Das Welte-Mignon Als Spiegelbild Der Romantischen Interpretationskunst
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André Scheurer DAS WELTE-MIGNON ALS SPIEGELBILD DER ROMANTISCHEN INTERPRETATIONSKUNST Der Rollenkatalog der Firma Welte liest sich wie grammmusik standen die Liebhaber der reinen ein «Who’s who» von Pianisten, Komponisten und Tonkunst gegenüber, die Oper beanspruchte eine Dirigenten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zwi- Vormachtstellung, es gab die Brahmsianer, die schen 1904 und 1932 nahm Welte eine Generation Wagnerianer und die von nationalem Kolorit ge- Dieser Artikel von damals bedeutenden Künstlern auf, deren Wur- prägten Schulen. Eine viel diskutierte Entwicklung beleuchtet die pianistischen zeln im Virtuosentum der romantischen Epoche jener Zeit betrifft das Virtuosentum, welches im Strömungen, gründen. Viele Namen, die im Katalog stehen, sind frühen 19. Jahrhundert mit Künstlern wie Liszt die sich im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten, einige findet man hie und und Paganini einen Höhepunkt erreichte. entwickelten da als Fussnote der Musikgeschichte wieder, andere Das Virtuosentum polarisierte stark: Clara Schu- und in jener gelten noch heute als Koryphäen jener Epoche. mann nannte es «Eine selbstdarstellerische Geistlo- Generation von Künstlern Wer waren all diese Künstler, die für Welte-Mignon- sigkeit der Interpreten». Dagegen verteidigte es gipfelten, die Rollen aufgenommen haben und welche Traditio- Camille Saint-Saëns in seinen Reminiszenzen: «Wie für das Welte-Mignon- nen vermitteln sie mit ihrem Spiel? ist doch über die Virtuosität hergezogen worden, Aufnahmen Dieser Artikel beleuchtet die pianistischen Strö- wie sehr hat man sie bekämpft. An erster Stelle muss machten. mungen, die sich im 19. Jahrhundert entwickelten mal laut und deutlich gesagt werden: Die besiegte und in jener Generation von Künstlern gipfelten, Schwierigkeit in der Kunst wird zur Schönheit. Die die für das Welte-Mignon-Aufnahmen machten. Schönheit entsteht, wenn die technischen Schwie- Anhand von Grafiken wird dargestellt, welchen mu- rigkeiten überwunden sind, so dass der Hörer sich sikalischen Strömungen man die Pianisten zuord- ihrer gar nicht bewusst wird. Hier betritt man die nen kann und von welchen Lehrern sie besonders 167 gefördert wurden. Damit soll sichtbar gemacht wer- den, welch enormes Gebiet der Musikgeschichte mit diesem Repertoire abgedeckt wurde und welche Vielfalt an Traditionen damit überliefert sind. Es ist erstaunlich und darf als erfreulich gewertet werden, dass unter all diesen Namen viele Pianistinnen zu finden sind. In jener Zeit hatten die Frauen im Mu- sikbetrieb noch keinen grossen Stellenwert. So wird z.B. im Plattenkatalog der Gramophone Company von jener Zeit keine einzige Pianistin aufgeführt. Ein weiterer Abschnitt ist den bedeutenden Kompo- nisten und Dirigenten gewidmet, die ihre eigenen Werke für die Firma Welte einspielten. Schliesslich gibt es eine Auflistung mit ausgewählten Stücken, die vom selben Künstler sowohl auf Welte-Mignon- Rollen, als auch auf Schallplatte eingespielt wurden. Dies erlaubt spannende Vergleiche und wird den Diskussionen um die Authentizität der Welte-Mig- non-Aufnahmen interessante Aspekte vermitteln. Verschiedene Strömungen prägten die Romantik In der romantischen Epoche wurde die Musik zu einer Höhe emporstilisiert, die sie vorher nie er- reicht hatte. Verschiedene Strömungen prägten diese Ära: Der Neudeutschen Schule mit ihrer Pro- Bild 1 – Clara und Robert Schumann Sphäre des vollendeten Spiels, eine Bühne, wo Liszt 20. Jahrhunderts eine Standardisierung der Inter- mit göttlicher Leichtigkeit unumschränkter Herr- pretationen durchzusetzen. Das willkürliche Aus- scher war.» schmücken der Musik galt nun als geschmacklos In jener Zeit, als es weder Radio noch CD gab, und das improvisierende Element hatte im Kon- hatten die Künstler kaum eine Gelegenheit sich zertsaal vorläufig ausgedient. Die Devise lautete: miteinander zu vergleichen. So entwickelte sich Partiturgetreues Spiel. Es ist den Erfindern des ein individuelles Interpretationsverständnis, wel- Welte-Mignon Edwin Welte und Karl Bockisch zu ches dem Künstler unglaubliche Freiheiten verlieh. verdanken, dass man die Interpretationskunst, so Das Publikum wurde zunehmend in den Bann des wie sie noch vor dem Schallplatten- und Radio- Interpreten und seines Spiels gezogen. Ein Konzert Zeitalter gepflegt wurde, auf mehr als viertausend begann damals mit einem frei improvisierten Prä- Rollen dokumentierte. Ihre Erfindung darf als ludium. Damit spielte sich der Pianist auf der Büh- Vermächtnis des Virtuosentums der romantischen ne ein und machte sich mit dem Saal, dem Instru- Epoche betrachtet werden. ment und dem Publikum vertraut. Falsche Töne spielten kaum eine Rolle, so berichtet Hans von Die pianistischen Strömungen Bülow: «Könnte ich doch meine falschen Noten so nehmen wie Rubinstein: Er wirft die falschen der Romantik und das Welte-Mignon Noten nur so haufenweise in den Saal und kein Die Welte-Mignon-Künstler kann man grundsätz- Mensch achtet darauf.» lich folgenden fünf Schulen zuordnen: — Schülerkreis von Liszt Mit der Schallplatte werden — aus dem Umfeld von Mendelssohn und Interpretationen vergleichbar Schumann — russische Schule Erst mit dem Aufkommen der Schallplatte und — Schülerkreis von Chopin einer grösseren Mobilität begann sich Anfang des — französische Schule 168 169 Bild 2 – Franz Liszt und seine Meister-Schüler, Oktober 1884. Obere Reihe: Moriz Rosenthal, Viktoria Drewing, Mele Parmanoff, Franz Liszt, Friedheims Mutter, Hugo Mansfeld.Untere Reihe: Paul Lieblin, Alexander Siloti, Arthur Friedheim, Emil von Sauer, Alfred Reisenauer, Alexander Gottschalg Bild 3 – Der virtuose Liszt in einer Karikatur Bild 4 – Die Bayreuther Tonkunst-Dampfmaschine, Karikatur Der Beethoven-Schüler Carl Czerny bildete in Wien Virtuose: Er entlockte dem Klavier bisher unbekann- mit Leschetitzky und Liszt zwei virtuose Künstler te Wirkungen, er wandelte den Charakter dieses aus, die das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts we- Instrumentes von Grund auf. Da die meisten seiner 168 sentlich prägten und als Klavierpädagogen Gene- Erfindungen zum Allgemeingut geworden sind, ist 169 rationen von Pianisten bis weit ins 20. Jahrhundert man sich in unserer Zeit gar nicht mehr bewusst, Auch die beeinflussten. Dagegen entwickelte sich im Freun- welch tiefgreifende Veränderungen er bewirkte.» Erfindung des Solorezitals, bzw. deskreis um Schumann und Mendelssohn eine Auch die Erfindung des Solorezitals, bzw. der der Klavieraben- Musikrichtung, die vor allem auf das Werk und das Klavierabende, wird Liszt zugesprochen. Von Gib- de, wird Liszt zugesprochen. beseelte Musizieren fokussiert war. Die russische raltar bis Moskau, von Glasgow bis Konstantino- Von Gibraltar bis Schule von St. Petersburg und Moskau war eine pel, er spielte überall in Europa, obwohl das Reisen Moskau, von veritable Pianisten-Schmiede und die Gebrüder damals unbeschreiblich mühsam war. Und so ver- Glasgow bis Konstantinopel, Rubinstein sorgten dafür, dass nur die begabtesten breitete sich der Mythos Liszt schnell auf dem gan- er spielte überall Schüler unterrichtet wurden und verlangten die- zen Kontinent. Er war einer der Ersten, der als allei- in Europa, obwohl das sen technische Höchstleistungen ab. In Paris prägten niger Interpret ganze Konzerte veranstaltete. Dass Reisen damals der Haydn- und Beethoven-Schüler Friedrich Kalk- er den Flügel mitten auf der Bühne eines Konzert- unbeschreiblich brenner und Frédéric Chopin massgeblich die spä- saales platzierte und sein Programm auswendig mühsam war. tere französische Klavierschule, die schliesslich zur spielte, war damals ungewöhnlich. Die Zeitung Le feinen Klangwelt des Impressionismus führte. Corsaire berichtete am 28. April 1844 wie folgt über ein Liszt-Konzert: «Er setzt sich an seinen Flügel, gedankenvoll, zitternd im Fieber der Eingebung. Franz Liszt und sein Schülerkreis Er fährt wie zerstreut mit der Hand über das Kla- Wohl kaum ein zweiter Musiker des 19. Jahrhun- vier, prüft das Instrument, liebkost es, streichelt es derts hatte einen derart grossen Schülerkreis wie sanft um sich zu vergewissern, dass es ihn nicht Franz Liszt. Sein pädagogisches Schaffen beein- mitten im Rennen im Stich lassen und nicht unter flusste Generationen von Pianisten bis weit ins seinen Fingern zerbrechen wird. Dann wird er 20. Jahrhundert hinein. Das klaviertechnische Rüst- warm und tobt darauf los ohne Mitleid. Das Publi- zeug holte sich Liszt beim Beethoven-Schüler Carl kum kann seine Beifallsrufe nicht mehr zurück- Czerny. Stets bestrebt die Virtuosität zu verfeinern, halten und der Saal widerhallt von einem einzigen erfand Liszt laufend neue Spieltechniken. Camille Donner des Beifalls. Wenn man nicht selbst der Saint-Saëns berichtete darüber in seinen musikali- Teufel ist, kann man aus einem geformten Stück schen Reminiszenzen: «Liszt war ein unerhörter Holz nicht machen, was dieser Mensch daraus Schüler von Franz Liszt als Welte-Mignon-Künstler und ihre für Welte-Mignon spielenden Schüler Franz Liszt* (1811 – 1886) Konrad Ansorge Frédéric Lamond Alfred Reisenauer Eugen d’Albert Emil von Sauer (1862 – 1930) (1868 – 1948) (1863 – 1907) (1864 – 1932) (1862 – 1942) Maria Avani-Carreras Georg Liebling (1872 – 1966) (1865 – 1946) Richard Burmeister José Vianna da Motta Anatol von Roessel Wilhelm Backhaus Helena Morsztyn (1860 – 1933) (1868 – 1948) (1877 – 1967) (1884 – 1969) (1889 – 1954) Arthur Friedheim Bernhard Stavenhagen Jutta Schytte Ernst von Dohnany Elly Ney (1859 – 1932) (1862 – 1914) (1881 – ? ) (1877 – 1960) (1882 – 1968) Arthur de Greef Vera Timanoff Alfred Hoehn Germaine Schnitzer (1862 – 1940) (1855 – 1942)