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Namen europäischer Fernzüge: ein Überblick (1950 – 1990) Christian WEYERS 1. Vorbemerkung Der folgende Beitrag ist eine Pilotstudie zu einer umfangreicheren Be- standsaufnahme von Namen europäischer Reisezugverbindungen, die sich seit den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts kontinuier- lich zu einer wichtigen onomastischen Kategorie entwickelten. Das Schwergewicht dieser Untersuchung lag auf den exemplarisch ausge- wählten Fahrplanperioden 1978 bis 1981. In der Zeit nach dem orga- nisatorischen Zusammenschluss der beiden deutschen Bahnverwaltun- gen (1990) und der nachfolgenden Privatisierung (1994) hat es zumin- dest hier noch einmal eine bemerkenswerte Wieder- bzw. Neubele- bung von Zugnamen gegeben, deren detaillierte Analyse ebenfalls ei- ner späteren Untersuchung vorbehalten bleiben soll.1 2. Zugnamen als onomastische Kategorie Bereits in der Frühphase des öffentlichen Eisenbahnverkehrs bis um 1846 wurden kurze, prägnante und bereits metaphorische Bezeichnun- gen (Rocket, Adler usw.) verwendet, allerdings anfangs ausschließlich für Lokomotiven (vgl. dazu Coates 2009). Die ersten Namen für einen ganzen Zugumlauf gehören ebenfalls noch gleichzeitig in diese Kate- gorie der Lokomotivnamen, indem sie zunächst sowohl die Lokomoti- ve als auch den von ihr gezogenen Zugverband bezeichneten. Spätes- tens nach dem Ende der Epoche der Dampftraktion wurden solche Na- men nur noch auf diesen bezogen. Eine solche Ambiguität zeigt bei- spielsweise noch bis in die 1920er Jahre der Begriff The Flying Scots- 1 Im Aufbau befindliche vollständige Listen europäischer Zugnamen der Fahrplan- jahre 1958–1961 und 1978–1981 (deren Veröffentlichung geplant ist) mit Zugnum- mern und genauen Angaben über jeweilige Streckenführungen, Verkehrstage und sonstige fahrplanspezifische Besonderheiten, können in der jeweils aktuellen Versi- on direkt beim Autor bezogen werden. 412 CHRISTIAN WEYERS man für die ab Juni 1862 eingesetzte Schnellverbindung zwischen London King’s Cross und Edinburgh Waverley, der sehr bald – neben der offiziellen Bezeichnung Special Scotch Express – im allgemeinen Publikumsverkehr allein üblich wurde und diese um 1924 schließlich auch offiziell ablöste. Diesem – an den Protagonisten der Seemannssage De vliegende Hollander anklingenden – Prototyp entsprachen auf dem Kontinent Bezeichnungen für Schnelltriebwagenverbindungen des Typs Fliegen- der Hamburger (Berlin–Hamburg, erster planmäßiger Einsatz 15. Mai 1933). Während dieser zunächst ebenfalls auf die Baureihe SVT 877 a/b bezogen wurde, waren bei den einige Jahre später eingesetzten Triebwagenzügen die Bezeichnungen Fliegender Kölner und Fliegen- der Frankfurter bereits ausschließlich Namen der entsprechenden Zugläufe (vgl. Kurz 1986). In dieser Funktion erlebte übrigens der Fliegende Hamburger nach der Zusammenführung der beiden deut- schen Nachkriegs-Bahnverwaltungen eine Neubelebung, allerdings nur für relativ kurze Zeit bis zum Ende des Jahresfahrplans 2002. In onomastischer Sicht besteht zwischen beiden Namentypen ein grundsätzlicher Unterschied, da sich Namen von Lokomotiven und Triebfahrzeugen wie solche von Schiffen und Flugzeugen jeweils nur auf ein einziges Objekt beziehen, während Bezeichnungen der Zug- läufe – vergleichbar mit den Namen von Konsumgütern – beliebig oft nach festen Umlaufplänen verkehrende Zugkompositionen aus wech- selndem Wagenmaterial und – insbesondere bei längeren und grenz- überschreitenden Zugläufen – mit wechselnder Lokomotivbespannung bezeichnen, gewissermaßen in Nachfolge der Namen der von Pferden gezogenen Post- und Gepäckkutschen. Dennoch soll der terminolo- gisch etwas unklare Begriff “Zugname” zunächst beibehalten werden. Unabhängig davon gibt es nach wie vor Transkategorisierungen, da einzelne Lokomotivnamen wie etwa Adler und Saxonia und sogar Schiffsnamen (Golden Hind) wiederum in der Gruppe der Zugnamen vorkommen; insbesondere im Ursprungsland des öffentlichen Eisen- bahnverkehrs hat sich offensichtlich der eine oder andere Lokomotiv- name in neuer Funktion erhalten können ([The] Talisman). Der Name Settebello, eigentlich Bezeichnung einer Spielkarte (‘il sette di denari o quadri nel gioco della scopa o dello scopone’), wurde bald nach dem ersten Einsatz der aus sieben Einheiten bestehenden Triebwagenzüge der Baureihe ETR 300, die ab 1953 zwischen Mailand und Neapel und ein Jahr später zwischen Mailand und Rom verkehrten, vom Publikum NAMEN EUROPÄISCHER FERNZÜGE : EIN ÜBERBLICK (1950-1990) 413 Abb. 1: TEE 75 Capitole du matin am 22. August 1975 zwischen Limoges und Brive bei Vigeois. Durchlaufende Zugloks einiger französischer TEE-Züge konnten ein Na- mensschild mit dem Zugnamen führen. (Foto: M. Mertens, aus Mertens 1987: 199) auf diese übertragen – die offizielle Benennung erfolgte übrigens auch in diesem Fall erst sehr viel später – und musste daher zum Sommer 1984, als der ETR 300 auf dieser Strecke durch lokbespannte Garnitu- ren ersetzt wurde, einer anderen Bezeichnung weichen (Mertens 1987: 228). Die französischen Trans-Europ-Express-(TEE-)Züge Aquitaine, Capitole, Étendard, Lyonnais, Mistral und Rhodanien wurden nach Bedarf mit einem vorn an der Lokomotive befestigten Schild mit dem Namen des Zuges (nicht der Lokomotive) versehen, der z.B. beim Mistral ab 1956 auch auf den Seitenwänden der neuen Inox-Wagen zu lesen war (Abb. 1). Auch bei anderen Zügen gehobener Kategorie, wie beispielsweise dem Vindobona, erschien in den 1960er Jahren der Zugname an den seitlichen Außenwänden. In deutlichem Kontrast zur dunklen Farbe der Lok hatte die vor den Flèche d’Or gespannte Paci- fic eine weiße Kreisscheibe mit dem Namen des Zuges und einem gol- denen Pfeil. Anfang der 1970er Jahre – in jener Zeit natürlich bereits ein Ein- zelfall – befand sich offensichtlich aus nostalgischen Gründen wieder- um der Name der Lok des Catalan-Talgo gut lesbar auf deren Stirn- seite (Abb. 2). 414 CHRISTIAN WEYERS Abb. 2. Spanische Zuglok 3005 T mit dem Namen “Virgen de la Bien Aparecida” vor dem TEE 84/GC/84 Catalan-Talgo (dem späteren TEE 70/71/70) bei seinem ersten Einsatz zum Sommerfahrplan 1969 auf der Strecke Genève–Lyon–Barcelona im Ab- fahrtsbahnhof Genève-Cornavin. (Foto: Y. Broncard, aus Mertens 1987: 69) Auch heute ist dieser Unterschied noch von Bedeutung, denn ei- nerseits erhielten inzwischen viele Triebwagengarnituren neuerer Bau- art nach dem Vorbild von Schiffen und Flugzeugen bestimmte Tauf- namen, die fest mit dem jeweiligen Fahrzeug verbunden sind, und an- dererseits werden von bahnoffizieller Seite mittlerweile Zuggattungen und gruppenweise vergebene Bezeichnungen wie etwa “Thalys”, “I[nter]C[ity]-E[xpress] International”, “[ICE] Sprinter”, “Urlaubsex- press” etc. gleichzeitig als Zugname bzw. Bestandteil von Zugnamen aufgeführt. Schließlich wird, beispielsweise im Fahrplan 2007/2008, etwa der Name Loreley gleich sechs verschiedenen Zügen zugeordnet, während es früher in betriebsbedingten Ausnahmefällen (z.B. bei der Bereitstellung von Entlastungszügen) allenfalls zu einer doppelten Vergabe kam. Mit Namen von Zuggruppen im Grenzbereich zwischen Gattungs- und Zuglaufbezeichnung wurde bei der DB bereits in den 1970er Jahren experimentiert; damals hießen mehrere Züge unabhän- gig von ihrer Gattung und zuweilen sogar in Kombination mit ihren eigentlichen Zugnamen auf bestimmten Streckenabschnitten Donau-, Förde-, Kurhessen-, Neckar-, Oldenburg-, Saale-, Saar-Pfalz-, Wel- fen-, Weser- und Wiking-City, hatten aber nichts mit dem 1971 einge- führten “Intercity” zu tun. Bei der Deutschen Reichsbahn der DDR er- schien in bestimmten Fällen der Begriff “Städteschnellverkehr” und bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) der Terminus “Städte- schnellzug” anstelle des Zugnamens in der Fahrplanspalte; vgl. z.B. NAMEN EUROPÄISCHER FERNZÜGE: EIN ÜBERBLICK (1950-1990) 415 auch die Gruppen “Intercity” und “Weekend-Intercity” bei den Dans- ke Statsbaner (DSB) oder auch die regionalen “Métrovosges” und Mé- trolor” der Societé Nationale des Chemins de Fer Français (SNCF). Inzwischen wird beispielsweise Saxonia als Sammelbezeichnung für die Regional-Express-Züge einer bestimmten Strecke (hier RE 50 Dresden–Leipzig) verwendet. 3. Express als universelles Generikum Zugnamen kommen gerade in einer Epoche auf, in der das Primat des Französischen als traditionelle Vehikulärsprache des Eisenbahnver- kehrs durch das Vordringen des Englischen als universelles Medium gebrochen wird (Weyers 2003: 280). Der erstmals am 5. Juni 1883 verkehrende (Train bzw. Grand) Express d’Orient wurde daher be- reits im darauf folgenden Jahr alternativ Orient Express genannt und diese Form spätestens ab 1891 verallgemeinert. Das Generikum Ex- press ist seitdem in seiner seit 1841 üblichen englischen Form als ste- reotyper Zusatz allgemein üblich, auch auf dem Netz Frankreichs und der Suisse romande, ironischerweise lediglich mit der Ausnahme der British Rail, die es nur wenig und inzwischen überhaupt nicht mehr verwenden. Im Zug- und Wagenverzeichnis ersetzte die Deutsche Bundesbahn (DB) bereits in der Ausgabe Sommer 1959 die deutsche Graphie -ß (die bei der Deutschen Reichsbahn der DDR beibehalten wurde) durch -ss; im Ungarischen wird die Buchstabenfolge -ssz statt einfachem -sz verwendet. Sogar in den insgesamt wenigen Fällen, in denen es – etwa als spanisch Expreso – lexikalisch adaptiert wird,2 er- scheint es – mit Ausnahme von Einzelfällen wie z.B. Expreso Sol de Levante – und abgesehen von den genetivischen Anschlüssen des Typs Espresso del Levante für Inlandszüge der Ferrovie Italiane dello Stato (FS), die keine andere Stellung zulassen würden – generell hin-