III. Bühne Des Wandels Zeitreise Durch Licht Und Schatten Der Vergangeheit 209 210
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208 III. Bühne des Wandels Zeitreise durch Licht und Schatten der Vergangeheit 209 210 1. Konstanten der Geschichte Berlins Der Versuch, die Geschichte Berlins auf einen aussagekräftigen Nenner zu bringen, gerät zum Blick in ein schillerndes Kaleidoskop: Hauptstadt, Kulturstadt, Industrie- zentrum, Menschenwerkstatt, Metropole die „immerzu wird und niemals ist“ und viele andere lebendige, bunte Bilder mehr. Eine wirklich überzeugende Metapher aber, wie die der Hansestadt für Hamburg oder der Bankenmetropole für Frankfurt am Main, gibt es für Berlin nicht. Zu ungleichmäßig, zu wechselhaft waren die Sprünge, die Berlin in seiner 750-jährigen Geschichte zu erlebt hat. Auf einen einzi- gen, auf den charakterisierenden Begriff ist Berlin nicht zu bringen. Das Dutzend Gemälde, Fotos, Ton- und Filmaufnahmen hingegen, das sich fast au- tomatisch ins Bewusstsein drängt, wenn der Name Berlin fällt, ist rasch ge- nannt: • Friedrich der Große beim Flötenspiel • die Zeichnung des von Bord gehenden Lotsen Bismarck • Demonstranten, im November 1918 durch die Stadt ziehend mit dem Schild „Brüder! Nicht schießen“ • der am Abend des 30. Januar 1933 durch dem Brandenburger Tor marschie- rende Fackelzug und • das brennende Reichstagsgebäude • Goebbels’ mit sich überschlagender Stimme geschriene Frage „Wollt ihr den totalen Krieg“ im Sportpalast und das „Sieg Heil“-Gebrüll einer fanatisierten Masse • die Bilder vom zerstörten Berlin aus der Luft • Rosinenbomber •Demonstranten, die mit Steinen nach Panzern werfen • den am 13. August 1961 über Stacheldraht Richtung Westen springenden Volkspolizisten • Kennedy zwischen Adenauer und Brandt und sein emphatisches Bekenntnis: „Ish bin ein Beerliener“ • schließlich der Fall der Mauer, mit jenem die Verblüffung zusammenfassen- den Ausspruch, der Ende 1989 in aller Munde war: „Wahnsinn!“ 211 Berlin-Bilder 1 Friedrich der Große beim Flötenspiel Gemälde von Adolf von Menzel, Das Flötenkonzert, Öl auf Leinwand, 142 x 205 cm, Berlin 1850–52. Nationalgalerie, Stiftung Preußischer Kulturbesitz. 212 Berlin-Bilder 2 Der Lotse geht von Bord 1890 entlässt Kaiser Wilhelm II. den Reichskanzler Otto von Bismarck. Karikatur der engli- schen Zeitschrift “Punch”.. 213 Berlin-Bilder 3 “Brüder! Nicht schießen!” Während der Novemberrevolution 1918 kommt es zu lang anhaltenden Straßenkämpfen und einem blutigen Bürgerkrieg. 214 Berlin-Bilder 4 Fackelumzug durch das Brandenburger Tor Am Abend des 30. Januar 1933 marschiert ein von den Nationalsozialisten organisierter Fackelumzug durch das Brandenburger Tor. 215 Berlin-Bilder 5 Reichstagsbrand Am 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude aus. Noch in der Nacht verhafteten die Nationalsozialisten Tausende von Kommunisten und Sozialdemokraten. Mit der am fol- genden Tag erlassenen Notverordnung zum “Schutze von Volk und Staat” wurden die Grund- und Freiheitsrechte der Weimarer Rebublik beseitigt. 216 Berlin-Bilder 6 “Wollt ihr den totalen Krieg?” Am 18. Februar 1943 hält Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sport- palast eine Rede. Er fordert eine Stärkung des “Kampfwillens von Front und Heimat”. In der im Hörfunk übertragenen Rede stellt er dem Publikum zehn Fragen, die es mit freneti- schem Beifall und “Sieg heil”-Rufen beantwortet. Später notiert Goebbels: “Diese Stunde der Ideotie! Hätte ich gesagt, sie sollen aus dem dritten Stock des Columbia-Hauses springen, sie hätten es auch getan.” 217 Berlin-Bilder 7 Trümmerstadt Das zerstörte Berlin aus der Luft: Haus des Fremdenverkehrs, 1945. 218 Berlin-Bilder 8 Rosinenbomber Am 20. Juni 1948 blockierten die Sowjets die Zugangswege zu den Westsektoren Berlins zu Lande und auf dem Wasser. General Lucius D. Clay reagierte mit einer unkonventionel- len Maßnahme: Er setzte das Militär für zivile Zwecke ein und ließ fehlende Güter auf dem Luftweg nach Berlin transportieren. Jetzt brachten die Maschinen keine Splitter- und Brandbomben mehr, sondern CARE-Pakete, Mehl und andere Lebensmittel. So entstand das Wort Rosinenbomber. Fast ein Jahr, bis zum 12. Mai 1949, versorgten die Rosinenbomber West-Berlin. 219 Berlin-Bilder 9 Steine gegen Panzer Die vom 9. bis 12. Juli 1952 von der zweiten Parteikonferenz der Sozialistischen Einehits- partei Deutschlands beschlossene “planmäßig Aufbau des Sozialismus hatte dramatische Folgen für die DDR: Vorgesehen waren der Aufbau der Schwerindustrie, die Kollektivierung der Landwirtschaft, der Aufbau von Streitkräften und die Verschärfung des Klassenkamp- fes. Ein ehrgeiziges Ziel, dass viele Opfer fordert. Knapp ein Jahr später beschließt der SED-Ministerrat die Verschärfung des Kurses und er- höht am 28. Mai 1953 die Erhöhung der von den Arbeitern zu leistenden Normen um 10 Prozent. Das führt zu enormen Unuhen und obwohl die Erhöhung der Normen am 9. Juni auf sowjetische Weisung zurücknimmt, treten Ost-Berliner Bauarbeiter am 15. Juni in einen Streik. Am am 16. Juni kommt es zu einer großen Demonstration. Die intensive An- teilnahme und Berichterstattung im Westen, insbesondere drch den Hörfunksender RIAS Berlin, führt dazu, dass die Vorgänge in der ganzen DDR bekannt werden. Am Morgen des 17. Juni ruht fast in allen Ost-Berliner Betrieben die Arbeit. 12.000 Arbei- ter brechen in Henningsdorf zu einem Marsch nach Berlin auf. Ein zweiter Protestmarsch formiert sich am Strausberger Platz. Um 10 Uhr kommt der öfdfentliche Nahverkehr zum erliegen, Parteilokale der SED und Zeitungskioske gehen in Flammen auf. Eine Stunde spä- ter holen Demonstranten die rote Flagge vom Brandenburger Tor; zur gleichen Zeit werden sowjetische Truppen in Marsch gesetzt. Um die Mittagszeit lösen Pazer eine Kundgebung auf dem Marx-engels-Platz auf, Schüsse fallen, um 13 Uhr verhängt der sowjetische Stadt- kommandant General Pawel T. Dibowra den Ausnahmezustand über Ost-Berlin.Gegen 19 Uhr ist der Aufstand niedergeschlagen. Es gab mehrere Tote und eine Reihe von Verhaf- tungen und standrechtlichen Erschießungen. In den nächste Tagen kehr langsam Ruhe ein, am 11. Juli 1953 wird der Ausnahmezustand wieder aufgehoben. 220 Berlin-Bilder 10 Die Mauer Kurz nach Mitternacht, um 1 Uhr 11 Minuten, beginnt die Absperrung der Sektorengrenze. Stacheldrahtverhaue werden errichtet, 69 der 81 Übergangsstellen geschlossen.In den fol- genden Stunden reißen Ost-Berliner Arbeiter Straßen entlang der Sektorengrenze auf und Blockieren sie durch Betonpfähle und spanische Reiter. In West-Berlin treffen erste Meldungen von den Absperrungen um 2 Uhr ein. Der Regie- rende Bürgermeister Willy Brandt bricht sofort eine Wahlkampfreise ab und kehrt nach Berlin zurück. Die Aufnahme des aus dem Ostsektor in letzter Minute in den Westen Flüchtenden zählt zu den berühmtesten Aufnahmen aus jenen Tagen. 221 Berlin-Bilder 11 “Ish bin ein Bearleener”: “Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, zu sagen: Ich bin ein Berliner.” Der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 auf dem Balkon des Rathauses Schöneberg. 222 Berlin-Bilder 12 “Wahnsinn!” Nach einer wirren Pressekonferenz, in der Günter Schbowski am Ende kurz eine Meldung über neue Reisemöglichkeiten verlas, gingen versammelten sich Zehntausende an den Grenzübergangsstellen. Die verblüfften Grenzposten hatten keine Weisung und schließlich hoben sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Schlagbäume und die Stadt erlebte im eisklalten November ein rauschendes Fest der Begegnung – eine friedli- che Revolution. 223 All diese Ereignisse, und die Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten verdoppeln, ha- ben sich in Berlin abgespielt – aber sind sie Berliner Geschichte? Die rhetorische Frage verdeutlicht das Problem. Denn zweifellos sind alle Vorgänge auch Berliner Geschichte, aber zugleich sind sie mehr. Sie sind preußische Geschichte. Sie sind deutsche Geschichte. Sie sind europäische Geschichte. Im Fall des von Hitler- Deutschland angezettelten Krieges und des Ost-West-Konflikts umspannen ihre Folgen zwei Generationen und reichen weit über Europa hinaus. Der Versuch, aus diesem Gemenge eine Stadtgeschichte herauszudestillieren, ist ein sinnloses Unterfangen. Vom Kopf auf die Füße gestellt, wird jedoch die erste entscheidende Konstante der Berliner Vergangenheit sichtbar: Berliner Geschichte war nie nur Berliner Geschichte. Seit der Stadt mit ihrer Erhebung zur Residenz ei- ne politische Rolle zuwuchs, ist sie immer mehr als ein regionales Zentrum, ohne sich dabei, wie Paris oder London, dauerhaft als dominierender Mittelpunkt des Landes zu etablieren. Das verweist auf die nächste Konstante. Als Ort nationaler und internationaler Poli- tik war Berlin zwar immer wieder von Bedeutung, worin aber diese „Bedeutung“ genau besteht, lässt sich ebenfalls nicht auf einen Nenner bringen. Berlins Stellen- wert war und ist abhängig von den jeweiligen ökonomischen, kulturellen und vor allem politischen Umständen, Prozessen und Rahmenbedingungen der Region und des ganzen Landes. Selten jedoch war die Rolle, in die Berlin immer wieder ge- zwungen wurde – und in der Lage war – hineinzuwachsen, über mehrere Generati- onen konstant. Die Suche nach einer dauerhaften Stellung, national wie internatio- nal, prägt als zweite Konstante die Geschichte der Stadt. Das Merkwürdige und schwer Fassbare an der einzigen deutschen Metropole ist ihre Fähigkeit, sich – wie ein Chamäleon – den jeweiligen Umständen anzupassen. Die Beschreibung der aktuellen Farbe, um im Bild zu bleiben, bringt allerdings neue Schwierigkeiten. Die Rolle. die Berlin in den verschiedenen Epochen gespielt hat, war ebenso zerrissen