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Stefano Violi. Il prologo di Ivo di : Paradigmi e prospettive per la teologia e l'interpretazione del Diritto canonico. Lugano: Eupress - Facoltá di Teologia di Lugano, 2006. 420 S. ISBN 978-88-88446-37-0.

Reviewed by Christof Rolker

Published on H-Soz-u-Kult (October, 2006)

Der so genannte Prolog des berühmten Bi‐ ton, Bruce C., Ways of mercy. The Prologue of Ivo schofs Ivo von Chartres gehört zu den Schlüssel‐ of Chartres: edition and analysis, Münster 2004. , texten für die umwälzenden geistesgeschichtli‐ hat Stefano Violi ihm nun seine hier anzuzeigen‐ chen Neuerungen der Zeit um 1100. Seinen gro‐ de Monografe gewidmet. ßen mittelalterlichen Einfuss und die Bedeutung, Diese gliedert sich in drei Teile, deren erster die ihm die moderne Forschung zuspricht, ver‐ (S. 29-181) Ivos Biografe und insbesondere seine dankt der Prolog seiner sehr eigenen Thematisie‐ Beziehung zu Lanfrank von Bec behandelt. Mehr‐ rung eines zentralen Problems der mittelalterli‐ fach wiederholt Violi hier Positionen der älteren chen Textwissenschaft: dem Verhältnis zwischen Literatur insbesondere des 17. und 18. Jahrhun‐ einander widersprechenden Autoritäten der Tra‐ derts, die so nicht mehr aufrecht zu halten sind. dition. Nachdem Ivos Prolog bereits in den letzten Ivos angebliche Herkunft aus (S. 31) Jahren wieder erhöhte Aufmerksamkeit auf sich etwa ist von Rolf Sprandel mit guten Argumenten gezogen hat Siehe u.a.: Brasington, Bruce C., The widerlegt worden; auch für ein „Philosophie- und Prologue of Ivo of Chartres. A fresh consideration Artes-Studium“ Ivos in kann Violi keine Be‐ from the manuscripts, in: Chodorow, Stanley lege anführen (S. 36); ferner scheint es unnötig (Hg.), Proceedings of the Eighth International Con‐ ungenau, von Ivos Tod „um 1115“ (S. 21) zu gress of Medieval Canon Law. San Diego, Universi‐ schreiben, wenn die Forschung sich seit langem ty of California at La Jolla, 21.-27. August 1988, Cit‐ einig ist, dass Ivo am 23. Dezember 1115 starb. tà del Vaticano 1992, S. 3-23; Werckmeister, Jean, Siehe allgemein Sprandel, Rolf, Ivo von Chartres Introduction, in: ders. (Hg.), Yves de Chartres, Pro‐ und seine Stellung in der Kirchengeschichte, Stutt‐ logue, Paris 1997, S. 11-58; Rolker, Christof, Ivo of gart 1962, S. 5f. Die überholten Angaben bei Violi Chartres’ pastoral canon law, in: Bulletin of me‐ beruhen auf der Ivo-Biografe von Jean Fronteau dieval canon law N.S. 26 (2003 [erschienen 2006]), in den Acta Sanctorum Maii V, 1685, S. 248-253 so‐ S. 114-145, online unter: ; Brasing‐ H-Net Reviews

Violis Hauptargument ist, dass Ivos Hermeneutik, Manche Traditionen, so Ivo, seien der ganzen wie sie im Prolog dargelegt ist, ganz wesentlich Strenge der kirchlichen Disziplin verpfichtet, an‐ auf seine Prägung durch Lanfrank und die Schule dere dem ebenso gültigen Prinzip der verzeihen‐ von Le Bec zurückgeführt werden kann. Hierfür den Nächstenliebe und Milde. So wie Strenge und stützt er sich auf das Zeugnis Roberts von Torigny, Milde aber gleichermaßen Eigenschaften Gottes dessen Glaubwürdigkeit er gegen die von Marga‐ seien, so seien diese Widersprüche zumindest aus ret Gibson Gibson, Margaret T., of Bec, menschlicher Perspektive unaufhebbar; nur im Oxford 1978, S. 36. Siehe auch dies., Introduzione, Einzelfall könne der geistliche Richter und Seel‐ edizione del testo e note, in: D’Onofrio, Giulio sorger sich jeweils für die eine oder andere Lö‐ (Hg.), Lanfranco di Pavia e l’Europa del secolo XI, sung entscheiden. Diese Argumentation Ivos und nel IX centenario della morte (1089-1989), Rom ihre enge Verbindung mit den theologischen Strö‐ 1993, S. 661-666. angemeldeten Zweifel verteidigt, mungen der Zeit arbeitet Violi gründlich heraus. ohne allerdings grundlegend neue Argumente zu Durch einen gelungenen Vergleich mit einigen bringen. Ähnlich wie schon früher Bruce Brasing‐ Briefen Ivos kann er ferner zeigen, dass der Pro‐ ton Brasington, Bruce C., „Non veni Corinthum“. log kein akademisches Werk ist, sondern direkt Ivo of Chartres, Lanfranc and 2 Corinthians mit Ivos pastoraler Tätigkeit zusammenhängt (S. 1.16-17, 23, in: Bulletin of medieval canon law N.S. 281f.). 21 (1991), S. 1-9. stützt sich auch Violi auf themati‐ Den klassischen Studien von Fournier, de sche und methodische Parallelen zwischen Ivos Ghellinck und de Lubac folgend Fournier, Paul, Prolog und Lanfranks Kommentaren zu den Pau‐ Yves de Chartres et le droit canonique, in: Revue lus-Briefen. des questions historiques 63 (1898), S. 51-98 und Der folgende Hauptteil (S. 183-363) ist dem 384-405; de Ghellinck, Joseph, Le mouvement Prolog selbst gewidmet. Die umstrittene Frage, ob théologique du XIIe siècle, Bruges 1948; de Lubac, dieser tatsächlich das Vorwort zu einer der Ivo zu‐ Henri, À propos de la formule: „diversi, sed non geschriebenen Sammlungen ist und wenn ja, zu adversi“, in: Recherches de science religieuse 40 welcher, lässt Violi dabei ofen. Fragen der Datie‐ (1952), S. 27-40. , schreibt Violi dieser Methode rung, der verwendeten fontes formales, ganz zu eine Schlüsselrolle in der Herausbildung der scho‐ schweigen von der komplizierten Überlieferung, lastischen Hermeneutik zu und betont wiederholt werden ebenfalls nicht diskutiert. Violi geht es Ivos Einfuss insbesondere auf Alger von Lüttich, vielmehr um eine Auslegung des Textes selbst. Abaelard und Gratian. Stärker hätte allerdings Das zentrale Problem, das der Prolog diskutiert, herausgehoben werden können, dass Ivo anders ist die vor allem an biblischen und patristischen als die Generationen nach ihm betonte, dass aus Beispielen entwickelte Frage nach dem Umgang genau diesem Grund die kirchliche Tradition, ins‐ mit einander widersprechenden Autoritäten. Was besondere die Masse der überlieferten Rechtstex‐ später von Abaelard im bekannten Vorwort zu Sic te, keiner „Glättung“ durch eine systematisieren‐ et non oder von Gratian unter dem Titel einer de Auswahl bedarf, sondern die Widersprüchlich‐ Concordantia discordantium canonum behandelt keit der Texte bewahrt bleiben solle (S. 265). Diese wurde, geht Ivo auf seine eigene Weise an. Anstatt Gedanken deutet Violi im Vergleich zwischen Ivo die Widersprüchlichkeit der kirchlichen Tradition und einigen zeitgenössischen Kanonisten an (S. als bloß scheinbare abzutun, verschärft Ivo das 237f.); um sie zu substantiieren, bedürfte es einer Problem noch, insofern er in Rückgrif auf theolo‐ gründlichen Untersuchung der Ivo zugeschriebe‐ gische Argumente nicht nur die einzelnen Texte nen Sammlungen, was aber außerhalb von Violis als widersprüchlich anspricht, sondern diese als selbst gestellter Aufgabe gelegen hätte. Zu Ivos Ausdruck widersprüchlicher Prinzipien ansieht. Sammlungen siehe insbesondere die von Martin

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Brett (Cambridge, UK) und Bruce Brasington (Can‐ Zeit und seine eigene pastorale Tätigkeit mit be‐ yon, Texas) betreute Seite , die die fortschreitende Editi‐ on der Ivo zugeschriebenen kirchenrechtlichen Sammlungen dokumentiert. Der dritte Teil des Buches bietet nebeneinan‐ der den lateinischen Text und eine italienische Übersetzung von Ivos Prolog (S. 365-401). Es ist zu begrüßen, dass nach einer französischen und ei‐ ner englischen Übersetzung Eine französische Übersetzung bei Werckmeister (wie Anm. 1); eine englische in: Somerville, Robert; Brasington, Bruce C., Prefaces to canon law books in Latin christianity. Selected translations, 500-1245, New Haven 1998, S. 132-158. nun auch eine italienische vorliegt. Der lateinische Text entspricht dabei dem der Edition Brasingtons Brasington, Ways of mercy (wie Anm. 1), S. 115-142, basierend auf sei‐ ner Dissertation (University of California, Los An‐ geles, 1990), dort S. 232-258. , wobei Violi dessen Obertext übernommen hat, aber nur einen klei‐ nen Teil „signifkanter“ Varianten des apparatus criticus. Bedauerlicherweise handelt es hierbei schon um die zweite nicht autorisierte Verwer‐ tung von Brasingtons aufwändiger Editionsarbeit. Siehe Brasington, Ways of mercy (wie Anm. 1), S. 11 zu Werckmeisters Ausgabe (wie Anm. 1). Mit über 400 Seiten ist Violis Buch die um‐ fangreichste Monografe, die bislang zu Ivo und seinem Werk vorgelegt wurde. Die daran ge‐ knüpften Erwartungen erfüllen sich insofern nicht, als Violi zwar eine gründliche und textnahe Interpretation des Prolog bietet, aber nur sehr vereinzelt auf die Forschungsdiskussionen um Ivo eingeht. Siehe neben den zitierten Werken die bei Kéry, Lotte, Canonical collections of the early (ca. 400-1140), Washington D.C. 1999, S. 246-249 (Ivo allgemein) und 249-260 (Sammlun‐ gen) verzeichnete Literatur. Überzeugend kann Violi aber zeigen, dass Ivo keineswegs nur die Rechtshistoriker/innen etwas angeht, sondern vielmehr nur dann verstanden werden kann, wenn man den theologischen Hintergrund der

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Citation: Christof Rolker. Review of Violi, Stefano. Il prologo di Ivo di Chartres: Paradigmi e prospettive per la teologia e l'interpretazione del Diritto canonico. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October, 2006.

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