gern. Flächen stillgelegt werden, darf nicht mehr gedüngt werden

Frau Saibold (GRÜNE): Herr Grünbeck, würden Sie (Frau Flinner [GRÜNE]: Aber die Restflächen mir zustimmen, daß man zumindest so lange keine werden gedüngt!) neuen Stoffe für den Gebrauch freigeben sollte, bis und dürfen auch keine Pflanzenschutzmittel mehr nicht genaue Kenntnisse über das Verhalten dieser eingesetzt werden. Die Düngung wird reduziert. Die Stoffe da sind, bis Analyseverfahren vorliegen usw.? Gülle kann man aufbereiten und muß man nicht mehr ausbringen; die Technologie ist fertig. Grünbeck (FDP): Dabei bin ich jetzt. Deshalb haben (Frau Flinner [GRÜNE]: Aber die Bauern ha wir für zwei Jahre eine Übergangsregelung bei Über- ben nicht das Geld dazu!) schreiten des Grenzwertes eingeführt. Die Wasserschutzgebiete werden ausgewiesen. Aber (Frau Blunck [SPD]: Das ist keine Antwort für die Landwirte muß Entschädigung gezahlt werden. darauf!) Ein großes Problem ist zweifellos die Korrosion in — Ich antworte jetzt in meiner Rede direkt auf Ihre den Rohrleitungen selbst. Wir haben dabei in der Frage, Frau Kollegin. Werkstoffkunde noch einige Forschungen nachzuho- (Lennartz [SPD]: Also keine Antwort, Frau len. Aber wir wissen, daß Blei, Kupfer und Zink be- Saibold!) stimmte Oxidationsprodukte abgeben, die sich natür- lich auch im Abwasser bemerkbar machen können. Es ist zu fragen: Was macht eine Gemeinde oder eine kommunale Wasserversorgung, die den Grenz- Ich darf dazu folgendes sagen, Frau Bundesministe- wert von 0,1 Mikrogramm überschreitet? Sie kann mit rin: Die Haftung der Wasserversorgungsunternehmen der sogenannten Vermischung mit anderen Wässern endet in der Regel an der Übergabestation, nämlich natürlich Maßnahmen ergreifen, die diesen Grenz- an der Wasseruhr. Aber zwischen der Wasseruhr und wert deutlich unterschreitet. Nur ist das in der Regel dem Zapfhahn spielen sich auch noch eine Menge mit einem erheblichen Kostenaufwand verbunden. Ereignisse ab, die wir in die Gesamtbetrachtung die- Ich möchte ganz offiziell sagen: Wir sind in der Tech- ser Ergebnisse einbeziehen müssen. nologie noch nicht so weit, etwa durch nachträgliche Ich darf zum Schluß eines sagen: Die Bundesregie- Schaltungen von Reinigungsstufen und Aktivkohlefil- rung hat in ihrer Antwort völlig zu Recht darauf hin- tern diese Probleme zu lösen. Dieses Verfahren ist gewiesen, welche Bedeutung die Vorbeugemaßnah- noch nicht reif. Wir sind allesamt intensiv dabei, zu men, die Vorsorgemaßnahmen und die Vermei- forschen und zu entwickeln. Aber das braucht Zeit. dungsmaßnahmen haben. Die Forschung und die Ent- (Frau Saibold [GRÜNE]: Damit ist meine wicklung darf man in dieser schwierigen Technologie Frage nicht beantwortet!) nicht zeitlich unter Druck setzen. Man kann nur ver- Es bleibt Ihnen nur eine Alternative, Frau Saibold: suchen, alles zu machen, was menschenmöglich ist. Sie müssen dann die Schädlingsbekämpfungsmittel Man kann an einer Entwicklung der Technologie verbieten. nicht basteln, in dem man sie unter Druck setzt und falsche oder ungeeignete Verfahren verlangt. (Zustimmung bei der SPD und den GRÜNEN — Frau Blunck [SPD]: Wie das auch die baye- (Frau Saibold [GRÜNE]: Wieviel Geld gibt rische Landesregierung fordert!) das Forschungsministerium für solche For schungen denn aus?) — Nein, die bayerische Landesregierung wird im Bundesrat keinerlei Antrag einbringen. Herr Stoiber — Das habe ich schon vorgetragen. hat diese Untersagung — ich muß ihm diesen Vorwurf Die liberalen Innenminister setzten auf das Verursa- leider machen — cherprinzip. Wir bleiben dabei; darüber gibt es über- (Zurufe von der SPD: Aha!) haupt keinen Zweifel. lediglich im Landtag publikumswirksam vorgetragen. (Frau Saibold [GRÜNE]: Auf dem Papier!) Ich bedaure das sehr; denn das Verbot von Schäd- Wissen Sie denn, daß z. B. unser lingsbekämpfungsmitteln heißt, daß ich die Wirkung Abwasserabgaben- der Schädlinge tolerieren muß. Dazwischen abzuwä- gesetz weltweit abgeschrieben wird? gen ist eine Frage der Gesundheitspolitik, und das ist (Lennartz [SPD]: Sozialliberale Koalition!) nicht leicht zu entscheiden. Überall wird unser Abwasserabgabengesetz als wirk- Das gleiche gilt beim Nitrat: Wir haben hohe Inve- lich lupenreines Verursacherprinzip angesehen. Aber stitionskosten bei der Denitrifikation; sie liegen bei ich muß Ihnen folgendes sagen: Im Westdeutschen etwa 1 bis 2 DM pro Kubikmeter. Es ist doch so — ich Rundfunk, der nicht gerade FDP-freundlich ist, wurde glaube, da sind wir uns einig — : Einen Nulltarif bei - darüber berichtet, daß gerade in Nordrhein-Westfalen der Lösung dieser Probleme gibt es nicht; die Lösung große Städte die kassierten Abwasserabgaben zum dieser Probleme wird Geld kosten. Stopfen der Löcher ihrer Haushalte verwendet haben. (Stahl [Kempen] [SPD]: Dann müssen wir Das ist keine gute Abwasserpolitik; das ist die Verlet- weniger Eintrag bringen! Darüber sind wir zung der Prinzipien. uns doch wohl klar!) (Stahl [Kempen] [SPD]: Was soll das denn? — Die Landwirtschaft ist bereit gewesen, durch die Lennartz [SPD]: Sie kennen das Gesetz nicht! Flächenstillegung ihren Beitrag einzubringen. Das Sie sind doch ein Witzbold! — Weitere Zu hat die Bundesregierung richtig vorgetragen. Dort, wo rufe von der SPD und den GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12205

Vizepräsidentin Renger: Meine Damen und Herren, über Konzentrationen an Wirkstoffen von Pflanzen- ich muß eines sagen: Es ist nicht Sinn der Sache, daß schutzmitteln oder deren Abbauprodukte, wie sie bis- der Redner gegen so viele Zwischenrufe ankämpfen her im Rohwasser oder im abgegebenen Trinkwasser muß. Das ist nicht sehr kollegial; ich muß das einmal erhoben wurden, sind nach dem derzeitigen Stand ausdrücklich sagen. wissenschaftlicher Erkenntnis weder für Mensch noch für Tier als gesundheitsgefährdend anzusehen. Grünbeck (FDP): Frau Präsidentin, ich darf meinen Damit auch zukünftig gesundheitlich einwandfreies letzten Satz zu Ende bringen, was angesichts der Fülle Wasser zur Verfügung steht, hat die Bundesregierung der Zwischenrufe fast nicht möglich war. Aber das bereits eine Reihe von Maßnahmen in den Bereichen zeigt ja, daß ich die Opposition im Grunde genommen Pflanzenschutzmittel- und Düngemittelrecht sowie mit der Wahrheit erwischt habe. Wasser- und Naturschutzrecht mit der Zielsetzung ei- (Lachen bei der SPD und den GRÜNEN) nes vorbeugenden Gesundheits- und Trinkwasser- schutzes ergriffen. Die Gesundheit und die Hygiene sind ohne eine integrierte Wasser- und Abwasserwirtschaft nicht (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: So ein möglich. Sie sind auch nicht zum Nulltarif zu haben. Quatsch!) Dennoch muß man Aufwand und Nutzen prüfen. Die Gesundheit unserer Bürger ist ein hohes Gut. Die Hierzu gehören u. a. — das wissen Sie sehr genau — deutsche Wasserwirtschaft hat dazu immer einen ent- die Trinkwasser-Verordnung aus dem Jahre 1986, das scheidenden Beitrag geleistet. Pflanzenschutzgesetz aus dem Jahre 1986 in Verbin- dung mit der Pflanzenschutzmittelverordnung und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Pflanzenschutz- Sachkundeverordnung, die beide aus dem Jahre 1987 stammen, und die Pflanzen- Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat die Bundes- schutz -Anwendungsverordnung aus dem Jahre 1988. ministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesund- Ferner gehören hierzu die fünfte Novelle des Wasser- heit, Frau Dr. Lehr. haushaltsgesetzes aus dem Jahre 1986, das novellierte Naturschutzgesetz aus dem Jahre 1987 und das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz, ebenfalls aus Frau Dr. Lehr, Bundesminister für Jugend, Familie, dem Jahre 1987. Frauen und Gesundheit: Frau Präsidentin! Meine Da- men und Herren! In wenigen Tagen wird die bundes- Das Ziel der EG-Richtlinie, Pflanzenschutzmittel deutsche Trinkwasser-Verordnung mit den Grenz- generell vom Trinkwasser fernzuhalten, ist auch Ziel wertfestsetzungen für chemische Stoffe zur Pflanzen- der Bundesregierung. Diese Stoffe gehören nicht in behandlung und Schädlingsbekämpfung in Kraft tre- unser Trinkwasser. ten. Zukünftig darf die Konzentration eines solchen Stoffes 0,1 Mikrogramm, d. h. 0,1 Millionstel g oder (Zustimmung bei der SPD) ein Zehntel Millionstel g, pro Liter Trinkwasser nicht Für dieses Anliegen ist der 1. Oktober 1989 ein wich- übersteigen. Die Summe aller derartigen Stoffe darf tiger Termin. den Gesamtwert von 0,5 Mikrogramm nicht über- schreiten. (Lennartz [SPD]: Welch eine Erkenntnis!) Damit wird die EG-Richtlinie über die Qualität von Wir können und wollen die Augen jedoch nicht vor Wasser für den menschlichen Gebrauch auch in die- der Tatsache verschließen, daß eine Reihe von Was- sem Punkt endgültig in innerstaatliches Recht umge- serversorgungsunternehmen bei einzelnen Stoffen setzt sein. die neuen Grenzwerte noch nicht einhalten können. (Frau Saibold [GRÜNE]: Nach sieben Jah- Es war also zu überlegen, wie in solchen Fällen zu ren!) verfahren ist, ob und wann Ausnahmen gesundheit- Wasser ist ein ganz besonderes Lebensmittel, lich vertretbar sind und welche Bedingungen dafür maßgeblich sein sollen. Denn die Antwort kann doch (Frau Flinner [GRÜNE]: Das wichtigste! nicht sein, blindlings Wasserwerke zu schließen. Eine Noch wichtiger als Brot!) Sanierung der Wasservorkommen ist — auch in Über- an das hohe Ansprüche zu stellen sind. Daher begrüße einstimmung mit den Ländern — erforderlich. Da man ich es, daß nunmehr in der Trinkwasser-Verordnung Pestizide aus dem Wasser kaum wieder herausbe- alle Maßnahmen enthalten sind, die qualitativ ein- kommt, muß bei der Verhinderung der Kontamina- wandfreies Trinkwasser sichern. tion angesetzt werden. Die Gesamtsituation der Trinkwasserversorgung der Bundesrepublik Deutschland ist günstig: Zu jeder (Zustimmung der Abg. Frau Blunck [SPD]) Zeit und an jedem Ort steht Trinkwasser in ausrei- Die Länder, zuständig für die Durchführung der chender Menge und in gesundheitlich unbedenkli- Trinkwasser-Verordnung, richteten deshalb den cher Qualität zur Verfügung. Wunsch an das Bundesgesundheitsamt, für den Fall (Frau Saibold [GRÜNE]: Oh Gott, Sie trauen von Überschreitungen der Grenzwerte eine Empfeh- sich, das zu sagen?) lung zum Vollzug der Trinkwasser-Verordnung aus- Das trifft keinesfalls auf alle EG-Länder zu. zuarbeiten. Diesem Petitum kam das Bundesgesund- heitsamt nach und veröffentlichte im Bundesgesund- (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Richtig!) heitsblatt vom Juli 1989 die Empfehlung über Maß- Der Bundesregierung bekanntgewordene Befunde nahmen bei Verunreinigungen von Roh- und Trink- an Kontamination aus diffusen Quellen, insbesondere wasser mit chemischen Stoffen zur Pflanzenbehand- 12206 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bundesminister Frau Dr. Lehr lung. Diese Empfehlung legt nun im einzelnen fest, chenden einschränkenden Nutzungs-, Duldungs- und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine uner- Anwendungsbestimmungen, viertens eine Übersicht wünschte Kontamination des Wassers mit Pflanzen- der im Einzugsgebiet verwendeten Pflanzenschutz- schutzmitteln nach Möglichkeit zu verhindern, denn mittel und schließlich eine umweltgerechte Beratung Vorsorge hat nach meiner Auffassung stets Vorrang und Minimierung der Anwendung. vor später aufwendigerer und nur begrenzt wirksamer Das Ziel von Sanierungsmaßnahmen ist, die Schlie- Aufbereitung des Trinkwassers. ßung von Wasserwerken zu vermeiden. Die Schlie- Diese Empfehlung schafft die Voraussetzung, auf ßung von Wasserwerken geht mit dem hygienischen wissenschaftlicher Grundlage zu sachgerechten und Risiko der dann erforderlichen Notversorgung einher. möglichst bundeseinheitlichen Entscheidungen bei Das Ziel der Sanierungsmaßnahmen ist, den Verlust der Zulassung von Abweichungen von Grenzwerten der zugehörigen Wasserschutzgebiete zu verhindern. durch die zuständige Landesbehörde zu kommen. Da- Nur so können die örtliche Wasserversorgung erhal- nach dürfen Überschreitungen der strengen Grenz- ten und die Wasservorkommen auf Dauer saniert wer- werte von den örtlichen Behörden nur dann zugelas- den. sen werden, wenn ein konkreter, erfolgversprechen- (Frau Flinner [GRÜNE]: Die ganze Fläche der Sanierungsplan vorgelegt wird muß Wasserschutzgebiet werden, nicht nur (Frau Blunck [SPD]: Sogenannter Sanie- einzelne!) rungsplan! Es gibt keinen wirklichen Sanie- Für die Bürger ist es schwer verständlich, daß eine rungsplan!) Überschreitung des Grenzwertes der Trinkwasserver- sowie scharfe Auflagen st rikt kontrolliert und einge- ordnung keine Gesundheitsgefährdung darstellt. Die halten werden. Konkret: Eine Abweichung darf nur Grenze für eine gesundheitliche Gefährdung befindet zugelassen werden, wenn eine gesundheitliche Ge- sich aber für die meisten dieser Stoffe weit oberhalb fährdung durch die Verunreinigungen des Trinkwas- der Grenzwerte der Trinkwasserverordnung. Deshalb sers ausgeschlossen ist, wenn sie auf grundsätzlich hält es das Bundesgesundheitsamt für vertretbar, eine zwei Jahre befristet wird, eine sofortige Sanierung des Überschreitung der Grenzwerte unter den genannten betroffenen Wasservorkommens einsetzt und wenn Bedingungen befristet zuzulassen. die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung ohne (Lennartz [SPD]: Wie lange?) eine solche Maßnahme der zuständigen Landesbe- hörden nicht sichergestellt werden kann. Bereits jetzt sind zur Unterstützung der Bemühun- gen um ein einwandfreies Trinkwasser von den für die Für eine Reihe von Stoffen, die in der Empfehlung Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständigen im einzelnen aufgeführt sind, darf nach Ansicht des Behörden Überprüfungen bei den Pflanzenschutz- Bundesgesundheitsamtes eine Grenzwertüberschrei- mittelwirkstoff en durchgeführt worden. Dies führte tung nicht zugelassen werden. Dies trifft insbesondere dazu, daß zum Teil bereits strengere Anwendungsbe- bei jenen Stoffen zu, die möglicherweise krebserzeu- schränkungen oder sogar Verbote ausgesprochen gend sind. Für die anderen Stoffe gibt das Bundesge- worden sind oder daß die Verlängerung der Zulas- sundheitsamt den zuständigen Landesbehörden in sung der Mittel versagt worden ist. Ich erwarte von der Empfehlung an, welche Höchstkonzentrationen den Anwendern solcher Präparate, sich in jedem Fall bei vorübergehenden Abweichungen vom Grenzwert streng an die jeweils geltenden Anwendungsbe- gesundheitlich unbedenklich sind. Eine Gesundheits- schränkungen und Verbote zu halten. gefährdung ist bei diesen Werten — übrigens auch nach Ansicht der WHO und amerikanischer Gesund- Die Bundesregierung weist noch einmal darauf hin, heitsbehörden — ausgeschlossen. daß nach § 6 des Pflanzenschutzgesetzes von 1986 Pflanzenschutzmittel nur nach guter fachlicher Praxis Entsprechend der Empfehlung sind bei einer Ver- angewandt werden dürfen. unreinigung von Roh- und Trinkwasser mit Pflanzen- schutzmitteln Maßnahmen zur Feststellung der Ursa- (Frau Blunck [SPD]: Was ist das?) che und Maßnahmen zur Sanierung des verunreinig- Dazu gehört, daß die Grundsätze des integrierten ten Wasservorkommens einzuleiten. Pflanzenschutzes berücksichtigt werden. Pflanzen- (Lennartz [SPD]: Sehr schön!) schutzmittel dürfen nicht angewandt werden, wenn der Anwender damit rechnen muß, daß ihre Anwen- Die Sanierung eines Wasservorkommens ist eine Ge- dung schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit meinschaftsaufgabe, welche die Zusammenarbeit al- von Mensch oder Tier oder auf Grundwasser hat, oder ler Betroffenen, d. h. von Gesundheitsbehörden, Was- wenn sonstige erhebliche schädliche Auswirkungen serbehörden, Wasserversorgungsunternehmen, Pflan- insbesondere auf den Naturhaushalt zu erwarten sind. zenschutzdienst und Landwirten, erfordert. Eine Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ist dar- über hinaus in und unmittelbar an oberirdischen Ge- Ein Sanierungskonzept umfaßt u. a. folgende wässern und Küstengewässern verboten. Punkte: erstens die beschleunigte Festsetzung von Wasserschutzgebieten gemäß § 19 des Wasserhaus- Die Verbraucher müssen von den zuständigen Be- haltsgesetzes , zweitens die behördliche Eingrenzung hörden und Unternehmen umfassend über die Be- von Einzugsgebieten von Trinkwassergewinnungs- funde der Wasseruntersuchungen und ihre gesund- anlagen zum Schutz des Grundwassers gemäß § 3 heitliche Relevanz aufgeklärt werden. Die Verbrau- Abs. 3 der Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverord- cher sind über die Notwendigkeit und das Ausmaß der nung, drittens die Bekanntgabe der Grenzen von jeweils zugelassenen Abweichungen von Grenzwer- Wasserschutz- und Einzugsgebieten und der entspre- ten der Trinkwasserverordnung zu unterrichten. Zu- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12207

Bundesminister Frau Dr. Lehr gelassene Abweichungen von den Grenzwerten wer- Es ist im übrigen nicht das erste Mal, daß wir uns an den vom Verbraucher dann akzeptiert, wenn er er- dieser Stelle über die Verseuchung unseres Trinkwas- kennt, daß nur dadurch Sanierungskonzepte durch- sers und die damit verbundenen Gefahren und die gesetzt werden können, Gefährdung der Gesundheit auseinandersetzen. Be- (Frau Blunck [SPD]: Es gibt keine Sanie- reits vor zweieinhalb Jahren haben wir angesichts der rung!) erschreckenden Untersuchungsergebnisse der deut- schen Gas- und Wasserwirtschaft über die hochgra- welche eine vorschriftsmäßige Trinkwasserqualität dige Vergiftung des Trinkwassers mit Pflanzen- langfristig sichern, und wenn er erkennt, daß eine schutzmitteln Alarm geschlagen. Damals hat diese Gefährdung der Gesundheit sicher ausgeschlossen Bundesregierung das noch als Panikmache abgetan. ist. Inzwischen betrachtet sie diese Belastung des Grund- In ihrer Antwort auf die Große Anfrage belegt die wassers immerhin mit großer Sorge. Aber diese späte Bundesregierung, daß sie die notwendigen Schritte Erkenntnis hilft wenig weiter, wenn ihr nicht endlich eingeleitet hat. ganz entscheidende Maßnahmen zur Abhilfe folgen. (Lachen bei der SPD — Frau Blunck [SPD]: Durch eine Empfehlung!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Sie wird auch zukünftig ihren Beitrag leisten, um die Dabei kommen die eigentlichen Probleme mit der Versorgung der Bevölkerung der Bundesrepublik Trinkwasserversorgung erst noch auf uns zu. Denn Deutschland mit einwandfreiem Trinkwasser zu si- die jetzt im Grundwasser festgestellten Schadstoffe chern. stammen zum größten Teil noch aus den 50er und 60er (Grünbeck [FDP]: Sehr gut!) Jahren. Wenn man die damalige landwirtschaftliche In der Antwort wird deutlich — das betone ich hier Bodennutzung und den damaligen Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln mit den heutigen nachdrücklich — , daß ich die Sorgen der Bevölkerung radikalen, umweltschädlichen Produktionsmethoden um gesundheitlich unbedenkliches Trinkwasser sehr vergleicht, dann wird einem erst so recht klar, daß uns ernst nehme, daß jedoch unbegründeten Ängsten und verfehlter Panikmache entgegenzutreten ist. Unser das dicke Ende erst noch bevorsteht. Hier ist es schon längst nicht mehr allein mit dem Jonglieren von Wasser kann sich sehen und trinken lassen. Grenzwerten getan. Die Schadstoffbelastungen des (Frau Blunck [SPD]: Das ist gar nicht Grundwassers können nur noch durch Nichtzulas- wahr!) sung, durch Zulassungsrücknahme und durch ein- Dafür werde ich weiter eintreten. deutige Anwendungsverbote von grundwasserge- fährdenden Pflanzenschutzmitteln aufgehalten wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Das Wort hat Frau Abge- Vizepräsidentin Renger: Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Das ist doch ordnete Blunck. falsch!)

Ausnahmsweise teile ich hier einmal die Auffassung Frau Blunck (SPD): Liebe Frau Präsidentin! Meine der Bayerischen Staatsregierung, wenn sie einen Ver- sehr verehrten Damen und Herren! Ich stehe in der zicht auf bestimmte Pflanzenschutzmittel zum Wohle Mitte meines Lebens und habe bisher rund 10 000 kg der Allgemeinheit für dringend notwendig hält. Das, an Nahrung und rund 22 0001 an Flüssigkeit zu mir Frau Lehr und Herr Töpfer, hätte eben längst gesche- genommen. hen müssen. (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Das erstere sieht man Ihnen nicht an!) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Allein diese Relation macht deutlich, daß Wasser das Frau Flinner [GRÜNE]: So ist es!) für den Menschen bei weitem wichtigste Lebensmittel ist. Im übrigen muß ich auch davor warnen, zu glauben, man könne Milliardenbeträge in die Hand nehmen (Beifall der Abg. Frau Flinner [GRÜNE]) und damit das Grundwasser sanieren. Dies geht Diese Erkenntnis teilt auch die Bundesregierung in nicht. ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage. Das ist aber fast das einzige, was wir bei der Beurteilung der Die Bundesregierung bemüht zur Begründung für Trinkwasserproblematik gemeinsam haben. Denn ihr Nichtstun immer wieder gesamtwirtschaftliche spätestens bei der Frage, in welcher gesundheitlich Zwänge und Wettbewerbsgesichtspunkte; eine unbedenklichen Qualität Wasser zur Verfügung steht, schöne Umschreibung für den Kotau vor der chemi- Frau Lehr, scheiden sich die Geister. schen Industrie und der Landwirtschaft. Hat die Bun- desregierung schon einmal den Schaden berechnet, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) der durch die fortschreitende und ungehemmte Brun- Hier verfährt die Bundesregierung wieder einmal nenvergiftung der Volkswirtschaft und der Gesamt- nach der sattsam bekannten Methode des Herunter- gesellschaft erwächst? Die Wasserwerke können doch spielens und der Verharmlosung der Gefahren der seit bereits heute schon nicht mehr die immer komplizier- Jahren geduldeten Vergiftung des Grundwassers mit ter werdenden Aufbereitungsmethoden bezahlen. chemischen Pflanzenbehandlungs- und Schädlings- Die Kosten hierfür werden auf die Verbraucher abge- bekämpfungsmitteln. wälzt, die in doppelter Hinsicht die Betrogenen sind. 12208 Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Blunck Sie müssen nämlich angesichts der schlechten Was- sinnvoll, wenn es gleichzeitig gelänge, die für Lebens- serqualität noch um ihre Gesundheit fürchten. Haben mittel relevante Nitratbelastung wesentlich weiter Sie eigentlich schon einmal die finanziellen Belastun- einzuschränken. Was hindert uns eigentlich daran, gen der Kranken- und Rentenversicherung durch die wenn nicht allein ganz handfeste wirtschaftliche In- mit der Verunreinigung des Trinkwassers verbunde- teressen, angesichts der bekannten Auswirkungen nen Gesundheitsgefährdung berechnet? überhöhter Nitratbelastung auf unsere Gesundheit diese auch bei Lebensmitteln tatsächlich zu senken? Natürlich: Sie glauben, das brauchen Sie nicht. Für Aber dagegen sperren Sie sich natürlich, und Sie Sie steht ja fest, daß eine Gesundheitsgefährdung schaffen sich zugleich eine fadenscheinige Rechtferti- durch Pflanzenschutzmittelkontamination im Trink- gung, bei den viel zu hohen Nitratgrenzwerten für wasser nicht gegeben ist. Das ist für Sie gewisserma- Trinkwasser verbleiben zu können, offensichtlich ßen ein Dogma. Dogmen haben halt den Vorteil, daß nach dem Motto: Wenn schon Belastung, dann umfas- für sie kein Beweis angetreten zu werden braucht. send und total. (Grünbeck [FDP]: Schlichtweg falsch!) (Lachen des Abg. Grünbeck [FDP]) Ihre These steht aber auf tönernen Füßen. Denn Sie können hierfür allein den derzeit wissenschaftlichen Vor dem Hintergrund der von der Bundesregierung Erkenntnisstand anführen, und der ist nun leider ein- selbst eingeräumten Belastung des Grundwassers mal sehr unzureichend. Sie müssen ja selbst einräu- durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel würde ich mir men, daß eine Abschätzung der Entwicklung der weniger eine Verharmlosung des Problems und statt Pflanzenschutzmittelkonzentration im Grundwasser dessen mehr Vorsorge wünschen. Zur Vorsorge ge- derzeit ohne das Vorliegen von flächendeckenden hört auch eine offensive Information und Aufklärung Grundwasseruntersuchungen und Zeitreihenanaly- der Verbraucher und Verbraucherinnen über die sen über einen längeren Zeitraum nicht sicher mög- Wasserqualität. Hier scheint die Bundesregierung das lich ist. Risiko allein auf die nachgeordneten Behörden ab- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wälzen zu wollen, die dann vor dem Problem bei- spielsweise immer komplizierter werdender Analyse- Das steht auch in der Antwort auf die Große An- verfahren kapitulieren müssen. frage. Da stellt sich doch automatisch die Frage, wie Sie Warum eigentlich soll der Hersteller von Pflanzen- angesichts dieser Unsicherheiten zu der Erkenntnis schutzmitteln nicht verpflichtet werden können, stan- kommen, daß damit keine Gesundheitsbelastungen dardisierte Nachweismethoden anzugeben, verbunden sind. Sie wissen nichts, aber Sie geben dennoch scheinbar gesicherte Beurteilungen ab. Das (Beifall bei den GRÜNEN sowie des Abg. nennt man üblicherweise Hochstapelei. Schäfer [Offenburg] [SPD]) (Beifall der Abg. Frau Dr. Timm [SPD]) damit etwa die Wasserwerke ohne größeren finanziel- Es stellt sich natürlich auch die Frage, welche Vorsor- len Aufwand zu entsprechenden Analysen in der Lage sind? Ich empfehle Ihnen sehr dringend, die Antwort gemaßnahmen denn die Bundesregierung angesichts dieser in ihren Auswirkungen ungeklärten Belastun- der Bundesregierung zu lesen, in der dies für unmög- gen ergriffen hat oder zu ergreifen gedenkt. lich gehalten wird. (Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Das Wasser ist (Frau Saibold [GRÜNE]: Die Chemie ist zu zumindest sauberer als Ihre Rede!) teuer, deshalb wird es nicht gemacht!) Ich glaube, ich kann die Antwort vorwegnehmen: Es kann doch wohl nicht angehen, daß ein Hersteller keine. Sicherlich, es gibt Untersuchungen über die munter an der Umweltzerstörung verdienen kann, Wirkung einzelner Schadstoffe. Über die gleichzeitige aber für die Reparatur dieser Umweltzerstörung allein Einwirkung einer Vielzahl von Schadstoffen auf die der Verbraucher in die Pflicht genommen wird. Das menschliche Gesundheit liegen aber praktisch über- Verursacherprinzip muß auch hier zum Zug kom- haupt keine Untersuchungen und damit auch keine men. gesicherten Erkenntnisse vor. (Grünbeck [FDP]: Untersuchungen schon, (Frau Saibold [GRÜNE]: Richtig!) aber keine Ergebnisse!) Es hat sich nun leider bewahrheitet, daß vom 1. Ok- Demzufolge ist Ihre These von der gesundheitlichen tober an mit dem Inkrafttreten der Trinkwasserver- Unbedenklichkeit auch aus diesem Grund — ich ordnung viele Wasserwerke die Trinkwasserversor- meine, das ist ein sehr gravierender Grund — schlicht gung nur noch mit Ausnahmegenehmigungen der falsch und eine Täuschung der Verbraucher und Ver- Gesundheitsämter aufrechterhalten können — ich braucherinnen. verweise auf die Ausführungen meines Kollegen Len- Die Bundesregierung sieht zur Zeit keine Notwen- nartz, der gesagt hat, unter welchen Bedingungen wir digkeit, aus gesundheitlichen Gründen den Grenz- dem zustimmen wollen — , weil die Grenzwerte für wert für Nitrat im Trinkwasser auf einen Wert unter Pestizide überschritten werden. Ich meine, der Vor- 50 Milligramm pro Liter festzusetzen. Die Begrün- schlag, die Wasserwerke zu schließen, ist keine Lö- dung hierfür, Herr Grünbeck, ist nun wirklich aben- sung. Das wäre schlicht und ergreifend nur eine Kapi- teuerlich, aber sie ist kennzeichnend. Nach Ansicht tulation vor der Verschmutzung und eine Verlage- der Bundesregierung wäre dies nämlich nur dann rung der Probleme auf die Schultern der Verbraucher Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12209

Frau Blunck und Verbraucherinnen — Menschen, die auf das Le- festgelegt, die als Vorsorgewerte zu betrachten sind. bensmittel Trinkwasser unbedingt angewiesen sind. Selbst wenn diese Werte überschritten würden, läge (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — noch immer keine gesundheitsbedenkliche Belastung Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Eine erfreuli- vor. che Rede im Vergleich zu den vorherigen!) (Frau Flinner [GRÜNE]: Wer sagt Ihnen das?) Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- — Wenn Sie mir nicht glauben, dann zitiere ich einmal nete Kroll-Schlüter. die Weltgesundheitsorganisation. Die Weltgesund- heitsorganisation legt Werte fest, die zum Teil tau- sendfach höher sind als unsere, Kroll-Schlüter (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Satz der Antwort (Dr. Göhner [CDU/CSU]: So ist es!) der Bundesregierung auf die Große Anfrage lautet: und stellt in Verbindung damit fest, daß sie nicht ge- „Wasser ist das Lebensmittel, das durch kein anderes sundheitsgefährdend sind. zu ersetzen ist. " Das ist eine kompromißlose Aussage, (Frau Blunck [SPD]: Aber die Antwort der die uns zu konsequentem Handeln aufruft. Bundesregierung stellt etwas anderes fest!) (Stahl [Kempen] [SPD]: So sollte es sein!) Diese Werte können von der Landwirtschaft, der Für dieses Handeln gibt es zahlreiche Tatsachen, Er- Wasserwirtschaft und anderen wirklich nur sehr kenntnisse und Forderungen. schwer eingehalten werden. Diese Werte von heute (Lennartz [SPD]: Ja! — Frau Flinner auf morgen einzuhalten wird so schwer sein, daß es [GRÜNE]: Das schert Sie ja nicht!) nach Lage der Dinge ohne Ausnahmegenehmigung Erstens. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland nicht gehen wird. Aber wir wollen ja anfangen; auch eine qualitativ ausreichende Versorgung der Bevöl- darin sind wir uns einig. kerung mit gesundheitlich unbedenklichem Trink- (Stahl [Kempen] [SPD]: Dann hören Sie doch wasser. mit dem Vorsorgewert auf!) (Frau Flinner [GRÜNE]: Das stimmt nicht! — Aber noch einmal: Wir sollten keine Unruhe in die Frau Blunck [SPD]: Lesen Sie die Antwort! Bevölkerung insofern hineintragen, als dann, wenn Das ist zu allgemein!) dieser Wert überschritten wird, angenommen wird, Zweitens. Die öffentliche Wasserversorgung in der daß schon eine Gefahr gegeben sei. Letzteres ist nicht Bundesrepublik Deutschland wird zu 85 % aus unter- der Fall. irdischen Wasservorkommen und zu 15 % aus oberir- (Frau Blunck [SPD]: Sie können doch auch dischen Gewässern sichergestellt. nicht ausschließen, daß es keine Gefahr gibt! (Lennartz [SPD]: So habe auch ich formuliert; Es steht doch in der Antwort drin! — Frau und ich habe gesagt, was damit los ist!) Schulte [Hameln] [SPD]: So etwas Dum Drittens. Anders als noch vor einigen Jahren sind mes!) wir heute in der Lage, Konzentrationen von Stoffen in — Sie sagen „So etwas Dummes" ; wenn man sich einer unvorstellbar kleinen Größenordnung nachzu- nicht darüber einig ist, worüber wir uns auch mit der weisen. Diese größere Einsicht in diese kleineren Wissenschaft einig sind, daß es sich um einen Vorsor- Größenordnungen bedeutet aber noch nicht eine grö- gewert handelt — — ßere Belastung. Doch es ist gut, daß wir diese Ein- blicke haben. Wir können grundsätzlicher und wirk- (Frau Schulte [Hameln] [SPD] : Es gibt bei mir samer handeln. keine Gemeinde mehr, die keine Trinkwas serprobleme hat! Sie müssen blind sein!) (Lennartz [SPD]: Wenn wir wollen! — Stahl [Kempen] [SPD]: Sollten wir!) — Ich lade Sie in meine Gemeinde ein. Schließlich: Wir sind uns einig: Trinkwasser muß (Lennartz [SPD]: Ich Sie auch!) frei sein von Krankheitserregern. Trinkwasser sollte Ich lade Sie als Bürgermeister in meine Gemeinde ein. nicht durch chemische Inhaltsstoffe belastet werden Sie können sich unsere Trinkwasserversorgung an- und dadurch zur Belastung der menschlichen Ge- schauen. Verehrte Frau Kollegin, Ihre Zwischenrufe sundheit werden. Pflanzenschutzmittel sollten gene- sagen mir, daß Sie sich mit der Mate rie wenig bis gar rell vom Trinkwasser ferngehalten werden. Die Besei- nicht beschäftigt haben. tigung der Ursachen von Belastungen des Wassers hat Vorrang vor der Beseitigung bereits eingetretener (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist unver Wasserverunreinigungen. schämt! Das ist eines der wichtigsten Pro Wenn das so weit klar, eine Grundlage für unser bleme der Zukunft! — Dr. Göhner [CDU/ Handeln ist, dann können wir auch davon ausgehen, - CSU]: Warsteiner Pilsener!) daß die Trinkwasserverordnung eine Grundforde- Es gibt, wenn ich fortfahren darf, nicht nur das Be- rung enthält, nämlich: Trinkwasser muß frei von mühen, gutes Trinkwasser zu gewinnen, sondern Krankheitserregern sein. Durch diese Festlegung der auch das Bemühen, jederzeit einwandfreies Trink- Qualitätsanforderung, die ja auf jeden Fall vorbildlich wasser in unbeschränkter Menge zu möglichst niedri- ist, auch im europäischen Umfeld, entfaltet die Trink- gen Preisen zur Verfügung zu haben. Auch das sagt wasserverordnung Wirkungen, die weit über die Was- Ihnen ein Kommunalpolitiker. Jetzt möchte ich aber sergewinnung hinausgehen. Es werden Grenzwerte auch dies hinzufügen, damit wir nicht immer nur uns 12210 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Kroll-Schlüter als Adressaten nehmen: Ich muß auch einmal an die Die Frau Ministerin hat eben gesagt, welche Daten Bürgerinnen und Bürger appellieren, daß sie uns hel- z. B. ab dem 1. Oktober dieses Jahres wirksam wer- fen, wenn wir notwendige Maßnahmen ergreifen wol- den, len. Legen Sie einmal eine neue Talsperre an, (Lachen bei der SPD) (Frau Saibold [GRÜNE]: Das ist doch keine und sie hat Ihnen eine ganze Reihe weiterer Initiati- Lösung!) ven vorgetragen, die bereits ergriffen worden sind. legen Sie einmal ein Rückhaltebecken an, ergreifen (Zuruf von der SPD: Auch die Ausnah Sie einmal bestimmte andere Maßnahmen, und sehen men!) Sie, wie groß teilweise der Widerstand ist, obgleich Ich denke jetzt immer noch nach, warum Sie schon jedermann einsieht: Hier handelt es sich um notwen- den ganzen Morgen bei unseren Reden, nicht nur jetzt dige Maßnahmen. bei meiner, so unruhig sind. (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Weil das Vizepräsidentin Renger: Herr Abgeordneter, ge- schlimm ist!) statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ich glaube, daß Sie dieses Thema unbilligerweise be- Stahl? nutzen, um Panikstimmungen herbeizuführen. Dafür ist das Thema aber wirklich zu wertvoll. Kroll-Schlüter (CDU/CSU): Gerne. Vizepräsidentin Renger: Gestatten Sie vorher eine Vizepräsidentin Renger: Bitte. Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Saibold?

Stahl (Kempen) (SPD): Herr Kollege Kroll-Schlüter, Kroll-Schlüter (CDU/CSU): Ja. Wir beide sitzen zu- würden Sie mir zustimmen, daß es notwendig ist, den sammen im Verbraucherausschuß. Dann können wir Eintrag von Schadstoffen in das Trinkwasser insge- das Gespräch auch hier fortführen. samt wesentlich zu vermindern, und daß diese Maß- nahmen teilweise durch einfache Regelungen gegen- (GRÜNE): Herr Kroll-Schlüter, können über dem heutigen Stand zumindest wesentlich ver- Frau Saibold Sie sich vorstellen, daß das Thema Reinheit des Trink- bessert werden könnten? Dies ist doch auch Bestand- wassers uns so stark bewegt, daß man es nicht mehr teil der Aussage in der Antwort der Bundesregierung. aushält, hier immer irgendwelche Verharmlosungen Würden Sie wenigstens dem zustimmen und auch zu hören, und das schon jahrelang, und haben Sie akzeptieren, daß die Probleme — ich weiß nicht in deswegen vielleicht Verständnis für unsere Erregung welcher Gemeinde Sie tätig sind —, und kommen deshalb auch zum Handeln? (Lennartz [SPD]: Warsteiner Pilsener!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bezogen auf Wassereinzugsgebiete, für fast alle Was- serwerke der Bundesrepublik wirklich sehr, sehr ernst sind. Kroll-Schlüter (CDU/CSU): Wenn Sie heute morgen noch nicht mitbekommen haben, worin das Handeln (Grünbeck [FDP]: Wer nimmt sie denn nicht besteht, dann allerdings muß ich sagen: Sie sollten ernst? Zwischen Ernstnehmen und Panikma- zuhören, was gesagt wird. Dann bin ich auch bereit, che ist ein großer Unterschied!) Ihre Erregung zu verstehen. (Frau Flinner [GRÜNE]: Düngemittelgesetz Kroll-Schlüter (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich z. B.!) bitte zunächst um Entschuldigung. Es war nicht meine — Darauf komme ich jetzt noch. Absicht, vom Rednerpult aus für ein gutes Produkt, das in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt Als besondere Belastungspunkte — auch das sind wird, Reklame zu machen. Konflikt- und Grenzpunkte, mit denen ich mich aus- einandersetzen möchte — werden in der Antwort der (Stahl [Kempen] [SPD]: Doch! Das dürfen Sie Bundesregierung intensive Landwirtschaft, Industrie- jetzt ausnahmsweise, Herr Kroll-Schlüter!) standorte und dichtbesiedelte Räume genannt. Mit Herr Kollege Stahl, ich möchte mich sozusagen mit — was hier nicht der Fall ist — Pauschalurteilen z. B. den Konflikt- und Grenzpunkten auseinandersetzen, über die Belastung des Wassers durch intensive auch begrifflich. Dem, was Sie gesagt haben, stimme Landwirtschaft ist es nicht getan. Landwirtschaft und ich selbstverständlich zu. Es gibt eine ganze Reihe Pflanzenschutzmittelhersteller haben sich darauf ver- einfacher Maßnahmen, die zur Verbesserung der Si- ständigt, daß die sachgerechte Anwendung von Pflan- tuation ergriffen werden können. zenschutzmitteln nicht zu einer Überschreitung der (Stahl [Kempen] [SPD]: Dann macht das doch Trinkwasserwerte führen darf. Empfehlungen zur ge- einmal!) - nerellen Ausnahme davon darf und wird es nicht ge- ben. Aber auch dies ist klar: Eine ökonomisch sinn- — Wir sind ja dabei. volle Landschaft in Wasserschutzgebieten ist heute (Lennartz [SPD]: Wo denn?) nicht mehr möglich. Jedoch ist klar, daß zur sicheren — Auch das geht aus der Antwort der Bundesregie- Vermeidung weiterer Einträge von Pflanzenschutz- rung auf Ihre Anfrage hervor. mitteln in das Trinkwasser die Ausweisung von Was- (Frau Blunck [SPD]: Die Sie nicht gelesen serschutzgebieten notwendig ist. haben!) (Frau Flinner [GRÜNE]: Flächendeckend!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12211 Kroll-Schlüter Daher ist es keine unbillige, sondern eine sachge- Fortschritts haben, damit wir weiterhin gesundes rechte Forderung, wenn in den Wassergesetzen der Wasser schöpfen können. Länder das Anwendungsverbot wassergefährdender (Frau Flinner [GRÜNE]: Aber nicht mit dem Pflanzenschutzmittel in Wassereinzugsgebieten aus- Gift, nicht mit Pestiziden!) gleichspflichtig gemacht wird; auch darüber sollten wir uns verständigen. Ohne derartige gesetzliche Re- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. gelungen, die manche Bundesländer noch nachzuho- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len haben — wie bereits gesagt, z. B. Nordrhein- Westfalen — , müßten die Einschränkungen der Land- wirtschaft gemäß der Anwendungsverordnung in Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- Wasserschutzgebieten entschädigungslos hingenom- nete Kiehm. men werden. Das ist aber unzumutbar. Wenn dies unzumutbar ist und wir soviel Sorge um die Auswei- sung von Wasserschutzgebieten, Wassereinzugsbie- Kiehm (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehr- ten tragen, dann ist es sehr zu kritisieren, daß es noch ten Damen und Herren! Ich wi ll mich zunächst mit Bundesländer gibt, die dieser Forderung nicht nach- einigen Argumenten, die hier von Kollegin Limbach kommen. und Herrn Grünbeck vorgetragen wurden, auseinan- dersetzen: Wir müssen doch einfach feststellen, daß es (Frau Flinner [GRÜNE]: Wasserschutzge- ein Unbehagen in dieser Gesellschaft gibt, ob denn biete sind doch nicht die Lösung!) der Gebrauch von Trinkwasser keine Risiken birgt. Davon muß man ausgehen. Das wegzudiskutieren — Aber es ist ein Schritt. D i e Lösung wird es auch wäre ein falscher Weg. nicht geben, aber es gibt eine ganze Reihe von Schrit- (Stahl [Kempen] [SPD]: Richtig!) ten auf dem Wege zu einer guten Lösung. Einen Schritt habe ich jetzt genannt. Wenn Sie auch das in Zu diesem Zeitpunkt kommt dann immer das Argu- der Weise erregt, daß Sie es nicht verstehen, dann ment, es seien Horrorvisionen, die da verbreitet wür- weiß ich gar nicht, welche Maßnahmen ergriffen wer- den. Der Kollege Grünbeck hat davon gesprochen, den sollten, um hier echte Fortschritte zu erzielen. daß die öffentliche Debatte ihn mit Sorge erfülle. (Stahl [Kempen] [SPD]: Auch uns!) Was die gewünschten trinkwasserfreien Anwen- dungen von Pflanzenschutzmitteln bet rifft, so ist das Ich bin der Meinung, wir können diesem Unbeha- totale Verbot kein Weg. Daß welche herausgenom- gen und vielleicht auch extremen Positionen vielleicht men werden müssen, ist richtig. Aber es gibt z. B. in am besten begegnen, wenn wir nicht dauernd diese Frankreich auch Pflanzenschutzmittel, die den Anfor- Horrorvisionen bemühen und glauben, wir müßten derungen, die hier zugrunde liegen, gerecht werden. darauf verweisen, daß öffentliche Debatten mit Sorge Es gibt solche Mittel, und sie werden dort angewandt. erfüllen müßten. Ich bin vielmehr der Meinung, wir Das heißt mit anderen Worten: Totales Verbot ist nicht kommen dem bei, wenn nichts vertuscht wird, der Weg, aber eine bessere Anwendung und bessere (Beifall bei der SPD) Pflanzenschutzmittel sind der Weg. wenn alles offengelegt wird, wenn alles öffentlich dis- (Grünbeck [FDP]: So ist es!) kutiert wird und wenn wir uns dahin entscheiden, keine Politik der Gefahrenabwehr zu machen, son- Ich bitte die Genehmigungsbehörden, die Mittel, die dern eine Politik der Vorsorge. Und da bin ich heute es bereits in Frankreich und anderswo gibt, auch hier skeptischer geworden, als ich es noch zu Anfang auf den Prüfstand zu bringen und dann zu genehmi- war. gen. Der Kollege Grünbeck hat dann auch noch gemeint: Es dauert seine Weile. — Lieber Kollege Grünbeck, (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Das macht mir vor zehn oder 20 Jahren ist ein richtig angst!) Wasserhaushalts- gesetz verabschiedet worden. Nun will ich Ihnen ein- Ich möchte Ihnen auch sagen, verehrte Frau Kollegin: mal ein paar der Grundsätze daraus zitieren, und Sie Nein zu sagen zu allem, alles abzulehnen wäre nicht müßten dann selbst überprüfen, ob wir — ich schließe der richtige Weg. da eine sozialliberale Regierung mit ein — all das ge- tan haben, was notwendig ist, um uns vor den Risiken (Lennartz [SPD]: Wer hat das getan?) zu bewahren. Fortschritt besteht auch da rin, die Mittel zu gestalten, Die Gewässer sind ... so zu bewirtschaften, daß in die Hand zu nehmen. Fortschritt bedeutet Vor- sie dem Wohl der Allgemeinheit ... dienen .. . sorge. Gemeint war damit insbesondere die Sicherung der Versorgung mit gutem Trinkwasser. Nur im Einklang (Frau Saibold [GRÜNE]: Ja!) mit diesem Gemeinwohl kann das Gewässer auch dem Nutzen einzelner dienen. Glauben Sie, daß wir Fortschritt bedeutet bessere Pflanzenschutzmittel. Vorsorge bedeutet integrierten Pflanzenschutz. diesem Anspruch heute gerecht werden? (Grünbeck [FDP]: Ja!) (Frau Saibold [GRÜNE]: Ökologische Land- — Dann sind Sie ein Optimist, der seinen Optimismus wirtschaft!) aus Glauben und nicht aus Tatsachenkenntnissen be- Fortschritt bedeutet schöpferischen Umgang mit den zieht. Möglichkeiten, die wir infolge des technologischen (Beifall bei der SPD) 12212 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Kiehm Jedermann ist verpflichtet, sorgfältig darauf zu eine Regelung nicht in dem Umfange finden, wie wir achten, daß eine Verunreinigung des Wassers das wollen. oder eine Veränderung seiner Eigenschaften (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) nicht stattfindet. Wer auf Gewässer so einwirkt, daß sich die Beschaffenheit des Wassers verän- Ich will ein anderes Beispiel nennen: Dieselbe dert, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet. „Zeit" zitiert einen Laborleiter aus den Wasserwerken Hamburg: „Wissen Sie," so wird dieser Laborleiter Glauben Sie, daß mit aller Konsequenz nach diesen zitiert, „was die Aktivkohle kostet, die man benötigt, Prinzipien gehandelt worden ist? um 1 kg Atrazin, das im Großhandel vielleicht 60 DM Wir haben — und jetzt muß ich ein besonderes Pro- kostet, herauszufiltern?" — Die Antwort liefert er mit: bleme ansprechen — für Indust rie, Gewerbe und Mindestens 10 000 DM. Sie brauchen rund 10 t Pul- Kommunen einschränkende Regelungen. Wir haben verkohle, die anschließend als Sondermüll entsorgt gesagt: Alles, was ihr in Richtung Wasser macht, muß werden müssen, wobei bei deren Verbrennung Dioxin den Stand der Technik oder den allgemein anerkann- entsteht. Eine Verlagerung des Problems in die Was- ten Regeln der Technik entsprechen. serwerke schafft neue umweltpolitische Schwierig- keiten. Glauben Sie wirklich, daß die Realität die Bedeu- tung der Landwirtschaft hier ausschließen darf? (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Dr. Göhner [CDU/CSU]: Tut sie nicht!) Es mag zwar gut gemeint sein und als technische Hilfe verstanden werden, aber die Mittel, die hier einge- Wir haben zwar die Behauptung, Herr Kollege Göh- setzt werden, fehlen an anderen, viel wichtigeren ner, daß die Landwirtschaft mit ihren Maßnahmen Stellen, die wir gemeinsam wollen. auch der Genehmigung bedarf. Die Praxis ist aber ganz anders. Als wir 1986 verlangt haben, ausdrück- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) lich ins Gesetz hineinzuschreiben, daß Maßnahmen Meine Damen und Herren, es wird auch umverteilt: aus dem Bereich der Landwirtschaft einer Benut- Die Einkommen von Landwirtschaft und Indust rie zungserlaubnis zu unterwerfen sind, haben Sie das bleiben bestehen; das Ganze geht zu Lasten der pri- abgelehnt. vaten Haushalte, die die Mehrkosten aus der Wasser- versorgung zu zahlen haben. Ich sollte mich jetzt zwei Einzelgesichtspunkten zu- wenden, um die Möglichkeiten einer Weichenstel- Ich will etwas zum Problem der Landwirtschaft sa- lung offenzulegen. In der „Zeit" stand neulich ein gen. Ich denke mir, wir lassen uns nicht in eine Ecke Artikel über Landwirtschaft, Pestizide und Trinkwas- drängen, die darauf hinausläuft, das man sagt: Wer serversorgung. Der sicherlich gut recherchierte Bei- Umweltschutz betreiben will, ist gegen die Landwirt- trag kommt zu der Auffassung: Bei der vorherrschen- schaft. Wir wissen, wir hart in der Landwirtschaft ge- den Spritz- und Gerätetechnik erreichen tatsächlich arbeitet wird. Wir wissen, daß eine Politik, die auf nur ganze 0,1 % der Pestizide die Pflanzen. Selbst immer mehr Einkommenserzielung aus der Produk- wenn es das Zehnfache oder Hundertfache ist, ist das tion abgestellt ist, dazu führt, daß der Landwirt, wie immer noch ein krasses Mißverhältnis. jeder andere in dieser Gesellschaft, verführbar wird, technische Hilfsmittel einzusetzen. In einer Landvolkzeitung finde ich folgende Ant- wort der Industrie darauf: Die Wirkstoffe können in (Zuruf von den GRÜNEN: Gezwungen wird Kunststoffteilchen verpackt werden, um die Freiset- er!) zung kontrollierbar zu machen, verbesserte Netz- und Wenn wir also etwas tun wollen, können wir nicht Haftmittel werden angewendet, um die Mittel geziel- allein bei den Landwirten anfangen, sondern dann ter auf die Pflanzen aufbringen zu können, so daß ent- müssen wir bei der Landwirtschaftspolitik anfangen. sprechend weniger auf den Boden fällt. — Ich habe den Eindruck: Unter dieser Prämisse diskutieren Sie (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) heute. Sie setzen an die Stelle von politischen Lösun- Eine weniger abhängige Einkommenslage der gen und politischen Antworten technische Antwor- Landwirte würde dazu führen, daß auch auf diesem ten. Sektor etwas zugunsten der Gewässersanierung pas- (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) sieren könnte. Die Antwort müßte nämlich lauten: Gute umweltver- (Frau Flinner [GRÜNE]: Die Rahmenbedin trägliche landwirtschaftliche Praxis, die die Chemie gungen müssen geändert werden! — Grün auf dem Acker verzichtbar oder reduzierbar macht, ist beck [FDP]: Wie könnte das gehen?) die Position. — Ich habe nur noch eine Minute Zeit und werde mich durch Ihre Zwischenrufe nicht beeinträchtigen lassen. (Beifall bei der SPD) Wir können aber später gerne darüber diskutieren. Vermeidung schädlicher Stoffe schon in Produktion- Ich will noch zu Frau Minister Lehr etwas sagen. und Angebot kann auch bedeuten: Verbot der An- Frau Minister, Sie haben mit Recht darauf verwiesen, wendung, des Inverkehrbringens und Verzicht auf daß Ihr Haus etwas über die Sanierung veröffentlicht Zulassung oder Widerruf der Zulassung bei Wirkstof- hat. Damit soll ganz offensichtlich der Eindruck er- fen, die längere Abbauzeiten haben. weckt werden, als könnte man den verseuchten Bo- Solange der Versuch gemacht wird, mit technischen den mit technischen Hilfsmitteln wieder in Ordnung Mitteln unter Ausklammerung denkbarer politischer bringen. Ich darf zitieren, was Sie selbst in Ihrem Pa- Lösungen den Problemen beizukommen, werden wir pier schreiben: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12213

Kiehm Die Sanierung im üblichen Sinne bei einer Ver- heitsgemäß —, er sei es ja nicht gewesen, der diese unreinigung des Rohwassers mit Pflanzenschutz- vielen Mittel, 73 Mittel, in die Pflanzenschutzanwen- mitteln ist nicht möglich. Alle Maßnahmen müs- dungsverordnung habe aufnehmen wollen, das seien sen darauf abzielen, daß eine weitere Kontamina- vor allem Baden-Württemberg, Bayern und Nieder- tion durch die Verwendung der betreffenden Mit- sachsen gewesen. Die hätten alle Mittel, für die in der tel verhindert wird. Vergangenheit eine Auflage lediglich für W-3-Ge- Das kann auch ein Auftrag an Ihre eigenen Kollegen biete gegolten habe, in die Pflanzenschutzanwen- in anderen Ressorts sein, tätig zu werden. dungsverordnung hätten aufnehmen wollen. — Des- halb unterhalten Sie sich bitte auch mit Ihren eigenen (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Parteifreunden, wenn Sie so etwas sagen! Die Beseitigung der Ursachen von Kontamination muß vor technischen Maßnahmen zur Beseitigung be- (Zuruf von der SPD: Das ist überhaupt kein reits eingetretener Wasserverunreinigungen Vorrang Widerspruch!) haben. Frau Ministerin Lehr hat ja die ganze Palette der (Beifall bei der SPD) Gesetze, u. a. das Pflanzenschutzgesetz — ich habe die Pflanzenschutzanwendungsverordnung ange- Das heißt — jetzt will ich das mal nicht mit einem führt —, genannt, die wir novelliert haben. Das ist polemischen Unterton an die Regierung sagen —, daß insofern ein wichtiger Punkt, als ich Sie doch bitten die Zeit auf einmal zu einem politischen Faktor in die- möchte einzugestehen, daß hier sehr wohl konse- sem Zusammenhang geworden ist, dessen wir uns quent mit der Beseitigung der Ursache begonnen wor- wahrscheinlich nicht alle bewußt sind. Wenn wir im den ist. Umweltschutz mehr als Gefahrenabwehr betreiben wollen, dann müssen wir auch diesem politischen Herr Kiehm, Sie haben das Vollzugsdefizit beklagt, Faktor mehr Aufmerksamkeit zuwenden. und zwar völlig zu Recht, indem Sie das Wasserhaus- haltsgesetz angeführt haben. Ich muß Ihnen aber sa- Wenn es in der Antwort beispielsweise heißt, daß gen, daß wir als Deutscher Bundestag kein Entscheidungen nicht getroffen werden können, weil Wasser- ausweisen können. Die Frau Ministerin zeit- und kostenintensive Versuche abgeschlossen schutzgebiet und die Bundesregierung können es auch nicht. Wir werden müssen, um vermeintlichen Ansprüchen zu brauchen in der Bundesrepublik mehr und größere begegnen, daß Wasserschutzgebiete nur schleppend Wasserschutzgebiete. ausgewiesen werden können, daß behördliche Festle- gungen von Einzugsgebieten ausstehen, daß Abstim- (Zuruf von der SPD: Wir brauchen auch Ver mungsprozesse Jahre dauern, daß räumliche Festle- bote!) gungen bis zu 20 Jahre dauern, dann kann eine Poli- Sie können in der Antwort der Bundesregierung sehr tik, egal, von wem sie bet rieben wird, nicht mit An- genau erkennen, in welchen Bundesländern insofern stand auf Beruhigung nach draußen kämpfen, wenn besondere Defizite bestehen. Wenn Sie das auf dem sie das so hinnimmt, wie es ist. Wasserverbrauch oder auf die Bevölkerung umlegen, (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß gerade in Vorsorgepolitik muß also diese Zeitfrage einschlie- Ländern wie Nordrhein-Westfalen ein besonderer ßen und muß neue Prioritäten setzen im Hinblick auf Nachholbedarf besteht. Forschung, im Hinblick auf Administration, im Hin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — blick darauf, daß wir alle uns dieses Problem bewußt Zuruf von der SPD: Das war zu erwarten!) machen. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Vizepräsidentin Renger: Meine Damen und Herren, Vizepräsidentin Renger: Das Wort hat der Abgeord- ich schließe die Aussprache. nete Dr. Göhner. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksa- che 11/5261. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Dr. Göhner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der An- Kollegen! Ich habe mich nur deshalb gemeldet, weil trag ist abgelehnt. ich in einem Punkt widersprechen möchte. Herr Kiehm, Sie haben eben so getan, als wollte die Bun- Meine Damen und Herren, wir fahren mit den Bera- desregierung, als wollte die Koalition nur Technik ein- tungen entsprechend der Tagesordnung um setzen, statt an die Ursachen der Belastungen heran- 14.00 Uhr fort. Die Fragestunde entfällt, weil die zugehen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir Frage 7 des Abgeordneten Jäger, die noch übrig war, seit September letzten Jahres — das ist also jetzt exakt schriftlich beantwortet wird. *) seit einem Jahr in Kraft — eine neue Pflanzenschutz- Ich unterbreche die Sitzung. anwendungsverordnung haben, mit der wir 73 ver- - schiedene Pflanzenschutzmittelwirkstoffe in Trink- (Unterbrechung von 13.36 bis 14.00 Uhr) wassergewinnungsgebieten, in Wasserschutzgebie- ten, in Heilquellenschutzgebieten verbieten. Sie können natürlich sofort sagen, daß sei zuwenig. Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- Aber ich möchte hier einmal festhalten, daß z. B. Herr ren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Matthiesen durchs Land fährt und auf landwirtschaft- lichen Veranstaltungen verkündet — übrigens wahr- *) Anlage 2 12214 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vizepräsident Cronenberg

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf : tion und 11/798 der Koalitionsfraktionen — , u. a. mit Beratung der Zweiten Beschlußempfehlung der Aufforderung an die Bundesregierung, dem Bun- und des Berichts des Ausschusses für Raumord- destag nach Ablauf von drei Jahren einen umf assen- nung, Bauwesen und Städtebau (16. Aus- den Bericht über Bauschäden und Möglichkeiten zu deren Verhinderung und Beseitigung vorzulegen und schuß) dabei über die getroffenen Maßnahmen zu berich- zu dem Antrag der Fraktion der SPD ten. Bauschäden In der 46. Sitzung des Deutschen Bundestages am zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. 3. Dezember 1987 wurden die beiden genannten An- Kansy, Ruf, Dr. Vondran, Schwarz, Pfeffer- träge an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen mann, Sauer (Stuttga rt), Dr. Schroeder (Frei- und Städtebau — federführend — überwiesen. Bereits burg), Dörflinger, Ganz (St. Wendel), Dr. Stark am 17. Februar 1988, also nicht drei Jahre, sondern (Nürtingen), Magin, Fuchtel, Seehofer, drei Monate später — so schnell arbeitet die Bundes- Dr. Hüsch, Dr. Möller, Dr. Götz, Oswald, Deres, regierung, das Bundesbauministerium — , ist der Bayha, Börnsen (Bönstrup), Krey, Höffkes, Zweite Bericht über Schäden an Gebäuden mit Dr. Grünewald, Schemken, Schreiber, Müller Drucksache 11/1830 vorgelegt worden. (Wadern), Hinsken, Herkenrath, Wilz, Frau Bevor ich in der mir zur Verfügung stehenden Zeit Geiger, Weiß (Kaiserslautern), Biehle, Nelle, einige grundsätzliche und einige Detailfragen anspre- Schulze (Berlin), Glos, Frau Dr. Wisniewski, che, möchte ich namens der CDU/CSU-Bundestags- Dr. Kunz (Weiden), Graf von Waldburg-Zeil, fraktion dem BM Bau und allen Beteiligten im und Müller (Wesseling), Kalisch, Doss, Hauser (Ess- außerhalb des BM Bau für diesen 2. Bauschadensbe- lingen), Zierer, Carstensen (Nordstrand), richt Dank und Anerkennung aussprechen. Pesch, Link (Frankfurt), Dr. Schwörer, Niegel, Spilker, Reddemann, Dr. Czaja, Maaß, Werner (Beifall bei der CDU/CSU — Müntefering (Ulm) und der Fraktion der CDU/CSU sowie [SPD]: Da müssen Sie aber laut rufen; sonst der Abgeordneten Grünbeck, Nolting, Zywietz, hören die das nicht!) Frau Dr. Segall, Dr. Feldmann und der Fraktion — Die lesen es im Protokoll nach. der FDP cht über Schäden an Gebäuden Bauwerksschäden Dieser Zweite Beri zeigt die übergeordneten Zusammenhänge der — die — Drucksachen 11/343, 11/798, 11/4368 — Fachleute und die Öffentlichkeit beunruhigenden — Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- Schäden an Gebäuden und Bauwerken auf. Er ist kein richts des Ausschusses für Raumordnung, Bau- Leitfaden zur praktischen Behebung von Bauschäden. wesen und Städtebau (16. Ausschuß) zu der Für die Bewältigung dieser baupraktischen Probleme Unterrichtung durch die Bundesregierung bietet die Fachliteratur Informa tion und könnte die in Zweiter Bericht über Schäden an Gebäuden ihrer Bedeutung leider unterschätzte und damit mit Haushaltsmitteln unzureichend ausgestattete Baufor- Zwischenzeitliche Veränderungen und Er- schung Hilfen anbieten. folge bei der Schadensvorbeugung und Scha- densbeseitigung In diesem Zusammenhang begrüße ich — auch als Vorsitzender des Unterausschusses „Schwerpunkte — Zusätzliche Maßnahmen — der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bun- — Drucksachen 11/1830, 11/4368 — desministers für Raumordnung, Bauwesen und Berichterstatter: Städtebau" und als Mitglied des Forschungsrates der Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung — die Zif- Abgeordnete Conradi fer II/4 der Beschlußempfehlung auf Drucksache Ruf 11/4368. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor, und zwar auf Drucksache 11/5263. Doch zunächst einige Anmerkungen zum 2. Bau- schadensbericht der Bundesregierung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Hat das Haus etwas dagegen einzu- Dieser Bericht beschreibt in umfassender Weise die wenden? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so Schadensursachen, angefangen bei der fehlerhaften beschlossen. Planung und Ausführung von Neubauten über die Schadensursachen durch Umwelteinflüsse bis zu den Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Abge- Schäden durch Alterung und durch fehlerhafte Nut- ordnete Ruf das Wort. zung bzw. unterlassene oder fehlerhafte Instandhal- tung von Gebäuden. Ruf (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehr- Der 2. Bauschadensbericht nennt darüber hinaus ten Damen und Herren! Mit dem Thema Bauschäden als Fehlerquellen einige wesentliche Probleme, zu de- oder Bauwerksschäden beschäftigte sich der 16. Bun- ren Bewältigung auch die Bildungspolitik beitragen destagsausschuß, der Ausschuß für Raumordnung, könnte: unzureichende Qualifikation und Erfahrung, Bauwesen und Städtebau, bereits in der 10. Legisla- mangelnde Sorgfalt in Planung, Kostenermittlung und turperiode im Zusammenhang mit dem 1. Bauscha- Bauausführung; Verstöße gegen die anerkannten Re- densbericht der Bundesregierung. geln der Technik, einschließlich der Bauphysik und In der 11. Wahlperiode wurde das Thema wieder der Bauchemie; ungenügende wissenschaftliche Un- aufgegriffen — in den Anträgen 11/343 der SPD-Frak- tersuchung und Erprobung der Eignung von neuen Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12215

Ruf Baustoffen, Bauteilen und technischen Verfahren so- und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württem- wie fehlende Kenntnisse über deren Langzeitverhal- berg in Mannheim an, wo ausdrücklich festgestellt ten, das nach Aussagen der Wissenschaft im Labor- wurde: versuch nicht oder nur sehr schwierig zu ermitteln ist; oft unzureichende Ausbildung der Architekten in der Die VOB Bauausführung und Mangel an Fachpersonal beim — das gilt in ihrer Gesamtheit — Bauhandwerk und beim Ausbaugewerbe. ist als ein den Regeln von Treu und Glauben ent- In den Beratungen des Bundestagsausschusses für sprechendes Vertragswerk anzusehen, bei der Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, in einer öf- die Rechte und Pflichten von Auftraggebern und fentlichen Anhörung von Sachverständigen am 7. No- Auftragnehmern als ausgewogen angesehen vember 1988 und einem Symposium zum Zweiten werden können. Bauschadensbericht der Bundesregierung war man sich darüber einig, daß die jährlich auftretenden Bau- So der BGH. — Der VGH in Mannheim führt zur Frage schäden von 10 bis 14 Milliarden DM ein nicht mehr der Gewährleistungsfristen von zwei oder fünf Jahren vertretbares Ausmaß erreicht haben und alles getan weiter aus: werden muß, um den Schadensumfang zu vermin- ... weil unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dern. eine Verlängerung der Verjährungsfristen zu (Beifall bei der CDU/CSU) Baupreissteigerungen führen würde, so erscheint diese Erwägung nicht offensichtlich fehlerhaft. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, die Sachverständigen der öffentlichen An- Na ja, Juristendeutsch. honing und die Teilnehmer des erwähnten Symposi- Tatsache ist: Bei einer fünfjährigen Gewährlei- ums waren — auch im Hinblick auf den europäischen stungsfrist sind Baupreiserhöhungen bei normaler Binnenmarkt Ende 1992 — einmütig der Auffassung, Kalkulation unvermeidlich, weil dann statt zwei Jahre daß die Ausbildung aller am Bau Beteiligten verbes- lang fünf Jahre Avalkreditzinsen für den entsprechen- sert werden muß. Die konstruktiven und bauphysika- den Auftrag anfallen, nachdem für die Gewährlei- lischen Kenntnisse über Baustoffe, deren Eigenschaf- stungszeiten Bankbürgschaften verlangt werden. Und ten und Zusammenwirken zu Bauteilen müssen so in die kosten Zinsen. Den Nutzen einer grundsätzlich auf die Ausbildung integriert sein, daß sie bereits bei Pla- fünf Jahre VOB-widrig verlängerten Gewährlei- nung und Entwurf berücksichtigt werden. Hier wäre stungsfrist hätten deshalb ausschließlich die Kreditin- eine praktische Betätigung für angehende Architek- stitute — man schätzt auf 30 bis 40 Millionen DM im ten erforderlich und förderlich. Aber auch das Bau- Jahr — und nicht die Auftraggeber. Mit einer Bank- und Ausbauhandwerk ist gefordert, seinen Beitrag zur bürgschaft auf dem Papier ist nämlich noch kein ein- Bauschadensverminderung zu leisten. ziger Bauschaden verhindert oder beseitigt worden. In der Aus- und Fortbildung sollte auch die Pflege Die Bankbürgschaft kann ja erst in Anspruch genom- und Erneuerung alter Bausubstanz größere Bedeu- men werden, wenn das betreffende Unternehmen tung finden. Das Handwerk hat mit der Ausbildung nicht mehr existiert, um einen festgestellten Bauscha- von Restauratoren in verschiedenen Baubereichen die den selbst in Ordnung zu bringen. Zeichen der Zeit erkannt und in die Tat umgesetzt. Daß die fünfjährige Gewährleistungsfrist und damit Meine Damen und Herren, die in der Tagesordnung verbunden die fünfjährige Bankbürgschaft für einen angegebenen Anträge 11/343 der SPD und 11/798 der Auftrag den Kreditrahmen des ohnehin mit geringem Koalitionsfraktionen stimmen in Inhalt und Zielset- Eigenkapital ausgestatteten Baugewerbes erheblich zung weitgehend überein. Das ist wahrscheinlich dar- einschränkt, sei nur am Rande vermerkt. Abgesehen auf zurückzurufen, daß beide Berichterstatter aus der davon ist es unbillig und ungerecht, wenn der Liefe- Praxis der Bauwirtschaft kommen und ihre berufli- rant eines Bauteils oder Baustoffes nach den gültigen chen Erfahrungen in ihre parlamentarische Arbeit gesetzlichen Bestimmungen eine Materialgarantie einbringen konnten. von nur sechs Monaten zu leisten hat und die bauaus- führende Firma für ein verwendetes, ohne ihr Ver- (Müntefering [SPD]: Wir hatten eine gute schulden möglicherweise fehlerhaftes Bauprodukt auf Vorlage gemacht, die Sie gebrauchen konn- eigenes Risiko weitere viereinhalb Jahre haftet. ten!) (Müntefering [SPD]: Sie müssen an die Ver Die zunächst strittig diskutierte Frage, ob ein zu braucher denken, Herr Kollege! Das müssen schaffendes Bauinformationssystem, das alle Baube- Sie untereinander ausmachen! Denn die ha teiligten über die Möglichkeiten der Anwendung von ben den Schaden davon!) Baustoffen und Bauverfahren informiert, herstellerun- abhängig sein muß, konnte in den Ausschußberatun- Hier ist der Gesetzgeber gefordert, für eine Gleichbe- gen einvernehmlich gelöst werden. - handlung von Händler oder Lieferant und Verarbeiter zu sorgen. Unterschiedliche Beurteilung fand die Frage der Gewährleistungsfristen bei Bauleistungen von zwei Als praktizierender Handwerksmeister würde ich Jahren nach der VOB und von fünf Jahren nach BGB. gern noch etwas zu einem Thema sagen, das im Bau- Ich schließe mich in der Frage der Gewährleistungs- schadensbericht in der Abteilung V, Vorschläge, un- fristen bei Bauleistungen — ohne den angekündigten ter Ziffer 5.1 angesprochen ist: die Vergabe von Pla- Forschungsbericht damit in Frage stellen zu wollen — nungs- und Bauleistungen zu angemessenen Preisen. gern der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs Leider reicht meine Zeit dazu nicht mehr. 12216 Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Ruf Wie sieht es in der Praxis aus? — In der Regel wird verkehrsministers über die Schäden an deutschen der Auftrag an den billigsten Bieter vergeben, obwohl Kraftfahrzeugen oder keinen Autoschadensbericht es in der VOB und in der Rechtsprechung ausdrück- des Bundesumweltministers über die Schäden, die lich heißt, daß nicht der niedrigste Angebotspreis al- Autos anrichten? Warum gibt es keinen Be richt über lein entscheidend ist, sondern unter Berücksichtigung die Gesundheitsschäden aus deutschen Arzneimit- aller technischen, wirtschaftlichen und sonstigen Ge- teln? Oder warum gibt keinen Bericht sichtspunkte das annehmbarste Angebot den Zu- ab über die Gesundheitsschäden aus dem Verzehr schlag erhalten soll. deutscher Lebensmittel? Warum gibt es nur einen Bauschäden werden dann drastisch zurückgehen, Baumschadensbericht, aber keinen Wasserschadens- wenn Billigheimer, die oft auch illegal Leiharbeiter bericht? beschäftigen, von öffentlichen Aufträgen ausge- Ich stelle diese Frage nicht im Scherz. Die stürmi- schlossen werden und gegen die Schattenwirtschaft sche Entwicklung von Wissenschaft und Technik so- — sprich: Schwarzarbeit — und die damit hinterzoge- wie die ständigen Innovationen verursachen tiefgrei- nen Steuern und Sozialabgaben endlich wirksame fende Schäden: wirtschaftliche Schäden, ökologi- Maßnahmen ergriffen werden. Um nicht mißverstan- sche Schäden, kulturelle Schäden, auch seelische den zu werden: Ich verteidige weder den unbest ritten Schäden. Ich fand den Ausspruch des Bundespräsi- vorkommenden Pfusch am Bau, noch will ich Nach- denten bei der Automobilmesse „Rasen schadet der barschaftshilfe als Schwarzarbeit kriminalisieren. Seele" sehr gut, weil er deutlich macht, daß nicht Ich komme zum Schluß, nicht, weil ich nichts mehr jeder technische Fortschritt auch ein menschlicher zu sagen hätte, sondern weil meine Redezeit fast ab- Fortschritt ist. Der Glaube, der wissenschaftliche Fort- gelaufen ist. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die Fest- schritt werde automatisch zum menschlichen Fort- stellungen in der Ziffer I der Beschlußempfehlung der schritt führen, ist gründlich gestört worden. Die Zwei- Bundestagsdrucksache 11/4368 und bittet die Bun- fel nehmen bei uns allen zu, und die bohrenden Fra- desregierung, die in Ziffer II genannten Maßnahmen gen nach den Kosten dieses Fortschritts wachsen. in die Tat umzusetzen. Das gilt auch für den Bauschadensbericht. Ich fände Die von der Fraktion DIE GRÜNEN geforderte Ein- es gut, wenn wir häufiger — so wie hier beim Bau- richtung eines Sanierungsfonds durch die Bauwirt- schadensbericht — darüber reden würden: Welche schaft und die Bauindustrie lehnen wir aus grundsätz- Schäden bringt die technisch-wissenschaftliche Ent- lichen und ordnungspolitischen Erwägungen ab. wicklung mit sich, und wie lassen sich die Schäden (Frau Teubner [GRÜNE]: Das haben Sie vermeiden? Denn wie beim Bauen ist es auch bei falsch verstanden, vorsätzlich!) anderen Gebieten: Schäden zu vermeiden ist allemal Ein solcher Sanierungsfonds würde dem Verursacher- billiger, als Schäden entstehen zu lassen und sie hin- prinzip und dem Grundsatz der individuellen Verant- terher zu reparieren, wenn das überhaupt noch wortung im Zivilrecht widersprechen. Er paßte ledig- geht. lich in eine grüne Ideologie von der ökologischen (Frau Teubner [GRÜNE]: Die steigern das Umgestaltung unserer Wirtschaft, und die wollen wir Bruttosozialprodukt!) in dieser Form nicht. Erlauben Sie mir eine unfreundliche Anmerkung in Der Einbeziehung von historischen Bau- und Kunst- einer sonst freundlich gemeinten Rede: Einen denkmälern und von Verkehrsbauten einschließlich der durch den Verkehr bedingten Bauschäden in den Schadensbericht werden wir von der Bundesregie- rung gewiß nicht anfordern, nämlich den Be nächsten Bauschadensbericht der Bundesregierung richt über die sozialen, die wirtschaft stimmen wir ausdrücklich zu. lichen, die ökologischen und die menschlichen Schäden, die diese Bundesre- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. gierung mit ihrer verfehlten Wohnungspolitik des (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der „stop and go" und des Zuspät und des Zuwenig ange- SPD) richtet hat. Diesen Be richt werden wir den Bürgern selber vorlegen. Dann werden die Wähler nach dem Verursacherprinzip entscheiden, ob sie dieser Bun- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- desregierung noch einmal das Vertrauen geben. ordnete Conradi. (Dr. Möller [CDU/CSU]: Jetzt ist es genug!)

Conradi (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Der Bauschadensbericht ist eine informative und Herren! Zum zweitenmal legt die Bundesregierung gründliche Arbeit. Einige Defizite des ersten Berichts einen Bauschadensbericht vor, und zum zweitenmal sind aufgearbeitet worden. Im ersten Be richt aus dem diskutiert der Bundestag das Thema Bauschäden. Bei Jahre 1984 haben Sie die Bauschäden auf ungefähr den Bauleuten liegt die Frage nahe, warum nur über 5 Milliarden DM im Jahr geschätzt. Jetzt liegen die die Bauleute und über unsere Arbeit gesprochen wird.- Schätzungen bei 10 bis 14 Milliarden DM im Jahr, also Warum wird im Bundestag eigentlich nicht über die wesentlich höher, und zwar für alle Bauschäden, so- Schäden geredet, die andere Leute, andere Berufs- wohl für die umweltbedingten als auch für die pla- stände anrichten? nungs-, ausführungs- und baustoffbedingten Schä- den. Das sind erhebliche volkswirtschaftliche Schä- (Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Abgeordnete den. Aber auch im Einzelfall sind es natürlich schwere zum Beispiel!) Schäden, die einen kleinen Unternehmer oder einen — Darüber reden wir häufig, Herr Kollege. — Warum Bauherren, der ein Einfamilienhaus baut, wirtschaft- gibt es z. B. keinen Autoschadensbericht des Bundes lich ruinieren können. Dazu kommen die nicht bezif- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12217

Conradi ferbaren kulturellen Schäden an Baudenkmalen, und sichtiger zu verwenden. Eine längere Gewährlei- zwar nicht nur an Baudenkmalen der Vergangenheit, stungsfrist würde die Bauschäden in der Tendenz re- sondern auch an Baudenkmalen unseres Jahrhun- duzieren. Ich finde es traurig, daß Sie dazu nicht bereit derts. sind. Aber das kann sich ja noch ändern. Sie haben in Ihrem ersten Be richt aus dem Jahre (Ruf [CDU/CSU]: Sie sagten im Ausschuß, 1984 die Umweltschäden bagatellisiert. Das haben Sie Sie seien bei dem Thema kompromißbereit! jetzt korrigiert. Wir begrüßen das. Nach unserer Auf- Ich habe es nachgelesen!) fassung ist die Verringerung der Umweltbelastungen — Natürlich sind wir kompromißbereit, weil ich das die wichtigste Maßnahme, um Bauschäden zu verrin- Problem in seiner Tragweite auch für die Bauindustrie gern. erkenne, aber es muß auf diesem Gebiet etwas getan (Frau Teubner [GRÜNE]: Herr Ruf hat kein werden. Sie waren leider nicht bereit, das in die ge- Wort dazu verloren! — Gegenruf des Abg. meinsame Entschließung aufzunehmen. Dr. Penner [SPD]: Er gehört auch nicht der Das zweite strittige Thema ist die herstellerunab- Regierung an! — Ruf [CDU/CSU]: Ich habe hängige, praxisnahe Information über Bauprodukte. nur elf Minuten gehabt!) Sie wollten unserer Forderung nicht zustimmen. Aber — Verehrte Frau Kollegin, Herr Ruf hatte ja nur zehn eine „objektive und umfassende Bauproduktinforma- Minuten Redezeit zur Verfügung. Es redet ja noch ein tion" — so steht es jetzt im gemeinsamen Antrag — ist Vertreter der Regierung; er wird das alles sicher nach- natürlich nur möglich, wenn sie herstellerunabhängig holen. ist. Die Faktensammlung über Bauschäden, die das Fraunhofer-Institut für Raum und Bau vorgelegt hat, Im zweiten Bauschadensbericht sind viele richtige kann das nicht ersetzen. Außerdem darf das IRB ja Maßnahmen genannt, z. B. die Notwendigkeit einer keine Wertungen abgeben. systematischen Instandhaltung von Bauwerken, die Wer von Ihnen glaubt denn im Ernst, die Baustoffin- bessere Aus- und Fortbildung aller am Bau Beteilig- dustrie oder der Baustoffhandel seien wirklich daran ten, bessere Informationen durch die Bauindustrie interessiert, daß die Verbraucher qualifiziert und un- und die Baustoffindustrie und verstärkte Baufor- abhängig über ihre Produkte beraten werden? Das ist schung. Aber an die gesetzlichen Maßnahmen haben da doch nicht anders als bei der Automobilindustrie. Sie sich nicht so richtig herangetraut. Das ist jedenfalls Ich habe jedenfalls nicht vergessen, daß die Firma unser Eindruck. Da fehlte Ihnen der Mut, etwa bei der Daimler Benz einen Automobiltester und den Chefre- Gewährleistungsfrist oder den Instandsetzungspau- dakteur der „Bild"-Zeitung, Ihren späteren Regie- schalen. rungssprecher, jahrelang mit Millionen auf Schweizer Der Ausschuß ist in weiten Teilen einer Meinung. Konten bestochen hat, damit sie automobilfreundlich Die Anträge der Koalition und der SPD liegen nicht agierten. Es besteht kein Zweifel, daß die Bauindu- weit auseinander. Deswegen haben wir hier einen strie — Herr Kollege Ruf, Sie werden das nicht gerne gemeinsamen Antrag eingebracht. Es ist ja kein Feh- hören — , die bei ihren Frühstückskartellen ja auch ler, wenn wir bei allem notwendigen politischen Streit erhebliche Wendigkeit und Einsatzfreude bewiesen auf anderen Feldern in einer Sache einmal einer Mei- hat, versuchen wird, eine solche unabhängige Bau- nung sind. Die Wähler werden es allerdings nicht produktinformation zu beeinflussen. wahrnehmen, weil der Bundestag für die Medien nur (Ruf [CDU/CSU]: Wenn ich ein gutes Pro dann interessant ist, wenn wir ordentlich streiten. So dukt habe, kann mir das doch nur recht kommt bei den Wählern der Eindruck auf, wir seien sein!) immer im Streit. — Dann frage ich mich, warum Daimler so viele Mil- Der Kollege Ruf hat vorgetragen, welchen Inhalt der lionen DM an Herrn Boenisch und den anderen Herrn einvernehmlich vorgelegte Entschließungsantrag hat. bezahlen mußte. Ich will das nicht wiederholen, aber ich möchte auf zwei Punkte eingehen, in denen wir unterschiedlicher Wer glaubt denn hier, daß, wer zahlt, nicht auch Meinung sind und die wir in der Zukunft sicher noch anschaffen will? Das Bundesbauministerium, Herr weiter diskutieren werden. Staatssekretär, hat in dieser Frage keine ruhmreiche Rolle gespielt Der erste Punkt bet rifft die Gewährleistungsfristen. Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht: 80 % der (Beifall des Abg. Müntefering [SPD]) Baumängel, treten in den ersten fünf Jahren nach Fer- und hat die Minister schlecht beraten. Statt die Leute tigstellung auf. Dann kann die Gewährleistungsfrist heranzuziehen, die sich ernsthaft um eine hersteller- von in der Regel zwei Jahren nicht ausreichen. Das ist unabhängige Bauproduktinformation bemühen, statt einfach zu kurz, zumal ja, wie Sie richtig gesagt ha- die Handwerker und die Architekten zu fragen, die ben, die Gewährleistung für Baustoffe nur sechs Mo- darauf angewiesen sind, haben sie einseitig mit einem nate, die der Architekten hingegen fünf Jahre beträgt. - Fachverlag kooptiert, der eng mit der Baustoffindu- Das muß der Gesetzgeber in Ordnung bringen. strie und dem Baustoffhandel zusammenarbeitet. Die- Ich verstehe Ihren Hinweis, daß eine längere Ge- ser Fachverlag gehört auch noch dem Medienriesen währleistungsfrist die Baukosten möglicherweise et- Bertelsmann. Wieder einmal, wie bei Daimler Benz, was erhöhen könnte. Aber eine längere Gewährlei- hat die Bundesregierung mit einem Großunterneh- stungsfrist würde auch die Hersteller veranlassen, men gekungelt. sorgfältiger zu arbeiten und manche nicht erprobte Was für Bügeleisen und Skibindungen, was für Kaf- Methode oder manches nicht erprobte Mate rial vor- feekannen und für Kofferradios möglich ist — herstel- 12218 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Conradi lerunabhängige, objektive, we rtende Tests, an denen Das erschreckende Ausmaß an Bauschäden in der sich der Verbraucher orientieren kann — , das wird Größenordnung von jährlich bis zu 14 Milliarden DM durch Ihre Politik für den „Verbraucher Bauherrn" hat vielerlei Ursachen. Der von der Bundesregierung nicht möglich sein. Das bedauern wir. vorgelegte zweite Bauschadensbericht nennt in seiner Noch ein Wort zum Antrag der GRÜNEN. Sie haben Schadensanalyse drei große Gruppen von Schadens- mit Ihrer Forderung recht, daß die Mieter für Baumän- ursachen: einmal Schäden, die durch mangelhafte gel nicht zur Kasse gebeten werden sollen. Baumän- Planung, Bauausführung und Baustoffe verursacht gel zu beheben ist Sache der Eigentümer und soll es wurden, zum zweiten Schäden, die durch schädliche auch in Zukunft bleiben. Es stimmt auch, wie Sie sa- Umwelteinflüsse bewirkt werden, und drittens Schä- gen, daß es alle Bundesregierungen — nicht nur diese, den, die durch Nutzungs- und Alterungsprozesse her- sondern auch frühere — versäumt haben, die Instand- beigeführt werden. Dem entsprechend unterschied- haltungspauschale in den Mieten im sozialen Woh- lich müssen die Maßnahmen sein, die geeignet sind, nungsbau gesetzlich festzubinden. Das ist eine Bauschäden in Zukunft zu vermeiden bzw. zu beseiti- schwierige Aufgabe. Man sollte trotzdem darange- gen, wenn sie aufgetreten sind. hen. Ganz global läßt sich folgende Schlußfolgerung aus Die Herabsetzung der Instandhaltungspauschale, dem zweiten Bauschadensbericht treffen: Es geht die Sie fordern, wäre jedoch kontraproduktiv. Das künftig darum, erstens schädliche chemische und bio- würde den Mietern schaden. Das kann niemand ernst- logische Umwelteinflüsse zu verringern; zweitens die haft wollen. Forschungsvorhaben der Bauschadensforschung, die sowohl vom Bau- wie vom Forschungsministerium ge- Der Sanierungsfonds für die Bauwirtschaft, den Sie fördert werden, zu verstärken, ihre Ergebnisse für die vorschlagen, ist nach unserer Auffassung praxis- Praxis entsprechend umzusetzen und sie vor allen fremd. Außerdem widerspräche er dem Verursacher- Dingen miteinander besser zu koordinieren; drittens prinzip, das Sie doch sonst so tapfer vertreten. die Informationsmöglichkeiten über Bauschäden und Wir werden also — welche Überraschung — dem Vermeidungsmöglichkeiten durch verbesserte Bau- gemeinsamen Entschließungsantrag zustimmen, weil produktinformation und die Schaffung einer Daten- die Gemeinsamkeiten den Dissens überwiegen. In bank für alle Baubeteiligten zu verbessern; viertens vier Jahren werden wir hier den nächsten Bauscha- die Ausbildung und das Studium von Baufachleuten densbericht der Bundesregierung — ich hoffe, dann durch bessere Vermittlung bauphysikalischer Grund- einer anderen Bundesregierung — diskutieren. kenntnisse praxisgerechter zu gestalten und Pla- nungsfehler künftig zu vermeiden und fünftens die (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie hoffen aber Bestandspflege durch vertragliche Wartung und fort- vergebens, Herr Conradi!) schrittliche Instandsetzungsmethoden effizienter zu — Die Hoffnung ist das Stärkste. machen und bei den Beteiligten die dafür notwendige Einsicht zu fördern. Wir alle hoffen, daß die Bauschäden bis dahin nicht so zunehmen wie zwischen dem ersten und dem zwei- In Kapitel 5 des vorgelegten Berichts legt die Bun- ten Bauschadensbericht. Wenn unsere Arbeit im Aus- desregierung einen umfassenden handlungsorientier- schuß, wenn die Debatte hier, wenn der Entschlie- ten Katalog von Möglichkeiten zur Bauschadensbe- ßungsantrag etwas dazu beigetragen haben, dann hat grenzung und -verhinderung vor, der unsere volle es sich ja gelohnt. Unterstützung findet. Um diese Vorschläge aber auch durchzusetzen, bedarf es der intensiven Kooperation (Beifall bei der SPD) mit den Kultusministern der Länder und dem Bundes- bildungsminister, soweit Ausbildungsfragen und Stu- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- dieninhalte angesprochen sind, und der Zusammen- ordnete Dr. Hitschler. arbeit mit verschiedenen wissenschaftlichen Institu- tionen, soweit es den Forschungsbereich angeht, aber auch mit verschiedenen Verbänden der Bauwirt- Dr. Hitschler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- schaft, den Bauproduktenherstellern wie der Bauin- ehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst dustrie. an die unfreundliche Bemerkung des Kollegen Con- (Müntefering [SPD]: Und mit der Gewerk radi anknüpfen und sagen: Den denkbaren Schadens- schaft!) berichten, die Sie hier entworfen haben, Herr Con- radi, könnte man natürlich auch noch einen weiteren — Auch das. — Die erforderliche Kooperation zwi- hinzufügen, nämlich den Schadensbericht über die schen der Wissenschaft im Baubereich könnte und Schäden, die co op und Neue Heimat für Verbraucher sollte ein besonderer Schwerpunkt der Tätigkeit der und Mieter in dieser Bundesrepublik ange richtet ha- Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung ben. werden, die ja bereits ansehnliche praktische For- - schungsergebnisse vorzuweisen hat. (Dr. Penner [SPD]: Dann wollen wir auch den Schadensbericht von Herrn Flick anfüh- Auch die Bauwirtschaftsverbände, Architekten und ren!) Hersteller haben ihrerseits erste Schritte eingeleitet, um in der Bauwerkserhaltung voranzukommen, in- — Den können wir anfügen. Das wäre interessant. dem sie sich beispielsweise zu einem „Forum Bau- (Conradi [SPD]: Und welche Schäden von werkserhaltung" zusammengeschlossen haben, weil Herrn Lambsdorff auf die Staatskasse über- sie erkannt haben, daß der Bauwerkserhaltung eine tragen worden sind!) enorme volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12219

Dr. Hitschler Ganz aktuell konnten wir gestern die Meldung ver- ben dem, was Herr Kollege Conradi Ihnen dazu schon nehmen, daß der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft gesagt hat: Wenn man die entstehenden Kosten nicht Wohnbaumodernisierung einen Modernisierungs- über diese Pauschale zurückerstattet bekäme, würde kompaß für Hausbesitzer vorgelegt hat und daß das das auch dazu führen, daß, wie das in den zurücklie- Forschungsministerium beispielsweise ein Informa- genden Jahren beim p rivaten Mietwohnungsbau der tionssystem über gefährliche Stoffe beim Bau finanzi- Fall war, überhaupt niemand mehr bereit wäre, auch ell mit 4,7 Millionen DM fördert. Es geschieht hier also im sozialen Mietwohnungsbau zu investieren. etwas. Was Ihren Sanierungsfonds angeht, müssen wir Ih- Die Abstimmung der bei einem individuell geplan- nen sagen, daß gesetzliche Gewährleistungsfristen ih- ten Bauvorhaben eingesetzten Bauprodukte in ihrer ren Sinn haben und daß wir es gegenwärtig nicht für Wirkung aufeinander ist beispielsweise ein großes gerechtfertigt halten, eine darüber hinausgehende Problem, das des fachlichen Zusammenwirkens ver- Haftung gesetzlich zu normieren. — Schönen Dank. schiedener Experten bedarf, deren Erkenntnisse wie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) derum dem Bauherren zugänglich und transparent gemacht werden müssen. Hier kann und muß die Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- Bundesregierung Hilfestellung geben. Es ist daher zu ordnete Frau Teubner. hoffen, daß der von ihr edierte Leitfaden zur Bauin- standhaltung, der zur Zeit vergriffen ist, bald wieder (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Zu- in aktualisierter Fassung verfügbar ist. Auch die Bau- Frau Teubner hörerinnen und Zuhörer! Hier muß zunächst ein Text- schadensfibel mit ihren Hinweisen für Bauherren be- schaden korrigiert werden. Der Text der Berichterstat- darf der Fortschreibung und Aktualisierung. ter zur Beratung des Bauschadensberichts weist einen Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und gravierenden sinnentstellenden Fehler — wenn Sie Städtebau hat Ihnen Beschlußempfehlungen zu den mitblättern wollen — auf der letzten Seite auf. Ich Anträgen der Fraktionen und dem zweiten Bauscha- unterstelle natürlich keinen Vorsatz. Es ist aber zu- densbericht vorgelegt, die ich Ihnen ebenfalls zur An- mindest grobfahrlässig zu nennen, wenn eine Passage nahme empfehlen möchte. Der nächste, in vier Jahren falsch wiedergegeben wird, in der es um die wesent- zu erstattende und erweiterte Schadensbericht sollte lichen Konsequenzen geht, die die GRÜNEN aus der eigentlich ein Bauwerkserhaltungsbericht sein; denn ganzen Diskussion um die Bauschäden ziehen. Die die Zeit bis dahin muß nunmehr in der Tat zum Han- Vorredner sind ja auch schon darauf eingegangen. deln genutzt werden. Ich muß das hier natürlich auch für das Protokoll (Conradi [SPD]: Richtig!) richtigstellen. Was die durch Umwelteinflüsse verursachten Schä- den angeht, so gehen wir davon aus und erwarten, Vizepräsident Cronenberg: Frau Abgeordnete, daß die Fortschritte in der Umweltpolitik dann so weit wenn wir Ihnen diese Zeit zur Berichtigung — wenn gediehen sind, daß die insbesondere von den Luft- es denn zutreffend ist — nicht anrechnen, so kommen schadstoffen ausgelösten Schäden erheblich einge- Sie auf Ihre sechs Minuten. dämmt werden können und daß sich dies auch für unsere europäischen Nachbarländer feststellen läßt. Frau Teubner (GRÜNE): Das ist nett. Danke Die aufgetretenen Schäden an unseren Baudenkmä- schön. lern lassen uns nicht mehr viel Zeit zum Prüfen, Doku- Ziel unseres Ausschußantrages, den wir hier etwas mentieren, Diskutieren und Beraten. Die Zeit ist ge- modifiziert auch wieder einbringen, war nicht — wie kommen, etwas zu tun. hier unter III steht — , die Zweckbindung der Instand- (Zustimmung bei der SPD) haltungspauschalen zurückzunehmen, sondern ge- rade im Gegenteil eine solche Zweckbindung zu ge- Die Bundesregierung wird damit aufgefordert, or- währleisten. ganisatorische Vorbereitungen dergestalt zu treffen, (Conradi [SPD]: Richtig!) daß die Zuständigkeit gebündelt und die Verantwor- tung für die Koordinierungsaufgabe Bauwerkserhal- Diese Forderung erneuern wir heute in Gestalt dieses tung auf seiten der Verwaltung in einer Hand zentriert ergänzenden Änderungsantrages, der Ihnen vor- wird. Uns ist dabei klar, daß nachhaltige Erfolge nur liegt. zusammen mit den am Baugeschehen Beteiligten er- Der Bauschadensbericht sagt selbst: zielt werden können. Wir fordern deshalb die Bundes- Schäden an bestehenden Gebäuden können regierung auf, in engem Kontakt mit der Wirtschaft durch systematische Instandhaltung und recht- gemeinsame Beg riffe, Grenzwerte, Normen und Qua- zeitige Instandsetzung gering gehalten werden. litätstandards für die Bauwerkserhaltung zu entwik- Dies ist eine Binsenweisheit. Doch zeigt der Umfang keln und praxisgerecht zu gestalten. Nur zusammen der Schäden — gerade im Gebäudebestand der jün- mit den am Baugeschehen Beteiligten werden diese geren Baugeneration — , daß die Eigentümer nicht im Bemühungen von Erfolg gekrönt sein. Traum daran gedacht haben, die Instandhaltungspau- Den von den GRÜNEN vorgelegten Änderungsan- schalen für eben diesen Zweck auch einzusetzen. trag möchten wir, sowohl was die Nr. 5 als auch was Schließlich war es ja viel lukrativer — dies wäre es die Nr. 5 a angeht, zur Ablehnung empfehlen. Eine heute übrigens auch wieder — dieses Geld in neue Anpassung, sozusagen eine Rücknahme der Instand- Bauvorhaben zu stecken und die Mieterinnen und haltungspauschale, die DIE GRÜNEN empfehlen, Mieter über Mieterhöhungen für Reparaturkosten zur kann nicht vorgenommen werden. Frau Teubner, ne- Kasse zu bitten, die sie eigentlich längst im voraus 12220 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Teubner beglichen haben. Deshalb folgt hier dieser Antrag, die tem nicht in der Weise Rechnung, wie es angemessen Zweckbindung der Instandsetzungspauschale vorzu- und notwendig wäre. sehen. Um weitere Schäden abzuwenden, braucht es ne- Jedoch wäre selbst mit einer Zweckbindung der ben den Vorschlägen, die hier gemacht werden, ein Instandhaltungsrücklagen nur ein Teil der in giganti- verschärftes Immissionsschutzgesetz — die GRÜNEN schen Dimensionen gewachsenen Sanierungskosten haben dieser Tage einen solchen Entwurf vorgelegt — aufzufangen, und es wäre auch nur ein Teil der Ver- und vor allem eine andere Verkehrspolitik. Sonst ist antwortlichen in die Pflicht genommen. Um die Frage zu befürchten, daß es auch künftig leider noch viel der Verantwortlichkeit drückt sich allerdings die Arbeit für die Zunft der Baupathologen geben wird. Bundesregierung in ihrem Bericht. Sie will explizit, Danke schön. wie es heißt, keine Schuldzuweisungen ansprechen, (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord d. h. sie will keine Verantwortlichkeiten benennen. In neten der SPD) dem Hearing, das wir zu diesem Thema durchgeführt haben, sagte dazu einer der Experten ganz passend, das sei ein „diplomatisch feiger Opportunismus". Es Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Parla- werden keine Schuldzuweisungen gemacht. Es wer- mentarische Staatssekretär Echternach. den keine Verantwortlichkeiten benannt. Wieso und wozu auch, solange die Handlungsmaxime nicht der verantwortungsbewußte Umgang mit den Ressourcen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- und die Rücksicht auf das Wohl der Menschen ist, die ster für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: sich ein Leben lang in den Gebäuden aufhalten müs- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue sen, sondern das Interesse des freien Unternehmer- mich über die breite Zustimmung, die der zweite Bau- tums am schnellen großen Profit? Dies gilt auch im schadensbericht im Hause gefunden hat. Der Bauaus- Bauwesen; seien es die Baugesellschaften selbst, schuß hat ihn ja durch ein sehr fundiertes und um- seien es die Hersteller der Bauteile und Baustoffe. Sie fangreiches Anhörverfahren wirksam ergänzt. Auch werfen immer neue Produkte auf den Baumarkt und die Öffentlichkeit und die Fachwelt haben diesen in die Baumärkte, völlig unbekümmert um die Roh- zweiten Bauschadensbericht sehr positiv aufgenom- stoff- und Energiebilanz dieser Produkte, völlig unbe- men. kümmert um deren ökologische und gesundheitliche Folgewirkung. So haben sie z. B. jahrelang systema- Die Sorge wegen des Umfangs der Bauschäden tisch den über Jahrtausende bewährten Baustoff Holz wächst, und zwar mit Recht. Bauschäden machen mit Ultragiften verseucht, so daß Tausende von Men- nicht nur dem Bauherrn Ärger, der im Durchschnitt in schen die Wohnungen verlassen mußten, in denen sie den ersten fünf Jahren 22 000 DM für die Beseitigung unwissend dieses Holz verwendet hatten. Auch das von Bauschäden aufbringen muß. Sie bereiten auch gehört zum Thema Bauschäden. Die Baustoffprodu- ganz erhebliche volkswirtschaftliche Verluste. Sie be- zenten wissen sehr gut, warum sie sich weigern, die tragen jährlich 10 bis 14 Milliarden DM allein im Inhaltsstoffe ihrer Produkte zu deklarieren. Dies ge- Hochbau. Diese Summe ist viel zu hoch. schieht, weil ihnen deren Gefahrenpotential wohl zu (Müntefering [SPD]: Richtig!) bekannt oder aber völlig egal ist. Das ist etwa so viel, wie wir im Bundeshaushalt für die Wenn aber eine solche Deklaration der Inhalts- Bereiche Wirtschaft, Finanzen und Auswärtiges be- stoffe nicht möglich ist, dann müssen die Produzenten reitstellen. Ein so hoch industrialisiertes Land wie das wenigstens genötigt werden, sich über die gesetzli- unsere, das auf allen Gebieten hervorragende techni- chen Gewährleistungsfristen hinaus an der Beseiti- sche Leistungen vollbringt, kann sich eine so hohe gung der von ihnen zu verantwortenden Schäden zu Bauschadensquote auf die Dauer nicht leisten. beteiligen. Das widersp richt nicht dem Verursacher- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der prinzip, sondern es geht darum, daß man über diesen FDP und der SPD) Fonds eine Vorrichtung schafft, um die Schäden zu Nicht weniger wichtig als die wirtschaftlichen Ge- beheben, für die im nachhinein, nach Jahren, wenn sichtspunkte sind die Gefahren, die von Bauschäden sie auftreten, kein direkter Verursacher mehr festzu- für die bebaute Umwelt und für die Menschen selber stellen ist. ausgehen. Für diesen Zweck schlagen wir die Einrichtung ei- Der Bauschadensbericht untersucht im einzelnen nes Haftungsfonds für die Bauwirtschaft und die Bau- die Gründe für diese Schäden. Aber er will mehr. Er stoffindustrie vor. Denn man kann natürlich nicht alles will so weit wie irgend möglich Bauschäden vorbeu- auf den Sauren Regen schieben. Das wäre allzu be- gen und alle am Bau Beteiligten aufrufen, dazu ihren quem. Beitrag zu leisten. Viele Bauschäden könnten durch eine sorgfältige Planung, durch die richtige Auswahl (Müntefering [SPD]: Richtig!) - der Baustoffe und durch eine ordnungsgemäße Bau- Ein Wort muß dazu natürlich trotzdem gesagt wer- ausführung vermieden werden. den. Daß Schadstoffimmissionen als wesentliche äu- Das gilt auch für Maßnahmen an bestehenden Ge- ßere Ursachen von Bauschäden viel erheblicher redu- bäuden, die ja eine immer größere Bedeutung bekom- ziert werden müssen, als es bisher geschehen ist, ver- men und bei denen die Schadenshöhe relativ hoch ist. steht sich von selbst. Ihr zerstörerischer Einfluß auf die Auch hier könnten durch Wartung und Pflege, durch Substanz alter wie junger Bauwerke ist qualitativ und systematische Instandhaltung und rechtzeitige In- quantitativ gewaltig. Der Bericht trägt dem bei wei- standsetzung die Bauschäden deutlich reduziert wer- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12221

Parl. Staatssekretär Echternach den. Insofern, Frau Teubner, ist dieser Antrag der nicht nur um einen Verlag, nicht nur um die Baustoff GRÜNEN natürlich alles andere als hilfreich, die oh- industrie handelt, sondern auch um die Bundesarchi- nehin gerade auskömmlichen Instandhaltungsko- tektenkammer, die von Anfang an diese Baudaten- sten-Entschädigungen weiter zu reduzieren. bank unterstützt hat und in ihr aktiv mitarbeitet. Wir brauchen diese p ri (Frau Teubner [GRÜNE]: Die müssen dafür vate Initiative, und wir ergänzen sie auch. Wir ergänzen sie durch das Informationszen- verwendet werden!) trum Raum und Bau der Fraunhofer-Gesellschaft. Mit —So ist es. Aber Sie wollen sie ja generell zurückneh- Unterstützung aus Bundesmitteln wird von ihr zur Zeit men. Sie wollen ja nicht nur eine Zweckbindung der Arconis-Service aufgebaut. Dadurch soll der Zu- — die ist ohnehin vorgesehen — , sondern Sie wollen gang zu Datenbanken erleichtert und dem Praktiker ja auch die ohnehin kaum auskömmlichen Instandhal- der Zugriff auf Daten, Gutachten, Forschungsberichte tungspauschalen — sprechen Sie mal mit den Leuten und andere Informationsquellen erleichtert werden. aus der Praxis! — weiter reduzieren. Auch der Bundesbauminister selbst informiert. Wir Wichtig ist erstens die Verbesserung der Ausbil- informieren durch die Bauschadensfibel, durch den dung. Wir brauchen einen stärkeren Baupraxisbezug Leitfaden für die Instandhaltung. sowohl im Studium als auch in der Ausbildung. Bei Planern und Bauausführenden fehlen vielfach Grund- Schließlich sollten auch unsere Bauvorschriften kenntnisse über Baukonstruktionen, Bauchemie, Bau- und technischen Normen weiter verringert und ver- physik, Baustoffe und Baubetrieb. Im Anhörverfahren einfacht werden; denn unsere rechtlichen und techni- ist das ja noch einmal sehr deutlich geworden. schen Vorschriften müssen für den Baupraktiker überschaubar und hilfreich bleiben. An den Fachhochschulen und Universitäten wird oft praxisfernes Wissen weitergereicht. Die derzeit übli- Der zweite Bauschadensbericht untersucht und chen Praktika von nur wenigen Wochen sind dafür mahnt nicht nur, er listet auch auf, daß eine ganze kein Ersatz. Wesentlich besser wäre ein umfassendes Reihe von Empfehlungen, die der erste Bauschadens- Praktikum oder gar eine handwerkliche Ausbildung bericht gegeben hatte, bereits erfolgreich umgesetzt vor dem Studium. worden sind. Deshalb bin ich optimistisch, daß es uns gelingen wird, auch die Empfehlungen des zweiten (Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Bauschadensberichtes gemeinsam mit allen Beteilig- Ich appelliere deshalb an die Kultusminister der Län- ten zu realisieren und die hohe Schadensquote deut- der, das Studium und die Ausbildung besser auf die lich abzusenken. Praxis auszurichten und sich nicht länger der überfäl- Unser Ziel ist es, mängelfreies Bauen zum unbestrit- ligen Reform der Ingenieur- und Architektenausbil- tenen Markenzeichen der deutschen Bauwirtschaft zu dung zu verschließen. machen. Dann wird es ihr auch um so leichter fallen, in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der künftig noch härteren Konkurrenz auf dem euro- päischen Baumarkt ihren Platz zu behaupten und aus- Lehre und Praxis müssen sich auch im Baubereich zubauen. wieder aufeinander zu bewegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir brauchen zweitens eine Verstärkung der beruf- lichen Fort- und Weiterbildung. Naturwissenschaft und Technik entwickeln sich so rasant, daß Handwer- ker, Ingenieure, Architekten nicht auf dem Wissens- stand ihrer Ausbildung stehenbleiben können. Hier Vizepräsident Cronenberg: Meine Damen und Her- sind die Fachverbände der Architekten und Inge- ren, ich schließe die Aussprache. nieure, die Kammern, aber auch die Bauwirtschaft Wir kommen nunmehr zur Abstimmung, und zwar selbst gefordert. Gerade wegen der Beschränkung der zunächst einmal über den Änderungsantrag der Frak- Studienzeit, aber auch wegen der mangelhaften tion DIE GRÜNEN. Er liegt Ihnen auf Drucksache Orientierung der Lehrinhalte an der Baupraxis ist die 11/5263 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? berufliche Fortbildung von großer Bedeutung. Ausrei- — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Ände- chende Qualifikation verringert nicht nur das Scha- rungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU densrisiko, sondern stärkt auch die Bereitschaft, mehr und der FDP abgelehnt worden. Eigenverantwortung zu übernehmen. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Wichtig sind drittens verläßliche und ausreichende Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumord- Informationen über die Baustoffe, über ihre Eigen- nung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache schaften und ihre Verträglichkeit mit anderen Mate- 11/4368. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? rialien. Über 40 000 Produkte sind allein in unserem —Damit darf ich feststellen, daß die Beschlußempfeh- Land zu überprüfen und vergleichbar darzustellen. lung einstimmig angenommen worden ist. Die Aufbereitung dieser Informationen wird uns nur - mittels der Datenverarbeitung so gelingen, daß sie Im übrigen möchte ich nicht versäumen, mich bei auch in der Praxis genutzt werden können. allen Rednern zu bedanken. Fast alle haben die Rede- zeit nicht ausgenutzt. Seit vier Monaten befindet sich die Baudatenbank GmbH im Aufbau, die ich im Gegensatz zu Ihnen, Meine Damen und Herren, nun kommen wir zum Herr Conradi, nicht kritisiere, sondern sogar als einen Tagesordnungspunkt 7. Es handelt sich hier um die Fortschritt begrüße. Ich habe Ihre K ritik nicht ganz Beratung einer Reihe von Vorlagen ohne Aussprache, verstanden, wenn man bedenkt, daß es sich hier ja über die also nur abgestimmt werden muß. 12222 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vizepräsident Cronenberg Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a auf: flügel und Bruteiern sowie für ihre Einfuhr aus Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Drittländern von der Bundesregierung eingebrachten Ent- — Drucksachen 11/4337 Nr. 10, 11/5041 — wurfs eines Gesetzes zum Europäischen Über- Berichterstatterin: einkommen vom 16. Mai 1972 über Staatenim- Abgeordnete Frau Flinner munität Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diese — Drucksache 11/4307 — Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlun- ausschusses (6. Ausschuß) gen gegen die Stimme des Abgeordneten Conradi bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenom- — Drucksache 11/5132 — men. Berichterstatter: Abgeordnete Geis Wiefelspütz Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 e bis 7 h auf: (Erste Beratung 140. Sitzung) e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Ich rufe das Gesetz mit seinen A rt. 1 bis 4, Einlei- tionsausschusses (2. Ausschuß) tung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfoh- Sammelübersicht 126 zu Petitionen lenen Änderungen auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen — Drucksache 11/5185 — wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer enthält sich der Stimme? — Gegenstimmen? — Dann ist das f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Gesetz bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN tionsausschusses (2. Ausschuß) ohne Gegenstimmen angenommen. Sammelübersicht 127 zu Petitionen — Drucksache 11/5186 — Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 b auf: g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechts- ausschusses (6. Ausschuß) Sammelübersicht 128 zu Petitionen — Drucksache 11/5187 — Übersicht 13 h) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- tionsausschusses (2. Ausschuß) ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht Sammelübersicht 129 zu Petitionen — Drucksache 11/4789 — — Drucksache 11/5188 — Berichterstatter: Es erhebt sich kein Widerspruch, wenn ich über die Abgeordneter Helmrich Drucksachen insgesamt abstimmen lasse. — Das ist der Fall. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß- Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsaus- empfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜ- schusses auf den Drucksachen 11/5185 bis 11/5188 NEN angenommen. zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind diese Beschlußempfehlungen bei Enthaltung der Fraktion Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 c und 7 d auf: DIE GRÜNEN angenommen. c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Land- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7i auf: wirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung i) Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Ra- schäftsordnung (1. Ausschuß) tes über viehseuchenrechtliche Fragen beim Antrag auf Genehmigung zur Durchführung innergemeinschaftlichen Handel mit Embryo- nen von Hausrindern und ihre Einfuhr aus eines Strafverfahrens dritten Ländern — Drucksache 11/5200 — — Drucksachen 11/4238 Nr. 2.9, 11/5040 — Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Nichtbetei- Berichterstatter: ligung einiger Abgeordneter einstimmig angenom- Abgeordneter Paintner - men. d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Land- wirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) zu der Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie die Zusatzta- Unterrichtung durch die Bundesregierung gesordnungspunkte 3 bis 5 auf: Vorschlag für eine Verordnung des Rates über a) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau die viehseuchenrechtlichen Bedingungen für Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN den innergemeinschaftlichen Handel mit Ge eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12223

Vizepräsident Cronenberg richtung einer Stiftung „Entschädigung für Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit NS-Zwangsarbeit" Haushaltsausschuß — Drucksache 11/4704 — ZP3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: regierung Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß Verbesserung der in den Richtlinien der Bun- Finanzausschuß desregierung über Härteleistungen an Opfer Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnah- Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO men im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfol- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau gengesetzes vorgesehenen Leistungen und Er- Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN leichterungen bei der Beweisführung Politische und rechtliche Initiativen der Bun- — Drucksache 11/5164 — desregierung gegenüber den Nutznießern der Überweisungsvorschlag: NS-Zwangsarbeit Innenausschuß (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 11/4705 — Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Innenausschuß (federführend) Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU Auswärtiger Ausschuß und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung der FDP Haushaltsausschuß Bericht über private Initiativen im Zusammen- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau hang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Dr. Vollmer, Dr. Lippelt (Hannover) und der Weltkriegs Fraktion DIE GRÜNEN — Drucksache 11/5254 — Individualentschädigung für ehemalige polni- ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau sche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbei- Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU ter unter der NS-Herrschaft durch ein Global- und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion abkommen der FDP — Drucksache 11/4706 — Bericht über den Härtefonds für Nationalge- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: schädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar Innenausschuß (federführend) der Vereinten Nationen Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 11/5255 — Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungs- Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für punkte 90 Minuten vorgesehen. Erhebt sich dagegen NS-Unrecht" Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so be- schlossen. — Drucksache 11/4838 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- des Ältestenrates:—Überweisungsvorschlag ordnete Frau Dr. Vollmer. Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Frau Dr. Vollmer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Haushaltsausschuß Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 10 Millionen e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Menschen wurden unter der NS-Herrschaft zur Aufstockung des Härtefonds für Nationalge- Zwangsarbeit verpflichtet, die auch das Europäische schädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar Parlament heute richtig als „Sklavenarbeit" kenn- der Vereinten Nationen zeichnet. Niemand, der heute über 55 Jahre alt ist und hier lebt, kann sagen, er habe davon nichts gewußt. — Drucksache 11/4841 — Unter unsäglichen und erniedrigenden und demüti- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: genden Bedingungen haben Frauen und Männer in Innenausschuß (federführend) der Landwirtschaft, in den Kommunen, in den Firmen Auswärtiger Ausschuß mit den illustren Namen von deutschem Weltruf, in Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung den Arbeitslagern und KZs ihre Arbeitskraft einsetzen Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß müssen. Psychische Schäden haben alle aus dieser Zeit davongetragen, gesundheitliche viele, nicht we- f) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD nige sind jenem Programm der „Vernichtung durch Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für Arbeit" zum Opfer gefallen. Zwangsarbeit war die all- Zwangsarbeit" täglichste, die hautnaheste, die jedermann in jedem Dorf, in jeder Stadt einsehbare Form des NS-Un- — Drucksache 11/5176 — rechts. Überweisungsvorschlag: Nach der Kapitulation legte das Innenausschuß (federführend) Nürnberger Tribu- Auswärtiger Ausschuß nal der Siegermächte fest, daß eine Verpflichtung Rechtsausschuß zum Schadenersatz für Zwangsarbeit und Depo rta- 12224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Dr. Vollmer tion für das deutsche Reich bestünde. Man hätte also einmal durch den Wortlaut des Abkommens gerecht- annehmen können, daß es gar keine Rückkehr der fertigt. Sie stellt es geradezu auf den Kopf. beiden deutschen Staaten in die Völkergemeinschaft hätte geben dürfen, ohne daß die Zwangsarbeiterin- Das Abkommen nämlich stellt zunächst nichts mehr nen und Zwangsarbeiter zumindest eine Entschädi- dar und wollte nichts mehr sein als eine Übergangs- gung für die ihnen von deutschen Firmen und Kom- regelung. Es war von allen Beteiligten beabsichtigt, munen zugefügten Quälereien durch Arbeit erhalten die Bundesrepublik nicht in einem Schlag mit einer hätten. Aber das Gegenteil geschah, und wir haben solchen Fülle von finanziellen Forderungen zu über- uns heute zu fragen: Wie kam es eigentlich dazu, daß schütten, daß ihre Volkswirtschaft darunter zerbre- diese Frage nicht ein einziges Mal auf den Tisch die- chen würde. Dahinter steckt immerhin eine realisti- ses Hohen Hauses gekommen ist? Wie kam es, daß sche Einschätzung des wirklichen, gigantischen Um- niemals darüber diskutiert wurde, daß das soge- fangs der von Deutschen verursachten Schäden und nannte Wirtschaftswunder und der traumhafte Auf- Verbrechen. Das Londoner Schuldenabkommen schwung deutscher Firmen zur Weltspitze eine sehr, sollte deswegen der Bundesrepublik zunächst ermög- sehr blutige Vorgeschichte haben? Es ging um das lichen, eine „blühende Volksgemeinschaft" innerhalb Eingeständnis einer Schuld, einer millionenfachen der westlichen kapitalistischen Wirtschaftssysteme zu Ausbeutung, und es ging immer um sehr viel Geld. werden. Gleichwohl bezog es sich allein auf repara- tionsrechtliche Forderungen, wozu nach Auffassung Die Bundesrepublik, oder besser: die Bundesregie- der Weststaaten die Zwangsarbeit nicht gehörte. rung und die betreffenden Firmen waren in den Jah- ren der Gründung dieser Republik nicht bereit, diese Daß wir mit dieser Auffassung richtig liegen, läßt dunkle, diese brutale Seite der Rechtsnachfolger sich allein daraus ersehen, daß wenige Jahre später, schaft des Deutschen Reiches anzutreten, die sie doch im Jahre 1956/57, die Weststaaten nun erneut an die auf der Sonnenseite so gern für sich in Anspruch nah- Bundesregierung herantraten, um ihren Anteil der men. Nichts drückt dies so deutlich aus wie die Ver- Entschädigung für die bei ihnen lebenden ehemali- ankerung des Territorialitätsprinzips in den Entschä- gen Zwangsarbeiter zu beantragen. Am 21. Juni 1956 digungsgesetzen. So brutal das ist: Wer nicht Deut- sah sich die Bundesregierung Bleichlautenden Noten scher war oder es nicht mehr sein wollte, wozu es gute von immerhin acht Weststaaten gegenüber, die eine Gründe gab, der war und blieb von allen Entschädi- Entschädigung verlangten. In den folgenden Jahren gungsleistungen ausgeschlossen. schloß dann auch die Bundesregierung mit diesen Weststaaten mehrere Globalverträge und fand dabei Weiterhin hat man Wert darauf gelegt, Entschädi- einen historischen Kompromiß. gungszahlungen überhaupt nur gegenüber den West- staaten zu erwägen, obwohl bekanntlich die meisten Im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes Opfer des Nationalsozialismus in Osteuropa leben. wurde zwar die Zwangsarbeit nicht entschädigt, aber die Weststaaten konnten aus den mit ihnen geschlos- Den Zwangsarbeitern schließlich hat man das ih- senen Globalabkommen an ihre Bürger Zahlungen nen zugefügte Unrecht überhaupt ganz und gar be- leisten. Dieses Faktum war der Bundesregierung auch stritten. Es sei gar kein NS-Unrecht gewesen, so hieß bekannt, ja es wurde von den Hofberichterstattern des es noch in späten Berichten der Bundesregierung, Bundesfinanzministeriums ausdrücklich bestätigt. sondern es habe nur der Kriegswirtschaft gedient, sie zu erhöhtem Arbeitseinsatz zu zwingen, und das sei Die im Londoner Schuldenabkommen aufgetrage- schließlich bei allen Kriegen normal. Diese abenteuer- nen Belastungen waren schon nach wenigen Jahren liche Rechtsauffassung wurde schließlich sogar noch abgegolten, ja man war sogar froh, durch vorzeitige vom Bundesgerichtshof aufrechterhalten und bestä- Tilgungen den hohen Devisenüberschuß abtragen zu tigt, ein weiteres Beispiel dieser gigantischen Selbst- können. Mit uns ging es also aufwärts, immerzu brutal entlastungskampagne der deutschen Justiz. aufwärts. Und je reicher wir wurden, um so weniger waren wir bereit zu zahlen. Die historische Absicht Eines fällt auf: Die Bundesrepublik stand allein da des Londoner Schuldenabkommens, die „blühende mit ihrer Rechtsauffassung, Zwangsarbeit sei kein Volksgemeinschaft" bei uns, war längst erfüllt. Jetzt NS-Unrecht, ja sie war sogar von seiten der westlichen aber wurde es für deutsche Politiker erst gerade lukra- Siegermächte als Bedingung der Souveränität aus- tiv, immer wieder auf dieses Abkommen verweisen zu drücklich aufgefordert worden, den Opfern der NS- können. Hätten wir es nicht damals schon gehabt, wir Herrschaft eine Entschädigung für die an ihnen be- hätten es regelrecht erfinden müssen. gangenen Verbrechen zu erbringen. Im Februar 1953 wurde das legendäre Londoner Seit wir, die GRÜNEN, die ersten Initiativen in be- Schuldenabkommen mit den Weststaaten geschlos- zug auf Zwangsarbeit gemacht haben — und dies ist sen. Auf dieses beruft sich die Bundesregierung seit- inzwischen schon unsere dritte — , wurde uns von wohlmeinenden Politikern aller Fraktionen immer zu- dem notorisch und unbeirrt. Und das hat ungeheures- Unrecht verursacht. geflüstert: Laßt das Ding lieber ruhen, es kommt uns doch zu teuer. Ich finde, es ist heute endlich an der Die Aussage, die Bundesrepublik sei durch das Lon- Zeit, mit dieser historischen Lüge, mit diesem wohl- doner Schuldenabkommen gehindert, Zahlungen an meinenden Einverständnis in den Betrug von Men- Zwangsarbeiter vorzunehmen, ja sie würde sozusa- schen und ihrer Rechte zu brechen. Der Deutsche gen vertragsbrüchig gegenüber den anderen Staaten, Bundestag muß erklären: Zwangsarbeit war NS-Un- ist eine gigantische Lüge und Betrügerei, eine der recht und begründet damit einen Anspruch auf Ent- größten unserer Nachkriegsgeschichte. Sie ist nicht schädigung. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12225

Frau Dr. Vollmer Dabei sind zwei Dimensionen des Unrechts deutlich kleine Freundlichkeit haben, die Zwangsarbeiter we- zu unterscheiden: das Unrecht, das durch die Ver- nigstens in der Rentenversicherung soweit zu berück- schleppung und Inhaftierung Haftschäden hervorge- sichtigen, daß diese schrecklichen Jahre bei ihrer rufen hat, und die Forderung, einbehaltenen Lohn zu armseligen Altersrente nicht als Null-Bilanz zu Buche entschädigen. Diese letzte Forde rung trifft den Staat schlagen, wie es zur Zeit der Fall ist. Im Augenblick ist und die Privatwirtschaft in gleicher Weise, denn beide es nämlich so, daß ihnen für diese Jahre nicht einmal haben sich durch die Zwangsarbeit erheblich berei- diese Zeit bei ihrer Rente angerechnet wird. chert. Danke schön. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeord An beide muß man deswegen auch herantreten, neten der SPD) wenn man wirklich mindestens eine symbolische Ent- schädigung will. Um nichts anderes handelt es sich nämlich bei unserem Antrag: Es geht im Grunde ge- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- nommen nur noch um eine symbolische Entschädi- ordnete Frau Professor Wisniewski. gung, allerdings mit einem ökonomischen Kern. Des- wegen finden wir so viel Widerstand. Wir sind längst (CDU/CSU): Herr Präsident! darüber verzweifelt, bei den Kräfteverhältnissen in Frau Dr. Wisniewski Meine Damen und Herren! Die unbegreiflichen Un- diesem Bundestag eine nur annähernd angemessene rechtstaten nationalsozialistischer Machthaber an Entschädigung zu erreichen. Deutschen und Ausländern sind auch heute noch, Es ist deswegen besonders schäbig und auswei- 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, bit- chend, es ist die alte Verzögerungstaktik, wenn die tere Realität. Viele der Opfer von Inhaftierung in Kon- Regierungskoalition jetzt einen Be richt der Bundesre- zentrationslagern, Verschleppung, Zwangsarbeit un- publik zu den privaten Initiativen fordert, durch die ter menschenunwürdigen Bedingungen, Vertreibung, Zwangsarbeiter eine ärmliche Lohnnachzahlung er- Ermordung naher Angehöriger, Zwangssterilisation halten haben. Meine Damen und Herren von der Re- und Verfolgungen aller Art sind noch unter uns. gierungskoalition, Sie sollten einmal das Buch „Lohn Wir können das Geschehene nicht ungeschehen des Grauens" von B. Ferencz lesen, um zu sehen, wie machen. Aber wir können Zeichen unserer tiefen Be- entsetzlich es war, wenn einzelne versucht haben, ihr troffenheit setzen und das erlittene Leid mildern. Dem Recht durchzusetzen, und dabei immer wieder im dient die Wiedergutmachungsgesetzgebung, die Nichts gelandet sind. gleich nach Kriegsende im Jahre 1946 einsetzte. Unser Ansatz ist folgender: Der Bund selbst muß in Neben den immer wieder erschreckenden Zahlen, Vorkasse treten und mit rechtlichen und politischen die das Vernichtungswerk der Nationalsozialisten Mitteln versuchen, von den Firmen das Geld einzufor- kennzeichnen, sind es gerade die Einzelschicksale, dern, um das Stiftungsvermögen vorzufinanzieren. die betroffen machen. Das geschieht etwa, wenn man Wir wollen aber auch nicht, daß Zahlungen wiede rum in dem Band „Verjagt, ermordet. Zeichnungen jüdi- nur an ehemalige deutsche Zwangsarbeiter gehen. scher Schüler von 1936 bis 1941" blättert und so er- Die Mehrzahl der Anspruchsberechtigten lebt heute schütternde Bilder wie etwa jenes anschaut, das noch in den Ländern Osteuropas. Für diese Men- „Hiob" genannt ist und das zeigt, wie ein Mensch schen, die bisher von jeglicher Entschädigung ausge- seine Qual hinausschreit. Es scheint ein Kind zu sein. schlossen waren, haben wir beispielhaft die Bürger Ilse Marx war Schülerin der 9. Klasse, als sie dieses Polens genannt. Für alle diese besteht nicht nur eine Bild im Jahre 1936 malte. besondere historische Verpflichtung gerade heute; Es gibt andere Bilder, die ebenso erschütternd sind, viele leben auch in bitterster Armut. Deswegen wollen etwa das von Spinn-Conradts „Stadtbild: Von hier aus wir auch keine Schlechterstellung der ausländischen deportiert". Von einer Litfaßsäule lächelt scheu eine NS-Opfer, wie es der SPD-Antrag in der jetzigen Form alte Frau, wie um Nachsicht und Erbarmen bittend. Im vorsieht. Hintergrund ist der Bahnhof Düsseldorf-Bilk zu sehen, Der von uns genannte finanzielle Beitrag schließt von dem die Deportationszüge abgingen. zivilrechtliche Prozesse ausdrücklich keineswegs aus. Das bekannt Gemälde von Nußbaum — das übri- Er will aber bewußt den Ausbau eines neuen bürokra- gens im historischen Museum in Berlin zu sehen sein tischen Apparates vermeiden, der den Betroffenen mit wird — zeigt eine jüdische Familie, der Vater im jüdi- komplizierten Berechnungen und Beweisverfahren schen Trauergewand, und auch alle anderen blicken ihre Ansprüche wiede rum bestreitet und kleinlich zu- der Ausweglosigkeit entgegen. mißt. Allen diesen genannten Bildern gemeinsam sind In unserem Entwurf sind die notwendigen renten- die unendlich traurigen Augen der Menschen, die rechtlichen Verbesserungen für die Zwangsarbeiter lebten und fühlten wie wir alle und die nur wegen noch nicht enthalten. Wir werden aber in allernäch- - ihrer Abstammung einer gnadenlosen Ideologie und ster Zeit eine Initiative im Rahmen des Rentenreform- den von ihr verblendeten Menschen zum Opfer fielen. gesetzes starten, um auch hier das Notwendige nach- Ich erinnere an diese Bilder deshalb, weil ich glaube, zuholen. daß wir in Zukunft noch stärker als bisher auch eine Ich sehe, daß überall an einer großen Koalition ge- Art der geistigen Wiedergutmachung versuchen müs- bastelt wird. Wenn Sie in den Beratungen über die sen. Rentenreform schon so viele sind und sich in so großer (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Vielleicht f an Gemeinsamkeit befinden, könnten Sie vielleicht die -gen wir langsam mit dem Materiellen an!) 12226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Dr. Wisniewski Solche Bilder wie diese und ihre Botschaften müssen Statt einer Stiftung wurden 1980 und 1981 — also in stärker bekanntgemacht werden, und die kulturellen den Zeiten der sozialliberalen Koalition — Ergän- Einrichtungen, die uns bewußt machen, daß diese gei- zungsregelungen durch Wiedergutmachungsfonds stigen Werke vorhanden sind, müssen besser geför- begonnen, die heute noch bestehen und weiter aus- dert werden. Es ist ein ungeheurer geistiger Verlust, gebaut werden. der unserem Volk durch die Vertreibung so vieler In der 10. und 11. Legislaturperiode wurden die hochbegabter Menschen entstanden ist. Natürlich Pläne zur Errichtung einer Stiftung von den jetzigen sind diese Bilder auch eine Mahnung an das, was wir Oppositionsfraktionen erneut aufgegriffen. Diesmal im Moment tun müssen, nämlich an das Bemühen, die lehnten die Koalitionsfraktionen diese Vorschläge ab Wiedergutmachung, die finanzielle Wiedergutma- und entschlossen sich, die Fondslösung weiterzufüh- chung, fortzuführen und zu verbessern. ren. Der Deutsche Bundestag hat sich also bereits mehrmals gegen Stiftungslösungen entschieden und Auch die heute hier zur Beratung anstehenden Vor- ist auf dem Weg geblieben, der mit den Fondsgrün- lagen sind Ausdruck dieses Bemühens, aus der histo- dungen von 1980 und 1981 eingeschlagen wurde. rischen Verantwortung für das geschehene Unrecht heraus für die Betroffenen Hilfe zu leisten, um die Lei- Erlauben Sie eine Zwischenbemerkung: Diese we- den wenigstens etwas zu mildern; ungeschehen kann nigen Daten aus der langen Geschichte der Wieder- niemand von uns das Geschehene machen, und finan- gutmachungsbemühungen des Deutschen Bundesta- zielle Entschädigung kann weitgehend nur Zeichen ges sein für den guten Willen, der hinter diesem Bemühen (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Eine lange Tra um Wiedergutmachung steht. Mitleid und Betroffen- gödie!) heit, die wohl jeden immer erneut befallen, der sich mit diesem Geschehen konfrontiert sieht, dürfen nicht zeigen etwas, das angesichts der belastenden Vor- daran hindern, die politisch notwendigen Maßnah- gänge, mit denen wir uns hier auseinandersetzen men der Wiedergutmachung nüchtern und sachlich müssen, besonders wichtig ist: Es gibt eine über die zu erörtern. Dafür bitte ich um Verständnis. Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg bestehende Kontinuität der Wiedergutmachungsarbeit des Deut- In der heutigen Debatte werden ein Gesetzentwurf schen Bundestages, und dies sollte auch in Zukunft so und Anträge beraten, die drei Komplexe des breitge- bleiben. Bei dem verhängnisvollen Teil unserer Ge- fächerten Bereichs der Wiedergutmachung anspre- schichte, der Wiedergutmachung erfordert, muß der chen. Den ersten Komplex bildet die grundsätzliche Parteienstreit vermieden werden. Gestaltung der Wiedergutmachungsleistungen nach (Zuruf der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher dem BEG-Schlußgesetz von 1965. Es geht um die [FDP]) Frage, ob es weiterhin Fonds geben soll, aus denen Leistungen für Härtefälle erbracht werden können, Aber jetzt zur Gegenwart: Durch Beschluß des oder ob zu diesem Zweck eine Stiftung eingerichtet Deutschen Bundestages vom 3. Dezember 1987 wur- werden soll. Den zweiten Komplex bildet die Frage den weitere 300 Millionen DM für Wiedergutma- der Entschädigung für Zwangsarbeit während des chungsleistungen zur Verfügung gestellt. Dadurch Zweiten Weltkriegs. Hinzukommen als dritter Kom- wurde es der Bundesregierung möglich, die 1980 und plex Härteleistungen für Personen, die unter der NS- 1981 erlassenen Härteregelungen für jüdische und Gewaltherrschaft aus Gründen ihrer Nationalität un- für nichtjüdische Verfolgte im Sinne des Bundesent- ter menschenrechtswidrigen Bedingungen Zwangs- schädigungsgesetzes weiterzuführen und teilweise zu arbeit leisten mußten. Die Entschädigung dieser verbessern. Gruppe der national Geschädigten, wird durch den (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: 300 Millionen Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen DM wurden bereitgestellt; 1,6 Millionen DM abgewickelt. wurden ausgegeben!) Zum zuerst genannten Komplex der grundsätz- — Das bedauern auch wir, Frau Vollmer. Das war aber lichen Gestaltung der gegenwärtigen Wiedergutma- gerade der Anlaß dafür, daß wir gemeinsam Vor- chungsregelungen ist festzuhalten, daß der Deutsche schläge zur Verbesserung erarbeitet haben. Bundestag schon mehrfach mit Anträgen der derzeiti- Der Deutsche Bundestag hat mit Beschluß vom gen Oppositionsfraktionen auf Einrichtung einer Stif- 21. Juni 1989 die Bundesregierung um Prüfung der tung befaßt war. Einen ersten Vorstoß unternahm die Frage gebeten, ob die Richtlinien für diesen Härte- SPD-Fraktion im Jahre 1978 mit einem Gesetzent- fonds in einigen Punkten verbessert werden kön- wurf, der jedoch nicht bis zur Verhandlung ins Plenum nen. gelangte. Nach diesem Vorschlag sollte eine Stiftung eingerichtet werden, die mit 150 Millionen DM — ver- Dem nun vorliegenden Be richt der Bundesregie- teilt auf drei Jahre — ausgestattet sein sollte. Dieser rung auf Drucksache 11/5164 können wir entnehmen, daß die Bundesregierung den Empfehlungen, die vom Vorschlag fand bei dem damaligen SPD-Bundeskanz-- ler, Helmut Schmidt, keine Unterstützung, und es wa- Unterausschuß Wiedergutmachung erarbeitet und ren vermutlich dieselben Gründe, die auch heute noch vom Innenausschuß übernommen wurden, gefolgt ist. Gültigkeit besitzen, die dieser Ablehnung zugrunde Dabei ist vor allem erfreulich, daß bereits jetzt — ab lagen. 1. Juli 1989 — bei der Festsetzung der laufenden Lei- stung ein Freibetrag in Höhe von 300 DM angesetzt (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Nennen Sie wird und daß der Grad der Behinderung als Voraus- doch einmal die Gründe! Es war zu teuer, setzung für den Nachweis eines nachhaltigen Ge- oder?) sundheitsschadens, auf Grund dessen Zwangssterili- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12227

Frau Dr. Wisniewski sierten laufende Leistungen gewährt werden können, Kriegswirtschaft — zum Teil unter unmenschlichen von mindestens 40 % auf mindestens 25 % abgesenkt Bedingungen — ein. wird. Das sind wesentliche Verbesserungen. Sie ha- ben sich in der kurzen Zeit, in der sie jetzt praktiziert (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Übrigens auch Zivilpersonen!) werden, bereits positiv ausgewirkt. Wie ich höre, lie- gen inzwischen 80 Bewilligungsschreiben für Renten Der Bericht der Bundesregierung vom 31. Oktober für Zwangssterilisierte vor. Das ist eine positive Ent- 1986 gibt bereits darüber Auskunft, in welchen Fällen wicklung. Dennoch kann sie natürlich nicht als ausrei- Zwangsarbeiter Entschädigungen erhalten konnten. chend bezeichnet werden. Weiterer Einsatz für die Darüber hinausgehende Schadensersatzansprüche vielen alten und kranken Menschen ist dringend er- ehemaliger ausländischer Zwangsarbeiter können forderlich. gemäß dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 nicht erfüllt werden. Doch sei an dieser Stelle allen Beteiligten, den Kol- leginnen und Kollegen in den zuständigen Bundes- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist nun tagsgremien, dem Bundesfinanzminister und seinen wirklich eine widerlegte Lüge! Das mit dem Beamten, den unermüdlich um Hilfe bemühten Mitar- Schuldenabkommen stimmt nicht!) beiterinnen und Mitarbeitern der Auskunftsstelle und An dieser klaren Rechtsposition werden die vorgeleg- der Oberfinanzdirektion Köln, vor allem aber auch ten Anträge der Oppositionsfraktionen wohl nichts Frau Nowack und ihren Mitstreiterinnen und Mitstrei- ändern können. tern vom Verband der Zwangssterilisierten ausdrück- lich Dank gesagt für den erreichten kleinen Fort- Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß pri- schritt. vate Initiativen ergriffen worden sind, um zur Wieder- gutmachung des Unrechts auch an diesen Menschen (Beifall der Abg. Frau Dr. Hamm-Brücher beizutragen. Und es muß überlegt werden, ob diese [FDP]: — Zuruf der Abg. Frau Dr. Vollmer privaten Initiativen nicht erweitert werden können. [GRÜNE]) (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Haben Sie ein Wie gesagt: Das Erreichte ist noch nicht zufrieden- mal die Summe ausgerechnet, wieviel das stellend. Wir sollten vor allem weiterhin nach Wegen war? Das ist wirklich beschämend!) suchen, die es ermöglichen, auf die Vorlage eines Es gibt mehrere große deutsche Unternehmen, die fachärztlichen Gutachtens zur Feststellung des Gra- Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe geleistet des der Behinderung bei Zwangssterilisation zu ver- haben, etwa an jüdische Organisationen, wie dem zichten. schon genannten Be richt der Bundesregierung zu ent- nehmen ist. Um aber einen besseren Überblick über (Zuruf von der SPD: Sehr wahr! — Frau die besondere Rechtslage, die vielfältigen Probleme, Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie haben doch die aber auch die p rivaten Initiativen in diesem Bereich zu Mehrheit! Tun Sie es doch!) erhalten, fordern die Koalitionsfraktionen von der Bundesregierung einen ausführlichen Be richt als Dieser Punkt sollte im Zentrum der kommenden Bera- Grundlage für die weiteren Beratungen. tungen stehen. Andere Pe tita, die ich hier nicht auf- zählen will, kommen hinzu, auch in anderen Berei- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Immer dieselbe chen der Wiedergutmachung. Taktik: noch ein Bericht, noch eine Debatte — ablehnen und nächster Bericht!) Jedenfalls aber ermutigen diese durch die Nachbes- serung der Richtlinien erreichten Fortschritte dazu, — Aber, liebe Frau Vollmer, manchmal haben die Berichte uns doch schon gewaltig weitergeholfen. die bisherigen Härtefondslösungen beizubehalten und sie weiter zu verbessern, dies vor allem im Hin- Warten wir es doch einmal ab! blick darauf, daß den zumeist alten Menschen, die auf (Widerspruch bei den GRÜNEN) eine Entschädigung warten, schneller geholfen wer- den muß. — Gut, vielleicht nur ein wenig weitergeholfen. Auch die Probleme, die im Zusammenhang mit den Die von der SPD-Fraktion geforderte generelle Um- Nationalgeschädigten stehen, bedürfen einer einge- stellung auf eine Stiftungs-Lösung erscheint gerade henden Darstellung in einem Be richt der Bundesre- auch angesichts dieser positiven Ansätze nicht gierung. Diese Forderung der Koalitionsfraktionen ratsam, zumal, wie ein Blick in den Antrag der SPD bleibt auch dann bestehen, wenn die Erfüllung des zeigt, auch eine Stiftung nicht ohne Richtlinien aus- Petitums des Antrags, den diesbezüglichen Härte- kommt und den bisherigen Gesetzgebungsrahmen fonds beim Hohen Flüchtlingskommissar um 2 Millio- nicht negieren kann. nen DM aufzustocken, inzwischen durch den Bundes- finanzminister erfreulicherweise in Aussicht gestellt Der zweite hier zu erörternde Komplex, die Wieder-- worden ist. gutmachung für Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs, ist während der letzten Monate durch Lassen Sie mich schließen mit den Worten Edzard zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Veröffentli- Reuters, des Vorstandsvorsitzenden der Daimler- chungen in das Bewußtsein vieler Menschen getreten. Benz AG, und es ist erschreckend, zu wissen, daß Zwischen 1941 und 1945 setzte das NS-Regime insge- Ende 1944 bei der Daimler-Benz AG 29 500 Zwangs- samt knapp 8 Millionen Kriegsgefangene und KZ- arbeiter und Zwangsarbeiterinnen beschäftigt waren. Häftlinge für die Aufrechterhaltung der deutschen Angesichts dieser Zahl sagt Edzard Reuter: 12228 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Dr. Wisniewski Es gibt keine materielle Entschädigung für das, Dabei hatte im Juni 1987 eine öffentliche Anhörung was in der Zeit des Nationalsozialismus gesche- des Innenausschusses ergeben, daß wohl nur ein Stif- hen ist. tungsmodell eine praktikable und eine unbürokrati- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Na ja, man sche Regelung zulasse. könnte es ein bißchen versuchen! Gerade (Lambinus [SPD]: So ist das!) Herr Reuter könnte das sehr wohl!) Für die Stiftung sprach schon damals — und spricht Er nannte die 20 Millionen DM, die der Konzern den heute erst recht — , daß ihre gewählten Vertreter in ehemaligen Zwangsarbeitern indirekt zukommen einem Beirat als Anwälte der Geschädigten auftreten ließ, sollten und nicht als der verlängerte Arm des Staates. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ein Bettel- Die Stiftung sollte und soll die Forderung nach weni- geld!) ger Bürokratie sicherstellen. Die Stiftung soll eine fi- „keine Entschädigung, sondern eine Geste in Würdi- nanzielle Beteiligung der Länder möglich machen. gung des Schicksals der Betroffenen". Die Stiftung soll nicht an frühere Entscheidungen in anderen Entschädigungsverfahren gebunden sein, Sicher kann man mehr tun. Es wird zu fragen und zu gleichgültig, nach welchen Rechtsgrundlagen diese überlegen sein, in welcher Weise hier am besten ge- durchgeführt wurden. holfen werden kann. Jedenfalls werden die Beratun- gen über die hier eingebrachten Vorlagen in dem (Lambinus [SPD]: Sehr richtig!) Bewußtsein der historischen Verantwortung, in der Die Koalition hat sich dem g rundsätzlichen Anlie- wir alle stehen, zu führen sein. gen einer Entschädigung für die vergessenen Opfer Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion empfiehlt die nicht verschlossen. Aber nicht mit inhaltlichen, son- Überweisung der Vorlagen an die Ausschüsse und die dern mit organisatorischen Argumenten stimmte sie Annahme der Anträge der Fraktionen der CDU/CSU damals gegen das Stiftungsmodell. Sie setzte auf die und der FDP. Einrichtung eines weiteren Härtefonds und stellte für Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Jahre 1988 bis 1991 in vier unterschiedlichen Jah- resraten eine Summe von insgesamt 300 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DM zur Verfügung. Sie setzte auf die bestehende Widergutmachungsbürokratie, die sie für bewährt Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- und kompetent hielt. ordnete Waltemathe. In der Debatte am 3. Dezember 1987 habe ich er- klärt — ich will mich nicht lange selbst zitieren; es ist nur ein Satz — Waltemathe (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr ge- ehrten Damen und Herren! Wir sind mit Recht stolz Es steht zu befürchten, daß bei einem neuen Här- auf das 40jährige Bestehen der Bundesrepublik tefonds dieselben Beamten, die in den vergange- Deutschland und des demokratisch gewählten und nen Jahren und Jahrzehnten Anträge ablehnten, demokratisch zusammengesetzten Deutschen Bun- auch neue Anträge zurückweisen werden. destages. Sicherlich ist ein solches 40jähriges Jubi- Leider hat sich diese Befürchtung bewahrheitet. Al- läum Anlaß genug, die insgesamt positive Entwick- lein die Zahlen bestätigen es. Ich brauche gar nicht lung zu einer stabilen parlamentarischen Demokratie auf die menschlichen Schicksale an diesem Punkt ein- zu würdigen. zugehen. 1988 gingen 1 369 Anträge auf einmalige Aber eine solche Würdigung darf uns nicht davon Beihilfe und 353 Anträge auf laufende Beihilfe ein. abhalten, auch die Unterlassungen und die Schatten- Von den 1 369 Anträgen auf Einmalleistungen wur- seiten auszuleuchten und ihre Beseitigung anzupak- den in 916 Fällen je 5 000 DM genehmigt. Das sind ken. Eine der für mich schmerzlichsten Schattenseiten 67 % der Anträge. Von diesen Anträgen wären die ist die Situation der sogenannten vergessenen Opfer meisten ohnehin nach Richtlinien bewilligt worden, des NS-Unrechtssystems, über die wir heute — wie- die auch schon vorher galten, nämlich seit 1980. Von derum — debattieren müssen. den 353 Anträgen auf laufende Beihilfe wurden ledig- Am 3. Dezember 1987, also vor knapp zwei Jahren, lich 10 bewilligt. Das sind ganze 2,8 %. Mit anderen lagen schon einmal Gesetzesanträge der SPD-Bun- Worten: Mit den Bewilligungen nach den neuen Här- destagsfraktion vor, eine öffentliche Stiftung einzu- terichtlinien wurden gerade einmal 1,6 Millionen DM richten, aus der heraus für Zwangssterilisierte, Eutha- zusätzlich ausgegeben. Das sind 3,2 % der 50 Millio- nasiegeschädigte, Opfer von medizinischen Versu- nen DM, die im Haushalt des Jahres 1988 standen. chen, Homosexuelle, Wehrkraftzersetzer, Kommuni- Diese Bewilligungspraxis kann nicht im Sinne des sten, Sinti und Roma und und und — damals stellten Gesetzgebers sein. So schaffen die neuen Härterege- wir uns vor, möglicherweise aus der gleichen Stiftung lungen wieder neue Härten, so werden Verfolgte er- Zwangsarbeiter zu entschädigen; da haben wir heute neut zu Opfern gemacht, nur dieses Mal zu Opfern der eine andere Auffassung; dazu wird der Kollege Lam- neuen restriktiven Regelungen. binus Stellung nehmen — Einmalentschädigungen bekommen, in bestimmten Fällen auch laufende Ren- (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Leider tenzahlungen und für manche, insbesondere diejeni- wahr!) gen, die Spätschäden haben, Heilfürsorge bzw. Be- So werden sie wohl immer noch warten, die Opfer, handlungen und Kuren finanziert werden. von denen ich schon 1987 sprach: der Mann, der seit Unsere Anträge, die damals vorlagen, und auch die einigen Jahren unter Spätfolgen zu leiden hat, unter Anträge der GRÜNEN von damals wurden abgelehnt. Alpträumen, Schweißausbrüchen, schweren Depres- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12229

Waltemathe sionen, dem grauenhafte Vergangenheitsbilder stän- zinischen Sachverständigen über die Todesursache dig vor Augen sind, ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ihres Mannes herrscht. Frau G. hat eine eigene Rente lassen. Er bräuchte dringend psychosoziale Betreu- von 640 DM. Warum ist man eigentlich bei den Wit- ung; die stark sehbehinderte Frau, die sich 1945, im wen von Verfolgten so abweisend, während der siebten Monat schwanger, auf ihr Kind freute, die Witwe des Volksgerichtshofspräsidenten eine satte zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen Pension zugesprochen wurde? wurde, wo dieses Kind, das sie haben wollte, gegen Herr B. wurde 1936 wegen „Vorbereitung zum ihren Willen abgetrieben und sie selbst zwangssterili- Hochverrat" verurteilt und saß elf Jahre im Zucht- siert wurde. Diese Frau ist heute 64 Jahre alt und lebt haus, davon ein Jahr in Ketten. Herr B. ist Kommunist, in einem Blindenheim. Wäre es wirklich nicht mög- stand auch nach dem Parteiverbot immer noch zu sei- lich, ihr einmal eine Kur zu bezahlen, ihr mögliche ner kommunistischen Gesinnung. 1966 wurde er we- kleine Annehmlichkeiten im Alter zukommen zu las- gen „Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Ab- sen? sicht" zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Aus die- Ich sprach von den anderen: den Zwangsarbeitern, sem Grunde wurde ihm eine Gesundheitsschadens den Kommunisten, den Homosexuellen, den damals rente nach dem BEG aberkannt. Herr B. ist heute über als asozial Eingestuften, den sogenannten Wehrkraft- 80 Jahre alt. Würde es zu unseren Feiern zum 40jäh- zersetzern, den noch lebenden Mitgliedern der Edel- rigen Bestehen der Bundesrepublik nicht ganz gut weißpiraten, der Swingjugend usw. passen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, wie es in Die Bundesregierung und die Koalition haben dem ganz anders gelagerten Fall des Rudolf Heß im- — nicht ohne unsere Zustimmung, was das Geld an- mer wieder großzügig gefordert wurde? belangt — mit einer durchaus generösen Geste viel (Sehr wahr! bei der FDP) Geld zur Verfügung gestellt, um das für viele sehr lästige Kapitel der Entschädigung von NS-Unrecht Frau B. ist eine Euthanasie-Geschädigte. Ihre Mut- nun endgültig in eine Art Schlußgeste abschließen zu ter wurde 1941 vergast. Damals war Frau B. ein Kind können. Ihren guten Willen mag ich überhaupt nicht von zehn Jahren. Ihr Vater kümmerte sich nicht um abstreiten. Aber immer noch sind die Richtlinien des sie. Elternlos mußte sie schon als Kind viele Demüti- neuen Härtefonds restriktiv, ist die Vergabepraxis gungen und Entbehrungen erleiden. Sie hat heute sehr kleinlich. eine Rente von 270 DM und ein weiteres kleines Ein- kommen. (Lüder [FDP]: Leider wahr!) Seit acht Jahren versucht sie, eine Entschädigung Die stolze Zahl von 300 Millionen DM ist weiterhin für den Tod ihrer Mutter zu erhalten, aber vergebens. für Tausende von Verfolgten und Opfern ohne jegli- Auch nach den neuen Richtlinien gibt es bisher keine chen Belang. Sie bleiben ausgegrenzt, weil sie nicht Entscheidung, weil „die Richtlinien für Opfer der Eu- die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, weil sie, thanasie so unklar" seien, „daß eine Entscheidung obwohl sie Deutsche sind, ihren Wohnsitz nicht in der schwerfalle" , wie die Sachbearbeiter zugeben. Bundesrepublik Deutschland haben, weil sie sich nicht in eindeutiger Notlage befinden, weil sie nach Diese Beispiele, meine Damen und Herren, sind 1945 eine Straftat begangen haben, für die sie zu mehr entmutigend, entmutigend für die Betroffenen, die als drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden, sich immer noch oder wieder einmal als „Opfer oder weil sie „nur" Zwangsarbeiter waren. 2.Klasse" fühlen müssen. Aber sie sind auch für uns entmutigend, die wir seit Jahren für die Verbesserung Erneut wurden auch jetzt Anträge abgelehnt: der Entschädigungspraxis eintreten. Herr K., der nach 1945 die deutsche Staatsangehörig- keit erworben hat, konnte keine Beihilfe bekommen. Da stimmt es mich auch nicht optimistisch, wenn Der Ablehnungsgrund: Er hätte zur Zeit der NS-Ver- jetzt im Unterausschuß „Wiedergutmachung von NS- folgung, also vor 1945, die deutsche Volkszugehörig- Unrecht" nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit der keit besitzen müssen. Härteregelung einvernehmlich, also mit unser aller Stimmen in diesem Unterausschuß, durchgesetzt wor- Zweiter Fall: Da wurde ein Zweitantrag von den ist, den Grad der Beschädigung für eine Renten- Herrn R. abgelehnt, obwohl bei ihm jetzt ein Spät- zahlung von 40 % auf 25 % zu reduzieren, und es ist schaden erkennbar ist und er sich eindeutig in einer für mich auch nur ein kleiner Trost, wenn beschlossen Notlage befindet. Die Ablehnung erfolgte mit dem wurde, daß mindestens 300 DM einer ausgezahlten Argument: „Ein ,Zweitverfahren' würde der Grund- Rente nicht auf die Sozialhilfe angerechnet werden konzeption der von der Bundesregierung getroffenen dürfen. außergesetzlichen Härteregelung widersprechen. " Hier wiehert der Amtsschimmel auf geradezu höhni- Wir stehen nämlich erneut an dem Punkt, die Ein- sche Art und Weise. Hier zeigt sich erneut die Para- richtung einer Stiftung fordern zu müssen, nicht aus graphenreiterei, die wir mit einer Stiftung gerade ver- Rechthaberei, sondern damit das Geld, das wir be- meiden wollten. - willigt haben — wir wollen ja gar nicht mehr haben —, auch sinnvoll ausgegeben werden kann. Für uns gilt, Dritter Fall: Frau G. ist Witwe. Ihr Mann saß fünf um es in den Worten von Carl Zuckmayer zu sagen: Jahre im KZ Dachau, hatte sich dort ein Magenleiden „Zuerst kommt der Mensch, dann kommt die Men- zugezogen und erhielt dafür eine Gesundheitsscha- schenordnung. " densrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Frau G., die ihren Mann pflegen mußte, klagte nach Wir wollen, daß 40 Jahre nach Gründung der Bun- dessen Tod auf Witwenrente. Diese wird ihr aber seit desrepublik Deutschland als demokratischer und so- fünf Jahren verwehrt, da Uneinigkeit unter den medi- zialer Rechtsstaat endlich eine sehr späte Genugtu- 12230 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Waltemathe ung für Menschen erreicht wird, die durch NS-Un- linien in einigen Punkten verbessert. Als ich mein recht Schaden in ihrem persönlichen und gesundheit- Manuskript schrieb, zögerte ich mit der üblichen Fest- lichen Bereich genommen haben und die sich jahr- stellung: Wir sind der Regierung dankbar, daß sie dem zehntelang einer sogenannten zweiten Verfolgung Wunsch des Parlaments entsprochen hat. Wem ist ausgesetzt fühlten. Um dieses Ziel zu erreichen, plä- eine Regierung eigentlich sonst verpflichtet, wenn dieren wir erneut für das Stiftungsmodell, mit dem wir nicht dem Wunsch des Parlaments? heute gemeinsam als Demokraten im Sinne der „ver- Ich füge hinzu, daß der Regierungsbericht für gessenen Opfer" unsere Pflicht tun können. meine Fraktion und für mich persönlich nicht das Danke schön. letzte Wort sein kann. (Beifall bei der SPD, der FDP und den GRÜ- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der NEN) SPD) Wir erwarten, insbesondere für die Zwangssterilisier- Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- ten, mehr Rücksichtnahme auf deren Schicksal. Wir ordnete Lüder. wollen deswegen nach wie vor das Facharztprivileg eingeschränkt wissen. Lüder (FDP): Herr Prädident! Meine sehr geehrten Meine Damen und Herren, heute geht es im we- Damen und Herren! Die heutige Debatte zu verschie- sentlichen um fünf Punkte. Erstens. Noch einmal — denen Aspekten der Wiedergutmachung von NS-Un- das ist eben deutlich geworden — ist durch einen der recht findet am Ende eines Jahres statt, das für unsere Anträge der SPD-Fraktion die Gründung einer Stif- jüdischen Mitbürger und für uns alle mit der schmerz- tung ins Gespräch gebracht worden, durch die den haften Erinnerung an die November-Pogrome des Härtefällen unter den Opfern des NS-Terrors die Jahres 1938 begann und das im Zeichen des Geden- Hilfe, die nach Auffassung der Koalition durch die kens an manchen Jahrestag schrecklicher Nazi-Unta- Härtefonds gegeben werden soll, schneller zuteil wer- ten stand. Nach alter Zeitrechnung beginnt morgen den soll. abend das jüdische Jahr 5750. Wenn wir heute oder Wir haben das Modell einer solchen Stiftung vor morgen unseren Mitbürgern im In- und Ausland un- Jahr und Tag verworfen. Wir waren, Herr Waltema- sere besten Neujahrswünsche übermitteln, können the, anderer Auffassung in der Einschätzung dessen, und sollten wir einhalten und über die Verpflichtung was die Anhörung erbracht hat. Wir haben uns damals nachdenken, die uns allen aus unserer jüngsten Ge- für die Härterichtlinien eingesetzt, die jetzt verbes- schichte auch heute noch auferlegt ist. sert und praktiziert werden. Heute geht es nicht um Noch immer leben Opfer des NS-Terrors unter uns, die Wiederholung einer früheren Entscheidung. Da- die für das Unrecht, das ihnen angetan wurde, für das bei wäre ich vielleicht, das sage ich ganz offen, nach- Leid, das ihnen geschah, für den Schaden, den sie denklicher und aufgeschlossener als zu früheren Zei- erlitten haben, in diesen 40 Jahren unserer Demokra- ten. Heute aber die Härteregelung zu ändern und jetzt tie nicht einen Pfennig Entschädigung erhalten ha- eine solche Stiftung ins Leben zu rufen, neben den ben. Härterichtlinien, heißt, (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wie oft mußten (Waltemathe [SPD]: Nicht neben! Anstatt!) Sie das schon sagen? Ohne Erfolg!) — Trotzdem, Frau Vollmer, werde ich draußen immer Erwartungen zu wecken, die wir nicht bef riedigen wieder gefragt, ob nicht endlich einmal Schluß mit können, immer neuen Entschädigungsregelungen sein sollte (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was heißt „kön und sein könnte. Diesen Zweiflern unter unseren Mit- nen"? Könnten wir, wenn wir wollten?) bürgern müssen wir laut und vernehmlich sagen: Es heißt, Versprechungen zu geben, die wir nicht einlö- geht nicht um eine zweite Wiedergutmachung. Wir sen können, heißt letztlich, den Betroffenen Illusionen dürfen unsere Augen und Ohren nicht davor ver- zu machen, wo nur reale Betrachtung helfen kann. schließen, daß manche Mitbürger 50 Jahre lang auch darunter zu leiden hatten, daß ihr Schmerz, ihr Opfer Zweitens. Mit einem kleinen Absatz geht die SPD in nicht einmal symbolisch anerkannt wurde. Mit den jenem Antrag darauf ein, daß auch für die jüdischen Jahren darf unsere Verantwortung nicht abnehmen. Verfolgten Möglichkeiten eröffnet werden sollen, in Das Verantwortungsbewußtsein hat bei vielen von besonderen Härtefällen laufende und nicht nur ein- uns zugenommen, weil wir wissen: Verlängertes Leid malige Leistungen zu erhalten, wie es für nichtjüdi- ist verstärktes Leid. sche Verfolgte möglich ist. Ich will nicht alles wiederholen, was ich hier in frü- Hier sage ich uneingeschränkt ja zum Gleichbe- heren Debatten für meine Fraktion gesagt habe. Wir handlungsgrundsatz, ja dazu, daß auch jüdische Ver- hatten uns in einem harten Ringen um eine akzep- folgte in Notlagen nicht nur eine Einmalzahlung bis zu table Härteregelung zur Entschädigung von NS-Op-- 5 000 DM erhalten sollen, sondern in Einzelfällen fern mit der Regierung auf eine Regelung verständigt, auch wiederkehrende Leistungen. Ich hoffe, daß die deren Zwischenbilanz — ich wiederhole bewußt — Verhandlungen mit der Bundesregierung dazu zügig ich nur als beschämend bezeichnen kann. und erfolgreich abgeschlossen werden können. Wir (Beifall bei der FDP) sind ja eigentlich schon längst im Zeitverzug mit dem, was die Gespräche erbracht haben. Inzwischen hat die Bundesregierung auf den Wunsch des Bundestages hin — Herr Kollege Walte- (Beifall bei der Abg. Frau Ganseforth mathe hat das eben auch angesprochen — ihre Richt- [SPD]) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12231

Lüder Drittens. Ein Schwerpunkt der Anträge der SPD und stellt wurde. Ich habe aber auch gelernt, daß der Bun- der GRÜNEN betrifft die ungelösten Probleme der desfinanzminister offenbar fiskalisch zu vorsichtig Zwangsarbeiter. Ich weiß um die rechtliche, insbe- rechnet, wenn es um Angelegenheiten der Wieder- sondere völkerrechtliche, und politische Problematik gutmachung geht. Anders konnte die erschreckende dabei. Ich weiß, daß es eine akzeptable öffentliche Fehlkalkulation nicht passieren, daß im letzten Jahr Stiftungslösung nicht geben kann. Ich habe auch Ge- von bereitgestellten 50 Millionen DM nur 1,5 Millio- spräche geführt, die eine parlamentarisch zulässige nen DM ausgegeben wurden. Bewertung nicht ermöglichen. Es waren Gespräche mit denen, die man als Koalitionsabgeordneter fragen (Zustimmung bei der SPD) muß, wenn man etwas durchsetzen will. Ich sage: Der parlamentarisch stilistische Rahmen reicht nicht aus, Nicht nur bei den angeforderten Mitteln für Härte- um hier auszudrücken, was man empfindet, weil wir fälle kalkuliert das Finanzministerium lebensfremd. keine parlamentarisch zulässigen Ausdrücke haben, Ich empfehle allen Kollegen einen Blick auf die jähr- um Ekel deutlich zu reflektieren. Meine Damen und lichen Veröffentlichungen über die „Leistungen der Herren, ich will es mit allem Nachdruck sagen: Das, öffentlichen Hand auf dem Gebiet der Wiedergutma- was hier von der Regierung bisher an Nein gekommen chung". Da variiert die Schätzung der zukünftigen ist, das, was wir in diesen Jahren seit der Anhörung Ausgaben von einem Jahr zum anderen nicht etwa um 1987 erlebt haben, führt dazu, daß wir deutlicher re- Millionenbeträge. den müssen und daß wir mehr machen müssen. Wenn wir jetzt einen Berichtsauftrag formuliert haben, so (Zuruf von der SPD: Um Milliarden!) sollte sich niemand der Illusion hingeben, daß wir es Die Schätzung der zukünftigen Ausgaben für die bei dem Bericht bewenden lassen wollen. Wiedergutmachung variiert in zwölf Monaten um (Beifall bei der FDP) 17 Milliarden DM. Rechnete die Regierung für vor- Wir wollen den Be richt als Entscheidungsgrundlage aussichtliche künftige Leistungen am 1. Januar 1988 haben, um Neues und mehr zu machen. Wir wollen noch mit 22 Milliarden DM, von denen gut 2 Milliar- Ihnen auch in der Überlegung entgegenkommen, daß den im Jahr 1988 abgeflossen sind, sprang die Pro- wir in Härtefällen auch etwas für die Zwangsarbeiter gnose zum 1. Januar 1989 auf sage und schreibe tun müssen. Wir können nicht mit zusehen, daß 37 Milliarden DM, ohne daß dies erläutert wurde. Das 50 Jahre nach der Zwangsarbeit hier immer noch Här- hieß, man signalisiert, daß wir noch 37 Milliarden DM tefälle, Individuen, Menschen auf uns zukommen, uns ausgeben würden. Diese Zahl ist unrealistisch und zu angucken, uns fragen und uns bitten. Sie sollen nicht hoch. Die Bundesregierung rechnet mit Leistungen bitten müssen, vielmehr müssen wir geben wollen. der Wiedergutmachung bis zum Jahr 2030. Den größ- Dazu muß etwas Privates ermöglicht werden; dazu ten Teil machen davon die Renten nach dem Bundes- werden wir auch Anregungen geben. entschädigungsgesetz aus. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Die Leute ster SPD) ben so schnell!) Als Grundlage dazu erwarten wir den Bericht. Das durchschnittliche Lebensalter der Holocaust- Viertens. Beim Hohen Flüchtlingskommissar der Überlebenden beläuft sich nach einer Berechnung der Vereinten Nationen gibt es einen kleinen Fonds, mit Knesset zur Zeit auf 67 Jahre. Im Jahre 2030, bis zu dem relativ wenig Betroffenen mit relativ kleinen Be- dem die Bundesregierung rechnet, wäre danach das trägen doch so viel geholfen werden kann. Seit Mona- durchschnittliche Lebensalter der Opfer 108 Jahre. ten sehen wir die Unfähigkeit der Beteiligten, gemein- Die Realitätsferne der Regierungsschätzung liegt da- sam eine Lösung zu finden. Der Koalitionsantrag zum mit auf der Hand. Das muß man mal in aller Deutlich- Berichtsauftrag soll Druck dafür geben, daß die Bun- keit sagen. Wir dürfen doch niemandem, weder uns desregierung auf den Hohen Flüchtlingskommissar noch den Opfern, vorspiegeln, daß wir noch Milliar- zugeht. Dann wollen wir wissen, mit welchen Größen- denbeträge bereithalten, während wir wissen, daß wir ordnungen und Forderungen wir es zu tun haben. diese nicht ausgeben werden. Hier ist nicht der Hohe Flüchtlingskommissar der Pe- tent an die Bundesregierung, sondern die Bundesre- (Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜ gierung steht seit dem Überleitungsvertrag in der NEN) Pflicht, auf den Hohen Flüchtlingskommissar in glei- chem Maße zuzugehen und nicht in Sprachlosigkeit Ich bitte den Finanzminister: Rücken Sie von diesen zu enden, wenn Opfer auf der Straße stehen und Geld fiktiven 17 Milliarden DM, die Sie im letzten Jahr er- erwarten. rechnet haben, jetzt 3 Milliarden DM für die Opfer heraus! Denn jetzt brauchen sie sie. Wenn wir 10 % (Zustimmung bei der FDP und der SPD) - davon jährlich ausgeben, dann haben wir alle Pro- Fünftens. Ich weiß, daß das, was ich hier gefordert bleme gelöst. Aber spiegeln wir uns nicht etwas vor! habe, und die Initiativen, die ich hier für meine Frak- Hier muß — Entschuldigung — mit allem Nachdruck tion angekündigt habe, auch Geld kosten. Ich weiß, deutlich geredet werden. Drei Jahre Arbeit hier brin- wie schwer es war und welchen persönlichen Einfluß gen uns zur Verzweiflung, aber sie bringen die Opfer der Bundeskanzler selbst nahm — ich sage sogar: nicht weiter. Deswegen sage ich hier: 3 Milliarden auch nehmen mußte — , bis für die in dieser Legisla- DM sind minimal gegenüber dem, was Sie an 17 Mil- turperiode durchgesetzten Härteregelungen ein harden geschätzten Fiktionen auf den Tisch werfen. Geldbetrag von 300 Millionen DM zur Verfügung ge- Geben Sie diese Summe für die Opfer! Dann helfen 12232 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Lüder wir. Dann werden wir unserer geschichtlichen Ver- Erstens weg vom Finanzministerium und hin zu ei- antwortung gerecht. ner Möglichkeit einer Stiftung, die uns endgültig un- (Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜ- abhängig macht. NEN) Zweitens Umkehr der Beweislast. Drittens so unbürokratisch wie nur irgend möglich Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- und schnell. ordnete Frau Dr. Vollmer. Allen Berechnungen, die Sie, Herr Lüder, angestellt haben, kann man nur zustimmen. Diese Zahlen, mit denen da gerechnet wird, sind absurd. Dies gilt z. B. Frau Dr. Vollmer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Lüder! Die für die 130 Millionen DM. Die sind für zehn Jahre Debatte wird ja für uns alle immer schwieriger in die- gedacht. Das ist so, als wenn Sie den Rüstungshaus- ser Frage. halt mit 550 Milliarden DM angäben. Das wäre dann auch für zehn Jahre gerechnet. Mit einer solchen Art (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Wohl von Berechnung werden hier Schrecken erzeugt, und wahr!) das Geld kommt nicht dahin, wo es hingehö rt, nämlich Sie ist einfach auch so voll von einer feinsinnigen und in die Hände der Leute, die wirklich arm sind und die subtilen Brutalität, vor allem in den Fakten, daß das ein Minimum an Anerkennung brauchen. sehr schwer auszuhalten ist. Mir fa llen dabei auch (Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der viele Szenen aus dem Unterausschuß ein. Ich weiß FDP) deshalb auch gar nicht, wie schwarz ich eigentlich über Ihren Antrag lachen soll, weil Sie, die Koalitions- fraktionen, nun wiederum eine Unterrichtung der Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat der Abge- Bundesregierung über die Härteleistung fordern und ordnete Lambinus. daß die an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden sollen. Das war ja der Antrag von uns, den GRÜNEN, den Sie im Juni dieses Jahrs im Plenum Lambinus (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- ausdrücklich abgelehnt haben. Ich denke, wir haben ehrten Damen und Herren! 40 Jahre nach Gründung inzwischen alle so viele gemeinsame Erfahrungen, der Bundesrepublik und 44 Jahre nach dem Ende des daß wir wissen, daß dieses Scheinhandeln an Stelle Terrorregimes der Nazis beschäftigen wir uns heute des Handelns einfach nicht mehr geht. Noch ein Be- wieder mit Problemen der Wiedergutmachung. richt und noch eine dieser unsäglichen Antworten die- Vieles wurde von unseren Vorgängerinnen und ses unsäglichen Finanzministeriums? Ich muß sagen: Vorgängern in diesem Hause auf diesem Gebiet be- Ich kann das kaum noch ertragen. reits getan, aber nicht alles, was nötig war. Ganze Es ist Ihnen allen bekannt — ich selbst habe zu ver- Gruppen von Gequälten und Erniedrigten wurden schiedenen Terminen darauf hingewiesen, und ich — aus welchen Gründen auch immer — vergessen weiß auch, daß ganz häufig auf das oder an den Rand geschoben. Wir müssen im Interesse Schicksal der Nationalgeschädigten hingewiesen dieser Menschen — aber auch im Interesse unserer hat —, und Sie wissen schon längst, daß der Hohe eigenen Glaubwürdigkeit — aufhören, Frau Kollegin Flüchtlingskommissar die sehr geringen Mittel auf- Dr. Vollmer, für diese Versäumnisse nach Schuldigen gebraucht hat. Er hat uns wiederholt geschrieben. zu suchen. Und jetzt soll es noch einmal einen Be richt geben, ob Machen wir uns ans Werk, jetzt endlich gemeinsam dies denn so sei? Ich finde, das geht nicht mehr. Da das zu tun, was überfällig ist! muß jetzt sofort etwas passieren. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Soll ich sagen, (Beifall bei den GRÜNEN und der FDP) Herr Hubrich ist unschuldig daran?) Dasselbe Spiel mit der Unterrichtung über die Här- — Vergessen wir das, was war, Frau Kollegin Dr. Voll- terichtlinien. Ich finde, es muß irgendwann einmal mer, und handeln wir endlich gemeinsam! eine Bereitschaft bestehen, sich aus der sklavischen Millionen Menschen wurden in den Jahren 1938 bis Abhängigkeit von diesem Finanzministerium zu be- 1945 zu schrecklichen und menschenverachtenden freien Bedingungen zur Fronarbeit, vor allem für die deut- (Beifall der Abg. Frau Nickels [GRÜNE]) sche Kriegswirtschaft, gezwungen. Tausende kamen und nicht noch einmal Herrn Hubrich so auf den Leim dabei ums Leben. Sie starben an Unterernährung, zu gehen. Soll man denn daran erinnern, wie das in Kälte und durch Schikane. Abertausende haben die- dem Unterausschuß war, wo nach Berichten des Ver- ses Martyrium überlebt, viele von ihnen nicht ohne treters des Zentralrats der Roma und Sinti gesagt wor- bleibende Schäden an Leib und Seele. Sie leiden noch den ist, daß das Ministerium natürlich den Betroffenen heute. Und wir, die wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, hatten bisher für diese Frauen und keinerlei Auskunft schuldig sei, und daß dann, wenn- dieser den Raum verlassen hat, die hämischen Bemer- Männer oft nur dürre Worte, manchmal salbungsvoll kungen darüber kommen, daß die ja alle keine Ah- dargebracht, bei hehren Gedenkveranstaltungen üb nung hätten. Ich finde, daß dies auch der Würde die- rig — wenn überhaupt. ses Parlaments — aber auf die kommt es ja in diesem Wir können diesen Menschen heute nicht ihre ge- Fall überhaupt nicht an — , aber vor allem dem Schick- stohlene Jugend und ihre geraubte Gesundheit zu- sal der Betroffenen nicht mehr gerecht wird. Deswe- rückgeben. Aber wir haben die verdammte Pflicht gen denke ich, es gibt überhaupt nur noch einen Maß- und Schuldigkeit, im Rahmen unserer Möglichkeiten stab, etwas zu machen: zu helfen, die schlimmsten Folgen zu lindern, und dies Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. 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Lambinus darf nicht länger an formaljuristischen Spitzfindigkei- Hand! Wir sind aufgefordert, hier allen Streit ten — hinter denen sich oft nur Gedankenlosigkeit schweigen zu lassen und uns zu finden im Geist und mangelnde Sensibilität verstecken — scheitern. der Menschlichkeit. (Beifall des Abg. Waltemathe [SPD]) Dieses Zitat stammt von dem Sozialdemokraten Adolf Arndt. Das Protokoll verzeichnet „Beifall bei der SPD Aus diesem Grund haben wir einen Antrag vorge- und Abgeordneten der CDU". legt, der die Bundesregierung beauftragt, eine Stif- Was Adolf Arndt vor 37 Jahren sagte, ist auf weiten tung „Entschädigung für Zwangsarbeit" zu errichten, Teilgebieten erfüllt und auf anderen, insbesondere durch die ehemalige Zwangsarbeiter, die in der Ver- bei den heute anstehenden Fragen, noch immer hoch- gangenheit keinerlei oder Entschädigungsleistungen aktuell. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam tun, was nur eine geringe Anerkennung der Zwangsarbeitszei- zu tun ist, um dieser von Adolf Arndt beschriebenen ten in der Rentenversicherung erhalten haben, auf Ehrlichkeit noch ein Stück näherzukommen. Antrag einmalige Leistungen erhalten können. Recht herzlichen Dank. Wir schlagen eine Stiftung vor, weil wir wollen, daß diese Leistungen schnell und unbürokratisch gewährt (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der werden können, und weil wir wollen, daß diese Rege- FDP) lung aus den Händen des Finanzministeriums genom- men wird. Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ordnete Frau Dr. Hamm-Brücher. GRÜNEN sowie der Abg. Frau Dr. Hamm- Brücher [FDP]) Frau Dr. Hamm-Brücher (FDP): Herr Präsident! Wir sagen: Der Weg über eine Stiftung würde man- Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort chen Firmen und Kommunen, die Zwangsarbeiter be- gemeldet, weil ich, obgleich ich in dem Unteraus- schäftigten, einen Eigenbeitrag zu dieser Stiftung er- schuß Wiedergutmachung nicht tätig bin, einmal leichtern. diese Gelegenheit nutzen wollte, um den Kolleginnen und Kollegen von ganzem Herzen zu danken, die sich (Waltemathe [SPD]: Richtig!) seit Jahr und Tag — leider, wie wir hören, weitgehend Ernst Waltemathe hat weitere Gründe für eine Stif- vergebens — bemühen, die bewilligten Mittel auch tung genannt. schnell und unbürokratisch an die Opfer und an die Betroffenen weiterzugeben. Herzlichen Dank Ihnen Ich rufe Sie alle auf, schnell zu entscheiden. Das allen! Sie tun stellvertretend für uns eine Arbeit, die sind wir jenen schuldig, die während des Nazi-Regi- Ihre Seele, Ihr Herz sicher sehr häufig bis an die mes durch Deutschland litten und noch heute leiden. Grenze der Erträglichkeit belastet hat. Vielen schönen Hören wir auf, das, was wir tun müssen, länger zu Dank dafür. vertagen und vor uns herzuschieben, nur weil es spä- Als zweites möchte ich sagen: Es ist ein Trauerspiel. ter billiger wird. Es geht um Menschen, die unsere Auch ich habe mich vor zwei Jahren zunächst mit dem bisherige Verweigerung nur als zynisch verstehen Argument beschwichtigen lassen, ein Fonds arbeite können. rascher als eine Stiftung. Aber ich muß schon heute Stehen wir im Jahr der Feierlichkeiten zum 40jähri- ankündigen: Wenn es nicht gelingt, bis Ende des Jah- gen Bestehen unserer Republik auch zu jenen Pflich- res, des 40. Jahres der Existenz der Bundesrepublik ten aus der Zeit davor, die wir bisher nicht erfüllt Deutschland, eine glaubwürdige Lösung herbeizu- haben! Dies sind wir nicht nur den noch lebenden führen, dann werde ich als Abgeordnete der Koalition ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbei- für eine Stiftung stimmen, weil mir das dann der ein- tern schuldig, sondern auch unserer eigenen Glaub- zige Weg zu sein scheint, um die Mittel freizubekom- würdigkeit. men und endlich an die Opfer weiterzugeben, die sie Lassen Sie mich zitieren, was am 11. September so lange vergeblich erwartet haben und die sie drin- 1952, in der 1. Legislaturperiode, in der 229. Sitzung gend brauchen; denn sie stehen am Lebensende und des Bundestages gesagt wurde: können nicht noch bis zum Jahre 2030 warten. Das dritte ist: Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Unser Ziel muß sein, das Menschenmögliche an gen, hier geht es jetzt nun wirklich einmal um eine Wiedergutmachung zu leisten. Denn Empfänger Kraftprobe zwischen Legislative und Exekutive. dieser Leistungen sind nicht allein die durch Un- recht Verfolgten, sondern ist die gesamte Rechts- (Beifall bei der FDP, der SPD und den GRÜ gemeinschaft, weil es darum geht, Deutschland NEN) wieder ehrlich zu machen. Auch bleibt uns die Wie lange lassen wir uns das noch bieten? Ich appel- schmerzliche Einsicht nicht versagt, wie klein liere an Sie, Herr Staatssekretär Carstens — auch Sie selbst die größte Leistung leider sein wird ange-- sind einer der unseren — : Legen Sie jetzt das Manu- sichts des Übermaßes an Unmenschlichkeit, das skript weg, das man Ihnen geschrieben hat, und sagen geschehen ist. Nichts wird das Blut und die Trä- Sie uns zu, daß die Mittel, die genehmigt sind, schnell nen auslöschen können, die für immer diese Blät- und unbürokratisch den Menschen zugute kommen, ter der deutschen Geschichte trüben und verdun- die sie verdienen und die bisher vergeblich darauf keln. Aber wir wollen ein neues Blatt der Ge- gewartet haben. Ich glaube, damit täten Sie nicht nur schichte beginnen, das die Überschrift tragen dem Ansehen des Parlaments einen hohen Dienst, soll: Helfen, um wiedergutzumachen! ... Rei- sondern vor allem den armen Opfern der Verfolgung chen wir uns zu diesem Werk der Versöhnung die in der Zeit des Nationalsozialismus. 12234 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Dr. Hamm-Brücher Vielen Dank. sollten, sondern endlich das tun sollten, was notwen- (Beifall bei der FDP, der SPD, den GRÜNEN dig ist. und bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der FDP und den GRÜ NEN)

Vizepräsident Cronenberg: Das Wort hat die Abge- Notwendig ist, daß wir jetzt endlich in einem ersten ordnete Renate Schmidt. Schritt diese 300 Millionen DM ausgeben. Ich war im Verlauf der zweijährigen Diskussion nicht an jedem Tag, an dem wir darüber diskutiert Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch haben, der Meinung, daß unsere Stiftungslösung wirkli das folgende steht nicht im Manuskript: Wenn ich mir ch das Gelbe vom Ei ist. Es gab Momente, in das anhöre, was Frau Professor Wisniewski und Herr denen ich gedacht habe: Na ja, vielleicht haben die da Lüder gesagt haben, was Sie, Frau Hamm-Brücher, doch recht. Ich bin heute wesentlich stärker als im gesagt haben, was , Uwe Lambinus und Laufe der Diskussion, z. B. im Februar 1988, der Mei- Ernst Waltemathe gesagt haben und was ich jetzt sa- nung, daß das die einzig mögliche Lösung ist. Dies ist gen werde, dann frage ich mich, warum wir das jetzt auch eine Frage dessen, wie unser Rechtsstaat kon- nicht wirklich tun. struiert ist. Wir werden nämlich bei Härterichtlinien, die im Rahmen von Gesetzen festgelegt sind, die wir (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Ja, das tun an bestimmten Stellen für ungerecht halten, immer wir jetzt auch!) wieder an Grenzen stoßen. Wir werden die Fälle, die Der Bestand der Regierung wird wohl nicht an Herr Waltemathe hier eindringlich geschildert hat, die 300 Millionen DM zu messen sein, Fälle, die ich Ihnen vor der Sommerpause versucht habe nahezubringen, damit garantiert nicht lösen (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Die haben können. Deshalb glaube ich, daß eine Stiftung, wie wir doch!) wir sie vorschlagen, die geeignetste Lösung ist. und das Selbstbewußtsein könnten wir uns ja wohl wirklich leisten, daß wir sagen: Dann tun wir es doch Ich versichere Ihnen nochmals: Wir hängen an kei- endlich! Außerdem haben wir ja die Mittel. Wie lange nem einzigen Satz in diesem Entwurf. Wir versuchen sollen denn die Menschen eigentlich noch warten? mit den bescheidenen Mitteln der Opposition und zu- sammen mit Menschen, die von der Wiedergutma- Frau Hamm-Brücher, ich glaube, ein Be richt wird chungsgesetzgebung nicht erfaßt sind und über viele uns jetzt nicht weiterb ringen. Jahrzehnte nicht erfaßt waren, etwas vorzulegen. (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Ich brauche Wenn es dort Änderungsnotwendigkeiten gibt, dann keinen Bericht mehr!) sind wir mit Ihnen bereit, Änderungen vorzunehmen. Ich habe immer großes Verständnis dafür, wenn Kol- Wir hängen an nichts. Aber das Prinzip dieser Lösung legen Informationen brauchen. Ich halte es für unpar- erscheint uns als das einzig richtige. lamentarisch, ihnen solche Informationen zu verwei- Ich frage mich immer wieder, warum wir — Kollege gern, aber ein Bericht bringt uns nicht weiter. Waltemathe hat es eben gesagt — gerade von den (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Ich will kei- Opfern dauernd Nachweise über Nachweise über nen Bericht! Die B riefe, die ich bekomme, Nachweise verlangen. Wir sind doch sonst nicht so genügen!) pingelig. Bei anderen Personengruppen lassen wir Wir kennen doch inzwischen den Mechanismus — doch auch einmal fünfe gerade sein. Hier sind wir in Herr Lüder hat es in großer Offenheit gesagt —, wie einer Art akribisch, daß ich das Gefühl habe, es ist das das läuft. Ich mache das noch nicht so lange wie viele, schlechte Gewissen. Wir wollen nicht, daß es diese die hier sitzen. Aber seitdem ich es mache, ist es doch, Opfer noch gibt, wir wollen ihre Opfereigenschaft und Herr Carstens, immer dasselbe. Wenn wir Anträge ihre Verfolgteneigenschaft schlicht und einfach weg- stellen, spricht die Bundesregierung von der reden. Wieso können wir eigentlich nicht über unse- Schwemme, von der Flut der Menschen. Es ist übri- ren Schatten springen und zugestehen, daß Fälle wie gens im Zusammenhang mit Menschen in letzter Zeit die des Gustav L. — wir haben es jetzt alle erfahren —, dauernd von Schwemme, Flut und ähnlichen Dingen der sich trotz des Verbots der KPD weiterhin für die die Rede; aber dies nur nebenbei. Sie spricht also von Ziele und Belange dieser Partei eingesetzt hat und einer Flut von Menschen, von irrsinnigen Zahlen. deshalb die freiheitlich-demokratische Grundord- Dann bescheiden wir uns, und die Mehrheit sagt: Wir nung bekämpft habe, und diese Art der Rechtspre- sind in der Verantwortung, und wir können das so chung aus der damaligen Situation des Kalten Krieges nicht tun; dann bescheiden wir uns mit einer kleinen hervorgegangen sind? Lösung. Dann kommt diese kleine Lösung, und man stellt fest, daß die Schwemme, die Flut und die riesi-- (Vorsitz: Präsidentin Dr. Süssmuth) gen Zahlen nicht da sind. Dann stellen wir neue An- Der Gang dieser Menschen ins KZ hat nichts damit zu träge, und uns wird gesagt: Wenn wir das machen, tun, daß sie nach 1945 nach wie vor zu ihren Überzeu- dann kommt die Schwemme, die Flut. — Ich könnte so gungen gestanden und vielleicht ein paar Flugblätter in meiner gesamten Redezeit weitermachen. verteilt haben. Wenn wir bisher ihren Gang ins KZ im Ich bin der Meinung, daß wir das Ganze bleiben nachhinein damit rechtfertigten, daß wir sie nicht als lassen sollten, daß wir uns zwar gerne berichten las- Opfer ansahen und von Entschädigungen ausschlos- sen, uns aber von den Berichten nicht stören lassen sen, so ändern wir das doch endlich! Wir sind doch Deutscher Bundestag — 11. Wahlpe riode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12235

Frau Schmidt (Nürnberg) Manns und Fraus genug, dies endlich in Ang riff zu keit oder Zulässigkeit irgendwelcher Ansprüche her- nehmen. angezogen wird, sagen wir: Es ist nicht möglich, für Zwangsarbeiter irgend etwas zu tun. Wir haben, wie (Beifall bei der SPD, der FDP, den GRÜNEN es die Kollegin Vollmer gerade gesagt hat, mit acht und bei Abgeordneten der CDU/CSU) westeuropäischen Ländern Globalabkommen abge Ich glaube, es gibt noch eine weitere Schwierigkeit. schlossen, nachzulesen in den Berichten der Bundes- Wir sehen das vielleicht auch ein bißchen daran, wie regierung. In diesen acht Ländern sind für nichtdeut- stark wir jetzt im Parlament vertreten sind; ich weiß ja sche Zwangsarbeiter Entschädigungen gezahlt wor- — natürlich nicht von jedem einzelnen —, wo die Kol- den. Warum soll das nicht auch für andere Länder legen im Moment stecken. gelten? Warum tun wir nicht das, was wir mit unseren Stiftungen hier vorschlagen? Ich bin der Meinung: (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP] : Ich weiß es Packen wir das jetzt bitte, bitte end lich an. Ich möchte nicht!) das zum Erfolg führen, solange ich dem Deutschen Es ist die Schwierigkeit, sich vorzustellen, daß jetzt, Bundestag noch angehöre, vielleicht sogar ein biß- 44 Jahre nach Ende des Krieges, so viele Menschen chen früher. erstmalig Anträge stellen. Es ist eine Diskussion nicht (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Der Unter nur in unserem Land, es ist eine Diskussion auch in schied ist, daß es sich jetzt um Polen han vielen anderen Ländern. Es ist eine Diskussion in Is- delt!) rael, es ist eine Diskussion in Polen und in Ungarn. Wir bekommen B riefe aus der ganzen Welt, wenn nur Ich danke Ihnen. irgendwo in einer Zeitung im Ausland steht, daß wir (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei uns mit dieser Frage beschäftigen, und wenn dabei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) unser Name genannt wird.

Es liegt daran, daß diese Menschen heute als alte Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Parla- Menschen auf Grund ihrer kleinen Renten, auf Grund mentarische Staatssekretär beim Bundesminister der der Tatsache, daß sie die Möglichkeit nicht hatten, in Finanzen, Herr Carstens. ihrem Beruf tatsächlich etwas zu werden, da ihnen dies durch die Verfolgung unmöglich gemacht wor- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie sollten doch den ist, und weil sie nicht mehr in einen Bet rieb ein- Ihr Manuskript liegenlassen!) gebunden sind, jetzt plötzlich Depressionen haben, schwere psychische Schäden erfahren und ihre Ver- gangenheit und teilweise auch die Schuldgefühle der Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister überlebenden Opfer nicht mehr verdrängen kön- der Finanzen: Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen nen. und Kollegen! Es hat zwar eine Portion K ritik gegen- über der Bundesregierung gegeben, aber ich möchte Ich habe mit meinen Kollegen und Kolleginnen im mich als erstes für die Würdigung bedanken, die der Unterausschuß und auch mit der Kollegin Frau Profes- Bericht der Bundesregierung vom 11. September sor Wisniewski und mit dem Kollegen Lüder über zwei 1989 erfahren hat. Jahre vergeblich versucht, eine Regelung für diese (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Die habe ich Spätfolgenopfer in die Härterichtlinien auf zuneh- aber nicht gehört!) men. Die in diesem Bericht enthaltenen Verbesserungen (Waltemathe [SPD]: So ist es!) hat man hier — ich freue mich darüber — wohlwollend Wenn wir jetzt alle zum Ausdruck bringen, daß wir zur Kenntnis genommen. das wollen, dann sage ich nur noch einmal: Tun wir es, (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Da müssen Sie bitte, endlich, und warten wir nicht länger, bis uns aber in dieser Debatte mit der Lupe suchen, auch die letzten von denen weggestorben sind. bis Sie die finden!) Ich sehe einen dritten Grund für unsere Schwierig- Dieser Bericht beweist, daß die Bundesregierung keiten. Wir messen mit unterschiedlichen Maßstäben. bereit ist, realisierbare Anregungen aufzugreifen und Ich kritisiere überhaupt nicht, und ich möchte da jetzt den gegebenen Handlungsrahmen auszuschöpfen. nicht einen falschen Zungenschlag hineinbringen, es (Waltemathe [SPD]: Manchmal etwas aber dennoch sagen: Es gibt viele Menschen, die schleppend!) heute noch unter den Folgen des Krieges leiden. Wir legen sehr strenge Maßstäbe an, wenn es sich um die Mit Sicherheit werden wir das auch im Verlaufe der deutsche Staatsangehörigkeit eines Verfolgten han- jetzt anstehenden Beratungen in den Ausschüssen so delt. Die jüngsten Stellungnahmen gerade des Bun- praktizieren. desministeriums der Finanzen zeigen uns das. Dage- In diesem Zusammenhang möchte ich den Ministe- gen langt uns zur Anerkennung der deutschen Volks- - rialdirektor Hubrich, dessen Name hier einige Male zugehörigkeit bei Aussiedlern z. B. der Nachweis, daß genannt wurde, sie bei der SS waren — wenn ich der Berichterstattung (Lambinus [SPD]: Sehr zu Recht!) und der Organisation Weiße Rose glauben darf. sehr in Schutz nehmen. Er ist ein untadeliger Beamter (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist sehr viel des Bundesfinanzministeriums. lohnender!) (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wenn ich den Während das Londoner Schuldenabkommen sonst sehe, weiß ich, warum ich für die Abschaf je nach Belieben für die Begründung der Unzulässig- fung des Berufsbeamtentums bin!) 12236 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Parl. Staatssekretär Carstens Ich kann und möchte nicht zulassen, daß die hier tor des Wiedergutmachungsrechts, den leider im letz- durch die Tonlage zum Ausdruck gebrachten Vor- ten Jahr verstorbenen Züricher Rechtsanwalt Walter würfe stehenbleiben, und weise sie hiermit zurück. Schwarz, zitieren, der gesagt hat, die Bundesrepublik Deutschland könne stolz sein auf das Werk der Wie- (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Zu Recht! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Aber da steht dergutmachung. Ich kann den eben zum Ausdruck nun die Wahrheit gegen Sie!) gebrachten Vorwurf von gigantischer Lüge, Frau Kol- legin Vollmer, ebenfalls nicht stehenlassen, sondern Wir haben heute in der ersten Beratung eine Menge weise ihn mit Nachdruck zurück. von Vorlagen zu behandeln, die, wenn man so will, drei Problembereiche umfassen. Ich will das nicht (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Sehr richtig! — noch einmal ausführen — das ist einige Male gesche- Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Es ist die Frage, hen — und werde dazu gleich einiges Grundsätzliche wo Sie sich Ihre Zeugen herholen!) sagen. Ich meine, daß das auch in die Beratungen der Bis zum Jahresende 1988 wurden über 82 Milliar- zuständigen Ausschüsse einbezogen werden muß. den DM an Leistungen erbracht. Bis zur Gesamtab- Der Bundestag ist ja der Souverän, und was der Bun- wicklung werden es deutlich über 100 Milliarden DM destag beschließen wird, wird diese Bundesregierung sein. Die Wiedergutmachungsgesetzgebung hat Maß- auch ausführen. Das ist völlig klar. stäbe und Rahmen gesetzt, die auch für jede Nachfol- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ha, ha, ha!) geregelung maßgebend sind, denn die Gesetze gelten weiter. Es ist unsere Aufgabe, nun aber auch unsere Argu- mentation mit einzubringen und dafür zu sorgen, daß (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Darum eine sie entsprechend berücksichtigt werden kann. Stiftung!) (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie haben nicht Ich darf beispielhaft vier Grundsätze nennen, die einmal Anfragen beantwortet! Ich mußte sie bei jeder Folgeregelung beachtet werden müssen: an den Minister persönlich stellen!) zum einen die Beachtung des Londoner Schuldenab- kommens. Das ist nicht allein zu beachten, aber das ist Gestatten Sie mir aber, daß ich auch meinerseits noch einer der vier Grundsätze. einige Ausführungen zu dem Gesamtbereich mache, bevor ich dann auf die einzelnen Problemkreise ein- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das ist auf deut gehe. schen Wunsch zustande gekommen!) Meine Damen und Herren, uns allen sind die un- Weiter: Territorialitätsprinzip, Gewährung von Ent- übersehbaren Leiden bewußt, die den Opfern der na- schädigungen an geschädigte Einzelpersonen, nicht tionalsozialistischen Gewaltherrschaft zugefügt wor- an Gruppen, sowie Differenzierung der Entschädi- den sind. In dem Bemühen, sich der historischen Ver- gung nach Art und Ausmaß des eingetretenen Scha- antwortung für die Untaten des NS-Regimes zu stel- dens. len, haben Gesetzgebung, Verwaltung und Recht- sprechung in der Bundesrepublik Deutschland die Alle Folgeregelungen, die nach dem BEG-Schluß- moralische und finanzielle Wiedergutmachung des gesetz erlassen wurden, haben diese Grundsätze be- nationalsozialistischen Unrechts stets als vorrangige achtet. Es wäre deshalb weder verfassungsrechtlich Aufgabe behandelt. Ich darf das für alle Bundesregie- noch entschädigungspolitisch vertretbar, wenn jetzt, rungen, auch für die Vorgängerregierung, in An- mehr als 20 Jahre seit Abschluß der Wiedergutma- spruch nehmen. chungsgesetzgebung und bald zehn Jahre seit Erlaß der ersten Härterichtlinien, Regelungen geschaffen Sie sind sich dabei aber auch bewußt, daß materielle würden, welche die vom Gesetzgeber getroffenen Entschädigungsleistungen die zutiefst menschenver- Grundsatzentscheidungen aufgäben. achtenden Gewaltakte der Nationalsozialisten nicht wiedergutmachen können. Finanzielle Entschädi- (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Wer will gung kann feigen Mord, Folterung, Unfreiheit, Ge- denn das? — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: walt und den Verlust von Angehörigen nicht unge- Wollen Sie sagen, daß Entschädigung zu lei schehen machen, sondern nur Ausdruck des ernsthaf- sten Verfassungsbruch ist?) ten Willens sein, die erlittenen Schäden zu mildern. — Frau Kollegin, ich habe nicht den Eindruck gehabt, (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Na los!) als wenn man das in Frage stellen wollte. Aber ich muß doch die Möglichkeit haben, diese Position für Die Wiedergutmachungsgesetzgebung ist — das die Beratungen im Unterausschuß und in den zustän- muß man wissen — abgeschlossen. Das war auch die digen Ausschüssen einzubringen. Meinung der Rednerinnen und Redner. Das hat der Deutsche Bundestag schon bei der Verabschiedung (Frau Nickels [GRÜNE]: Aber Herr Carstens, des Bundesentschädigungs-Schlußgesetzes im Jahre warum tun Sie denn das? Sie sind doch ein 1965 festgestellt. Die Mehrheit der Sachverständigen neuer Mann! Warum können Sie denn damit - hat dies bei der Anhörung im Deutschen Bundestag nicht anders umgehen? — Frau Dr. Vollmer am 24. Juni 1987 bekräftigt. [GRÜNE]: Neuer Mann mit alten Reden! — Weiterer Zuruf von den GRÜNEN: Das ha Auch wenn aus heutiger Sicht die Regelungen zur ben Sie doch gar nicht nötig!) Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in ei- nigen Punkten unvollkommen erscheinen, darf man Die Konsequenz solcher Regelungen, wie die Opposi- die Gesamtregelung nicht allein aus einer Ex-post- tion sie fordert, wäre eine weitgehend bessere Be- Betrachtung heraus würdigen. Ich möchte deshalb für handlung der Geschädigten, die erst jetzt Ansprüche viele Stimmen einen jüdischen Fachmann, den Men- geltend machen, gegenüber den weit über einer Mil- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12237

Parl. Staatssekretär Carstens lion Geschädigten, die nach den gesetzlichen Vor- Wir haben nun nach einer Reihe von Gesprächen mit schriften rechtzeitig Entschädigung beantragt hatten, Abgeordneten, aber auch mit Verbandsvertretern und gegenüber den inzwischen mehr als 100 000 Ge- diese Richtlinien geändert. Das ist auch in unserem schädigten, die Leistungen nach den 1980, 1981 und Bericht enthalten, den ich eben hier angesprochen 1988 erlassenen Richtlinien erhalten haben. Das wäre habe und der entsprechend gewürdigt worden ist. Wir grob ungerecht. im Finanzministerium sind der Meinung, daß auf (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Es wird ihnen Grund dieser neuen Richtlinie erheblich mehr Mittel doch wohl nicht zum Vorwurf gemacht, abfließen werden als bisher. wenn sie das nicht gemacht haben! Viele (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das werden wir konnten das überhaupt nicht!) in einem Jahr sehen! Wollen wir wetten?) Es ist nicht möglich und wohl auch von niemandem beabsichtigt, alle bereits abgeschlossenen Verfahren Wie viele Mittel tatsächlich abfließen werden, weiß man aber immer erst am Ende eines Jahres. neu aufzurollen — vielleicht erübrigt sich Ihre Zwi- schenfrage, Frau Kollegin Hamm-Brücher, wenn ich (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Sie hätten dies hier zum Ausdruck bringe — , um an diese Fälle sich vielleicht auf den Sachverstand der Ab neue Beurteilungs- und Entschädigungsmaßstäbe an- geordneten verlassen sollen, die das erkannt zulegen. Deshalb ist es nur folgerichtig, alle noch offe- hatten!) nen Fälle nach den gleichen Grundsätzen zu behan- deln, die nach den bestehenden gesetzlichen und au- Ich bitte Sie, das abzuwarten, damit Sie gegebenen- ßergesetzlichen Regelungen gelten. falls neue Konsequenzen ziehen können, wenn diese Ergebnisse vorliegen.

Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Staatssekretär, ge- Ich möchte jetzt auf die drei Punkte eingehen, die statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten heute bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs und Frau Dr. Hamm-Brücher? der Anträge speziell angesprochen werden. Wir wer- den dann ja noch Gelegenheit haben, die Themen im zuständigen Unterausschuß zu behandeln. Ich will Ih- Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister nen gern zusagen — vielleicht möchten auch Sie, Frau der Finanzen: Ja, gern. Kollegin Hamm-Brücher, an den Sitzungen teilneh- men —, daß ich zwar möglicherweise nicht an allen Frau Dr. Hamm-Brücher (FDP): Herr Staatssekre- Sitzungen, aber doch an den Sitzungen, in denen die tär, ich darf Sie in diesem Zusammenhang vielleicht Dinge am Schluß zusammengebracht werden, teil- auch als Kollegen ansprechen. Sie haben die 300 Mil- nehmen möchte, um ein Bild von Ihren Vorstellungen lionen DM für diese Wiedergutmachungsleistungen zu haben und um zu sehen, zu welchem guten Ergeb- mitbeschlossen. Würden Sie uns jetzt freundlicher- nis wir dort kommen können. weise einmal sagen, wie, nachdem nach einem Jahr kaum 1,7 Millionen DM ausgegeben worden sind, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verfahren so gestaltet werden, daß die bewilligten Ich möchte mit dem Punkt „Aufstockung des Här- Mittel auch bald an die Betroffenen gelangen? Auf tefonds des Hohen Flüchtlingskommissars" begin- diese Frage erwarten wir doch heute eine Antwort von nen. Dies war auch einer der Punkte, der hier bemän- Ihnen. gelt und kritisch angesprochen worden ist. Hierzu kann ich Ihnen sagen, daß die Bundesregierung zur Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Zeit Verhandlungen führt und daß ich davon ausgehe, der Finanzen: Frau Kollegin Hamm-Brücher, ich freue daß diese Verhandlungen in Kürze abgeschlossen mich über Ihre Feststellung, daß die 300 Millionen werden. Der Hohe Flüchtlingskommissar wird dann in DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden sind. der Lage sein, Antragstellern aus dem Kreis der Natio- nalgeschädigten, die wegen der Ausschöpfung der (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das hat das Mittel zur Zeit nicht mehr zum Zuge kommen, wieder Parlament verlangt!) eine Härtebeihilfe zu gewähren. Die Bundesregie- Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß ich da- rung ist gern bereit, dem Bundestag über das Ver- mals dem Haushaltsausschuß angehört habe. Ich habe handlungsergebnis zu berichten. also mitgestimmt, und zwar gern. Ich habe aber fest- gestellt — es ist also richtig, was Sie gesagt haben —, Damit sind wir also bei einem der Punkte zumindest daß die Mittel nur sehr bedingt abgeflossen sind. Das in einem erheblichen Teilbereich auf einem guten Geld hat zwar zur Verfügung gestanden, aber die Wege. Vielleicht können wir schon bei den ersten Richtlinien waren so gestrickt, Unterausschußsitzungen berichten. Ich will das gerne übernehmen. Sie sehen also, daß wir bei einem dieser (Frau Dr. Hamm-Brücher [FDP]: Sehr gut! drei Punkte in einem wichtigen Teilbereich auf dem Jetzt kommen wir der Sache schon näher!) - Wege eines erfolgreichen Abschlusses sind. daß wohl viele Personen, von denen man angenom- men hat, sie seien antragsberechtigt, aus diesem Dann möchte ich den Vorschlag mit der Stiftung Fonds, aus diesem Topf keine Mittel bekommen aufgreifen. Sie müssen bedenken, daß auch dabei die konnten. Voraussetzungen und die Grenzen, die der Gesetzge- ber in den Entschädigungsgesetzen bestimmt hat, (Frau Nickels [GRÜNE]: Eben! — Frau selbstverständlich beachtet werden müssen. Das ist Dr. Vollmer [GRÜNE]: Weil Sie sie nämlich völlig klar. durch Ihre fein säuberlichen Anspruchsrege- lungen ausgeschlossen hatten!) (Waltemathe [SPD]: Ja!) 12238 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Parl. Staatssekretär Carstens Jede Loslösung von Vorverfahren und früheren Ent- nach einem halben Jahr bekommen, damit wir die scheidungen würde das Gleichheitsgebot tangieren. Wahrheit Ihrer jetzigen Einschätzung eher überprü- Deshalb könnte eine Stiftung, gleich, ob p rivaten oder fen können und gegebenenfalls noch etwas korrigie- öffentlichen Rechts, die sich an die Vorgaben des Ge- ren können? Denn sonst wird der Bundestag ja schon setzgebers hielte, in den noch verbliebenen Härtefäl- aufgelöst sein. len nicht wirksamer helfen, als dies durch die beste- henden Härteregelungen geschieht. (Waltemathe [SPD]: Das ist nicht wahr!) Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister Es sollte auch Einvernehmen darüber bestehen, daß der Finanzen: Frau Kollegin Vollmer, die Regierung eine Stiftung nach bürgerlichem Recht kein akzeptab- ist ja sehr beständig und wird sicherlich auch noch ler Lösungsweg ist. Der Gesetzgeber darf sich nicht nach 1990 weiter regieren. aus seiner Verantwortung herausstehlen und den Ab- (Kittelmann [CDU/CSU]: So ist das! Das ist schluß des gesamten Entschädigungswerks einer Per- hiermit festgelegt worden!) son des privaten Rechts überlassen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir den (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Er könnte ja et- Bericht am 21. September 1989 dem Bundestag auf was einzahlen! Nichts würde ihn daran hin- Grund einer Beschlußfassung vom Juni 1989, basie- dern!) rend auf einer Beschlußfassung des Innenausschusses Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der praktischen vorgelegt, d. h. wir haben den Be richt innerhalb von Durchführung, da keine Organisationseinheit und drei Monaten abgegeben. kein ausgebildetes Personal vorhanden sind. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Nein! Das ist ein (Frau Nickels [GRÜNE]: Ach du lieber Gott! Irrtum! Es geht um den Be richt über die ver — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Auf dieses gut ausgabten Gelder!) ausgebildete Personal wollen wir gern ver- Ich sage Ihnen zu, daß ich mich persönlich darum zichten! Nehmen Sie die Verfolgtenver- kümmern werde, daß der Be richt so schnell wie mög- bände; die können das gut machen!) lich bei Ihnen, beim Deutschen Bundestag eingeht, Es waren nicht zuletzt diese Gründe, die — ich damit Sie das dann auch in Ihre Beratungen einbezie- möchte das auch mit einer Jahreszahl versehen — in hen können. den Jahren 1979/80 die damalige Regierung und alle (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sollte das hei damals im Bundestag vertretenen Fraktionen veran- ßen: in drei Monaten? Dann wäre ich Ihnen laßt haben, von einer Stiftungslösung abzusehen und sehr dankbar!) sich für den Erlaß von Härtefallrichtlinien zu ent- scheiden. Auch das sollte man nicht vergessen. Weil — Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen — das werden Sie andere vor mir das nicht angesprochen haben, hielt verstehen — , wann Ihnen der Be richt zugehen wird. ich es für meine Pflicht, das zu tun. Ich sage Ihnen aber zu: so schnell wie möglich. Das können Sie im nachhinein dann auch unschwer über- Diese Härtefallregelungen haben sich bewährt. Das prüfen. gilt auch für die Härtefallregelung im Bereich des All- gemeinen Kriegsfolgengesetzes. Sie soll auf Grund Ich sage noch einmal, daß die Anträge und auch die der Entschließung des Bundestags vom 21. Juni die- Ausführungen zum Teil den Eindruck erwecken muß- ses Jahres in einigen Punkten, insbesondere zugun- ten, als wäre die Zwangsarbeit völlig aus jeder Ent- sten der Zwangssterilisierten, noch verbessert wer- schädigungsregelung ausgenommen. Das entspricht den. Das ist beschlossen und wird sicherlich Berück- nicht den Tatsachen. Zwar ist eine Entschädigung für sichtigung finden. entgangenen Lohn grundsätzlich ausgeschlossen; Ich darf abschließend auf die angestrebte Entschä- (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Aha! Genau das digung für Zwangsarbeit zu sprechen kommen. — haben wir gesagt!) Diese Anträge rufen den Eindruck he rvor, als seien ich darf aber in Erinnerung rufen, daß Verfolgte im ehemalige Zwangsarbeiter von jeder Entschädi- Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes, die gungsregelung ausgenommen. Zwangsarbeit in einem Konzentrationslager oder sonst unter haftähnlichen Bedingungen leisten muß- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Staatssekretär, ge- ten, für die erlittene Haft, für Gesundheitsschäden statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das stimmt!) Frau Vollmer? und für Schäden in der beruflichen Existenz nach dem BEG entschädigt worden sind, Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Bitte sehr! (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Aber nicht für die Arbeit!) - Frau Dr. Vollmer (GRÜNE): Herr Staatssekretär, wenn sie fristgemäß einen Antrag gestellt hatten und weil Sie die Hoffnung haben, daß es jetzt besser wird, die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen gegeben und wir im letzten Jahr den Be richt nicht nach einem waren. halben Jahr bekommen konnten — Sie waren, wie Andere Opfer nationalsozialistischen Unrechts gesagt worden ist, so schrecklich damit beschäftigt, all konnten nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz das Geld auszugeben, daß Sie den Be richt erst nach für die erlittene Haft und für Gesundheitsschäden ent- einem Jahr vorlegen konnten — , frage ich Sie: Kön- schädigt werden. Ebenso haben Personen, die aus nen Sie zusagen, daß wir diesmal den Be richt schon Gründen ihrer Nationalität unter menschenrechtswid- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12239

Parl. Staatssekretär Carstens rigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mußten, für Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister dabei erlittene Gesundheitsschäden Entschädigun- der Finanzen: Frau Kollegin, ich komme gleich noch gen nach dem BEG-Schlußgesetz oder durch den Ho- auf den Punkt zurück. Ich habe nur noch wenige Mi- hen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen nuten Zeit und will dann im Verlauf der Rede noch auf auf Grund mehrerer zwischen diesem und der Bun- das eingehen, wonach Sie gefragt haben. desrepublik geschlossenen Abkommen erhalten. (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Aha! — (Lambinus [SPD]: Wieviel Prozent aller Abg. Dr. Hirsch [FDP] meldet sich zu einer Zwangsarbeiter waren das?) Zwischenfrage) — Das kann ich Ihnen nicht auf Anhieb sagen. Es ist — Bitte. aber in der Tat so, wie ich das festgestellt habe. Das ist auch völlig unbestritten. Ich habe das nur gesagt, weil Dr. Hirsch (FDP): Herr Staatssekretär, können Sie jeder Zuhörer, der sich bei dieser Thematik nicht so mich einfach einmal aufklären, wieso Sie für Härtelei- präzise auskennt, den Eindruck bekommen mußte, als stungen eine besondere gesetzliche Regelung brau- würde die Zwangsarbeit überhaupt nicht, in keinem chen, wenn ein entsprechender Betrag mit einem ent- Fall entschädigt. sprechenden Titel im Haushaltsgesetz eingerückt ist? (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das stimmt Können Sie mir das einmal erklären? auch! Die Zwangsarbeit ist nicht entschädigt worden, sondern nur die Tatsache ist berück- Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister sichtigt worden, daß sie im KZ waren, einen der Finanzen: Man muß hier zwischen den einzelnen Gesundheitsschaden erlitten haben!) Tatbeständen, die erfüllt sein müssen, um Geldlei- Eine über diesen Rahmen hinausgehende Entschä- stungen vornehmen zu können, sehr wohl unterschei- digung für Zwangsarbeiter, wie sie die Opposition in den. Ich habe zwischen den Bereichen, in denen es um ihren Anträgen fordert, ist aus rechtlichen Gründen Zwangsarbeit in vormaliger Zeit geht, der Stiftung nicht möglich. und Härtefällen unterschieden; Vorredner haben (Widerspruch bei der SPD) noch andere Bereiche angesprochen. Dann müßte das Gesetz geändert werden, dann Was die Ausfüllung der 300 Millionen DM angeht, müßte man die Voraussetzungen dafür schaffen. so handelt es sich da in erster Linie um Härtefälle, für die wir die Richtlinien ja jetzt schon geändert haben. (Lambinus [SPD]: Bitte, dann machen wir es Wir werden nun abwarten müssen — das ist zumin- doch jetzt!) dest meine Meinung —, in welchem Umfang der Topf Ich habe soeben darauf aufmerksam gemacht, daß von 300 Millionen DM auf Grund der neuen Richtli- noch 1979/80, nien ausgeschöpft wird. Bei den bisherigen Richtli- (Frau Weyel [SPD]: Das ist ja zehn Jahre nien, Herr Kollege Hirsch, war das ja ein sehr gering- her!) fügiger Abfluß. Auch wir im Haushaltsausschuß ha- ben uns damals gewundert, daß nur so wenig Mittel bei einer völlig anderen Bundesregierung, entspre- abgeflossen sind. chende Überlegungen nicht umgesetzt worden sind. (Dr. Hirsch [FDP]: Wir sind also einig, daß (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ja, Helmut das ausschließlich eine Selbstbindung ist, es Schmidt war das auch zu teuer! — Weitere aber nicht etwa an gesetzlichen Grundlagen Zurufe von der SPD) mangelt, um diesen Betrag auszugeben?) Auch das möchte ich Ihnen in aller Ruhe und Geduld — Die Richtlinien, die wir erlassen, müssen die Ge- sagen. Das darf nicht vergessen werden. setzgebung selbstverständlich berücksichtigen. Wir können die vorhandene Gesetzgebung in den Richtli- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Staatssekretär, ge- nien nicht überwinden. Dazu müßte man die Gesetz- statten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Ab- gebung ändern; das ist völlig klar. geordneten Frau Schmidt? (Dr. Hirsch [FDP]: Was wollen Sie denn im Gesetz ändern, wenn Sie einen Titel ha- ben?) Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Ja, gern. —Es gibt gar keinen Grund zur Aufregung. Wir haben hier eine erste Lesung. Ich vertrete die Position der Bundesregierung und habe, wie ich meine, einige be- Frau Schmidt (Nürnberg) (SPD) : Herr Staatssekre- denkenswerte Ausführungen gemacht, die sicherlich tär, ist Ihnen bekannt, daß trotz des Londoner Schul- auch in die Ausschußberatung einfließen werden. Ich denabkommens Globalabkommen — ich habe jetzt habe zugesagt, zumindest bei den wichtigen Sitzun- nicht genau im Kopf, ob es insgesamt acht, neun oder gen dabeisein zu wollen. Ich glaube schon, daß wir ein zehn solcher Abkommen sind; Frau Kollegin Vollmer Stück weiterkommen. Warten wir es einmal ab. Ich und ich haben sie erwähnt — mit westeuropäischen bin da ganz zuversichtlich. Staaten abgeschlossen worden sind und daß diese Staaten ehemalige Zwangsarbeiter auf ihrem Territo- rium eben mit diesem Geld entschädigt haben, und Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Staatssekretär, ge- wo liegt jetzt der Unterschied, wenn wir in unserem statten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abge- Stiftungsgesetz die Öffnungsklausel haben, ein sol- ordneten Dr. Penner? ches Globalabkommen mit Staaten abzuschließen, (Kittelmann [CDU/CSU]: Nun mach mal mit denen das bisher nicht geschehen ist? langsam weiter!) 12240 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Penner (SPD): Herr Staatssekretär, sind Sie nicht parationen verzichtet. Dieser Verzicht wurde 1970 im mit mir der Auffassung, daß es gerade das Wesen von Warschauer Vertrag bestätigt. Härteregelungen ist, Fälle menschlicher Schicksale Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch befriedigend zu regeln, die vom geltenden Recht nicht einmal sagen, daß wir seitens der Bundesrepublik zureichend, nicht befriedigend erfaßt werden kön- Deutschland — ich beziehe alle Regierungen ein — in nen? der Tat auf diesem Gebiet eine Menge getan haben. (Lambinus [SPD]: So ist es!) Die Schäden kann man im Sinne des Wortes selbstver- ständlich nicht wiedergutmachen. Aber es ist eine Menge geleistet worden. Ich glaube, wir sollten ge- Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister rade bei diesen Themen dafür sorgen, daß es ohne der Finanzen: Ich kann mir durchaus vorstellen, daß Polemik, ohne Zank und Streit bei den Beratungen Sie in nicht wenigen Fällen recht haben. Aber das ist zugeht, um bis Weihnachten zu einem Ergebnis zu eben bei der Regelung von Härtefällen sozusagen kommen, das möglicherweise alle mittragen kön- vom Grundsatz her immer der Fall. nen. (Lambinus [SPD]: Das ist genau der Punkt!) Danke sehr. Auch das, was Sie jetzt zum Ausdruck gebracht ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben, werden wir in die Überlegung einbeziehen müs- sen. Aber ich mache in aller Ruhe darauf aufmerksam: Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her- Der Deutsche Bundestag beschließt. Wir werden die ren, ich schließe die Aussprache. Beratungen mit guten Anregungen und Hinweisen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen flankieren. Was der Bundestag beschließt, werden wir zum Tagesordnungspunkt 8 a bis f sowie zum Zusatz- in der Regierung umsetzen; das ist doch völlig klar. tagesordnungspunkt 3 an die in der Tagesordnung Ich darf abschließend — die Zeit, die für mich ein- aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu geplant war, ist schon überschritten — anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Frau Nickels [GRÜNE]: Wenn Sie jetzt hel- fen, ist es egal, ob Sie die Zeit überschrei- Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung: Wir kommen ten!) jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5254. Wer Entschädigung ausländischer noch etwas zur stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Enthal- sagen. Ich will das Thema als solches Zwangsarbeiter tungen? — Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen nicht noch einmal behandeln. Das ist durch die Beant- der CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der SPD ange- wortung der Zwischenfragen schon deutlich gewor- nommen. den. Aber eines möchte ich abschließend doch sagen. Die von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgetragene Ar- Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung: Wir stimmen gumentation, durch den Abschluß der Globalabkom- nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/ men mit den Weststaaten — Frau Kollegin Vollmer, CSU auf Drucksache 11/5255 ab. Wer stimmt für die- ich glaube, das hatten Sie angesprochen — habe die sen Antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Bundesrepublik anerkannt, daß die Entschädigung Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP für Zwangsarbeit ein Teil der Wiedergutmachung sei, bei Enthaltung der SPD und Ablehnung der GRÜNEN geht fehl. angenommen. (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Machen Sie dasselbe mit Polen!) Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf: Es war bei diesen Abkommen von allen Vertragspart- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- nern akzeptierte Vertragsgrundlage, daß die Abkom- ten Kittelmann, Wissmann, Frau Geiger, men nur Verfolgte aus rassischen, politischen, welt- Dr. Biedenkopf, Höffkes, Kraus, Lattmann, anschaulichen und religiösen Gründen betrafen und Dr. Lippold (Offenbach), Lummer, Dr. Schwö- daß wirtschaftliche Schäden wie entgangener Lohn rer, Dr. Sprung, Dr. Unland, Frau Will-Feld und für geleistete Zwangsarbeit nicht einbezogen werden Genossen und der Fraktion der CDU/CSU so- sollen. Zwar hat die Bundesrepublik auf die konkrete wie der Fraktion der FDP Verteilung der Mittel durch die Empfängerländer kei- Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen nen Einfluß, soweit bekannt ist, wurde Entschädigung — Drucksachen 11/1553, 11/2260 — für geleistete Zwangsarbeit aber in keinem Fall ge- Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion währt. der SPD sowie der Fraktion der GRÜNEN auf den (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wir können Drucksachen 11/5250 und 11/5262 vor. Ihnen gern nachweisen, daß es anders ist!) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die — Bitte sehr, ich wäre sehr interessiert, das nachge- Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Dazu sehe ich wiesen zu bekommen. Uns ist es nicht bekannt. keinen Widerspruch. (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Frankreich Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- z. B.! Sie kriegen es nachgewiesen!) ordnete Herr Kittelmann. Im übrigen hat die Volksrepublik Polen, mit der nach dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN ein Glo- Kittelmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine balabkommen geschlossen werden soll, durch eine Damen und Herren! Die Debatte über die Ost-West- Regierungserklärung von 1953 ausdrücklich auf Re- Wirtschaftsbeziehungen ist eine willkommene Gele- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12241

Kittelmann genheit, sich grundsätzlich mit den Reformentwick- wird deshalb bei den vorgesehenen Hilfen nicht ste- lungen in den Comecon-Staaten im Deutschen Bun- henbleiben. Entscheidend für den Erfolg ist dabei die destag auseinanderzusetzen. Als wir die Anfrage vor konsequente Verwirklichung der Reformen hin zu knapp zwei Jahren einbrachten, war an die Entwick- mehr Marktwirtschaft in Polen, Ungarn und der So- lung, die jetzt stattfindet, noch nicht zu denken. wjetunion. Dabei begrüßt die CDU/CSU ausdrücklich Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt ohne Ein- die klaren Erklärungen der polnischen Regierung, das schränkung die Position der Bundesregierung und be- sozialistische Wi rtschaftssystem zu überwinden und sonders von Bundeskanzler Kohl, der sich seit langem eine Währungsreform einzuleiten. Wir wissen, daß nachhaltig als Anwalt konsequenter Reformen in ähnliche Bestrebungen auch durch die ungarische Re- Polen, Ungarn und der Sowjetunion einsetzt. gierung vorgesehen sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir können unseren Beitrag zur Stabilisierung der Wir hoffen, daß diese Bereitschaft zu Reformen end- Reformen leisten. Wir wollen den Staaten, die sich für lich auch die übrigen Staaten des Comecon-Bereiches Reformen einsetzen, helfen durch zusätzliche Maß- ergreift. Aus naheliegenden Gründen gilt das natür- nahmen der Aus- und Weiterbildung von Führungs- lich besonders für die DDR. kräften, durch eine Intensivierung des wissenschaftli- chen Austauschs, durch eine gezielte Kapitalhilfe auf Die heutige Debatte ist die Fortsetzung einer Dis- der Basis konkreter Projekthilfe, durch eine Intensi- kussion über die Entwicklung in den mittel- und vierung der Handelsbeziehungen, durch mehr Direkt- osteuropäischen Staaten im Deutschen Bundestag. investitionen westlicher Unternehmen und durch die Darüber hinaus wird die Entwicklung in der DDR ge- Integration der Staaten des Comecon in internationale rade angesichts der Verwirklichung des EG-Binnen- Organisationen. Weil die Situation in den verschiede- marktes auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion bald auf nen Ländern des Comecon zu unterschiedlich ist, hel- der Tagesordnung des Bundestages stehen. fen globale Lösungsansätze wie Marshall-Plan und Es ist erfreulich, mit welcher Eindeutigkeit sich die Euro-Plan kaum weiter. Jetzt ist nicht wirtschaftliche Gremien der Staaten der westlichen Welt um die Un- Massenware, sondern Maßarbeit erforderlich. terstützung der Reformbewegungen bemühen. Die Wir wissen, in der Marktwirtschaft kommt es auf das Kreditentscheidungen der EG, des Internationalen Können der Menschen an; das erleben wir täglich im Währungsfonds und der Weltbank gehen eindeutig Wettbewerb. In der Sowjetunion, in Polen und Ungarn auch auf das Engagement der Bundesregierung zu- fehlen Manager mit betriebswirtschaftlichen Kennt- rück. Bundesfinanzminister Waigel hat beim Vorbe- nissen von Kostenrechnung und Marketing. reitungstreffen der Gruppe der Sieben die Unterstüt- zung für Polen und Ungarn auf die Tagesordnung (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Peter Kittel gesetzt. Vor allem auf Initiative der Bundesregierung mann muß ran!) ist eine multilaterale und großzügige Hilfe für den Reformprozeß in Polen und Ungarn vereinbart wor- Die Aus- und Weiterbildung z. B. von Managern, von den. Bankangestellten und Wirtschaftswissenschaftlern ist für Polen und Ungarn jetzt wichtiger als Kapital- (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Nur die Amis transfer. Dabei müssen wir über die bisher einge- müssen noch ein bißchen mehr bezahlen!) schlagenen Wege hinausgehen. Es reicht eben nicht — Ich nehme an, die Amerikaner werden über ihre aus, jedes Jahr einige Hundert Manager aus Polen, verbalen Versprechen hinaus bald auch wirtschaftlich Ungarn und der Sowjetunion in den Westen zu holen. stärker tätig werden. — Wir werden die Bundesregie- Die westliche Welt muß mit Angeboten nach Buda- rung unterstützen, Herr Bundesminister Haussmann, pest, nach Warschau, nach Moskau gehen. Wir müs- wenn sie konkrete Umschuldungsverhandlungen im sen dort, wo die Menschen leben, Managementschu- Pariser Club durchsetzen möchte. len einrichten und aktive Beiträge zur Ausbildung in Wir unterstützen politisch, wirtschaftlich und den Universitäten leisten. Auch Verbände und Be- menschlich die Völker, die jetzt die Gedanken von triebe sind gefordert, einen aktiven Beitrag zu leisten, Freiheit, Menschenrechten und Marktwirtschaft für damit eine Ausbildung erfolgt, die mehr als bloße Wis- sich verwirklichen wollen. Unsere Hilfe für den Re- sensvermittlung ist. formprozeß bedeutet auch Solidarität mit den Men- Der wissenschaftliche Austausch — das ist eine von schen in den Ländern, wo Regierungen noch Öffnung uns seit langem erhobene Forderung — muß intensi- und Demokratisierung verhindern wollen. Wir wissen viert werden. Der Stand der Rüstungsforschung in der nach den Ereignissen der letzten Monate und Jahre, Sowjetunion beweist, daß Forschungskapazitäten daß das nicht gelingen wird. durchaus vorhanden sind. Hermann von Berg hat die Der Erfolg politischer und wirtschaftlicher Refor- Sowjetunion einmal treffend als „Entwicklungsland men in Polen und Ungarn ist mittelfristig auch die mit Raketen" bezeichnet. Nur, die Forschungsmittel beste Chance für die Menschen, für unsere Lands- wurden in der Vergangenheit falsch eingesetzt. Das leute in der DDR; denn durch diese Reformen wird ein - Geld, für das die Menschen hart gearbeitet haben, Druck auf die DDR ausgeübt, dem sich die Beton- wurde verschwendet, um den Status der militärischen klötze — wie man sie im Moment nennt — , die dort Weltmacht Sowjetunion zu erhalten. versuchen, Reformen zu verhindern, nicht widerset- Die Bitte der CDU/CSU ist: Wir sollten nicht mit zen können. Gerede von Euro-Plan oder Marshall-Plan Hoffnun- Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jah- gen bei den Menschen in Osteuropa wecken, die wir ren bereits eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen nicht erfüllen können. Wer jetzt leichtfertig das Wort und über die EG unterstützt. Die CDU/CSU-Fraktion Marshall-Plan mißbraucht, weckt bei den Menschen 12242 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Kittelmann in Ungarn und Polen Hoffnungen, die von den Regie- Übergangsfristen für den freien Warenaustausch vor- rungen trotz allen guten Willens nicht erfüllt werden sehen. Damit haben diese Länder Gelegenheit, ihre können. Wer überzogene Hoffnungen weckt, der ge- Reformen durchzusetzen, um sich dann auf die west- fährdet im Grunde die Reformen. europäischen Märkte vorbereiten zu können. Sie kön- nen mit der Diversifizierung ihrer Exporte beginnen, Dabei sollte sich besonders die SPD an die Fehler die sich seit Jahrzehnten auf wenige Rohstoffe und erinnern, die in den 70er Jahren gemacht wurden. Es technologisch wenig anspruchsvolle Produkte kon- war doch vor allen Dingen die großzügige Kreditver- zentrieren. gabe zu Zeiten sozialdemokratischer Regierungen, die den hohen Schuldenstand verursacht hat, unter Unser besonderer Appell gilt der deutschen Wirt- dem die nicht-kommunistische Regierung in Polen schaft, jede realistische Chance zu Investitionen zu heute leidet. Deswegen tut die Bundesregierung gut ergreifen. Die Bundesregierung hat erste Investitions- daran, sich nicht durch überzogene Euphorien vieler förderungs- und Schutzabkommen mit Staaten des politischer Gruppierungen, auch der Sozialdemokra- Comecon geschlossen und verhandelt über weitere. ten, irritieren zu lassen. Wir sind auch für die klaren Vorgaben sehr dankbar. Die SPD hat z. B. schon von großzügiger Hilfe und Auf dieser Grundlage sollten die Unternehmen jetzt Umschuldung gesprochen, als von einer demokrati- ihre aktive Rolle für die Reformen übernehmen. schen Regierung in Polen ebensowenig wie von den Der Vorschlag des Vorstandsvorsitzenden der Deut- Vereinbarungen am Runden Tisch die Rede war. schen Bank, Herrhausen, eine polnische „Anstalt für Hätte die Bundesregierung den Drängeleien damals wirtschaftliche Erneuerung" nach Art der Deutschen nachgegeben, hätte sie im Grunde eine Reformver- Kreditanstalt für Wiederaufbau zu errichten, ist eine hinderungspolitik betrieben. konstruktive Anregung. Wir bitten die Bundesregie- (Zustimmung bei der CDU/CSU) rung, darüber nachzudenken, ob sie zu realisieren ist. Denkt man das weiter, so wäre nicht auszuschließen gewesen, daß der Kommunist Rakowski heute noch Wer Gewinne erzielen will, muß auch auf Risiken Ministerpräsident von Polen wäre. gefaßt sein. Jede Form der Absicherung von Investi- tionen kann es für unsere Unternehmen nicht geben, Wir wollen finanzielle Hilfe für Polen. Wir wollen auch wenn wir nach einer Umschuldung für Polen und finanzielle Hilfe für Ungarn. Wir wollen auch der So- Ungarn die Wiederaufnahme der Vergabe von Her- wjetunion finanzielle Hilfe gewähren, aber entspre- mes-Bürgschaften durchaus befürworten. chend den Kriterien, die ich vorhin genannt habe. Bundeskanzler Helmut Kohl hat beim Besuch Mi- Das Zauberwort heißt häufig Joint-Ventures. Wir chail Gorbatschows in Bonn die Unterstützung der werden die weitere Zunahme von Joint-Ventures be- Bundesregierung zugesagt. Lech Walesa hat bei sei- stimmt unterstützen, weil das gleichzeitig technologi- nen Gesprächen mit der Bundesregierung in Bonn sches und personelles Know-how vermittelt. ebenfalls großes Verständnis gefunden. Bei allen Ge- Allerdings bitten wir die Bundesregierung, mittel- sprächen — auch bei denen mit der ungarischen Re- fristig auch zu überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, gierung — bestand Einigkeit, daß es nicht mehr um Außenhandelskammern in den Comecon-Ländern ungebundene Kredite gehen kann. Dieses Konzept ist einzurichten, die investitionswilligen deutschen Be- bereits in der Vergangenheit gescheitert und wird trieben und kooperationsbereiten polnischen, ungari- keine Neuauflage erleben. schen und sowjetischen Betrieben Hilfe bei der Part- Wir begrüßen die Nahrungsmittelhilfe der EG für nersuche und bei Investitionen vor Ort leisten. Polen und werden dazu beitragen, daß sie ohne den Mit der Bereitschaft zur Durchsetzung marktwirt- bisherigen bürokratischen Aufwand fortgesetzt wer- schaftlicher Reformen sollte weiterhin die Einbezie- den kann. Aber über diese unbürokratische Hilfe hin- onale Organisationen Hand in Hand aus darf es nicht zu Krediten und zum Import von hung in internati TT bei der Sowjetunion. Ob das Konsumgütern kommen; denn eine solche Poli tik gehen. Das gilt für GA im übrigen möglich ist, bleibt dahingestellt. — auch das hat sich herausgestellt — würde eine wirkliche politische und wirtschaftliche Entwicklung Es ist für uns keine Utopie mehr, daß Ost- und West- nicht fördern, sondern verhindern. europa zu einem großen gemeinsamen Markt zusam- Die CDU/CSU begrüßt die Initiative der EG, ein von menwachsen können. Wovon man vor einem Jahr- 24 westlichen Industriestaaten getragenes weit gefä- zehnt noch nicht zu träumen gewagt hat, kann man chertes Hilfsprogramm für Polen und Ungarn zu ent- heute realistisch durchdenken. Hier ist jetzt besonders wickeln. Die hier diskutierten Ansätze weisen den auch die EG gefordert, die schon in den letzten Jahren richtigen Kurs. Die Intensivierung der Handelsbezie- eine Vielzahl von Chancen genutzt hat, die beginnen- hungen wird über die reformbereiten Staaten hinaus den Reformen zu unterstützen. einen Beitrag zur Ausweitung der internationalen Ar- Meine Damen und Herren, all die beschriebenen beitsteilung leisten und damit den Reformprozeß zu- Maßnahmen werden erfolglos bleiben, wenn die be- sätzlich stabilisieren. gonnenen Reformen nicht konsequent mit marktwirt- Handel auf der Grundlage gegenseitigen Vorteils schaftlichen Prinzipien durchgesetzt werden. Die teil- kann aber nur funktionieren, wenn beide Seiten weise aufgeschobenen Preisreformen in den sozialisti- marktgerechte Preise berechnen. Darum ist es richtig, schen Ländern müssen verwirklicht werden. Wir wis- daß die Vereinbarungen zwischen der EG auf der sen, daß das mit Belastungen für die Bevölkerung ver- einen und Polen und Ungarn auf der anderen Seite bunden sein wird. Die Belastungen werden aber um Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12243

Kittelmann so schwerer sein, je länger die Reformen auf sich war- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat jetzt der ten lassen. Herr Abgeordnete Dr. Gautier. Die Planungsbürokratien und Ministerien blockie- ren die Entwicklung. Markt kann man, wie wir wis- sen, nicht verwalten. Die Bürokratien müssen ihren Einfluß verlieren, wenn die Reformen erfolgreich sein Dr. Gautier (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen sollen. Schlecht wirtschaftende Bet riebe dürfen keine und Herren! Ich begrüße es für meine Fraktion aus- Möglichkeit haben, durch die Zusammenarbeit mit drücklich, daß wir das Thema Ost-West-Handel heute überzüchteten Bürokratien ihr Überleben zu sichern. anläßlich einer Großen Anfrage diskutieren können, Wenn die Aussicht auf wirtschaftliche Erfolge Motiva- die die CDU/CSU 1987 gestellt hat und die die Bun- tion für die Menschen sein soll, muß auch der Mißer- desregierung im Mai 1988 beantwortet hat. folg möglich sein. Daß das bisher nicht so ist, ist eine der Ursachen der katastrophalen Wirtschaftszustände Wenn man Herrn Kittelmann hört, ist man wirk lich in diesen Ländern. überrascht, wie er es fertigbringt, bei dieser an sich sehr ernsthaften Diskussion auch eine Polemik über Die Reformen sind für das Gelingen der gesamten die Frage von Systemwettbewerben und darüber zu Entwicklung wesentlich; denn die Mißwirtschaft in veranstalten, wie schlimm die Sozialdemokratie oder der Sowjetunion ist bereits 1952 so klar wie heute andere sich in welchen Jahren verhalten haben. Herr erkannt worden. 13 Jahre dauerte es, bis 1965 ein Kittelmann, ich will nicht aus Ihrer eigenen Anfrage erster Versuch gemacht wurde, der Reform des Wi rt zitieren, die Sie 1987 gestellt haben, obwohl Sie da- -schaftssystems Herr zu werden. Was daraus geworden mals sicherlich noch nicht wissen konnten, was in ist, sieht man am heutigen Scherbenhaufen, vor dem Polen oder Ungarn passiert, sondern ich möchte, Gorbatschow steht. Dabei sollten wir auch nicht ver- wenn Sie schon die Sozialdemokratie an Kredite für gessen, daß die Zwangsorientierung der übrigen Polen erinnern, nur folgendes sagen: Ich kann mich Staaten des RGW auf die Führungsmacht Sowjetunion sehr gut daran erinnern, wie kontrovers in Ihrer eige- mit die Ursache für die desolate Wirtschaftslage in nen Partei über den Globalkredit diskutiert worden diesen Ländern ist. ist, den Franz Josef Strauß für die DDR vermittelt Angesichts der Probleme, die sich gerade im Zu- hat. sammenhang mit den Auflösungserscheinungen in (Stratmann [GRÜNE]: Das war der Beginn der sozialistischen Planwirtschaft ergeben, ist es für der Republikaner!) uns nicht wesentlich, ob die Kommunisten das auch klar erkennen, ob sie weiter für oder gegen Marx sind. — Herr Stratmann sagt gerade: „Das war der Beginn Für uns zählen Taten und nicht Worte. Die Taten deu- der Republikaner! " Das glaube ich persönlich zwar ten mehr auf als auf den alten bärtigen nicht, aber ich war auch nicht dagegen. Mann aus Trier. Ich wollte nur sagen, daß die ernsthafte Situation, Für die Menschen, die in den Staaten sozialistischer mit der wir uns auseinandersetzen müssen, nicht An- Planwirtschaft leben müssen, ist Marxismus schon laß für den Austausch von Polemik zwischen CDU/ lange zum Schimpfwort geworden. Es wird Zeit, daß CSU und Sozialdemokratie sein sollte. Vielmehr soll- von bestimmten politischen Gruppen bei uns — auch ten wir uns wirklich darüber Gedanken machen, ob in diesem Hause — diese Entwicklung zur Kenntnis wir nicht die einmalige historische Chance, die sich im genommen wird. Augenblick bietet, parteiübergreifend in einen Kom- promiß in der Frage der Hilfe insbesondere für Polen (Zuruf der Abg. Frau Nickels [GRÜNE]) und Ungarn ummünzen können. Wir sollten uns nicht — Ich finde es gut, daß Sie sich gleich angesprochen in unnötige Polemik begeben. fühlen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch Für die CDU/CSU bedeutet die wirtschaftliche Ko- keine Polemik!) operation, die jetzt immer intensiver mit sozialisti- schen Staaten vereinbart wird, eine Bestätigung der Ich weiß nicht, wer Herrn Kittelmann die Rede ge- Aussagen des Harmel-Berichts. Diese wurden durch schrieben hat. Herr Kittelmann hat ja gerade schöne die wirtschaftspolitischen Aussagen des Pariser Sachen vorgelesen. NATO-Gipfels noch einmal bekräftigt. (Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist vielleicht im Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, Europäischen Parlament üblich! Wir schrei die gemeinsame Überzeugung des Westens, daß wir ben die Reden hier selber!) zu mehr Zusammenarbeit kommen wollen, fand ihren — Herr Kittelmann, im Europäischen Parlament war Ausdruck auch in der Tagung des Internationalen es ganz anders. Da war es nicht möglich — wie in Währungsfonds und der G 7 in Washington. Für uns Ihrem Fall —, eine Rede zu schreiben oder schreiben bleibt Grundlage, daß eine wirtschaftliche Hilfe im - zu lassen und sie dann so herunterzurattern. Bei uns festen Einklang mit unseren Sicherheitsinteressen gab es dort eine etwas andere Disziplin, weil man möglich ist. Auf dieser Grundlage wird die CDU/CSU unabhängig davon, zu welcher Partei man gehörte, alles unternehmen, um den historischen Prozeß der auch auf bestimmte Sachfragen eingehen konnte. Das politischen und wirtschaftlichen Änderungen in den scheint aber bei uns im Bundestag etwas verlorenge- sich sozialistisch nennenden Staaten zu fördern. gangen zu sein. Schönen Dank. (Zuruf von der CDU/CSU: Dann wäre ich an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihrer Stelle dageblieben!) 12244 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Gautier — Wenn Sie noch ein paarmal dazwischenrufen, ist Wenn wir einmal die vielfältigen Aktivitäten in der meine Redezeit bald zu Ende. Hören Sie bloß auf! letzten Zeit betrachten, dann kann man ja auch einen gewissen Grad von Optimismus haben. Ich fange z. B. (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Das wäre gar damit an, daß ich es als Sozialdemokrat persönlich nicht so schlecht!) außerordentlich begrüße, daß der amerikanische Prä- Ich möchte im Zusammenhang mit unserem Thema sident Bush vor dem Pariser Gipfel in Polen und in auf ein paar Punkte eingehen. Wenn ich im Augen- Ungarn gewesen ist und dort auch politische Signale gesetzt hat. blick in meinem Wahlkreis mit Gruppen aus verschie- densten Spektren darüber diskutiere, was im Augen- Ich hätte mir gewünscht, daß unser Bundeskanzler blick in Westeuropa vonstatten geht, begegne ich ei- —oder der Bundeskanzler der Koalition — dies auch nem Phänomen, das mich immer wieder überrascht, gemacht hätte. nämlich daß es eine gehörige Skepsis der Bürger ge- (Kittelmann [CDU/CSU]: Unser, das war genüber den Vorgängen in Polen, in Ungarn und in gut!) der Sowjetunion sowie gegenüber der Frage gibt, ob die Bundesrepublik Deutschland einen finanziellen — Ich meine den Bundeskanzler der Bundesrepublik Beitrag leisten soll. Das ist sehr, sehr weit verbreitet. Deutschland, nicht meinen; das ist eine institutionelle Weil wir dort auch mit einem Widerstand der Bürge- Frage. Deswegen sage ich unser — also institutio- rinnen und Bürger zu rechnen haben, will ich noch nell — Bundeskanzler und nicht mein Bundeskanz- einmal verdeutlichen, warum ich es für notwendig ler. halte, daß wir uns dort aktiv einschalten. Ich hätte mir gewünscht, der Bundeskanzler hätte dies auch getan und damit auch ein Signal gesetzt und Es gibt dort zweierlei Interessenlagen. Die eine In- nicht dieses Desaster veranstaltet, das wir in den letz- teressenlage ist die, daß wir den Menschen, die in ten Monaten erlebt haben. Wir haben anschließend diesen Bereichen wohnen, aktiv helfen wollen, d. h. den Pariser Weltwirtschaftsgipfel mit positiven Signa- im Interesse der Menschen, die dort wohnen, aktiv len gehabt, wo sich die führenden westlichen Indu- werden wollen. strienationen ihrer Verantwortung bewußt geworden Wir haben zweitens aber auch ein eigenes Inter- sind und sich auch verantwortlich gezeigt haben. Wir esse. Dieses eigene Interesse ist meines Erachtens haben in den letzten Tagen die Tagung des Interna- nicht unerheblich. Wir haben das erste Mal wirklich tionalen Währungsfonds und der Weltbank gehabt, die historische Chance für eine ausgesprochene Ent- und wir haben die Aktivitäten der Europäischen Ge- spannungs- und Abrüstungspolitik, die uns, aber meinschaft gehabt. auch den Bürgerinnen und Bürgern in Osteuropa auch In vielen Bereichen gab es eigentlich gute Zeichen, ökonomisch hilft. Wenn wir auf dem Weg der Abrü- nämlich insoweit, daß sich die führenden westlichen stung wirklich Fortschritte machen können, wäre das Industrienationen ihrer Verantwortlichkeit im Blick auch für uns ökonomisch sinnvoll. auf den Prozeß in Osteuropa bewußt geworden sind. Wenn wir uns die Sachlage do rt ansehen, glaube ich, Drittens haben wir auch die Chance, durch die Ver- daß letzten Endes die Initiative aber von Europa aus- besserung der Lebenssituation der Menschen in Po- gehen muß. Sie muß insofern von Europa ausgehen, len, in Ungarn und in anderen Staaten von Osteuropa als die Initiative seitens der Vereinigten Staaten von den Zustrom von Aussiedlern in die Bundesrepublik Amerika sicher ihre Begrenztheit hat. Wir haben als Deutschland gegebenenfalls etwas zu reduzieren, Europäer von unserer eigenen Geschichte her, aber weil der ökonomische Druck vielleicht nicht mehr so auch von der geographischen Lage her das größte stark ist, daß Menschen den Wunsch haben, aus Po- Interesse. Wir haben auch sicher die größeren Kapital- len, aus Ungarn oder von wo auch immer in die Bun- möglichkeiten. Die Amerikaner haben genügend mit desrepublik Deutschland überzusiedeln. Wenn wir ihren eigenen Problemen, die sie zu Hause haben, zu dazu beitragen, die Lebenssituation der Menschen kämpfen. Deshalb sollte die Initiative von Europa dort zu verbessern, dann erreichen wir auch den inch- ausgehen. rekten Effekt, daß vielleicht weniger Menschen den Drang haben, in die Bundesrepublik Deutschland zu Der erste Punkt der Initiative, der erfreulich gelau- kommen, in der wir ja durch die Übersiedlung auch fen ist, ist das Soforthilfeprogramm der Europäischen große praktische Probleme haben. Gemeinschaft, das wir außerordentlich begrüßen. Es zeigt übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Die These, die wir als Sozialdemokraten jahrelang die Europäische Gemeinschaft und ihre Institutionen vertreten haben — wir wollen wirtschaftliche und — wie die Kommission der Europäischen Gemein- politische Kooperation mit den Staaten in Osteu- schaft — nicht so unflexibel sind, wie es in der Öffent- ropa — , ist eigentlich im Ke rn nach wie vor richtig. Ich lichkeit immer dargestellt wird, wenn von den Büro- muß wirklich sagen, daß ich mich darüber gefreut kraten, die in Brüssel sitzen, die Rede ist. Ich muß habe, als ich in den Nachrichten — ich glaube am letz- außerordentlich loben, daß die Kommission der Euro- ten Wochenende — und im Fernsehen bei dem Be- päischen Gemeinschaft sehr schnell und sehr zügig richt über die Gespräche des amerikanischen Außen- gehandelt hat und sehr rasch die Nahrungsmittelhilfe ministers Baker und des sowjetischen Außenministers und die Verwendung der Finanzmittel in die Wege Schewardnadse in den USA vernommen habe, daß geleitet hat. Ich würde es allerdings begrüßen, wenn auch die amerikanische Regierung deutlich gemacht die Europäische Gemeinschaft diese Soforthilfepro- hat, daß der Schritt von der Konfrontation zur Koope- gramme nicht nur aus Beständen der europäischen ration mittlerweile vollzogen worden ist. Ich glaube, Landwirtschaft tätigen würde, sondern wenn sie ge- daß dies die Leitlinie unserer Politik sein muß. gebenenfalls auch Paketprogramme durchführen und Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12245

Dr. Gautier unter Umständen auch Nahrungsmittel, die in Ungarn Ungarn, aber auch anderen Ostblockländern, vor al- vorhanden sind, finanziell do rt für einen Transfer be- lem der Sowjetunion, schnell und zügig erreichen. reitstellen würde, so daß auch ein Aufkauf in Ungarn Das Handelsabkommen der Europäischen Gemein- möglich würde. schaft mit Ungarn war der erste Schritt. Das begrüßen wir außerordentlich. Die Unterzeichnung des Han- Wir haben weitere Hilfsprogramme in Aussicht ge- delsabkommens mit Polen ist sicher ein weiterer nommen. Weitere Hilfsprogramme — in diesem Schritt. Aber ich glaube, wir brauche weitere Ergän- Punkt würde ich auch Herrn Kittelmann zustimmen — zungen. Diese Handelsabkommen, die ja den Abbau können nicht so gestaltet sein, daß wir Geld in ein Faß mengenmäßiger Beschränkungen vorsehen, sollten ohne Boden hineingeben, sondern weitere Hilfspro- auch die Frage des Handels mit Agrarprodukten zum gramme müssen an konkrete Reformen in Polen und Inhalt haben. Ich kann mich immer wieder darüber in Ungarn geknüpft sein. Diese Erkenntnis ist ja auch aufregen: Immer wenn in Deutschland Kirschernte ist, nicht neu. Diese Erkenntnis haben ja auch die Politi- kommt regelmäßig aus dem Landwirtschaftsministe- ker sowohl in Ungarn als auch in Polen. Wenn man rium die Anregung, die Kirschimporte aus dem Ost- sich z. B. ansieht, was heute in der Presse stand und block zu stoppen, weil unsere deutschen Kirschbau- was offensichtlich die polnische Regierung jetzt an die ern sonst Schädigungen und dieses und jenes erfah- EG-Kommission in Form einer Denkschrift vermittelt ren. Das heißt, die politische Praxis muß sich auch in hat, in der sie ihre Reformziele beschrieben hat, stellt der Bundesrepublik Deutschland in den Ministerien man fest, daß dann dies Reformziele sind, die wir aus an den dortigen politischen Wunsch angleichen. der Sicht der Bundesrepublik Deutschland oder aus der Sicht der Sozialdemokratischen Partei im Prinzip Ich glaube, wir sollten Ländern wie Polen und Un- unterstützen können. Die polnische Regierung hat die garn auch Tarifkonzessionen gewähren. Es geht also Absicht, bestimmte marktwirtschaftliche Elemente in nicht nur um Zugeständnisse beim Abbau mengen- das polnische Wirtschaftssystem einzuführen und be- mäßiger Beschränkungen, sondern auch darum, ob stimmte Bereiche der Eigenstruktur zu ändern. Sie hat wir Polen und Ungarn in den Rahmen des allgemei- auch die Absicht, die Inflation zu bekämpfen und die nen Zollpräferenzsystems eingliedern können. politische Preiskontrolle dort zu ändern. Auch die Re- form des Bankensystems — ein sehr wichtiger Bereich Der zweite Punkt, den ich zur Sprache bringen —inklusive der Frage der Kapitalbildung in Polen sel- möchte, betrifft Eurokapitalfonds, Marshallplan und ber mit Anreizen für positive Realzinssätze sind An- Herrhausen-Entwicklungsbank, die Herr Kittelmann sätze, die die polnische Regierung selber sieht. gerade so heftig bekämpft hat. Ich glaube, das ist ein Ebenso ist die Frage der Struktur des Haushalts in sinnvolles Instrument. Polen zu nennen, wobei ja das strukturelle Haushalts- (Zuruf des Abg. Stratmann [GRÜNE]) defizit abgebaut werden soll. Das alles sind positive Ansätze, die wir als Sozialdemokratische Partei außer- Kapital ist vorhanden. Herr Stratmann, Sie bezweifeln ordentlich begrüßen. Dies wird aber sicher zu einer das. In Ihrem eigenen Antrag steht das. Ich wollte das sehr schwierigen innenpolitischen Lage in Polen füh- nur einmal sagen. Soll ist das zitieren? ren, im wesentlichen in Polen, weniger in Ungarn. (Stratmann [GRÜNE]: Herrhausen über Nun wäre es natürlich absurd, wenn wir als west- haupt nicht!) liche Industrienation uns hinstellen und sagen wür- den: Warten wir einmal ab, was da passiert. — Viel- — „Herrhausen" steht darin nicht wörtlich, aber sinn- mehr muß unsere Aufgabe jetzt sein, diesen Prozeß, gemäß. der zu schwierigen innenpolitischen Problemen in Po- (Stratmann [GRÜNE]: Auch nicht sinnge len und gegebenenfalls in Ungarn führen wird, hier mäß!) und heute zu unterstützen. Dazu gibt es eine Reihe von Schritten, die wir dort direkt unternehmen kön- Es geht um die Frage, einen Kapitalfonds für private nen. Existenzgründung, insbesondere für Klein- und Mit- telbetriebe, zu bilden. Die Erfahrung, die wir in der Ich sehe, meine Zeit läuft schneller ab, als ich ver- Bundesrepublik Deutschland mit der Kreditanstalt für mutet habe. Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank (Zuruf von Bundesminister Dr. Haussmann) gemacht haben, ist auch für Polen und Ungarn kon- —Ich habe noch vier Minuten, Herr Minister. Ich habe struktiv zu verwenden, und zwar sowohl für Existenz- nämlich eine Uhr, ein modernes Produkt, nicht aus gründungen wie in bestimmten Bereichen für Moder- Baden-Württemberg, nisierung, aber auch für Umweltinvestitionen in den Betrieben. Gerade der letzte Punkt erscheint uns So- (Stratmann [GRÜNE]: Aus dem Ruhrge- zialdemokraten besonders wichtig. biet!) Drittens weise ich darauf hin, daß die Nutzung von sondern aus Niedersachsen. Darlehen der Weltbank und der Europäischen Inve- - (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt sind es nur stitionsbank ein sehr positives Element zur Förderung noch drei Minuten!) und Finanzierung wirtschaftsnaher Infrastruktur sein kann. Ich bin sehr darüber erfreut, daß EG-Kommissar — Es gibt also eine ganze Reihe von Schritten, mit Andriessen und die dort unter der EG-Koordinierung denen der Westen nach meiner Ansicht unmittelbar vertretenen Staaten erklärt haben, daß gerade die sofort etwas unternehmen kann. Europäische Investitionsbank ihre Tätigkeit dort aus- Der erste Punkt. Wir müssen einen weiteren Abbau weiten sollte und dies ein Instrumenta rium ist, um der Handelsbeschränkungen gegenüber Polen und wirtschaftsnahe Infrastruktur zu finanzieren. 12246 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Gautier Viertens spielt der Beistandskredit des Internatio- Der Erfolg der wirtschaftlichen Reformen sichert nalen Währungsfonds eine Rolle. Dies sind wichtige auch auf Dauer demokratische Entwicklungen, die Fragen. In diesem Zusammenhang appelliere ich an nicht nur auf Polen und Ungarn beschränkt bleiben die Bundesregierung, Herr Haussmann, die Umschul- werden, sondern auch Einfluß auf die Entwicklungen dungsverhandlungen im Pariser Club entsprechend der anderen osteuropäischen Staaten nehmen. Politik konstruktiv zu begleiten und Kreditstreckungen vor- und Wirtschaft, d. h. Demokratisierung und wirt- zunehmen. Es gibt eine Palette von Vorstellungen, schaftliche Liberalisierung, bedingen sich gegensei- wie man dort Krediterleichterungen für Polen erwir- tig. Wir werden daher die wirtschaft lichen Reform- ken kann. Dazu ist an die Geschäftsbanken die Frage bestrebungen in Osteuropa unterstützen, und zwar zu stellen, wieweit sie die gegebenen deutschen Ab- auf bilateraler und multilateraler Ebene. schreibungsmöglichkeiten im steuerlichen Bereich an Das Sprichwort „Wer schnell gibt, gibt doppelt" die Volksrepublik Polen und andere Bereiche weiter- sollte auch für unsere Unterstützungsmaßnahmen ge- leiten. genüber Polen und Ungarn gelten. Dabei kommt es Meine Damen und Herren, meine letzte Anmer- nicht so sehr auf kurzfristige Hilfsmaßnahmen an, son- kung — meine Redezeit ist zu Ende — betrifft unseren dern die Hilfe muß auf die strukturellen Veränderun- eigenen Antrag. Wir haben im Deutschen Bundestag gen der Wirtschaft in den betreffenden Ländern aus- einen Antrag eingebracht, von dem wir meinten, daß gerichtet sein. Ihr Ausmaß sowohl im p rivaten als auch ihn die anderen Fraktionen mittragen könnten, weil im öffentlichen Bereich kann um so größer sein, je das zum erstenmal ein Antrag ist, in dem wir in Teil- rascher die Reformen selber vorankommen. Wenig bereichen die Bundesregierung sogar loben. Das sinnvoll ist es, Hilfen zu geben, ohne daß sich die heißt, wir waren der Überzeugung, daß wir in diesen Strukturen in den jeweiligen Volkswirtschaften ver- Fragen zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung ändern. Das haben bereits manche Milliardenkredite hier im Deutschen Bundestag und zu einer gemeinsa- in der Vergangenheit gezeigt, ohne daß ich diese hier men Position kommen könnten. genau spezifizieren möchte. Wir haben nun in den letzten Tagen nach den Bera- Die Versorgungsmängel, geringes Wachstum, tungen mit den Koalitionsfraktionen festgestellt, daß Budgetdefizite und Devisenmangel sind durch Plan- wir nicht zu einer einheitlichen Position kommen. Wir wirtschaft und mangelnde marktwirtschaftliche Ele- als sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchten mente entstanden. Demgemäß wären marktwirt- deswegen auf eine Kampfabstimmung verzichten. schaftliche Maßnahmen, Eigentumsgarantie und un- Wir glauben, daß es im Interesse der Sache sinnvoll ternehmerische Freiheiten zu fördern. ist, daß wir zu einer gemeinsamen Position der hier im Haus vertretenen Parteien kommen. Wir werden des- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halb der Überweisung an den federführenden Wirt- Wir werden deutsche Unternehmen daher ermun- schaftsausschuß und an den mitberatenden außenpo- tern, Investitionen auch im Wege von Joint-ventures litischen Ausschuß in der Hoffnung zustimmen, daß in den osteuropäischen Ländern vorzunehmen. Dazu wir in den nächsten Wochen durch die Ausschußbera- ist naturgemäß erforderlich, daß entsprechende Inve- tungen zu einer gemeinsamen Position kommen, die stitionsschutzabkommen mit den betreffenden Län- konstruktiv zu einer Weiterentwicklung der Wirt- dern getroffen werden, wie dies ja bereits mit Ungarn schafts-, der Finanz- und der politischen Beziehungen seit 1987 der Fall ist. Darüber hinaus müssen die Ar- insbesondere zu Polen und Ungarn beitragen wird. beitsbedingungen für deutsche Firmenvertretungen Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. verbessert werden. Als weitere Maßnahmen müssen Hilfen bei der Aus- und Weiterbildung von Fach- und (Beifall bei allen Fraktionen) Führungskräften aus den RGW-Ländern erfolgen; auch hier haben wir schon erfolgversprechende An- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Herr sätze gefunden. Abgeordnete Funke. Soweit wir hierzu noch national in der Lage sind, sollten wir Märkte für osteuropäische Produkte, ins- Funke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und besondere auch aus Polen und Ungarn, öffnen. Soweit Herren! Die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen haben dies nur auf europäischer Ebene möglich ist, müssen sich im Jahre 1988 und auch im ersten Halbjahr 1989 wir unseren Einfluß geltend machen, um hier zu ge- erstmals nach langen Jahren der Stagnation positiv meinsamen europäischen Lösungen zu gelangen. Da- entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit bei könnte auch eine internationale Beratergruppe großem Abstand Osthandelspartner Nummer eins der denjenigen Ländern, die dies wünschen, bei der RGW-Länder, wenn auch der Anteil des Osthandels Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien be- am Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland hilflich sein. Diese Beratergruppe könnte aber auch bei nur 3,5 % liegt. für die Frage der Finanzierung und Erschließung von Die in den letzten 18 Monaten erfreuliche Entwick- Absatzmärkten, aber auch bei der Beratung zur bes- lung in den Handelsbeziehungen mit den RGW-Staa- seren Nutzung der eigenen Ressourcen zur Verfü- ten ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß die gung stehen. Beispiel könnten Polen und auch die politischen Reformbestrebungen in Ungarn, Polen Sowjetunion sein. und in der Sowjetunion eingesetzt haben. Die wirt- Im Interesse einer europäischen Friedensordnung schaftlichen und politischen Reformbestrebungen in müssen wir unsere eigenen Märkte öffnen. Umge- Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion müssen von kehrt müssen die osteuropäischen Länder wissen, daß der Bundesrepublik Deutschland und der Europäi- sie im freien Wettbewerb auf dem westeuropäischen schen Gemeinschaft tatkräftig unterstützt werden. Markt konkurrieren müssen und nur dann bestehen, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12247

Funke wenn ihre Waren den hier üblichen Qualitätsstan- rungen formuliert, die eine GRÜNEN-Delegation dards genügen. Hierzu bedarf es wesentlicher Investi- noch vor wenigen Wochen in Polen hat sammeln kön- tionen und des Transfers von technischem Know-how. nen. Wir haben u. a. auch mit dem jetzigen Finanzmi- Investitionen bedürfen der Finanzierung, die die Bun- nister, Herrn Balzerowicz, über die Probleme in Polen desrepublik Deutschland insbesondere Ungarn als- geredet. Unser Eindruck war — und darin besteht ein bald gewähren sollte. Auch Polen sollte durch die breiter Konsens — : Es gibt einen unabweislichen so- Wiedereröffnung der Hermes-Kreditversicherung fortigen Bedarf an ganz erheblichen Finanzhilfen für nach einer alsbaldigen Regelung eines Umschul- Polen und vergleichbar verschuldete und in der Mi- dungsabkommens mit entsprechenden Krediten ge- sere befindliche Staaten in Osteuropa. holfen werden. Das Pariser Schuldenabkommen ist Was uns allerdings von den Vorschlägen der Bun- bereits angesprochen worden. desregierung und auch — in Akzenten, Herr Der Transfer von technischem Know-how ist durch Gautier — von Ihren Vorschlägen trennt, ist, daß wir Kooperationsabkommen auf staatlicher und vor allem Tendenzen in Richtung eines neuen Marshallplanes auf privatwirtschaftlicher Ebene und durch Joint-ven- gegenüber den in der Krise befindlichen Ländern tures sicherzustellen. Wir setzen uns dafür ein, daß die Osteuropas nicht nur mit Bauchschmerzen sehen, son- Beschränkungen auf Grund der Cocom-Liste auf das dern ablehnen. Der Marshallplan, wie er in der Nach- absolute Minimum zurückgeführt werden. kriegsphase in der Bundesrepublik Realität geworden Multilateral sollte weiterhin das Engagement des ist, hatte neben einer unbezweifelbar positiven Seite Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auch erhebliche Nachteile. Über die Vorteile möchte gefördert werden. Schließlich sind wir an diesen inter- ich gar nicht reden, weil es darüber unter uns Konsens nationalen Institutionen maßgeblich beteiligt, unser gibt. Er war eine ganz wesentliche Voraussetzung für Einfluß ist erheblich, und wir spielen in der Welt wäh- den Wiederaufbau in der Bundesrepublik. Er war aber rungspolitisch eine große Rolle. Weltbank und Inter- gleichzeitig ein Herrschaftsinstrument der reichen nationaler Währungsfonds verfügen darüber hinaus Geberländer, um das völlig zerstörte Nachkriegs- über große internationale Erfahrungen bei der Formu- deutschland — Westdeutschland — in ihren ökonomi- lierung von Anpassungsprogrammen. Die gelegent- schen und politischen Herrschaftsbereich zu integrie- lich kritisierten Auflagen des Internationalen Wäh- ren. Das haben wir nicht vor. Wir wollen nicht auf dem rungsfonds haben sich im Ergebnis als positiv heraus- Wege ökonomischer Hilfestellung und ökonomischer gestellt. Macht Länder wie Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, demnächst DDR oder Sowjetunion, sozusagen in den (Stratmann [GRÜNE]: Für wen?) kapitalistischen Machtbereich integrieren. Im Gegen- — Ich komme dazu. — Diejenigen Länder, die den teil, solche Positionen lehnen wir ab. Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds Aus diesem Grunde lehnen wir auch den gerade in gefolgt sind, sind besser gefahren als die anderen, die Washington geäußerten Herrhausen-Plan ab. Wenn diesen Rat in den Wind geschlagen haben. Wir sind Herr Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen davon überzeugt, daß eine Vereinbarung zwischen Bank, den Vorschlag macht, in Warschau und Buda- dem IWF und Polen über ein wirtschaft liches Anpas- pest eine Anstalt für wirtschaftliche Erneuerung, aber sungsprogramm und über ein Bereitschaftskreditab- unter wesentlicher ökonomischer Steuerung von au- kommen eine wichtige Voraussetzung für die Sanie- ßen — das ist der entscheidende Knackpunkt — , zu rung der polnischen Wirtschaft darstellen kann. installieren, wäre dies ein kapitalistischer Banken- Alle Hilfe des Westens und insbesondere der Bun- brückenkopf in Warschau, Budapest und anderen desrepublik Deutschland muß Hilfe zur Selbsthilfe Ländern. sein, damit diese Länder in die Lage versetzt werden, (Kittelmann [CDU/CSU]: Nach dem die sich am wirtschaftlichen Aufschwung Europas durch sehnen!) Strukturwandel und Offenheit ihres Systems teilzu- nehmen. Damit wirken wir auch auf wirtschaftlicher Das sagt Herr Herrhausen ausdrücklich, und er Ebene am Aufbau einer europäischen Friedensord- schlägt sogar schon vor, wer der Vorsitzende einer nung mit. solchen Anstalt sein soll, nämlich nicht ein Osteuro- päer, sondern ein Niederländer. Vielen Dank. (Kittelmann [CDU/CSU]: Zum Beispiel!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Sie sagen „Zum Beispiel" , Herr Kittelmann. Das wundert mich bei Ihnen nicht. Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Herr Aber an die Adresse von Herrn Gautier: Diese Art Abgeordnete Stratmann. von Wirtschaftshilfe, die mit Herrschaftsansprüchen verknüpft ist, mit ökonomischen Hegemonialansprü- chen, was bei der Deutschen Bank nicht verwundert, Stratmann (GRÜNE): Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wir GRÜNEN haben in diese Debatte ei-- lehnen wir ab. nen eigenen Entschließungsantrag zur nichtdiskrimi- (Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist marxisti nierenden Förderung der Reformen in Ungarn und in sches Politologengeschwätz!) Polen eingebracht und wollen es genauso halten, wie Sie es, Herr Gautier, für Ihren Antrag vorgeschlagen Präsidentin Dr. Süssmuth: Gestatten Sie eine Zwi- haben und ihn zwecks weiterer Beratung und viel- schenfrage von Herrn Gautier? leicht auch — möglichst breiter — Konsensbildung an die Ausschüsse überweisen. Unser Entschließungsan- trag ist wesentlich auf der Basis von politischen Erfah- Stratmann (GRÜNE): Ja. 12248 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Dr. Gautier (SPD): Herr Stratmann, nachdem Sie dite — sind Programme zur Entschuldung. Wir haben Ihre wuchtigen Ausführungen gemacht haben, in de- allerdings ganz konkrete Vorstellungen, wie z. B. im nen Sie diese Hilfen abgelehnt haben, darf ich Sie Falle Polens eine solche Entschuldung funktionieren fragen: a) ob Sie weiterhin für Globalkredite sind, die könnte. die Polen alleine verwalten sollten — das wäre die Erstens. Weitgehende Logik — , b) wie die Ziffern 2 a und c in Ihrem Antrag Streichung der Schuldenlast zu verstehen sind, wo Sie einen gesamteuropäischen überhaupt. Das ist nicht etwas aus der Luft Gegriffe- nes, sondern wir erinnern an die Erfahrung, die ge- Entwicklungsfonds der ECE forde rn und Investitions- kapital für Infrastrukturmaßnahmen, wobei Sie pari- rade die Bundesrepublik im Aufbau 1952 mit dem tätisch besetzte Gremien, also offensichtlich auch eine Londoner Schuldenabkommen gemacht hat. Mit dem starke Mitbestimmung der Geldgeber, wollen, und c), Londoner Schuldenabkommen ist neben dem Mar- shall wie zu verstehen ist, daß Sie einen Fonds zur Förde- -Plan eine wesentliche Voraussetzung für den Wiederaufbau geleistet worden. Damit ist ein Großteil rung genossenschaftlicher und p rivater Investitions- der bundesdeutschen Schulden gegenüber dem Aus- vorhaben fordern, durch den Sie offensichtlich p rivate Investitionen in Polen und Ungarn fördern wollen, die land, die zum Teil aus der Zwischenkriegszeit stamm- Sie auch über einen paritätisch verwalteten Fonds ten, ersatzlos gestrichen worden. Das fordern wir ge- dort entwickeln wollen. genüber Polen ebenso. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für deren Wi rtschaftsreform. (Frau Nickels [GRÜNE]: Das haben Sie eben schon gehört, wenn Sie gut zugehört ha- Zweitens. Wir sind nicht dafür, eine Totalentschul- ben!) dung vorzunehmen. Wir wollen die Restschulden an ökologische Bedingungen knüpfen, und zwar in der — Nein, habe ich nicht. Vielleicht bin ich dazu zu Weise, daß sogenannte dumm. ökologische Gegenwertfonds gebildet werden. Das muß nach einem Instrumenta- Was ist, wenn Sie dort solch einen Fonds gestalten rium geschehen, wie es jetzt bei der Entschuldung und offensichtlich wesentliche westliche Mitsprache oder teilweisen Umschuldung des Jumbo-Kredits von wollen, der Unterschied zu einem anderen Kapital- der Bundesregierung angewandt worden ist. Wir fin- fonds, durch den bestimmte Kredite vergeben wer- den dieses Instrumenta rium ausgesprochen hilfreich den? und auch phantasievoll. Wir schlagen vor, dieses In- (Frau Nickels [GRÜNE]: Jetzt hält er noch strumentarium auf die ökologische Problematik aus- eine zweite Rede, weil er eben noch nicht zubreiten, und zwar in der Weise, daß z. B. pro Jahr genügend untergebracht hat!) 1 Milliarde Dollar von der Schuldentilgungsleistung Polens in einen solchen ökologischen Gegenwert fonds unter der Voraussetzung eingespeist wird, daß Stratmann (GRÜNE): Herr Gautier, ich danke Ihnen Polen diesen Fonds zur Sanierung von ökologischen dafür, daß Sie weite Passagen unseres Antrags vorge- Altlasten im beiderseitigen Interesse nutzt. lesen haben. Des weiteren will ich Ihre Frage in der Weise beantworten, daß ich die wichtigsten Punkte Gerade vor wenigen Wochen hat in Danzig unter unseres Antrags im einzelnen erläutere; Sie brauchen Beteiligung der baltischen Länder, Polens und auch dann nicht so lange zu stehen. der Bundesrepublik und deren Umweltorganisationen (Dr. Gautier [SPD]: Das ist aber sehr nett von und staatlichen Organisationen eine inte rnationale Ihnen, Herr Stratmann, wirklich außer- Konferenz zur Sanierung der Ostsee stattgefunden, ordentlich!) wo genau diese Idee des ökologischen Gegenwert fonds entwickelt worden ist. Ich selber habe mit mitt- Ich möchte zunächst auf den ersten, von Ihnen nicht lerweile führenden Wirtschaftspolitikern in Polen dar- zitierten Punkt eingehen, der nicht zufälligerweise an über gesprochen, die eine solche Idee ausdrücklich erster Stelle steht: Wir fordern in unserem Antrag als begrüßt haben. Also: Weitgehende Entschuldung, Soforthilfe eine Streichung der Auslandsschulden. aber keine totale — — Nehmen wir das Beispiel Polen, das krisenhafteste Land zur Zeit: 40 Milliarden Dollar Außenschulden (Dr. Solms [FDP]: Solange die es nicht bezah gegenüber verschiedenen westlichen Staaten, insbe- len müssen, begrüßen sie alles!) sondere Staaten, aber auch p rivaten Banken. Obwohl — Sie bezahlen es doch. Da sagen wir, Herr Solms, es ein Teil der Auslandsschulden von Polen gar nicht ist auch unter Berücksichtigung bundesrepublikani- mehr bedient wird, weil es das ökonomisch einfach schen Interesses wesentlich besser, daß wir, statt die nicht mehr kann, wurden im letzten Jahr 2 Milliarden Polen durch die Schuldentilgung bluten zu lassen, Dollar an Schuldentilgung von Polen aufgebracht, wobei wir dann deren ökologische Folgeprobleme in 2 Milliarden Dollar, die als Finanzmittel für die Re- Form von Luftschadstoffen und Verdreckung der Ost- form im Lande verlorengegangen sind. Wir sagen: see mittragen, die Gelder, die sie heute an uns zahlen, Das wichtigste und kurzfristig notwendigste Instru- ihnen unter der Bedingung geben, daß sie zur Sanie- ment zur finanziellen Hilfe gegenüber Polen und ver-- rung der Weichsel, des Bugs, der Ostsee, der Kraft- gleichbaren Ländern sind Entschuldungspro- werksparksanierung und damit auch der Reduzierung gramme. der Umweltemissionen genutzt werden. Hier haben wir schon die erste Differenz in der Akzentuierung, Herr Gautier. Das kommt bei Ihnen (Dr. Gautier [SPD]: Also Auflagen!) zwar auch vor, aber in einem ganz nebulös gehaltenen — Natürlich, ökologische alternative Auflagen, die Satz, der politisch überhaupt nichts ausdrückt und der allerdings von beiderseitigem ökologischem Interesse am Ende Ihres Antrages steht. Wir sagen: Wichtiger sind, die also sowohl im Interesse von Polen, Ungarn als frisches Geld — neue Global- oder Spezialkre- und der Tschechoslowakei als auch — ich denke an Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12249

Stratmann den Bayerischen Wald — im Interesse der Bundesre- habe ich jedoch überhaupt keine Lust, mit Ihnen in publik Deutschland sind. Sie werden sowohl von Um- einen Dialog einzutreten. weltorganisationen in Polen als auch von Regierungs- (Dr. Gautier [SPD]: Es war wirklich ernsthaft, vertretern — zumindest von denen, mit denen ich ge- Herr Stratmann!) sprochen habe — getragen. Dann unterlassen Sie aber den Unterton! Drittens. Jetzt komme ich, Herr Gautier, zu Ihrer — Frage. Wir schlagen vor, daß die Wirtschaftskommis- (Dr. Gautier [SPD]: Sie schlagen einen ECE- sion der Vereinten Nationen über die aktuellen Hilfs- Fonds vor. Sie wissen, wer Mitglied der ECE maßnahmen von 24 westlichen Staaten hinaus einen ist. Sie sagen — — ! ) einrichtet, gesamteuropäischen Entwicklungsfonds — Ich habe die Frage verstanden und möchte sie be- in den die verschiedenen Staaten — westeuropäische antworten. und osteuropäische — je nach ihrem ökonomischen Potential einspeisen. Dieser Entwicklungsfonds muß (Kittelmann [CDU/CSU]: Ihr seid doch sonst für Infrastrukturmaßnahmen, für humanitäre Hilfe nicht so empfindlich!) im Bereich der Nahrungsmittelversorgung, der Ge- Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Steuerung von au- sundheitsfürsorge, zur Förderung von genossen- ßen anzulegen, entweder eine kapitalistisch domi- schaftlichen und p rivaten Investitionsvorhaben, also nierte Auflagensteuerung von IWF und Weltbank, —hier haben wir, Herr Funke, einen völligen Kon- womit wir ja gemeinsame Erfahrungen haben, auch sens — zur Förderung von kleinen und mittleren in dahin gehend, wie dort von außen nicht nur markt- der Existenzgründung beg riffenen Unternehmen in wirtschaftliche Reformen bet rieben werden. Zwi- Polen, Ungarn und anderswo, Gelder bereitstellen. schen uns besteht Konsens darüber, daß marktwirt- (Zuruf von der FDP: Das ist doch realitäts- schaftliche Reformen in Polen, in Ungarn und an- fern, was Sie vorschlagen!) derswo, auch in der DDR, erforderlich sind. Darüber Im Unterschied zu IWF-Auflagen soll ein solcher streiten wir nicht. gesamteuropäischer Entwicklungsfonds allerdings (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) nicht nach der finanziellen Einlage gesteuert werden —was ja in Wahrheit eine ökonomische Steuerungs- Aber: Es gibt entweder eine kapitalistische Form der dominanz der westlichen Staaten bedeutete —, son- Marktwirtschaft unter der Vorherrschaft der Deut- dern nach dem Prinzip „one state, one vote". Ich weiß, schen Bank und Herrn Herrhausen, der via Anstalt für daß auch das bestimmte Probleme macht. Aber ein wirtschaftliche Erneuerung dann auch noch einen Au- solches Steuerungsverfahren ist wesentlich demokra- ßensitz in Warschau hat — das ist eine kapitalistische tischer — auch im Interesse der in der Krise befind- Form der Marktwirtschaft, die wir ablehnen — , oder lichen osteuropäischen Staaten — als das jetzige Ver- es gibt eine Außensteuerung, die wesentlich demo- fahren von IWF und Weltbank. kratischer ist. Ich weiß, es gibt nicht den reinen Weg. Das ist aber eine Außensteuerung unter demokrati- scher Beteiligung der osteuropäischen Staaten, denen Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Stratmann, gestat- geholfen werden soll. ten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gautier? (Catenhusen [SPD]: Wollen Sie dabei lieber den realen Sozialismus haben?) Stratmann (GRÜNE): Ja. Diesen Weg bevorzugen wir, und wir sagen: Wir wollen nicht irgendwelchen DDR-Vertretern Einfluß Dr. Gautier (SPD): Schönen Dank, Frau Präsidentin! auf rein spezifische polnische Vorhaben geben. Wenn —Ich will die Debatte wirklich nicht verlängern. Aber es um rein spezifische polnische Vorhaben geht, dann ich muß Sie fragen, Herr Stratmann, glauben Sie wirk- wird im Rahmen einer ECE-Kommission überlegt lich, daß die westlichen Länder das Geld geben sollen werden, wie man eine Unterkommission spezifisch und daß Rumänien, die CSSR oder die DDR, die auch auf Polen zuschneidet. Wenn es aber um gesamteuro- alle Mitglied der ECE sind, darüber entscheiden sol- päische Entwicklungsvorhaben, z. B. um die Sanie- len, welche Reformen in Polen passieren sollen? Hal- rung der Ostsee geht, dann ist das kein polnisches ten Sie das für eine vernünftige Strategie? Vorhaben, kein bundesdeutsches Vorhaben, sondern es ist ein gesamteuropäisches Vorhaben.

Stratmann (GRÜNE): Ich halte es für eine vernünf- (Dr. Gautier [SPD]: Darf ich noch einmal fra tige Strategie, daß — — gen? Die Unterkommission besteht dann nur aus Polen, wenn ich Sie richtig verstehe! (Dr. Gautier [SPD]: Schlichte Frage, schlichte Oder wie? Oder wer sitzt noch d rin, wenn wir Antwort bitte, wenn es geht!) schon die ECE-Kommission haben?) —Wenn ich erst vier Worte geredet habe, woher wol- len Sie dann schon wissen, daß die Antwort unver-- — Die Staaten, die in dem gesamteuropäischen Ent- wicklungsfonds Kapital einspeisen, sind nach unseren nünftig wird? Vorstellungen — je nach ihrem finanziellen Vermö- (Dr. Gautier [SPD]: Das vermute ich mal! — gen — nicht nur westeuropäische, sondern auch Heiterkeit) osteuropäische Staaten. Herr Gautier, auf dieser Ebene beantworte ich Ihre — (Zurufe von der CDU/CSU) Frage nicht. Dazu habe ich keine Lust. Das ist kein Niveau. Ich finde ein Gespräch, auch in dieser nach- — Sie wollen doch nach allen Erfahrungen nicht be- mittäglichen Runde, gut. Bei dieser Voreinstellung streiten, daß auch Polen, daß auch die Sowjetunion in 12250 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Stratmann einem solchen gesamteuropäischen Entwicklungs- terhin mit Abstand der größte Westhandelspartner der fonds einspeisen kann? — Damit halte ich die Frage europäischen RGW-Länder, auch wenn der Anteil an für beantwortet. unserem Gesamtaußenhandel nur 3,5 % beträgt. Wir sind einfuhroffen, und viele andere Länder, auch in Präsidentin Dr. Süssmuth: Darf ich dann gleich fra- der EG, die uns häufig auffordern, unseren internatio- gen, ob Sie auch noch eine Frage des Abgeordneten nalen Verpflichtungen nachzukommen, sollten eben- Solms beantworten wollen? falls bereit sein, ihre Grenzen gegenüber den RGW- Staaten handelspolitisch stärker zu öffnen. Stratmann (GRÜNE): Ja. Die Zahl der Kooperationen und Joint-ventures ist gewachsen, bezeichnenderweise besonders stark die Dr. Solms (FDP): Herr Kollege, befinden wir uns am Zahl derjenigen mit den Reformspitzenreitern Un- Beginn einer neuen wirtschaftlichen Ordnung? Sie garn, Polen und der UdSSR. Darin zeigt sich die Be- sagen nämlich, Sie seien zwar für eine marktwirt- reitschaft der deutschen Wi rtschaft zu längerfristigem schaftliche Ordnung, aber gegen den Kapitalismus. Engagement, nicht nur im finanziellen, sondern — das (Frau Nickels [GRÜNE]: Das ist doch nichts halte ich für ganz entscheidend — auch im personel- Neues; es gibt einen dritten Weg!) len Bereich. Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal aufklä- In jeder Krise, so auch in der in den osteuropäischen ren. Ländern, liegt sicherlich auch eine große Chance. Nach Jahrzehnten der militärischen Konfrontation, Stratmann (GRÜNE) : In Polen, in der Tschechoslo- der ideologischen Gegensätze, des Mißtrauens, der wakei, z. B. im Prager Frühling, hatte diese Position, wirtschaftlichen Autarkie besteht eine historische die ich gleich skizziere, der Wirtschaftsminister inne. Chance zu mehr Dialog und Zusammenarbeit. Dies ist Er wurde dann ins Exil vertrieben. In Ungarn gibt es auch notwendig. Wir alle spüren, daß wir längst viel sozialistische Reformer — ich habe mit einigen von abhängiger voneinander sind, als wir das in Zeiten der ihnen selbst gesprochen — , die schon seit Jahr und Konfrontation eigentlich wahrnehmen wollten. Ich Tag, seit Beginn der 80er Jahre, unter Šik, Prager- nenne als gemeinsame Aufgabe nur: Umweltschutz, Frühlings-Wirtschaftsminister seit Beginn der 60er Ozonloch, Drogenmißbrauch, AIDS-Bekämpfung. Jahre, entschieden für marktwirtschaftliche Refor- men eintreten, diese aber gleichzeitig mit einer sozia- Wie im Vorspann unserer Antwort ausgeführt, ste- listischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, hen wir in sehr intensiven, auf beiderseitigen Vorteil d. h. mit einer demokratischen Unternehmensverfas- angelegten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen sung und einer demokratischen Rahmenplanung, ver- West und Ost. Wir sehen darin einen hervorragenden binden, die nicht im Gegensatz zu einer marktwirt- Beitrag zur Entspannung, zur Vertrauensbildung und schaftlichen Steuerung steht, sondern die die Pro- damit zur Fortsetzung des KSZE-Prozesses. Wir wol- bleme, die Marktwirtschaften immer mit sich bringen, len dadurch aktiv mithelfen, die Teilung Europas ge- Machtkonzentration, Krisenzyklus, durch eine demo- rade auch auf ökonomischem Gebiet zu überwin- kratische Rahmenplanung in den Griff zu bekommen den. versuchen. Es gilt, beide Prozesse von historischer Dimension, (Zuruf von der SPD: Ist das jetzt das grüne die sich gegenwärtig abspielen, die zunehmende Wirtschaftsprogramm oder das Stratmann- wirtschaftliche Dynamik der EG einerseits und die Programm!) insbesondere in der Sowjetunion, Polen und Ungarn Insofern haben Sie völlig recht. Wir schlagen vor, eingeleitete wirtschaftliche, aber auch gesellschaftli- eine Form von Hilfe gegenüber den osteuropäischen che Neuorientierung andererseits, zu einer Vertie- Staaten zu entwickeln, die eine Wirtschaftsordnung, fung unserer gesamteuropäischen Zusammenarbeit eine Wirtschaftsweise ermöglicht, die weder kapitali- zu nutzen. Wir wollen, daß ganz Europa zu einem stisch noch realsozialistisch ist, sondern die einen dynamischen und prosperierenden Wirtschaftsraum neuen Weg bedeutet. Insofern, so hoffen wir, stehen wird. wir auch vor einem Ausweg aus der K rise, der gleich- Wenn wir geostrategisch sehen, daß sowohl im pazi- zeitig ganz neue Perspektiven eröffnet. fischen Raum unter Führung von Japan als auch in Vielen Dank. Nordamerika mit einer beginnenden Wirtschaftszone (Beifall bei den GRÜNEN) USA/Kanada — bald auch mit Mexiko — kontinentale Wirtschaftsräume entstehen, dann müssen wir auch sehen, daß die EG sicherlich nur ein Anfang sein Das Wort hat der Bun- Präsidentin Dr. Süssmuth: kann. desminister Herr Haussmann. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) Dr. Haussmann, Bundesminister für Wirtschaft: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol- Wir sollten deshalb offen sein. leginnen und Kollegen! Seit der Fertigstellung der Meine Damen und Herren, als Ökonomen sind wir Antwort auf die Große Anfrage gab es wichtige Fort- aber auch verpflichtet zu betonen: In erster Linie ist es schritte in der Beziehung zwischen der Bundesrepu- Aufgabe dieser Länder, durch eigene Anstregungen blik und den RGW-Staaten. 1988 konnte nach zwei grundlegende Reformen des gesamten Wirtschaftsbe- Jahren drastischer Rückgänge erstmals ein Zuwachs reichs, vor allem aber marktwirtschaftliche Vorausset- im Handelsaustausch erreicht werden. Auch im ersten zungen, Strukturwandel und Offenheit des Systems Halbjahr 1989 hat sich dies fortgesetzt. Wir sind wei- durchzusetzen. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12251

Bundesminister Dr. Haussmann Meine Skepsis gegenüber globalen Plänen wie dem Umschuldungsland. Ein deutsch-ungarisches Investi- Marshallplan — das hat hier bereits eine Rolle gespielt tionsschutzabkommen ist bereits seit 1987 in Kraft. — rührt daher, daß der Marshallplan damals in der (Kittelmann [CDU/CSU]: Und es funktioniert Bundesrepublik auf ganz andere ökonomische Vor- auch!) aussetzungen getroffen war, als er derzeit in Ost- europa treffen könnte. Deshalb ist es wichtig, daß — Ja, es funktioniert. — Hier kommt es darauf an, die diese Länder wissen, daß sie zunächst selbst, mit un- deutschen Unternehmen zu ermutigen, ihre Chancen serer Hilfe, Strukturen schaffen müssen, damit glo- zur Investition in Ungarn zu nutzen. bale Kapitalhilfen tatsächlich wirken können. Das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) spräch mit Herrn Walesa hat ja auch gezeigt, daß es Wichtig ist in beiden Ländern, marktwirtschaftliche ihm sehr darum geht, daß Kapitalien dort nicht in fal- Elemente, insbesondere im Privatsektor, zu verstär- sche Hände kommen, daß auch politische Vorausset- ken. Wir prüfen geeignete Förderinstrumente. Wir zungen stimmen müssen. Deshalb ist es richtig, daß setzen uns ferner innerhalb der EG für weitestmögli- der Bundeskanzler mit seiner Reise so lange wartet, che Handelsliberalisierung ein, um unsere Märkte bis die Sicherheit, daß diese Hilfen wirklich die rich- diesen Ländern zu öffnen. tigen Empfänger erreichen, aus deutscher Sicht da ist. Meine Damen und Herren, wie sind offen für eine verstärkte Integration der Volkswirtschaften in Mit- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tel- und Osteuropa in die Weltmärkte. Das wirtschaft- Wichtig ist ebenfalls, daß wir uns bemühen, gün- liche Potential der gesamteuropäischen Zusammenar- stige Rahmenbedingungen für deutsche Investoren beit ist weder in quantitativer noch in qualitativer Hin- in diesen Ländern zu schaffen. sicht ausgeschöpft. Von der Konferenz über wirt- schaftliche Zusammenarbeit in Europa, die Anfang (Kittelmann [CDU/CSU]: So ist das!) 1990 in Bonn stattfindet, erwarten wir Impulse zur Deshalb setze ich mich sehr dafür ein, daß auch mit weiteren Verbesserung der praktischen Rahmenbe- Polen bald ein Investitionsförder- und -schutzabkom- dingungen und Kooperationsmöglichkeiten, insbe- men geschlossen wird, das nach wie vor nicht vorliegt sondere auch und gerade für kleine und mittlere Be- und das die Voraussetzung für Joint-ventures von triebe. Die Bundesregierung wird, wie in ihrer Ant- kleinen und mittleren Unternehmen ist. wort ausgeführt, ihre Bemühungen um Ausweitung (Linsmeier [CDU/CSU]: So ist es!) der Zusammenarbeit mit dem Osten fortsetzen, wo und wann immer dies von gegenseitigem Nutzen ist. Wichtig ist die Hilfe bei der Aus- und Weiterbildung Wir fühlen uns gefordert, diesen Ländern ökonomisch von Fach- und Führungskräften. Hier sehen wir mit- zu helfen und damit auch den Menschen zu helfen. telfristig große Möglichkeiten zur Effizienzsteige- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und rung. stelle drei weitere Minuten den Fraktionen zur Verfü- Ungarn und Polen verdienen wegen ihres besonde- gung. ren Mutes zu tiefgreifenden Reformen, aber auch we- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — gen ihrer spezifischen Probleme weitgehende Unter- Dr. Gautier [SPD]: Welcher Fraktion?) stützung. Multilateral wird — von uns aktiv mitbetrie- ben — ein Konzept im Koordinierungsausschuß der — Zunächst der eigenen. 24 Länder in Brüssel ausgearbeitet. Wir unterstützen (Heiterkeit und Beifall bei der FDP — Frau ein Engagement des IWF, der Weltbank in diesen Wollny [GRÜNE]: Ein Minister mit einer ei Ländern. Wir hoffen — wir arbeiten aktiv darauf- genen Fraktion!) hin — , daß Polen und der IWF bald ein substantielles Anpassungsprogramm vereinbaren. Aber auch der IWF muß dies aus Gründen der Gleichbehandlung Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- von strukturellen Veränderungen, von Reformen ab- ordnete Vahlberg. hängig machen. Wir setzen uns für ein großzügiges Umschuldungs- Vahlberg (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen programm der polnischen Zahlungsverpflichtungen und Herren! An allgemeinen Grußadressen an die innerhalb des Pariser Clubs ein. Auch bilateral sind Reformpolitiker hat es in der letzten Zeit nicht gefehlt. wir vorbereitet, neue, substantielle Hilfsmaßnahmen Konkrete Hilfsmaßnahmen sind erst in den letzten zu beschließen. Bei Polen geht es im Rahmen der poli- Wochen eingeleitet worden. Das ist sehr erfreulich. tischen Gespräche über ein Gesamtpaket darum, die Der EG-Vorschlag für eine Koordinierung von Hilfs- Voraussetzungen für eine Wiedereröffnung der Her- aktionen zugunsten Polens und Ungarns — über mes-Kreditversicherung zu schaffen, insbesondere für 600 Millionen ECU — , die Nahrungsmittelhilfe über konkrete, sorgfältig geprüfte, wirtschaftlich vernünf- 31 Millionen ECU, der US-Fonds für Ungarn über tige Programme. Dies wird von den Reformern in - 25 Millionen Dollar zur Entwicklung privatwirtschaft- Polen genauso gesehen. licher Strukturen, die Akzeptierung der Meistbegün- (Linsmeier [CDU/CSU]: So ist es!) stigungsklausel durch die Regierung der Vereinigten Staaten und auch — das sage ich an die Adresse der Ferner ist der Abschluß eines Investitionsschutzab- Bundesregierung — die Neuregelung des sogenann- kommens — ich habe es bereits betont — überfällig. ten Jumbo-Kredits sind ermutigende Zeichen dafür, Bei Ungarn sind die Voraussetzungen wieder an- daß es nun endlich zu einer konkreten Hilfe für Polen, ders. Ich warne deshalb immer vor der Gleichsetzung für Ungarn, vielleicht auch für die Sowjetunion unserer Hilfen in beiden Ländern. Ungarn ist kein kommt. 12252 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vahlberg Den historischen Prozeß der Wandlung in den Wirtschaftshilfe sollte sich auf die Länder konzen- Staatshandelsländern des Ostens müssen wir aus ei- trieren — das ist ein wichtiger Punkt — , in denen ner Reihe von Gründen unterstützen. Einmal geht es wirklich neue Strukturen implementiert werden, zen- darum, daß für die Menschen bessere Lebenschancen trale Planung in dezentrale Organisation, in autonome entwickelt werden müssen. Es gibt aber auch die Einheiten überführt, marktförmige Prozesse entwik- Chance, eine Weltfriedensordnung auf der Basis einer kelt werden und einer Privatinitiative Raum gegeben veränderten wirtschaft lichen Zusammenarbeit zu ent- wird. Geld in alte Strukturen zu stecken würde letzt- wickeln, in der der Ost-West-Gegensatz keine Rolle lich keine wirtschaftliche Wirkung haben. Dieses mehr spielt. Natürlich geht es auch darum, Herr Strat- Geld würde sinnlos verpuffen. mann, was Sie betont haben, gemeinsame Anstren- gungen zur Erhaltung einer für uns Menschen lebens- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Vahlberg, gestatten freundlichen Umwelt zu unternehmen. Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Strat- Die SPD-Fraktion hat sich vor und nach der Som- mann? merpause mit der Osthandelspolitik intensiv beschäf- tigt. Sie hat dazu einen Antrag eingebracht. Bevor ich Vahlberg (SPD): Das tue ich, ja. einige Anmerkungen dazu mache, möchte ich ein paar Grundvoraussetzungen ansprechen. Stratmann (GRÜNE): Danke schön. — Herr Vahl- berg, mich wundert es, daß Sie einen Dissens festzu- Erstens. Unserer Auffassung nach ist die bisherige stellen meinen. Wo sehen Sie die Differenz zwischen Form der Wirtschaftshilfe nicht sehr erfolgreich gewe- dem, was ich gesagt habe, und dem, was in unserem sen, Stichwort: Globalkredite. Kredite, die gegeben Antrag steht? Wir haben dort doch eindeutig ausge- werden, damit hochwertige Investitionsgüter von den führt, daß wir z. B. den Gegenwertfonds als wesentli- Staatshandelsländern importiert werden können, chen Bestandteil eines Entschuldungsprogramms an überwiegend im Bereich der Schwerindustrie, haben ökologische Bedingungen für den ökologischen Um- zur Verschuldung der RGW-Staaten gegenüber den bau der Ostsee, des Kraftwerksparks etc. binden wol- westlichen Industrienationen geführt, ohne daß das len. Es besteht nur der Unterschied zu den IWF-Auf- verfolgte Ziel, Weltniveau und über den Export in die lagen, daß die Auflagensteuerung nicht kapitalistisch Hartwährungsländer eine Rückführung der Kredite dominiert, sondern paritätisch besetzt ist. — Das war zu ermöglichen, realisiert worden wäre. Das kann die Differenz zu Herrn Gautier. — Wo sehen Sie die wohl auch nicht geschehen, weil die Wirtschaftsstruk- Differenz? tur dort das nicht zuläßt. Die Wirtschaft der RGW-Staaten sollte sich nicht in Vahlberg (SPD): Ich teile Ihre Auffassung „one erster Linie auf die Marktbedürfnisse des Westens state, one vote", die Sie hier vorgetragen haben, nicht. konzentrieren, also hochwertige Industrieprodukte Vielmehr bin ich der Auffassung, daß die Geberländer für die westlichen Märkte erstellen wollen, sondern ein ganz entscheidendes Wort mitzureden haben. Bei die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung stärker in Projekten im Investitionsbereich, z. B. wenn moderne den Blick rücken. Das setzt voraus, daß sich die Akti- Kommunikationsstrukturen aufgebaut werden sollen vitäten auf den Verbrauchsgüterbereich konzentrie- — da ich gerade Herrn Kittelmann mit dem Hörer am ren, auf den Dienstleistungsbereich, auf die Entwick- Ohr sehe, muß ich an Polen denken, wo das Telefo- lung der Infrastruktur und auf die Entwicklung von nieren nicht funktioniert. Organisations- und Management-Know-how. Mo- (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Er spricht gerade derne Maschinen, die bisher im Rahmen dieser Glo- mit den Polen! — Heiterkeit) balkredite angeschafft wurden, sind nicht alles. Viel- Das kann man natürlich nur gemeinsam mit den Polen mehr müssen Organisationsstruktur, Marketing und machen. Aber Ihre Vorstellung „one state, one vote" Management hinzukommen, damit Unternehmen kann ich nicht akzeptieren, weil die Geberländer ein vernünftig funktionieren können. Ein funktionieren- entscheidendes Gewicht bei der Zweckbestimmung des Bankensystem ist eine Voraussetzung wie eine der Kredite haben müssen, und das ist bei Ihren Aus- funktionierende Infrastruktur. Die Infrastruktur ist führungen nicht deutlich geworden. heute in den RGW-Staaten über weite Strecken ver- rottet; man darf das durchaus so hart formulieren. Wenn Sie von einer Bindung an ökologische For- derungen sprechen, dann stimme ich Ihnen zu und (Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist noch sage ausdrücklich: Ja, das ist eine wich tige Vorausset- freundlich formuliert!) zung, ein Ziel, aber es sollte auch eine Bindung an Zweitens. Leistungen sollten nicht ohne genaue neue Wirtschaftsstrukturen gegeben sein. Widmung erfolgen. Herr Stratmann, Sie haben am (Stratmann [GRÜNE]: Konsens!) Beispiel IWF und Weltbank versucht zu verdeutli- — Gut, aber das haben Sie in Ihrer Rede nicht so deut- chen, welche Probleme es macht, wenn die Geberlän- lich gemacht. der Auflagen erteilen. Ich weiß, wie problematisch die (Stratmann [GRÜNE]: Dann wissen Sie es Kreditvergabe der IWF und Weltbank in Richtung auf aber jetzt!) die Dritte Welt gelaufen ist. Dennoch: Ein Ertrinken- der greift nach jedem Strohhalm. Aber Strohhalme — Gut, wir gehen also davon aus — da ihr Antrag an tragen nicht. Das heißt, es wird natürlich jeder Kredit den Ausschuß überwiesen wird — : Die GRÜNEN ar- angenommen und so verwendet, daß die brennenden beiten noch nach und fügen einen Spiegelstrich Probleme gelöst werden. Langfristig wird das aber hinzu. nicht zu anderen Wirtschaftsstrukturen führen. Lang- (Stratmann [GRÜNE]: Nun seien Sie doch fristig ist das keine Wirtschaftshilfe. nicht so arrogant!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12253

Vahlberg — War das so arrogant? Das war ein freundschaftli- wegen verschließen, weil dieser Plan von Herrn Herr- cher Hinweis. hausen stammt. (Stratmann [GRÜNE]: Okay!) (Kittelmann [CDU/CSU]: Gerade deshalb sollte man sich ihm nicht verschließen! Der Was die konkreten Maßnahmen angeht, so kommt versteht nämlich etwas davon!) es zunächst natürlich darauf an — Herr Stratmann, da sind wir wieder einer Meinung —, daß eine Entschul- — Er versteht sicherlich etwas davon. dung möglich gemacht wird. Bevor neue Kredite Ich könnte mir auch vorstellen, daß unsere Indu- gewährt werden, muß entschuldet werden. Hier gibt strie- und Handelskammern, vor allen Dingen aber es bereits Ansätze. Ich glaube, daß dann durchaus unsere Handwerkskammern mit in diesen Prozeß ein- langfristige Kredite von der Weltbank, von der Euro- gebunden werden können. Sie verfügen über Erfah- päischen Investitionsbank und auch von der Kreditan- rung in der Beratung beim Aufbau von Unternehmen stalt für Wiederaufbau gegeben werden sollten, die und bei der Vermittlung von Fach- und Management- strikt an konkrete Projekte gekoppelt werden müssen. wissen, was ja sehr wichtig für die RGW-Länder ist. Ungewidmete Kredite würde ich nicht befürworten. Ich würde sie in solche Überlegungen mit einbezie- Ich meine, daß mit diesen Krediten gezielt wirtschafts- hen. nahe Infrastruktur aufgebaut werden sollte —, es sollte aber keinesfalls eine pauschale Geldvergabe an Westeuropa, die EG, die Bundesrepublik sollten die RGW-Länder erfolgen. auch Instrumente schaffen, um Kooperationen, Joint-ventures stärker zu stimulieren, denn ich Die Idee des Marshallplans finde ich gar nicht so glaube, mit solchen Kooperationen und mit Joint-ven- schlecht; man muß sich nicht an jedem Detail aufhän- tures ist am ehesten die Möglichkeit gegeben, Mana- gen. Im Grundsatz finde ich es durchaus vernünftig, so gement-Know-how, Technologie-Wissen zu transfe- etwas in Erwägung zu ziehen. rieren. Herr Stratmann, der Herrhausen-Plan muß nicht Wir stellen uns vor, daß es das Instrument der Stillen deshalb falsch sein, weil Herrhausen ein Banker ist. Beteiligung an Unternehmen geben sollte. Mit dem Ich kann der Vorstellung einiges abgewinnen, in War- DED, dem Deutschen Entwicklungsdienst, gibt es die- schau und in Budapest Außenstellen ses Instrument bereits. Wir sollten prüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, dieses Instrument auch hier einzu- (Stratmann [GRÜNE]: Der Deutschen Bank setzen. Durch eine Stille Beteiligung staatlicher Insti- zu schaffen!) tutionen, könnte man wirtschaftliche Risiken mini- der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu schaffen. Im mieren. übrigen: warum sollte die Deutsche Bank dort keine Die Risiken, die sich aus der Wirtschaftsordnung Zweigstellen haben? Dagegen ist überhaupt nichts zu ergeben, müssen natürlich durch die Investitions- sagen, wie es überhaupt wichtig ist, daß in den Ost- schutzabkommen aufgefangen werden. Ich bin sehr blockländern ein vernünftiges Bankensystem entwik- dankbar, Herr Minister, daß Sie darauf hingewiesen kelt wird. Ohne ein funktionierendes Bankensystem haben, daß das Investitionsschutzabkommen mit ist autonome Unternehmerentscheidung und Unter- Polen forciert wird. Ein Investitionsschutzabkommen nehmensführung undenkbar. mit der UdSSR ist ja, glaube ich, im September abge- schlossen worden. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Ökobank z. B.!) solche Investitionsschutzabkommen decken wirt- Ohne daß man die Problematik der Bankenvermach- schaftliche Risiken nicht ab, denn man muß die wirt- tung hier einbezieht, darf man diesen Punkt durchaus schaftliche Mikrostruktur, die völlig anders geartet ist, offensiv ansprechen. betrachten, und darf nicht nur an die Enteignung von Unternehmen, die im RGW-Raum Kapital eingesetzt Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die haben, denken. Schaffung eines Eurokapitalfonds zum Zwecke der Finanzierung von privaten Existenzgründungen. Da- Das sind eine Reihe von Instrumenten, die aus unse- mit könnten in diesen Ländern vor allen Dingen mit- rer Sicht geprüft werden sollten. A lles in allem muß telständische Strukturen aufgebaut werden. Die Lei- klar sein, daß auf der Seite der RGW-Staaten, der stungsfähigkeit unserer Wirtschaft beruht ja auf der Staatshandelsländer, an einer Umstrukturierung der Mischung von kleinen, mittleren und großen Unter- Wirtschaft mitgewirkt werden muß, wie ich das vorhin nehmen. Dabei ist der Mittelstand das Rückgrat der schon angedeutet habe. Man muß dort weg von den Wirtschaft. Das beschwören wir in jeder Sonntags- zentralen Planungsstrukturen und hin zu autonomen rede, aber es ist ja nun auch tatsächlich so. Strukturen, zu mehr marktwirtschaftlichen Formen kommen, und Freiraum für p rivate Initiativen schaf- Mit solchen, etwa unseren Eigenkapitalhilfepro- fen. Ich glaube, ohne dies geht es nicht. Ich will grammen angelehnten Formen der Wirtschaftshilfe mich hier gar nicht auf den Ideologenstreit Kapitalis- könnte man eine mittelständische Struktur in diesen mus versus Staatsverwaltungswirtschaft einlassen, Ländern — ich denke dabei an Handwerksbetriebe denn das wird in der öffentlichen Diskussion überbe- und Dienstleistungsunternehmen — aufbauen. Hier- tont — Sie nicken — und von der konservativen Seite bei möchte ich der Kreditanstalt für Wiederaufbau immer so gesehen, als wenn die Staatsverwaltungs- eine wichtige Rolle zuweisen. Ich denke dabei auch wirtschaft — ich füge in Klammern hinzu: der Sozia- an die Errichtung von Außenstellen. Sie sollten sich lismus — versagt habe, während sich der Kapitalismus dem Herrhausen-Plan nicht von vornherein nur des- voll durchgesetzt habe. Hinter dieser Feststellung ma- 12254 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Vahlberg che ich ein großes Fragezeichen. Wenn Sie den reinen Vahlberg, das war eigentlich eine sehr sachliche Kapitalismus — — Rede. Der letzte Satz, mit dem Sie uns territoriale (Kittelmann [CDU/CSU]: Wer verfolgt denn Ansprüche unterstellten, war daher eine Entgleisung. noch den reinen Kapitalismus?) Ich weise das zurück. — Ja, den gibt es in Lateinamerika. Dort können Sie (Beifall bei der CDU/CSU) ihn mitsamt seinen Auswirkungen besichtigen. — Wir Das hat weder etwas mit der Sache zu tun noch mit haben hier ein Mischsystem, eine Mischstruktur aus dem Grundtenor dieser Diskussion, die erfreulicher- privater Initiative, p rivatem Eigentum auf der einen weise sachlich war. Seite — das ist wichtig, um die Rationalität und Effek- tivität des Kapitaleinsatzes sicherzustellen; dadurch Herr Gautier, Sie haben, glaube ich, einen sehr wird die Dynamik in der Wirtschaft sichergestellt — wichtigen Hinweis gegeben bezogen darauf, daß und aus vielen staatlichen Geboten, Verboten, Incen- manche unserer Mitbürger doch mit einiger Skepsis tives, Rahmensetzungen, wenn Sie so wollen: soziali- verfolgen, was wir tun und was wir zu tun beabsichti- stischen Elementen auf der anderen Seite, mit denen gen. Es gibt auch einen kleineren Kreis von Leuten, diese Dynamik auf soziale und ökologische Ziele hin die bestimmte Blütenträume welken sehen. Ich orientiert wird. Wir haben aus beidem ein Mischsy- glaube, es ist deshalb sehr wichtig, daß wir zum stem, das sich, wie immer wir die Komponenten zuein- Schluß dieser Debatte noch einmal sehr deutlich auf ander ordnen, bewährt hat. einige Hintergründe eingehen und auch deutlich ma- Es kommt also darauf an, daß die RGW-Staaten mit- chen, vor welcher geschichtlichen Herausforderung wirken. Das bedeutet, daß die Währungsparität auf wir stehen. Ich will neben den vielen sehr vernünfti- ein realistisches Niveau gestellt wird. So wie es jetzt gen und sachlichen Vorschlägen, die von allen Seiten ist, daß eine Mark, die hinüberfließt, zu 15 Pfennig des Hauses hier eingebracht sind und über die zu dis- wird — bedingt durch den nichtkorrekten Wechsel- kutieren es sich mit Sicherheit lohnt, diesen Aspekt kurs —, geht es nicht. noch einmal würdigen. Es kommt auch darauf an, daß die Preisgestaltung Herr Kollege Vahlberg, das hat überhaupt nichts sich stärker an den Kosten orientiert. Die Situation im mit dem Streit von Ideologen zu tun, wenn ich hier RGW-Raum ist die, daß wir in einer Mangelwirtschaft feststelle, daß eines unübersehbar ist: daß wir im Mo- auf Grund des fehlenden Preisbezuges eine Ver- ment den Untergang des zentralwirtschaftlichen Sy- schwendung haben. Verschwendung in der Mangel- stems erleben und damit den Untergang des Herz- wirtschaft ist ein Kriterium dieser Wirtschaft — — stücks des real existierenden Sozialismus. (Beifall des Abg. Kittelmann) Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Vahlberg, Ihre Re- dezeit ist abgelaufen. Die Konsequenzen, die derzeit daraus gezogen wer- den, sind noch sehr unterschiedlich. Die einen, Un- garn und Polen, haben ziemlich eindeutig die Wei- Vahlberg (SPD): Nur noch einen kleinen Moment, chen in Richtung marktwirtschaftlicher Öffnung ge- einen Abschlußsatz. stellt. Die anderen warten erst einmal ab, wie sich die Alles in allem lassen Sie mich sagen: Wir tragen Dinge entwickeln. Sie wollen allenfalls ein bißchen Mitverantwortung für das Wirtschaftssystem Polens, Marktwirtschaft und haben ansonsten die Hoffnung, das die Folge der politischen Verhältnisse ist, die daß sie doch mit einem rot-blauen sozialistischen durch aggressives Verhalten unsererseits gegenüber Auge davonkommen. Polen entstanden sind. Ich denke, daß der Umstellungsprozeß in den RGW- (Kittelmann [CDU/CSU]: Durchmogeln wol Staaten, der noch viele Jahre anhalten wird, durch len sie sich!) territoriale Ansprüche gestört wird, wie sie von Ihrer Herr Stratmann, wir können das hier nicht austra- Seite vorgetragen werden. gen. Vielleicht können wir es im Ausschuß vertiefen. Ich halte die Vorstellung, die Sie andeuten, daß Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Vahlberg, Ihre Re- marktwirtschaftlicher Sozialismus oder sozialistische dezeit ist zu Ende. Marktwirtschaft möglich ist, für einen fundamentalen Irrtum. Ich bin der Meinung — da stimmen wir wahr- Vahlberg (SPD): Dies stabilisiert die konservativen scheinlich überein — , daß eine marktwirtschaftliche Kräfte und schwächt dort drüben die Reformer. Ordnung einer deutlichen sozialen Flankierung, eines sozialen Rahmens bedarf. Da haben wir gar keinen Schönen Dank. Streit. Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, halte (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ ich für einen fundamentalen Irrtum. Ich sage das, weil CSU]: Warum soll das schlecht sein, was Sie das im Moment sehr stark durch die Diskussion gei- unter Reformern und Konservativen verste- - stert. Diese damit verbundene Hoffnung wird trügen. hen?) Je schneller die Verantwortlichen dies begreifen, de- — Ich habe keine Redezeit mehr, Herr Kittelmann. sto besser ist es für die Entwicklung in Osteuropa und gleichzeitig für die Weiterentwicklung der internatio- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- nalen Zusammenarbeit. Denn der bisher vorhandene ordnete Herr Lattmann. ideologische Ballast ist eine der Spannungsursachen zwischen den Völkern. Lattmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Eine marktwirtschaftliche Öffnung, ein Abstreifen sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege der zentralistischen und administrativen Fesseln, die Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12255

Lattmann Gewährung persönlicher Freiheiten und damit ver- nungen wecken würde, die nicht zu erfüllen sind. bunden das Fördern kreativen und selbständigen Auch das können wir in diesem Bereich nicht gebrau- Handelns sind noch zu allen Zeiten der beste Garant chen. für eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung gewe- sen. Das wird sich auch im Osten beweisen, wenn dort Eine herausragende Rolle müssen in unseren Über- die Weichen richtig gestellt werden. Denn es liegt auf legungen und Aktivitäten die Entwicklungen in Un- der Hand: Die Menschen in Ungarn, in Polen, in der garn und Polen spielen. Dort hat man mit großen DDR und in der CSSR sind natürlich genauso tüchtig Mühen die Fehler und Schwächen des bisherigen Sy- wie wir; sie sind aber bisher um den Erfolg ihrer Arbeit stems erkannt. Man ist nun dabei, sie auszumerzen. gebracht worden. Hier müssen die Überlegungen an- Hohe ungarische Politiker und Diplomaten, die mit setzen. bemerkenswerter Offenheit über die zentralen Fehler im östlichen Wirtschaftssystem und in ihrem eigenen (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Land sprechen, haben uns wiederholt sehr deutlich FDP) gesagt, daß nach ihrer Überzeugung kosmetische Operationen und Teilkorrekturen nichts nützen wer- Das ist wichtig — ich habe das schon gesagt — für die den, sondern einzig und allein eine dort lebenden Menschen, aber natürlich auch für die grundlegende Änderung des Systems. Sie gehen diesen Weg des- großen internationalen Herausforderungen, die wir halb konsequent. Das ist allerdings ein mühseliger alle gemeinsam, Ost wie West, bestehen müssen, von und riskanter Weg. Man darf nicht übersehen, daß die der Hungerkrise in der Welt bis hin zu den globalen Menschen, die seit Jahrzehnten unter den „Segnun- ökologischen Problemen, die hier ja schon angespro- chen worden sind. gen" des sozialistischen Systems zu leiden hatten, nicht mehr sehr viel Geduld aufbringen. Wenn des- Im übrigen schafft eine stärkere Integration der öst- halb nicht bald Erfolge eintreten, scheitert mehr als lichen Volkswirtschaften eine wünschenswerte Kette nur eine Wirtschaftsreform. Deshalb stehen wir ge- von gegenseitigen Abhängigkeiten. Je enger die wirt- meinsam vor einer Herausforderung mit historischer schaftlichen Verflechtungen sind, um so geringer Tragweite. werden die Neigung und die Möglichkeit, Konflikte anders als friedlich miteinander auszutragen. Insofern (Beifall bei der CDU/CSU) dient die Unterstützung dieses Prozesses nicht nur Um nicht mißverstanden zu werden: Es kann über- den Interessen der dort lebenden Menschen und nicht haupt nicht darum gehen, jetzt anderen Ländern etwa nur unseren wirtschaftlichen Interessen, sondern auch unseren Stempel und unser System aufzudrücken. den sicherheitspolitischen Interessen, die wir für uns Aber wenn dort erkannt wird, daß Elemente, die wir zu vertreten haben. seit längerem vertreten, auch dort vernünftig sind, In den wirtschaftlichen Ost-West-Beziehungen, bei wenn erkannt wird, daß es vielleicht sogar die einzi- denen wir ja nicht beim Punkt Null stehen, können wir gen Elemente sind, die diese Länder aus der Krise auf verschiedene Elemente zurückgreifen, die bereits herausführen, dann müßten wir schon ziemlich ge- in der Vergangenheit funktioniert haben. In anderen strig sein, wenn wir diesen Versuch stoppen oder ihn Bereichen müssen wir allerdings auch konsequent in irgendeiner Weise negativ beeinflussen wollten. umdenken. Undifferenzierte, nicht in eine vernünftige Wir müssen einen Beitrag dazu leisten, daß andere, Gesamtstrategie eingebundene Hilfen dienen nicht die nicht wie wir bisher auf der Sonnenseite der Welt dem Reformprozeß, sondern können ihn im Zweifels- gelebt haben, endlich auch einen besseren Status als fall sogar behindern. Im Klartext: Wenn wir die Kräfte, bisher erreichen können. Wir müssen uns also ganz die sich zu notwendigen Reformprozessen bekannt besonders auf diese Länder konzentrieren, in denen haben und auf diesem Weg konsequent vorangehen, die Systementscheidungen bereits gefallen sind, in unterstützen, dann leisten wir einen Beitrag zur För- der Hoffnung, daß das Beispiel, das durch die Ent- derung dieser Entwicklung. Die Gewährung von Mit- wicklung dort gegeben wird, auf andere Länder aus- teln an verkrustete reformunwillige Systeme ist dem- strahlt. Deshalb sind Polen und Ungarn für uns so gegenüber geeignet, die dort noch herrschenden Be- wichtig. tonköpfe zu stärken und Reformprozesse mindestens zu verzögern. Wir begrüßen deshalb noch einmal sehr nachhaltig auch die Vorschläge der EG-Kommission, die bei- Wir müssen — das ist schon gesagt worden; ich will spielsweise ein Finanzierungsmodell vorgelegt hat, es noch einmal unterstreichen — natürlich auch die das 24 Industriestaaten einbezieht. Dazu müssen wei- richtigen Maßnahmen fördern, nämlich nicht solche, tere Maßnahmen kommen. Dazu ist hier schon einiges die die noch existierende sozialistische Planbürokratie gesagt worden. stärken, sondern solche Maßnahmen, die wirklich er- kennbare Verbesserungen bewirken. Das sind wir Zu diesen staatlichen finanziellen Hilfen, die nicht den Reformern schuldig. Das sind wir auch unseren ausreichen, sind dann natürlich auch zahlreiche an- Steuerzahlern schuldig. dere Dinge — z. B. praktische Hilfen — gefordert. Auch dazu ist einiges gesagt worden. Ich muß dies Deshalb finde ich es richtig, Herr Gautier, daß der nicht wiederholen. Bundeskanzler den Aufforderungen, die an ihn ergan- gen sind, nicht gefolgt ist, um des Augenblickserfolgs Ebenfalls sind die Bestrebungen zu erwähnen, willen eine Reise zu machen, sondern daß er diese durch tarifäre Konzessionen den genannten Ländern Reise sorgfältig vorbereitet und erst dann antritt, die westlichen Märkte stärker zu öffnen. Dazu gehört, wenn die Vorbereitungen und die zu treffenden Ver- daß die bestehenden mengenmäßigen Einfuhrbe- einbarungen stehen, weil man sonst sehr schnell Hoff- schränkungen nach und nach abgebaut werden. 12256 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Lattmann Natürlich darf neben den erwähnten Ländern Polen Meine Damen und Herren, nach einer Vereinba- und Ungarn die Entwicklung in der Sowjetunion nicht rung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vergessen werden, obwohl dort die Reformbemühun- vorgesehen. Ist das Haus auch damit einverstanden? gen noch nicht so eindeutig sind wie in diesen Län- — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das dern. Deshalb ist eine Hilfe dort schwieriger. Aber ich so beschlossen. möchte doch in diesem Zusammenhang den gestern Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr in der „Süddeutschen Zeitung" erläuterten Plan des Abgeordnete Seesing. früheren Chefs der Deutschen Bank, Herrn Ch ristians, in die Diskussion einbringen, der gefordert hat, in Königsberg einen Industriepark zu errichten, der den Seesing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen sowjetischen Stellen modellhaft demonst rieren und Herren! Im Grund ist es traurig, daß zivilisierte könnte, welche Ergebnisse möglich sind, wenn man Menschen es noch nötig haben, Kontrollabkommen die Weichen richtig stellt. abzuschließen, um Folter, unmenschliche oder er- Abschließend darf ich erklären, daß die CDU/CSU niedrigende Behandlung oder Strafe von Gefangenen auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit den osteu- und Kranken in geschlossenen Einrichtungen zu ver- ropäischen Völkern größten Wert legt. Die Vorausset- hindern. Unser Bild vom Menschen, geprägt vom zungen dafür, daß dies mit besserem Erfolg als in der Christentum und vom Humanismus, sollte so etwas Vergangenheit geschehen kann, müssen allerdings in eigentlich ausschließen. Aber die Geschichte lehrt vielen Bereichen erst noch geschaffen werden. Wir uns, daß viel Erfindungskraft in Verfahren investiert betrachten es als unsere moralische Verpflichtung wurde, um immer neue und immer schrecklichere und historische Aufgabe, den arg gebeutelten Völ- Formen von Folter zu entwickeln. Leider ist auch das kern des Ostblocks auf ihrem Weg in die Freiheit tat- alles nicht Vergangenheit, sondern uns täglich vor kräftig unter die Arme zu greifen. Augen geführte Gegenwart. Man muß sich fragen: Dem Vorschlag — für den wir uns bedanken — , die Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas beiden Anträge, die sicherlich substantiell sehr wich- an? tige Punkte enthalten, in die Ausschußberatung zu Ich will einmal außen vor lassen, daß Folter oft an- überweisen, stimmen wir gern zu. Wir möchten uns gewendet wurde und wird, um Menschen Einge- für diesen Vorschlag herzlich bedanken. Ich glaube, ständnisse einer Tat abzuringen oder falsche Aussa- daß es in diesem Rahmen schwer möglich wäre, einige gen zu erzwingen. Diese werden nur in der Hoffnung sicherlich noch wünschenswerte Korrekturen anzu- gemacht, der Qual und dem Tod entrinnen zu können. bringen. Deshalb ist die Ausschußberatung der rich- Aber oft ist es zur Regel geworden, gerade Gefangene tige Weg. einem ständigen Angriff auf ihre Menschenwürde Herzlichen Dank. auszusetzen. Ich weiß allerdings nicht, ob nicht doch im Alltag schon Voraussetzungen für ein solches Han- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deln gegeben werden. Ich habe den Eindruck, daß wir es gern zulassen, wenn z. B. der religiös oder politisch Andersdenkende in härtester Form mit Wort oder Tat Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren! angegangen wird. Der Wehrlose muß sich auch in Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Ent- unserer Gesellschaft schon viel an entwürdigendem schließungsanträgen der Fraktion der SPD und der Handeln gefallen lassen. Wieviel schlimmer kann es Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5250 den treffen, der als Insasse einer Haftanstalt oder der und 11/5262. Es ist beantragt worden, diese Entschlie- geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Kran- ßungsanträge zur federführenden Beratung an den kenhauses keine Möglichkeit hat, sich an andere zu Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den wenden, die ihm helfen können und auch helfen wol- Auswärtigen Ausschuß und an den Finanzausschuß len! zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — riff Ich sehe Zustimmung. Dann ist das so beschlossen. Nun kommt das, was allgemein unter dem Beg „Folter" verstanden wird, in unseren Justizvollzugs- anstalten nicht vor. Wir haben — auch in der Kenntnis Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf: der Taten des sogenannten Dritten Reiches — unsere Gesetzgebung entsprechend eingerichtet. Dennoch Zweite Beratung und Schlußabstimmung des ist es richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland von der Bundesregierung eingebrachten Ent- nicht nur das Europäische Übereinkommen vom wurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen 26. November 1987 ratifiziert, sondern auch seine Übereinkommen vom 26. November 1987 zur volle Anwendung sicherstellt. Dieses Übereinkom- Verhütung von Folter und unmenschlicher men soll ja vor allem vorsorgend wirken. Es sieht oder erniedrigender Behandlung oder S trafe Kontrollen in den Anstalten vor. Ein international zu- — Drucksache 11/4028 — sammengesetzter Ausschuß soll sich durch Besuche in Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- den Vertragsstaaten an Ort und Stelle vergewissern, ausschusses (6. Ausschuß) daß die Frauen und Männer menschenwürdig behan- delt werden, denen durch ein Ge richt oder durch eine — Drucksache 11/4819 — entsprechend bevollmächtigte Behörde die Freiheit Berichterstatter: entzogen wurde. Abgeordnete Seesing Wichtig scheint mir aber auch die Signalwirkung zu Singer sein. Ziel muß es sein, weltweit zu solchen Vereinba- (Erste Beratung 131. Sitzung) rungen zu kommen. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12257

Seesing Für uns ist es auch wieder eine Gelegenheit, unsere serrolle aufgibt und Übereinkommen der vorliegen- Einstellung zu Gefangenen zu überprüfen. Wir wol- den Art zügig vorlegt und zeitig zeichnet. len, daß Schuld auch Sühne erfährt. Wir wollen aber (Beifall bei der SPD) auch, daß diesen Menschen Wege gewiesen werden, wie sie ein Leben führen können, ohne neue Schuld Die Europäische Anti-Folter-Konvention ist bereits 1983 von der Parlamentarischen Versammlung des auf sich zu laden. Und wir wollen erst recht, daß ihre Europarates einstimmig beschlossen worden. Den Menschenwürde in diesem Prozeß nicht zertreten wird. Keine Strafe darf solche Formen annehmen, daß Konventionsentwurf hat das Ministerkomitee des Eu- roparates ebenso einhellig angenommen, und zwar im ihr Menschsein entwürdigt und geschändet wird. Ich hoffe, daß dieses Europäische Übereinkommen wei- Juni 1987. Die Zeichnung durch die Bundesregierung terhilft. erfolgte am 26. November 1987. Wie man dies als frühestmöglichen Zeitpunkt bezeichnen kann — zu Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. vergleichen die Antwort der Bundesregierung auf (Beifall bei der FDP) die Große Anfrage der Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude und anderer, Drucksache 11/2163 — ist mir schleiferhaft. Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Es mag durchaus sein, daß Folter in der von mir geordnete Singer. oben definierten Art in der Bundesrepub lik so gut wie nicht vorkommt. Aber wir waren uns bisher eigentlich Singer (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und alle einig, daß unser Beitritt zu der Konvention bei- Herren! Als Folter wird in fast allen internationalen spielgebende Wirkung haben soll, daß er andere Staa- Übereinkommen die Zufügung großer körperlicher ten ermutigen soll, ebenfalls beizutreten, und daß wir oder seelischer Schmerzen verstanden, die von einem eine weitere Handhabe bekommen, europäische Amtsträger selber, auf dessen Veranlassung oder mit Nachbarstaaten, in denen Folter praktiziert wird, an- dessen ausdrücklichem oder stillschweigendem Ein- zuklagen und anzuprangern. verständnis verursacht werden. Die Folter gehört zu Mir ist vollkommen klar, daß mit der Konvention den abstoßendsten Verhaltensweisen, zu denen Men- allein Folter noch nicht verhindert wird; das Beispiel schen ihresgleichen gegenüber fähig sind, und dient der Türkei ist geradezu klassisch und schreckenerre- so gut wie immer der Aufrechterhaltung von Willkür- gend. Die Türkei ist sowohl der UN-Anti-Folter-Kon- herrschaft oder der Begründung oder Verfestigung vention wie der Europäischen Anti-Folter-Konvention illegitimer Machtverhältnisse. beigetreten. Wir alle wissen — das wird ja wohl von (Dr. Penner [SPD]: Richtig!) niemandem bestritten — , daß dort Folter weiter prak- tiziert wird. Nur werden wir in Zukunft die Türkei Wer die universelle Durchsetzung der Menschen- nicht nur wegen der moralischen Verwerflichkeit der rechte will, wird dem Kampf gegen die Folter, die Folter anklagen können, sondern auch wegen des noch in vielen Teilen der Welt praktiziert wird, ganz permanenten Bruchs völkerrechtlicher Verträge. Das besondere Beachtung schenken müssen. Ich begrüße halte ich für sehr wichtig. daher für meine Fraktion ausdrücklich, daß wir mit dem im Rechtsausschuß einstimmig beschlossenen Gesetzentwurf zu der europäischen Anti-Folter-Kon- Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, gestat- vention, der heute hier zur Beratung steht, einen nicht ten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten unbedeutenden Schritt weiterkommen. Hirsch? Zwar gibt es bereits eine Reihe internationaler Ab- kommen und Verträge, die sich gegen die Anwen- Singer (SPD): Herr Hirsch. dung der Folter erklären und mit denen die Folter als mit der den Menschenrechten zugrunde liegenden Dr. Hirsch (FDP): Herr Kollege, wenn Sie bei dieser Vorstellung von der Unantastbarkeit der Menschen- Gelegenheit über die Türkei sprechen, wären Sie so würde unvereinbar erklärt wird. Aber diese Konven- liebenswürdig, bei dieser Gelegenheit auch zu würdi- tionen sind von unterschiedlicher Wirksamkeit. In ei- gen, daß die Türkei in diesen Tagen erklärt hat, daß nem Punkte stimmen sie überein: Kontrollen finden sie die Entscheidungen des Europäischen Gerichts- im Grunde genommen erst statt, wenn eine Verlet- hofes achten werde? zung des Folterverbots geschehen ist. Heute dagegen beraten wir eine Konvention, die Singer (SPD): Natürlich muß man eine solche Erklä- verhüten soll, die Kontrollen und Inspektionen in rung würdigen. Die Botschaft hör' ich wohl, aber ob Haftanstalten oder in psychiatrischen Krankenhäus- wir das so glauben können, wie es aus der Erklärung ern, also in Einrichtungen, in denen Menschen gegen selber hervorgeht, halte ich angesichts der langen ihren Willen verwahrt werden, ermöglichen soll. Das Praxis für noch zweifelhaft. dafür vorgesehene Mittel, nämlich ein Inspektions- (Dr. Hirsch [FDP]: Ich dachte, Sie wollten oder Kontrollausschuß, lehnt sich an das Vorbild der würdigen!) Untersuchungskommissionen des Internationalen Ro- — Gewürdigt habe ich die Erklärung. ten Kreuzes an und wird das internationale Instru- mentarium zum Kampf gegen die Folter mit Sicherheit (Dr. Penner [SPD]: Aber nicht in Burkhard bereichern. Wenn man diese Konvention betrachtet, Hirschs Sinn!) ist völlig unverständlich, warum in den vergangenen Natürlich muß sich jeder darüber freuen, wenn eine Jahren die Bundesregierung immer wieder gedrängt solche Erklärung abgegeben wird, und muß zunächst und geschoben werden mußte, damit sie ihre Brem- einmal ein bißchen guten Willen mitbringen, daß man 12258 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Singer sagt: Vielleicht setzen sie das auch so um. Aber ob das auch einige Druckmittel vorgesehen sind, wie die Ab- der Fall ist? Gewisse Zweifel sind sicherlich ange- gabe von öffentlichen Erklärungen, die Konsultation bracht. mit einzelnen Vertragsstaaten, die Möglichkeit, Emp- fehlungen auszusprechen, und die Pflicht zur regel- An dieser Stelle muß ich mit allem Nachdruck die mäßigen Berichterstattung. Behandlung der UN-Anti-Folter-Konvention kritisie- ren; auch das haben wir im Rechtsausschuß angespro- Ich würde mich darüber freuen, wenn die Beschluß- chen. Ich weiß zwar, daß der Gesetzentwurf nun end- fassung im Plenum des Deutschen Bundestages lich dem Bundesrat vorliegt und dort beraten wird; ebenso einstimmig erfolgen würde wie im Rechtsaus- aber es läßt sich ja wohl nicht abstreiten, daß die Bun- schuß. Ich glaube, davon kann ich ausgehen. Wenn desregierung die Frist, die sie sich selber gesetzt hat, wir in solchen wichtigen Fragen immer solche Einig- hat verstreichen lassen. Die sehr zögerliche Behand- keit hätten, wären wir, glaube ich, ein gutes Stück lung auch dieser Angelegenheit schadet dem interna- weiter. tionalen Ansehen und beeinträchtigt die Glaubwür- Vielen Dank. digkeit der Bundesrepublik bei ihrem Eintreten für die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Durchsetzung von Menschenrechten in aller Welt. FDP) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Im Unterausschuß für die Menschenrechte ist im geordnete Irmer. März dieses Jahres eigentlich hinreichend deutlich gemacht worden, daß Bedenken gegen die Anti-Fol- Irmer (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und ter-Konvention, auch gegen die UN-Anti-Folter-Kon- Herren! Wir freuen uns ausgesprochen darüber, daß vention, eigentlich nicht mehr erhoben werden kön- der Deutsche Bundestag heute Gelegenheit hat, die- nen. Wir haben die berühmte Entscheidung des Bun- sem Gesetzentwurf und damit der Anti-Folter-Kon- desverwaltungsgerichts, wo es heißt: Auch wenn sich vention des Europarates zuzustimmen. Meine Vor- jemand darauf beruft, daß er in seinem Heimatstaat redner haben mit Recht auf die Bedeutung dieses gefoltert werden könnte, darf er nicht abgeschoben Abkommens verwiesen, die in meinen Augen in erster werden, selbst wenn ihm das Asyl verwehrt wird. Im Linie darin zu sehen ist, daß hier die Möglichkeit ge- Auslieferungsverfahren liefern wir niemanden aus, schaffen wird, durch vorbeugende Kontrollen mit wenn der die Auslieferung begehrende fremde Staat dazu beizutragen, daß es zu Folter und unmenschli- uns nicht zusichert, daß eine möglicherweise dro- chen Behandlungen von Gefangenen erst gar nicht hende Todesstrafe nicht vollstreckt wird; für genauso kommt. selbstverständlich halte ich es, daß wir aus Deutsch- Leider stellen wir in der Praxis immer wieder fest, land niemanden in irgendeinen Teil der Welt abschie- daß es zwischen der Theo rie oder der Rechtslage und ben, wenn ihm dort die Folter droht. Das sollte für uns der Handhabung zu schweren Diskrepanzen kommt. alle eigentlich selbstverständlich und kein Grund Es ist richtig, daß hier das Beispiel der Türkei an- sein, in den Beratungen der Gesetzgebungsgremien gesprochen wurde, denn wir dürfen nicht verkennen, Verzögerungen hinzunehmen. daß uns diese Diskrepanz um so schmerzlicher dann berührt, wenn es sich um ein Land handelt, das sich (Beifall bei der SPD und der FDP) verbal unseren Wertordnungen und unseren Stan- Deswegen habe ich auch nicht verstanden, daß man dards verpflichtet, und das ist bei der Türkei, einem hier gesagt hat, mit der UN-Folterkonvention würde Mitglied des Europarates, der Fall. Wir haben durch ein weiterer Nichtabschiebetatbestand geschaffen. den von Herrn Hirsch erwähnten Vorgang gesehen, Diesem Argument ist seit der Entscheidung des Bun- daß in der Türkei möglicherweise ein Umdenken Platz desverwaltungsgerichts der Boden entzogen; man greift. Ich möchte von dieser Stelle aus ganz eindring- sollte es deshalb schnell fallenlassen. lich an unseren Partner Türkei appellieren, daß wir in Zukunft keine Klagen mehr über die Zustände in tür- Das Ansehen der Bundesrepublik darf in der Be- kischen Gefängnissen hören müssen. Sollte sich die handlung von Menschenrechtsfragen keinen Scha- Menschenrechtssituation in der Türkei nicht nachhal- den nehmen, indem Anspruch und Wirk lichkeit aus- tig ändern, dann brauchen wir über einen etwaigen einanderfallen. Ich freue mich darüber, daß die Euro- Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft erst gar kein päische Anti-Folter-Konvention in der Bundesrepublik Wort zu verlieren. unmittelbar geltendes Recht wird, daß sie keiner be- sonderen Umsetzung durch nationale Gesetze bedarf. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich begrüße auch, daß die Mitglieder der Untersu- den GRÜNEN) chungskommission, oder der Inspektions-, Kontroll- Meine Damen und Herren, durch die Anti-Folter-Kon- kommission, wie Sie es auch nennen wollen, nicht vention hat sich der Europarat erneut als das Gremium unbedingt Juristen sein müssen, sondern auch Prakti- bewährt, das am nachhaltigsten um Wahrung und ker aus dem Strafvollzug oder der Psychiat rie sein Schutz der Menschenrechte streitet. Es ist genau die- können, daß man Ad-hoc-Besuche machen kann, daß ses Engagement in Menschenrechtsfragen, das den man beim Auftreten von Verdacht einem Verdacht Europarat, das Europa der 23 so fazinierend macht, auch nachträglich noch einmal nachgehen kann, daß auch für unsere östlichen Nachbarn. Die Entwicklung man in die Haftanstalt noch einmal hinein darf und in einigen der Länder des ehemaligen Ostblocks hat überraschend überprüfen kann und das, wenn die dazu geführt, daß mehr Pluralismus, mehr Demokra- erste Untersuchung, je nach Betrachtungweise, keine tie, damit auch mehr Menschenrechte angestrebt wer- positiven oder negativen Befunde ergeben hat, noch den und zum Teil verwirklicht worden sind. Dies hat einmal feststellen kann und daß in der Konvention uns im Europarat dazu ermutigt, den Ländern Polen, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12259

Irmer Ungarn und der Sowjetunion den Status besonderer Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Gäste als Vorstufe einer etwaigen Vollmitgliedschaft geordnete Meneses Vogl. einzuräumen, die dann erreicht werden kann, wenn auf diesem Weg konsequent weitergesch ritten wird. Meneses Vogl (GRÜNE):: Herr Präsident! Meine Da- Natürlich darf man nicht übersehen, daß es ganz men und Herren! Ich hatte heute morgen nicht die schlimme Entwicklungen in anderen Ländern dieses Gelegenheit dabei zu sein, als Frau Lieselotte Berger ehemaligen Ostblocks gibt. Wenn ich heute in den geehrt wurde. Ich möchte aber die Gelegenheit nut- Nachrichten höre, wie sich die Zustände in unserer zen und mich vor der Person und in der Erinnerung an Botschaft in Prag entwickeln und daß die tschechoslo- diesen geliebten Menschen verbeugen. — wakischen Behörden nicht bereit sind, Ersatzunter- Meine Damen und Herren, wir reden heute wieder künfte zur Verfügung zu stellen, dann ist dies eine der einmal über Menschenrechte. Ich sage das keines- grauenhaftesten Menschenrechtsverletzungen, von wegs mit einem ausschließlich negativen Unterton, denen in jüngster Zeit zu hören war. Hoffen wir, daß aber es fällt mir schwer, einen an sich positiven Fort- die Appelle nicht weiter an der Schwerhörigkeit starr- schritt in diesem Bereich lediglich sachlich zu würdi- sinniger und altersschwacher Betonköpfe verhallen. gen. Meine Damen und Herren, es zeigt sich gerade an Wir werden heute einstimmig einen Gesetzentwurf den Entwicklungen im Ostblock, daß die Idee von beschließen, der von uns allen nur begrüßt werden Freiheit und menschlicher Würde auf Dauer durch kann. Denn dieser Gesetzentwurf dient der längst fäl- keine Gewalt unterdrückt werden kann. ligen, aber von Baden-Württemberg und Bayern un- Lassen Sie mich zum Schluß auch noch ein Wort zur nötig lange hinausgezögerten Ratifikation des Euro- Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen sa- päischen Übereinkommens zur Verhütung von Fol- gen. Ich möchte hier für meine Fraktion feststellen, ter und unmenschlicher oder erniedrigender Be- daß wir ausdrücklich begrüßen, wie beharrlich sich handlung oder Strafe. Der Gesetzentwurf hat einen der Bundesjustizminister und der Bundesaußenmini- einmaligen Charakter — das ist hier auch schon mehr- ster über die Jahre hin dafür eingesetzt haben, daß mals betont worden —; denn er sieht vor, den Betrof- auch diese Konvention ratifiziert werden kann. fenen einen stärkeren präventiven Schutz vor Miß- handlungen und menschenunwürdiger Behandlung (Beifall bei der FDP) zu bieten. Er soll eine Signalwirkung für die ganze Um so tiefer ist allerdings unser Unverständnis dafür, Welt haben. Europa übernimmt insofern eine Vorbild- daß sich nicht alle Kollegen im Kabinett — und man funktion für die Weiterentwicklung des Menschen- weiß ja, getrieben von einigen Bundesländern — die- rechtsschutzes. Ein Grund zu stolzer Selbstgefällig- sen Beschleunigungsbemühungen angeschlossen ha- keit ist das dennoch mit Sicherheit nicht, denn allein ben. während dieser halbstündigen Beratung werden in der ganzen Welt unzählige Menschen gefoltert, er- (Beifall des Abg. Dr. de With [SPD]) niedrigt, geschändet. Dadurch ist der fatale Eindruck vor der Weltöffentlich- Während wir im Saal dabei sind, die Menschen- keit entstanden, daß die Bundesrepublik Deutschland rechte mit Gesetzestexten weiterzuentwickeln, wer- nicht zu den Ländern gehören würde — zu denen sie den in weiten Teilen der Welt die Foltermethoden aber gehört — für die es gerade in Fragen der Men- systematisch verfeinert. Menschen werden unter Ein- schenrechte kein Wenn und kein Aber geben darf. satz modernster Technologie und unter ärztlicher Be- (Beifall des Abg. Singer [SPD]) obachtung gefoltert, so daß Folter gar nicht mehr nachzuweisen ist. Wir erwarten jetzt alsbald das Ratifizierungsverfah- Das ist die Geschichte der Menschenrechte: Schutz- ren. Diese unsägliche Diskussion darüber, daß selbst- gesetze und internationale Abkommen werden um verständlich Menschen nicht in Länder abgeschoben des guten Ansehens willen verabschiedet und unter- werden, wo ihnen die Folter droht, dürfte durch das zeichnet, und sie werden dann doch umgangen. Ge- von Ihnen, Herr Singer, zitierte Urteil des Bundesver- setze werden in diesem Bereich eigentlich nur ge- waltungsgerichts endgültig ausgeräumt sein. macht, um umgangen zu werden. Meine Damen und Herren, es ist eine Selbstver- Während nun einerseits in Europa ein vorbildliches ständlichkeit, daß bei uns im Lande nicht gefoltert Gesetz in Kraft tritt, erleben wir gleichzeitig, wie das wird. Dennoch ist die Ratifizierung dieser Anti-Folter- Menschenleben überall in der Welt an Wert verliert. Konventionen wichtig, und zwar vom moralischen Ich muß gestehen: Ich bin verbittert. Was nutzen die Gewicht her, das die Unterstützung durch immer besten Gesetze zum Schutz der Menschenrechte, mehr Länder diesen Konventionen gibt, aber auch von wenn ihre Implementierung immer schwieriger wird? dem Geist dieser Abkommen. Die Abkommen mah- Was nutzen sie einem demokratieliebenden Studen- nen und verpflichten uns zu menschlichem und fairem ten aus China oder einem regimekritischen Bauern Umgang gerade mit denen, die um die Wahrung ihrer aus Kolumbien, wenn sich ihre Regierungen, auch elementaren Rechte kämpfen müssen und bei uns wenn sie diese Menschen foltern und umbringen, wei- Zuflucht vor Verfolgung suchen. Hoffen wir, daß un- terhin auf die wohlwollende Wirtschaft Europas ver- sere heutige Zustimmung zu dieser Konvention auch lassen können? in diesem Sinne verstanden werden wird. (Beifall bei den GRÜNEN) Ich danke Ihnen. Die Geschichte der Menschenrechte ist die Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie schichte der Hilflosigkeit der Unterdrückten. Diese bei Abgeordneten der SPD) Feststellung macht auch mich hilflos, gleichzeitig aber 12260 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Meneses Vogl auch zornig. Als Demokrat muß ich meinen Zorn zü- Wesentlich für die Arbeit des Europäischen Aus- geln, aber ich muß nochmals sagen: Es ist schwierig, schusses zur Verhütung der Folter ist allerdings zwei- den Zorn zu zügeln. erlei. Erstens müssen ausreichende finanzielle Mittel Aber zurück zum Gesetzentwurf. Bei aller Befür- zur Verfügung stehen, und zweitens muß der Aus- wortung gibt es noch viele Probleme, die ungeklärt schuß mit qualifizierten und aktiven Mitgliedern be- bleiben. Wir können nicht vollständig absehen, wie setzt werden. Wir werden uns bemühen, daß diese sich die Konvention in der Praxis bewähren wird. Ei- Voraussetzungen erfüllt werden. nige schwerwiegende Defizite sind aber schon in den Angesichts der Einigkeit in der Sache gab es Kritik, letzten Tagen sichtbar geworden. Herr Kollege Singer, nur wegen des Zeitpunkts der Bei der Wahl der Mitglieder des Ausschusses, die Einbringung des Regierungsentwurfs für ein Ver- die Kontrollbesuche in den Haftanstalten — übrigens tragsgesetz zu diesem Übereinkommen und zu der auch in Geheimgefängnissen, Umerziehungslagern UNO-Konvention gegen Folter. und psychiatrischen Anstalten — durchführen soll, ist Was dieses Vertragsgesetz angeht, so schlage ich für Großbritannien Stefan Terlezki bestimmt worden. Ihnen vor, daß wir uns die Verantwortung für die ver- Terlezki ist ein konservativer Politiker aus Cardiff, der strichene Zeit teilen. Hier die Fakten: Das Überein- sich für die Todesstrafe bei Entführung und bewaffne- kommen ist im November 1987 zur Zeichnung aufge- tem Raubüberfall eingesetzt hat. Er hat einen parla- legt worden. Die Bundesregierung hat den Entwurf mentarischen Antrag zur Einführung körperlicher Be- eines Vertragsgesetzes ein Jahr später vorgelegt. An- strafung für gewaltsame Verbrechen unterstützt und gesichts der notwendigen Abstimmung mit den Länd- sich für die Förderung sportlicher Beziehungen zu ern — hierauf weise ich eigens hin — ist ein schnelle- Südafrika eingesetzt — allen Bestimmungen der inter- res Vorgehen kaum möglich. Die Behandlung in den nationalen Sportbehörden zum Trotz. Er wurde ge- gesetzgebenden Körperschaften hat dann noch ein- wählt, obwohl vorgesehen ist, daß die Mitglieder un- mal fast ein Jahr gedauert. Es ist nun einmal so, daß ter Persönlichkeiten mit hohem sittlichen Ansehen die Abstimmung mit den Ländern in schwierigen Fra- ausgesucht werden sollen, deren Sachkenntnis auf gen Zeit braucht und daß unser Gesetzgebungssy- dem Gebiet der Menschenrechte anerkannt ist. Un- stem mehr Zeit benötigt als vielleicht das entspre- parteiisch und unabhängig sollen sie sein. chende System in anderen Staaten. Meine Zeit ist zu Ende; ich muß meine Rede abkür- Heute stellen wir fest, daß 15 der 23 Mitgliedsstaa- zen. ten des Europarats das Übereinkommen inzwischen Ich habe eine ganze Menge K ritik an diesem Ge- ratifiziert haben und daß wir jetzt, heute, gemeinsam setzentwurf. Trotz allem begrüße ich ihn. Ich hoffe, die Voraussetzungen dafür schaffen. daß sich die Bundesrepublik unverzüg lich an die Aus- Was die UNO-Konvention gegen Folter angeht, so wahl eines unparteiischen Vertreters oder einer Ver- liegt der Regierungsentwurf eines Vertragsgesetzes treterin macht und daß sich diese Konvention in der inzwischen vor. Die notwendige Abstimmung mit den Praxis bewährt. Dazu gehört an vorderster Stelle, daß Ländern war ebenfalls nicht einfach und hat länger die Türkei ihr grausames Foltern beendet, denn die gedauert, als wir alle zunächst erwartet haben. Sie ist Türkei gehört mit zu den ersten Unterzeichnern. Gott sei Dank jetzt abgeschlossen, so daß wir auch das Sie werden verstehen und verzeihen, Kolleginnen UNO-Übereinkommen ratifizieren können. Ange- und Kollegen, wenn ich meine anfänglichen Worte sichts des schwierigen Vorlaufs begrüßt dies die Bun- wiederhole: Glücklich bin ich darüber aber trotzdem desregierung ganz besonders. nicht. Herr Kollege Singer, Sie haben Kritik geübt, und die Danke schön. Kritik auch auf den Entwurf eines Vertragsgesetzes (Beifall bei den GRÜNEN sowie bei der SPD bezogen. Ich möchte dazu folgendes festhalten. Sie und der FDP) haben damals in Ihrer Fraktion den Standardgesetzes- text abgeschrieben und vorgelegt. Eine Denkschrift, die für die Durchführung einer internationalen Kon- vention außerordentlich wichtig ist, haben Sie nicht Vizepräsident Stücklen: Ich erteile das Wort dem beigefügt. Wegen des nach der Lindauer Absprache Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Jahn. erforderlichen Einverständnisses der Länder haben Sie sich auch keine Sorgen gemacht. Die Ratifizierung ist aber erst möglich — das wissen Sie — , wenn auch Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister dieses Einverständnis vorliegt. der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- (Singer [SPD]: Sie haben doch die Mehr men und Herren! Die bereits bei der ersten Lesung heit!) dieses Gesetzentwurfs festgestellte Einigkeit aller Seiten dieses Hauses hat auch die Ausschußberatun- Doch am Schluß kann ich sagen: Ende gut, alles gut. gen getragen, so daß dieses für die Menschenrechts-- Wir sind uns heute einig. Wir werden in naher Zukunft politik wichtige Übereinkommen nun bald ratifiziert Vertragsstaat sowohl der Europäischen Konvention werden kann. Dies ist zu begrüßen. als auch der UNO-Konvention gegen Folter sein. Das, meine Damen und Herren, ist ein erfreulicher Schritt, Die in dem Übereinkommen vorgesehene Möglich- ein erfreulicher Schritt unserer gemeinsamen Men- keit der Inspektion von Haftanstalten durch ein inter- schenrechtspolitik. Menschenrechtspolitik entspricht nationales Gremium ist ein Fortschritt im praktischen der Würde des Menschen und sichert Freiheit. Bereich. Hier sind Taten zu erwarten, nicht nur Worte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12261

Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, ter bis zu den Häusern. Und noch ein Bonbon, wegen ich schließe die Aussprache. der Akzeptanz: ein landespflegerischer Begleitplan, Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- damit eben noch ein paar Bäumchen den Stacheldraht wurf der Bundesregierung aus den Drucksachen kaschieren. 11/4028 und 11/4819. Ich rufe das Gesetz mit den Arti- Meine Herren und Damen, Haus Escherde könnte keln 1 bis 3, der Einleitung und der Überschrift auf. auch bei Ihnen um die Ecke liegen, und Sie kämen in Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den die Situation, einmal hautnah am Puls der Zeit zu sein bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Keine und sich zu fragen: Wollen wir denn nun eigentlich Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltun- Abrüstung, oder wollen wir die Aufrüstung? Wollen gen. Das Gesetz ist einstimmig angenommen. wir die veraltete Planung von vor fast 20 Jahren fort- führen und das ewige Wettrüsten zur Vollendung trei- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: ben? — a) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Vielleicht, meine Herren und Damen denken Sie tionsausschusses (2. Ausschuß) jetzt auch: Eigentlich haben wir mit dem Depot schon fast 20 Jahre gewartet. Vielleicht wäre es doch besser, Sammelübersicht 124 zu Petitionen wir zeigen Flexibilität und treten für ein Morato rium — Drucksache 11/5151 — ein. Wir warten noch einmal ein paar Jahre länger, b) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- und vielleicht haben wir dann in Wien den Durch- tionsausschusses (2. Ausschuß) bruch. Sammelübersicht 125 zu Petitionen (Zustimmung bei der SPD) — Drucksache 11/5152 — Ob konventionelle Waffen oder atomare, wir rüsten Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE wirklich ab. Wir müssen abrüsten. — So stellen sich GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksa- das zumindest friedliebende Menschen vor. Sie gehö- chen 11/5227 und 11/5251 vor. ren doch sicherlich alle dazu. Im Ältestensrat sind für die gemeinsame Beratung Darum, meine Herren und Damen: Lassen wir nicht 45 Minuten vorgesehen worden. — Das Haus ist damit den Verteidigungsminister das letzte Wort haben! einverstanden. Es ist so beschlossen. Denken Sie daran: Haus Escherde könnte plötzlich auch bei Ihnen nebenan sein. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Ab- geordnete Garbe. Wir haben den Petitionsausschuß ja dafür, daß dann, wenn Abrüstung angesagt ist, bei Munitionsde- pots und Treibstofflagern nicht weiter aufgerüstet Frau Garbe (GRÜNE):: Herr Präsident! Meine Her- wird. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die ren und Damen! Haus Escherde, da leben Menschen. Petenten in und um Haus Escherde. 500 Meter davon entfernt soll jetzt ein riesiges Muni- Ich danke Ihnen. tionsdepot gebaut werden. Niemand weiß genau, was da hineinkommt. Möchten Sie da wohnen, meine sehr (Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD) verehrten Kollegen und Kolleginnen, zumal es das dritte Munitionsdepot im Landkreis Hildesheim sein wird? Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat Frau Abge- Haus Escherde, da schließen sich Menschen zusam- ordnete Dempwolf. men. Eine Bürgerinitiative wird gegründet. Alle sind gegen das Depot. Die Gemeinde schließt sich den For- derungen an. Frau Dempwolf (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Haus Escherde, da kommen die Politiker, gucken, sehr verehrten Damen und Herren! Was Frau Garbe vorgetragen hat, hört sich so dann gehen sie wieder, versprechen natürlich: Wir gerade zu Haus Escherde an, als gebe es eine Kriegserklärung an die Bevölke- tun, was sich machen läßt. — Sogar der Kollege Rappe meint: Das Munitionsdepot ist nicht mehr nötig. rung, die in der Umgebung von Haus Escherde wohnt. Als ich das alles eben gehört habe, kam ich mir vor wie Haus Escherde, da spricht der Verteidigungsmini- in einer Märchenstunde. ster das letzte Wort. Er ist ja gar nicht so. Die Bürger und Bürgerinnen wollen Frieden, wollen weitere Ab- (Zuruf von den GRÜNEN) rüstung, wollen Sicherheit vor hochgehenden Muni- Die Petentin, eine Bürgerinitiative, wendet sich ge- tionslagern. So etwas ist nämlich schon passiert. Sie gen die geplante Errichtung eines vorgeschobenen fühlen sich in Friedenszeiten bedroht. Versorgungslagers der NATO für die britischen Streit- Haus Escherde, meine Herren und Damen, da sagt kräfte bei Haus Escherde im Landkreis Hildesheim. der Bundeskanzler: Frieden schaffen — mit immer Sie trägt im wesentlichen vor, die Planung für das weniger Waffen. Depot liege bereits 17 Jahre zurück und passe insbe- sondere im Hinblick auf die Abrüstungsverhandlun- Entspannung also? — O nein, Abschreckung und gen nicht mehr in die heutige politische Landschaft. Verteidigung sind angesagt. Das Depot wird gebaut; denn unverändert bestehe immer noch eine Bedro- (Zuruf von der SPD: Recht hat sie!) hung der Bundesrepublik durch die Sowjets und ihre Sicherheitsinteressen der Bevölkerung würden in Verbündeten. eklatanter Weise verletzt, weil vorgeschriebene Si- Haus Escherde, da macht der Verteidigungsmini- cherheitsabstände nicht eingehalten würden. Die Ex- ster einen Kompromiß: statt 500 Metern nun 700 Me- plosionsunglücke in jüngster Zeit zeigten, daß die vor- 12262 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Dempwolf geschriebenen Sicherheitsabstände unzureichend die Friedensinitiativen unter Umständen nach Libyen seien. tragen; das mag schon sein. (Beifall bei den GRÜNEN) (Frau Garbe [GRÜNE]: Nun hören Sie doch mal auf!) Zudem werde durch die Depotplanung ein zusam- menhängedes Naherholungsgebiet gefährdet. Das geplante Depot wird von der NATO finanziert und von britischen Streitkräften bet rieben. Neben Be- (Beifall bei den GRÜNEN) triebsstoffen soll in dem Depot auch Munition einge- Wir müssen davon ausgehen, daß die NATO-Streit- lagert werden; das ist richtig. kräfte zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags für (Frau Garbe [GRÜNE]: Und Treibstoffe!) die Versorgung ihrer Truppen ein flächendeckendes Versorgungsnetz benötigen. Und richtig ist auch, daß die niedersächsische Landes- regierung dem Bau des Depots zugestimmt hat unter (Zuruf von den GRÜNEN: Wenn sie es bisher der Bedingung, daß Eingriffe in die Landschaft auf ein nicht gebraucht haben, brauchen sie es jetzt Mindestmaß beschränkt bleiben und eine land- auch nicht mehr!) schaftsgerechte Einbindung der Anlage auf Grund — Jetzt müßten Sie eigentlich auch klatschen. — eines mit den Landesbehörden abgestimmten land- schaftspflegerischen Begleitplanes sichergestellt Sie haben recht: Die Zeit des Kalten Krieges ist vor- wird. bei. Wir sind im Gespräch miteinander und streben eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Die Behauptung, Sicherheitsinteressen der Bevöl- Ost und West auf gleiche Obergrenzen an. Ein Ver- kerung würden in grober Weise verletzt, weil vorge- handlungsergebnis haben wir jedoch bis heute nicht. schriebene Sicherheitsabstände nicht eingehalten Bis es dazu kommt, stellt jede einseitige Reduzierung würden, haben wir nicht bestätigt gefunden. Da der unserer konventionellen Streitkräfte eine nicht zu ver- Standort um 200 Meter verschoben worden ist, ver- tretende Gefährdung unserer Sicherheit größert sich der Abstand vom geplanten Munitionsde- pot zur Wohnbebauung der Ortschaft Haus Escherde (Widerspruch bei den GRÜNEN) von bisher 960 auf 1 200 Meter. Darüber hinaus sind und auch der Sicherheit der Bevölkerung um Haus die Abstände der Lagerorte untereinander so bemes- Escherde dar. sen, daß eine Detonationsübertragung von einem La- gerort zum anderen ausgeschlossen ist. Leben und (Lachen bei den GRÜNEN — Frau Teubner Gesundheit der Anwohner sind nicht gefährdet. [GRÜNE]: Wo sehen Sie denn den Feind? — Weitere Zurufe von den GRÜNEN) Ich habe zwar Verständnis dafür, daß die Petentin die Eingriffe in die Natur mit Sorge sieht, bin aber der Sie, die GRÜNEN, wollen, daß der gesamte Vertei- Meinung, daß gewisse Eingriffe in die Landschaft und digungshaushalt gestrichen wird. Belästigungen der Anwohner während des Baus oder (Frau Teubner [GRÜNE]: Jawohl!) späteren Betriebs hingenommen werden müssen, weil sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wi- Am Mittwoch haben Sie diesen Antrag im Verteidi- dersprechen. Der Bundesminister der Verteidigung gungsausschuß eingebracht. Begründet wird der An- sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, die Eingriffe in trag damit, daß es im Verteidigungshaushalt keinen die Landschaft und Belästigungen für die Anwohner Posten gebe, der dem Frieden dient. Statt dessen wol- so gering wie möglich zu halten. Den berechtigten len Sie den Einzelplan 14 zum Aufbau einer Friedens- Interessen der Anwohner und dem hohen Rang des erziehung. Umweltschutzes sollte besondere Aufmerksamkeit (Frau Nickels [GRÜNE]: Sie sollten die Peti- gewidmet werden. tion und nicht Vorschläge der GRÜNEN dis- (Frau Garbe [GRÜNE]: „Sollte", „könnte", kutieren! — Frau Teubner [GRÜNE]: Ist aber „hätte"! — Frau Nickels [GRÜNE]: schön, wenn die das machen!) „Müßte" !) Ein Umdenkungsprozeß darf aber nicht dazu führen, Deshalb halten wir die Eingabe für geeignet, in die unsere Sicherheit aufzugeben. weiteren Überlegungen und Entscheidungen einbe- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wis- zogen zu werden. Wir empfehlen, die Eingabe der sen im Westen um die Möglichkeit von Rückschlägen. Bundesregierung in diesem Sinne als Mate rial zu Wir nehmen zur Kenntnis, daß es zu Gesprächen überweisen. kommt, und hoffen auf den Erfolg der Reformen in Ich danke Ihnen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von den (Conradi [SPD]: Ja, das merkt man!) GRÜNEN: Die Leute werden es Ihnen dan ken!) Auch hoffen wir auf Fortschritte bei den Menschen- rechten. Aber bis heute hat sich in Europa so Wesent-- liches nicht geändert, als daß man von der Vornever- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat Frau Abge- teidigung Abstriche machen könnte. Es kann hier ordnete Ganseforth. keine einseitigen Schritte geben. Es könnte im näch- sten Jahr sicherlich schon anders aussehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Frau Ganseforth (SPD): Herr Präsident! Meine Her- GRÜNEN, vielleicht wollen Sie ja den Einzelplan 14 ren und Damen! Es geht hier nicht um die Fortführung streichen. Vielleicht wären das dann Mittel, die Sie für einer Diskussion im Verteidigungs- oder Haushalts- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12263

Frau Ganseforth ausschuß, sondern es geht um eine Petition, die hier noch in die Landschaft, in die Natur und in die Ver- vorliegt. teidigungspolitik? (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Gerade an eine Einrichtung, die eine so große Gefähr- Im Landkreis Hildesheim bei Haus Escherde soll ein dung und Belastung für Mensch und Natur darstellt, vorgeschobenes Versorgungslager der NATO für die wie es ein Munitionsdepot tut, müßten strengste Maß- britischen Streitkräfte errichtet werden. Dieses Depot stäbe angelegt werden, was die Notwendigkeit be- soll zur Einlagerung von Betriebsstoffen und Munition trifft. dienen, über die nach der Geheimhaltungsbestim- Guckt man sich aber an, was das Verteidigungsmi- mung der NATO keine Angaben gemacht werden nisterium zur Notwendigkeit sagt, so ist man nicht können. überzeugt, daß der Bau dieses Depots jetzt nötig ist. Zur Sorge der Bürgerinnen und Bürger vor einer Die Sicherheit der Bundesrepublik konnte in der Ver- möglichen Explosion bereits in Friedenszeiten meint gangenheit auch ohne dieses Depot aufrechterhalten der Verteidigungsminister, daß nach menschlichem werden. Die Gründe, die das Ministerium anführt, Ermessen eine Gefährdung ausgeschlossen werden sind so allgemein und sehr verstaubt. Frau Dempwolf kann — nun kommt Originalton Verteidigungsmini- hat sie im wesentlichen zusammengefaßt. sterium — , weil „beim Bau von Depots insbesondere (Frau Nickels [GRÜNE]: Da kriegt man eine der Berücksichtigung aller Sicherheitsbelange der Stauballergie, aber eine dicke!) umliegenden Bevölkerung hohe Priorität einge- Sie gipfeln in der Aussage von der Unverzichtbarkeit räumt" wird. Ich meine, das wäre eine Selbstverständ- der Abschreckungsfähigkeit. Von der Strategie der lichkeit. So pauschal gesagt reicht das den Bürgerin- Vorneverteidigung ist dabei die Rede, die es notwen- nen und Bürgern nicht aus. Ich kann das verstehen. dig mache, dieses Depot einzurichten. So pauschal, Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt zu meine ich, kann man so eine Einrichtung und so ein sprechen kommen. In der Bundesrepublik gibt es be- neues Projekt nicht begründen. reits 1 316 Depots der Bundeswehr und 366 Depots (Beifall bei den GRÜNEN) der alliierten Streitkräfte, wie wir aus der Antwort der Der Bundestag sollte daher das Anliegen der Peten- Bundesregierung auf unsere Große Anfrage vom ten aufgreifen und der Bundesregierung zur Berück- Sommer „Landschaftsverbrauch und Naturzerstörung sichtigung überweisen. durch militärische Einrichtungen in der Bundesrepu- blik Deutschland" wissen. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) Am Rande möchte ich nur erwähnen, daß es wieder nicht gelingt, Vorhaben der Landesverteidigung einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen oder Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- das in das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz geordnete Funke. hineinzunehmen. Das läßt für die Zukunft Böses fürchten. Funke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Wie gesagt: Es gibt inzwischen fast 2 000 Depots in Herren! Die vorliegende Petition hat uns in der FDP- der Bundesrepublik. Die Bürgerinnen und Bürger, die Fraktion große Kopfschmerzen bereitet. sich in der Bürgerinitiative zusammengetan haben, sind zu Recht besorgt und fragen, ob es tatsächlich (Frau Faße [SPD]: Das ist schon einmal et nötig ist, immer mehr und immer größere Munitions- was!) depots anzulegen. Es geht nicht, Frau Dempwolf, um Diese Bürgerinitiative und auch die Gemeinde einseitige Abrüstungsschritte, sondern es geht um die Betheln-Escherde haben sich gegen diese Versor- Frage: Ist es nötig, die Aufrüstung weiterzutreiben? Es gungslager gewandt, das nach den Planungen von geht um die Ausweitung. der Wohnbebauung, von der Ortschaft Escherde rund 1200 Meter entfernt ist. Der äußerste Punkt ist (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) 960 Meter entfernt. Der Beginn der Planung liegt fast zwanzig Jahre Der Petitionsausschuß hat dem Bundesminister der zurück. Verteidigung diese Petition als Mate rial überwiesen. Wir haben diesem Beschluß mit großen Bedenken zu- (Frau Nickels [GRÜNE]: Die Zeiten haben gestimmt, weil wir nicht verkennen, daß grundsätz- sich geändert!) lich Versorgungslager der NATO auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland errichtet werden müs- Ich denke, jede Planung — besonders im militäri- sen. schen, aber auch in anderen Bereichen — muß sich - nach so einer langen Zeit dem gewachsenen Erkennt- Die Planung für die Anlage dieses Versorgungsla- nisstand in bezug auf den Naturschutz stellen, muß gers liegt — darauf hat Frau Ganseforth zu Recht hin- aber auch neue Entwicklungen einbeziehen. Mir ist gewiesen — 17 Jahre zurück, und die niedersächsi- das ganz besonders wichtig. Denn wir haben auch in sche Landesregierung hat diesem Standort zuge- anderen Bereichen mit Uraltplanungen zu tun, die stimmt. nur noch durchgezogen werden. Ich finde, es ist in Wir haben hier ein Problem, das wir auch in anderen jedem Bereich, aber ganz besonders im militärischen Bereichen, z. B. im Baurecht, immer wieder erleben, wichtig, nach so einer langen Zeit zu fragen: Paßt das nämlich daß Uraltbebauungspläne verwandt werden, 12264 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Funke obwohl sie heute unter Umweltschutzgesichtspunk- kommt der Mißbrauch durch die Unternehmer, ten eigentlich nicht mehr verwendet werden sollten. die diese Grenze zu kriminellen Praktiken nutzen Ich sehe auch in meiner Heimatstadt Hamburg, daß können und dies im großen Stil auch tun. wir dort Bebauungspläne umsetzen, die aus der Zeit (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) um 1950, 1960 stammen, als wir alle das Wo rt Umwelt- schutz noch nicht buchstabieren konnten. Der Petent fragt: Wir teilen die Bedenken der GRÜNEN hinsichtlich Darf der Gesetzgeber das dulden? Hier besteht der Sicherheitsbedenken nicht. Wir meinen, daß das wohl Handlungsbedarf seitens des Staates. Bundesverteidigungsministerium überzeugend aus- Dann schreibt er: geführt hat, daß das Munitionsdepot, das Versor- gungslager, notwendig ist. Ich schlage vor, diese Praktiken abzuschaffen Unsere Bedenken beziehen sich auf die land- und bei geringem Verdienst bis 450 DM dem Un- schaftszerstörende Wirkung. Der Hildesheimer Wald ternehmer die sozialen Lasten allein aufzuerle- ist ein wichtiges Naherholungsgebiet und wird von gen. einer Reihe von sehr schönen und auch für die Was- Ich finde, der Petent hat recht, und dem ist zuzustim- serversorgung wichtigen Bächen — ich erinnere bei- men. spielsweise an die Beuster — durchkreuzt. Das Nah- erholungsgebiet Hildesheimer Wald hat schon stark (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN) durch den Bau der Schnellbahntrasse Hannover—Kas- Was sagt der Bundesminister für Arbeit und Sozial- sel gelitten. ordnung in seiner Stellungnahme zu dem Anliegen (Frau Garbe [GRÜNE]: Auch eine alte Pla- des Petenten? — Er sagt: nung!) Die Sozialversicherungsfreiheit der geringfügig — Sie haben in diesem Fall völlig recht, Frau Garbe. — Beschäftigten ist in letzter Zeit erneut vermehrt Mit der Anlage des Versorgungslagers würde eine kritisiert worden. Hintergrund dieser Kritik ist zusätzliche Belastung erfolgen. zum einen, daß sich offenbar in einigen Wi rt Wir bitten daher den Bundesminister der Verteidi- -schaftsbranchen die Tendenz verstärkt, sozial- versicherungspflichtige Arbeitsplätze auf gering- gung, intensiv darauf hinzuwirken, daß beim Bau des Versorgungslagers auf die Umwelt und die Befürch- fügige Beschäftigungen umzustellen. tungen und Bedenken der Bevölkerung Rücksicht ge- Das sagt der Sozialminister. nommen wird sowie auf die englischen Verbündeten Zum anderen mehren sich Hinweise auf illegale eingewirkt wird, auf Umwelt und Landschaft verstärkt Praktiken. So werden z. B. durch falsche Anga- Rücksicht zu nehmen. Wir wissen, daß die Engländer ben des Arbeitgebers gegenüber den Sozialversi- nicht übermäßig sensibel mit Umwelt und Landschaft cherungsträgern geringfügige Beschäftigungs- umgehen; das kennen wir von der Lüneburger Heide. verhältnisse vorgetäuscht, um die Sozialversiche- Insoweit bin ich dem Bundesverteidigungsminister rungsbeiträge zu sparen. Diese Entwicklung, sehr dankbar, daß er gerade in der letzten Zeit, was die Lüneburger Heide angeht, mit den Engländern — sagt der Bundesminister für Arbeit und Sozialord- eine vernünftige Regelung gefunden hat. Ich hoffe, nung — daß wir sie auch in diesem Bereich, Haus Escherde, die hier in letzter Zeit zu erkennen war, bereitet bekommen werden. im Hinblick auf die Arbeitsmarktlage, aber auch Vielen Dank. wegen der Finanzierung der sozialen Sicherungs- (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD: Ein systeme, Sorge. originärer FDP-Beitrag!) Der Fall ist also ganz einfach. Allerdings verweist der Minister dann auf Versuche, die Mißbräuche, die er angesprochen hat, durch Kontrollen und Bürokra- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat Frau Abge- tie zu bekämpfen. Aber die Lösung ist ganz einfach, ordnete Ganseforth. nämlich Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Frau Ganseforth (SPD): Herr Präsident! Meine Da- der GRÜNEN) men und Herren! Wir haben noch eine zweite Petition Wir fordern das schon lange, zuletzt in dem Gesetz- aus einem ganz anderen Gebiet vorliegen, und zwar entwurf zur Gleichstellung von Frau und Mann im fordert dieser Petent die Einführung der Versiche- Berufsleben, den wir hier im Bundestag im Dezember rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung 1988 eingebracht haben. für sogenannte geringfügig Beschäftigte. Er beruft sich dabei auf Äußerungen der Präsidentin Professor Auch bei den Gesprächen zur Rentenreform war Dr. Süssmuth und von Dr. Fink von der CDU. Sie ha-- das eine unserer Forderungen. Sie wurde zwar nicht ben kritisiert, daß es etwa zwei Millionen Arbeitneh- in den Kompromiß aufgenommen, aber die Regie- mer ohne jede soziale Absicherung gibt, weil sie Ar- rungsparteien signalisierten, daß hier dringender beitsverhältnisse unterhalb der Geringfügigkeits- Handlungsbedarf bestehe. grenze haben. (Peter [Kassel] [SPD]: Hört! Hört!) Der Petent schreibt an Frau Süssmuth: Wenn das so ist, dann begreife ich nicht, warum Sie Wenn Sie so wollen, dann züchtet sich der Staat nun vorschlagen, das Petitionsverfahren abzuschlie die Sozialhilfeempfänger zum Teil selbst. Hinzu ßen. Dann lassen Sie uns vom Reden dann auch end- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12265

Frau Ganseforth lieh zum Handeln kommen! Das würde nicht nur die Arbeitgeber, die die Sozialversicherungsbeiträge spa- Einnahmen der Sozialversicherungssysteme verbes- ren, die sie sonst bezahlen müßten. sern, sondern es würde auch die Anreize, Teilzeit- (Frau Nickels [GRÜNE]: Richtig!) oder Vollzeitarbeitsplätze in diese unsäglichen Mini- arbeitsplätze zu splitten, verringern. Das würde die Das sind hauptsächlich das Gebäudereiniger-Hand- Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Bet rieben mit werk, der Gartenbau, Bereiche des Einzelhandels und Normalarbeitsplätzen beseitigen. des Gaststätten- und Hotelgewerbes sowie p rivate Haushalte. Dazu kommen religiöse karitative und ge- Nun heißt es, die inzwischen über 2 Millionen Men- meinnützige Einrichtungen. Aber auch die Bundesun- schen — mehr als 80 % davon sind Frauen — , die auf ternehmen wie Post und Bahn profitieren davon. diesen miesen Miniarbeitsplätzen beschäftigt sind, (Frau Wollny [GRÜNE]: Und der Bundes wollten das so. Hierzu möchte ich am Rande bemer- tag!) ken: Es wäre ein Novum, wenn die Gestaltung von Mir liegen die Zahlen vor, daß 1984 bei der Post 4 120 Versicherungen davon abhängig gemacht würde, ob und bei der Bahn 1 344 Menschen — überwiegend und was die Versicherten wollen. Aber das ist ja nicht Frauen — geringfügig beschäftigt waren. Dabei geht der Grund. Stimmt es, daß die Frauen, die auf diesen es nicht um Mißbrauch oder illegale Praktiken, es geht Miniarbeitsplätzen beschäftigt werden, das wollen? um einen legalen Skandal. Mir liegt eine Befragung der Katholischen Arbeit- Wie man mit den wenigen Fällen verfahren müßte, nehmerbewegung KAB vor, deren Ergebnis am beispielsweise mit Schülerinnen oder Rentnerinnen, 13. April 1989 in Bonn vorgestellt wurde. Das Thema die wirklich nur vorübergehend dazuverdienen, dafür dieser Befragung lautet: „Frauen in geringfügiger Be- haben wir in unserem Gesetzentwurf praktikable Vor- schäftigung". Diese Befragung wurde unter der wis- schläge gemacht. Es gibt aber auch vom DGB entspre- senschaftlichen Leitung von Dr. Ma rianne Vollmer chende Vorschläge. Das läßt sich also lösen. aus Mannheim durchgeführt. Ich denke, die kriti- Die Zeit ist reif, diese Arbeitsverhältnisse endlich zu schen Äußerungen des Ministeriums beruhen auf die- beseitigen, die Minister Blüm als „nichts anderes als sen Erfahrungen, aber man handelt halt nicht. Dieser eine neue Ausbeutung" bezeichnet hat. Ich füge Befragung zufolge sagen nur 34,2 % der etwa 1 000 hinzu: Wer das weiß und nicht handelt, ist ein Heuch- Befragten in geringfügigen Arbeitsverhältnissen: „So ler. Lassen Sie uns daher das Vernünftige tun und die wie es ist, paßt es mir sehr gut." Wenn man diejenigen Petitionen zur Berücksichtigung an den Bundestag abzieht, denen es nur deshalb paßt, weil sie keine überweisen! Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder haben, Schönen Dank. dann wird die Zahl derer, die diese Arbeitsverhält- nisse wollen, auf Null schrumpfen. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Aber 53,9 % der Befragten sagen ausdrücklich: „Ich Vizepräsident Westphal: Das Wort hat Frau Abge- möchte sozialversichert sein ...". Sie meinen damit ordnete Limbach. Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeits- losenversicherung. 21,5 % sagen: „Ich möchte mehr Stunden arbeiten und damit einen höheren Lohn be- Frau Limbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine kommen. " So also sieht die Realität aus. Wenn man Damen und Herren! Nicht alle Petitionen, die den denkt, es handele sich nur um kurzfristige Arbeitsver- Bundestag erreichen, betreffen persönliche Probleme hältnisse, so muß ich sagen: 57,2 % der Frauen — also des Petenten, vielmehr gibt es, wie in diesem Fall weit über die Hälfte — arbeiten bereits vier Jahre und eben auch Petitionen, in denen sich ein Petent oder länger an diesem Arbeitsplatz. Das heißt: Es handelt eine Petentin Gedanken über übergreifende Pro- sich nicht um vorübergehende geringfügige Beschäf- bleme macht. So einen Fall haben wir hier, weil der tigungen, sondern um eine langfristige Erwerbsarbeit Petent die Einführung einer Versicherungspflicht in dieser Personen. der gesetzlichen Rentenversicherung auch für gering- fügige Beschäftigungsverhältnisse fordert. Nur 25,7 % sagen, daß sie nur ein kleines Taschen- geld verdienen. Die übrigen 74,3 % sagen, daß ihr Ein- Dann muß man einen Augenblick darüber nach- kommen zu einem Teil zum Unterhalt der Familie bei- denken, was geringfügige Beschäftigungsverhält- trage oder sogar den Hauptverdienst darstelle, der nisse sind, die ja sozialversicherungsfrei sind. Ich lasse den Lebensunterhalt sichere. Das ist die Realität! bewußt die geringfügigen Nebentätigkeiten weg, Dann erstaunt es auch nicht, daß 12,9 % der Befragten weil die, die sie ausüben, in der Regel in einem sozial- in mehreren Beschäftigungsverhältnissen stehen. Das versicherungspflichtigen Hauptarbeitsverhältnis oder Splitten in Beschäftigungsverhältnisse, bei denen der als Beamte in einem entsprechenden Arbeitsverhält- Verdienst unter der Grenze von 450 DM liegt, ist eine nis stehen. Es handelt sich um die berühmten 15 Stun- ganz schlimme Sache. den wöchentlich und — jedenfalls zur Zeit — 450 DM - monatlich. So groß ist das Interesse der Arbeitnehmerinnen an Gegen den von dem Petenten beklagten Miß- der Aufrechterhaltung dieses Zustandes also nicht. brauch, den auch wir beklagen, sind schon einige Wenn man sich diese Befragung vor Augen führt, Schritte unternommen worden. Erstens. Die Arbeitge- dann fragt man sich: Was eigentlich sind die tatsäch- ber müssen z. B. bereits seit Januar 1989 Lohnunter- lichen Interessen, und wo sind die Hindernisse, die lagen für alle Beschäftigten, also auch für die gering- verhindern, daß es gelingt, diese Arbeitsverhältnisse fügig Beschäftigten, führen. Das verbessert die Kon- wegzubekommen? Wer profitiert davon? Es sind die trolle. 12266 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Frau Limbach Zweitens. Die Einzugsstellen können über die zialversicherungsfreie Beschäftigungen angegeben Lohnbuchhaltung hinaus künftig auch die Finanz- werden. „Ich finde sonst zur Zeit keine andere Arbeit" buchhaltung prüfen. Das hilft, festzustellen, ob Ar- sagen 18 %. „Ich bin noch in Ausbildung" sagen 23 %. beitsverhältnisse verschleiert werden sollen. Wenn „Ich kann mir mit dem Geld Extraausgaben leisten" ein solcher Verdacht besteht, kann dies also leichter sagen 36 %. Da weiß man aber nicht genau, ob das die aufgedeckt werden. Extraausgaben sind, die sich der Schüler oder der Stu- dent bzw. die Schülerin oder die Studentin leistet, Drittens — das ist auch sehr wichtig — muß be- kanntgemacht werden, ob vielleicht mehr als ein sol- oder ob es sich um Hausfrauen handelt — in diesen Arbeitsverhältnissen sind ja fast 60 % Hausfrauen be- ches geringfügiges Beschäftigungsverhältnis besteht, was dann zusammengenommen zum höheren Entgelt schäftigt; sie sind also die größte Gruppe —, bei denen ja das Motiv „Extraausgaben" auch bedeuten könnte, führt. Dies führt ja dann zur Sozialversicherungs- riseur gehen können, was pflicht. Es ist ja auch durchaus mit Bußgeldern be- daß sie auch einmal zum F sie sich sonst, vom Haushaltsgeld nicht leisten könn- wehrt, wenn man auf diese Weise das eigentlich ge- ten. Das ist also diffus. Es gibt aber auch die Fälle, daß dachte Instrument unterläuft. man solche Tätigkeiten eher aus Gefälligkeit über- Auch der Sozialversicherungsausweis, für den nimmt, wenn Not am Mann ist, und daß sozialver- meine Fraktion die Initiative ergriffen hatte, und die sicherungsfreie Tätigkeit eine Möglichkeit ist, den Meldepflicht auch für geringfügig Beschäftigte wer- Kontakt mit dem Beruf nicht zu verlieren usw. den nach unserer Auffassung dazu beitragen, illegale Das sind also sehr unterschiedliche Motive. Deshalb und mißbräuchliche Praktiken stärker zu entdecken glaube ich nicht, daß das nur der Dispositionsfreiheit und vor allen Dingen stärker abzustellen. Das wün- des Arbeitgebers im Personalbereich dient, sondern schen wir auch. daß es durchaus jedenfalls einem Teil derer dient, die (Frau Seuster [SPD]: Wem wollen Sie denn solche Beschäftigungsverhältnisse eingehen. helfen, dem Arbeitgeber oder dem Arbeit- (Zuruf von den GRÜNEN: Die hätten be nehmer?) stimmt alle nichts dagegen, versichert zu — Sowohl dem Arbeitgeber wie den Arbeitnehmern, sein! — Zuruf von der SPD: Das ist doch kein Frau Seuster. Grund, sie nicht zu versichern!) Das ist ja das Problem. Sie haben alle die Untersu- Ich meine, wir sollten die Maßnahmen, die wir jetzt chung dieses Forschungsprojektes sozialversiche- gegen den Mißbrauch eingeleitet haben, und deren rungsfreie Beschäftigung bekommen. Wenn man sich Wirkungen abwarten, um zu sehen, inwieweit das einmal die Motive ansieht, dann stellt man nämlich greift, und nicht sozusagen sofort das Kind mit dem fest, daß man nicht pauschal bei allen geringfügig Bade ausschütten. Denn es zeigt sich — das ist einfach Beschäftigten — jetzt von den Arbeitnehmern her ge- erkennbar —, daß jetzt mit den Maßnahmen, die wir sehen — die gleichen Motive oder die gleichen Inter- eingeleitet haben, grobem Mißbrauch jedenfalls bes- essen unterstellen kann. Man kann auch nicht pau- ser nachgegangen werden kann als bisher. schal unterstellen, daß jeder Arbeitgeber, der das In- strument der geringfügig Beschäftigten nutzt, daß Vizepräsident Stücklen: Frau Abgeordnete, gestat- mißbräuchlich tut. Ich weiß genau wie Sie, welche ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pe- Mißbräuche es gibt. Dieses Instrument war ja dafür ter? gedacht, bei kurzzeitig verstärkt anfallenden Arbei- ten solche Arbeitsverhältnisse eingehen zu können. Jedermann kann sich das vorstellen. Ein Beispiel ist Frau Limbach (CDU/CSU): Ich gestatte, Herr Präsi- die Gastronomie. Ein Wirt, der einen kleinen Saal hat dent! und fünfmal im Jahr eine Hochzeit ausrichtet, braucht zu diesen Zeiten mehr Personal. An solche Dinge war Peter (Kassel) (SPD): Frau Kollegin Limbach, ge- ja gedacht. Man könnte das noch weiter ausführen. winnen Sie bei Ihrer Argumentation nicht selbst den Dem Begehren des Petenten, jetzt für alle geringfü- Eindruck, daß das Votum, die Petition abzuschließen, gig Beschäftigten die Rentenversicherungspflicht ein- im Widerspruch zu Ihrer Argumentation steht und daß zuführen, um, wie er es begründet, nicht mehr selbst auf Grund Ihrer Argumentation möglicherweise der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen zu Beschluß „Mate rial" sehr viel angemessener wäre? züchten, kann man nicht folgen; denn man muß auch sehen, daß bei einem 450-DM-Arbeitsverhältnis im (CDU/CSU): Nein. Ich halte mich da Falle der Sozialversicherungspflicht bestimmt keine Frau Limbach an die Begründung, die auch der Petitionsausschuß Rente herauskommen würde, die den Betreffenden, gefunden hat, der nämlich sagt, daß zur Zeit weitere wenn er keinen anderen Lebensunterhalt hat, aus der gesetzliche Veränderungen nicht in Aussicht gestellt Sozialhilfe herausfallen ließe. werden können und daß deshalb die Petition abzu- (Frau Ganseforth [SPD]: Die würden mehr - schließen ist. Das sagt nichts darüber aus, daß man arbeiten wollen!) nicht in einigen Jahren, wenn man die Ergebnisse der — Ob die mehr arbeiten wollen oder nicht, kann man jetzt eingeleiteten Maßnahmen überprüfen kann, die nicht so pauschal sagen. Ich bin davon überzeugt, Frage insgesamt noch einmal überprüfen kann. Ich manche wollen gerne mehr arbeiten. Ich bin aber sage „kann". In der Politik ist es ja immer möglich und auch davon überzeugt, daß manche nicht mehr arbei- sogar nötig, neue Erkenntnisse und neue Erfahrungen ten wollen. Man kann ja einmal in der eben angeführ- für die Entscheidungen zu nutzen. ten Untersuchung nachlesen, welche Gründe für so (Zustimmung bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12267

Frau Limbach Nach dem heutigen Erkenntnisstand können wir aber Danke schön. so entscheiden. (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD) Vizepräsident Stücklen: Frau Abgeordnete, gestat- ten Sie noch eine Zusatzfrage? Das Wort hat Herr Abge- (CDU/CSU): Bitte! Vizepräsident Stücklen: Frau Limbach ordneter Funke. Peter (Kassel) (SPD):Wie verträgt sich die Argu- mentation des Petitionsausschußbüros mit der Verein- barung im Rentenkompromiß, daß Handlungsbedarf (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und besteht? Funke Herren! Gestatten Sie vorab ein Wort zu Frau Nickels. Es ist keine Form der Ausbeutung, sondern auch diese Frau Limbach (CDU/CSU): Ich gehöre nicht zu den- jenigen, die diesen Rentenkompromiß ausgehandelt Arbeitsverhältnisse werden nach Tarifverträgen oder haben. Deshalb bitte ich um Nachsicht dafür, wenn vergleichbaren Regelungen ich vielleicht eine Nuance nicht ganz mitbekommen (Frau Nickels [GRÜNE]: Sie haben doch ge habe. Für mich verträgt es sich deshalb, weil der hört, was die Umfrage der KAB ergeben Handlungsbedarf beispielsweise dadurch erfüllt wor- hat!) den ist, daß diese Maßnahmen zur Abstellung des vergütet. Die Regelung besagt lediglich, daß diese Mißbrauchs getroffen worden sind. Ob es weiteren Arbeitsverhältnisse der geringfügig Beschäftigten Handlungsbedarf gibt, wird man dann sehen, wenn — bis 450 DM — eben nicht der normalen Einkom- man die Wirkungen dieser Maßnahmen, die wir jetzt mensteuer bzw. Lohnsteuer unterliegen, sondern daß beschlossen haben und durchführen werden, erken- hier die Lohnsteuer pauschaliert werden kann und nen kann. Weil die Gesamtbewertung der Untersu- daß Sozialversicherungsbeiträge nicht zu zahlen sind. chung noch nicht abgeschlossen ist, ist es vernünftig, Diese sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen die Wirkung der Maßnahmen abzuwarten. Deshalb ist kommen in großem Umfang Frauen, Jugendlichen, es auch vernünftig, daß ich für meine Fraktion emp- Rentnern und einkommensschwachen Teilen der Be- fehle, der Beschlußempfehlung des Petitionsaus- völkerung zugute. schusses zu folgen und das Petitionsverfahren abzu- schließen. (Widerspruch bei der SPD und den GRÜ (Beifall bei der CDU/CSU) NEN) Das „zugute" formuliere ich bewußt, weil diese Ar- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat Frau Abge- beitnehmer diese Regelung auch haben wollen. ordnete Nickels. (Frau Seuster [SPD]: Das stimmt ja nicht!) Frau Nickels (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Da- — Natürlich wollen sie diese Regelung haben, denn men und Herren! Als kleinste Fraktion haben wir auch sonst wären sie ja durchaus in der Lage, Arbeitsver- nur die wenigste Redezeit. Ich habe exakt zwei Minu- hältnisse auf dem sonstigen Arbeitsmarkt einzuge- ten Redezeit für dieses sehr wichtige Thema. Es ist mir hen. ein ganz wichtiges Thema. Ich bin Ihnen, Frau Gan- seforth, sehr dankbar, daß Sie diese Zahlen der KAB Sicherlich ist diese Regelung auch ein Ausfluß unse- vorgelegt haben. Ich denke, es ist erstens ein Problem rer hohen Steuerbelastung und der hohen Lohnne- von Frauen. Zweitens ist die Frage nach den Instru- benkosten. Große Bereiche unserer Wirtschaft sind menten gestellt worden. auf geringfügig Beschäftigte angewiesen; beispiels- weise Zeitungsvertrieb, das Reinigungsgewerbe bei Tatsache ist, daß im Rahmen des Beschäftigungsför- Aushilfssituationen und auch der Gastronomiebe- derungsgesetzes und in dem von seiten der Koalition reich. geplanten Arbeitszeitbereich die Entwicklung noch verschlechtert und verschlimmert wird. Das straft ei- Ich will auch nicht verkennen, daß es in der Vergan- gentlich alles Lügen, was hier an positiven Ansätzen genheit — häufig durch die Eingehung mehrerer Ar- in die Debatte eingebracht worden ist. Darum muß die beitsverhältnisse — auf seiten des Arbeitnehmers Forderung ganz klar sein: Abschaffung der unge- Mißbräuche gegeben hat. Die Bundesregierung hat schützten Beschäftigungsverhältnisse. Die Petition deswegen eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um bietet einen Denkanstoß. Sie muß zur Berücksichti- diese Mißbrauchstatbestände abzubauen. Die wirk- gung überwiesen werden. Die SPD hat hier einiges samsten Maßnahmen dürften die Schaffung eines So- eingebracht. Wir bringen demnächst auch einen Ge- zialversicherungsausweises und die Einführung einer setzentwurf ein. Meldepflicht auch für geringfügig Beschäftigte sein. Dort, wo Mitarbeiter nur ein Arbeitsverhältnis als ge- Ich hoffe sehr, daß hier vernünftige Beratungen- durchgeführt werden und daß das, was draußen in der ringfügige Beschäftigung wahrnehmen, soll dies auch Gesellschaft breit diskutiert wird, z. B. in der katholi- nach wie vor möglich sein. Dies kommt den betroffe- schen Arbeitnehmerbewegung, auch in die Beratung nen Bevölkerungskreisen auch entgegen. einfließt — das sind Menschen, die vor Ort auch Er- Sollten dennoch einige Mißbrauchstatbestände auf- fahrungen gemacht haben — und wir hier parlamen- tauchen, müssen wir hierüber erneut nachdenken und tarische und außerparlamentarische Mehrheiten be- gegebenenfalls gesetzliche Tatbestände vorsehen. kommen, um diese Ausbeutung — vor allem von Zur Zeit sehe ich keinen Handlungsbedarf. Ich warne Frauen — abzuschaffen. auch davor, immer nur nach Gesetzen zu rufen, nur 12268 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Funke weil es einige wenige schwarze Schafe gibt, die Miß- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr brauch treiben. Abgeordnete Weiss. (Frau Ganseforth [SPD]: Es geht nicht um den Mißbrauch, sondern den legalen Skan- dal!) Weiss (München) (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Alpentransitverkehr, insbe- — Das ist kein legaler Skandal. Das habe ich ausge- sondere der Schwerlastverkehr, hat in den letzten führt. Sie sind anderer Auffassung als ich. Ich teile Ihre Wochen eine ganz besondere Aktualität durch den Auffassung nicht. Deswegen sehe ich auch keinen Belagerungszustand von Österreich gewonnen, den gesetzlichen Handlungsbedarf. Falls Mißbrauchstat- ein italienischer Großfuhrunternehmer mit temporä- bestände auftauchen, werden wir darüber erneut be- rer Unterstützung durch bundesdeutsche Fuhrunter- raten. nehmer vorübergehend herbeigeführt hat. Vielen Dank. Der Anlaß war die Tatsache, daß sich in Österreich (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten endlich etwas tut und daß nach Jahrzehnten von der CDU/CSU) Nichtstun nunmehr nach dem erdrutschartigen Ver- lust der ÖVP von mehr als 18 % der Stimmen bei der Tiroler Landtagswahl im März dieses Jahres alle Par- Vizepräsident Stücklen: Ich schließe die Ausspra- teien in Tirol aufgerüttelt sind und sich gezwungen che. sehen, zu handeln. Dementsprechend haben die Tiro- Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 a, und ich ler Landesregierung und die österreichische Bundes- nehme Tagesordnungspunkt 11 b dazu. regierung einschneidende Maßnahmen, behutsam Zu Tagesordnungspunkt 11 a stimmen wir zunächst einschneidende Maßnahmen, für den Straßengüter- über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf verkehr durch ihr Land verhängt. Drucksache 11/5227 ab. Wer diesem Änderungsan- (Dr. Jobst [CDU/CSU]: Die sind schon sehr trag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein einschneidend!) Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Einschränkungen — aus der Sicht der Tiroler Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Bevölkerung sind sie, meine ich, längst überfällig und Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsaus- längst noch nicht ausreichend — haben heftige Reak- schusses auf Drucksache 11/5151 zuzustimmen tionen auf der bundesdeutschen Seite ausgelöst. Der wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- bayerische Ministerpräsident und der Bundesver- genprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. kehrsminister haben öffentlich sogar mit Wirtschafts- Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung des Aus- sanktionen gegenüber Österreich gedroht, letztend- schusses angenommen. lich mit Wirtschaftssanktionen lediglich zur Durchset- Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 b. Wir zung der Interessen des bundesdeutschen Speditions- stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Frak- gewerbes. tion der SPD auf Drucksache 11/5251 ab. Wer diesem (Eigen [CDU/CSU]: Von wegen nur Spedi Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich tionsgewerbe, die ganze deutsche Wirt um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltun--schaft!) gen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Das ist verbale Verletzung der Souveränität unseres Antrag abgelehnt. Nachbarlandes Österreich. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsaus- (Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Jobst [CDU/ schusses auf Drucksache 11/5152 zuzustimmen CSU]: Von Wirtschaft haben Sie keine Ah wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge- nung!) genprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung ange- Der Vorgang ist gravierend, wenn man bedenkt, nommen. daß die Bundesregierung über die vom Transitver- kehr ausgehenden Umweltbelastungen in den Alpen- ländern Österreich und Schweiz denkbar schlecht in- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: formiert ist; denn bei fast allen Fragen in der Großen Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Anfrage, die sich auf die Umweltbelastungen in der ten Weiss (München), Frau Rock, Frau Teubner Schweiz und in Österreich beziehen, räumt die Bun- und der Fraktion DIE GRÜNEN desregierung ein, daß ihr dazu keine Informationen vorliegen. Der Bundesregierung ist über die Schad- Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen stoffkonzentrationen in den Alpentälern oder über auf die Umwelt die Bodenbelastungen mit Schwermetallen entlang — Drucksachen 11/4099, 11/4949 — der Transitachsen also angeblich nichts bekannt. Nicht einmal die Ergebnisse der vorhandenen Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion- Lärm- DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den messungen entlang der Transitachsen sind der Bun- Drucksachen 11/5243 und 11/5256 vor. Da die Absicht desregierung angeblich bekannt, wie sie explizit in besteht, diese Anträge dem Ausschuß zu überweisen, der Antwort auf die Frage 2.2.3 der Großen Anfrage vermute ich, daß wir die vorgesehene Redezeit gar einräumt. Der Bundesverkehrsminister hat es offen- nicht voll in Anspruch nehmen. sichtlich nicht einmal für nötig befunden, sich über die Umweltauswirkungen des Alpentransitverkehrs an- (Weiss [München] [GRÜNE]: Na?) gemessen zu informieren, bevor er mit seinen Pöbe- Für jede Fraktion sind zehn Minuten vorgesehen. leien gegenüber Österreich begonnen hat. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12269

Weiss (München) Da die Informationen über die Umweltbelastungen reden zwar von Schiene, meinen aber in Wirklichkeit in Österreich und in der Schweiz öffentlich zugäng- die Straße. Dazu gehört meiner Auffassung nach auch lich sind und die Bundesregierung trotzdem sie nicht der Bundesverkehrsminister. zu kennen vorgibt, müssen wir aus den Antworten der (Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) Bundesregierung eigentlich schließen, daß es nicht bloß um ein „Nichtwissen", sondern um ein vorsätzli- Denn der Generaltenor aller vorgeschlagenen Lösun- ches „Nicht-wissen-Wollen" , um Ignoranz gegenüber gen lautet ja immer: irgendwie Verlagerung des Ver- den Umweltproblemen in den Alpenländern han- kehrs; aber es werden keine Konzepte angeboten. delt. Es läuft lediglich eine Diskussion über kommende (Jäger [CDU/CSU]: Unsinnige Unterstel- Eisenbahnalpentunnel. Dafür mag Verschiedenes lung!) maßgebend sein. Einmal mag es die Faszination eines solchen technischen Großprojekts sein. Doch der Der Bundesregierung, dem Bundesverkehrsmini- wahre Grund dürfte darin liegen, daß man eben über ster ist es offensichtlich egal, daß im Wipptal entlang Tunnel ganz bequem reden kann, daß sie frühestens der Transitroute die Menschen mit Lärmbelastungen in 20 Jahren kommen, daß man Verkehrsprobleme in von mehr als 70 dB(A) nachts schlafen müssen, daß in die Zukunft verschieben kann, denn man braucht ein- landwirtschaftlichen Böden neben der Luegbrücke an fach heute nichts zu tun. Die angebliche Tunnelent- der Brennerautobahn Bleiwerte von 1 200 ppm sowie scheidung, ein Tunnel, der in 20 Jahren kommt, soll deutlich erhöhte Cadmiumwerte nachgewiesen wor- die Lösung sein. den sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr verhindert Wenn sich der Bundesverkehrsminister gegenüber doch durch Bürgerinitiativen, daß etwas ge den Nachbarländern schon unverschämt äußert, sollte baut werden kann!) er sich vorher wenigstens informieren und Alternati- ven anbieten; denn der Großteil der Güter, die durch Dabei wissen Sie doch so gut wie ich, daß, wenn Sie Österreich und die Schweiz transportiert werden, allein das Wachstum nehmen, das für die nächsten stammt aus der Bundesrepublik oder ist für die Bun- 20 Jahre prognostiziert ist, der Tunnel in 20 Jahren desrepublik bestimmt. Der Bundesrepublik als einem nicht einmal in der Lage sein wird, die Belastung auf wesentlichen Verursacherland des Transitverkehrs das heutige unerträgliche Niveau zurückzuführen, so kommt somit eine Schlüsselrolle bei der Lösung der daß er dann lediglich Kosmetik ist. Die Tunneldiskus- vom Alpentransitverkehr herrührenden Probleme zu. sion ist eine Ausrede dafür, daß heute nichts getan Die bisherigen Ausführungen der Bundesregierung wird. zu diesem Problem waren jedoch kontraproduktiv. (Zuruf von der CDU/CSU: Also wollt ihr Dagegen hat in unseren Nachbarländern Schweiz ihn?) und Österreich ein Umdenkungsprozeß bereits be- — Was heißt „Wir wollen ihn"? Wir wollen, daß heute gonnen. Es wurden verkehrspolitische Konsequen- etwas gemacht wird. zen aus der Lkw-Lawine gezogen und Einschränkun- gen beschlossen. Die Reaktionen auf diese Maßnah- (Zurufe von der CDU/CSU: Was denn? — men aus der Bundesrepublik und aus der Europäi- Vorschläge!) schen Gemeinschaft sind völlig unangemessen. Dro- Alles Geschwätz und Gerede von dem Tunnel kann hungen mit Gegenmaßnahmen, die nur einseitig die Probleme einfach nicht lösen. Das ist eine Schein- österreichische oder Schweizer Lkw auf bundesdeut- lösung. Sie wird von allen möglichen Leuten verwen- schen Straßen treffen sollen, sind der falsche Weg. Die det, um sich damit zu profilieren, Bundesregierung müßte vielmehr über Einschrän- kungen für alle Lkw auch in der Bundesrepublik (Beifall bei den GRÜNEN) nachdenken. Denn es ist doch so, daß die Bürgerinnen aber sie trägt nichts dazu bei, das Problem zu lösen. und Bürger in der Bundesrepublik kein Verständnis mehr dafür haben, daß die Bundesregierung den Es gibt bereits heute Möglichkeiten, die negativen Schutz der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger vor Auswirkungen des ausufernden Straßengüter-Tran- Lärm und Abgasen offensichtlich für weniger wichtig sitverkehrs zu verringern und Verkehr auf die Schiene hält als die Regierungen von Österreich und der zu verlagern. Die Probleme haben sich einfach so zu- Schweiz den Schutz der dort lebenden Menschen. gespitzt, daß die Zeit bis zu einer möglichen Festle- gung eines neuen Tunnels zu lang erscheint, als daß (Dr. Jobst [CDU/CSU]: Erstens stimmt das man sie jetzt einfach ungenutzt verstreichen lassen nicht, und zweitens: Was empfehlen Sie könnte. Ohne neue Tunnel würde die vorhandene denn?) Schieneninfrastruktur in Österreich und in der Die Transitländer können die entstandenen Pro- Schweiz auch jetzt schon ausreichen, um den gesam- bleme nicht alleine lösen. Erst recht hilft es nicht, ten alpenquerenden Güterverkehr auf der Schiene wenn man Druck auf sie ausübt; denn es nützt doch - abwickeln zu können. Sie brauchen bloß die Zahlen nur etwas, wenn eine Lösung im Konsens erreicht zu vergleichen: Die Kapazität der alpenquerenden wird. Aber davon bewegt sich die Bundesregierung Eisenbahnstrecken ist mit 28 Millionen Tonnen Gü- immer weiter weg. tern angegeben. Addieren Sie die Zahlen, die die Bundesregierung in der Antwort auf die Große An- (Dr. Penner [SPD]: Kein Wunder, es ist keiner frage angibt; dann kommen Sie heute auf 27,8 Millio- mehr da!) nen Tonnen Güter pro Jahr. Dennoch wird weit weni- Es besteht eben nur verbale Einigkeit darüber, daß ger mit der Eisenbahn transportiert. Das heißt, daß die Verkehr auf der Schiene Vorrang haben soll. Viele Kapazitäten heute schon nicht ausgeschöpft sind. 12270 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Weiss (München) Wenn es Kapazitätsengpässe gibt, dann liegen sie lichkeit der Arbeits- und Wirtschaftswelt in unserem nicht in den Alpentransitstrecken, sondern in den an- Land völlig vorbeigeht. grenzenden Eisenbahnnetzen, auch in der Bundesre- publik Deutschland. Auch die Bundesregierung hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ein maßgebliches Stück Schuld daran, daß die not- Weiss [München] [GRÜNE]: Sie gehen an wendige Schaffung von Infrastruktur in der Bundesre- der Umweltsituation der Alpenländer vor publik weiter verzögert wird und die Bundesbahn- bei!) sanierung mittels einer Kommission weiter ver- schleppt wird, obwohl heute längst Handlungsbedarf Sie und Ihre Freunde und Gesinnungsgenossen kön- besteht. nen sich doch nicht hierherstellen und entsprechende Außerdem müssen Sie sich überlegen: Selbst wenn Baumaßnahmen fordern, aber selbst draußen im Sie Tunnel fordern, kommt der Verkehr doch nicht Lande umherziehen und überall gegen Baumaßnah- von alleine in die Tunnel. Warum werden die Kapazi- men ankämpfen. täten denn heute nicht genutzt? Da müssen wir wirk- lich andere Maßnahmen ergreifen. Dazu gehören Meine sehr verehrten Damen und Herren, der auch Maßnahmen wie Verteuerung, wie Schwerver- Alpenraum stellt neben dem Wattenmeer das größte kehrsabgabe oder Verkehrsverbote und Gewichts- zusammenhängende noch weitgehend natürliche beschränkungen. Das ist in der Bundesrepublik ei- Ökosystem in Europa dar. Und für den Naturhaushalt gentlich längst überfällig. —lassen Sie mich auch dies grundsätzlich sagen — kommt ihm europaweit eine überragende Bedeutung Man sollte noch eines dazu sagen. Bei der Diskus- zu. Er stellt ein System dar, das auf Veränderungen sion über die Verlagerung von Alpentransitverkehr durch den Menschen hochsensibel reagiert. Schutz von der Straße auf die Schiene ist das verkehrspoliti- und Erhaltung des Alpenraumes mit seinen natürli- sche Blickfeld meistens auf das kurze Stück durch die chen ökologischen Strukturen und Besonderheiten Alpen eingeengt, während die Wirkungen auf die län- sind über nationale Grenzen hinaus gemeinsame Auf- geren Strecken vor und hinter den Alpen kaum ins gabe aller Alpenstaaten. öffentliche Bewußtsein rücken. Das darf nicht hinge- nommen werden. Wir müssen die einschränkenden Unsere Fraktion begrüßt es, daß der Bundesum- Maßnahmen, die in unseren Nachbarländern herr- weltminister Dr. Töpfer seine Kollegen aus den sechs schen, als Chance begreifen, als Chance der Eisen- Alpenstaaten zu einer internationalen Alpenkonfe- bahnen, als Chance, die verkehrspolitische Forderung renz vom 9. bis zum 11. Oktober nach Berchtesgaden „Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die eingeladen hat. Ziel dieser Konferenz ist es, die Zu- Schiene" nicht nur als Schlagwort zu verwenden, son- sammenarbeit der Alpenstaaten auf allen für die Um- dern im alpenquerenden Verkehr vom Versandort bis welt bedeutenden Feldern zu verbessern. zum Zielort Wirklichkeit werden zu lassen. Im übrigen muß man sagen, daß es natürlich auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) andere Möglichkeiten gibt. Wenn ich mir allein die Zahlen ansehe, die die Bundesregierung über den Schon in den Vorgesprächen bestand Einigkeit Seeverkehr genannt hat, so komme ich auf etwas darin, daß vor allem in den Bereichen Raumplanung, merkwürdige Verhältnisse und frage mich, warum Bodenschutz, Wasserhaushalt, Naturschutz und der Anteil des Seeverkehrs zwischen Benelux und Ita- Landschaftspflege, Tourismus, Verkehr und Energie- lien und zwischen Frankreich und Italien wesentlich versorgung die Zusammenarbeit im gesamten Alpen- höher ist als der zwischen der Bundesrepublik und raum auf allen Ebenen intensiviert werden muß. Wir Italien. Ich denke, hier gibt es auch Möglichkeiten der haben gestern im Verkehrsausschuß von den vorbe- Verlagerung und Möglichkeiten der Abhilfe inner- reitenden Bemühungen der Bundesregierung Kennt- halb weniger Monate oder Jahre. Diese sollten wir nis genommen. nutzen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dafür möglichst bald ein Konzept vorzulegen. Solange sie Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit dieses Konzept nicht vorlegen kann, sollten verbale sind bedeutende Anstrengungen unternommen wor- Unverschämtheiten gegenüber Österreich und der den, um Schäden für die Alpen zu vermeiden oder in Schweiz gefälligst unterbleiben. Grenzen zu halten. Mit Blick auf die zunehmende Danke. Bedrohung reichen die bisherigen Anstrengungen — da sind wir uns einig — nicht aus. (Beifall bei den GRÜNEN) Ökologische Belastungen der Alpen durch den Verkehr sind unbestreitbar. Unser Ziel muß es sein — das steht im Mittelpunkt — , umweltfreundliche Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- geordnete Oswald. und zugleich wirtschaftlich vertretbare Lösungen zu - finden. Wir müssen im Interesse der Volkswirtschaft, des ungehinderten Warenaustausches in der Europäi- schen Gemeinschaft und des Schutzes der Alpenre- Oswald (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Kolle- gion bereit sein, hier wesentliche substantielle Bei- ginnen und Kollegen! Herr Kollege Weiss, Ihre Vor- träge zu leisten. Aber, Herr Kollege Weiss, wir können würfe an die Bundesregierung sind völlig unbegrün- doch den Verkehr nicht verhindern. Wir müssen doch det und müssen klar zurückgewiesen werden. Sie ha- gerade im Interesse einer lebendigen Volkswirtschaft, ben hier ein Horrorgemälde gemalt, das an der Wirk- die um Arbeitsplätze bemüht ist, dem Verkehr die Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12271

Oswald notwendigen Weichen stellen und die notwendigen einbarten Zusammenwirken der am alpenquerenden Wege weisen. Verkehr beteiligten und von ihm be troffenen Staa- ten. (Weiss [München] [GRÜNE]: Das würde, wenn man die These zu Ende denkt, heißen: (Weiss [München] [GRÜNE]: Da sind aber Verkehrsmaximierung!) Sanktionsandrohungen das falsche Mittel!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der alpenque- Auch die Bundesrepublik ist ein Transitland. Das rende Verkehr hat für unser Land und seine kochent- dürfen wir bei all diesen Diskussionen nicht verges- wickelte und damit auch sensible Wirtschaft größte sen. Unsere Bürger sind ebenfalls durch die verkehrs- Bedeutung. Wir müssen auf seine reibungslose Ab- bedingten Lärm- und Schadstoffemissionen betroffen. wicklung Wert legen. Die europäische Integration, So passieren z. B. auf der Inntal-Autobahn durch- die gesamtwirtschaftliche Entwicklung führen zu ei- schnittlich 24 000 Fahrzeuge täglich den Grenzüber- ner noch stärkeren Verflechtung der Volkswirtschaf- gang Kiefersfelden. Durch meinen Wahlkreis geht die ten. Dies bedeutet einen weiteren Anstieg des inter- Autobahn Augsburg—München, die täglich von rund nationalen Warenaustauschs mit entsprechenden 50 000 Fahrzeugen befahren wird. Auch dies dürfen Konsequenzen für die Güterverkehrsentwicklung. wir nicht vergessen. An der Brenner-Strecke sind derzeit alle aktuellen Drittens. Die Maßnahmen sollen die technisch-wirt- Probleme zu beobachten, die auch für die übrigen schaftlichen Möglichkeiten zur umweltfreundlichen alpenquerenden Verkehrswege in Österreich Gestaltung des Verkehrs voll ausschöpfen. Sie dürfen exemplarisch sind. Eng damit hängen auch die Behin- jedoch nicht zur Behinderung oder erheblichen Beein- derungen des Straßengüterverkehrs in der Schweiz trächtigung des alpenquerenden Güterverkehrs füh- zusammen. Sie verursachen den Umwegverkehr, der ren. Darin unterscheiden wir uns natürlich von den auf der Brenner-Strecke rund ein Drittel ausmacht. vorliegenden Anträgen ganz entscheidend. Die Schwierigkeiten, die daraus erwachsen, hängen deshalb unmittelbar davon ab, wie die Schweiz mit (Weiss [München] [GRÜNE]: Sie haben kei dem eigentlich auf sie entfallenden Verkehr um- nen vorgelegt, weil Sie kein Konzept ha geht. ben!) (Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Bundesverbände des deutschen Güterkraftver- kehrs, auf die Sie ebenfalls hören sollten, bewerten Nach meiner Auffassung sollte auch im alpenqueren- das von Österreich beschlossene Nachtfahrverbot für den Verkehr das Prinzip der kürzesten Wege verwirk- Lastkraftfahrzeuge so, daß sie damit rechnen, daß sich licht werden. unter Berücksichtigung des derzeitigen Verkehrsflus- (Zuruf von der SPD: Das ist eine eigentümli- ses auf den Zufahrten zu österreichischen Straßen, auf che Betrachtung!) dem Autobahnnetz in unserem Lande in Richtung Sü- den und in Italien in Richtung Norden, dauerhafte — Aber eine realistische! Fahrzeugschlangen zwischen 2 und 22 km Länge bil- Im alpenquerenden Güterverkehr überwiegt in den werden. Das hat doch mit Umweltschutz wahrlich Österreich der Straßengüterverkehr mit 80 %, wäh- nichts zu tun! rend in der Schweiz nur 15 % auf der Straße transpor- tiert werden, was natürlich mit den Straßenverkehrs- (Beifall bei der CDU/CSU) beschränkungen der Schweiz zusammenhängt. Angesichts der Dringlichkeit müssen nun alle lang-, (Weiss [München] [GRÜNE]: Da sieht man mittel- und kurzfristigen Maßnahmen möglichst rasch mal, wie die helfen! — Zuruf von der SPD: und parallel zueinander angepaßt werden. Ich glaube, Die Schweizer sind schlauer!) wir sind uns alle einig, daß alle politischen Weichen zum Bau des Brenner-Basistunnels schnellstmöglich Drei Viertel des Straßengütertransitverkehrs in Öster- gestellt werden müssen. Pressemeldungen zufolge reich entfallen dabei auf den Brenner. Da das Ver- hat ja der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bun- kehrswachstum in den letzten Jahrzehnten vor allem desbahn optimistisch davon gesprochen: „Spätestens auf der Straße erfolgte, wird heute auf der Straße vier- in acht Jahren ist der Basistunnel fertig". Vorausset- mal soviel transportiert wie auf der Bahn. Dies muß zung sind natürlich unverzügliche politische Ent- sich ändern, meine sehr verehrten Damen und Her- scheidungen. Daß wir auch die Zufahrtsstrecken im ren! Auge haben müssen, versteht sich von selbst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf der Brenner-Konferenz Anfang dieser Woche Lassen Sie mich einige Grundpositionen formulie- wurde eine Reihe von Vorschlägen zur Steigerung des ren: Angebots der Bahnen und zur Verbesserung der At- traktivität des Schienenverkehrs unterbreitet. Ich Erstens. Leitziel muß sein, die vom Verkehr ausge- - kann nur einige nennen: Mittelfristig — wobei späte- hende Umweltbelastung so gering wie möglich zu stens das Jahr 1993 gemeint ist — wird die Auswei- halten. Dies hat im Alpentransit ein ganz besonderes tung der Tunnelprofile angestrebt, um zwischen Mün- Gewicht. chen und Verona mindestens 40 Züge mehr als ge- Zweitens. Auf der Inntal-und-Brenner-Route hat genwärtig einsetzen und im Huckepackverkehr mit die Belastung durch den Straßengüterverkehr ein einer Eckhöhe von 4 m befördern zu können. Dane- Ausmaß angenommen, das die Einleitung von Maß- ben soll es natürlich den Ausbau der zum schnelleren nahmen verlangt. Diese Maßnahmen müssen jedoch Ver- und Entladen im kombinierten Verkehr erforder- partnerschaftlich erfolgen, d. h. im abgestimmten ver- lichen Umschlageinrichtungen geben. 12272 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Oswald An kurzfristigen Maßnahmen werden 14 zusätzli- zum Schutz der Alpen, unseres Lebensraums, unbe- che Züge im umgeleiteten kombinierten Verkehr und dingt erforderlich ist. Gründe sind der unsachgemäße zwölf weitere Züge der rollenden Landstraße vorge- Gebrauch der Natur durch die Übererschließung, der schlagen, was 520 Lkw-Lade-Einheiten zu je 26 t ent- Fremdenverkehr um jeden Preis und die Gier nach spricht. Nächste Woche werden wir im Verkehrsaus- Teilhabe am großen Urlaubskuchen, sprich: Geld. Das schuß im Rahmen der Haushaltsberatungen auch geht nach dem Motto — ich habe versprochen, ich über diese Fragen sprechen, da ja im Haushalt 18 Mil- sage es noch einmal — : weil's halt da sind, die Berg'. lionen DM für den alpenquerenden kombinierten Das hat ein ganz berühmter Bergsteiger gesagt. Verkehr vorgesehen sind. Ich habe — das muß ich sagen — Verständnis dafür, Wir müssen uns natürlich auch darüber im klaren daß die Orte in den Bergen teilhaben wollen. Ich bin in sein, daß das gesamte Transportvolumen, das heute einem kleinen Bergort aufgewachsen. Ich weiß, wie es auf die Nachtzeit entfällt, durch diese beachtlichen früher ausgeschaut hat. Ich werde oft gefragt: Sag Anstrengungen, von denen ich nur einige erwähnt mal, wie schön war es denn damals? Ich gebe darauf habe, kurzfristig nicht aufgefangen werden kann. So- immer die gleiche Antwort: So schön es damals war, lange aber ein hinreichendes Alternativangebot mit so arm waren wir auch. — Man muß auch diese Situa- angemessenen Umstellungszeiten nicht existiert, ist tion verstehen. etwas anderes letzten Endes für uns nicht akzeptabel. Ich sage deutlich: Das würde zu einer drastischen (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Behinderung des Wirtschaftsverkehrs, vor allem auch Das Thema ist viel zu komplex, als daß man es bei bei der täglichen Versorgung der Bevölkerung mit fri- diesem Hinweis oder bei der Aufzählung der bekann- schen Lebensmitteln, führen. ten Zahlen bewenden lassen könnte. Nehmen wir also (Weiss [München] [GRÜNE]: Schmarrn!) ein paar Beispiele aus einem ganz kleinen Teil der — Da hilft auch Schreien nichts. Man muß die Sache Alpen und stellen ihnen einen Satz aus der Antwort objektiv und ganz nüchtern sehen. der Bundesregierung auf die Große Anfrage gegen- über. Der Alpenraum sei ein Ökosystem, schreibt die (Beifall bei der CDU/CSU — Bohl [CDU/ Bundesregierung, das auf Veränderungen durch den CSU]: Sehr richtig!) Menschen hochsensibel reagiere, und bedürfe des- Das Nachtfahrverbot muß so gestaltet sein, daß es für halb des Schutzes der Menschen. die Unternehmen, soweit eine Verkehrsverlagerung nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit eröffnet, nach (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) einem bis 1993 reichenden Stufenplan auf lärmarme Stellen wir dem jetzt ein normales Wochenende ge- Lkw umzustellen. Ich setze darauf: Noch ist Zeit dazu, genüber, z. B. den letzten Samstag: 281 Autos rasen daß Lösungen gefunden werden. auf bayerischen Autobahnen ineinander, 26 Schwer-, Vielleicht ist noch eines in Richtung der Österrei- 78 Leichtverletzte kommen in die Krankenhäuser. cher zu sagen, nämlich daß sie viermal so viele Trans- portleistungen auf unseren Straßen erbringen wie die (Zuruf von der CDU/CSU: Das war aber an deutschen Unternehmen in Österreich. Auch dies ist einer Stelle, wo ein Tempolimit besteht!) eine ganz interessante Tatsache, die es immer wieder — Ja, gut, darüber können wir uns unterhalten. — zu bedenken gibt, Herr Weiss. Stellen wir dieser Aussage des weiteren einen norma- (Zuruf von der SPD: Das ist wieder eine Dro- len Werktag gegenüber. Nehmen wir den heutigen hung! — Weiss [München] [GRÜNE]: Soll Tag: 6 000 Lkw donnern über die Inntal-Autobahn. das eine Drohung sein?) Das sind 1,2 Millionen Lkw im Jahr, eine Kolonne von Lissabon quer durch Europa bis Wladiwostok. — Aber Lassen Sie mich schließen. Die Bundesregierung die Alpen sind doch, sogar nach Erkenntnis der Bun- hat in der Antwort auf die Große Anfrage der Abge- desregierung, ein ordneten der Fraktion DIE GRÜNEN eine realistische hochsensibles Ökosystem! Einschätzung der Verkehrssituation gegeben und Gehen wir noch einen Schritt weiter auf der Inntal verdeutlicht, daß sie in der Lage ist, im Zielkonflikt Autobahn und betrachten die Schadstoffmengen nur zwischen Ansprüchen an Mobilität einerseits und um- in Tirol und im Rosenheimer Bereich auf einer Strecke weltgerechte Gestaltung des Verkehrs andererseits von 50 km: 800 Tonnen Kohlenmonoxid, 190 Tonnen ausgewogene Lösungen zu verwirklichen. Stickoxid, 130 Tonnen Schwefeldioxid, Blei und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Quecksilber bleiben zurück. Eine unbezweifelbare Weiss [München] [GRÜNE]: So ein Prognose besagt: Wenn die Verkehrspolitik nicht ge- Schmarrn!) ändert, umgestaltet wird, dann verdoppeln sich all diese Horrorzahlen bis zum Jahr 2000.

Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- Was geschieht mit dem auf Veränderung durch den geordnete Bamberg. Menschen so hochsensibel reagierenden Alpenraum - überhaupt? Was tun wir der Natur an? Liebe Kollegin- nen, liebe Kollegen, wenn die Anwohner — 100 000 Bamberg (SPD): Herr Präsident! Verehrte Anwe- wurden in der Gegend beobachtet — zu 67 % lärmge- sende! Die ökonomische und ökologische Situation in schädigt sind, zu 38 % Schlafstörungen haben, dann den Alpen beschäftigt den Bundestag — Gott sei Dank registrieren wir das schon kaum noch. — nicht zum erstenmal. Gestern habe ich im Ver- kehrsausschuß zu begründen versucht, warum wegen (Weiss [München] [GRÜNE]: Das weiß die eines ausufernden und nicht mehr tragbaren Straßen- Bundesregierung gar nicht, sagt sie in der transits durch und über die Alpen eine Konvention Antwort!) Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12273

Bamberg Was ist nun eigentlich bei der Bundesregierung ge- nicht gefallen" könnte man etwas erreichen. Das ist schehen, damit sie ihren eigenen Feststellungen nicht der Fall. Wir sind nur vom „Die werden sich Nachdruck verleiht? Ich muß leider sagen, es ist nichts schon nicht trauen" — bayerische Staatsregierung — geschehen — außer den üblichen Politikerverspre- bis „nicht gefallen lassen" gekommen und weiter chen, die niemand mehr hören kann, die in einer Poli- nicht. tikersprache gegeben werden, in der uns niemand mehr versteht und die uns insgesamt nicht glaubwür- Das Nachtfahrverbot haben wir verschuldet, die diger macht. Es geht nicht darum, jeden Tag neue Bundesregierung. Ich sage bewußt: wir alle mögli- Ideen zu gebären, sondern darum, daß das für richtig cherweise. Das Nachtfahrverbot hat der Wähler in Erkannte ein für allemal durchgezogen wird. Tirol, nicht die Politik erreicht. Wenn der Landes- hauptmann von Tirol Alois Partl sagt, wir können un- Wenn ich Vorwürfe erhebe, dann wi ll ich diese auch sere Bevölkerung nicht verraten, dann drückt er damit begründen. Die Bundesregierung hat zugelassen, daß nur aus, daß in Tirol keine Partei mehr gewählt wird, durch die sogenannten Leitlinien für die Bahn z. B. die am Nachtfahrverbot rüttelt. Die ÖVP hat deswe- 30 % des Personals abgebaut werden. Sie hat damit gen ja drastische Einbrüche gehabt. Darum könnten meines Erachtens alle zukunftsweisenden Ideen, die die auch gar nicht, selbst wenn sie es wollten. Der man bei einem so hochkarätigen und hochbezahlten Wähler ist doch der Souverän gewesen. Management vermuten dürfte, gar nicht zustande kommen lassen, oder im Keime erstickt. Ich weiß, daß gerade in meinem Landkreis unüber- (Zuruf von der SPD: Stranguliert!) sehbare Folgen auftreten können, vor allem auch im Grenzort Kiefersfelden; ich kenne die Situa tion dort Ergebnis ist die Resigna tion der Eisenbahner. Ich aus eigener Anschauung. Ich habe für das Güterver- weiß, wovon ich spreche. Selbst diejenigen aus dem kehrsgewerbe Verständnis. Aber ich habe auch — das Mittelmanagement, die Referenten und Dezernenten möchte ich nicht verschweigen — große Sympathie bei den Direktionen, die ich als Menschen kenne, wel- und Verständnis für Österreich, für Tirol, das nicht che „ihre Bahn" mit Klauen und Zähnen verteidigt mehr zuläßt, daß die geplagte Bevölkerung noch mehr haben, haben völlig resigniert, weil sie aus allgemei- von diesem Verkehrsinfarkt gepeinigt wird. Warum ner Personalnot, aber auch aus Mangel an Lok- und sollte ohne diese doch mutige und schwierige Ent- Wagenwärtern die — wenn auch nur geringfügig, scheidung, die uns auch sehr betroffen gemacht hat, aber immerhin — steigende Nachfrage nicht bewälti- etwas geschehen, wenn 20 Jahre lang nichts gesche- gen können. hen ist? Es war doch die einzige Möglichkeit, uns zu (Dr. Jobst [CDU/CSU]: So ist es nicht richtig, etwas zu zwingen. Ich habe übrigens noch vor zwei Herr Kollege Bamberg!) Jahren von dieser Stelle aus gewarnt und diesen Schritt vorhergesagt, der sich von allen Seiten ange- Wirklichkeit zwischen Werbung und dem, was ge- bahnt hat. schieht; ich stelle es nur in den Raum. Machen wir die Verantwortlichen auch verantwort- (Zuruf von der SPD: Da hat er Recht!) lich dafür — ich will es jetzt von dieser Stelle aus tun —, daß die Bahn — ich habe Beweise dafür — Wenn die Bundesregierung, also die Mehrheit der Frachtgut für ganze Güterzüge ablehnen, bestellte Opposition in unseren eingefahrenen Gleisen schon Sonderzüge im Personenverkehr ausfallen lassen nicht Recht geben kann, so meine ich doch fragen zu muß, weil sie nicht in der Lage ist, das zu bewäl tigen, dürfen, ob wir nicht endlich diese eingefahrenen obwohl nach öffentlicher Aussage die Gleiskapazität Gleise verlassen müßten. Der Bürger versteht das über den Brenner z. B. noch 42 % mehr hergäbe. nicht mehr. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das in der Öf- (Dr. Weng [Gerungen] [FDP]: Fangen Sie fentlichkeit sagen soll, aber ich glaube, daß man es einfach damit an, Herr Kollege!) sagen muß: Weil Schrankenwärter fehlen, müssen Züge offene Schranken mit Befehl — wie es in der — Ich bin noch nicht so weit. Ich habe noch zwei Fachsprache heißt — befahren. Fast ein Skandal. Wie Minuten. Vielleicht können wir uns nachher noch dar- reagiert darauf das hochsensible Ökosystem Alpen, über unterhalten. wenn es denn könnte? Die Verantwortlichen haben nach meiner Meinung auch versagt, weil sie z. B. in (Heiterkeit — Zuruf von der SPD: Der Weng der Arge Alp, diesem hochgepriesenen Instrument, sitzt im Haushaltsausschuß; der macht das!) seit 17 Jahren reden und reden und reden, aber nicht handeln können oder wollen, Wenn das schon so viel Spaß auslöst, frage ich: Macht es Sie eigentlich nicht nachdenklich, daß kon- (Zurufe von der SPD: So ist es! — Ein Alther- servative Politiker, der Alois Partl in Tirol, der Adolf renklub ! ) Ogi in der Schweiz — den einen kenne ich ein biß- bei der Konferenz letzte Woche zum Transitverkehr chen, den anderen kenne ich sehr gut —, durch mu- nicht einmal ein gemeinsames Abschlußkommuniqué tige Entscheidungen unter der Präambel „Dem Men- fertiggebracht haben. Dafür haben andere — das schen Vorrang vor dem Verkehr" eine Poli tik einge- wurde bereits gesagt — mit einem Nachtfahrverbot leitet haben, die die einzig richtige ist? Ich könnte reagiert. Machen wir uns nichts vor: Das Nachtfahr- Ihnen Zigtausende von Unterschriften von Menschen verbot bleibt. Mache sich keiner nur die Spur einer aus dem bayerischen Inntal vorlegen, die ein radika- Illusion oder glaube keiner, mit der Drohung mit Ge- les Umschalten begrüßen würden. Das sind Men- genmaßnahmen nach dem Motto „Das lassen wir uns schen, die mir nicht nahestehen, die sicherlich andere 12274 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Bamberg wählen als uns, die sicherlich der CSU näher stehen. lichem Maße — so wie andere Stellen der Bundesre- Zigtausende! publik oder dieser Welt überhaupt — belastet ist. (Tillmann [CDU/CSU]: Das ist doch nicht die Es gibt, glaube ich, insofern Übereinstimmung, als Frage!) dieses Gebiet belastet ist, als dieses Gebiet einen be- — Das ist meines Erachtens schon die Frage. sonderen Schutz verdient und wir alle gemeinsam Die Auswirkungen des Alpentransits auf die Um- — alle gemeinsam, sage ich; nicht nur in diesem Haus, welt, auf unseren Lebensraum dulden keinen Zeitauf- sondern alle, die Alpenländer, ganz Europa — nach schub beim Handeln mehr. Jetzt soll das Machbare Lösungen suchen müssen, um diesen zunehmenden gemacht werden. Soll der Bahn kurzfristig finanziell Gefährdungen entgegenzutreten. Das ist klar. in den Hintern getreten werden, wenn es möglich ist, Unterschiedlich sind die Wege, unterschiedlich sind um die freien Gleiskapazitäten aufzufüllen. Das muß die Methoden und Maßnahmen, die im einzelnen vor- möglich sein. Wenn Lok und Wagen fehlen, sollen sie geschlagen werden. Hier gibt es ganz klare Gegen- die von irgendwo leihen. Herr Staatssekretär, das muß sätze. Man sollte nicht darum herumreden. Die Libe- die Politik möglicherweise mit einleiten. Sie muß län- ralen sind überzeugte Europäer, DIE GRÜNEN sind gerfristig im Sinne unseres Entschließungsantrags das nicht. handeln und in der eigenen Logik bleiben: Schutz und Erhaltung des Alpenraumes mit seinem hochsensi- (Weiss [München] [GRÜNE]: Und die Libera blen Ökosystem, damit Reden und Handeln eins len in Österreich?) wird. Ihr wollt eben Europa nicht. Das haben wir ja aus dem Im übrigen glaube ich persönlich, daß nach allen Europawahlkampf noch im Ohr. Wir wollen den ge- Prognosen wir alle miteinander an Verkehrsgeboten meinsamen europäischen Markt. Gemeinsamer euro- für die Schiene, möglicherweise an Verkehrsverbo- päischer Binnenmarkt bedeutet aber auch den unge- ten, an Lenkungsmaßnahmen — an sie ist in der Gro- hinderten, freien Transport, die Beweglichkeit von ßen Koalition unter schon einmal ge- Gütern, Menschen und Dienstleistungen. Dann kann dacht worden, aber letztlich sind sie nicht zustande ich z. B. den Italienern, die am meisten betroffen sind, gekommen — auf keinen Fall mehr vorbeikommen nicht etwa sagen: Bleibt ihr — aus unserer Sicht — werden. mal hinter den Alpen. Verdient, trinkt, eßt, produziert, Herzlichen Dank. was ihr wollt, aber ihr habt bei uns nichts verloren. Das (Beifall bei der SPD) heißt: Der freie Warenverkehr, der freie Menschen- verkehr muß natürlich möglich gemacht werden. Man muß dann sehen, wie man das mit einem ökologisch Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- vertretbaren System vereinbaren kann. geordnete Gries. Es ist auch völlig unrealistisch, wenn DIE GRÜNEN in ihren Fragen implizit, davon ausgehen, man könne Gries (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten den zunehmenden Verkehr in irgendeiner Weise ein- Damen und Herren! Die Lyrik meiner schriftlichen grenzen oder auch nur stabilisieren. Auch das ist nun Aufzeichnungen könnte mich jetzt veranlassen, über wahrlich so wirklichkeitsfremd, daß man sich nicht zu die Schönheit, über die Einzigartigkeit, aber auch lange damit aufzuhalten braucht. —im Ernst — über die ökologische Bedeutung des Alpengebiets zu reden; wir wissen das alle. Bisher hat Ich halte es auch für völlig falsch — ich sage das das auch keiner in Zweifel gezogen. Deshalb wi ll ich einmal in Richtung Sozialdemokraten, weil das darauf verzichten. manchmal anklingt —, auf der einen Seite für Arbeits- zeitverkürzung, d. h. für die Verlängerung der Frei- Wir sind uns im Hause Gott sei Dank einig, daß es zeit zu plädieren und auf der anderen Seite zu verhin- darum geht, eines der größten natürlichen Gebiete in dern, daß sich die Menschen — wegen der Zunahme Europa zu erhalten. Wir sind uns auch darüber einig der Freizeit — z. B. im Alpengebiet in ihrer Freizeit kein Mensch bestreitet das; Michael Weiss, auch — bewegen. die Regierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage nicht — , in welchem Maß dieses Gebiet belastet ist, Ich rede jetzt gar nicht davon, daß Sie den vielen und zwar ganz eindeutig durch uns, durch die Men- Menschen im Alpengebiet damit die Existenzgrund- schen, die dieses Gebiet nutzen und dort leben. lage nähmen. Schorsch Bamberg hat das doch darge- Daß wir — und das ist Gegenstand unserer Diskus- stellt. Wie war es denn früher, und wie ist es — ich sion — gerade auf Grund des Personenverkehrs wie meine das jetzt nur wirtschaftlich, nur ökonomisch — des Güterverkehrs die großen Belastungen haben, ist heute? Für viele Bergbauern, für viele Alpenländler ist auch unbestreitbar. Ich will die Zahlen gar nicht wie- es doch viel besser geworden. Wollen Sie denen die derholen, die geradezu unglaublichen Zuwachsraten, Existenz nehmen, bloß weil Schadstoffbelastungen die wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten, jetzt etwas stärker geworden sind? Wollen Sie denen - ob das Tonnagen oder Personen und Pkws sind. Das, die Touristen nehmen? was sich nach allen Prognosen — über die man immer (Weiss [München] [GRÜNE]: Die Touristen streiten kann — unbestreitbar vollziehen wird, ist die im Wipptal bleiben wegen der Belastung erhebliche Zunahme des Personen- und des Güter- durch den Verkehr weg!) verkehrs. Es ist auch unbestreitbar, Michael Weiss — selbst wenn man das nicht quantifizieren kann und Das kann doch im Ernst gar keiner wollen. Hier gibt es die Regierung mitunter sagt, darüber liegen uns keine ideologische Positionen, mit denen man das Kind mit Daten vor — , daß das Ökosystem der Alpen in erheb dem Bade ausschüttet. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12275

Gries Ich sage noch eines — das ist auch an die Sozialde- Das macht ein Auto nicht leiser, macht die Luft nicht mokraten gerichtet — : Wir sind uns in der Zielsetzung sauberer. einig, aber in den Methoden mit Sicherheit nicht. (Weiss [München] [GRÜNE]: Aber es verbes Tempolimit schon wieder höre. Wenn ich nur das Wort sert die Konkurrenzsituation der Eisen Jetzt spreche ich einmal zu den Sozialdemokraten, bahn!) nicht zu den GRÜNEN, weil es da schon langsam langweilig wird. Das Tempolimit macht auf den Al- Die Schwerlastabgabe kassiert der Staat. Das ist ein pentransitstraßen überhaupt nichts aus. Entweder ist völliger Blödsinn. Tut mir leid. Das bringt überhaupt die Geschwindigkeit schon geregelt oder die Fahr- nichts. zeuge bewegen sich permanent im Stau. Was sollen (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten da noch solche Sprüche über Tempolimit, die z. B. in der CDU/CSU) der Entschließung stehen? Das sind Ladenhüter, die wirklich in die Kiste der Planwirtschaft gehören. Was wir brauchen, sind schnelle Maßnahmen, ist die Verbesserung der gegenwärtigen Situation. Hier (Bamberg [SPD]: Dann gibt es in ganz Eu- sind wir uns wieder einig. Es darf im Grunde genom- ropa Planwirtschaft! — Vahlberg [SPD]: Und men kein zusätzlicher Verkehr auf die Straße kom- in den Vereinigten Staaten!) men. Vielmehr müßte bestehender Verkehr von der — Ich habe seit langem keine so eindeutig sozialisti- Straße auf die Schiene. Das ist die wichtigste Maß- sche — so müßte man fast sagen — Wirtschaftstheorie nahme, die gemacht werden muß. gehört und gelesen wie in diesem Entschließungsan- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten trag. der CDU/CSU) Wenn ich allein schon das Wort Beförderungsge- Das bedeutet nicht nur Tunnelbauten. Tunnelbau- höre. bote ten sind eine ganz vernünftige Sache. Hier stimme ich (Bamberg [SPD]: Das ist von mir!) den GRÜNEN zu. Die haben das in ihrem Entschlie- ßungsantrag sehr sauber herausgearbeitet. Trotzdem Da wird mir schon ganz komisch. Das ist der Zwang, habe ich das Gefühl: Ihr zieht euch da schon wieder den Sie anordnen wollen. aus der Schlinge. Ich bin der Meinung, wir brauchen (Daubertshäuser [SPD]: Haben wir heute die Tunnelbauten, die Großbauprojekte. Aber wir schon! — Bamberg [SPD]: Dieses Wo rt hat können vorher anderes tun, nämlich die bestehenden die Große Koalition geboren!) Strecken verbessern. Hierdurch könnten wir einen großen Teil der Probleme lösen. Wir sollten in diese Dann ordnen Sie doch an, daß mindestens drei Leute Technik investieren und politische Entscheidungen im Pkw sitzen müssen, mindestens fünfzehn auf dem treffen, damit Tunnelbauten gesichert sind. Aber da- Lkw oder daß bestimmte Kistengrößen nur noch per mit die Leute in der jetzigen Situation nicht vertröstet Lkw transportiert werden dürfen, nicht mehr im Kof- werden müssen, ferraum eines Pkw. Beförderungsgebote sind wirk lich das allerletzte, was eine Marktwirtschaft vertragen (Weiss [München] [GRÜNE]: Wir müssen kann. jetzt etwas tun!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) müssen wir schon vorher alles tun, damit die Bundes- bahn und andere Eisenbahnen tätig werden kön- Das läuft auch nicht in den Alpen. Deshalb sage ich: nen. Wir sind auch hier für einen offenen Markt, für euro- päische Lösungen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Weiss [München] [GRÜNE]: Selbst wenn Sie (Weiss [München] [GRÜNE]: Dieses Wort hat einen Tunnel bauen, kommt nicht mehr Ver Minister Warnke einmal im Zusammenhang kehr auf die Schiene!) mit Gefahrgut gebraucht!) Das gilt für viele Maßnahmen: Ausbau von Strek- Aber das Wichtige ist doch: Um die Ursachen zu ken, Ausbau von Terminals — auch da stimme ich den bekämpfen, muß das abgasarme, das leise Auto her, GRÜNEN zu. Es hat gar keinen Zweck, an der Grenze und zwar flächendeckend. Das ist das einzige, was Riesenterminals zu bauen. Die Terminals sollen in hilft. Wenn wir hier wirklich etwas tun wollen, müssen Hamburg stehen. wir die Schadstoffe, die Geräuschbelästigung in die- sem ganzen Bereich reduzieren. Damit helfen wir (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten nämlich den Leuten im einzelnen, aber nicht — ich der CDU/CSU) denke, ich lese nicht recht, lieber Klaus Daubertshäu- Wenn etwas von Hamburg nach Rom muß, soll das ser — mit dem Verbot von Helikopterflügen, gepaart schon in Hamburg auf die Schiene gehen und nicht mit dem Tempolimit. - auf die Straße. (Vahlberg [SPD]: Sie sollten sich ein anderes (Vahlberg [SPD]: Der Tunnel auch! — Feld aussuchen, um neckische Anmerkun- Dr. Jobst [CDU/CSU]: Dagegen sind die gen zu machen!) GRÜNEN in Hamburg!) ch unter- Ich hätte mir überlegt, ob man das wirkli — DIE GRÜNEN sind immer nur theoretisch für etwas. schreiben muß. Wenn es darum geht, die Dinge handfest zu machen, Auch das Stichwort Schwerlastabgabe kommt mun- sind sie immer dagegen. Deshalb kommt ja nie etwas ter daher. Ich frage mich, was die Leute davon haben. dabei heraus. 12276 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Gries Von der Konzeption her stimmen wir zu. Es muß Nein, wir hätten damals reagieren müssen. Wir sind umgeladen werden, und zwar frühzeitig und nicht erst auch jetzt fast wieder ruhig bei dem, was die Öster- an der Grenze, damit die Belastung auf der Straße reicher mit dem Nachtfahrverbot mit uns machen. schon bei uns im Inland beseitigt werden kann. (Bamberg [SPD]: Das einzig Richtige!) (Vahlberg [SPD]: Wartet ihr, daß wir die Re- — Nein, es ist falsch. — Schorsch Bamberg, ich ver- gierung übernehmen?) stehe das nur unter einem Gesichtspunkt, nämlich daß Ich muß jetzt mit meiner Redezeit etwas haushalten. sie sagen: Mit diesen Kolossen von der EG bis zu den Ich nenne das Stichwort Bahnkommission. Der Bahn anderen, ist sonst nicht zu reden. Soweit verstehe ich sanierungsplan hat auch unter dem Gesichtspunkt es. Nur, es ist trotzdem falsch, und es ist unfreundlich, des Transitverkehrs Vorrang. um es harmlos auszudrücken. Ich bin nicht derjenige, der sagt: Wir drohen ge- (Daubertshäuser [SPD]: Die Bahnkommis- nauso als Reaktion. Es reizt einen natürlich zu sagen: sion ist ein Verschiebebahnhof!) Dann fährt der Schweizer Lkw ebenso nur noch mit Das ist ein europäisches Problem, das ist nicht nur höchstens 28 t, und dann fährt auch der Österreicher ein EG-Problem. Ich habe den Eindruck, daß wir nachts nicht mehr bei uns. Dann haben wir auf beiden hier in der Vergangenheit nicht am besten abge- Seiten nachts 25 km Stau; das nützt den Bürgern über- schnitten haben, daß z. B. die EG nicht in der richtigen haupt nichts. Weise — — (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Vahlberg [SPD]: Die Bundesregierung!) Für uns kommt deshalb nur in Frage, realistisch zu — Ich sage das kritisch zu uns. bleiben, die Dinge zu sehen und nach schnellen wirt- schaftlichen und technischen Lösungen zu suchen, (Vahlberg [SPD]: Die Bundesregierung!) d. h. den Verhandlungsweg einzuschlagen und nicht Das betrifft die Bundesregierung in der gleichen den von leeren Drohgebärden. Das nutzt überhaupt Weise wie die EG. Warum denn eigentlich nicht? niemandem. Ich sage — wenn ich darf, Herr Präsident — noch Es ist nicht mit dem nötigen Ernst und Nachdruck einen letzten Satz — auch an unsere Indust rie — : Ich verhandelt worden, vielleicht auch nicht mit der not- habe mir auf der IAA die Autos angeguckt, nicht die wendigen Bereitschaft, sich finanziell und technisch glänzenden — da kommt man nicht heran —, aber die zu beteiligen, Nutzfahrzeuge. Dabei habe ich festgestellt, daß es (Sehr gut! bei der FDP — Richtig! bei der -schon heute Autos gibt, die diese angebliche 80-dB SPD) Norm erfüllen können. Da habe ich plötzlich festge- stellt, daß es schon Filter und partikelreinigende Ein- so daß wir hier noch nicht weiter sind. Vielleicht hat richtungen gibt. Ich nenne jetzt keine Firma; das gibt man gedacht: Wir sind die großen Motze, wir werden es aber. die kleinen Österreicher und die paar Schweizer schon noch in den Senkel stellen. Das erinnert mich ein bißchen an die Diskussion über bleifreies Benzin und den Einbau des Katalysa- (Beifall bei der FDP — Vahlberg [SPD]: So ist tors. Die Wirtschaft sollte von ihren technischen Fä- es!) higkeiten Gebrauch machen, um dem Umweltschutz Das ist natürlich keine Politik. Aber sicherlich ist das und den Menschen zu dienen. über weite Strecken ein bißchen dilatorisch behandelt Vielen Dank. worden. Damit muß Schluß sein. Die EG muß jetzt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ernsthaft verhandeln. (Vahlberg [SPD]: Obwohl wir das seit Jahren fordern!) Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter Gries, Sie haben sehr eigenwillige Vorstellungen vom letz- — Sie waren viele Jahre an der Regierung und haben ten Satz. es nicht gemacht. Sie hätten den Tunnel schon längst (Heiterkeit) aufgraben können. Das haben Sie natürlich alles nicht gemacht. Also Schuldzuweisungen nutzen uns über- Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen haupt nichts. Das möchte ich in dieser aktuellen Dis- Staatssekretär Schulte. kussion noch einmal sagen. (Weiss [München] [GRÜNE]: Der Tunnel ist Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- in der jetzigen Situation kontraproduktiv! ster für Verkehr: Herr Präsident! Meine Damen und Jetzt sind andere Lösungen gefragt!) Herren! Wir sind mitten in Gesprächen mit Österreich. Jeder, der sich äußert, muß sich überlegen, ob er die- —Ich finde, Schuldzuweisungen sind durchaus unan-- sen Gesprächen nutzt oder schadet. gebracht, wenn wir über das Verhalten von Österreich und der Schweiz reden. Ich halte das für einen mehr (Weiss [München] [GRÜNE]: Zum Beispiel als unfreundlichen Akt. der bayerische Ministerpräsident letzten Montag!) Bei dem, was die Schweizer mit uns mit der 28- Tonnen-Regelung gemacht haben, sind wir viel zu Wir sehen die Probleme unseres Nachbarlandes, lange ruhig geblieben. wir sehen die Umweltprobleme von Österreich. Wenn Ihre Fraktion, Herr Kollege Weiss, konsequent wäre, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) würde sie sich nicht gegen alle Zukunftsprojekte au- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12277

Parl. Staatssekretär Dr. Schulte Bern, die dafür dienen werden, daß wir diesen Alpen- damit einverstanden? — Dann werden wir so verfah- transit in der Zukunft auf der Schiene abwickeln kön- ren. nen und nicht mehr auf der Straße abwickeln müssen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Sie sind halt immer dagegen. Abgeordnete Graf. (Weiss [München] [GRÜNE]: Was heißt denn „in der Zukunft"?) — Das fängt beim Rangierbahnhof München an, ge- Graf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin und Kol- gen den Sie sind. legen! Das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäi- schen Akte hat das Ziel der politischen und wirtschaft- (Weiss [München] [GRÜNE]: Er trägt über- lichen Einheit Europas ein großes Stück näherge- haupt nichts dazu bei!) bracht. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammen- Wir haben im April mit Österreich und Italien in hang ist die Verwirklichung des Schengener Abkom- Udine verabredet, wie die Probleme des Alpentransits mens vom 14. Juni 1983. Diesem Abkommen zufolge gemeinsam gelöst werden können. Die Bundesrepu- sollen die Grenzkontrollen zum 1. Januar 1990 zwi- blik Deutschland hat sich an diese Vereinbarungen schen den Schengener Vertragsstaaten aufgehoben gehalten. Das kann durch viele Beispiele erhärtet werden. Das Abkommen, welches in kurz- und lang- werden; das kam heute in der Diskussion bereits zum fristig durchzuführende Maßnahmen gegliedert ist, Ausdruck. wird von uns Sozialdemokraten begrüßt. Ein einseitiges Vorgehen eines Landes entspricht Die Verwirklichung des ersten Schrittes ist zwi- dem Geist der Vereinbarung von Udine nicht. Wir schenzeitlich erfolgt. Einerseits wurde die Zusam- gehen deswegen bei den bevorstehenden Verhand- menarbeit der Sicherheitsbehörden der Vertragspar- lungen davon aus, daß Österreich alle seine Interessen teien verstärkt, andererseits wurden die Grenzkon- einbringt, so wie wir das auch tun müssen. trollen erleichtert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im weiteren Verlauf der Verwirklichung des Schen- gener Abkommens ist vorgesehen, die Kontrollen an den Binnengrenzen möglichst bis zum 1. Januar 1990 Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, gänzlich abzubauen und diese an die Außengrenzen ich schließe die Aussprache. zu verlegen. Daß das zu Problemen führen kann und Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der wird — wenn ich dabei nur an die Grenzen zu Oster- Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD reich und Dänemark denke —, sei nur am Rande er- auf den Drucksachen 11/5243 und 11/5256. Es ist be- wähnt. antragt worden, die Entschließungsanträge an den Seit längerer Zeit wird sehr deutlich, daß die Erfül- Ausschuß für Verkehr zu überweisen. — Das Haus ist lung des Vertrages — Wegfall der Grenzkontrollen damit einverstanden. Es ist so beschlossen. zum 1. Januar 1990 — nicht eingehalten werden kann. Das räumt die Bundesregierung jetzt auch Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung sowie Zusatz- ein. punkt 6 der Tagesordnung auf: Neben der Harmonisierung der Einreise- und Auf- 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten War- enthaltsbestimmungen, der Zollrechtsbestimmungen tenberg (Berlin), Dr. Penner, Dr. Nöbel, Bern- und des Ausländerrechts spielen Probleme der inne- rath, Dr. Emmerlich, Graf, Hämmerle, Lambi- ren Sicherheit eine erhebliche Rolle. Selbst wenn nus, Lutz, Pate rna, Schröer (Mühlheim), heute die Grenzkontrollen zwischen den Vertragspar- Dr. Sonntag-Wolgast, Tietjen, Peter (Kassel), teien liberal gehandhabt und auf ein Minimum redu- Schütz, Dr. Skarpelis-Sperk, Vahlberg, Weiler, ziert werden — bei ca. 400 Millionen Grenzübertritten Wiefelspütz, Adler, Dr. Klejdzinski, Kret- im Jahr wird nur noch 1 %o der Reisenden zurückge- kowski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD wiesen und ca. 0,5 %o wegen des Verdachts von Straf- taten aufgegriffen — , müssen durch die Aufhebung Datenschutzrechtliche Anforderungen an das der Grenzkontrollen möglicherweise entstehende Si- Schengener Informationssystem (S. I. S.) cherheitsdefizite kompensiert werden. — Drucksache 11/5023 Logischerweise sieht deshalb auch A rt. 18 des Ab- —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: kommens die Ausarbeitung von Vereinbarungen zur Innenausschuß (federführend) Kooperation bei der präventiven Verbrechensbe- Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß kämpfung und der Fahndung vor. Eine verstärkte Zu- sammenarbeit der Zoll- und Polizeibehörden auch ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE und gerade mit Hilfe einer Übermittlung der Informa- GRÜNEN tionen, die im Kampf gegen die Kriminalität von Inter- Datenschutzrechtliche Probleme einer Euro- esse sein könnten, wird angestrebt. Dieser Informa- päischen Fahndungsunion tionsverbund soll durch das Schengener Informa- — Drucksache 11/5245 — tionssystem realisiert werden. Überweisungsvorschlag: Was den Datenumfang des Schengener Informa- Innenausschuß (federführend) tionssystem angeht, ist heute davon auszugehen, daß Auswärtiger Ausschuß ca. 800 000 Personendaten und ca. 7 Millionen Sach- Rechtsausschuß datensätze eingespeist werden. Zum einen wird eine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine völlig neue Dimension der grenzüberschreitenden Aussprache von 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus Verarbeitung personenbezogener Informationen be- 12278 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Graf wirkt, und zum anderen werden die Rechte der Bürger Viertens. Innerhalb der Schengener Vertragsstaa- empfindlich getroffen. Das Schengener Informa tions- ten ist ein gemeinsames Kontrollorgan zu schaffen, system dient ja nicht nur der Ausschreibung von Ver- das sich aus Vertretern der nationalen Kontrollorgane dächtigen zur Festnahme, sondern beispielsweise zusammensetzt. auch der Suche nach Vermißten, nach gestohlenen Fünftens. Die Datenschutzbeauftragten der Schen- Ausweispapieren, der Ermittlung des Aufenthalts von gener Vertragsstaaten sind, soweit sie vorhanden Personen, der teilweise verdeckten Sammlung von sind, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt an der Informationen in allen Bereichen, der Zurückweisung Ausarbeitung des Schengener Informationssystems oder Abschiebung unerwünschter Ausländer und der zu beteiligen. gezielten zollmäßigen Untersuchung beim Grenz- übertritt. Sechstens. Die Bestimmungen des Übereinkom- mens zum Schutz der Menschen bei der automati- Besonders problematisch ist die Tatsache, daß das schen Bearbeitung personenbezogener Daten des Eu- materielle Datenschutzrecht in den Vertragsstaaten roparates vom 28. Januar 1981 und die Empfehlung völlig unterschiedlich geregelt ist. So kennt beispiels- des Ministerkomitees des Europarates vom 17. Sep- weise Belgien überhaupt keine Datenschutzgesetzge- tember 1987 sind als verbindliche Mindestanforde- bung, und in den Niederlanden und in Luxemburg rungen zu betrachten. gibt es datenschutzrechtliche Regelungen für den Po- lizeibereich bis zum heutigen Tage nicht. Siebtens. Vor Realisierung dürfen personenbezo- gene Daten nicht an das Schengener Informationssy- Vor diesem Hintergrund hat die sozialdemokrati- stem übermittelt werden, auch nicht zur Durchfüh- sche Bundestagsfraktion den heute zur Debatte ste- rung eines sogenannten Probebetriebes. henden Antrag „Datenschutzrechtliche Anforderun- Im Rahmen des Schengener Vertragsstatus, aber gen an das Schengener Informationssystem" einge- auch bei der Schaffung des gemeinsamen Binnen- bracht. Mit diesem Antrag fordern wir die Bundesre- marktes wird der Austausch personenbezogener Da- gierung auf, dafür Sorge zu tragen, daß die geplanten ten anwachsen. Solange es jedoch an gemeinsamen, Regelungen über das Schengener Informationssystem den Datenschutz wirklich gewährleistenden Vorkeh- in vollem Umfang den Forderungen Rechnung tragen, rungen fehlt, ist der Konflikt unausweislich. die das Bundesverfassungsgericht in seinem Volks- zählungsurteil für eine verfassungsgemäße Verarbei- Für uns Sozialdemokraten steht fest: Der Daten- tung personenbezogener Informationen aufgestellt schutz ist untrennbar mit den in der Verfassung fest- hat. geschriebenen Grundsätzen rechtlicher Ordnung ver- bunden. Der Datenschutz muß deswegen insbeson- (Such [GRÜNE]: Sehr richtig!) dere beim internationalen Austausch personenbezo- gener Daten gewährleistet sein. Vor diesem Hintergrund hält es die SPD-Bundestags- fraktion für unverzichtbar, daß nachstehend genannte Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Bundes- Mindestbedingungen erfüllt sein müssen, bevor das tagsfraktion die Bundesregierung auf, bei allen Über- Schengener Informationssystem in Bet rieb genom- legungen und Vereinbarungen zum Schengener In- men werden kann. formationssystem den Schutz der Rechte und Grund- freiheiten eines jeden Menschen, vor allem das Recht Erstens. Der Inhalt der gemeinsamen Daten, ihr auf Achtung der Persönlichkeit, zur Maxime ihres Zweck und ihre Verwendung müssen präzise und ab- Handelns zu machen. schließend rechtsverbindlich festgelegt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Zweitens. Jeder einzelnen Bürgerin und jedem ein- zum Abschluß meiner Ausführungen noch einige An- zelnen Bürger muß das Recht zugestanden sein, in merkungen zu dem hier ebenfalls zur Debatte stehen- jedem Vertragsstaat Zugang zu den ihn betreffenden den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN machen. In gespeicherten Daten zu haben. Dabei ist es für uns ihrem Antrag auf Drucksache 11/5245 lehnen DIE selbstverständlich, daß Einschränkungen dieser For- GRÜNEN das Schengener Informationssystem gene- derungen aus Gründen besonderer polizeilicher Auf- rell ab. Sie begründen ihre Ablehnung sinngemäß gabenerfüllung in Betracht gezogen werden müs- damit, die Bürgerinnen und Bürger müßten befürch- sen. ten, daß ihre Personendaten in einer solchen Datei ohne ihr Wissen gespeichert würden. (Such [GRÜNE]: Nein!) (Such [GRÜNE]: So ist es!) Es soll auch das Recht auf Berichtigung unzutreffen- der sowie auf Löschung unrichtiger Daten verankert Sie beklagen ferner, daß die Korrektur falscher Daten werden. Nicht zuletzt ist jedermann das Recht einzu- nicht gewährleistet werde und der Rechtsweg gegen räumen, Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen, wenn die Speicherung nicht gesichert sei. der Forderung nach Bestätigung, Mitteilung, Berichti- (Such [GRÜNE]: Sehr richtig! So ist es!) gung oder Löschung von Daten nicht nachgekommen wird, wie sie dem Inhalt der Art. 5 und 6 des Überein- Hierzu ist seitens der SPD-Fraktion anzumerken, kommens des Europarates vom 28. Januar 1981 ent- daß wir gerade diese Bedenken — ich habe, glaube sprechen. ich, deutlich darauf hingewiesen — in unserem An- trag aufgenommen und deshalb ganz nachdrücklich Drittens. Die Verarbeitung und Nutzung der ge- darauf hingewiesen haben, daß bei den getroffenen speicherten personenbezogenen Daten muß in allen Vereinbarungen gerade das Selbstbestimmungs- Vertragsstaaten einer Kontrolle durch unabhängige recht, das Persönlichkeitsrecht im Vordergrund ste- Organe unterliegen. hen muß. Wir haben ja auch sehr deutlich gemacht, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12279

Graf daß gerade die Bestimmungen des Übereinkommens ten, wenn Sie im Innenausschuß immer zugehört hät- des Europarates vom 28. Januar 1981 sowie die Emp- ten. Der zuständige Staatssekretär Neusel hat in der fehlung des Ministerkomitees als verbindliche Min- Sitzung des Innenausschusses am 19. April 1989 wört- destanforderungen zu berücksichtigen sind. Insofern lich folgendes erklärt — ich lese Ihnen das vor — : möchte ich hier an dieser Stelle noch einmal ganz Darüber hinaus ist beabsichtigt, einheitliche, für nachdrücklich darauf hinweisen, daß diese Bestim- alle Vertragsstaaten verbindliche datenschutz- mungen bzw. Empfehlungen des Europarates und die rechtliche Bestimmungen zu schaffen. Die daten Empfehlungen der Datenschutzbeauftragten der Län- schutzrechtlichen Vorschriften werden insbeson- der des Schengener Abkommens, soweit sie in den dere vorsehen eine Zweckbindung der Daten, ein einzelnen Ländern vorhanden sind, zur Maxime des Auskunfts-, Berichtigungs- und Klagerecht des handelns gemacht werden müssen. Betroffenen, Prüf- und Löschungsfristen, Proto- Die Kritik der GRÜNEN in dem Punkt, daß die Bun- kollierungs- und Archivierungsbestimmungen, desregierung das Parlament in der Vergangenheit gar Kontrollrechte der für den Datenschutz zuständi- nicht oder nur unzureichend informiert hat, wird von gen Stellen für den jewei ligen nationalen Daten- der SPD-Fraktion insoweit geteilt, als es in der Ver- bestand, Einrichtung einer gemeinsamen Kon- gangenheit vielfältiger Anfragen und Nachfragen be- trollinstanz für den zentralen Bestand des Schen- durfte, um an Informationen zu gelangen. gener Informationssystems, eine Schadensersatz- (Sehr richtig! bei den GRÜNEN) regelung. So ist die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion Weiter heißt es dann: vom 15. März 1989 zu innenpolitischen Aspekten der Die deutsche Seite ist bemüht, in den Verhand- Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft bis lungen den datenschutzrechtlichen Standard der zum heutigen Tage immer noch nicht beantwortet. Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen. (Hört! Hört! bei der SPD) (Such [GRÜNE]: Sagte Herr Neusel!) Trotz dieser kritischen Anmerkung möchte ich fest- Dann verwies Herr Neusel am 19. April auf den Be- stellen: Die Situa tion hat sich verbessert. Es kommt schluß der Datenschützer der Schengener Vertrags- jetzt zu regelmäßigen Informationen, wie zuletzt am staaten, den Sie abgeschrieben haben, und erklärte heutigen Morgen in der Arbeitsgruppe Schengen. dann: Auch ein Vertreter der GRÜNEN war heute morgen Alles das ist zwischen den Schengener Vertrags- dabei. Insofern sind wir ganz froh, daß diese Kritik partnern unstreitig. heute nicht mehr anzubringen ist. Das galt für die Ver- gangenheit. Das, was Sie hier beantragen und beschließen lassen wollen, ist also unstreitig zwischen den Vertragspart- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit zu dieser nern. Ihr Beschlußentwurf ist also überflüssig. späten Stunde. Im übrigen haben wir inzwischen einen Vertrags- (Beifall bei der SPD — Such [GRÜNE]: Das entwurf zu diesen Punkten, Stand September 1989. kommt zu spät!) Ich denke, Sie wissen das inzwischen. Darin gibt es ein eigenes Kapitel über automatisierten Informa- Das sind die Art. 53 bis 80, also 28 Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- tionsaustausch. geordnete Blens. Artikel, die sich mit Datenschutz beschäftigen, die alles das erfüllen, was Sie hier von der Bundesregie- rung verlangen. Das Ganze umfaßt 21 Schreibmaschi- Dr. Blens (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Da- nenseiten. Das, was Sie verlangen, ist längst erledigt. men und Herren! Ich war 17 Jahre lang Mitglied der Deshalb ist Ihr Beschlußentwurf überflüssig. Opposition im Rat der Stadt Köln. Ich sage als letztes: Er ist nicht nur abgeschrieben, (Dr. Penner [SPD]: Da gibt es keine Opposi- er ist nicht nur überflüssig, er ist auch unschäd lich. tion! Ihr habt auch Beigeordnete gehabt! Sie Deshalb stimmen wir der Überweisung in den Innen- waren Bürgermeister!) ausschuß zu. Wir schlagen aber vor — damit wir die Herr Penner, deshalb weiß ich, wie schwierig es ist, Zeit dort nicht mit sinnlosen Dingen totschlagen —, vernünftig Opposition zu machen. Deshalb weiß ich, daß wir Ihren Beschlußentwurf, den Sie hier vorgelegt wie dankbar man als Mitglied der Opposi tion ist, haben, zusammen mit den entsprechenden Vorschrif- wenn man irgendwo bei anderen Leuten eine gute ten des Schengener Abkommens erörtern. Dann kön- Idee findet, die man abschreiben kann. Deshalb habe nen wir konkret diskutieren. Dann werden Sie sich ich Verständnis dafür, daß Sie die Beschlüsse der Da- sicherlich auch davon überzeugen, daß alles das, was tenschutzbeauftragten der Schengener Vertragsstaa- Sie wollen, längst erfüllt ist. Unter dieser Vorausset- ten vom 16. März 1989 — also aus diesem Jahr — zung stimmen wir der Überweisung in den Innenaus- wörtlich abgeschrieben und in Ihren Entschließungs- schuß zu - entwurf aufgenommen haben. Ich habe Verständnis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dafür. Ich will es hier nur mit Ihrer Zustimmung zu Protokoll geben, damit Ihnen niemand den Vorwurf des geistigen Diebstahls machen kann. Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- geordnete Such. Das, was Sie hier sagen, ist nicht nur abgeschrieben worden, sondern auch überflüssig; denn alles das, was sie fordern, ist von der Bundesregierung längst zuge- Such (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und sagt worden, wie Sie an sich wissen könnten und müß- Herren! Herr Blens, wenn das alles einträte und ein- 12280 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Such träfe, was Herr Neusel und die Bundesregierung lich, daß Grenzkontrollen für die Verbrechensbe- schon vorab immer erklärt haben, dann wären wir kämpfung kaum etwas bringen. glücklich dran und könnten das sicherlich mittragen. Das Schengener Abkommen verpflichtet keines- Aber leider ist das nicht der Fall. Wie wir auch in wegs zur Einrichtung einer zentralen Personendatei. unseren Anfragen zu Gewalt bei Demonstrationen er- Vereinbart wurden lediglich Bemühungen, Gesprä- fahren haben, sind auch Dinge gesagt worden, die mit che und die Suche der Vertragsstaaten nach einem den Begründungen für das Gesetzeswerk überhaupt verbesserten Informationsfluß. Das kann jedoch bei nicht übereinstimmten. Insofern muß man nicht so Anlaß und Bedarf geschehen; vielleicht auch noch großen Wert auf solche Erklärungen legen, die die durch die Intensivierung von Interpol-Fahndungen. Bundesregierung durch Herrn Neusel abgibt. Die Einrichtung der S.I.S.-Datenbank wird zahlreiche Meine Damen und Herren, auf Grund der vorlie- Probleme mit sich bringen, von denen ich nur drei genden Anträge befaßt sich der Deutsche Bundestag beispielhaft anreißen möchte. heute endlich mit einem Thema, das die Bundesregie- Erstens. Es sind Kollisionen zwischen dem unter- rung bisher ohne Votum des Parlaments vorangetrie- schiedlichen nationalen Strafrecht vorprogrammiert, ben hat. Dabei handelt es sich bei dem Schengener insbesondere bei den Gesinnungsstraftatbeständen. Informationssystem keinesfalls um eine politische Lappalie. Dieses Projekt würde vielmehr — wenn es Zweitens. Die vorgesehene Datei für die Erteilung nach den derzeitigen Vorstellungen der Bundesregie- von Sichtvermerken nach bestimmten Kriterien be- inhaltet, daß die restriktiven Vorstellungen der Bun- rung verwirklicht würde — eine immense informa- desregierung zum Ausländer- und Asylrecht noch tionstechnische Aufrüstung — u. a. der europäischen Sicherheitsbehörden — nach sich ziehen. Tiefe Ein- weiter nach Europa exportiert würden. Somit würde griffe in das informationelle Selbstbestimmungs- S.I.S. einen Zaun der Entmenschlichung um Europa grundrecht der betroffenen Bürger und Bürgerinnen für Flüchtlinge und Einwanderer und Einwanderin- sind vorprogrammiert. Da das Vorhaben der Schenge- nen abdichten helfen. Die vorgesehenen Ausnahme- ner Vertragssstaaten ausdrücklich als Modell für die regelungen für den Datentransfer, bei Gefährdung der staatlichen Ordnung etc. durchlöchern die letzte gesamte EG dienen soll, stehen tiefgreifende Struk- Abschottung der Dateien gegeneinander, also letzt- turveränderungen des internationalen Datenaustau- lich das verfassungskräftigte sches in Richtung auf eine Art europäische Polizeipoli- Zweckbindungsgebot. tik bevor. Wegen mangelnder öffentlicher Information Ebenso ist überhaupt nicht geklärt, wie im Austausch durch die Bundesregierung über die Reichweite die- der Daten mit dem Ausland z. B. das verfassungsmä- ser Pläne sind deren Auswirkungen bisher weder von ßige Trennungsgebot von Polizei- und Geheimdienst den Fachleuten noch in der Bevölkerung und im Par- in der Bundesrepublik eingehalten wird. lament ausreichend diskutiert worden. Meine letzten Gedanken: Am deutschen Sicher- heitswesen soll offensichtlich Europa genesen. Das Gerichtet an den Vertreter des Innenministers: Herr würde für die Bürger und Bürgerinnen bedeuten, daß Innenminister, heute Fakten bzw. sogenannte Sach- sie keine Auskünfte, auch nicht über den Bundesbe- zwänge für eine Politik des „Großen Bruders" in Eu- auftragten für Datenschutz, bekommen, ob etwas und ropa zu schaffen, dazu haben Sie kein Votum der was über sie gespeichert ist, daß keine parlamentari- Wählerinnen und Wähler. Auch der Begründungszu- sche Kontrolle, kein Kontrollausschuß im Europäi- sammenhang für dieses Vorhaben S.I.S. erscheint uns schen Parlament, keine Korrektur- oder Löschungsan- äußerst zweifelhaft, ebenso wie andere europäische sprüche gegenüber falschen Informationen bestehen Harmonisierungspläne. und kein ordentlicher Rechtsweg zu beschreiten ist. Schon seit Jahren wird eine Ausweitung polizeili- (Bohl [CDU/CSU]: Jawohl, Herr Hauptkom cher Befugnissse und eine Aufweichung des Daten- missar!) schutzes mit wechselnder Begründung bet rieben. Seit einiger Zeit wird das Gespenst einer angeblichen Si- Ich habe leider nur fünf Minuten. — Weil die Bun- cherheitslücke durch die offenen Grenzen beschwo- desregierung dies alles am Parlament vorbei be- ren. Der Bundeskanzler, der Innenminister und Poli- treibt — zeifunktionäre malen das Gespenst einer Überflutung unseres Landes mit Kriminalität in einer Art an die Wand, als müßten wir — das saubere Deutschland — Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, Sie ha- ab dem 1. Januar 1990 oder spätetens ab 1992 mit ben die Zeit schon längst überschritten. Sie hatten Wogen der italienischen Mafia, der Drogenhändler angekündigt: letzter Satz. aus Holland, der französischen Taschendiebe und englischer Posträuber rechnen. Diese Beschwörung einer Gefahr trägt zum Teil schon chauvinistische Such (GRÜNE): — Sie erlauben mir den letzten Satz Züge und kommt einer „Schönhuberei" nahe. Aller- — und versucht, für die Zeit nach ihrer Ablösung 1990 dings glaubt der Innenminister offenbar selbst nicht -so Fakten zu setzen, sagen wir mit unserem Antrag recht an die angebliche Sicherheitslücke. In seinem „Halt! " und verlangen die Einstellung aller konkreti- Pressedienst räumt er ein, daß Grenzkontrollen, Kol- sierenden Schritte für die Einrichtung eines Schenge- lege Graf, ohnehin kein wirksames Mittel gegen orga- ner Informationssystems nisierte Straftäter seien. (Bohl [CDU/CSU]: Jawohl, Herr Hauptkom (Hört! Hört! bei der SPD) missar!) Folglich würde deren teilweiser Wegfall hieran auch sowie klare Informationen über den Entscheidungs- kaum etwas ändern. Polizeipraktiker wissen eigent vorbehalt für das Parlament. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12281

Vizepräsident Stücklen: Aber da war jetzt ein gierung Gelegenheit geben, darzulegen, daß und wie Punkt! sie diesen Meßlatten gerecht wird. Dabei will ich schon jetzt sagen, daß unser liberaler Such (GRÜNE) : Ich danke Ihnen, meine Damen und datenschutzrechtlicher Maßstab die gleiche Dimen- Herren. Schönen Dank für Ihr Entgegenkommen. sion hat wie der, der hier von den Sozialdemokraten angelegt ist. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr. (Beifall des Abg. Graf [SPD]) (Beifall des Abg. Weiss [München] [GRÜNE] Das muß nicht jeden einzelnen Meßpunkt betreffen. — Dr. Blens [CDU/CSU]: Das war ein Ausru- Wir erwarten aber, daß sich die Bundesregierung bei fezeichen!) den Vereinbarungen, die sie mit den Vertragsstaaten Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder. für das Informationssystem trifft, in dem Rahmen hält und an den Anforderungen orientiert, die hier sichtbar werden. So kann und sollte es erreichbar sein, daß wir (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr geehrten Lüder bei den weiteren Beratungen zum Schengener Infor- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mationssystem gemeinsam die Einhaltung eines gu- Die FDP hat das Abkommen der Schengener Ver- ten Datenschutzstandards feststellen, wobei dann tragsstaaten über den Abbau der Grenzkontrollen vielleicht auch noch die Fraktion der GRÜNEN sehen und damit die Freizügigkeit im Verkehr zwischen wird, daß sie sich unnötig Sorgen gemacht hat. Frankreich, den Beneluxstaaten und der Bundesrepu- blik stets begrüßt und uneingeschränkt unterstützt. In diesem Sinne folge ich der Anregung des Kolle- Für uns standen und stehen die Verbesserungen der gen Blens, daß wir im Ausschuß darauf hinwirken soll- grenzübergreifenden Freizügigkeit zwischen diesen ten, daß das, was vereinbart werden wird, unserem europäischen Kernstaaten im Vordergrund unserer Standard nachkommt und unseren Standard aner- Betrachtungen. Wir haben jeden Abbau von Kontrol- kennt und akzeptiert. Wenn das so ist, dann können len an den Binnengrenzen Europas begrüßt. Wir ha- wir alle miteinander dem Schengener Informationssy- ben dem Bundeskanzler zugestimmt, als er hierfür stem und dem entsprechenden Vertragssystem un- und für den Verkehr mit Österreich beim Vorzeigen sere Zustimmung geben. der E-Plakette den Europäern freie Fahrt am Schlag- Auf eines jedoch möchte ich mit aller Deutlichkeit baum überholter Grenzen ermöglichte. Dies lag für hinweisen: Die Diskussion um das Schengener Infor- uns auch in der guten Tradition, nachdem unsere libe- mationssystem darf niemandem als Vorwand dienen, ralen Vorfahren im letzten Jahrhundert die damals den Abbau von Grenzkontrollen zurückzustellen. Der bestehenden Grenzen europäischer Kleinstaaterei zu Abbau der Grenzkontrollen hat Vorrang. Wir Freien überwinden geholfen hatten. Demokraten könnten kein Verständnis dafür haben, Wir akzeptieren, daß heute ein Abbau von Grenz- daß erst der internationale Kontrollperfektionismus kontrollen von einer Zusammenarbeit der Sicher- etabliert werden muß, bevor die freie Fahrt für freie heitsbehörden begleitet wird. Der Grenzabbau darf Bürger Europas über die veralteten Grenzen hinweg nicht zu einem relevanten Sicherheitsdefizit führen. möglich wird. Aber so, wie wir uns daran gewöhnt haben, daß an Wenn die Bundesregierung den Abbau der Grenz- unserer Landesgrenze vor Rolandseck kein Schlag- kontrollen bis zur Schaffung des Informationssystems baum mehr die Reise nach Rheinland-Pfalz blockiert, nur schrittweise vornehmen will, wie es gestern Herr so werden wir uns in Europa daran gewöhnen und zu Stavenhagen im Ausschuß erklärt hat, so kann sie gewöhnen haben, daß auch Europas Binnengrenzen dann und nur dann mit unserer Zustimmung dazu frei von Schlagbäumen sind. rechnen, wenn die Schritte zur europäischen Freizü- Wir haben auch die Grundüberlegung des Schen- gigkeit groß sind. gener Informationssystems akzeptiert. Darin unter- Meine Damen und Herren, in der Nähe von Schen- scheiden wir uns von den GRÜNEN. Das Schengener gen liegt der luxemburgische Grenzort Echternach. Informationssystem ist notwendig. Dabei ist es für uns Europäische Freizügigkeit darf nicht in eine Echterna- selbstverständlich, daß die Bundesregierung, wie sie cher Springprozession ausarten. Drei Schritte vor, auch stets bekundet hat und wie Herr Staatsminister zwei zurück — dieses Tempo ist zu langsam für Eu- Stavenhagen gestern im Ausschuß wiederholt hat, ropa. Wir hoffen, daß die Bundesregierung Schengen nach Standort, Nutzung und Kontrolle dieses System Vorrang vor Echternach gibt. darauf achtet, daß unser Datenschutzstandard ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wahrt ist. Dies ist unverzichtbare Grundlage unserer Zustimmung zu dem später notwendigen Ratifizie- rungsgesetz. Vizepräsident Stücklen: Ich erteile das Wo rt dem Der Antrag der Sozialdemokraten reiht in nahezu Herrn Parlamentarischen Staatssekretär. perfektionistischer Art das auf, was deutsches Daten- schutzverständnis an Anforderungen für das Schen- Spranger, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister gener Informationssystem wünschenswert erscheinen des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Her- läßt. Hier werden Meßlatten an den Datenschutz an- ren! Bevor ich auf die vorliegenden Anträge kurz ein- gelegt, die im wesentlichen den gesicherten Erkennt- gehe, möchte ich das Schengener Informationssystem nissen auch der Datenschutzbeauftragten der Länder hier skizzieren. Es ist geplant als ein gemeinsames und des Bundes entsprechen. datenverarbeitendes Fahndungssystem der Schenge- Wir stimmen der Überweisung in den Ausschuß zu. ner Vertragsstaaten, also der Beneluxstaaten, Frank- Die Einzelberatung im Ausschuß wird der Bundesre- reichs und der Bundesrepublik Deutschland. In das 12282 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989

Parl. Staatssekretär Spranger System sollen alle Ausschreibungen, die der Suche von Verbrechen auch nur annähernd richtig einzu- nach Personen und Sachen dienen, für polizeiliche schätzen. Kontrollen an den Außengrenzen und im Landesin- (Such [GRÜNE]: Um uns tobt das Verbre nern zum Abruf im automatisierten Verfahren einge- chen, rechts und links!) geben werden. Ihr Redner hat heute erneut das übliche Katastro- (Such [GRÜNE]: Aber noch mehr!) phen- und Schauergemälde der GRÜNEN gezeich- net. Ihre Phantasien haben mit der Wirk lichkeit nicht Dieses Informationssystem wird von den Regierun- das entfernteste gemeinsam, gen aller Vertragsstaaten als das Herzstück der vorge- (Such [GRÜNE]: Das ist ein untaugliches sehenen Ausgleichsmaßnahmen für den Abbau der Mittel zur Verbrechensbekämpfung, Herr Binnengrenzen angesehen. Bei der Verwirklichung Staatssekretär!) des Informationssystems, mit dessen Hilfe erstmals Deswegen ist der Antrag rundum unbegründet. personenbezogene Daten in größerem Umfang im au- tomatisierten Verfahren an das Ausland übermittelt Vielen Dank. werden, ist es selbstverständlich, daß datenschutz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rechtlichen Gesichtspunkten erhebliche Bedeutung zukommt. Die Bundesregierung ist daher bei den Ver- handlungen ausdrücklich bemüht, den datenschutz- Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Ab- rechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutsch- geordnete Wüppesahl. land durchzusetzen. Das ist auch in den Ausschüssen im einzelnen wiederholt klargestellt worden. Wüppesahl (fraktionslos): Große Freude im Saal. — (Wüppesahl [fraktionslos]: Was ist denn der Guten Abend, meine Damen und Herren! Herr Präsi- Standard?) dent! Zwei Vorbemerkungen. Die AG Schengen hat heute morgen getagt, sagte der Redner der SPD. Es Sie hat bereits vor Vorliegen des Antrags der Frak- gilt einfach darauf hinzuweisen, daß Teile der Oppo- tion der SPD im Innenausschuß des Deutschen Bun- sition in diesen Informationsfluß nicht einmal einbezo- destages erklärt, daß zwischen den Vertragsstaaten gen werden, geschweige denn Initiativrechte haben. Einvernehmen besteht, eine staatsvertragliche Rege- Das betrifft in jedem Fall mich, aber inzwischen auch lung mit verbindlichen datenschutzrechtlichen Be- eine zweite Kollegin in diesem Haus. Trotz gestellten stimmungen zu schaffen, die insbesondere folgendes Antrages darf ich an solchen Gesprächen nicht einmal vorsehen: eine Zweckbindung der Daten, ein Aus- zum Zuhören teilnehmen. Dahinter steht ein Parla- kunfts-, Berichtigungs- und Klagerecht der Betroffe- mentsverständnis, das wirklich zum Himmel schreit. -nen, Prüf- und Löschungsfristen, Protokollierungs Zweite Vorbemerkung. Der Kollege, der für die und Archivierungsbestimmungen, Kontrollrechte der GRÜNEN gesprochen hat, formulierte eingangs noch für den Datenschutz zuständigen Stellen für den je- frei, daß, wenn man glauben könnte, was die Bundes- weiligen nationalen Bestand, Einrichtung einer ge- regierung als zukünftig umzusetzen ankündigt, man meinsamen Kontrollinstanz der Vertragsstaaten für dem ja zustimmen und es mittragen könnte. Ich be- den zentralen Bestand des Schengener Informa tions- zweifle, daß das eine Position der GRÜNEN ist. systems und schließlich eine Schadensersatzrege- Ich bin auch ein bißchen über die Art und Weise lung. überrascht, wie hier Nationen behandelt werden. Englische Posträuber oder französische Taschendiebe Die Vertragsstaaten sind sich auch darin einig, daß — was ist das für ein Bild gegenüber Ausländern oder die Grundsätze der Europäischen Datenschutzkon- Nachbarstaaten? vention vom 28. Januar 1981 einzuhalten sind. Bei der Ausarbeitung der Regelungen hat die Bundesregie- (Such [GRÜNE]: Das ist ja nicht unser Bild, rung ständig Kontakt mit dem Bundesbeauftragten für sondern das ist das Bild der Bundesregie den Datenschutz. rung!) Jetzt aber zur Sache. Herr Lüder, Sie formulierten (Wüppesahl [fraktionslos]: Seit wann?) für die FDP: Der Standard der Bundesrepublik muß Grundlage bei der Abwicklung des Schengener Ab- Nun zu den vorliegenden Anträgen. Der Kollege kommens sein. Herr Lüder, welchen Standard haben Blens hat zu dem Antrag der SPD, Herr Kollege Graf, wir denn hier? Welchen der vielen verschiedenen im Grunde ja schon Stellung genommen. Auch ich Standards meinen Sie? Meinen Sie den der polizeili- muß sagen, in dem Antrag gibt es eine weitgehend chen Praxis, so wie es zur Zeit beim BKA oder beim wörtliche Übereinstimmung mit der Entschließung Verfassungsschutz läuft, der auch von Ihnen kritisiert vom 16. März 1989 der Datenschutzbeauftragten der wird, oder meinen Sie vielleicht den Standard, den das Vertragsstaaten. Das, was darin enthalten ist, ist zwi-- Bundesverfassungsgericht mit dem Recht auf infor- schen den Vertragsstaaten unstreitig. Das bedeutet, mationelle Selbstbestimmung 1983 kreiert hat? daß der Antrag überflüssig ist. (Lüder [FDP]: Als Gesetzgeber immer den Was den Antrag der Fraktion der GRÜNEN anbe- gesetzlichen!) langt, so kann man nur sagen: Hier zeigt sich, daß die Wir haben bestimmt noch sechs, acht andere Stan- Fraktion der GRÜNEN offensichtlich überhaupt nicht dards. Es ist völlig unklar, wenn solche Formulierun- in der Lage ist, den Stellenwert des notwendigen gen kommen, auch von Herrn Stavenhagen im Innen- Schutzes unserer Bürger vor der anwachsenden Flut ausschuß, welchen Standard wir konkret, inhaltlich, Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 161. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1989 12283

Wüppesahl substantiell nun tatsächlich zugrunde legen dürfen. nicht das, was sachlich-fachlich für den Datenschutz Ich denke, Sie fallen auf diese Formulierung im Mo- erforderlich ist und was z. B. auch die GRÜNEN in ment ein bißchen herein. Die Regierung macht im ihren Punkten aufgelistet haben. Ich würde mir wün- internationalen Verhandlungsbereich — es sind fünf schen, Sie hätten ein bißchen mehr Mut und Cou- Länder beteiligt — genau das, was sie gegen unsere rage. Kritik und auch die Kritik der Datenschutzbeauftrag- Ich bedanke mich bei dem präsidierenden Kolle- ten in der Bundesrepublik zur Zeit ständig verteidigt. gen, daß er mich hat zu Ende sprechen lassen. Das kann nicht mein Ziel sein. Ich bin mir sicher, in Teilen ist es auch nicht Ihr Ziel. Denken Sie daran, daß Einen guten Abend! die bestehenden Datensammlungen in der Bundesre- publik zu einem nicht unerheblichen Teil ohne Rechtsgrundlage vorhanden sind, und das, obwohl das Urteil aus Karlsruhe schon über sechs Jahre alt ist. Vizepräsident Stücklen: Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache. Herr Spranger, sagen Sie doch der Öffentlichkeit, seit wann der ständige Kontakt zum Datenschutzbe- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auftragten besteht. Er ist erst ein paar Monate alt. Er der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN ist im Grunde genauso jung wie die Tatsache, daß wir auf den Drucksachen 11/5023 und 11/5245 an die in als Parlament in die Informationspolitik ein bißchen der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über- intensiver einbezogen werden. Das korreliert zeitlich weisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und mit den Problemen bei der — termingerechten — Um- höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. setzung für den 1. Januar 1992. Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ein letzter Gedanke, meine beiden Herren von der SPD-Fraktion, die zu dieser relativ frühen Abend- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- stunde noch anwesend sind. Die SPD geht in der Re- destages auf morgen, Freitag, den 29. September gel immer nur so weit, wie es reputierlich ist. Die K ritik 1989, 9 Uhr ein. des CDU-Sprechers ist natürlich berechtigt: Die SPD Die Sitzung ist geschlossen. hat von den Datenschutzbeauftragten abgeschrieben. Das heißt nicht, daß es schlecht ist, aber es ist noch (Schluß der Sitzung: 20.41 Uhr)

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Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Fraktion Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Dr. Soell SPD 29. 09. 89 * entschuldigt bis Abgeordnete(r) Fraktion Steiner SPD 29. 09. 89 * einschließlich Stobbe SPD 29.09.89 Dr. Ahrens SPD 29. 09. 89 Dr. Struck SPD 29. 09. 89 Antretter SPD 29. 09. 89 * Tietjen SPD 29.09.89 Bindig SPD 29. 09. 89 * Frau Trenz Böhm (Melsungen) CDU/CSU 29. 09. 89 * GRÜNE 29. 09. 89 Büchner (Speyer) SPD 29. 09. 89 * Dr. Unland CDU/CSU 29. 09. 89 * Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 29. 09. 89 * Dr. Vondran CDU/CSU 29. 09. 89 Dr. Emmerlich SPD 29. 09. 89 Vosen SPD 29.09.89 Engelhard FDP 29.09.89 Dr. Waigel CDU/CSU 29. 09. 89 Dr. Feldmann FDP 29. 09. 89 * Westphal SPD 29.09.89 Fellner CDU/CSU 29.09.89 Frau Würfel FDP 29. 09. 89 Frau Fischer CDU/CSU 29. 09. 89 * Zierer CDU/CSU 29. 09. 89 ' Gallus FDP 29.09.89 Gansel SPD 29.09.89 Dr. Geißler CDU/CSU 28. 09. 89 Genscher FDP 29.09.89 Gerstein CDU/CSU 29.09.89 Häfner GRÜNE 29.09.89 Anlage 2 Hasenfratz SPD 29.09.89 Antwort Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 29. 09. 89 * Dr. Holtz SPD 29. 09. 89 der Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf Höffkes CDU/CSU 29.09.89 * die Frage des Abgeordneten Jäger (CDU/CSU) Ibrügger SPD 29.09.89 (Drucksache 11/5225 Frage 7): Irmer FDP 29. 09. 89 * Gibt es Gespräche oder schon Verhandlungen der Bundesre- gierung mit der sowjetischen Regierung über eine gemein- Jaunich SPD 28.09.89 schaftliche Erklärung der Ex-tunc-Nichtigkeit des verbrecheri- Frau Kelly GRÜNE 29. 09. 89 schen Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 einschließlich Kittelmann seiner geheimen Zusatzprotokolle, und wie beurteilt die Bun- CDU/CSU 29. 09. 89 * desregierung ein solches Vorhaben, etwa im Hinblick auf den Klein (Dieburg) SPD 29. 09. 89 Prager Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Dr. Klejdzinski SPD 29. 09. 89 * der Tschechoslowakei über das Münchner Abkommen vom 29./30. September 1938? Dr. Kohl CDU/CSU 29. 09. 89 Dr. Kreile CDU/CSU 29. 09. 89 Den ersten Teil der Frage beantworte ich wie folgt: Lenzer CDU/CSU 28. 09. 89 * Die Bundesregierung hat mit der sowjetischen Regie- Frau Luuk SPD 29. 09. 89 * rung keine Gespräche über eine Erklärung zu den Dr. Müller CDU/CSU 29. 09. 89 * Abmachungen vom 23. August 1939 und vom 28. Sep- Niegel CDU/CSU 29. 09. 89 * tember 1939 geführt. Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 29. 09. 89 Zum zweiten Teil der Frage antworte ich wie folgt: Pfeifer CDU/CSU 28.09.89 Zu einer gemeinschaftlichen Erklärung besteht der- Pfuhl SPD 29. 09. 89 * zeit kein Anlaß. Die Bundesregierung hat ihre Auffas- Reddemann CDU/CSU 29. 09. 89 * sung zum Hitler-Stalin-Pakt wiederholt zum Aus- Repnik CDU/CSU 28.09.89 druck gebracht. Der Bundeskanzler hat am 1. Sep- Reuschenbach SPD 29.09.89 tember 1989 erklärt, daß die Vereinbarungen von Rixe SPD 29.09.89 1939 für die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtsgültig sind und daß wir aus dem Pakt selbst und Frau Rost (Berlin) CDU/CSU 29. 09. 89 aus seinen Zusatzvereinbarungen keinerlei Rechtfer- Roth SPD 29.09.89 tigung für nachfolgende Völkerrechtsverstöße des Frau Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 29. 09. 89 Deutschen Reiches und der Sowjetunion herleiten. Sauer (Salzgitter) CDU/CSU 29. 09. 89 Zu verweisen ist auch auf die Antwort der Staatsmi- Schäfer (Mainz) FDP 28. 09. 89 nisterin Frau Dr. Adam-Schwaetzer auf die Frage des Dr. Scheer SPD 29. 09. 89 * Abgeordneten Graf Huyn (Drucksache 11/4725) am Schmidt (München) SPD 29. 09. 89 * 2. Juni 1989. von Schmude CDU/CSU 29. 09. 89 * Die Haltung der Bundesregierung ist damit klar Schulze (Berlin) CDU/CSU 29. 09. 89 zum Ausdruck gekommen. Anders als etwa bei Arti- * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- kel I des Prager Vertrags besteht kein vertraglicher lung des Europarates Regelungsbedarf.