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Jg.14/ Nr.2/3 Dezember/Januar 2009/2010

Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft

12. Januar 1910: Erste Verkündigung des Ätherischen Christus Judith von Halles «Erschaffung» des Lazarus Demetrius von Schiller Goethes Wahlverwandtschaften Zum Labyrinth von Chartres 13.– Monatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners € Ein Interview mit Imre Makovecz

Fr. 21.– Fr. Bazillen und Viren Inhalt Das Christus-Ereignis des 20. Jahrhunderts – von Stockholm nach Dornach Vor hundert Jahren: eröffnet in Am 12. Januar 1910 verkündigte Rudolf Steiner in Stockholm vor Mitgliedern Stockholm die Vorträge der Theosophischen Gesellschaft erstmals die Tatsache der nahenden Wie- über die Wiederkunft Christi derkunft Christi im Ätherischen. Zugleich kulminierte in Adyar (Indien) der im Ätherischen 3 christologische Fundamental-Irrtum der führenden Persönlichkeiten der da- Thomas Meyer maligen Theosophischen Gesellschaft: es würde eine physische Wiederkunft Editorial Christi bevorstehen, und sein Werkzeug sei der junge Hinduknabe Krishna- Die Frage nach Wundern und murti. Wie Bild und Gegenbild stehen sich die beiden damaligen Christus- solchen, die nicht sein können ... 11 Verkündigungen gegenüber. Diesen Vorgängen und ihrer Nachwirkung bis in Zum Buch von Judith von Halle über Lazarus die heutige Zeit ist der Leitartikel dieser Nummer gewidmet (S. 3ff). Mieke Mosmuller Ist dieses Christus-Ereignis ganz unbemerkt geblieben? Gab es Menschen, Was geschieht, wenn wir einen die von ihm berührt wurden und die sich darüber geäußert haben? Stein hochheben? 12 Und wie sind die Christus-Offenbarungen zu bewerten, die sich gegenwär- Aus dem Nachlass von Gustav Kull tig durch die Person Judith von Halles kundgeben? In Bezug auf die letztere Christoph Podak Frage sahen wir uns genötigt, aufgrund der in dieser Zeitschrift vertretenen geisteswissenschaftlichen Richtung eine Reihe von sachlich-kritischen Ge- Schillers Freiheitsimpuls und sichtspunkten geltend zu machen, da die Anhänger dieser neuen Offenba- Christustendenz 14 rungsströmung ihr ähnlich unkritisch gegenüberzustehen scheinen wie die Gedanken zum 250. Geburtstag (Teil 2) damaligen Mitglieder des um Krishnamurti gebildeten Ordens «Der Stern des Gerald Brei

Ostens» diesem Sonderorden gegenüberstanden. Wir können dem neuen Karma-Erwachen bei Goethe – «Stern des Westens» den Rang geisteswissenschaftlicher Forschung nicht zu- vor 200 Jahren: erkennen und begründen konkret, weshalb und inwiefern er den Geistessu- Die Wahlverwandtschaften 19 cher vielmehr auf mystisch-visionäre Irrwege führt. Marcus Schneider Die niederländische Ärztin, Anthroposophin und Schriftstellerin Mieke Mosmuller untersuchte für uns von Halles Buch über die drei Johannes und Zum Labyrinth der zeigt auf, dass deren Darstellung der Auferweckung des Lazarus nicht nur zu Kathedrale von Chartres 22 Rudolf Steiners Äußerungen, sondern auch zu den Forderungen des ganz ge- Dr. Horst Peters wöhnlichen gesunden Menschenverstands im Widerspruch steht. Albertus Magnus 29 Weder mein eigener Beitrag noch der Mosmullers sind jedoch gegen die Der Impuls der 33 Jahre und das Jahr ’48 Person von Halles und ihr Recht, ihre Erlebnisse öffentlich vorzutragen, ge- im Verlauf der Jahrhunderte in Mitteleuropa richtet. Und wir haben auch keineswegs vor, von Halles Offenbarungen oder Franz-Jürgen Römmeler die Aktivitäten ihrer Anhänger zu einem Dauerthema im Europäer zu ma- chen. Doch aus Anlass der ersten Verkündigung des ätherischen Christuser- Carl Gustav Carus 32 eignisses in Stockholm glauben wir, eine exemplarische Ausnahme von die- Barbara Steinmann ser künftigen Regel machen zu sollen. «Ich möchte etwas Lebendiges Wir sind außerdem mit Rudolf Steiner der Auffassung, dass Irrtümer, ein- machen» 39 mal erkannt, sogar zu wichtigen Toren für ein tieferes Erfassen der Wahrheit Interview mit dem ungarischen Architekten werden können. Dies kann etwa an der späteren Entwicklung Krishnamurtis Imre Makovecz abgelesen werden. Christian Glaser und Thomas Meyer Die christologisch-geisteswissenschaftliche Thematik, mit der das Heft er- öffnet wird, macht dann einer Reihe von anderen, nicht weniger gewichti- Im Gedenken an Marianne gen Themen Platz, die gerade zur Weihnachtszeit Beachtung verdienen: Schenker und Eduard Najlepszy 44 Maria Scherak und Thomas Meyer Horst Peters führt uns in die Geheimnisse des Labyrinths von Chartres ein, Franz-Jürgen Römmeler stellt die Bedeutung von Albertus Magnus für den Vom Leben mit Novalis 47 Bau des Kölner Doms dar, Gerald Brei leuchtet in die fast unauslotbaren Zu einer Dichtung von Wilfried Hammacher Tiefen des Schillerschen Demetrius, und Marcus Schneider zeigt den Karma- Branko Ljubic gedanken in Goethes Wahlverwandtschaften auf. Aber noch andere, hier nicht genannte Themen und Motive bleiben in dieser Nummer zu entdecken. So Bazillen und Viren 49 etwa Boris Bernsteins Betrachtungen über das Fehlen echter Vorbilder für die Dr. med. Olaf Koob

heutige Jugend oder Barbara Steinmanns weit ausgreifende Carus-Studie.* Apropos 59: Eine goldene Nase, ᮣ Schluss auf Seite 48 der tote Esel und der Banker 51 Boris Bernstein * Der Artikel über Friedrich Eckstein musste aus Platzgründen abermals verschoben werden; er wird definitiv im Februar-Heft erscheinen. «Die Mitte Europas ist ein Mysterienraum. Er verlangt von der Menschheit, dass sie sich dementsprechend verhalte. Der Weg der Kulturperiode, in welcher wir leben, führt der Kulturperiode, vom Westen verhalte. Der Weg ist ein Mysterienraum. Er verlangt von der Menschheit, dass sie sich dementsprechend «Die Mitte Europas diesem Gange nach dem Osten, sie können sich auf Alle alten Kräfte verlieren kommend, nach dem Osten sich wendend, über diesen Raum. Da muss Altes metamorphosieren. gehen aus ihnen hervor. sie zu Zerstörungskräften; Katastrophen sie es doch tun, so werden diesen Raum, ohne sich aus dem Geiste zu erneuern, Wollen durch nicht weiterschreiten. darf was heilsam weiterschreiten dem Osten hin.» Ludwig Polzer-Hoditz nach In diesem Raum muss aus Menschenerkenntnis, Menschenliebe und Menschenmut das erst werden, Leserbriefe und Impressum 55

Die nächste Nummer erscheint Ende Januar 2010 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Illusion und Mut zur Wahrheit

Vor hundert Jahren: Rudolf Steiner eröffnet in Stockholm die Vorträge über die Wiederkunft Christi im Ätherischen Wer zu feig ist, um zu irren, der kann kein Kämpfer für die Wahrheit sein. Rudolf Steiner

m 12. Januar 2010 werden auf den Tag genau hun- Steiners Lebensgang von Ch. Lindenberg zu entneh- 2 A dert Jahre verflossen sein, seitdem Rudolf Steiner men ist. zum ersten Mal vor Mitgliedern der damaligen Theoso- Von dieser ersten Verkündigung des bevorstehen- phischen Gesellschaft auf die Tatsache des baldigen den wichtigsten Ereignisses des 20. Jahrhunderts gibt Wiedererscheinens Christi im Ätherischen hingewiesen es nur einige, bisher unveröffentlichte Notizen von der hatte. Ort und genauer Zeitpunkt dieser Verkündigung Hand von Marie von Sivers. Mit freundlicher Erlaubnis sind bemerkenswert. Sie geschah in Stockholm, wäh- der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung veröffentlichen 3 rend einer Vortragsreihe über das Johannes-Evangelium, wir erstmals die maschinengeschriebene Abschrift war aber offensichtlich nicht, wie dieser inzwischen dieser sehr knappen Notizen sowie die erste Seite von publizierte Zyklus1, vorgesehen. Daher die ungewöhn- Marie von Sivers’ handschriftlichen 3-seitigen Aufzeich- liche Zeit: 17 Uhr 30 nachmittags, wie der Chronik zu nungen:

3000 vor Christus fing Kali Yuga an, dauerte bis 1899 Übergangszeit 1933 – werden die Menschen wieder auftreten mit hell- seherischen Fähigkeiten, die sie auf natürliche Weise entwickeln werden. In dem Zeitpunkte, dem wir entgegengehen, müssen die beginnenden hellseherischen Fähigkeiten befriedigt werden, erfahren, was sie [die Menschen] damit anfangen sollen. Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt. In ätherischer Gestalt wird Christus erscheinen. Der physische Christus ist zum Geist unserer Erde geworden – das war der Mittelpunkt, das Hypomochlion, der Erd- entwicklung. 5 Sendschreiben der Ap[okalypse] 4: Ich werde kommen, aber gebet acht, dass ihr mich nicht wieder erkennt. 2500 Jahre hat die Menschheit um die hellseherischen Gaben wieder zu entwickeln. Um 1933 müssen die Evangelien in ihrem spirituellen Sinn so erkannt sein, dass sie für den Christus vorbereitend gewirkt haben. Unendliche Verwirrung der Seele müsste sonst angerichtet werden. Um 1933 wird es manche Abgesandte schwarz magischer Schulen geben, welche in falscher Weise einen physischen Christus verkünden werden. Der Christus ist jedes Mal, wenn er wahrnehmbar werden soll, für andere Fähigkeiten wahrnehmbar.

Die Notizen Marie von Sivers’ vom 12. Januar 1910. Abgebildet ist die erste Seite der handschriftlichen Notiz in Originalgrösse.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 3 Illusion und Mut zur Wahrheit

In Stockholm weist Steiner also drei Mal auf das Jahr Budapester Kongress von 1909 immer stärker. Maßgeb- 1933 als den Zeitpunkt dieser sich von da an über lich dafür war auch das Wirken von Charles Leadbeater, mehrere Jahre abspielenden geistigen Wiedererschei- einer mit okkult-psychischen Fähigkeiten arbeitenden nung Christi hin. In späteren Vorträgen (siehe GA 118) Persönlichkeit im unmittelbaren Umkreis von Besant. werden auch die Jahre 1930 bis 1934 genannt. Noch in der ersten Auflage seines Werkes Die Theosophie Diese Stockholmer Ansprache eröffnet die große Reihe macht Steiner anerkennende Hinweise auf Schriften der Vorträge zum gleichen Thema, welche sich durch das von Besant wie auch von Leadbeater. Annie Besant riet Jahr 1910 ziehen. Im August dieses Jahres kommt es so- er aber eindringlich zur Ausbildung von mentalen Fä- gar in dramatischer Form auf die Bühne: Im ersten Mys- higkeiten wie des sinnlichkeitsfreien Denkens, an dem teriendrama Die Pforte der Einweihung spricht die Seherin es ihr mangelte. Theodora von der nahenden Wiederkunft Christi im Im Jahre 1909 entdeckte nun Leadbeater in Indien Ätherischen und weist auch auf einen Lehrer dieses Er- den Knaben Krishnamurti (*um 1895), an dessen Aura eignisses hin, der unabhängig von Benedictus, dem Geis- er eine Persönlichkeit von außerordentlicher geistiger teslehrer des im Drama gezeigten Schülerkreises, wirkt. Größe zu erkennen meinte. Es dauerte nicht lange, und Was lag hier vor, dass Rudolf Steiner, als damaliger es stand für ihn fest: Dieser Hinduknabe war vom «Lord Generalsekretär der deutschen Sektion der TG gänzlich Maitreya» zu seinem irdischen Vehikel ausersehen. überraschend vor dem achten Abendvortrag des Stock- Am 10. Januar 1910 begann die von Leadbeater gelei- holmer Johannes-Zyklus, zu einem ganz ungewöhnli- tete Einweihung Krishnamurtis. Die beiden ließen sich chen Zeitpunkt und wie improvisiert, die Tatsache des in Mrs. Besants Schlafzimmer in Adyar einschließen, Wiedererscheinens Christi in ätherischer Gestalt in die während Besant selbst die Zeremonie astraliter aus der theosophische Hörerschaft stellte? Ferne mitzuverfolgen beabsichtigte. Leadbeater legte sich auf den Boden, während Krishnamurti auf Mrs. Eine spirituelle Ausgleichstat Besants Bett lag. Nun begann die Astralreise zum «Hau- Die Antwort ergibt sich nur indirekt. Um sie zu finden, se des Meisters» (Kuthumi genannt), der Krishnamurtis muss der Blick auf die damalige Situation in der ge- Einweihung nun übernahm und ihn zum Hause des samten Theosophischen Gesellschaft gerichtet werden. Lord Maitreya geleitete, in dem sich noch viele andere Nach anfänglich harmonischem Zusammenwirken mit Meister befanden. deren Präsidentin Annie Besant, gingen Besants und Nach Krishnamurtis eigenen Aufzeichnungen, «wand- Steiners Geisteswege seit 1907 mehr und mehr ausei- te sich der Maitreya in Richtung Shamballah und rief: nander. Und zwar schieden sich diese Wege an der Fra- ‹Tue ich dies, o Herr, des Lebens und des Lichtes, in dei- ge nach der Wesenheit Christi und der Bedeutung des nem Namen und für dich?› Und sogleich zog sich der Mysteriums von Golgatha. Während Steiner neben der große Silberstern über sein Haupt empor (...) Und der welthistorischen Bedeutung der Tat auf Golgatha auch Lord Maitreya rief mich und nannte mich beim wahren die Bedeutung Buddhas und der ein Namen meines Ich und legte mir die Buddhadasein vorbereitenden zwölf Hand auf den Kopf und sagte: ‹Im Bodhisattvas voll zu würdigen im- Namen des Einen Initiators, dessen stande war, brachte es die mehr und Stern über uns erstrahlt, nehme ich mehr von orientalischen Strömun- dich in die Bruderschaft des Ewigen gen beeinflusste Besant nicht zu ei- Lebens auf; sorge dafür, dass du ein ner entsprechenden Anerkennung würdiges und nützliches Mitglied der Mission Christi. Ja, die Begriffe bist. Du bist nun für immer in Si- von Christus und der Bodhisattvas, cherheit, denn du hast den Strom ja sogar des kommenden Buddha betreten; mögest du bald das andere (Maitreya-Buddha) flossen bei ihr Ufer erreichen.»5 zunehmend ineinander. Dazu kam Diese Einweihungs-Zeremonie dau- die immer stärker werdende Ten- erte drei Tage und endete am 12. Ja- denz, eine physische Wiederverkör- nuar. An diesem selben Tage schrieb perung dieser auch «Christus» ge- Besant an Leadbeater, gleichsam als nannten kommenden Buddhawe- Resumé der von ihr aus der Ferne senheit anzunehmen und zu erwar- mitverfolgten Phantasmagorie, denn ten. Diese Tendenz wurde nach dem Einweihung kann so etwas im wah- R. Steiner, Christuskopf, 1915

4 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Illusion und Mut zur Wahrheit ren Sinne natürlich nicht genannt fender Art aus den Einleitungswor- werden*: «Es steht also endgültig fest, ten hervor, die er an den Beginn dass der Lord Maitreya den Körper die- des Haager Vortragszyklus (GA 145) ses lieben Kindes in Besitz nehmen Welche Bedeutung hat die okkulte Ent- wird.» wickelung des Menschen für seine Hül- Mit diesem Satz machte die Präsi- len (physischer Leib, Ätherleib, Astral- dentin der Theosophischen Gesell- leib) und sein Selbst? stellte.6 schaft die falsche Auffassung einer Es war dies der erste Vortragszyklus physischen Wiederkunft des «Mai- vor Mitgliedern der neu begründe- treya-Christus» zum «endgültigen» ten Anthroposophischen Gesell- Dogma für die gesamte TG. Das war schaft. Man muss ihn auf dem Hin- ein gewisser Tief- oder Endpunkt in tergrund der in der theosophischen der bei Steiner jahrelang beobachte- C.W. Leadbeater, Annie Besant und Zeit durchlebten Erfahrungen und ten spirituellen Fehlentwicklung. Krishnamurti gesammelten Erkenntnisse betrach- In irgendeiner – wohl okkulten – ten: Er enthält eine grandiose Dia- Form muss Rudolf Steiner von diesem Schlusskommen- gnostik spiritueller Illusionen und Abwege und gibt tar Besants vom 12. Januar 1910 zur dreitägigen Phan- zugleich die geistigen Therapiemittel an, um entspre- tasmagorie «benachrichtigt» worden sein. chende Fehlentwicklungen innerhalb der Anthropo- Er schritt unverzüglich zur geistigen Ausgleichstat sophischen Gesellschaft zu vermeiden. Zum diagnosti- und wies noch am selben Tag die seine Vortragsreihe schen Teil gehören die Hinweise auf die Schwierigkeit, über das Johannes-Evangelium besuchenden Theoso- geistiges Streben von persönlichen Eitelkeiten, Ambitio- phen in Stockholm auf die Wahrheit von der ätherischen nen oder Unwahrhaftigkeiten frei zu halten, was ohne Wiederkunft Christi hin. Rudolf Steiner scheint weder den Willen zu rückhaltloser Selbsterkenntnis kaum zu damals noch später auf den indischen Veranlassungs- leisten ist. Zu viele Imaginationen oder Inspirationen grund seiner unangekündigten Aufklärung über das waren in der theosophischen Phase von solchen subjek- ätherische Ereignis aufmerksam gemacht zu haben. Dies tiven Elementen immer stärker durchsetzt worden. Je- hätte wohl sofort zu einer heftigen Polemik innerhalb der Theosoph, der etwas auf sich hielt, musste «Meister- der Gesellschaft führen müssen. erscheinungen» oder «okkulte Phänomene» vorweisen Bekanntlich folgte dann Ende 1911 die Bildung des können. Aus diesem Grunde traten Rudolf Steiners Aus- diese falsche Christus-Verkörperung fördernden Ordens führungen über die «Meister der Weisheit und des Zu- des «Sterns des Ostens», den der deutsche Generalsekre- sammenklanges der Empfindungen» immer mehr in tär naturgemäß nicht in seiner Sektion anerkennen den Hintergrund, schon während seines Wirkens inner- konnte, was 1912/13 schließlich zum Hinauswurf der halb der TG. Dazu war eine wild und uferlos gewordene von Steiner geleiteten Deutschen Sektion aus der TG Karma-«Forschung» getreten.7 Es war ein wahrer Abusus führte. mit solchen «Erlebnissen» und «Forschungen» getrie- Ein erstaunliches, zunächst rätselhaftes Phänomen ben worden. Aus solchen Gründen stellte Steiner im ist, welche Persönlichkeiten auf diese geistige Phantas- Haager Zyklus gewissermaßen eine Reihe von paradig- magorie hereinfielen. Nicht zuletzt der um die Implan- matischen Muster-Imaginationen hin, an denen sich jeder tation des Sternenordens in der Deutschen Sektion be- von der «Sternen-Ansteckung» frei gebliebene Geistes- mühte Wilhelm Hübbe-Schleiden, einer der frühesten, schüler zu einem unpersönlich-objektiven Erkennen tatkräftigsten Mitarbeiter Steiners in der Deutschen Sek- erziehen konnte. Diese Imaginationen betrafen keine tion. In kürzester Zeit vermehrte sich der internationale mehr oder weniger persönlichen, sondern restlos all- Mitgliederkreis des Sternenordens. Die Spaltung inner- gemein-menschliche Angelegenheiten und Tatsachen: halb der TG war unaufhaltbar. Steiner baut sorgfältig je eine Imagination über die We- senheit und die spirituelle Entwicklungsgeschichte des Wahre und falsche Imaginationen wahren physischen Leibes, des Ätherleibs, des Astrallei- Rudolf Steiner erlebte die Trennung von der TG nicht bes und des Ich auf. Bei dieser Gelegenheit macht er im nur als Tragik, sondern auch als eine wahre Befreiung Kontrast dazu darauf aufmerksam, dass von Persönli- von jahrelang tolerierten Illusionen. Dies geht in ergrei- chem durchsetzte Imaginationen zwei Wirkungen ent- falten: 1. Sie wirken ansteckend. 2. Die von Ansteckung * Näheres in Die Bodhisattvafrage, siehe Anm. 5 Befallenen werden das Opfer einer Paralyse des ge-

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 5 Illusion und Mut zur Wahrheit sunden Menschenverstandes. Wörtlich sagt Steiner im zweitletzten Vortrag vom 28. März 1913: «Nehmen wir aber an, es kommt in der hellsichtigen Entwickelung in der geschilderten Weise zu unrichtigen Imaginationen, dann wirken diese unrichtigen Imagi- nationen in einer gewissen Weise seelisch ansteckend.» Und nun folgt die einschneidende Präzisierung, wie sie ansteckend wirken: «Sie stecken so an, dass sie gerade den gesunden Menschenverstand und die Intellektuali- tät auslöschen. Sie schaden also in einem ganz anderen Maße als die bloß intellektuellen Torheiten. Wenn man daher versucht, alles das, was auf dem Felde des Okkul- tismus gewonnen wird, zu durchdringen mit den For- men des gewöhnlichen Menschenverstandes, so tut man recht. Wenn man die Imaginationen ohne weiteres gibt und sie nicht in dieser Weise zu rechtfertigen sucht (...), dann übertölpelt man gerade dasjenige im anderen, was sich regen sollte zur Zurückweisung solcher Imaginatio- nen.» (GA 145) Solche ansteckenden Imaginationen sind trotz dieser prinzipiell-klärenden Haager Initial-Ausführungen spä- ter auch innerhalb der Anthroposophischen Gesell- schaft und Bewegung immer wieder aufgetreten. Man denke an die Mystizismen um Valentin Tomberg und dessen (für andere Rudolf Steiners) angebliche Bodhisatt- Rudolf Steiner, 1910 vaschaft, an die Offenbarungen des «Trösters» oder an allerlei angebliche Wiederverkörperungen von Schülern Meister Eckhart nimmt, dann hat man so etwas von ei- Steiners oder gar von Steiner selbst. Gegen die Möglich- nem Geruch, wie etwa die Rautepflanze riecht, einen keit von jetzt auftretenden wirklichen Wiederverkörpe- herben, aber nicht unsympathischen Geruch.» rungen Steiners oder von Schülern aus seinem Umkreis Und prinzipiell die beiden Wege (nach außen durch ist damit gar nichts gesagt. die höheren Sinne und nach innen durch die niederen Sinne) charakterisierend sagt Steiner: «Kurz, das Frap- Geisteswissenschaft und Mystik – ein methodischer pierende (...) besteht darin, dass, wenn man sich durch Unterschied die Sinne nach außen entfernt, man in eine höhere Welt Den Unterschied dieser zwei radikal verschiedenen We- hineinkommt, in eine objektive geistige Welt. Wenn ge, die aus dem gewöhnlichen Sinnesbewusstsein he- man hinuntersteigt durch Mystik (...) dann kommt man rausführen, machte Rudolf Steiner im Vortrag vom 8. in Körperlichkeit, in Materialität hinein (...) Beim inne- August 1920 (GA 199) in größter Klarheit deutlich: Die ren Erleben kommt man (...) immer in niedrigere Regio- höheren geisteswissenschaftlichen Erkenntnisinstru- nen hinein als diejenigen, die man schon im gewöhnli- mente der Imagination, Inspiration und Intuition kön- chen Leben hat. (...) Die Mystik ist durchaus ein Produkt nen als Umwandlungsprodukte der vergeistigten Funk- der materiellen, physischen Welt, sie ist nämlich die tionen gewisser höherer der insgesamt 12 Sinne des Art, wie Menschen in die geistige Welt eindringen wol- Menschen verstanden werden. Insbesondere kommen len, die eigentlich materialistisch bleiben, indem sie hier der Sehsinn (Imagination), der Hörsinn (Inspirati- das, was hier ist, erst recht als Materie ansehen.» Und on), der Begriffs- und der Ichsinn (Intuition) in Betracht. über die Riech-Mystiker heißt es: «Ja, sie sind manchmal Aus der Vergeistigung der «unteren» Sinne andererseits arge Materialisten, sie verdammen die Materie, sie wol- (deren Spektrum vom Lebenssinn bis zum Geruchssinn len sich über die Materie erheben, weil die Materie reicht) quellen die Erlebnisse der klassischen Mystiker etwas so Niedriges ist, und sie erheben sich über die und ihrer modernen Nachfolger. Insbesondere der um- Materie, indem sie sich innerlich wohlgefällig den gewandelte Geruchssinn spielt bei Mystikern eine pro- Wirkungen des Geruchssinnes nach innen hingeben.» minente Rolle: «Wenn man die Mystik des Tauler, des (8.8.1920, GA 199)

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Als Beispiel für auf mystischem Wege Gewonnenes Die Nägel wurden auf besondere Weise hergestellt: Ein Na- führt u.a. Steiner «die Beschreibungen der höheren Welt gel enthielt eine größere Menge desjenigen Erzes, das der Ame- in der Esoterik des Islam» sowie die «Beschreibungen rikaner mitgebracht hatte. Der zweite Nagel enthielt eine hö- here Menge des afrikanischen und der dritte eine gegenüber des Devachan vom Herrn Leadbeater» an, in denen nur den anderen erhöhte Menge an indischem Erz. Genau diese «Doubletten der physischen Welt» geboten werden. Nägel wurden drei Jahre später von den Söldnern gegriffen, Etwas ganz Ähnliches aber kann gegenwärtig von wie zufällig – sie wussten nichts von der Besonderheit dieser zahlreichen Schilderungen in den Schriften von Judith Nägel –, um Christus ans Kreuz zu schlagen. von Halle gesagt werden.8 Durch das schwarzmagische Ritual war in jene drei Nägel ei- Um dem Leser die Verifizierung dieser Aussage selbst ne soratische Macht eingezogen, die bewirken wollte, dass der Gott Christus im menschlichen Jesusleibe nicht in den Tod, zu überlassen, zitieren wir einen längeren zusammen- das heißt also in seine Erdengeburt eingehen und damit nicht hängenden Text, in dem gerade die Geruchserlebnisse die Erlösung der Menschheit einleiten könne, sondern im Je- von zentraler Bedeutung sind. susleib am Kreuzesholz verhaftet bleiben müsse. Er sollte sein göttliches Werk, den Tod zu beleben, nicht erreichen, indem Das Böse riechen oder erkennen? die Nägel den göttlichen Erlösergeist im Fleische des Jesus von Nazareth festhielten, damit er so in den Tod eingehen müsse wie alle Menschen der vorchristlichen Zeit und damit den Ein- Eine Textprobe flüssen Ahrimans anheim fiele. Durch diesen Akt sollte der Einige Wochen nach der Taufe des Herrn trafen sich auf dem Gott, der gekommen war, um für die Menschheit ein Opfer zu Boden Palästinas in einer am Meer gelegenen kleinen Stadt na- bringen, dessen er selber nicht bedurfte, seine Göttlichkeit ver- mens Ascheklon drei Abgesandte der dunklen Geistesmächte – lieren, ja nie wieder sich ausweiten können zu Seiner eigentli- Eingeweihte in die hohen schwarzen Mysterien. Es bleibt rät- chen Herrlichkeit und unbegrenzten Weite. Der Vater sollte selhaft, wie damals an ein und demselben Tage diese drei Men- den Sohn verlieren und damit das Menschengeschlecht. schen aus drei weit voneinander entfernten Regionen der Welt Als der Christus-Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, war der zusammentrafen, inspiriert von jener antichristlichen Macht, Nagel der linken Hand derjenige, der unter besonderem Ein- um einen magischen Akt zu vollziehen: das Schmieden der fluss des Inders stand, welcher von Osten gekommen war. Der Kreuzigungsnägel. Nagel der rechten Hand war der, der unter dem westlichen Der Mensch kann erschaudern vor der Tatsache, wie plan- Einfluss des Amerikaners stand, und der Nagel für die Füße voll jedes Detail des Mysteriums von Golgatha ausgestaltet unterlag dem von Süden kommenden Einfluss des Afrikaners. worden ist – von der einen wie von der anderen Seite her. Die- In drei Himmelsrichtungen sollte der Herr über die Erde im se drei Männer konnten einem erscheinen wie drei unheilige materiellen Sinne ausgespannt werden, so dass sich die Erde Könige, da sie alle aufgrund des bevorstehenden Christus-Er- weiter vermaterialisieren und nicht vergeistigen sollte. eignisses nach Palästina gereist waren, allerdings aus den un- Wir wissen, dass die Liebe-Kraft Christi am Ende größer war heilvollsten Gründen. Einer von ihnen kam aus dem heutigen als die schwarze Magie der Nägel. Es wurde aber in jener Nacht Indien, ein zweiter aus Afrika und der dritte aus Mittelamerika. noch ein vierter Nagel geschmiedet. Er erhielt denselben An- jeder von ihnen brachte zwei Dinge mit nach Palästina: ein teil eines jeden mitgebrachten Erzes. Ich kann nicht sagen, Stück Erz aus der Region, aus der er kam; und die Quintessenz was mit ihm geschah, aber es wurde mit ihm ein Plan für die aller schwarzmagischen Rituale seiner Region. In dem Erz war Zukunft geschmiedet, für die Wiederkehr jener Macht, der die das Ahrimanische eingeschlossen. unheiligen Könige dienten.* In einem unterirdischen Feuerofen verschmolzen sie in je- ner Nacht der Zeitenwende das Erz zu einer Legierung. Es wa- Alter Wein in neuen Schläuchen? ren, aus Palästina kommend, noch drei weitere Personen an- Auf dem von Judith von Halle beschrittenen mysti- wesend, welche Eisen als Grundmaterial mitbrachten. Die drei dunklen Könige brachten ihre Legierungs-Ingre- schen Weg kann also auch das Böse, ja sogar das Böse an dienzien dazu. Daraus wurden die Nägel gegossen. Sie waren sich (!) gerochen werden, sogar mit einem «besonderen dreikantig – gleichsam gegen das Trinitarische gerichtet –, und Organ». Wie stellt sich der Schüler der Geisteswissen- ihre Kappe war beabsichtigterweise nicht ganz symmetrisch schaft zum Phänomen des Bösen, mit dem wir die ganze rund. Während des Herstellungsvorganges ließen sie – dies war weitere fünfte Kulturepoche konfrontiert bleiben wer- damals möglich – ihre satanischen Kräfte in das flüssige Erz hi- den. Er muss es durch Imagination, Inspiration und In- neinfließen. Es war, als würden die Worte selbst flüssig. Und tuition immer klarer und sicherer erkennen lernen! Dazu als diese flüssigen Formeln in das Erz drangen, stieg ein bei- ßender Qualm empor. Man konnte das Böse riechen. So be- hilft ihm kein noch so hervorragend ausgebildetes besonderes fremdlich es klingen mag – es ist doch möglich, das Böse zu riechen Geruchsorgan. mit einem besonderen Organ. Es riecht nicht wie irgend etwas Ma- terielles, da es nicht an einen materiellen Träger gebunden ist. Man riecht – so wie man etwas sehen oder hören kann auf eine differen- * Judith von Halle, «Das Christliche aus dem Holz heraus- zierte Weise – das Böse an sich. Diese übel riechenden Worte wur- schlagen ...» – Rudolf Steiner, und die Christus-Plastik, den in dem erhärtenden Metall materiell. Dornach 2007, S. 48ff. Kursiv durch den Autor.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 7 Illusion und Mut zur Wahrheit

Natürlich kann man sich mit dem mystischen Zu- Würden die beiden Strömungen, ohne sich zu behin- gang zum Bösen begnügen. Das ist jedem freigestellt. dern, ruhig nebeneinander laufen, wäre alles in bester Diesen Zugang aber für einen besonders hohen, ja sogar Ordnung. für einen auf geisteswissenschaftlichem Weg zu finden- Aber die von-Halle-Bewegung, zu der ja auch zahl- den zu postulieren, ist objektiv unhaltbar. Die von J. reiche Mitglieder der AAG gehören, verlangt mit ihren von Halle mitgeteilten Inhalte unterscheiden sich ihrer neuen «Hübbe-Schleidens» geradezu, mit der anthropo- Herkunft nach, insofern ihnen die oben charakterisierte sophisch-geisteswissenschaftlichen Bewegung vermischt subjektiv-mystische Erlebnisform zugrunde liegt, nur zu werden. Das ist sachlich einfach nicht möglich. Es unwesentlich von den Erlebnissen der führenden Theo- mangels Unterscheidungsvermögen dennoch anzustre- sophen, welche den Krishnamurti-Popanz aufbauten. ben heißt, Verwirrung, Katastrophen und notwendige Die Bezugnahme auf die Geisteswissenschaft ist neue Spaltungen hervorzurufen. nur eine äußerliche. Das Einflechten von geisteswissen- Das zeigt die Vorgeschichte der späteren Spaltungen schaftlichen Begriffen in vielen ihrer Schriften kann in der TG, die auf ganz ähnlichen Vermischungen be- über den methodisch ganz anderen und ins Subjektiv- ruhte, auf das allerdeutlichste. Unsichere führenden Weg, auf dem die Offenbarungs- inhalte gewonnen wurden, nicht hinwegtäuschen. Wie jeder sonstige Mensch, so besitzen natürlich auch Wenn Judith von Halle ihre Offenbarungen vor ei- die Mitglieder spiritueller Bewegungen das Recht und nem interessierten Publikum ausbreitet, dann ist daran die Freiheit, aus vergangenen Fehlern – nichts zu lernen. natürlich nicht das Geringste auszusetzen. Innerhalb der AAG jedenfalls ist nicht viel – wenn Wenn aber der Anschein erweckt werden soll, dass das nicht noch erheblich übertrieben ist – aus den Kata- Ihre «Forschungen» geisteswissenschaftlichen Charak- strophen der Gesellschaftsentwicklung nach Steiners ter tragen, wie das vor allem ihre Anhänger versuchen, Tod gelernt worden. und die Forschungen Rudolf Steiners zu ergänzen oder Es ist daher wohl kein Zufall, dass hundert Jahre nach gar zu erweitern vermögen, so ist das der Versuch, alten den Adyar-Absurditäten von 1910 nunmehr auch noch mystisch-visionären Wein in Schläuchen mit der Auf- die Fehlentwicklungen innerhalb der alten TG in die Bestre- schrift «Geisteswissenschaft» zu präsentieren. bungen der AAG hineinspielen; diese hätte einfach die Nicht gegen von Halles Person oder ihr absolutes anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu Recht, die Ergebnisse ihrer mystisch-visionären Schau- pflegen und zu vertreten und sonst nichts, auch nicht in ungen – sie selbst betont sogar, dass es sich bei ihr nicht Form einer «Gruppe auf sachlichem Feld». Es gibt eben um «Imaginationen» handle, die eben nur durch Um- kein gemeinsames «sachliches Feld» zwischen visionärer wandlungen eines der höheren Sinne zu gewinnen sind – Mystik und Geisteswissenschaft. Eine Anerkennung ei- sind diese Zeilen gerichtet, sondern gegen die Vermen- ner mystischen Strömung innerhalb der geisteswissen- gung von Geisteswissenschaft und visionärer Mystik der schaftlichen wäre der (aus sachlichen Gründen) nicht einen oder anderen Spielart. erfolgten Aufnahme des Sternenordens in die deutsche Sektion der TG vergleichbar. Rudolf Steiner lehnte eine Renaissance theosophischer Untugenden inner- derartige Vermischung zu Recht ab. Aber die heutige halb der AAG? anthroposophische Gesellschaft wird eben, trotz allerlei Die um von Halle, ihre Stigmata und Offenbarungen gegenteiligen «geistigen» Auffassungen hierüber, – nicht entbrannten Kontroversen erinnern an den damaligen von Rudolf Steiner geleitet, und wie die hier skizzierten Kampf um die Akzeptanz des «Stern des Ostens» inner- Tatsachen zeigen, offenbar auch nicht unbedingt im Sin- halb der TG. Mit einem beträchtlichen, bedenklich ne der methodischen Prinzipien der Geisteswissenschaft. stimmenden Unterschied. Der Generalsekretär der Deutschen Sektion der TG lehnte die Integration des Die neue Christus-Offenbarung und die Ätheraura «Sterns des Ostens» in die deutsche Sektion der TG ab; des Nordens die heutige Leitung der AAG nahm die Selbsternen- Dass die erste Offenbarung Steiners über das neue Chris- nung der Halle-Gruppe zu «einer Gruppe auf sachli- tus-Wirken gerade in Schweden stattfand, hängt, wenn chem Feld innerhalb der Allgemeinen Anthroposo- es nicht als Zufall betrachtet werden soll, wohl auch mit phischen Gesellschaft» zur Kenntnis, was einer An- tieferen, äther-geographischen Eigentümlichkeiten des erkennung der mit der Geisteswissenschaft Rudolf Nordens zusammen. Hier gab Steiner, ebenfalls im Jahre Steiners methodisch vollkommen inkompatiblen Be- 1910, auch den großen Volksseelenzyklus (Oslo, GA 121), wegung gleichkommt. und 1913 eröffnete er in Oslo den Zyklus über Das Fünf-

8 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Illusion und Mut zur Wahrheit te Evangelium (GA 148), um nur ein Etwa in der Entwicklung der TG paar markante Beispiele zu nennen. selbst, deren spirituelle Fehlent- In den skandinavischen Ländern wicklung die Christus-Ansprache in wirkte noch ältere Hellsichtigkeit Stockholm ja veranlasst hatte? lange nach, andererseits war auch ei- Hier ist in der Tat auf Bemerkenswer- ne Empfänglichkeit für das künftige tes hinzuweisen. Krishnamurti, das Weiterwirken des christlichen Im- unschuldige Opferlamm der theo- pulses verbreitet, wie zum Beispiel sophisch-materialistischen Christus- an der Gestalt des Baldur aus der Illusionen, befreite sich in der Zeit nordischen Mythologie festzustellen nach Steiners Tod – und nach dem ist. War Schweden rein zufällig das Tod seines ihm nahe verbundenen Land, das einen Swedenborg hervor- Bruders Nitya im November 1925 – gebracht hat, später einen Strind- mehr und mehr von der lähmenden berg, der sich am Ende seines Lebens pseudo-spirituellen Indoktrinierung zur Anerkennung der theosophi- Krishnamurti in Brockwood Park, um 1984 durch seine Lehrer und Anhänger. schen Grundwahrheiten und der Im Jahre 1928 warf er eines Tages die Reinkarnation durchrang? Ist es ein Zufall, dass eine für ihm zugedachte Rolle als «Weltlehrer» fort, löste den die geisteswissenschaftliche Bewegung so wichtige Per- «Sternen-Orden» zum Entsetzen seiner Verehrer auf, ver- sönlichkeit wie Eliza von Moltke mit ihrer grandiosen, abschiedete sich von Geld und Gut und erklärte, die vernunftgetragenen Offenheit für die Realität der Welt Wahrheit ließe sich nicht organisieren. Damit setzte er des Geistes und der Verstorbenen aus Schweden stamm- dem um und mit ihm aufgebauten Popanz selbst ein En- te und dass sie auch ihren für die Weltgeschicke Europas de. Niemand konnte auf diesen Orden weitere illusionä- so bedeutenden Gatten in Schweden kennen lernte? re Hoffnungen setzen. Nie mehr sprach er von Meistern, Oder dass Barbro Karlén in ihrem, im Alter von 12 Jah- dem Lord Maitreya und sonstigen Elementen der um ren geschriebenen Buch Eine Weile im Blumenreich9 poe- ihn gewobenen falschen Imaginationen. Er richtete sich tische Schilderungen gibt, die nur aus vorgeburtlichen gerade an den gesunden Menschenverstand und ver- Begegnungen mit dem ätherischen Christus verständ- suchte nach seiner eigenen Befreiung andere von geisti- lich werden können? Und wo sind die ersten syste- gen und äußeren Autoritäten frei zu machen. matisch gesammelten Berichte über Begegnungen mit Annie Besant trug den Schlag, den ihr die Auflösung Christus im 20. Jahrhundert gesammelt und herausge- des «Christus-Ordens» versetzte, in tiefer Trauer, aber geben worden? Im Schweden der 70er Jahre.10 mit Fassung, ja sogar einer gewissen Würde. Sie be- Hier im Norden scheint eine, wenn auch heute von schloss ihr Leben in Indien und starb dort – im Jahre anderen Elementen durchzogene, Ätheraura zu walten, 1933, dem Jahre, in dem nach der Stockholmer Anspra- welche in besonderem Maße eine spirituelle Offenheit che das ätherische Ereignis in Kraft zu treten beginne, fördert und die auch für das Erleben der neuen Christus- und zwar für Lebende wie Verstorbene, wie Steiner im- Geistigkeit besonders günstig ist. So war nicht nur der mer wieder betonte. Annie Besants beginnende nacht- Zeitpunkt der ersten Christus-Offenbarung Steiners kein odliche Rückschau fiel also in die Zeit des beginnenden beliebiger, sondern auch der Ort nicht, wo sie statt- neuen Christuswirkens. gefunden hatte. Und Krishnamurti selbst? In einem Interview in den 30er Jahren machte er fast beiläufig einmal eine be- Entwicklungen achtenswerte Äußerung. Er sprach von «jenem, der viel Der Christus-Impuls ist der tiefste Entwicklungsimpuls größer als wir alle, durch Golgatha geschritten ist!»11 im Menschenwerden. Auch Menschen, die sich zunächst den allerstärksten Am 12. Januar 1910 wies Steiner auf die erneute, Irrtümern über den wahren Christusimpuls und über spirituelle Wirksamkeit des im Ätherischen wiederkom- die wirkliche Gestalt seiner Wiederkunft machten, menden Christus hin, und das heißt, auf eine Verstär- konnten in ihrer eigenen irdischen oder nachtodlichen kung des christlichen Entwicklungsimpulses. spirituellen Entwicklung gerade durch diesen Impuls Finden wir Zeugnisse des Wirksamwerdens dieses er- weiterkommen. neuerten Christuswirkens? Oder zumindest kleine Hin- Auch wenn die spirituellen Fehlentwicklungen in weise? Hat es Entwicklungen gegeben, die in seinem der TG die Entstehung der Anthroposophischen Gesell- Sinne verlaufen sind? schaft nötig machten – etwas hat die spätere TG der An-

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 9 Illusion und Mut zur Wahrheit throposophischen Gesellschaft voraus: Ihre Mitglieder 1 Das Johannes-Evangelium, zehn Vorträge, gehalten in Stockholm wurden 1928 mit dem restlosen Ende ihrer schlimmsten im Januar 1910, Nachschrift von Marie Steiner, München christologischen Wiederkunftsillusionen konfrontiert, 2005. in einer Art, dass seither niemand mehr innerhalb der 2 Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner – Eine Chronik, Stuttgart TG auf eine physische Wiederkunft Christi wartet. 1988, S. 289. Ein entsprechendes Aufwachen ist innerhalb der 3 Sie findet sich unter der Archiv-Nummer 2140 in der Rudolf AAG bis heute noch nicht eingetreten. Sieben Jahre Steiner Nachlassverwaltung und füllt eine Tiposkriptseite. Hin- zufügungen des Herausgebers stehen in eckigen Klammern. nach der Auflösung des Sternenordens erfolgten die 4 Hier wird auf das Sendschreiben an die Gemeinde von Sardes Dornacher Ausschlüsse bedeutendster Schüler Rudolf gedeutet, welches nach Steiner unsere Zeit betrifft und dem Steiners und Tausender von Anhängern und Mitar- Sinn nach ganz ähnliche Christusworte enthält. beitern derselben. Man hat sich noch nicht einmal die 5 /Thomas Meyer, Die Bodhisattvafrage, Basel Mühe gemacht, die von diesen folgenreichen Aus- 1989, S. 120ff. schlüssen insgesamt betroffenen Menschen zu zählen 6 Diese Einleitung wie auch die Schlussworte Rudolf Steiners und betrachtet vielmehr die Wiederkunft früherer Schüler sind bisher nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen worden. 7 Leadbeater beispielsweise begann im April 1910 mit dem oder gar solcher Ausgeschlossener innerhalb der heuti- Segen Annie Besants, in der Zeitschrift The Theosophist seine gen AAG vielerorts als etwas geradezu Selbstverständli- Forschungen über die 30 (!) Vorinkarnationen «Alcyones» (= ches. Wirklichkeitsgemäße Konsequenzen aus der Kata- Krishnamurti) zu veröffentlichen, natürlich in Fortsetzungen. strophe von 1935 sind bis heute nicht gezogen worden. Die erste Alcyone-Verkörperung lag 20’000 Jahre vor Christus. Die entsprechenden Desillusionierungs-Entwicklungen 8 Drei Beispiele zu wichtigsten, von Judith von Halle behandel- stehen noch aus. ten Fragen: 1. Christus soll nach ihr vor dem Abendmahl eigenhändig das Osterlamm geschächtet, das heißt nach jüdischer Sitte Durch Irrtum zur Wahrheit rituell geschlachtet haben (was in Jerusalem nur im Tempel Auf sämtliche der in dieser Betrachtung dargestellten vollzogen werden durfte). Siehe dagegen die Ausführungen Fehlentwicklungen und Irrtümer, wie sie in der Ge- von Rudolf Meyer (Die Wiedergewinnung des Johannes-Evan- schichte der theosophisch-anthroposophischen Gesell- geliums, Stuttgart 1966, Seite S. 76), der in begründeter Ab- schaft und Bewegung aufgetreten sind resp. bis heute setzung zu aufzeigt, dass und warum beim Abend- fortleben, soll abschließend ein positives Licht geworfen mahl gar kein Opferlamm vorhanden war. – 2. Lazarus sei von Christus nicht aus einem Einweihungs- werden. Ein Licht, das als im Einklang stehend mit dem schlaf erweckt (wie bei Steiner bereits im Christentum als mys- neuen lebendigen Christuswirken empfunden werden tische Tatsache dargestellt) worden. Er sei wirklich gestorben, könnte. und konnte angeblich nur durch das «Opfer des Ätherleibes» Ein Licht, das uns zeigen kann, dass erkannte Irrtümer des Johannes Zebedäus wieder zu einem lebensfähigen neuen positive Früchte tragen können, ja dass alle wirklich Leib und Leben kommen. Siehe dazu die Buchbesprechung haltbaren Wahrheitsfrüchte aus dem Boden erkannter von Mieke Mosmuller auf Seite 11ff. 3. Die Erzählung von den drei Schwarzmagiern, die in Paläs- Irrtümer hervorsprießen. Niemand kommt zur Wahr- tina drei Nägel schmiedeten, welche, zu den Kreuzigungs- heit, der dem Irrtum feige aus dem Wege geht. nägeln geworden, den Tod und die Auferstehung Christi hät- In einem Vortrag vom 6. Dezember 1918 enthüllte ten verhindern und sogar die Trinität zerspalten sollen: «Der Rudolf Steiner ein wichtiges Gesetz menschlichen Vater sollte den Sohn verlieren und damit das Menschenge- Wahrheitsstrebens: «Sehen Sie, derjenige, der wirklich schlecht». Siehe den Textauszug auf S. 6) denken kann, der weiß etwas, was gar nicht unwichtig Judith von Halle betont zwar immer wieder, ihre Stigmata, an ist: Über alles das, was er richtig denkt, hat er irgend ein- deren Echtheit hier keinerlei Zweifel erhoben werden soll, mö- gen nicht als Beweis oder Garantie für die Wahrheit ihrer Aussa- mal falsch gedacht. Eigentlich weiß man nur dasjenige gen betrachtet werden. Wie weit sie selbst und viele ihrer An- richtig, von dem man die Erfahrung gemacht hat, was es hänger beides aber wirklich auseinander halten, ist eine andere in der Seele bewirkt, wenn man darüber falsch gedacht Frage. Wer dies nicht tut, wird eine kritische Darstellung wie die hat. Aber», fügt er hinzu, «auf solche inneren Entwicke- hier vorgebrachte natürlich von vorneherein ablehnen müssen. lungszustände lassen sich die Menschen nicht gern 9 Barbro Karlén, Eine Weile im Blumenreich, Basel 2. Aufl. 1992. ein.»12 10 Siehe, Sie erlebten Christus, Berichte aus einer Untersuchung des Religionssoziologischen Instituts Stockholm durch Es ist zu hoffen, dass die Zahl derer, die sich auf sol- G. Hillerdal und B. Gustafson, Basel 2. Aufl. 1979. che Entwicklungszustände mutvoll einlassen wollen, 11 Siehe Rom Landau, God is my Adventure, New York 1936, p. 369. heute im Zunehmen begriffen ist. 12 GA 189, Vortrag vom 6. Dezember 1918. – Diese Worte erin- nern an die Worte des Mottos dieser Ausführungen, die sich Thomas Meyer in GA 30 finden.

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Die Frage nach Wundern und solchen, die nicht sein können ... Gedanken zu: Judith von Halle, Vom Mysterium des Lazarus und der drei Johannes. Johannes der Täufer, Johannes der Evangelist, Johannes Zebedäus

udith von Halle hat ihre Gedanken über die drei Johannes in Auf Grund dieser fünf Quellen wird die Erschaffung des JBuchform veröffentlicht.1 Das Buch enthält zwei Vorträge, eine Lazarus-Johannes konstruiert. Man solle sich vorstellen, dass Fragenbeantwortung und einen in Das veröffentlich- Lazarus zuerst drei Tage scheintot gewesen sei, wie es bei ei- ten Aufsatz. ner Einweihung in den Mysterien immer der Fall war. Dann aber sei er wirklich gestorben, und der Leib sei schon vier Ta- Zum Inhalt ge in Verwesung, als der Christus ihn aufruft aufzuerstehen. Ich werde mich auf den Hauptteil des Buches beschränken, Dieser verwesende Leib konnte nicht mehr auferweckt wer- der eine Wiedergabe eines Vortrags ist, der am 24. Juni 2008 den, und es muss ein komplizierter Vorgang stattfinden, um in der Rudolf Steiner Schule in Berlin gehalten wurde. In die- die Auferweckung realisieren zu können. Da der Ätherleib sem Vortrag wird die Auferweckung des Lazarus dargestellt vier Tage nach dem Tod schon in Auflösung begriffen ist, als eine «Erschaffung des Lazarus-Johannes». bringt Johannes Zebedäus das Opfer, dass er seinen Ätherleib Es wird aus fünf Quellen geschöpft. Die erste Quelle wird abgibt an Lazarus. Dieser Ätherleib nun formt in großer im Geleitwort besprochen. Sie ist die Erkenntnisfähigkeit Schnelligkeit einen neuen physischen Leib, der dem des Jo- von Judith von Halle, wie sie sie selbst beschreibt: hannes Zebedäus ähnlich sieht (Judith von Halle konnte das «Die vorliegenden Ausführungen sind aus einem eigenständigen in ihrem Miterleben der Zeitenwende sinnlich anschauen). geistigen Erleben hervorgegangen und enthalten daher keine Hypo- Die Individualität des Lazarus selbst erhält sich vom Astral- thesen oder Spekulationen. […] Das geistige Erleben bezieht sich ei- leib bis zur Verstandes- oder Gemütsseele4. Anna Katharina nerseits auf ein unmittelbares, ja auf ein wie sinnliches Miterleben Emmerich hat gesagt: «Lazarus empfing sieben Gaben des der historischen Ereignisse der Zeitenwende. Dieses hat sich als Heiligen Geistes in der Auferweckung und wurde ganz vom Folge der zu Ostern des Jahres 2004 eingetretenen Stigmatisation Zusammenhang mit dem Irdischen abgetan.» Dies wird von eingestellt. [...] Die andere Quelle … ist eine gänzlich andere, je- Judith von Halle so gedeutet, dass diese sieben Gaben die doch nicht weniger authentische. […] Der Mensch kann Intuitio- sieben Wesensglieder vom Astralleib nach oben bezeichnen. nen von diesen kosmischen Tatsachen haben, wenn sich sein Ich Von der Bewusstseinsseele an aufwärts kam der in der geisti- jenseits der Schwelle gänzlich aus dem Astralischen herauslöst, gen Welt anwesende Johannes der Täufer hinzu. So wäre der sodass er – das heißt sein Ich – in die Objektivität hineinkommt.» neue Lazarus-Johannes erschaffen: Seinen ätherischen Leib Dann werden drei andersgeartete Quellen herangezogen. bekam er von Johannes Zebedäus und daraus erstand der Als Ausgangspunkt der Ausführungen wird Rudolf Steiners neue physische Leib; der astralische Leib, die Empfindungs- «Letzte Ansprache»2 genommen. In dieser Ansprache durch- seele und die Verstandes- oder Gemütsseele kommen von brach Rudolf Steiner, wie bekannt, die Inkarnationsfolge, die Lazarus; darüber hinaus geht die Wesenheit von Johannes er immer für Elias gegeben hatte (Elias, Johannes der Täufer, dem Täufer. Raffael, Novalis) und die Inkarnationsfolge, die er für Laza- Eine solche Konstruktion scheint alle Rätsel zu lösen. rus-Johannes gegeben hatte (Hiram Abiff, Lazarus-Johannes, In Lazarus begegnen sich die Kain- und Abelströmung; das Christian Rosenkreutz, Graf von Saint-Germain). In dieser Problem der zwei Apostel Johannes wird gelöst, denn Johan- letzten Ansprache gab er sie wie folgt: Elias, Lazarus-Johan- nes Zebedäus verschwindet in Lazarus, einerseits, und gibt nes, Raffael, Novalis. Dieses wird von Judith seine höheren Glieder an seinen Bruder Ja- von Halle als Rätsel am Ausgangspunkt kobus, andererseits; das Rätsel der letzten ihrer Ausführungen hingestellt. Zweitens Ansprache Rudolf Steiners ist gelöst. Durch bespricht sie die Tempellegende3, in der die ein Wunder werden diese Rätsel gelöst. Die beiden polaren Strömungen in der irdi- Frage bleibt nur offen, ob es auch Wunder schen Menschheitsentwicklung als Kain- gibt, die unmöglich geschehen können … Strömung und Abel-Seth-Strömung darge- stellt werden. Drittens bezieht sich Judith Zur Methode von Halle auf Aussagen der stigmatisierten Diese Konstruktion wird nun dem heuti- Anna Katharina Emmerich, wie diese von gen Menschen gegeben, der die Bewusst- Clemens Brentano aufgeschrieben und über- seinsseele entwickelt (hat). Was erlebt die liefert sind. Bewusstseinsseele – die schon «Ich» ist –, Lazarus, Rembrandt 1630

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wenn sie sich mit einer solchen Offenbarung auseinander- ein solch heiliges Geschehen kann uns nur mit Gottesfurcht, setzen muss? Merkmal der Bewusstseinsseele ist ja, dass sie Frömmigkeit, Wissenschaftlichkeit, Stärke, Rat, Verstand und sich die Erkenntnisse wirklich zu eigen machen, dass sie die Weisheit versehen enthüllt werden. Dann aber offenbaren Wahrheit finden will. Das tut sie durch Anwendung der Ver- sich andere geistige Gestalten, andere Geschehnisse, andere nunft. Die Vernunft will sich nicht nur in den Inhalt einle- Bedeutungen als die von Judith von Halle dargestellten. ben, sie will auch die Formen und die Aufeinanderfolge der Eva ist die Urmutter, sie stellte den Menschen dar, wie er Begriffe mitvollziehen und erleben können, und so die durch drei planetarische Entwicklungsstufen geworden war. Wahrheit vom Irrtum unterscheiden. Auch wenn sie nicht Zur Erschaffung des irdischen Menschen verband sich einer selbst hellsichtig ist, sich jedoch mit Forschungsergebnissen der Elohim, bei dem die Weisheit noch mit dem Feuer der von Hellsehern auseinandersetzt, verlangt sie, auf nachvoll- Mondperiode verbunden war, mit Eva, und es wurde Kain ge- ziehbaren Bahnen geführt zu werden. Das nun ist gerade das schaffen. Dagegen schuf Jahve, derjenige der Elohim, der eine Beruhigende, das Heilende in den Darstellungen Rudolf Stei- ruhige, abgeklärte Weisheit hatte, die nicht mehr mit Leiden- ners, dass er der Seele diese Möglichkeit immer gibt. Bei ihm schaften durchdrungen war, den Erdenmenschen Adam. Die- findet man immer die Fäden, die vom einen in das andere ser verband sich auch mit Eva, und es wurde Abel geschaffen.6 führen, man findet die Erkenntnisse immer eingebettet in In der salomonischen Zeit finden wir den König Salomo eine reine Intelligenz. Das Staunen beim Lesen der Texte als Abel-Sohn und Hiram Abiff, den Baumeister, als Kain- Rudolf Steiners rührt gerade vom Erleben dieser heiligen Sohn wieder. Salomo hat die abgeklärte göttliche Weisheit, Intelligenz her, nicht von unbegreiflichen Tatsachen, oder Hiram die Erkenntnisse, die durch die irdische Arbeit erlangt von nicht nachvollziehbaren Gedankengängen. Sprünge werden. braucht man nur selten zu machen – und wenn es sie gibt, In der Zeitenwende finden wir Hiram als Lazarus wieder, findet man in anderen Teilen der Arbeit die Bindeglieder er wird vom Christus geliebt. Als Lazarus einer Krankheit er- wieder. Rudolf Steiners Vorzüglichkeit liegt gerade in der liegt, die nach Christus Jesus «nicht zum Tode ist», und er Möglichkeit, die er gibt, mit der Vernunft seine Texte mitzu- doch ins Grab gelegt worden ist, kommt der Christus und denken. Es ist klar, dass Rudolf Steiner selbst diese sieben Ga- erweckt ihn. In Rudolf Steiners Das Christentum als mystische ben des Heiligen Geistes ausstrahlte: die Gottesfurcht, die Tatsache wird klar und deutlich dargestellt, dass es hier um Frömmigkeit, die Wissenschaft, die Stärke, den Rat, den Ver- eine alte Einweihung geht, die durch Christus öffentlich stand, die Weisheit.5 vollführt wird.7 In den alten Einweihungen wurde der Äther- Gerade dadurch ist die Anthroposophie Rudolf Steiners leib vom physischen Leib losgelöst, wobei der Hierophant für die Bewusstseinsseele die ersehnte Nahrung, weil sie den den Prozess in der Hand hatte. Nur wenn dieser Prozess Menschen zur Erkenntnis des eigenen Geistes führt und die- misslang, starb der Schüler wirklich. In der Einweihung des sen Geist bewusst mit dem Geist im Weltenall verbindet. Lazarus ist Christus selbst der Hierophant, und es scheint Versucht man nun mit einer in dieser Weise geschulten fast ein Sakrileg, wenn man meinen würde, dass diese Ein- Seele, die Darstellungen Judith von Halles mitzudenken, weihung von Lazarus zu einem tatsächlichen Tod mit Ver- mitzuvollziehen, dann bricht der Faden immer wieder und wesung des physischen Leibes geführt hätte. wieder ab, es werden nicht gestützte Sprünge verlangt und Christus gibt dem physischen Leib des Lazarus den Äther- die Vernunft – auch die spiritualisierte, die esoterische – wird leib, der sich mit dem Logos erfüllt hat, zurück. Lazarus ist in ratlos. Auch die verwendeten Zitate helfen nicht, denn seiner Seele bis zur Verstandes- oder Gemütsseele entwickelt wenn man sie in ihrem Kontext aufsucht, können sie meis- (siehe Literaturhinweis 4). Johannes der Täufer ist gestorben tens gar nicht auf das Dargestellte bezogen werden, und es und der ihm innewohnende Geist des Elias wirkt als geistige gibt nur dem Wortlaut nach eine Entsprechung, nicht der Atmosphäre8 weiter, in der die Geschehnisse eingebettet Bedeutung nach. Der Text von Judith von Halle birgt eine sind. Er, Elias, bereitet in Lazarus, bei der Auferweckung, die Aufeinanderfolge von Kühnheiten, die man einfach hinneh- Wege des Logos vor, er ebnet den Pfad. Das heißt, er formt in men muss, denn folgen kann man ihnen nicht. Lazarus die Bewusstseinsseele, die durch Christus selbst mit Zwei Möglichkeiten gibt es für die Seele: entweder sie dem Logos erfüllt wird (siehe Literaturhinweis 7). In Laza- folgt den Aussagen von Judith von Halle mit Ausschaltung rus-Johannes lebt der Logos, der ihm auch von außen, als der Vernunft, mit Absehen von der Bewusstseinsseele – man Christus Jesus entgegentritt. nimmt dann die Stigmatisation als stellvertretende Begrün- Das ist Lazarus-Johannes, der Jünger, den der Herr liebt. dung –; oder sie muss die Auseinandersetzung bezweifeln Hier vermählt sich der Kain-Sohn mit dem Adam-Sohn, denn und schon der Methode wegen abweisen. der Elias-Geist geht ja auf den ersten Adam zurück,9 und aus dieser Vermählung geht die Einweihung in den Logos hervor. Über die Wahrheit Dieser Jünger liegt beim Abendmahl an Christi Brust und Wenn man ein solches Geschehen wie die Auferweckung des steht mit der Mutter unter dem Kreuz. Lazarus in Wahrheit schildern will, sollte man sich selbst zu- Da steht also Kain-Adam, wie er geworden ist als Lazarus- erst in die sieben Gaben des Heiligen Geistes vertiefen. Denn Johannes, neben Eva, wie sie als Maria-Sophia geworden ist.

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Die Mondenmutter wurde Erdenmutter und zeigt hier unter ben fordert Judith von Halle gerade auf: Man muss ihre We- dem Kreuz ihre Zukunftsgestalt, die Weisheit, die auf dem ge mitgehen, weil man einen Glauben an ihre Fähigkeiten Jupiter da sein wird.10 Sie ist die reine Seele, die den Heiligen auf Grund der Stigmatisation hat, denn die Wege selbst kön- Geist aufnehmen kann, wodurch die Erleuchtung, das Ma- nen nicht überzeugen. Dieser Glaube ist ja in Wirklichkeit nas eintritt. ein Aberglaube. Die entwickelte Bewusstseinsseele nimmt Der Mensch, Johannes der Evangelist, der Apokalyptiker, solche falschen Gestalten des Geistes schmerzlich wahr. der den ersten Adam verwandelt in sich trägt, steht unter Der neue Glaube jedoch führt zum vollständigen Durch- dem Kreuz, das den zweiten Adam gebiert. Die vollständige schauen aller Illusionen. Eine der wichtigsten Illusionen ist, bisherige Menschheitsentwicklung in ihrer schönsten Form dass der Geist in sinnlichen Qualitäten angeschaut werden steht in Lazarus-Johannes mit Sophia dem Gott gegenüber. könnte. Zwar können Imaginationen sich in sinnlichen Der heutige Mensch wird selbst mit den sieben Gaben des Qualitäten ausdrücken, diese bedeuten jedoch immer etwas Heiligen Geistes erfüllt, wenn er dieses Urbild des Mysteri- anderes als im physischen Dasein. Die sinnlichen Imaginati- ums von Golgatha kraftvoll imaginiert. Allmählich wird die onsqualitäten haben sittliche Bedeutungen, sie sind Zeichen Seele zur Sophia, das Ich zum Johannes, in dem die Liebe des für etwas anderes als in der physischen Welt. Judith von Hal- Christus zur Geist-Erkenntnis wird. le verführt ihre Anhänger dazu, die Illusionen ihrer Zeitrei- sen für geistige Wirklichkeit zu halten. Die Gegenkräfte der Imagination Mit diesen drei Gesellen stellt sie sich der Entwicklung Es gibt jedoch starke Gegenkräfte, die diese Imagination ver- der Bewusstseinsseele, die sich mit der Anthroposophie zur hindern wollen. Durch-Christung anschickt, entgegen. Mit Irrtum, Aberglau- In der Tempellegende ist Hiram der Baumeister des salo- ben und Illusion wird die Seele in eine Disharmonie geführt, monischen Tempels. Das letzte Werk, der Guss des ehernen sie wird mit dem Verlust der Vernunft bedroht. Meeres, soll die Vollendung des Tempels bilden. Nach Ru- dolf Steiners Erklärungen11 wäre das Gelingen dieses Gusses Mieke Mosmuller, Zeist die Harmonisierung der Seele gewesen, die Überwindung der Leidenschaften, wodurch die Seele zur wahren Imagina- tion fähig geworden wäre. 1 Judith von Halle, Vom Mysterium des Lazarus und der drei Der Guss wurde jedoch von drei verräterischen Gesellen Johannes. Johannes der Täufer, Johannes der Evangelist, Johannes Zebedäus. Verlag für Anthroposophie, 2009. verdorben. Diese drei verbildlichen die drei Gegenkräfte zur 2 Rudolf Steiner, GA 238, Ansprache vom 28. September 1924. Imagination: der Zweifel oder der Irrtum, der Aberglaube 3 Rudolf Steiner, GA 93, Vortrag vom 15. Mai 1905 und GA und die Illusion. 265, Erläuterungen zur Tempellegende. Gerade diese drei werden durch die Entfaltung der Be- 4 Siehe die ergänzenden Bemerkungen zur letzten Ansprache, wusstseinsseele überwunden. Der Mensch lernt das Geistige in GA 238, S.176ff. in seinem eigenen Wesen vollständig durchschauen. Wenn 5 Jesaja, 12, 2; Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Band 2, der Wille sich vollkommen mit dem Denken vereinigt hat, 68. Untersuchung, Die Gaben. Alfred Kröner Verlag. wenn die Gedanken in der Willenssubstanz gefunden wer- 6 Rudolf Steiner, GA 93, Unter «Ergänzungen»: Die Tempel- den, überwindet der Mensch den Zweifel, den Irrtum. Er fin- legende. det in sich die innerliche Position, in der er die Gewissheit, 7 Rudolf Steiner, GA 8, «Das Lazaruswunder». 8 Rudolf Steiner, GA 139, Vortrag vom 17. September 1912. das Sicher-Wissen erkennen lernt. Ab dann kann er unter- 9 Rudolf Steiner, GA 114, Vortrag vom 19. September 1909. scheiden zwischen der Gewissheit der Wahrheit, der Ge- 10 Rudolf Steiner, GA 103, Vortrag vom 31. Mai 1908. wissheit der Unwahrheit, und dem Fehlen der Gewissheit.12 11 Rudolf Steiner, GA 264, S 383ff. (ohne Datum). Diese Fähigkeit ist eine Grundforderung, wenn man geistige 12 Über die Überwindung des Zweifels: Mieke Mosmuller, Suche Forschungsergebnisse offenbaren will. Man braucht dazu die das Licht, das im Abendland aufgeht, Occident, 1994. voll ausgebildete Bewusstseinsseele, deshalb muss ein geistig Lehrender über 42 Jahre alt sein. Übrige Literatur: In Judith von Halles Ausführungen findet man die Zeichen Mieke Mosmuller, Stigmata und Geist-Erkenntnis. Judith von Halle dieser Auseinandersetzung mit dem Wesen des Irrtums nicht. versus Rudolf Steiner, Occident 2008. Hat man dann durch das Durchschauen des Irrtums an Wolf-Ulrich Klünker, Wer ist Johannes, Verlag Freies Geistesleben 2006. sich diese Reinheit der Seele erlangt, so bekommt der Glaube Sergej O. Prokofieff, Ewige Individualität. Zur karmischen eine ganz andere Bedeutung. Er wird zur Kraft des Denkens, Novalis-Biographie, Verlag am Goetheanum, 1987. zur positiven Gestaltungskraft, wodurch die wahren Gestal- Rudolf Steiner, «Der Prophet Elias im Lichte der Geisteswissen- ten des Geistes, die man im Ätherischen eingezeichnet fin- schaft», GA 61. det, wiedererkannt werden können. Alles andere als diese frei Hella Wiesberger in GA 265, S. 423ff. über die Hiram-Johannes- und tätig angeeignete Erkenntnis (der neue Glaube) muss Forschung Rudolf Steiners. man als Aberglauben ansehen. Zu einem solchen Aberglau- Emil Bock, Die drei Jahre

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 13 Schillers Christustendenz

Schillers Freiheitsimpuls und Christustendenz Gedanken zum 250. Geburtstag (Teil 2: Schluss)

Kulmination des Freiheitsimpulses im Demetrius- zitierten Aussagen Steiners stützen, wie Thomas Meyer aus- Fragment führlich dargelegt und begründet hat.5 Denn Steiner bezieht Die Freiheit in ihrem spirituellen Kern wird darin zum zen- sich auf die irrigen Vorstellungen des falschen Demetrius, auf tralen Aspekt. Denn es geht um das Drama des menschli- die sein Selbst bis dahin gutgläubig aufgebaut war. Auch in chen Ich. Nach Rudolf Steiner suchte Schiller darin «die Pro- Schillers Vorstudien, Skizzen und Fragmenten findet sich bleme des menschlichen Selbst zu begreifen, mit einer kein Hinweis, um Prokofieffs Ansicht zu untermauern. Klarheit und so groß und gewaltig, dass keiner von denen, Zusätzlich stellt Prokofieff jetzt eine weitere These auf, die die es versucht haben, den Demetrius beenden konnten, weil dem Wesen des menschlichen Ich nicht gerecht wird. Er die große Ideentracht Schillers bei ihnen nicht zu behauptet, dass Demetrius sein Ich zu dem Zeit- finden ist. Wie tief fasst er doch das mensch- punkt frei entfalten könnte, wenn ihm für liche Selbst, das in dem Menschen lebt! kurze Zeit jeglicher Zwang genommen Demetrius findet in sich aus gewis- werde: der von unten (er werde nicht sen Anzeichen, dass er der echte mehr als Instrument einer nieder- russische Thronfolger sei. Er tut trächtigen Intrige benutzt) und alles, um das, was ihm gebührt, auch der von oben (die ihn zu- zu erlangen. In dem Augenbli- vor führende «Götterstimme» cke, wo er nahe daran ist, sein – d.h. das höhere Wesen – sei Ziel zu erreichen, fällt alles jetzt verstummt). Doch kön- zusammen, was sein Selbst ne diese Entfaltung nur dann angefüllt hat. Er muss jetzt geschehen, wenn die beiden dasjenige sein, was er lediglich Menschen (Demetrius und durch die Kraft seines Inneren Marfa) sich über die Blutsban- aus sich gemacht hat. Das de erhöben und bereit wären, Selbst, das ihm zuteil geworden zusammenzuwirken. Tragischer- ist, ist nicht mehr da; das Selbst, das weise sei allein Demetrius auf diesen seine eigene Tat sein soll, soll erstehen. gewagten Schritt vorbereitet, nicht Aus dem heraus soll Demetrius han- aber Marfa. Die rein geistige Verbin- deln. Es ist das Problem der menschli- dung der beiden Iche gelinge nicht, chen Persönlichkeit mit einer Grandio- Demetrius weil Marfa den inneren Schritt zur sität erfasst wie von keinem zweiten Maria in ihrer Seele noch nicht vollzie- Dramatiker der Welt. So Großes hat Schiller im Sinne ge- hen könne. Sie könne sich der Macht der Blutskräfte nicht habt, als ihn der Tod hinwegriss.»1 widersetzen, versage und stürze damit Demetrius ins Verder- Zu Schillers Demetrius gibt es eine reichhaltige anthropo- ben.6 sophische Sekundärliteratur2. An dieser Stelle soll nur auf die Ganz abgesehen davon, dass Demetrius bereits vor der Be- problematische Auffassung Prokofieffs zur zentralen Ich- gegnung eine einschneidende Charakterveränderung erfah- Thematik näher eingegangen werden. Schon in seiner Publi- ren hat7, sein Scheitern also nicht hauptursächlich auf das kation von 1992 hatte er die These vertreten, dass sich eine Geschehen in der Marfa-Szene zurückgeführt werden darf, gewisse Zeit ein höheres Wesen, die geistige Individualität wird auf diese Weise die Ich-Entwicklung einer äußeren des wahren (in Uglitsch ermordeten) Demetrius im falschen Bedingung unterworfen, die mit der menschlichen Freiheit Demetrius bis zu einem gewissen Grad inkorporieren und in und dem Wesen des Ich unvereinbar ist. Mit seinem Ich ist ihm inspiratorisch wirken konnte.3 In seinem jüngsten Buch der Mensch ganz allein. Nur von innen heraus, nur durch führt er dazu aus, dass sich das höhere Wesen aus Demetrius’ sich selbst kann die Seele sich als «Ich» bezeichnen.8 Die Ich- Seele in die geistige Welt zurückziehe, nachdem Demetrius Findung hängt nicht von der geistigen Verbindung zu einem den geheimen Drahtzieher (den sog. Fabricator Doli, im Sze- anderen Ich ab. Jene ist dafür vielmehr Voraussetzung. Die nar X genannt) in Verzweiflung und Zorn erschlagen hat. fehlende Bereitschaft Marfas, den falschen Demetrius als ih- Dieser hatte ihm den Betrug und seine eigentliche Herkunft ren echten Sohn anzuerkennen (er bittet sie mit beredten eröffnet und sich zusätzlich als Mörder des wahren Zare- Worten aus praktischen, rationalen Gründen darum9), ver- witsch zu erkennen gegeben.4 Was immer von dieser These schärft nur die dramatische Situation, weil er sich jetzt, wo zu halten sein mag, sie lässt sich jedenfalls nicht auf die oben er sich als betrogener Betrüger weiß, auch nicht auf eine in

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der Öffentlichkeit wirksame Anerkennung als Sohn stützen «Du hast mir das Herz meines Lebens durchbohrt, du kann. Demetrius muss ohne jeden äußeren Rückhalt ein hast mir den Glauben an mich selbst entrissen – Fahr neues Selbst-Bewusstsein aufbauen. Unmöglich wäre das hin Muth und Hofnung. Fahrt hin du frohe nicht, aber Demetrius ist nach der Anlage des Stückes zu die- Zuversicht zu mir selbst! Freude! Vertrauen und Glaube! sem Zeitpunkt bereits an der eigenen Unzulänglichkeit nach – In einer Lüge bin ich befangen, zerfallen bin ich mit Verlust des bisherigen Glaubens praktisch gescheitert. mir selbst! Ich bin ein Feind der Menschen, ich und die Schiller hat die Ich-Thematik im Demetrius in grandioser Wahrheit sind geschieden auf ewig! (...) Fest stehen muss Weise zugespitzt. Ein Rückgriff auf die Inspiration durch das ich, und doch kann ich’s nicht mehr durch eigene inne- höhere Wesen, die Individualität des echten Demetrius, ist re Ueberzeugung. Mord und Blut muss mich auf meinem für ein Verständnis des von Schiller grandios gestalteten Pro- Platz erhalten. – Wie soll ich der Czarin entgegentreten? blems der menschlichen Persönlichkeit entbehrlich, ja hin- Wie soll ich in Moskau einziehen unter den Zurufungen derlich. Eine zentrale Aussage Steiners zum menschlichen des Volks mit dieser Lüge im Herzen?»13 Ich findet sich in der Theosophie: «Leib und Seele geben sich dem ‹Ich› hin, um ihm zu dienen; das ‹Ich› aber gibt sich Im Szenar wird diese Szene unter einem anderen Blickwinkel dem Geiste hin, dass er es erfülle. Das ‹Ich› lebt in Leib und ausführlicher dargestellt. Es wird daraus deutlich, dass X (der Seele; der Geist aber lebt im ‹Ich›. Und was vom Geiste im Fabricator Doli) mit seinen Enthüllungen glaubt, Demetrius ‹Ich› ist, das ist ewig. Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung wieder sicher an der langen Leine führen zu können, weil er von dem, womit es verbunden ist.»10 [Hervorhebung durch den seine ganze Existenz ihm zu verdanken habe. Doch die Re- Verf.]. Die Formulierung im letzten Satz ist offen und kann aktion fällt unerwartet aus, weil Demetrius, in dem während passiv («verbunden worden ist») wie aktiv («sich verbunden der Erzählung eine ungeheure Veränderung vorgegangen ist hat») verstanden werden. Dadurch rückt die Passage in die («sein Stillschweigen ist furchtbar und von einem schreck- Freiheitssphäre, denn das Ich ist die Instanz der Freiheit. Bei haften Ausdruck begleitet»), den Fabricator Doli erschlägt, Demetrius nun ist die Prägung durch geschickte Machen- nachdem er sich vorher noch klug erkundigt hatte, wer schaften und Manipulationen aus machtpolitischen Inte- sonst noch um dieses gefährliche Geheimnis wisse.14 Da- ressen gelenkt worden. Aufgrund der raffinierten Vorberei- nach «ist er der alte nicht mehr, ein tyrannischer Geist ist in tungen musste der falsche Demetrius notwendig zu der ihn gefahren aber er erscheint jetzt auch furchtbarer und Annahme gelangen, dass er der echte Sohn des verstorbenen mehr als Herrscher. Sein böses Gewissen zeigt sich gleich da- Zaren Iwan des Schrecklichen sei.11 Durch diesen guten rinn, dass er mehr exigiert, dass er despotischer handelt. Der Glauben an sich selbst dient er unabsichtlich politischen finstre Argwohn lässt sich schon auf ihn nieder, er zweifelt Zwecken der Polen und jesuitischen Gesandten. Marina be- an den andern, weil er nicht mehr an sich selbst glaubt.»15 merkt im ersten Aufzug treffend zu Odowalsky: Nach ist Demetrius von diesem Punkt an ein erwachender Nachtwandler und stürzt ab.16 «Recht gut, dass wir allein sind Odowalsky. Der Glaube an sich selbst war bei Demetrius entscheidend. Wir haben wichtge Dinge zu besprechen, In Steiners letztem Mysteriendrama Der Seelen Erwachen gibt es Davon der Prinz nichts wissen soll. Mag er im 12. Bild eine interessante Parallele, wenn Ahriman Ferdi- Der Götterstimme folgen, die ihn treibt, nand Reineckes Seele (die ihren Erdverstand am Tore zurück- Er glaub’ an sich, so glaubt ihm auch die Welt. lassen musste) inspiriert: «Du sollst dich jetzt mit Klugheit Lass ihn nur jene Dunkelheit bewahren wohl bewaffnen. Dein Werk soll sein, dass Strader an sich Die eine Mutter großer Thaten ist – selbst nicht mehr den rechten Glauben finden mög’.» Die Wi- Wir aber müssen h e l l sehn, müssen h a n d e l n.»12 dersachermächte setzen alles dran, den Menschen vom Glau- ben an sich selbst, d.h. vom Glauben an seinen unvergängli- Die «Götterstimme» ist der Glaube des Demetrius an sich chen Geistteil, die ewige Entelechie, abzubringen. Das Ich hat selbst, an sein höheres Ich, das er mit der Mission als Zare- die Möglichkeit, sich mit dem Geist zu verbinden. Dann kann witsch verbindet. So lange er sich als unbewusste Marionet- es unbegrenzte Fähigkeiten entwickeln. Es kann selbst sein te in den vorgezeichneten Bahnen der politischen Drahtzie- eigner «Papst und Kaiser» sein, frei von allen äußeren Autori- her bewegt, ist alles gut. Als Demetrius jedoch eine für die täten, wie es Dante in prophetischem Vorgriff auf das Zeitalter Hintermänner gefährliche Dynamik entwickelt und aus dem der Bewusstseinsseele gedichtet hat.17 Auf Herkunft und Bluts- immer stärker werdenden Selbstvertrauen zu selbständig zu bande kommt es nicht an. Der falsche Demetrius hätte daher werden droht, soll er den Betrug erfahren, um auf diese Wei- die Rolle als guter und segensreicher Zarewitsch weiterspielen se eine – ab jetzt bewusste, aber schwache – Schachfigur in können, wenn er schon die Fähigkeit gehabt hätte, sich unab- den Händen anderer zu sein. Allein die Erwartung schlägt hängig von allen bisherigen (falschen) Vorstellungen durch fehl. Demetrius ist fassungslos darüber, dass ihm der gesam- spirituelle Tathandlungen als Selbst zu erleben. Diesen Ab- te Boden seiner bisherigen Existenz unter den Füßen wegge- grund konnte Demetrius jedoch so plötzlich und unvorberei- zogen wird: tet (noch) nicht überqueren und musste deshalb scheitern.18

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Schillers Einsicht in die Machenschaften politischer hardt besitzen wir «innerhalb unserer Sprache kaum einen Hintermänner klügeren, scharfsinnigeren Versuch intellektueller Subtilität, Schillers Demetrius ist zugleich ein staunenswertes Beispiel um gewissen Hintergründen jeder politischen Macht nahe- für Schillers geniale Einsicht in die Machenschaften politi- zukommen.»24 Emil Bock hat klar und prägnant zusammen- scher Hintermänner. So hat er den Jesuiten eine wichtige gefasst, worum es sich beim Geisterseher handelt: «Man hat Rolle zugewiesen, um mit Hilfe der Polen das römisch-ka- sich daran gewöhnt, scheinbar unterstützt durch Äußerun- tholische Christentum nach Russland hineinzutragen. Das gen Schillers und seiner Freunde, diese Arbeit als eine Spiele- Ziel des großen jesuitischen Einsatzes war die Gewinnung rei zu betrachten, die mit Begeisterung und Schwung begon- der östlichen Christenheit für Rom.19 Im Studienheft heißt nen, dann aber unter der erlahmenden Lust nur mühsam es dazu: «Die Catholiken, besonders die Jesuiten, müssen und notdürftig zu Ende gebracht worden sei. Aber sie ist al- auch geschäftig seyn, ja vielleicht kann die Hauptintrigue les andere als ein spielerischer Versuch, sich auch einmal der von ihnen ausgehen.»20 Im ersten Aufzug agiert Demetrius literarischen Form des Romans zu bedienen; der bitterste denn auch ganz nach dem Wunsch der Mächte im Hinter- Schicksalsernst des Schiller-Lebens kommt darin zum Vor- grund als russischer Thronprätendent, der den geltenden schein. Der Inhalt ist kurz der, dass ein europäischer Prinz in Friedensvertrag mit Russland zu gefährden droht. Als Einzi- ein ganzes Netz seltsamster Zufälle und Fügungen, okkulter ger wehrt sich Leo Sapieha zu Beginn der berühmten Reichs- tagsszene, dass Demetrius überhaupt auftreten darf («Ihn hören heißt, ihn anerkennen»). Doch geschickt eingefädelt Schillers Demetrius vom Jesuiten Odowalsky darf Demetrius sprechen und we- nig später erschallt bereits der Ruf nach «Krieg! Krieg mit Historischer Hintergrund ist die Geschichte jenes «falschen Moskau!» Später, im Beisein des polnischen Königs Sigis- Demetrius», der sich 1603 für den 1591 auf Geheiß von Bo- ris Godunow ermordeten Dimitrij, Sohn Iwans des Schreck- mund, verkündet Demetrius auch noch große, schwärmeri- lichen, ausgab, mit Hilfe des polnischen Königs Sigismund sche Worte. Die schöne Freiheit, die er gefunden hat, will er III. einen Feldzug nach Moskau unternahm, dort zum Zaren in sein Vaterland verpflanzen, aus Sklaven freie Menschen gekrönt und 1606 bei einem Aufstand ermordet wurde. machen.21 Die hehren Bekenntnisse entlarvt Schiller gleich darauf als hohle Phrasen, wenn der Jesuit Odowalsky Marina Demetrius erscheint bei Schiller zunächst «in einem un- begegnet: «Nun Fräulein, hab ich meinen Auftrag wohl er- schuldig schönen Zustand als der liebenswürdigste und füllt, und wirst du meinen Eifer loben», worauf sie ihm mit herrlichste Jüngling, der die Gnade Gottes hat und der den Zeilen antwortet, die oben bereits im Zusammenhang Menschen». Auf dem polnischen Reichstag zu Krakau ge- mit der Götterstimme zitiert wurde. Wenige Zeit später er- lingt es ihm, den Gesandten seine Identität glaubhaft zu mahnt sie ihn im Hinblick auf Demetrius: «Du führst den machen, von der er selbst überzeugt ist, und wird vom pol- nischen König mit Marina, der Tochter des ersten Woiwo- Czarowitsch, bewach ihn gut, weich nie von seiner Seite, den, verlobt. Die Polen sind bereit, für ihn in den Kampf zu von jedem Schritt giebst du mir Rechenschaft, wer zu ihm ziehen. Der Anfang des zweiten Akts zeigt Marfa, die Mutter naht, ja sein geheimstes Denken lass mich wissen. (...) Lass des echten Demetrius, im Kloster, erfüllt von der Hoffnung, ihn nicht aus den Augen. Sei sein Beschützer, doch sein Hü- ihren seit 16 Jahren totgeglaubten Sohn wiederzusehen. ter auch. Mach ihn zum Sieger, doch so, dass er uns immer Hier bricht das Fragment ab, allerdings sind zahlreiche Vor- brauche. Du verstehst mich.», worauf ihr Gesprächspartner arbeiten Schillers – Prosaskizzen, Schemata zum Verlauf der erwidert: «Vertrau auf mich, er soll uns nie entbehren.»22 Handlung – überliefert, so dass deutlich wird, dass Schiller Man kann sich unschwer vorstellen, dass manche Staats- auch hier vor allem am Charakter des Helden interessiert männer und Politiker sich heute in einer ähnlichen Gängel- ist, der bis zu seinem späteren Sieg über den Usurpator des situation befinden, ohne es zu ahnen oder es jedenfalls Zarenthrones, Boris Godunow, in dem festen Glauben han- delt, tatsächlich der rechtmäßige Thronfolger zu sein. Diese nicht ändern zu können, etwa weil sie von Drahtziehern im Überzeugung gibt ihm die Kraft, sich zum Oberhaupt seines Hintergrund erpresst werden. Mutige Persönlichkeiten wie Volkes zu machen. Als ihm aber auf dem Gipfel seines Er- Leo Sapieha, der den Reichstag zerrissen und damit zunächst folgs der Mörder des wahren Demetrius begegnet, ihm sei- einen gültigen Kriegsbeschluss verhindert hatte, leben dage- ne wirkliche Herkunft entdeckt und gesteht, er habe ihn als gen gefährlich. Beinahe wäre er noch vor Ort in Stücke ge- den falschen Demetrius heranwachsen lassen, um sich an rissen worden. Sergej Prokofieff führt als Beispiel eine Reihe dem Zaren Boris zu rächen, verliert er sein Selbstbewusst- bekannter politischer Morde von Persönlichkeiten an, die sein und damit seine Macht und fällt schließlich – wie das böse Spiel aus Gewissensgründen vermutlich nicht län- Marfa, die Mutter des echten Demetrius, die ihn aber nie als ger mitspielen wollten (Abraham Lincoln bis Olof Palme ihren Sohn anerkennt – einem Volksaufstand zum Opfer. und Dag Hammarskjöld).23 Zitiert nach Kindlers Neues Literatur Lexikon, Schon 1787 hatte Schiller das unvollendet geblie- Studienausgabe, Band 14, München 1988, S. 923. bene Prosastück Der Geisterseher mit einer ähnlichen The- menstellung veröffentlicht. Nach Ansicht von Carl J. Burck-

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Séancen und magischer Verwickelungen gerät, das ihn wie konnten, dass da mitgeholfen worden ist, das geht daraus in eine Wolke von übersinnlichen Tatsachen einhüllt, bis hervor, wie Goethe, der nichts machen konnte, aber man- sich am Schluss herausstellt, dass es sich um lauter klug ches ahnte, in den letzten Tagen gar nicht wagte, den un- eingefädelte betrügerische Machinationen handelt, durch mittelbar persönlichen Anteil – auch nicht nach dem Tode – welche von jesuitischer Seite versucht wird, den Prinzen für zu nehmen, den er an dem wirklichen Hingang Schillers sei- die katholische Seite zu gewinnen. Schiller holt zu einem nem Herzen nach wahrhaftig genommen hat. Er getraute Schwerthieb aus. Es ist eine Torheit zu meinen, dass er nur sich nicht herauszugehen mit dem, was er in sich trug.»27 allerlei okkulten Charlatanismus, wie er damals z.B. im Krei- Das Tröstliche an diesem traurigen Geschehen ist, dass se von Cagliostro betrieben wurde, hätte treffen wollen. Der der Tod nur das Ende dieser physischen Verkörperung der Hieb ist mit unverkennbarer Deutlichkeit gegen die Jesuiten Schiller-Individualität bedeutet. Steiner weist im gleichen gerichtet. Schiller wendet sich nicht gegen okkulte Tat- Vortrag wenige Zeilen später darauf hin, dass es geistige sachen, wohl aber gegen die Art, wie die Jesuiten den Okkul- Inspirationen in Hülle und Fülle aus der geistigen Welt tismus in ihren Dienst stellen. (...) Die Gegner waren auf heraus gebe, wenn man sich vertiefe in die Seele Schillers dem Posten und kannten Mittel und Wege, den Schlag zu nach dem Tode. parieren, indem sie Schiller die Arbeit zu verleiden wuss- ten.»25 Schillers Christus-Tendenz Seit 1788 versuchte Schiller zudem über 16 Jahre lang Schillers unaufhaltsam fortschreitende Entwicklung wurde das Drama Die Malteser zu schreiben. Es hätte eine Dich- bereits erwähnt. Bei seiner Arbeit am Don Carlos führt sie tung über das mittelalterliche Wissen vom Übersinnlichen noch während der Entstehung des Dramas zu einer Wand- werden können, kristallisiert im Johanniter-Orden (ge- lung in der Auffassung Marquis Posas28, die am deutlichsten gründet 1048 in Jerusalem), der sich 1565 auf Malta unter in seinen Briefen über Don Carlos zum Ausdruck kommt. ihrem Großmeister Johann La Valette gegen die türkische War ihm Posa zunächst der schwärmerische Vertreter des Belagerungsmacht zur Wehr setzte. Die äußeren und inne- Freiheitsideals, wollte er ihn zuletzt viel kritischer verstan- ren Widerstände sind aber zu groß und Schiller kann das den wissen. Das abstrakte, nur vorgestellte Ideal irrt ähnlich Drama trotz vieler Anläufe nicht gestalten. Seit jedoch be- einseitig von wahrer Freiheit ab wie der Despotismus am an- kannt geworden war, dass Schiller so etwas im Sinne hatte deren Ende des Spektrums. Im elften Brief heißt es dazu: wie die Malteser, seit der Zeit vermehrte sich die Gegner- «Auch gestehe ich, dieser Charakter [Marquis Posa, Anm. schaft in Deutschland gegen ihn außerordentlich. Man des Verf.] ging mir nahe, aber, was ich für Wahrheit hielt, fürchtete sich laut Steiner vor ihm. Man fürchtete vor al- ging mir näher. Ich halte für Wahrheit, dass Liebe zu einem lem, dass er allerlei an okkulten Geheimnissen in seinen wirklichen Gegenstande und Liebe zu einem Ideal sich in Dramen verraten könnte.26 Als Schiller dann 1804 fieber- ihren Wirkungen ebenso ungleich sein müssen, als sie in ih- haft die Arbeit am Demetrius aufnahm, hatten die entspre- rem Wesen voneinander verschieden sind – dass der unei- chenden Menschen noch größere Furcht davor, dass nun gennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiasti- Dinge zum Vorschein kommen könnten, an denen viele scher Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und ein Interesse hatten, dass sie noch eine Weile der Mensch- hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso heit verborgen bleiben. Steiner führt dann explizit aus, wie willkürlich mit den Individuen zu schalten als nur immer bei Schillers Tod nachgeholfen wurde, die Krankheit nicht der selbstsüchtigste Despot, weil der Gegenstand von beider die einzige Ursache war: Bestrebungen in ihnen, nicht außer ihnen wohnt und weil «Und nun treten im Leben Schillers Erscheinungen ein, jener, der seine Handlungen nach einem innern Geistesbilde die derjenige, der sich auf solche Dinge versteht, nicht als et- modelt, mit der Freiheit anderer beinahe ebenso im Streit was auch im Krankhaft-Normalen allein Begründetes erse- liegt als dieser, dessen letztes Ziel sein eigenes Ich ist. Wahre hen kann. Man hat ein merkwürdiges Krankheitsbild bei Größe des Gemüts führt oft nicht weniger zu Verletzungen Schiller. Es tritt das Gewaltige ein – gewaltig nicht im Sinne fremder Freiheit als der Egoismus und die Herrschsucht, weil der Größe, sondern im Sinne des Erschütternden: Schiller sie um der Handlung, nicht um des einzelnen Subjekts wil- wird über dem ‹Demetrius› krank; er spricht auf seinem len handelt. [...] Nennen Sie mir, lieber Freund – um aus un- Krankenlager fortwährend fast den ganzen ‹Demetrius› im zähligen Beispielen nur eines auszuwählen – nennen Sie mir hochgradigen Fieber heraus. Es wirkt etwas in Schiller wie ei- den Ordensstifter oder auch die Ordensverbrüderung selbst, ne fremde Macht, die sich durch den Körper ausdrückt. Man die sich – bei den reinsten Zwecken und bei den edelsten braucht selbstverständlich niemand anzuklagen. Aber man Trieben – von Willkürlichkeit in der Anwendung, von Ge- kann nicht anders – trotz alledem, was nach dieser Richtung walttätigkeit gegen fremde Freiheit, von dem Geiste der geschrieben worden ist –, als aus dem Krankheitsbilde die Heimlichkeit und der Herrschsucht immer reinerhalten hät- Vorstellung zu haben, da ist auf irgendeine, wenn auch ganz te?» [Hervorhebungen durch Schiller].29 okkulte Weise mitgeholfen worden an dem schnellen Ster- Schiller stellt hier also dem Despotismus der Alleinherr- ben Schillers! Und dass Menschen eine Ahnung haben schaft den Despotismus des Ideals entgegen. Beide versündi-

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gen sich an fremder Freiheit. Was für ein erhellendes Licht che Barriere kann sich heute als nicht zu unterschätzen- kann diese Erkenntnis auf manche Bestrebungen der Ge- des Hindernis erweisen. Wer mit Schillers Sprache Verständ- genwart werfen, insbesondere auf weltverbessernde Grup- nisprobleme hat, greife zunächst zu den äußerst verdienst- pierungen! Auf der anderen Seite steht die Betonung von vollen Umschreibungen, die Sigismund von Gleich (1896 – Pflicht und Ordnung mit dem Bestreben, immer mehr zu re- 1953) vorgenommen hat35 und zu den tiefschürfenden glementieren und vorzuschreiben. Stets geht es um die Be- Kommentaren von Heinrich Deinhardt (1821–1880).36 vormundung des Menschen, um eine Aufoktroyierung von Wer zum Geiste streben möchte, findet in Schiller einen Freiheit durch Zwang, nicht selten aus gut gemeinten Mo- der besten Gefährten und ein erhabenes Vorbild. Schiller hat tiven heraus. In großartiger Weise stellt Schiller dem die sich zeitlebens selbst erzogen. In Das Ideal und das Leben hat wahre Freiheit entgegen, die aus der Ästhetik gewonnen er das Ziel in Form der unvergänglichen Geistgestalt ausge- wird und nur aus dem mittleren, dem Herzbereich kommen sprochen: kann. In anthroposophischer Terminologie zielt das auf den Christus, der zwischen Ahriman und Luzifer den Ausgleich Nur der Körper eignet jenen Mächten, zu finden hat und in der Figur des Menschheitsrepräsentan- Die das dunkle Schicksal flechten; ten plastischen Ausdruck gefunden hat.30 In seinen Briefen Aber frei von jeder Zeitgewalt, über die ästhetische Erziehung lautet bei Schiller die Grund- Die Gespielin seliger Naturen, maxime des ästhetischen Staats: «Freiheit zu geben durch Wandelt oben in des Lichtes Fluren, Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.»31 Göttlich unter Göttern – die Gestalt. Goethe schrieb am 9. November 1830 (einen Tag vor Schillers Geburtstag) an Zelter: «Schillern war eben diese Gerald Brei, Zürich echte Christus-Tendenz eingeboren, er berührte nichts Ge- meines, ohne es zu veredeln. Seine innere Beschäftigung ging dahin.»32 Diese Nähe zum esoterischen Christentum 1 Rudolf Steiner, Ursprung und Ziel des Menschen (GA 53), zeigt sich auch an vielem anderen. Eine der tiefsten Bemer- Dornach 1985 (TB), Vortrag vom 4. Mai 1905: «Schiller und kungen dazu findet sich unter der Überschrift Mein Glaube die Gegenwart», S. 413f. in den Tabulae Votivae, die er gemeinsam mit Goethe ver- 2 Vgl. z.B. Peter Tradowsky: Demetrius im Entwicklungsgang des öffentlicht hat: «Welche Religion ich bekenne? Keine von Christentums, Dornach 1989; Sergej O. Prokofieff: Das Rätsel allen, die du mir nennst! ‹Und warum keine?› Aus Reli- des Demetrius, Dornach 1992; Sergej O. Prokofieff: Friedrich gion.»33 Schiller und die Zukunft der Freiheit. Zugleich einige Aspekte In einem Brief an Goethe vom 17. August 1795 charakte- seiner okkulten Biographie, Dornach 2007 (mit einem eigenen Kapitel zu Demetrius). risiert Schiller das Christentum wie folgt: «Ich finde in der 3 Sergej O. Prokofieff: a.a.O. (1992), S. 80. christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten 4 Sergej O. Prokofieff: a.a.O. (2007), S. 186f.; es sei ausdrücklich und Edelsten, und die verschiedenen Erscheinungen der- festgehalten, dass diese Publikation insgesamt sehr verdienst- selben im Leben erscheinen mir bloß deswegen so widrig voll ist und eine Fülle wertvoller Anregungen und Einblicke und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses enthält, wenn auch die Form nur unbefriedigend gelungen ist. Höchsten sind. Hält man sich an den eigentümlichen Cha- 5 Siehe Thomas Meyer: «Demetrius – Seine historische und rakterzug des Christentums, der es von allen monotheisti- seine allgemein-menschliche Bedeutung», in: Der Europäer, schen Religionen unterscheidet, so liegt er nichts anderm als Jg. 1, Nr. 12 (Oktober 1997, S. 12ff.); Herbert Pfeifer: Schillers in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Impera- Demetrius, in: Jg. 9, Nr. 7 (Mai 2005, S. 13ff.) tivs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung ge- 6 Sergej O. Prokofieff: a.a.O. (2007), S. 187. 7 Kettner, a.a.O., S. 206: «Der falsche Demetrius glaubt an sich setzt haben will. Es ist also in seiner reinen Form Darstellung selbst bis auf den Augenblick, wo er in Moskau soll einziehen. schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen, Hier wird er an sich irre, einer entdeckt ihm seine wahre und in diesem Sinne die einzige ästhetische Religion.» Geburt und diess bringt eine schnelle unglückselige Verände- Diese Briefstelle verweist auf die 1795 entstandene Schrift rung im Charakter des Betrogenen hervor. Der Entdecker wird Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von das erste Opfer derselben. Von jetzt an ist Demetrius Tyrann, Briefen. Das Werk ist nicht hoch genug zu schätzen. Es ist je- Betrüger, Schelm.» (Studienheft). doch eine Art offenbares Geheimnis, das es zu ergreifen gäl- 8 Rudolf Steiner: Theosophie (GA 9), 30. Auflage 1978 (TB), S. 40. te. Rudolf Steiner bezeichnete es als Meditationsbuch, des- 9 «Lass deines Willens freie Handlung seyn, was die Natur das sen Gedanken nur dann wirken, wenn sie den Menschen Blut dir versagt. Ich fodre keine Heuchelei, keine Lüge von begleiten durchs ganze Leben, so dass er werden will, wie dir, ich fodre wahre Gefühle. Scheine du nicht meine Mutter, sei es, umfasse mich als deinen Sohn (...) Du sollst einen ehr- Schiller werden wollte. Zugleich bedauerte er, wie wenige ge- erbietigen Sohn in mir sehen. Was willst du mehr? Der, wel- rade diese intimsten Gedanken und Gefühle Schillers Ein- cher im Grabe liegt, ist Staub, er hat kein Herz dich zu lieben, gang gefunden hätten in das pädagogische Leben, das von er hat kein Auge dir zu lächeln, er giebt dir nichts, ich aber 34 ganz von ihnen durchdrungen sein müsste. Die sprachli- gab dir alles. Wende dich zu dem Lebenden.», zitiert nach:

18 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Goethes Wahlverwandtschaften

Gustav Kettner (Hg.): Schillers dramatischer Nachlass. 1. Band. 25 Emil Bock: a.a.O., S. 93-95. Demetrius, Weimar 1895, S. 159 (Szenar). 26 Rudolf Steiner: Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis 10 Theosophie, a.a.O, S. 40. und der Kulturwert der Pädagogik (GA 310), Vortrag vom 18. Juli 11 Im Szenar (Kettner, a.a.O., S. 127) heißt es dazu ausdrücklich: 1924, Dornach 2000 (TB), S. 34. «Es darf nach geschehener Erkennung bei den gegenwärtigen 27 Rudolf Steiner, a.a.O., S. 35. Personen kein Zweifel übrig bleiben, ja wo möglich muss 28 Ausführlich dazu Hans-Jürgen Schings in einer wichtigen und auch der Zuschauer in diesem Augenblick vollkommen an erhellenden Studie, trotz eines gelegentlich allzu akademischen den Demetrius glauben. Besonders aber muss er selbst an sich Stils: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund glauben, und dies muss eine solche Wirkung thun, dass selbst der Illuminaten, Tübingen 1996. der Unglaube des Zuschauers nicht dagegen aufkommen 29 Sämtliche Werke. Zweiter Band, München (Hanser), 5. Auf- kann, oder derselbe doch wissentlich fortgerissen wird.» lage 1974, S. 259 u. 261. 12 Kettner, a.a.O., S. 28f. (1. Aufzug). 30 Eine Holzskulptur Rudolf Steiners, die heute im Goetheanum 13 Kettner, a.a.O., S. 101f. (Skizzen). aufgestellt ist. 14 Kettner, a.a.O., S. 156f. (Szenar). 31 Sämtliche Werke. Fünfter Band, München (Hanser), 5. Auf- 15 Kettner, a.a.O., S. 102 (Skizzen). lage 1974, S. 667. 16 Herbert Hahn: Der Unvollendete. Skizze eines Geistesbildes von 32 Goethes Werke, WA, IV.48, Weimar 1909, S. 12. Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 114. 33 Sämtliche Werke, Erster Band, München (Hanser), 6. Auflage 17 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Zürich 1963, S. 734 1980, S. 307. (Purgatorio, 27. Gesang am Ende). 34 Rudolf Steiner, Ursprung und Ziel des Menschen (GA 53), 18 Ausführlich dazu Thomas Meyer, a.a.O., S. 15ff. Dornach 1985 (TB), Vortrag vom 4. Mai 1905: «Schiller und 19 Emil Bock: Boten des Geistes, Schwäbische Geistesgeschichte und die Gegenwart», S. 406f. christliche Zukunft, 4. Auflage, Stuttgart 1987, S. 116. 35 Sigismund von Gleich: Zur Freiheit durch die Schönheit, Dürnau 20 Kettner, a.a.O., S. 239 (Studienheft). 1987, mit einem Vorwort von Thomas Meyer; ursprünglich 21 Kettner, a.a.O., S. 17 und S. 26 (Erster Aufzug). erschienen 1945 unter dem Titel Die Selbsterziehung des Men- 22 Kettner, a.a.O., S. 30 (Erster Aufzug). schen durch die Schönheit zur Freiheit. 23 Sergej O. Prokofieff: a.a.O. (2007), S. 179. 36 Heinrich Marianus Deinhardt: Die «ästhetischen Briefe», Dürnau 24 Carl J. Burckhardt: Friedrich Schiller, in: Bildnisse, Frankfurt 1987, mit einem Vorwort von Thomas Meyer. a.M. 1958, S. 66.

Karma-Erwachen bei Goethe – vor 200 Jahren: Die Wahlverwandtschaften

n der Michaeli-Woche des September 1809 erschien ei- Der Entstehung des Romans zugrunde liegt die Anre- Ine Annonce im Morgenblatt für gebildete Stände, worin gung, die Goethe schon 1770 bei einem Ritt auf den Odi- der Cotta-Verlag das Erscheinen des neuen Romans von lienberg empfangen hatte und dort das Odilien-Wesen als J.W. v. Goethe ankündigte – rechtzeitig zur Michaelis- tiefen Eindruck mit frommen und reinen Herzenskräften Messe. In dieser Annonce findet sich der Hinweis, «dass erlebt hatte; im elften Buch von Dichtung und Wahrheit den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbei- wird dies erzählt, und da ist die Brücke geschlagen zur ten zu diesem seltsamen Titel veranlassten». Weiter ist Ottilie des Romans: als entsagende und durch Verzicht, in davon die Rede, «dass man in der Naturlehre sich sehr ihrem Fall Verzicht auf gelebte Liebe, ins Heiligmäßige oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem wächst. Goethe griff nur zur eingedeutschten Namens- Kreise menschlichen Wesens weit Entferntes näher gebung, um damit die Hauptgestalten seiner alchymisch- heranzubringen; und so hat der Verfasser auch wohl, in schicksalhaften Gleichnisrede auch durch Laut-Sprachzei- einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede chen zu verknüpfen: Charlotte, Otto, Otto-Eduard, Ottilie. zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, Zugrunde liegt zweitens das Werk De attractionibus electivis umso mehr, als doch überall nur eine Natur ist ...» des schwedischen Chemikers Torbern Bergmann, das 1785 Diese chemische Gleichnisrede, die fortgesetzten mit dem Titel Wahlverwandtschaft erschienen war. Darin physikalischen Versuche sind der Hinweis, dass Goethe ging es um die Zuordnung und Anziehung von Elementen, Naturgesetzen auf der Spur war, die ihn über wissen- ihre Bereitschaft zu Lösung, Scheidung und Neubindung. schaftliche Beobachtungen auf Schicksalsfragen führten Die gegenseitigen Verhältnisse, «Affinitäten», waren bei – umso mehr, als doch überall nur eine Natur ist. Goethe auf lebhafte Gedankenbereitschaft gestoßen, weil

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 19 Goethes Wahlverwandtschaften er gerade eben die Farbenlehre zum kommen. Diese Alchymie ist das Abschluss brachte. Im Winter 1805/6 Fragen nach Karmagesetzen. Mit hatte er über «Polaritäten» in der Wei- dem Text der Wahlverwandtschaf- marer Freitagsgesellschaft gespro- ten hat Goethe – zur Michaelismesse chen. Hier erkennen wir die Verknüp- – einen neuen literarischen Typus fung langjähriger wissenschaftlicher geschaffen: den Karma erkunden- Fragen in Goethes Gedankenkosmos den Roman. mit der Erkundung menschlicher Kar- Daher finden sich darin nicht nur magesetze. Nach Schillers Tod, nach begeisternde Seelenvorgänge, Affi- Abschluss der dreibändigen Farben- nitäten zu Landschaften – Seelen- lehre, die er als sein wichtigstes Werk landschaften –, sondern fast erkäl- betrachtete, nach der aufsehenerre- tend nüchterne Untersuchungen genden Begegnung mit Napoleon in undurchschaubarer Schicksalsbege- Erfurt wird der Roman im Winter-Früh- benheiten. Zwei Leseproben mögen jahr 1808/1809 konsequent diktiert; das verdeutlichen: formstreng in zwei Teile von je acht- «Allerdings, erwiderte Eduard. Es zehn kurzen Kapiteln, kristallinisch war sogar ein bezeichnender Ehren- geschliffen, von transparentem Auf- J. W. Goethe; F.G. von Kügelgen, 1811 titel der Chemiker, dass man sie bau, durchkomponiert mit Leit-Mo- Scheidekünstler nannte. tiven – im Rechts-Links-Bezug; in der Gartenlandschaft; Das tut man also nicht mehr, versetzte Charlotte, im Verhalten der Menschen gegeneinander etwa. Kein an- und tut sehr wohl daran. Das Vereinigen ist eine größe- deres Werk Goethes ist so in sich zentriert, aus einem Guss re Kunst, ein größeres Verdienst. Ein Einungskünstler und in einem Zug niedergelegt wie der Roman des Sech- wäre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen. – zigjährigen. Natürlich ist eine verwickelte, besser gesagt Nun so lasst mich denn, weil ihr doch einmal im Zuge überkreuzte Liebeserfahrung im Zentrum; aber es ist kein seid, ein paar solche Fälle wissen. Liebesroman, denn es geht nicht um Erregung großer Lei- So schließen wir uns denn gleich, sagte der Haupt- denschaften – es ist kein Wertherton hier. mann, an dasjenige wieder an, was wir oben schon be- nannt und besprochen haben. Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen ist eine mehr oder weniger reine Kalk- Der Knabentraum des Studenten von der heiligen Odilie erde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in vermischt sich mit der entsagenden Leidenschaft des Er- Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück grauten für ein junges Leben zum tragischen Gedicht, das beides feiert: die Macht der Natur und die einer mensch- solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so ergreift lichen Übernatur, die sich durch den Tod ihre Freiheit sal- diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zar- viert. Die Wahlverwandtschaften sind höchste Dichtung in te luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Tren- ihrer Einheit von Gestalt und Gedanke. Sie sind im Künst- nung, eine neue Zusammensetzung entstanden und lerischen, was sie im Ideellen darstellen: Naturvergeisti- man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort gung, «sittliche Kultur». Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aus- Thomas Mann, Leiden und Größe der Meister, 1925. sieht als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde. Verzeihen Sie mir, sagte Charlotte, wie ich dem Na- Was ist der Roman dann? Er ist eine klinisch kühle, turforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine glasklare Analyse der Entwicklung von unbewussten Le- Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und die- bensplänen mit sich ereignenden Neubindungen. Schei- se kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sa- dungen, und vor allem: Leiden, Enttäuschungen, bis zu che der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse Todesprozessen, deren ursprüngliche Gesetzmäßigkeiten wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die handelnden, hilflos handelnden Figuren in Gefahr, die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Hän- schließlich Ruin und Zerstörung treiben. Sie handeln; sie den des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusam- wollen; was dabei herauskommt, hatten sie aber nicht menbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gna- gewollt und versuchen daher verzweifelt, den «magne- de ihnen Gott! In dem gegenwärtigen Falle dauert mich tischen», aber unverständlichen Antrieben ihres Han- nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen delns und Handlungs-Unvermögens auf die Spur zu herumtreiben muss.

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Es kommt nur auf sie an, versetzte der Hauptmann, Wie Romeo und Julia ruhen die Liebenden im Tod Seite sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquel- an Seite; aber anders als dort, schließt Goethe den Ro- le Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen.» man mit einem Blick der Engel, und einem Ausblick auf (1. Teil, 4. Kapitel) Wiederkunft: Konsequenter Weise stellt Goethe hier die Frage, was «Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte wohl die Macht sei, die ihre Auflösung nur am Men- Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und schen, im gegenseitigen Bezogensein, findet: Goethe welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn bezeichnet sie, in Ermangelung eines anderen verfügba- sie dereinst wieder zusammen erwachen.» ren Begriffes, als «magnetisch». «Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast Und von solchen Dingen können noch sehr viele gefunden magische Anziehungskraft gegen einander aus. Sie werden sowohl in den nutzbringenden Wissenschaften wie wohnten unter einem Dache; aber selbst ohne gerade in den Luxuswissenschaften. Aber diese Dinge werden erst aneinander zu denken, mit anderen Dingen beschäftigt, als wirkliche Erkenntnisschätze gehoben werden, wenn von der Gesellschaft hin- und hergezogen, näherten sie man einmal den Goetheanismus auf der anderen Seite so sich einander. Fanden sie sich in einem Saale, so dauer- ernst nehmen wird, dass man manches, was bei Goethe Ah- te es nicht lange und sie standen, sie saßen nebenei- nung ist, durch Geisteswissenschaft erleuchtet, oder aber das Geisteswissenschaftliche dadurch zu etwas umgestaltet, nander. Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, was einem eine gewisse historische Freude macht, indem aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; man die Dinge, die jetzt als Erkenntnis auftreten, bei Goe- nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, the, als eine Art Ahnung in romanhafter Form verarbeitet keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusam- findet. menseins. Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur ein Mensch im bewusstlosen vollkommenen Be- Rudolf Steiner, Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung, GA 220, Vortrag hagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, vom 7. Januar 1923. hätte man eins von beiden am letzten Ende der Woh- nung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz zu ihm hinbewegt. Das Leben Schließlich sei, am Rande, vermerkt: der Roman enthält war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur mitei- außerdem eine Fülle kostbarer Motive, der Maurerei, des nander fanden.» (2. Teil, 17. Kapitel) Wunderglaubens, Bekenntnisse des Verfassers über Male- Die karmische Bedingung der Lebenssituation nennt rei, über Architektur; eine herrliche Studie einer elemen- der Dichter das Element, die Atmosphäre, worin einzig tar-merkurialen Begabung, die Mittler heißt – eine quasi der Mensch seine Schicksalslage wiederfindet: inkarnierte Quecksilber-Allegorie – und nicht zuletzt Sät- «Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, ze und Erkenntnisse, die seit zweihundert Jahren in Ka- wiederholt sich mehr als man glaubt, weil seine Natur lendern und auf Reißzetteln fröhlich stete Wiederkehr hiezu die nächste Bestimmung gibt. Charakter, Indivi- feiern – wie etwa den Goetheschen Hinweis: manchmal dualität, Neigung, Richtung, Örtlichkeit, Umgebungen sei es besser, nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben... und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in Der Kern aber bleibt: die Frage nach dem Karma. Und welchem jeder Mensch, wie in einem Elemente, in einer die hatte schon die Annonce vom September 1809 ab- Atmosphäre, schwimmt, worin es ihm allein bequem geschlossen: und behaglich ist. Und so finden wir die Menschen, «... umso mehr, als doch überall nur eine Natur ist, über deren Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert, die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine hö- unveränderlich.» (dto.) here Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, Mit Bewusstsein ist diesem Elemente allein nicht bei- völlig auszulöschen sind.» zukommen – was gleich auf den ersten Seiten festgehal- ten wird: «Das Bewusstsein, mein Liebster, ist keine hin- Marcus Schneider längliche Waffe, ja, manchmal eine gefährliche für den, der sie führt ...» Der Artikel geht aus einem Seminar vom Oktober 2009 Dem Leser wird immer deutlicher: aus dem Verfolgen in Weimar «200 Jahre Wahlverwandtschaften» hervor. nur eines Schicksalsknotens, nur einer Inkarnation Der Verfasser spricht zum Thema am 13. Januar 2010 im kann weder eine Erklärung noch eine Lösung folgen. Paracelsus-Zweig Basel.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 21 Das Labyrinth von Chartres

Zum Labyrinth der Kathedrale von Chartres Das Rätsel des Sonnenkreuzes

ie Idee der hochgotischen Kathedrale hat sich zum ren. Das Sonnenkreuz, ein Kreis mit einem eingezeich- Dersten Mal in Chartres in ihrer Schönheit, Größe neten Kreuz, ist ja bekannt als Symbol der uralten Son- und Tiefgründigkeit inkarniert (nach dem Brand der nenverehrung in der Menschheit – mit der in sich ru- Kathedrale 1194). Daran orientierten sich die beiden henden Form des Kreises als Zeichen für das Leben großen hochgotischen Kathedralen in Reims (1211) spendende unvergängliche Wesen der Sonne, mit dem und Amiens (1220). Was in den Plänen dieser Kathe- Kreuzeszeichen als Symbol für das Opfer. Es taucht dann dralen als das «ausgewogene Zusammenstimmen aller nach der Zeitenwende in verwandelter Form wieder auf 4 Einzelheiten zum Ganzen» zu bewundern ist1, das kann in den Grabkreuzen des iroschottischen Christentums . der aufmerksam und liebevoll Betrachtende auch weit- Um diese Sinndeutung des einzigartigen Labyrinths von gehend im Anschauen der realen Bauten empfinden. Chartres bestmöglich zu begründen, werde ich im fol- Und doch bleiben im Einzelnen für das wirkliche Ver- genden noch einmal eingehen auf seine Gestalt und stehen manche Rätsel. Das gilt in Chartres unter ande- Maße, werde die Regel für seine Weg-Führung offenle- rem für das berühmte Labyrinth im Langhaus, das auf gen, den maßgeblichen Kontext des Passionsfensters ganz verschiedene Menschen eine besondere Faszinati- herausarbeiten und abschließend seine Lage im Kontext on ausübt – als ästhetisches Phänomen, als intellektuel- der christlichen Kathedrale zu würdigen suchen. Dabei les Rätsel der Konstruktion, als Kraftfeld für Erdstrah- werden zu einem guten Teil bereits früher beschriebene lungen, als begehbares Symbol für einen Denk- und Phänomene in den neuen Begründungszusammenhang Lebensweg2. So geben die unterschiedlichen Gesichts- eingefügt. punkte auch die Richtung zu sehr verschiedenartigen Deutungen vor. Gestalt, Maß und Weg-Leitung des Labyrinths In einem früheren Artikel im Europäer3 habe ich das Wenn in der Kathedrale von Chartres an einem be- Labyrinth in der Kathedrale von Chartres verhältnismä- stimmten Wochentag das Labyrinth sich unverstellt ßig kurz beschrieben – zur Einstimmung in das Passi- vom Kirchengestühl dem Auge darbietet, erblickt man onsfenster – und dabei wie selbstverständlich vorausge- staunend ein Kreisgebilde, das die ganze Breite des setzt, dass das Labyrinth als Sonnenkreuz zu verstehen Hauptschiffes ausfüllt. Das Zentrum dieses unüberseh- ist, obgleich mir andersartige Deutungen bewusst wa- baren Kreisgebildes befindet sich auf der gedachten Ver- bindungslinie der beidseitigen Pfeiler, denen 3 Arkaden vorangehen und 3 Arkaden (bis zum Beginn des Seiten- schiffs) bzw. 4 Arkaden (bis zum Beginn des Vierungs- pfeilers) folgen. Im Innern dieser Kreisform bilden of- fenbar planmäßig geführte Wendungen von Halb- und Viertelkreisbahnen ein Kreuz, dessen Arme wiederum regelmäßig von hindurchgehenden Halbkreisen durch- brochen werden. Dadurch entstehen 4 Quadranten, die wir nach den dominanten Weg-Richtungen als Qu. I (unten links), Qu. II (oben links), Qu. III (oben rechts) und Qu. IV (unten rechts) bezeichnen. Der Durchmes- ser schwankt unmerklich zwischen 12,60 m (west-öst- lich) und 12,30 m (nord-südlich). Der Weg im Innern ist 0,34 m breit, also für das Begehen durch je einzelne Per- sonen im Nacheinander gedacht, und hat eine Gesamt- länge von 261 m. Er wird begonnen mit einer Einstiegs- geraden, die auf halber Länge nach links ausgeweitet wird durch 2 Viertelkreise, und durch eine Zielgerade, Das Labyrinth. Blick aus dem Gewölbe Quelle: Roland Halfen, Chartres. Bd. 3, Architektur und Glas- die auf halber Länge nach rechts erweitert wird durch malerei, Stuttgart-Berlin 2007, S. 639, Abb. 344. 2 Viertelkreise. Durch Einstiegs- und Zielgerade wird der Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Johannes M. Mayer. sozusagen tragende Kreuzesarm gebildet.

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Die Regel, welche die Anordnung der Halb- und Viertel- rechts im ersten und im vierten Quadranten erforder- kreise bestimmt, soll im folgenden durch die Einfär- lich. Diese genaue Beschreibung der Folge von Halb- bung bestimmter Bahnabschnitte deutlich werden. und Viertelkreisen bleibt nahe am Phänomen, während der Versuch, die Halb- und Viertelkreise als Längen und Kürzen von Versmaßen zu erfassen, eine unzulässige Abstraktion ist, da die unterschiedlich langen Halb- und Viertelkreise nicht der gleichbleibenden Größe von Vers-Füßen entsprechen. In der Gesamtkonstruktion sind also drei Hauptbe- wegungen durch alle 4 Quadranten hervorzuheben, hier in Gelb im Uhrzeigersinn nach innen, in Rot entgegen dem Uhrzeigersinn (!) nach außen und in Blau wieder im Uhrzeigersinn nach innen. Die Konstatierung von drei Hauptbewegungen mit verschiedenem Richtungssinn (Uhrzeigersinn – Gegenrichtung, nach innen – nach au- ßen) durch alle 4 Quadranten widerlegt offensichtlich die Annahme, dass man aufgrund von je 7 Wendungen um 180 Grad in jedem der 4 Quadranten – das sind 4x7= 28 Wendungen – an einen Mondumlauf von 28 Ta- gen durch die vier Mondphasen zu denken habe. An ei- nen Mondumlauf wäre allenfalls zu denken, wenn ein Schema: Louis Charpentier, Die Geheimnisse der Kathedrale Quadrant nur Viertelkreise aufwiese, die vollständig von Chartres, übers. Köln 1972, S.164. durchlaufen würden, ehe der Übergang zum nächsten Farbige Interpretation: Horst Peters Quadranten vollzogen wird, wie man es bei 2 Labyrin- then in Thermen aus römischer Zeit beobachten kann5. Es gibt drei in der Qualität, nicht in der Länge völlig gleichartige Bewegungen, die hier durch die Farben Sinndeutung Gelb, Rot und Blau hervorgehoben werden. Die Bewe- Für die Sinndeutung dieses Labyrinths ist zunächst fest- gung in Gelb geht im Uhrzeigersinn nach innen durch zuhalten, dass es dafür weder im Labyrinth selber noch alle 4 Quadranten (Qu.I ¡ Qu.IV), indem zweimal auf in mittelalterlichen Handschriften einen expliziten einen fortschreitenden Halbkreis ein rückschreitender Hinweis gibt6. Es ist daher auch versucht worden, aus Viertelkreis folgt und dann dem dritten fortschreiten- der Entwicklung der Labyrinthform in Handschriften den Halbkreis zwei Viertelkreise sich anschließen, die und Kirchenbauten Aufschlüsse für das Labyrinth in der folgenden Bewegung in Rot den nötigen Raum er- Chartres zu gewinnen7. So findet man in Handschriften öffnen. Die Bewegung in Rot verläuft entgegen dem vom 9. bis 12. Jahrhundert Rechteck- und Kreis-Formen Uhrzeigersinn nach außen durch alle 4 Quadranten des Labyrinths bis hin zum Kreis mit eingeprägtem (Qu.IV ¡ Qu.I) nach derselben Regel und bereitet so die Kreuz des Chartreser Typs – sogar mit der charakteristi- Bahn für die Bewegung in Blau, die wiederum im Uhr- schen Rundung der Kehren in einer spanischen Hand- zeigersinn nach innen geht (Qu.I ¡ Qu.IV) und durch schrift des elften Jahrhundert aus Silos. Teilweise wird ihre beiden abschließenden Viertelkreise den Raum er- in den Handschriften ein Namensbezug zum antiken öffnet für die beiden Halbkreise ganz außen in Orange, Mythos (Dädalus, Minotaurus, Theseus) hergestellt. Von durch welche die sonst unvollständige Kreisform erfüllt den Kirchenlabyrinthen (erst ab dem 12. Jahrhundert) wird. Dem entsprechen im Innern die je zwei Halb- und ist eine Sandsteintafel der Kirche von Pontremoli in Ita- Viertelkreise in Orange, die den Raum schaffen für die lien bemerkenswert, die mit dem Jesus-Monogramm im Konstruktion der drei vollständigen Umläufe in Gelb, Zentrum die ausdrücklich christliche Deutung voll- Rot und Blau. Die Einstiegsgerade und die Zielgerade – zieht. Das ist nur die letzte Konsequenz in der Gestal- hier durch Grün gekennzeichnet – würden ohne seit- tung des Labyrinths vom Rechteck über Kreis und Kreuz liche Abweichung dazu führen, dass in der Gesamt- zum christlichen Zentrum in einer christlichen Kirche. konstruktion rechts und links je zwei Viertelkreise un- Diese christliche Deutung erfährt in Chartres, wie im berücksichtigt blieben. So ist die Ausweitung der folgenden zu zeigen ist, eine einzigartige spirituelle Einstiegsgeraden nach links und der Zielgeraden nach Überhöhung, während bei den Labyrinthen von Reims

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 23 Das Labyrinth von Chartres und Amiens schon wieder eine Veräußerlichung statt- der zunächst unerkannt mit ihnen geht, sie zu reden auf- findet – durch das Verlassen der Kreisform zugunsten fordert, sinngemäß mit den Worten: «Über was erwägt einer polygonalen Form und durch das Anbringen der ihr im Gehen so intensiv das Für und Wider?» Dieses ge- Architektennamen8. dankliche Ringen im Gespräch, das sicher mit starkem Herzensanteil geführt wird, hatte die Kraft, den Christus Der Kontext, das Passionsfenster herbeizurufen. Auf seine Frage berichten die Beiden, der Wir wenden uns nun dem maßgeblichen Kontext erwartete Befreier (Erlöser) Israels sei drei Tage zuvor zu, dem Passionsfenster der Westwand aus dem 12. Jahr- gestorben, doch die Frauen am Grabe hätten nun die hundert. Diese Westwand mit ihrem Ensemble der drei Engelsbotschaft vernommen, er lebe. Nachforschende wunderbar farbigen Glasfenster wurde nach dem Brand Jünger hätten das Grab leer gefunden, doch ihn selbst 1194 in den Neubau der Kathedrale übernommen. So hätten sie nicht angetroffen. Indem Christus sie belehrt konnte der Architekt von der einzigartigen spirituellen über die Erfüllung der alten Prophezeiungen, brennt ih- Bedeutung des Passionsfensters ausgehen. Wir werden nen das Herz, aber sie erkennen ihn noch nicht. Doch bei der Betrachtung des Passionsfensters drei Phänome- da sie nicht von ihm lassen wollen, laden sie ihn ins ne ins Auge fassen: 1) die Rahmenkomposition mit den Haus zum abendlichen Mahl. Das letzte Bild des ganzen kontrastierenden Außengliedern, 2) die zentrale vierte Fensters zeigt so die Situation im Hause in dem Augen- Stufe mit dem Kreuz auf Golgatha und 3) die besondere blick, als sie ihn im Augenblick des Brotbrechens erken- Folge der Bilder der Stufen I–III und V–VII in der sie- nen. Wie die beiden Weg-Bilder als Gegensätze zu ver- benstufigen Komposition. stehen sind mit den Aufforderungen zu schweigen und zu reden, so steht dieses Bild im Gegensatz zum Bild 1) Das Passionsfenster ist unverkennbar als Rahmen- der Verklärung, bei dem die auserwählten Jünger, durch komposition mit 7 Bildstufen zu je 2 Bildern konzipiert Nimbus gekennzeichnet, schlaftrunken am Boden liegen, – mit einem ausgezeichneten Mittelpunkt auf der vier- während das abschließende Bild als buchstäblicher Hö- ten Stufe. Das erste Bild der untersten Stufe zeigt das Of- hepunkt des ganzen Fensters zwei einfache Jünger ohne fenbarungserlebnis der drei Jünger Petrus, Jakobus und Nimbus darstellt, wie sie geistig aufwachen für die geis- Johannes, das Geist-Bild der Verklärung Christi (hier tig-physische Gegenwart des Auferstandenen. In diesem wohl nach Ev. Luk. 9,28-2). Christus wird flankiert von auffallenden Bildkontrast liegt ein Gedankenkeim: den schwebenden Geist-Gestalten des Moses und des Auch einfache Menschen können durch ihr intensives Elias. Das darf man aufgrund der anthroposophisch- Fragen und Suchen unabhängig von Autoritäten und geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse Rudolf Steiners menschlichen Hierarchien den Auferstandenen herbei- so verstehen, dass hier das göttliche Wesen der Liebe be- rufen und schauen, wenn Er es will. Darin spricht sich gleitet wird von den menschlichen Repräsentanten von die Erkenntnishaltung der Schule von Chartres aus, de- Weisheit (Moses) und Stärke (Elias)9. Da die Jünger am ren Schulungsweg über die Sieben Freien Künste die Boden liegen, wird anschaubar, dass sie sich nur partiell Geisteskräfte entfalten und zum erlebenden Erkennen wachhalten können. Petrus hebt einen Arm wohl zu von Geistwesen führen sollte10. den Worten: «Meister, hier ist gut sein. Lasst uns drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.» Doch 2) Diese geistig selbständige Erkenntnishaltung – un- er weiß nicht, was er sagt, wie es im Evangelium heißt beeindruckt von Grenzsetzungen durch Autoritäten – (Ev. Luk. 9,33). Nur zeitweilig nämlich vermögen die sollte man offenbar auch wirken lassen bei dem Bemü- drei Jünger bei diesem Geist-Erlebnis auf dem Berg Ta- hen, die zentrale vierte Stufe dieses Fensters zu verste- bor ihr Bewusstsein aufrecht zu erhalten. Das nächste hen. Im Mittelpunkt der beiden Bilder dieser Stufe steht Bild der ersten Stufe zeigt die nämlichen drei Jünger mit das Kreuz auf Golgatha – ungewöhnlich groß und unge- Christus auf dem Weg im Abstieg vom Tabor in dem Au- wöhnlich farbig leuchtend in Grün und Rot. Hinter genblick, als er sie auffordert, über das Erlebte zu schwei- dem Kreuz stehen Johannes und Maria. Das erste Bild gen, offenbar damit es im Herzen verinnerlicht werden zeigt den Gekreuzigten, nachdem der leibliche Tod be- und ihnen die Kraft geben soll, in der Nacht von Geth- reits eingetreten ist. Darauf weisen der geneigte Kopf semane für ihn zu wachen und zu beten. Dieses zweite und der friedvolle Ausdruck des Antlitzes mit den ge- Bild der ersten Stufe erfährt seine genaue Umkehrung schlossenen Augen hin. Im zweiten Bild wird die Ab- durch das erste Bild der siebenten Stufe, das zwei Jünger lösung vom Kreuz durch Joseph von Arimathia und auf dem Weg nach Emmaus zeigt (Ev. Luk. 24,13ff.). Die Nikodemus dargestellt. Wir können uns für unsere Be- Jünger halten im Gehen inne, als der Auferstandene, trachtung auf die sorgfältige Analyse des ersten Bildes

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Copyright Ed. Houvet, Chartres beschränken und gehen dabei aus von der Frage: Was linken Passionsfenster unterschieden. Im rechten Fens- haben die ungewöhnliche Größe des Kreuzes, das in ter wird die aufsteigende Mittelachse durch Quadrate den umgebenden Kreisring hineinragt, und das auffal- gebildet, die flankiert werden jeweils beidseitig durch ei- lende Grün mit den roten Randleisten zu bedeuten? nen Halbkreis. Im mittleren Fenster werden im Wechsel Um uns einer Antwort zu nähern, müssen wir zunächst Quadrate und zwei konzentrische Kreise als Bildrahmen auf gestalterische Zusammenhänge mit den beiden an- gestaltet. Im linken Passionsfenster bilden ausschließ- deren Westfenstern, dem Wurzel-Jesse-Fenster und dem lich zwei konzentrische Kreise den Rahmen. Diese geo- Fenster der Menschwerdung Christi hinweisen. Die drei metrische Gestaltung wird unterstrichen durch die mit Fenster sind ja nicht nur durch die stärkere Betonung den Kreisen verbundene Farbgebung. Im rechten Fens- des berühmten Chartres-Blau im Wurzel-Jesse-Fenster, ter wird ein halbkreisförmiges blaues Farbband nach der durch das relativ ausgeglichene Erscheinen von Blau, Außenseite abgeschlossen durch einen Halbkreis, der Rot und Gelb im mittleren Fenster der Menschwerdung durch weiße Strichmuster aufgehellt ist. Im mittleren und durch das etwas stärkere Aufscheinen des Gelb im Fenster umschließen zwei konzentrische Kreise aus wei-

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 25 Das Labyrinth von Chartres

ßen Punkten ein rotes Farbband, in das in regelmäßigen Die Wiedergabe der Basis des Wurzel-Jesse-Fensters wie auch der Abständen blaue achtzählige Blütensterne, jeweils um- Taufe Jesu erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages geben von einem kleinen blauen Kreis, eingefügt sind. Johannes M. Mayer aus: Roland Halfen: «Chartres – Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas. Band 3: Architektur und Glas- Das wird im Passionsfenster gesteigert, indem in allen malerei», Stuttgart 2007, S. 208 und S. 215. Bildern wiederum zwei konzentrische Kreise aus weißen Punkten ein Band umschließen, worin in regelmäßigem (Ev. Joh. 11,25). Von diesem Sonnengeist des Christus Wechsel rote Kreuzblüten in kleinen roten Kreisen und sprach Rudolf Steiner aufgrund seiner anthroposo- grüne und gelbe/bräunliche Blattornamente erschei- phisch-geisteswissenschaftlichen Forschung 11. Und er nen. In diesen Kreisring ragt hinein das reale Todes- ist es auch, der davon sprach, dass «… namentlich von kreuz, das mit den Farben der lebenden Pflanzen – Grün diesen Lehrern von Chartres das Christentum so vertre- und Rot – symbolisch wie mit einem Lebensschimmer ten wurde, dass überall geschaut wurde in dem Chris- überzogen erscheint. Das kommt ihm zu aus dem Kreis- tus, der in Jesus von Nazareth erschienen ist, das hohe ring, der die Kraft der Sonne symbolisiert, die Pflanzen Sonnenwesen.»12 zum Grünen, Blühen und Welken zu bringen. Dass hier 3) Die Bilder der Stufen I bis III und V bis VII des Pas- tatsächlich die Kraft der Sonne symbolisiert ist, wird sionsfensters sind so angeordnet, dass die Betrachtung deutlich durch die roten Blütenkreuze im roten Kreis, auf der Stufe I von links nach rechts verlaufen soll, dann lauter kleine Sonnenkreuze – im Unterschied zu den auf der Stufe II umgekehrt von rechts nach links und auf blauen achtzähligen Blütensternen im Mittelfenster. Stufe III wieder von links nach rechts. Zweimal erfolgt Das Sonnenkreuz hat hier auf Golgatha seine irdische also eine Wendung um 180 Grad. Analog ist auf den Erfüllung gefunden. Indem so der Sonnenkreis mit dem Stufen V bis VII zu verfahren. Die so betrachteten Bild- rot-grünen Kreuz auf Golgatha verbunden wird, wird inhalte sind die Verklärung und das anschließende Ge- nicht nur das Leben im Tode symbolisiert, sondern auf spräch auf dem Weg, dann die Fußwaschung und das den todüberwindenden Sonnengeist des Christus hin- Abendmahl und schließlich die Gefangennahme Jesu gedeutet, der von sich sagen durfte: «Ich bin das Licht und die Geißelung. Auf der fünften Stufe werden gestal- der Welt.» (Ev. Joh. 8,12, vgl. auch Ev. Joh. 1,9–10) tet die Grablegung und die Verkündigung des Engels am und auch «Ich bin die Auferstehung und das Leben.» leeren Grab. Es folgen die Begegnung der Maria Magda-

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lena mit dem Auferstandenen und ihre Botschaft an die ungläubig abwehrenden Apostel. Dazu stehen im Ge- gensatz wieder nach Wendung um 180 Grad der Gang der beiden einfachen Jünger nach Emmaus und das Mahl mit dem Auferstandenen. Diese fortlaufende Be- trachtungsweise wird bewusst nur unterbrochen durch die Bewegung von links nach rechts auf der Kreuzes- stufe.

Was lässt sich nun aus der Betrachtung des Passions- fensters für die Sinndeutung des Labyrinths gewinnen? Das Passionsfenster regt durch seine Gesamtbewegung an zu geistig selbständigem Fragen unabhängig von Au- toritäten, dem Geist der Schule von Chartres entspre- chend. Es stellt zweimal das Bild eines Weges vor das Auge hin. Durch die Bilderfolge wird außerdem eine Bildbetrachtung mit insgesamt viermaliger Wendung um 180 Grad veranlasst. Und im Zentrum der sieben- stufigen Gesamtkomposition wird in spiritueller Über- höhung des Jesus auf das Geheimnis des Sonnengeistes hingedeutet. Dem Architekten des Kathedralbaus nach 1194, der mit der stehengebliebenen Westwand auch das Passionsfenster in seine Pläne einbezog, stand die Quelle: Benita von Schröder, Das Mysterium von Chartres. christlich geheiligte Form von Kreis und Kreuz vor Au- Bild- und Kompositionsgeheimnisse der Portale und Glasmalereien, gen und als Ziel des Weges mit seinen Wendungen um Stuttgart 1992, S. 344, Fig. 20: Ikonographisches Schema des 180 Grad der auferstandene Christus. So kann ich mir Westfensters.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 27 Das Labyrinth von Chartres nicht vorstellen, dass der Architekt ins Zentrum des La- byrinths den Minotaurus, den Teufel, die Stadt Jericho 1 Hans Jantzen, Die Gotik des Abendlandes, Köln 1962, S. 57. oder das himmlische Jerusalem gesetzt hätte. Das Laby- 2 Zum Labyrinth von Chartres: Roland Halfen, Chartres, Bd.3, Architektur und Glasmalerei, Stuttgart 2006, S. 636–672, rinth mit der christlich geheiligten Form von Kreis und S. 676ff. Kreuz wurde in den Boden der Kathedrale eingeschrie- 3 Der Europäer, Jg.13, Nr.11, September 2009, S. 14 –18. ben, unübersehbar die ganze Breite des Mittelschiffs 4 , Sonne und Kreuz, Stuttgart 1977. ausfüllend – der Kathedrale, deren Grundriss der Archi- 5 An dieser Stelle ist noch hinzufügen, dass man den äußeren tekt bewusst als Kreuz gestaltet hat. Am Ende des la- Strahlenkranz, der die Kreisform umgibt, auch für den Bezug byrinthischen Weges mit seinen vielen Wendungen um zum Mond nutzen wollte, indem man die vorgebliche Zahl von 112 Strahlen mit ebensoviel eingeschlossenen halbkreis- 180 Grad, der die Wege des Denkens und des Lebens förmigen Gebilden in 4x28 zerlegte und so zu der Vorstellung veranschaulichen kann, wartet der Auferstandene, wenn von 4 Mondumläufen kam. Abgesehen davon, dass das im man nicht stehenbleibt oder gar den begonnenen Weg Widerspruch steht zu den festgestellten 3 Umläufen durch die verlässt. Erweiternd kann man selbstverständlich den 4 Quadranten, von denen einer entgegengesetzt den beiden Kontext des Westportals, der farbigen Glasfenster der anderen erfolgt, kann man festhalten: Es gibt tatsächlich 113 Seitenschiffe, die Fensterrose in der Westwand und den Zacken oder Strahlen mit ebensoviel eingeschlossenen Fel- dern. Davon ist ein Feld ausgezeichnet als Eingang in das Choraltar mit seinem kultischen Geschehen zur Deu- Labyrinth, indem die Halbkreisform zwischen zwei Zacken tung heranziehen. Das hat in tiefgründiger Weise Ro- halbiert wird und die beiden Hälften so weit auseinander- 13 land Halfen vollzogen . Doch der nähere Kontext des gezogen werden, dass die Einstiegsgerade Raum hat. Die Ein- Passionsfensters gibt dem Labyrinth den unmittelbar stiegsgrade ist etwa so breit, wie der normale Abstand der einleuchtenden Sinn des Sonnenkreuzes, das nun in die Zacken oder Strahlen voneinander und scheint so deren Zahl Erde eingeschrieben ist. Das Labyrinth in Chartres wird zu bestimmen, die insgesamt also 113 ausmacht und daher nicht mehr für Mondenspekulationen zur Verfügung steht. so ein real begehbares und so mit den Gliedern und Sin- Zudem steht dann eine Zahl, wie gezeigt, für den doppelten nen erfahrbares Symbol für die Denk- und Lebenswege Abstand der Zacken voneinander. Das ergäbe die Möglichkeit des Menschen, der nach dem Opfertod des Jesus Chris- für 114 Zacken. Bedenkt man weiter den zwischen 12,60 und tus ganz neu und wesenhaft mit dem Sonnengeist des 12,30 schwankenden Durchmesser, so ergibt sich eine Anzahl Christus verbunden ist. Nimmt man das Wort des der Zacken zwischen 116,42 und 113,65, wenn man den Christus «Was ihr einem der Geringsten getan habt, das Kreisumfang jeweils durch die Wegbreite 0,34 dividiert. 6 Halfen, a.a.O., S. 638 – 639. habt ihr mir getan»14 wörtlich, dann ist Er mit jedem 7 Halfen, a.a.O., S. 641– 669. Menschen verbunden, geht mit ihm seinen Entwick- 8 Halfen, a.a.O., S. 641 mit S. 673. Jantzen, a.a.O. S. 41. lungsweg und erlebt seine Fort- und Rückschritte mit, 9 Rudolf Steiner, GA 104, Die Apokalypse des Johannes, die letzteren wie eine Fesselung an das Kreuz. Und der 26.6.1908. Mensch kann dessen inne werden: Das Ziel ist schon auf 10 Zur Schule von Chartres Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtun- dem Weg in ihm. Es wird am Ende eines Erkenntniswe- gen karmischer Zusammenhänge: GA 237, GA 238, GA 240. Karl Heyer, Das Wunder von Chartres, Basel 1926. Kurt Flasch, ges oder gar am Ende des Lebensweges für das geistige Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Auge sichtbar werden. Wer das als Zeitgenosse einer ma- Macchiavelli, Stuttgart 1986, 226ff. – Frank Teichmann, Der terialistisch-einseitigen Zivilisation und Kulturentwick- Mensch und sein Tempel: Chartres, Stuttgart 2005. Angekündigt lung nicht glauben kann, der kann es doch in wirklich für 2009 ist eine große Darstellung von Roland Halfen, zeitgemäßer Weise besinnen und vielleicht erfahren. Chartres IV, Die Kathedralschule und ihr Umkreis. Auch das wird nur auf einem labyrinthischen Erkennt- 11 Rudolf Steiner, GA 202, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen, GA 207, Anthroposophie nis- und Lebensweg geschehen. als Kosmosophie, Teil I, GA 211, Das Sonnenmysterium und das Geheimnis von Tod und Auferstehung. Dr. Horst Peters, Steinen 12 Rudolf Steiner, GA 240, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Vortrag 21. August 1921. 13 Halfen a.a.O., S. 673– 688. 14 Ev.Matth. 25,40. Nach Rudolf Steiner, GA 193, Der innere Aspekt des sozialen Rätsels …, Vortrag 11.2.1919 erweitert das der Christus in unserer Zeit etwa in dem Sinne: «Was einer der geringsten Brüder denkt, das habt ihr so anzusehen, dass ich in ihm denke, und dass ich mit euch fühle, indem ihr des anderen Gedanken an euren Gedanken abmesset, soziales Interesse habt für dasjenige, was in des anderen Seele vor- geht.»

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Albertus Magnus Der Impuls der 33 Jahre und das Jahr ’48 im Verlauf der Jahrhunderte in Mitteleuropa

n der profanen Literatur taucht das Jahr ’48 als geschichts- Dafür stehen Begriffe wie «Wiener Konkordat» (1448), «Ge- Iträchtiges Datum erstmals im 14. Jahrhundert auf: 1348 harnischter Reichstag / Augsburger Interim» (1548), «West- gründete Karl IV., «der letzte Eingeweihte auf dem deut- fälischer Frieden» (1648), «Friede von Aachen» (1748) und schen Kaiserthron» in Prag die erste deutsche Universität. «Paulskirche» (1848). Das vorläufige Ende dieser Zeitreihe Aber schon diese Tat darf als Folge eines dreimal 33 1/3 Jah- markiert neben anderem vor allem die «Konstituierung des re alten Impulses gelten. In der Weihnachtszeit 1910 offen- Parlamentarischen Rates», die Gründungsphase der Bun- barte Rudolf Steiner in seiner «ureigensten Mission», den desrepublik 1948. ersten Karma-Vorträgen1, die Vorinkarnationen jener Indi- vidualität, die 1248 am eigentlichen Beginn dieser außer- Alberts Kathedrale gewöhnlichen Zeitreihe stand: Albertus Magnus2. An des- Albertus Magnus jedoch, der «doctor universalis», war sen Klosterschule in Köln war Thomas von Aquin der nicht nur Theologe und Philosoph, er hatte auch auf den berühmteste Schüler, gemeinsam gingen sie 1243 zur Gebieten der Astronomie, Geographie und Mathematik Pariser Universität. 1248, im Jahr der Rückkehr von Alber- umfassende Kenntnisse, was spätestens in den siebziger tus an den Rhein, wurde der alte Dom niedergelegt. Am Jahren des letzten Jahrhunderts wieder zum Vorschein 15. August 1248 begann der Bau des heutigen Domes, kam. Parallel zum Siegeszug der Farbphotographie und «Vorbild war Amiens» sagt die Geschichtsschreibung. den neu gegründeten Photo-Fakultäten an Hochschulen Ebenfalls 1248, einhundert Jahre vor Karl IV., gründete der hatten sich neue Farbphoto-Fachzeitschriften entwickelt. Scholastiker in Köln das dortige «Studium Generale». Photographen müssen gute Augen und Bildjournalisten eine gute Spürnase haben. In Publikationen der ernsthaf- teren Sorte konnte man die Früchte des seit den achtziger «Denn alle Dinge im geschichtlichen Werden erstehen nach drei- Jahren des letzten Jahrhunderts endlich als Kunstform ak- unddreißig Jahren in verwandelter Gestalt aus dem Grabe, durch zeptierten Handwerks entdecken. Ein Photograph berich- eine Gewalt, die zusammenhängt mit dem Heiligsten und Erlö- tete z.B. über den ursprünglichen Mittelteil des Aachener sendsten, das die Menschheit durch das Mysterium von Golgatha bekommen hat.» Kaiserdoms und zeigte die baulichen Parallelen zwischen der karolingischen (Oktogon-) Säulenhalle und den Stone- Rudolf Steiner: Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse, henge-Monumenten auf. Ein anderer Lichtbildner hatte Basel, 23.12.1917; GA 180 (vergriffen). sich mit einer in Köln bei Ausgrabungen in der zwei- tausendjährigen Stadt gefundenen Sammlung von Bau- plänen, Skizzen etc. des Doms beschäftigt. Seinen Bildbe- Inauguration des Habsburger-Reiches richt ergänzte er um weitere Untersuchungsergebnisse. Am 1. Oktober 1273 fand in Frankfurt die Wahl von Rudolf Demzufolge muss das Papier der Zeichnungen in dem von Habsburg zum deutschen König statt. Als prominen- Jahrhundert, in dem Albertus auf der Ile-de-France lehrte, ter Fürsprecher fungierte – Albertus Magnus. Rudolf bekam im Pariser Becken geschöpft worden sein. Die Notizen auf die Reichsinsignien in Köln ausgehändigt und wurde am den Plänen/Zeichnungen aber waren deckungsgleich mit 24. Oktober zusammen mit seiner Gattin im Aachener Müns- der Handschrift des Albertus. Zwar war der Kölner Bau- ter (einem der wenigen erhaltenen Bauwerke des 8./9. Jahr- leiter ein «Meister Gerhard», aber: Albertus Magnus ist der hunderts nördlich der Alpen) vom Kölner Erzbischof ge- Meister des «hohen Doms zu Köln», wie man vor Ort die krönt. Auf dem II. Konzil von Lyon fand 1274 die Aner- gotische Kathedrale nennt. Der bekannte Kölner Kunst- kennung der Wahl durch den Papst statt – auf Betreiben sammler Prof. Ferdinand Franz Wallraf (1748 –1824) hält des angereisten Albertus. Thomas von Aquin musste die fest, dass Albertus Magnus im Auftrag von Erzbischof Graf Reise abbrechen und starb am 7. März 1274 in Fossanova. Konrad I. von Hochstaden der entscheidende Schöpfer Rudolf, der erste König aus uraltem Aargauer Geschlecht des Kölner Doms war. «Albert war in Köln der Mann, der (die Habsburg liegt keine Autostunde von Dornach ent- einst in Paris der Abt Suger war. Wenn es eine Demuth des fernt) legte die Grundlagen für die spätere Macht des Wie- großen Baumeisters unseres Domes war, dass er der Nach- ner Kaiserhauses. Ohne den Habsburger König Rudolf aber welt seinen Namen entzog, wem wäre dies ähnlicher, als kein Habsburger Kaiser Karl IV. und insofern wohl auch ihm!» (Wallraf, Ausgewählte Schriften; Köln 1861, S. 152) 1348 keine Universität in Prag. In schöner Regelmäßigkeit Unsere Vorfahren haben (dem zumindest im hohen 3 künden uns seither die Geschichtsbücher Mitteleuropas al- Alter hellsichtigen ) Albertus als einem der wenigen le dreimal 33 1/3 Jahre von einem bedeutsamen Jahr ’48. Nicht-Staatsmänner den Beinamen «Magnus» verliehen.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 29 Albertus Magnus und Kölner Dom

«Er wurde ob seiner großen Kunst willen genannt Albert chenraum»: «Die Flächenmaße der wesentlichen Grundflä- der Große ... und er tat meisterlich bauen» sagt eine pro- chen des [Kölner] Domes entsprechen, wie bei der Kathe- fane Kölsche Chronik. Während die – beginnend mit Abt drale von Chartres, bestimmten Symbolzahlen. D.h. der Suger (1081–1151, ab 1122 Abt und ab ca. 1130 Bauherr Grundriss wird in seiner Größe nicht durch rein rationale von St. Denis) – im Pariser Becken errichteten Kathedralen Maße bestimmt. Es sind Symbolinhalte, die die Räume prä- zunächst als «französischer Stil» bezeichnet wurden (Otto gen. Der Dom ist erfüllt von Zahlen und Zeichen, die sich von Simson in Die Gotische Kathedrale, Darmstadt 1992), auf Christus und sein Wirken beziehen.» Auch Gerhard sprechen Unterlagen mittelalterlicher Bauhütten im Baer (Geometrie und Arithmetik in den Strukturen der Kathe- Deutschen Reich vom «Albertinischen Stil» oder «System drale von Chartres, Frankfurt 2002) hat Gleiches im Sinn, des Albertus». Der einheitliche Begriff «Gotik» wird erst was sich schon im Titel des Kapitels «Die ‹Geometrische sehr viel später, im 16. Jahrhundert durch den italieni- Tonleiter› von Chartres» widerspiegelt. schen Maler, Baumeister und Kunstschriftsteller Giorgio Vasari (1511–1574) gebildet. Der Italiener übersetzte den «Hypatia, der wiederverkörperte Orphiker» auch gebräuchlichen Ausdruck «Deutscher Stil» (oder Gleich im ersten seiner (frühen) Karma-Vorträge1 erzählte «Germanischer Stil») frei mit «dei Gotthi», womit er ab- Rudolf Steiner 1910 von einer Individualität, die in verflos- sichtsvoll Goten mit Barbaren gleichsetzte, um diesen Bau- senen Jahrtausenden als Mathematiker wirkte: «Zu den or- stil als «barbarisch» zu deklassieren. Die Schmähung ver- phischen Mysterienschülern gehört unter anderen auch die schwand erst in der Goethezeit; der vom Straßburger sympathische Persönlichkeit, die nicht mit einem äußeren Münster begeisterte Dichterfürst leitete mit seinen Berich- Namen auf die Nachwelt gekommen ist, die sich aber deut- ten (Von deutscher Baukunst, 1773) den Umschwung in der lich zeigt als ein Schüler der orphischen Mysterien, und auf Beurteilung der Gotik ein. die ich jetzt hindeute. Schon als Jüngling und dann viele Jahre hindurch war diese Persönlichkeit mit all den grie- chischen Orphien eng verbunden. Sie hat gewirkt in derje- Rudolf Steiner in Chartres: nigen Zeit, die der griechischen Philosophie vorangegangen ist und die nicht mehr in den Geschichtsbüchern der Philo- «Wir hatten lange im rechten Seitenschiff der Kirche gestanden. sophie aufgezeichnet ist ...» Von Rudolf Steiners Worten Er hatte sich ziemlich still verhalten. Als wir dann hinaustraten, erzählte er mir wunderbare Dinge über Johannes, über das Jo- über die erste nachchristliche Inkarnation sei hier nur an- hannesevangelium und ging dann plötzlich zurück zu Plato und gefügt: «... sie war hinaufgestiegen zu dem Lichte, das Aristoteles. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass leuchten konnte über alle Weisheit, über alle Erkenntnis der er diesen Gestalten da drinnen wieder begegnet war ... Rudolf damaligen Zeiten. Und es war etwas Wunderbares, wie in Steiner hat ... jene Gestalten lebendig vor mich hingestellt.» den Lehrsälen der Hypatia – denn so hieß der wiederverkör- perte Orphiker –, wie da die reinste, lichtvollste Weisheit in Edouard Schuré 1906, der damals mit Rudolf Steiner Alexandrien zu den begeisterten Hörern drang...» Hypatia, in Chartres weilte.4 Mathematikerin und «letzte» Philosophin (* um 380), war die Tochter des Mathematikers Theon, der wie später seine «1x1=1» Tochter an der philosophischen Akademie von Alexandrien Aus Chartres weht uns ein Abglanz der in alten Zeiten be- lehrte. Sie wurde dort auf Befehl des Patriarchen Kyrillos deutenden Verbindung zwischen Mathematik und Philo- vom Mob an einem Märztage 415 in eine Kirche ver- sophie entgegen: Thierry, in den vierziger Jahren des 12. schleppt und bestialisch umgebracht. Jahrhunderts Kanzler der dortigen Kathedralschule, war der Mathematiker unter den Platonikern. Ladwein4 gibt als Marie von Sivers-Steiner Beispiel Thierrys «mathematische» Definition der Trinität: In seinen Notizbucheintragungen1 hat Rudolf Steiner un- «Gegeben ist die Einheit 1 (eigentlich ‹Einsheit›). Multipli- ter Angaben, die offenbar Reinkarnation betreffen, neben ziert man diese mit sich selbst: 1x1=1, so ergibt sich die den Namen von Hypatia den von Albertus Magnus ge- Gleichheit der Einheit. Die erzeugte Eins ist identisch mit setzt. Im dritten Vortrag heißt es folgerichtig1: «... Daher der erzeugenden Eins. Dies steht für das Verhältnis von erscheint Hypatia ungefähr um die Wende des 12. zum 13. Gott Vater und Gott Sohn. Die Liebe und Verbindung zwi- Jahrhundert als ein bedeutender, umfassender, universel- schen der Einheit und der Gleichheit der Einheit steht für ler Geist der neueren Geschichte, der einen großen Ein- den Heiligen Geist. Und doch ist alles Eins und Gleich!» fluss hat auf das, was Zusammenfassung des naturwis- Mathematik, Geometrie und Musik gehören zum goti- senschaftlichen und auch des philosophischen Erkennens schen Kathedralbau, Chartres-Autoren greifen auf viele As- ist ...» In Rudolf Steiners «eigenste Mission»5 zitiert der Autor pekte zurück: Kurt Jauch (Kosmisches Maß und Heiligtum, Ekkehard Meffert und Wilfried Hammacher bzw. Anna Schaffhausen 1996) berichtet in «Maß und Zahl im Kir- Samweber: «Rudolf Steiner und Marie von Sivers – dieses

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Mal in Begleitung von Helene Röchling (1866 –1945) – be- Alberts Universität suchten im Jahre 1911 oder 1912 in Köln wieder einmal «Es gehört ein jeder Musiker zu jener Schar der Eingeweih- die unweit des Domes liegende St.-Andreas-Kirche. Als sie ten, die als Maler, Baumeister, Wissenschaftler, Weise am sich einige Schritte von dem Sarkophag des Albertus Mag- geistigen Weiterleben wirken. Hoch über Rassen, Nationen, nus entfernt hatten, blieb Rudolf Steiner stehen und sagte Sprachen, Klimate hinweg weben sie alle am himmlischen lächelnd – im Dreieck stehend – zu Marie von Sivers: Teppich der unbegrenzten Geistigkeit, der unvergängli- ‹Erinnern Sie sich noch an die Zeit unseres damaligen Wir- chen Kuppel des Seelischen über den Mauern der Materie. kens?› Marie von Sivers: ‹Nur sehr undeutlich.› Darauf Ru- Dort reichen sich Weisheit und Liebe, Sinn für das Dauern- dolf Steiner: ‹Aber damals waren Sie doch mein Lehrer!›» de, für irdische und überirdische Kräfte die Hände, ahnend An der Seite Rudolf Steiners musste Marie von Sivers dann den ewig dauernden Kanon des in den Sternen befestigten in Dornach nur wenige Jahre später den Untergang des Gesetzes des Alls.»9 Dieser schöne Satz von Edwin Fischer Habsburger Kaiserreichs miterleben, dessen Anfänge ein trifft auch auf die ewige Individualität zu, die uns hier als dreiviertel Jahrtausend vorher mit tatkräftiger Hilfe von Orphiker und als Hypatia, als Marie von Sivers-Steiner (die Albertus aus der Taufe gehoben wurde. Einen kriegsbe- in der Weihnachtszeit 1948 die Schwelle zur geistigen Welt dingten Niedergang hat auch Alberts Kathedrale erlitten. übertrat), vor allem aber als Albertus Magnus begegnete. Schon der Bau des Domes hatte sich ein Vierteljahrtau- In Mitteleuropa ist es guter Brauch, den «größten» Sohn send hingezogen. 1867, dem Geburtsjahr von Marie von der Stadt zum Namenspatron der Universität zu machen, Sivers, befand sich auf dem immer noch unvollendeten zumal wenn er Geistes-Wissenschaftler war. Wann wird Südturm ein durch Fußpedal-Räder betriebener Baukran Köln seinem größten Bürger diese Ehre erweisen? Frei nach aus dem 14. Jahrhundert. Vollendet wurde der Dom erst Auguste Rodin («Die Kathedrale von Chartres erwartet im Jahre 1880. künftige Generationen, die würdig und in der Lage sein werden, sie zu verstehen») steht die Frage im Raum, ob die «Es werde Farbe» «Albertus-Magnus»-Universität im Schatten «seiner» Ka- Der Zweite Weltkrieg brachte große Zerstörungen für das thedrale auf künftige Generationen würdiger Kölner war- Kölner Kunstwerk, namentlich in die Fenster-Ikonogra- ten muss, die in der Lage sein werden, ihre Universität mit phie schlugen die Bombenangriffe bleibende Wunden. Die seinem Namen zu ehren. Das achthundertjährige Jubiläum Verschlimmbesserung solcher Schäden im neuen Jahrtau- der Grundsteinlegung des Doms bietet sich an – 048! send betitelte die FAZ am 25. August 2007 mit «Ein Ozean aus Glas», die Süddeutsche zog am 27.8. mit «Es werde Far- Franz-Jürgen Römmeler, Bensersiel be» nach. Anlass war die Enthüllung neuer Obergaden- fenster. Zwar nannte der Dompropst das neue Kirchen- fenster bei der Einweihung: «ein Fest aus Licht und Farbe Kursiv & [ ... ]: FJR; benutzte Quellen: in bestem gotischen Sinne ...» Aber als Muster für das neue Fenster diente dem «Künstler» Gerhard Richter eine 1 Rudolf Steiner, sechs Vorträge vom 27.12.1910 bis 1.1.1911: alte Abstraktion: sein Bild 4.096 Farben von 1974. Der von Okkulte Geschichte. Esoterische Betrachtungen karmischer Zusam- Beuys’ Werk Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts inspi- menhänge von Persönlichkeiten und Ereignissen der rierte Richter6 fütterte einen Zufallsgenerator mit 72 Farb- Weltgeschichte, GA 126 (TB 707; Reinkarnationshinweis zu Hypatia, dort als Fußnote zu Seite 56). tönen, die Maschine platzierte willkürlich rund 11.000 2 vor 1200 in Lauingen; † 15.11.1280 in Köln. quadratische Glastafeln mit einer Kantenlänge von 9,7 * 7 http://de.wikipedia.org/wiki/Albertus_Magnus cm . Zum Verständnis für diese «Kunst» sollte man Rich- 3 Siehe z.B. S. 50 in: Jakob Streit, Albertus Magnus, Am Wende- 6 ters Credo kennen : « [...] Ich verfolge keine Absichten, kein kreis des abendländischen Denkens, Stuttgart 1982. System, keine Richtung, ich habe kein Programm, keinen Stil, 4 Michael Ladwein, Chartres, (siehe Seiten 213 bzw. 201), Stutt- kein Anliegen.» Die solcherart «konfetti-verzierte» Kathe- gart 1998. drale vermag es, die Menschen sechs Jahrzehnte nach 5 Untertitel: Ursprung und Aktualität der geisteswissenschaftlichen der Zerstörung der mitteleuropäischen Kulturlandschaft Karmaforschung, Thomas Meyer, Basel 2009. allein mit arabesker Kunterbuntheit zu euphorisieren. Be- 6 http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Richter 7 Farbfotos im Internet: wunderer der nunmehr acht Jahrhunderte alten wunder- http://www.wdr.de/themen/kultur/bildende_kunst/gerhard_richter/ schönen gotischen Glasfenster (z.B. von Chartres) wen- 070825.jhtml den sich mit Trauer ab. Dabei kann selbst modernste http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-15311-3.html Kirchen-Glasbaukunst vor dem hohen Niveau histori- 8 siehe: http://www.swisspanoramas.ch/kirchen/zuerich/zuerich/ scher Sakralbauten bestehen, die herrlichen Fenster von fraumuenster/129.html Chagall bzw. aus der Chagall-Schule in Mainz (St. Stephan) 9 Hans Erik Deckert: «Die okkulte Wirkung der Musik», Der oder Zürich8 zeugen davon. Europäer, Jg. 13, Nr. 8 (Juni 2009).

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 31 Carus-Ausstellung in Berlin

Carl Gustav Carus

arl Gustav Carus (1789-1869) gilt wickeltes Tier begreift. 1829/1830 hielt Cnach Leonardo da Vinci als das er in Dresden vor Medizinstudenten letzte große Universalgenie vor Rudolf Seelenkunde-Vorlesungen (die Fach- Steiner. Er forschte, praktizierte, lehrte richtung Psychologie gab es damals als Arzt, Morphologe und Anthropolo- noch nicht) und veröffentlichte da- ge mit Schwerpunktinteresse auf Schä- raufhin 1846 jenes Buch, das er als sein del und Hand, als Psychologe, Geolo- Hauptwerk ansah: Psyche – zur Entwick- 3 ge, Kunsttheoretiker sowie als Maler lungsgeschichte der menschlichen Seele. und Zeichner. Im Laufe seines 80-jähri- Es ist eine umfassende Seelen- und gen Lebens publizierte er zusätzlich Geistlehre zur menschlichen Entele- rund 80 gehaltvolle Bücher und Schrif- chie und enthält eine gedanklich nach- ten, alle zwischen 300 – 800 Seiten stark. vollziehbare Entwicklung des Begriffs Darunter befanden sich u.a. das erste Reinkarnation. deutsche Gynäkologiebuch, eine um- Von Goethe kennt man den Aus- fassende Seelenlehre sowie Schriften spruch, wer nicht Wissenschaft und über Morphologie. Sein künstlerisches 1 Kunst besitze, der habe Religion. Carus

Werk umfasst ca. 400 Bilder und über 1000 Zeichnungen. selber1 praktizierte ganz bewusst die Zusammenführung von Zudem bewegte er sich aktiv auf dem öffentlichen Parkett künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit in einer religiö- der Dresdner Kunst-, Kultur-, Literatur- und Theaterwelt. sen Grundhaltung. Diese Zusammenführung wird deutlich Jahrelang leitete er beispielsweise den Sächsischen Kunst- an der Art, wie er Landschaften und Erdschichten wissen- verein und wirkte in mehreren natur- schaftlich erforschte und künstlerisch wissenschaftlichen und ärztlichen Ge- gestaltete: nach langer, hingebungs- sellschaften mit. Während mehr als voller und vorurteilsloser Beobachtung 30 Jahren begleitete er zudem die säch- fasste er das Erfahrene minutiös in sische Königsfamilie als Hausarzt; mit Worte und zeichnete, malte oder dem Prinzen und späteren König Jo- tuschte es anschließend dem Wesen hann von Sachsen, einem renommier- entsprechend genau aufs Blatt. Land- ten Dante-Forscher der damaligen Zeit, schaften und Erdschichten wurden so war er tief freundschaftlich verbun- vollkommen lebendig und präzise er- den.2 fasst.

Abb. 1: C.G. Carus um 1865 (77-jährig); Landschaften waren für Carus die Phy- Kupferstichkabinett, Staatliche Kunst- siognomie der Erde und die Erdschich- sammlungen Dresden (Photographie) ten deren Anatomie. Er wünschte des- Abb. 2: Allegorie auf Goethes Tod, nach halb parallel zu den geographischen 1832; Frankfurter Goethe-Museum Atlanten, die damals im Entstehen be- (Öl auf Leinwand) griffen waren und die Physiognomie 2 der Erde zeigten, zusätzlich auch Bil- Die Eckdaten der äußeren Biographien von Goethe und Ca- der- und Zeichnungsmappen zu Felsformationen und geolo- rus zeigen überraschend viele Ähnlichkeiten.1 Es gibt aber gischen Schichten, um das Bewusstsein von der Erdanato- ebenso viele innere verborgene Verwandtschaften, die auf mie zu erweitern. einen tieferen karmischen Bezug hinweisen könnten, diese An den Künstler und an sich selbst stellte er hohe denke- müssten aber gesondert betrachtet werden. Hier sollen nun rische Anforderungen: «Der Maler muss den Zusammen- typische individuelle Eigenheiten von Carl Gustav Carus im hang zwischen der inneren Struktur einer Masse eines Ge- Zentrum stehen: birges zu dessen Form gedanklich durchdringen.»4 Seine auf Er erforschte den Unterschied zwischen Mensch und Tier dem Weg der Kunst gewonnenen Erkenntnisse hielt er auch und fand heraus, dass im Gegensatz zum Mensch das Tier wissenschaftlich fest. 1831 publizierte er Neun Briefe über über perfekt ausgebaute Instinkte, der Mensch aber über Landschaftsmalerei, mit einem Brief von Goethe als Einlei- freie Urteilsfähigkeit verfügt. Daraus leitete er ab, dass der tung.5 Mensch nicht richtig erfasst wird, wenn man ihn aus- Johann Wolfgang von Goethe war der Erde gegenüber schließlich als Metamorphose des Tieres bzw. als höher ent- sehr andächtig gestimmt, Caspar David Friedrich tief

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fromm, Carl Gustav Carus empfand umfassende Liebe für hause ist und wo er seit den 30er Jahren des 20. Jahrhun- sie, hatte sich mit dem Erdenleib verbunden. Für ihn war die derts auch wahrgenommen werden kann. Bilder von Carus Ede ein Lebewesen und jede Landschaft eine Verkörperung können den Betrachter dabei unterstützen, sich ins Äther- ihrer Seele bzw. durch jede Landschaft schimmerte ihm die Erleben der Erde einzuschwingen, die Wahrnehmung gezielt Seele der Erde hindurch. 1826-42 arbeitet er an den 12 Brie- zu sensibilisieren und sich darauf vorzubereiten, den Chris- fen über das Erdleben.4 Liebe war für Carus das Erkenntnis- tus im Ätherischen wahrzunehmen. Carus sieht seine Bilder Mittel schlechthin: «Man lernt nichts kennen, als was man selber ebenfalls als Schulungsobjekte und formuliert die liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden Bedingungen, die Kunstschaffende einhalten müssen, um soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muss Liebe, ja Kunst zu schöpfen, die zum umfassenden Erfassen der Natur Leidenschaft sein.» (10.05.1812 in einem Brief an Jacobi). in ihrer Wesens- und Erscheinungsart führt, so: «Ist (...) die Rudolf Steiner bezeichnete die Hülle der Erde als Ätherau- Seele durchdrungen von dem inneren Sinn der Formen, ist ra und sagte: «Für das hellseherische Bewusstsein erhebt sich ihr die Ahnung von dem geheimen göttlichen Leben der in der Tat über jedem Fleck unserer Erde dieses eigentümli- Natur hell aufgegangen, und hat die Hand die feste Darstel- che geistige Wolkengebilde, das man bezeichnen muss als lungsgabe, sowie auch das Auge den reinen, scharfen Blick Äther-Aura eines besonderen Erdgebietes. Diese Äther-Aura sich angebildet, ist endlich die Seele des Künstlers rein und ist anders, ganz anders über den Gefilden der Schweiz als über den Gefilden Italiens und wieder anders über den Ge- Abb. 3: Die Teufelskanzel auf dem Brocken, 1811; Nasjonal- filden Norwegens, Dänemarks oder Deutschlands. So wahr museet for kunst, arkitektur og design Oslo (Bleistift grau laviert) jeder Mensch einen eigenen Ätherleib hat, so wahr ist über Abb. 4: Der Lilienstein, 1816; Privatbesitz (Öl auf Leinwand) jedem Gebiet unserer Erdoberfläche eine Art Äther-Aura auf- getürmt.»6 Abb. 5: Frühlingslandschaft im Rosenthal bei Leipzig, 1814; Das Besondere an Carus’ Kunstwerken: er erfasst den Er- Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Öl auf Leinwand) den-Äther-Umkreis, die Seele der Erde. Diese ist zugleich der Abb. 6: Baumstudie, 2. Juli 1826; Kupferstichkabinett, Staatliche Bereich des Ätherischen, in dem der Christus seit jeher zu- Kunstsammlungen Dresden (Bleistift)

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gestalteter Dom aus dem Wasser erheben; die Physiognomie der Erde kommt zum Vorschein. Deutlich werden auch die geologischen Bildungsgesetze der Trappmasse im Deckenge- wölbe und deren Übergänge in die Zone mit den quergeteil- ten, sechskantigen Basaltsäulen; sie zeigen das Knochenge- rüst, die Anatomie der Erde. Heute sind in der Medizin Pathologie, Therapie und Hy- giene voneinander getrennt und vom erkrankten Individu- um losgelöste selbstständige Gebiete, was viele Probleme verursacht. Für Carus als Arzt hatten die drei eine gemein- same Wurzel, und jeder kranke Mensch war aus der Ganz- heit seines Wesens heraus individuell abgestimmt zu be- handeln. Medizin war für Carus kein Hand-, sondern ein Kunst- werk. Er wollte keine Symptombekämpfung und Stück-Me- Abb. 7: Hünengrab bei Nobbin im Mondschein, nach 1819; dizin betreiben und forderte für jeden Kranken einen «Heils- Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design Oslo plan als größer durchdachtes und reiner im Ganzen stimmig (Öl auf Leinwand) angeschautes Kunstwerk». Er sprach dabei von der «Idee des individuellen Lebens».9 Damit meinte er das geistige Prinzip, durch und durch ein geheiligtes, freudiges Gefäß, den Licht- das im Lebenslauf eines Menschen der Träger des Metamor- strahl aufzunehmen, dann werden Bilder vom Erdenleben phose-Geschehens ist. Jedem Organismus liegt ein geistig einer neuen, höheren Art, welche den Beschauer selbst zu kraftendes, ewig währendes Gesetz zugrunde. Die stoffliche höherer Naturbetrachtung heraufheben, (...) entstehen müs- Organisation, die momentan konkrete Erscheinungsweise, sen.»7 Schillers und Steiners Verständnis von der Funktion neigt ständig zur Veränderung, zum Zerfall. Das geistige der Kunst, dass sie Seele und Geist des Menschen veredle, Prinzip bewahrt die Form. Carus sah im feinen Zusammen- den Weg durch die Sinne zum Geist führe, als Schulungs- spiel der organischen Funktionen ein geistiges Kraftfeld, ei- hilfe fürs Moralische wirke, ist hier von Carus ausgespro- ne Art zweiten Menschen, der das eigentliche Wesen des chen. Zudem sagt und tut Carus im oben erwähnten Zitat Menschen ausmachte, währenddessen die jeweilig inkar- etwas Zukünftiges, was Steiner 1915 so umschrieb: nierte Leibesform der konkreten Erscheinungswelt angehört «Eine Zeit können wir vor uns sehen, (…) wo das, was und immer wechselnd und sich selbst abbauend ist. Er stell- Mittel künstlerischen Schaffens ist, viel intensiver miterlebt te fest, dass der Mensch eine sinnlich-übersinnliche Natur werden wird von der Menschenseele, als es in abgelebten hat, d.h. Träger ist von physischen und seelisch-geistigen Zeiten erlebt worden ist, (…) wo in den Schöpfungen der Aspekten. Künstler uns entgegentreten werden gleichsam die Spuren Das Forschungsfeld «Wesen und Erscheinung» oder, um der Erlebnisse der Künstlerseelen im Kosmos».8 es mit Steiners Begrifflichkeit zu umschreiben, «ICH-In- dividualität und vorübergehende Verkörperungsform des 1844 bereiste Carus England und Schottland. Selbstes» beschäftigte Carus bis sechs Jahre vor seinem Tod. Das erste Bild (Abb. 12) zeigt die mitten im tosenden 1863, mit 74 Jahren gipfelte diese Forschung dann in einer Atlantik liegende schottische Insel Staffa. Staffa liegt direkt Schrift mit dem Titel Die Lebenskunst nach den Inschriften zu neben der Insel Arran, wo geboren Delphi.10 Die Schrift handelte von der Lebenskunst. Er hatte worden ist und neben der Insel Iona, von der aus im 4. Jahr- Novalis gelesen, erweiterte dessen Begriff der Lebenskunst hundert zwölf durch Columban eingeweihte Boten das eso- und verstand darunter die höchste Zusammenfassung aller terische Christentum in die Welt hinaustrugen. Künste durch den Menschen selber, die individuelle Gestal- Die beiden anderen Bilder (Abb. 13, 14) zeigen die Fin- tung der eigenen Biographie, in Freiheit und mit Bewusst- galshöhle (Finegals Cave) auf Staffa. Sie war ein alter Ein- sein seiner Lebensimpulse. weihungsort. Tage und Nächte lang schwebten die Einzu- Auf sein eigenes Leben angewandt beherrschte Carus das weihenden in einem ruder- und segellosen Boot auf rauer Prinzip der Lebenskunst bereits vorher perfekt. See zwischen Leben und Tod; viele erreichten die Höhle Mit 40 Jahren schrieb er aus Wien (3. April 1828): «Ein nicht oder kamen nicht lebend zurück. Beim Betrachten der merkwürdiger Wendepunkt war in meinem Leben eingetre- Bilder wird deutlich, dass der Maler das Wirken des Elemen- ten: meine wichtigsten Arbeiten, mein großes, lange getra- tarischen vollumfänglich erfasst, künstlerisch und wissen- genes Werk Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalen- schaftlich: Gewaltig prallen die Wogen des Atlantiks an gerüstes sowie die flüchtiger entworfenen Grundzüge der die monumental mächtigen schwarzen sechseckigen Basalt- vergleichenden Anatomie und die zweite, verbesserte Auflage säulen, die sich wie ein außen romanisch und innen gotisch meiner Gynäkologie waren vollendet, eine sichere, ehrenvol-

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le Stellung im Staat erreicht, die bedeutsamsten Regungen Gewand der Schönheit gekleideten Moment des auf dem im Leben wie in der Kunst hatten mich berührt und so kam Einklang göttlicher Ideen begründeten Naturerlebens, ich mir fast wie in Abgeschiedener vor, dessen irdisches Wir- gleichsam nur durch einen Akt geistigen Hellsehens mit sol- ken abgetan ist.»11 Er hatte die mitgebrachten karmischen cher Klarheit aufzufassen vermochten. Es war ein eigentüm- Aufgaben aus seiner Perspektive offenbar erfüllt und schöpf- licher, durchaus seliger Zustand! Kurz – wie alles höhere te nun selbst aus Freiheit und Einsicht in die Notwendigkeit Glück dieses Daseins.»12 seinen Lebensplan für die nächsten 40 Jahre neu. Er unter- Steiner wies mehrfach auf Carus hin, ich greife drei spre- nahm eine Italienreise und kam als völlig Verwandelter zu- chende Momente heraus: rück: ab jetzt konzentrierte er sich auf anthropologisch- Bereits bei der Herausgabe von Goethes Naturwissenschaft- menschenkundliche Forschungsgebiete. lichen Schriften integrierte er in den ersten Band drei Artikel Mit 44 Jahren (20. Juni 1833) hatte Carus dann ein Na- von Carus und kommentierte im Anhang: «Carus hat Goe- tureinweihungserlebnis, das er so beschrieb: «... da kam es mir vor, als sei mit einem Male die Natur mir ganz durch- Abb. 8: Eismeer bei Chamonix, 12. Sept. 1821; Nasjonalmuseet sichtig geworden, ich dachte an die Geheimnisse der Meta- for kunst, arkitektur og design Oslo (Bleistift, weisse Kreide) morphose der Pflanzen und ihrer Spiraltendenz; die bewun- dernswerte, nie ganz zu ergründende Eigentümlichkeit ihrer Abb. 9: Steilküste Stubbenkammer auf Rügen, 18. August 1819; Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Bleistift, weiss gehöht auf inneren Struktur und all ihre wunderbaren Zeitverhältnisse beigem Papier) traten mir vor das Bewusstsein; die bedeutungsvollen Bil- dungsverhältnisse ihrer Blätter und Blüten, die unzähligen Abb. 10: Erinnerung an eine bewaldete Insel der Ostsee (Eichen merkwürdigen Organisationen der von ihnen genährten In- am Meer), 1834/35; Staatliche Kunstsammlungen Dresden sekten, die feinen Gebilde, welche das Luftleben und die (Bleistift) Stimme der Vögel bedingen. Alles vereinigte sich zu einem Abb. 11: Nebelwolken in der Sächsischen Schweiz, um 1828; heiligen Chor der Gedanken, welche diesen einzigen, in das Privatbesitz (Öl auf Leinwand)

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Abb. 12: Insel Staffa, vor 1846, Privatbesitz (Ölbild)

Abb. 13: Blick aus der Fingalshöhle bei Mond- schein, nach 1851; Kupferstichkabinett, Staat- liche Kunstsammlungen Dresden (Kohle, weiß gehöht auf blauem Papier)

Abb. 14: In der Fingals- höhle auf der Insel Staffa; Kupferstichkabinett, Staatliche Kunst- sammlungen Dresden (Tusche laviert) 12 13 thes morphologische Anschauungen mit tiefem Verständ- nisse in sich aufgenommen und seine auf alle Gebiete der Naturwissenschaft sich erstreckenden Forschungen ganz in ihrem Geist angestellt.» Über Carus’ Buch Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüstes schrieb Steiner, der Geist Goethes «ist über das ganze ausgegossen. Goethes Freude an dieser Fortsetzung seiner eigenen Denkrichtung musste eine ungeheure sein.»13 Ein zweites Mal sprach Steiner 1916 von Carus, als er Dar- win und die verheerenden Folgen des aufkommenden Mate- rialismus beschrieb, ausgelöst durch den Sturz der Geister der Finsternis auf die Erde.14 Er wies dabei deutlich darauf hin, dass Carus’ Impulse für den Goetheanismus durch den materialistisch-darwinistisch geprägten Wissenschaftsgeist zugedeckt worden waren. (1859 publizierte Carus den Ge- danken der Metamorphose als Grundsatz der Natur und des Geistes. Parallel dazu veröffentlichte Darwin den Evo- 14 lutionsgedanken rein materialistisch, physisch. Im gleichen erworben. Zu erwähnen ist zudem, dass Rudolf Steiner vor Jahr starb Humboldt. Zudem wurden alle Schriften von allem im Jahre 1924 einige Male über Brunetto Latini, Leh- Carus, welche die geistigen Unterschiede zwischen Mensch rer und Inspirator Dantes, über Latinis Natureinweihung und Tier verdeutlichten, verschüttet.) und dessen Zusammenhang mit dem Impuls der Schule Ein drittes Mal erwähnte Steiner das Umfeld von Carus von Chartres gesprochen hat.17 in einem Vortrag: «... und wahrscheinlich würden Sie im höchsten Grade erstaunt sein, wenn ich Ihnen sagte, in wel- Goethe hatte sich mit Ephesos in Verbindung gebracht.18 cher Weise z.B. Dante im 19. Jahrhundert wieder inkarniert Carus’ und Goethes Biographien zeigen, wie eingangs er- war.»15 Diese Aussage veranlasste , Ita Weg- wähnt, eine schicksalhafte Verwandtschaft. Carus spürte man und Mathilde Scholl, bei Rudolf Steiner nachzufragen. im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit als Arzt, dass er die- Der soll dann den schicksalhaften Zusammenhang zwi- sen Arzt-Beruf immer als eine Art Priesterschaft empfun- schen Dante im 13./14. Jahrhundert und König Johann von den hat, wie diese im alten Griechenland praktiziert wor- Sachsen im 19. Jahrhundert bestätigt haben.16 Die Überle- den war, und schrieb in seinen Lebenserinnerungen: «Ich gung liegt nahe, einen Bezug herzustellen: Brunetto Latini darf sagen, dass ich schon dazumal (...) den Beruf des Arz- (ca. 1220 –1294) und Dante (1265 –1321), Carus und Johann tes nur in einem würdigen und großen Sinne gefasst hatte; von Sachsen. Carus, während 30 Jahren Leibarzt des Prin- die Annäherung der Heilkunst an das Priestertum, welche zen, Königs und Freundes Johann von Sachsen scheint ei- schon die alten Geschichten griechisch ärztlichen Tempel- nen Zusammenhang gewusst oder geahnt zu haben, die dienstes mir deutlich werden ließen, trat mir weit näher, Mutter des Prinzen Johann auch; sie hat das Bild, das Carus indem sich mir (…) ein lebendiger Blick in die unzähligen gemalt hat und das Dante vor der Dresdner Hofkirche sit- Formen menschlicher Leiden und menschlichen Elends zend zeigt (Abb. 15), für ihren Sohn, Johann von Sachsen eröffnete.»19

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Fasst man vorsichtig die Phänomene zum Wirken der Carus- fasste dort den Begriff als Wesen und die Wahrnehmung als Individualität in der Überschau, ergibt sich folgendes Bild: Erscheinung, deckte die dem menschlichen Denken zugrun- In den ephesischen Mysterien sollte ein Ausgleich zur Ret- de liegenden Gesetze auf, gab dem Denken den universellen tung des menschlichen Leibes geschaffen werden, dem der Stellenwert, den es für das Menschsein hat. Verlust des Zusammenhangs mit der Natur und der Gesamt- Steiner wandte den Metamorphosegedanken sowohl auf schöpfung drohte. Die Carus-Individualität scheint zu diesem Tag- und Nacht-Geschehen in den menschlichen Wesens- Strom, zu den ephesischen oder in ähnlicher Art arbeitenden gliedern als auch auf mehrere Erdenleben bzw. die Vorgänge Mysterien eine Beziehung gehabt zu haben (Natureinwei- zwischen Tod und neuer Geburt an (Umstülpung der Glied- hung, Beziehung zu Goethe usw.). Sie scheint damals mitge- maßen- in die Kopforganisation). wirkt zu haben bei der Hilfestellung zur Bewahrung der Erinne- Er vertiefte das Bewusstsein über die Herkunft des ewigen rung an das Leibliche im Menschen, bzw. dazu, die leibliche Wesenskerns des Menschen und die Gestaltungsgesetze der Zugehörigkeit zum Allgöttlichen nicht zu vergessen. vergänglichen Erscheinungsseite bzw. der Kräfte, die dahin- Carus, in einer möglichen Inkarnation als Brunetto Lati- ein wirken (Tätigkeit der Hierarchien, Wirksamkeit der Pla- ni, Inspirator für Dantes Divina Commedia, erschien vor der neten usw.). Renaissance, jener Zeit, in welcher der Mensch seine Seele Er erweiterte das Bewusstsein der Hörer und Leser für die emanzipieren und sich vom Glauben trennen, d.h. sich see- Erde als lebendigen Organismus, für die Hülle der Erde und lisch aus dem Schöpfungszusammenhang loslösen sollte. La- die Bedeutung des Wahrnehmens des Christus im Ätheri- tinis/Dantes Werk, die Divina Commedia, war ein Mahnmal, schen. das allen Seelen, die sich in der nachfolgenden Renaissance Er brachte das Verständnis für das Mysterium von Gol- und später verkörperten, zur Bewahrung der Erinnerung an das gatha, die Christustat mit der Rettung des Phantomleibes Seelische Wesen des Menschen diente bzw. dazu, die seelische durch die Auferstehung bzw. den Abstieg des Christus in die Zugehörigkeit zum Allgöttlichen nicht zu vergessen. Erdentiefen. Carus und sein Werk erschienen für alle Menschen, die ab Steiner behandelte Kunst, Wissenschaft und Religion als dem 19. Jahrhundert vom Sturz in die Materie, dem Verlus- gleichwertig und führte sie zum Vermeiden von Einseitigkeit tiggehen des Bewusstseins für die Bedeutung des mensch- wieder zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen. lichen Geistes bedroht waren. Carus’ Leben und Werk er- Steiner sprach der Kunst eine schulende und heilende schienen als Hilfe zur Bewahrung der Erinnerung an das Geis- Funktion zu. tige Wesen des Menschen bzw. dazu, die geistige Zugehörigkeit Er verankerte Heilen und Erziehen (präventiver Ansatz zum Allgöttlichen nicht zu vergessen. gegen das Heilen-Müssen) als Kunst (Erziehungskunst/Heil- Steiner hat nicht nur von der Individualität und dem kunst). Er erweiterte das Anwendungsfeld um die sozial-hei- Werk von Carl Gustav Carus gesprochen, sondern auch kon- lende Kunst, die Soziale Kunst (Dreigliederungsimpuls). kret von Carus Gedachtes weiterentwickelt und an ihn ange- Steiner praktizierte die von Carus als höchste aller Künste knüpft (Das Anknüpfen wäre eventuell öffentlicher und offi- definierte Lebenskunst selber bewusst: Man kann sich darü- zieller erfolgt, wenn er nicht Schröers karmischen Auftrag, ber wundern, dass ein so selbstloser Eingeweihter wie Rudolf die Veröffentlichung von Goethes Naturwissenschaftlichen Steiner einen Lebensgang verfasste und den drucken ließ wie Schriften, zu erfüllen gehabt hätte): Steiner kämpfte gegen die darwinis- tische Auffassung, die den Menschen als rein materiellen Zufall und höheres Tier ohne freiheitlichen Geist sieht, verdeutlichte, dass der Mensch eine Doppelnatur in sich trägt, eine Erschei- nungsseite, die vergänglich ist und ei- nen Wesenskern, der ewig ist. Er dehn- te den Gedanken der Doppelnatur auf das menschliche Denken selbst aus,

Abb. 15: Dresden, Blick auf Hofkirche und Schloss, um 1830; (Öl auf Leinwand)

Abb. 16: König Johann von Sachsen auf der Totenbahre († 29. Oktober 1873); das Antlitz Dantes steigt in einer Art Ima- gination über dem Haupt des toten Königs auf. Quelle siehe 1 15 16

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eine seiner Schriften; das tönt oberflächlich betrachtet eher museums von Dresden. Wie Goethe unternahm Carus mehre- nach «Gurutum» oder nach Absicherung gegen falsche re Italienreisen und kam jeweils als Verwandelter zurück Gerüchte. Begreift man aber die Lebenskunst im Sinne von (Neapel, Florenz, Siena, Capri usw.). Bis zum zweiten Mond- Carus als Höchste aller Künste, als die konkrete, aus freiem knoten, dem 39. Lebensjahr, betrieb Carus minutiös morpho- logische Forschung, d.h. wollte die Metamorphose-Gesetze Willen, beseeltem Bewusstsein heraus getätigte Gestaltung des menschlichen Körperbaus entdecken. 1828 publizierte er der eigenen Biographie gemäß dem Gesetz der Metamor- zur größten Freude Goethes seine Forschungsergebnisse zu phose, ist das Beschreiben dieser Lebensgestaltung eine wis- den Metamorphose-Gesetzen unter dem Titel Von den Ur- senschaftlich-künstlerische Arbeit und gehört als Schrift Theilen des Knochen- und Schalengerüstes. 20 gedruckt, wie das bei Steiners Lebensgang der Fall ist. 2 Dieser Johann (1801–1873, König ab 1854), regierte während Steiner verwirklichte diese Lebenskunst in einem noch knapp 30 Jahren das Königreich Sachsen und arbeitete auf größeren Rahmen, durch seine Inkarnationsreihe hindurch: dem Gebiet der Dante-Forschung eng mit Carus zusammen. er regte das Denken über das Denken an als Aristoteles; dann Mehr dazu auch in Anmerkung 1. impulsierte er das Verobjektivieren des Denkens und dessen 3 Carl Gustav Carus, Psyche – zur Entwicklungsgeschichte der Verbindung mit dem Christlichen als Thomas von Aquino; menschlichen Seele, Reprographischer Nachdruck der Neuaus- gabe Darmstadt 1964. Darmstadt 1975. als Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, schulte er 4 Carl Gustav Carus, Siebenter Brief aus: 12 Briefe über das Erd- die Menschen, die eigene Denktätigkeit zu beobachten, das leben, Hrsg. Ekkehard Meffert, Stuttgart 1986. Denken auf das eigene Denken anzuwenden, das Denken als 5 Carl Gustav Carus, Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei, Realität zu erleben, die Spiritualisierung des Denkens heran- Hrsg. und mit Nachwort versehen durch Gertrud Heider, zubilden, durch Liebe zum Herzdenken anzuleiten und ließ Leipzig und Weimar 1982. nicht nach, die Bedeutung des Denkens für die Entwicklung 6 Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammen- von Mensch und Welt zu betonen. hang mit der germanisch-nordischen Mythologie (GA 121), zwei- ter Vortrag in Kristiania vom 8. Juni 1910. Noch bis zum 10. Januar 2010 ist in der Alten National- 7 8. Brief über die Landschaftsmalerei (siehe 5), S. 88. galerie Berlin eine umfassende Ausstellung zu Leben und 8 Rudolf Steiner, Das Wesen der Farben (GA 291), «Das Morali- Werk von Carl Gustav Carus zu sehen. sche Erleben der Farben- und Tonwelt als Vorbereitung zum künstlerischen Schaffen», Vortrag vom 1. Januar 1915. 9 Die Idee der Medizin bei C.G. Carus, in: Der Beitrag der Geis- Barbara Steinmann, Basel teswissenschaft zur Erweiterung der Heilkunst, Jahrbuch 1952, Bd. II, S. 300ff. 10 Denken, Schauen, Sinnen, Bd. 38/39, Stuttgart 1968, Hrsg. Karl 1 Folgende Parallelen der äußeren Biographien hat Ekkehard Boegner. Meffert im Buch Carl Gustav Carus; Arzt-Künstler-Goetheanist, 11 Analekten zur Naturwissenschaft und Heilkunde, Dresden 1829, Perseus-Verlag 1999 herausgearbeitet. Mit 19 Jahren, zum S. 2/3, zitiert in der Dissertation von Stefan Grosche, 1993/95, Zeitpunkt des ersten Mondknotens, erlitt Carus wie der S. 36, «Lebenskunde und Heilkunde bei Carl Gustav Carus». junge Goethe eine in Todesnähe führende Krankheit, die 12 C.G. Carus, Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Nach eine Lockerung der Wesensglieder mit sich gebracht zu der zweibändigen Originalausgabe von 1865/66 neu hrsg. haben scheint. Wie Goethe hatte Carus ein langes, reiches, von Elmar Jansen, Weimar 1969. arbeitsvolles Leben, war gesellschaftlich etabliert, hatte eine 13 Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, hrsg., kommentiert Frau, die für ihn den Haushalt besorgte und die Kinder erzog. und eingeleitet von Rudolf Steiner, im Anhang des ersten Sein Hauptinteresse als Arzt galt den gewöhnlichen Leuten, Bandes des Neuabdrucks der drei Carus-Schriften für Goethes in Leipzig als Armenarzt, in Dresden auch dem Adel und Hefte zur Morphologie. GA Nr. 1, Bände a-e. gehobenen Bürgertum und dem Königshof. Wie Goethe zu 14 Rudolf Steiner, Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüp- Charlotte von Stein hatte Carus eine schicksalhafte Bezie- fung an Goethes Leben, (GA 172), Vortrag vom 06.11.1916. hung zu einer verheirateten, geistreichen Frau von Stand, zu 15 Von der Initiation, von Ewigkeit und Augenblick, von Geisteslicht Ida von Lüttichau, und nahm an deren Philosophenfreundes- und Lebensdunkel (GA 138), Vortrag vom 26.08.1912. zirkeln teil. Wie Goethe zu Carl August hatte Carus als Leib- 16 1909 verknüpfte Steiner dann bei der Eröffnung des theoso- arzt zum Prinz und späteren König Johann von Sachsen eine phischen Zweiges in Dresden Dantes Namen mit diesem tiefe schicksalhafte Verbindung. Wie Goethe in Weimar, so Zweig (siehe auch Anmerkung 1.) fand Carus in Dresden seinen Schicksalsort; er lebte und wirk- 17 Siehe Einleitung von Thomas Meyer zum Bericht von Ekke- te 55 Jahre lang dort, trotz weit lukrativeren Professurange- hard Meffert, Der Europäer, Jg. 4, Nr. 1 (November 1999). boten. Wie Goethe im Weimar der Klassik begründete er im 18 Unter anderem: «Ich bin nun einmal einer der Ephesischen Dresden der Spätromantik ein kulturelles Zentrum für Wis- Goldschmiede …» (Terminologie der Freimaurer), zitiert aus senschaft und Kunst. (Dresden wird heute noch als Elb-Flo- Hella Krause-Zimmer, Artemis Ephesia, Verlag Freies Geistesle- renz bezeichnet, als Stadt der Wissenschaft und Kunst.) Wie ben 1964, S. 7. Goethe hatte Carus ein großes Interesse am menschlichen 19 C.G. Carus, Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Bd. I, Schädel. Carus’ Schädelsammlung bildet heute noch das Fun- S. 77f. dament der anthropologischen Sammlung des Völkerkunde- 20 Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28.

38 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Interview mit Imre Makovecz

«Ich möchte etwas Lebendiges machen» Ein Interview mit dem ungarischen Architekten Imre Makovecz

er ungarische Architekt Imre Ma- verbots zu verlangen. Ernö Gerö ver- Dkovecz (geb. 1935) ist in Mitteleu- ordnete nämlich für den nächsten ropa kein Unbekannter. In Überlingen Morgen Ausgehverbot. Da gingen baute er das Gebäude der Naturata, wir ins Parlament, dort schrieen wir mit Restaurant und Hotel. In Witten soll- mit verschiedenen Funktionären, te er das neue Seminargebäude bauen, und als wir aus dem Parlament ka- was an finanziellen Hürden leider schei- men und über die [nicht mehr exis- terte. 1992 baute er den ungarischen tierende] provisorische Brücke nach Pavillon der Weltausstellung von Sevilla. Buda gelangten, da sahen wir, dass Nach der Budapester Pfingsttagung die Studenten schon auf dem Bem- 2009 (siehe den Bericht im September- platz waren. heft) fand das hier in Auszügen wieder- Von hier an ist die Geschichte wie gegebene Interview mit Makovecz in sei- ein Fiebertraum, als ob ich gleich- nem Büro in Budapest statt. Makovecz zeitig an mehreren Orten anwesend ist mit dem Gedankengut Rudolf Steiners gewesen wäre. tief verbunden. Der Baugedanke des ers- Imre Makovecz in seinem Büro Wir setzten uns zum Beispiel bewaff- ten Goetheanums gehört neben dem net in einen Lastwagen, um nach Wirken von Antonio Gaudi, Frank Lloyd Wright und dem un- Szolnok [eine Stadt 100 km südlich von Budapest] zu fah- garischen Jugendstil zu den zentralen Ausgangspunkten seines ren und der Armee zu helfen, weil die Russen die Stadt an- eigenen Schaffens. Er rief eine Wanderschule für organische gegriffen hatten. Es waren drei Lastautos voll von Bewaff- Architektur in Ungarn ins Leben, in der junge Architekten aus neten, zum Teil Studenten, zum Teil Menschen, die sich vielen europäischen Ländern studieren bzw. arbeiten können. uns unterwegs anschlossen. 50 km von Budapest ent- Imre Makovecz hat den von den Russen niedergeschlagenen fernt, in Tápiószecsö, hielten bewaffnete Sicherheitskräfte Aufstand von 1956 als Akteur und Zeitzeuge miterlebt. die Lastautos an, sie rissen die Seiten der Autos herunter. Die Fragen stellten Thomas Meyer und der Schweizer Architekt Wir waren zu 150, sie trieben uns alle in den Turnsaal der Christian Glaser. Dolmetscherin: Agnes Karda´s, Budapest. dortigen Kaserne hinein. Dann forderten sie uns auf, zu fünft auf den Hof zu gehen. Sie woll- I. Zu den Ereignissen von 1956 ten uns hinrichten. Wir erwiderten, TM: Wie haben Sie das ungarische dass wir nicht rausgehen. «Kommt Entscheidungsjahr 1956 erlebt? rein und richtet uns hier hin!» Das M.: 1956 war ich im dritten Jahr- taten sie aber nicht. Wir fassten uns gang an der Universität und am bei der Hand, sie versuchten, einige Abend am 22. Oktober hielten wir von uns herauszureißen, das gelang in der Aula der Universität eine ihnen aber nicht. Inzwischen brach Großversammlung ab. Ich habe dem der Tag schon an, und dann wurde Rektor einen Vervielfältigungsapparat uns gesagt, wir müssten alle rausge- entwendet. Wir kopierten die Forde- hen. Es stellte sich heraus, dass alle rungen der Studenten, die 16 Punk- Dorfbewohner mit Hacken und Sen- te, in unzähligen Exemplaren. Wir sen vor dem Tor standen und schrei- beschafften uns drei Lastwagen und end unsere Freilassung verlangten. verstreuten überall in der Stadt diese Da wurden wir freigelassen, und die Forderungen. Für den 23. organisier- Menschen nahmen uns zu sich nach ten wir in den Gärten der Universi- Hause mit, es gab einen richtigen tät eine Großversammlung. Da kam Schmaus. Wir bekamen auch die ich in die dreiköpfige Gesellschaft, Lastautos wieder und fuhren zurück die ins Parlament geschickt wurde, nach Budapest. Und so weiter, ich um dort die Aufhebung des Ausgeh- könnte noch endlos weiter erzählen. Sárospatak, Kulturzentrum, 1972– 83

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Das Ende ist konkret, die Revolution wurde niederge- schlagen, und da wurde ich auch verschleppt. Und was dann mit mir passiert ist, das erzähle ich nicht, aber ich bin hier. Also, so etwa war das …

II. Architektur CG: Sie schaffen es in bewundernswerter Weise, Bäu- me auf statische Weise zu verwenden. Wie gehen Sie da- bei vor? Denn Holz «arbeitet» ja. M: Akazie und Eiche sind am besten, die arbeiten am wenigsten. Das Alter ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass die Rinde sofort abgeschält wird. Das Holz darf nicht in der Sonne liegen, man muss es wenigstens ein halbes Jahr in der frischen Luft lassen, damit es trocken wird. Auch so entstehen daran Risse, das stört mich aber Budapest, Farkasrét, Friedhofskapelle, 1975–77 nicht. Für die Statik hat dies keine Bedeutung. Ich habe ein Haus für Überlingen in Deutschland CG: Sind diese Holzverbindungen seit langer Zeit be- entworfen, und da ist es üblich, dass man die Pläne kannt? dem Prüfstatiker vorzeigen soll. Der wollte auch mit M: Ja, natürlich. dem Computer angefertigte Pläne und Detailzeichnun- CG: Dass Sie aber lebendige Bäume verwenden, das gen haben. «Wozu?» habe ich ihn gefragt. Ich bringe wohl nicht. Zimmerleute aus Ungarn mit, die können das Haus M.: Ich möchte etwas Lebendiges machen – damit bauen. Er hat aber gesagt, dass er trotzdem auf den Plä- das Bild des Lebens zum Vorschein kommt. nen beharren müsse. Er hat die Zeichnungen bekom- men. Während der Bauarbeiten kam er dann, um sie zu III. Das Verhältnis zu Rudolf Steiner und seinem kontrollieren. Er hat gesehen, wie der Zimmermann Architekturimpuls das eine Krummholz hält, das andere Krummholz da- TM: Wie ist Ihr Verhältnis zu Rudolf Steiner? Was ist zupasst, dann den Zapfen mit dem Zimmermannstift seine Bedeutung für Ihre Architektur, für Ihr Leben? Wie zeichnet und ihn mit der Handsäge ausschneidet, wie sind Sie zu ihm gekommen? es eben gemacht werden muss – was bei den Deutschen M: Schon bevor ich von Steiner hörte, interessiert aber seit langer Zeit nicht mehr ausgeübt wird, da wer- mich sehr, was lebendige Architektur ist. Sie ist mir dann den die zwei Hölzer einfach nur aneinandergepasst, mit durch Steiner sehr wichtig geworden. Ich studierte zu- Nägeln zusammengehämmert und Schluss, fertig. Der nächst die Architektur von Morris, Gaudi, Ödön Lech- ungarische Zimmermann aber, der primitive Ungar, ist ner aus Ungarn – sie war aber nicht nach meinem Her- noch fähig, Holzverbindungen zu machen. Der Prüf- zen. Ich sage auch, welches Problem ich mit der so statiker sieht das und sagt nur so viel: «Na ja, so ist es genannten modernen Architektur hatte. leicht.» Das Bauhaus ist nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, das den Krieg verloren hatte, entstanden. Es gab einen russischen Maler, Malevics, der ein weißes Quadrat malte und gesagt hat, dieses sei die reine Empfindlichkeit. Gott blutet über die Wände, über das Weiße durch – diese Intuition war dazu sein Ausgangs- punkt. Das wurde zur Grundlage vom Bauhaus ge- macht. Und im Widerspruch zu diesem geistigen Inhalt haben sie leere Kuben gebaut. Gropius ist nicht gut, und auch Le Corbusier nicht. Ich habe Abscheu vor dieser Mentalität. Ich war noch sehr jung, als ich nach Dornach ge- fahren bin. Und was ich dort gesehen habe, hat mich völlig auf den Kopf gestellt. Aber in Wirklichkeit ist das erste, das alte Goetheanum das wahre Hauptwerk von Überlingen, Naturata Oekologiezentrum, 1989–92

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 40 Interview mit Imre Makovecz

Zalaszentlászló, Gemeindezentrum, 1981– 85 Jászapáti, Kulturzentrum, 1983– 87

Steiner. Der verdammte Pfarrer von Arlesheim ließ es deutet, dass das Drama wichtiger ist, als die aristoteli- aber durch den Narren des Dorfes in Brand setzen. sche Geometrie. Da bin ich mir sicher. TM: Er war ja nur ein Werkzeug. TM: Noch eine Frage zum alten Goetheanum-Bau: Ist M: Wer war der wirkliche Brandstifter? Ihnen bekannt, dass die zwei Kuppeln nach verschiede- TM: Nach Steiner ging der Plan zur Vernichtung des nen Prinzipien gemacht worden sind? ersten Goetheanums von freimaurerischen und jesu- M: Ja. itischen Kreisen aus, die sich zu diesem Anschlag ver- TM: … nach den Prinzipien des Divisionskreises und bündeten (GA 265, S. 455). Eine Tragödie, denn die des normalen Kreises (siehe Wege zu einem neuen Baustil, Bauformen waren ja nach Steiner «Karma-Schauen er- 28. Juni 1914, GA 286). Außerdem hat Steiner nach weckende Formen». zur Stabiliserung der Kuppeln einen M: Ja, klar, heute wissen wir schon, dass wir in dem magischen Kristall in den Grundstein eingebaut. (Siehe Raum-Zeit-Kontinuum denken müssen, und das be- Kasten) M: Zu so etwas bin ich nicht fähig – so etwas werde ich aber das nächste Mal meinem Statiker sagen. – Stei- Wie die beiden Kuppeln des ersten Goetheanums ner hätte etwas gegen Feuer einbauen müssen … stabilisiert wurden TM: Haben Sie in Dornach den renovierten Großen Die folgende ursprünglich auf Englisch verfasste Notiz stammt aus dem Nachlass der englischen Anthroposophin Mabel Cotterell und Saal gesehen? gibt zwei wichtige Angaben Rudolf Steiners gegenüber Ehrenfried M: Nein. Pfeiffer wieder. TM: Nicht einmal Bilder? M: Nein. «Rudolf Steiner durfte zweimal von magischen Mitteln Ge- brauch machen – das eine Mal bei den Präparaten, das andere TM: In meinen Augen ein unmöglicher Bastard zwi- Mal im ersten Bau. Die große und die kleine Kuppel besaßen schen den Formen des ersten und des zweiten Baus. keine sichtbaren Stützen. Das Ganze wurde durch einen an ei- M: Ich hoffe, diese Lügerei wurde lila und hellgrün nem Seidenfaden hängenden Kristall, der im Dodekaeder- Grundstein platziert wurde, in der Gleichgewichtslage gehal- bestrichen! ten. Pfeiffer befürchtete immer, dass bei starkem Wind die TM: In etwa. – Ich habe gehört, sie seien aus der An- große Kuppel die kleine zerquetschen könnte, und so teilte ihm throposophischen Gesellschaft ausgetreten. Weshalb? Rudolf Steiner das Obige mit.» M: Ich bin ausgetreten, weil ich die Anthroposophie

Die Angabe zu den Präparaten bleibt unausgeführt. Zu dem über die sehr ernst nehme. Ich binde keinen lila Schal um mei- Stabilisierung der Kuppeln Gesagten vergleiche die Erinnerungen von nen Hals. Ich könnte noch Einiges aufzählen. Max Benzinger, der von zwei kleinen Pyriten sprach, die im Innern TM: Gab es einen konkreten Anlass? des Dodekaeders befestigt wurden (Erinnerungen an Rudolf Stei- M: Auf einmal hatte ich es satt. ner, Stuttgart 1979, S. 149). Auch wenn die beiden Darstellungen von einander abweichen – sie beziehen sich offenbar auf den gleichen TM: Haben Sie Ihren Austritt begründet? Sachverhalt und können sich gegenseitig ergänzen. M: Ich habe einen Brief geschrieben und Péter Szilá- Thomas Meyer gyi [damals Vorsitzender der ungarischen Gesellschaft] gebeten, ihn vorzulesen … Er hat es nicht getan.

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Makó, Theater, 1996 –2000 Makó, Theater, 1996 –2000

IV. Praktische Aspekte mer» – das heißt, sie zeichnet eine Sonnenblume. Und TM: Wie gehen Sie beim Planen eines Hauses vor? nicht die idiotische Wohnung vom Anfang des 20. Jahr- M: Mit dem Planen eines Einfamilienhauses beginne hunderts, wo wir in ein ungelüftetes und dunkles Vor- ich, indem ich dem Mann sage: «Ich frage Sie nicht, nur zimmer eintreten. Die Wohnung von Sarah Bernhard. Ihre Frau.» – «Warum?», fragt der Mann. – «Weil die Frau Wobei es sehr wichtig war, dass die Mädchenstube im drei Ecken des Hauses hält und Sie bloß die vierte. Sie sol- langen Flur direkt rechts neben dem Eingang sein muss- len nur das Geld bringen, aber fragen werde ich Ihre Frau.» te, damit die Tür von der Dienstmagd geöffnet wurde … CG: Das wäre in der Schweiz kaum durchführbar… M: … Und dann bitte ich die Frau, mir zu zeichnen, in was für einer Wohnung sie leben möchte. In 90% der Fälle entsteht dann folgende Zeichnung: Sie zeichnet ei- nen Kreis und sagt: «Hier sind wir.» – «Was heißt ‹wir›?», frage ich. – «Na, hier koche ich das Mittagessen, hier schläft das kleine Kind, hier essen wir zu Mittag, hier kommen wir zu Hause an.» – «Und die weiteren Räu- me?», frage ich. Und dann zeichnet sie noch zum Kreis das: «Hier ist die Speisekammer, hier schlafen wir, hier ist noch ein anderes Schlafzimmer, hier ist das Badezim- Witten-Annen, Waldorf-Lehrerseminar, Vorstudie

V. Die Károly Kós Vereinigung und die Zukunft der Anthroposophie in Ungarn M: Der «Ausverkauf von Ungarn» ist im Gange. Aber parallel dazu sind 35 Firmen aus Ungarn, 2 aus der Slo- wakei und 51 aus Rumänien Mitglieder der Károly Kós Vereinigung, welche die organische Architektur zusam- menfasst. Unsere letzte Zusammenkunft haben wir in Rumänien, in einer wunderschönen deutschen Stadt, in Szeben, abgehalten. Auf Rumänisch heißt die Stadt Sibiu. Eine wunderschöne sächsische Stadt – war sie. Wir haben drei Stiftungen. Mit der einen unterhalten wir die Zeitschrift «Országépítö» [Landarchitekt], eine weitere unterstützt die Wanderschule – diese dauert dreieinhalb Jahre lang, die jungen Architekten verbrin- Bak, Gemeindezentrum, 1985 –88

42 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Interview mit Imre Makovecz gen je ein Halbjahr bei einer Firma, in dieser Zeit hören sie auch Vorträge über Rudolf Steiner und seine Anthro- posophie. Nach dreieinhalb Jahren sollen sie ihre Meis- terarbeit präsentieren, und das kann nur ein aufgebau- tes Gebäude sein, also kein Blabla. Die Schule wird überall in der EU als postgraduale Ausbildung aner- kannt – bis auf Ungarn. TM: Grotesk … M: Im Juni wird eine große Ausstellung von uns er- öffnet, in einem ausgezeichneten Gebäude der unga- rischen Romantik, in dem Museum für Kunstgewerbe von Ödön Lechner. Sie wird ganz bestimmt über einen Monat geöffnet sein. Schauen Sie sie sich an! TM: Zurück noch zur Wanderschule – geht es darin im Zusammenhang mit Rudolf Steiner nur um die Ar- chitektur von Steiner oder auch um einen Überblick über die Geisteswissenschaft? M: Die Schüler müssen sich die Grundkenntnisse zu eigen machen. TM: Und das ist anerkannt in der ganzen EU – bis auf Ungarn. Und in der Schweiz? M: Wir machen keine Werbung. TM: Wie viele Menschen haben die Wanderschule absolviert? M: Ich weiß es nicht. Etwa 100. TM: Sehen Sie durch diese Schule auch eine Möglich- keit, wie Anthroposophie weiterleben kann? M: Ja, eine ganz konkrete. Den uferlosen Intellektua- lismus kann ich nicht ertragen. Piliscsaba, Stephaneum, 1995 –2000 TM: Haben Sie auch Waldorf-Schulen gebaut? M: Den ersten Waldorf-Kindergarten habe ich noch vor dem Systemwechsel für Solymár entworfen. Geld, Geld und Geld – es gibt kein Geld. Übrigens ist die Wal- dorf-Pädagogik hier, in Ungarn ausgezeichnet, wun- derbar. Stellen Sie sich vor: Ich bekomme einen Brief, dass man in der Umgebung von Kecskemét, in der Welt der Einzelhöfe, einen Waldorf-Kindergarten bau- en will. Wir nehmen die Ausfahrt von der Autobahn, folgen dem Schild Waldorf-Schule, fahren sehr lange an verlassenen Einzelhöfen vorbei und plötzlich ist die Waldorf-Schule da, wo wir zwei prächtige Menschen mit europäischer Bildung treffen, die ungarische und Zigeunerkinder unterrichten und einen Waldorf-Kin- dergarten machen wollen, damit die Kinder überhaupt eine Chance haben, schulreif zu werden, weil sie sonst in einer völlig erbärmlichen Situation sind. Es war ein Genuss, mit diesen Menschen zu sprechen, dort, am Ende der Welt. TM: Wir werden den Kern dieses Gesprächs im Europäer veröffentlichen. M: Viele Bilder, wenig Text! Abádszalók, Hotel, 2002

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 43 In Memoriam Marianne Schenker

Im Gedenken an Marianne Schenker (21.3.1922–31.8.2009) und Eduard Najlepszy (20.3.1955–2.10.2009)

m 1. September bekam ich die sehr Sofort suchte ich die Broschüre und tele- Atraurige Nachricht aus Mariensee, fonierte Marianne Schenker. Viele Besu- dass Marianne Schenker am 21. August che folgten diesem ersten Gespräch, 2009 die Pforte des Todes überschritten mindestens sieben bis zur diesjährigen hat. Es war so unerwartet, denn Anfang Tagung, und viele ungarische Freunde Mai, während der Begegnungstage in besuchten ab dieser Zeit Mariensee, die- Mariensee war sie noch so frisch und sen einmaligen Ort. Es waren immer un- munter. Die Tagung hatte die 100-jäh- vergessliche Tage, die ich dort verbrin- rige Feier des Malscher Modellbaus und gen durfte; die ganze Atmosphäre des den unterirdischen Tempelbau in Mari- Ortes, die Ruhe, die Menschen, die Na- ensee zum Thema. Marianne war über- tur, und ich spürte auch den hütenden all dabei, hat alles unermüdlich mitge- Geist von Polzer-Hoditz und die hüten- macht. Niemand ahnte, dass das ihre de Seele von Dora Schenker genau. letzte Tagung sein wird ... Marianne Schenker war es möglich, die Meine erste Begegnung mit ihr war Erinnerung an diese großen Persön- im Jahr 2004. Damals lebte ich in Dora Schenker lichkeiten zu bewahren, so dass man Westungarn, im «Ãrség» in einer Ge- ihre Anwesenheit fühlen konnte. Das meinschaft. Eines Tages bekam ich eine Gästebuch z.B., wo Polzer siebzigmal kleine Broschüre über den unterirdi- etwas hineingeschrieben hatte anläss- schen Tempelbau in Mariensee. Am lich eines jeden seiner Aufenthalte, Ende des Heftchens standen die Na- durften die Besucher, die an Polzer in- men und Telefonnummern der Bauge- teressiert waren, in die Hand nehmen meinde, unter anderen auch der Name und lesen. Marianne Schenker. Übrigens sind in der Familie Schenker 2004, genau 10 Jahre nach der Er- – nomen est omen – große hilfsbereite scheinung des Buches von Thomas und aufopferungsvolle Schenker-Per- Teil des Gutshauses in Meyer Ludwig Polzer-Hoditz – ein Euro- sönlichkeiten. Während und nach dem Mariensee päer, begann ich mit der Übersetzung zweiten Weltkrieg haben sie der Fa- dieses Werkes. Im Vorwort lese ich Folgendes: milie Polzer Lebensmittelpakete geschickt und sie da- «In Mariensee, für fast zwei Jahrzehnte eine Art Refu- durch vom Hungertod errettet. Diese Bemerkung gehört gium für Ludwig Polzer, wo er von Dora Schenker stets auch zur Charakterisierung von Marianne Schenker und gastlich aufgenommen wurde, fanden sich im Gäste- dem Ort Mariensee – so konnte ich nicht umhin, diese buch seine oft sehr aufschlussreichen Eintragungen; Zeilen niederzuschreiben. Marianne Schenker, die Schwiegertochter Dora Schen- Ich kann mich glücklich nennen, dass ich Marianne kers, stellte mir auch weitere, im ‹Refugium› verbliebe- kennenlernen durfte. Hoffentlich bleibt unsere Freund- ne Aufzeichnungen Polzers zur Verfügung, wie auch schaft und Liebe auch über den Tod bestehen. den Novellenband von Polzers Großvater Ludwig Ritter von Polzer.» Maria Scherak, Budapest

44 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 … einen Stein hochheben

und einen Monat nach dem Tod von Telefongespräche mit Eduard drehten RMarianne Schenker folgte ihr Eduard sich immer wieder um Polzers oder D.N. Najlepszy am 2. Oktober im gleichen Ma- Dunlops Geistgestalt, aber auch um das riensee über die Schwelle. Ich kannte Schicksal der Templer wie auch des Paps- Eduard seit über zwanzig Jahren als einen tes, der ihnen den Weg in den Unter- sensiblen, hochbegabten Künstler und gang bereitete. Eduard hatte ein feines Farbenforscher. Einige Male bereicherte Gespür für geistige und schicksalsmäßi- er den Europäer mit einzigartigen Karika- ge Zusammenhänge. Für alles auch, was turen und Versen. Eduard war geistreich die Reinheit des anthroposophischen und eine nach innen gewandte Persön- Impulses von außen wie von innen aus- lichkeit, die darunter litt, nicht den höhlte und zu lähmen droht. rechten Platz für ihre bedeutenden Fä- Er war ein Seismograph für eine große higkeiten zu finden. Tragisch war sein Anzahl von konvergierenden Geistes- Eduard Najlepszy Hinausgedrängtwerden aus der Pflanzen- strömungen. Marianne Schenker wird farbenforschung in Dornach in den neunziger Jahren. auch hier stärkend und stabilisierend gewirkt haben, er- Nach vielen Irrfahrten gelangte er schließlich vor öffnete sie doch durch ihre Person den seelischen Aus- zwei Jahren nach Mariensee. In der vom tatkräftigen blick auf große Schülergestalten Steiners wie Ludwig und sonnenhaften Optimismus von Marianne Schenker und Berta Polzer oder Sophie Lerchenfeld, aber auch auf geprägten Ort konnte er seelisch Atem schöpfen. Rasch andere, Mariensee besuchende bedeutende Persönlich- fasste er neue Projektpläne. Immer stärker lebte er sich keiten. Mit ihrem Tod waren diese Fenster für ihn ge- auch in die Bemühungen Ludwig Polzers ein, der ja, wie schlossen worden. schon oben berichtet, oft und gerne in Mariensee weil- Sein unerwartetes Ableben, unter nicht ganz geklär- te, wo ihm Dora Schenker bei Vorbereitungen für Vor- ten Umständen, brachte ihn wieder in ihre Geistesnähe; träge oder beim Abtippen von Manuskripten half. Hier an ihrer Seite wird er, so können wir annehmen, jenen verfasste Polzer auch mit Dora Schenkers Hilfe seine be- «älteren Brüdern» nahe treten dürfen, nach deren hel- deutende Rede für die fatale Generalversammlung der fender, inspirierender Gegenwart er sich so innig ge- AAG vom Frühjahr 1935. sehnt hatte. Thomas Meyer, Basel

Was geschieht, wenn wir einen Stein hochheben? Eine bemerkenswerte Unterhaltung mit Rudolf Steiner aus dem Nachlass von Gustav Kull

Der heutigen Physik sind Fernwirkungen mit nicht klassischer Der Nachlass von Gustav Kull (1877–1949), aus dem der Ursache-Wirkung-Beziehung nicht mehr ganz unbekannt. Text stammt, befindet sich zur Zeit in Arbeit und soll zu einem Fast sprichwörtlich ist der «Schmetterlingseffekt» geworden, die späteren Zeitpunkt ausführlicher präsentiert werden – zusam- chaostheoretische Metapher, dass der Flügelschlag eines men mit weiteren Schülern und Schülerinnen Rudolf Steiners Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen mit mehr naturwissenschaftlichem bzw. technischem Schwer- kann. Neuerdings wird die quantenphysikalische Vorstellung punkt, welche merkwürdigerweise in keinem der offiziellen von zwei sog. verschränkten Lichtquanten (gemäß Prof. A. Zei- Biografie-Lexikas vorkommen (siehe etwa Ing. Julius Zoller oder linger) salonfähig, wobei die Manipulation des einen Teils zu- Iwer Thor Lorenzen). gleich den Zustand des anderen affiziert – wiewohl sie materiell Christoph Podak nirgends miteinander verbunden und weit voneinander ent- fernt sind. Zwecks Erklärung scheuen sich nahezu alle Interpre- udolf Steiner lud mich 1920 in Stuttgart ein, ihm ten dennoch, die vermeintlich überwundene «Äthertheorie» zu Rmeine Entdeckung: die Kroll-Ätherität1, Verursache- bemühen, das Weltall wenigstens als ein im Sinne des folgen- rin aller mechanischen Bewegungen, die Rotationsbe- den Dokumentes dynamisches, elastisches System zu sehen, wegung der Erde von einem Krollschwall getragen, der dem gegenüber Behauptungen wie jene eines «gekrümmten zugleich Träger der Gravitation und der Umläufe der Raumes» (nach A. Einstein) im luftleeren Raum hängen bleiben. Planeten ist, – auseinanderzusetzen.

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 45 … einen Stein hochheben

Ich sagte ihm: Ich sei vom Per[io- Magnetismus das Symbol «Linie» den]-System der chem[ischen] Ele- (Polarität «plus u[nd] minus» oder mente ausgegangen und habe ge- «Nord-Süd»); zur Kroll gehört dann funden, dass die Elementengruppe das Fläche-Symbol (das man auf die Li, Be, B, C als ein Abbild der Äther- Erdoberfläche wird beziehen müs- Vierheit: Wärme, Licht, chem[ischer] sen). Äther, Lebens-Äther sich darstelle, Von der Wärme-Substanz spaltete und dass auch die Dreiheit der U- sich zu Beginn der Sonnen-Zeit ein Äther: Elektrizität, Magnetismus, I-Äther2 ab, nämlich Licht, und zu- Masse-Äther (schlechte Bezeichnung) gleich ein U-Äther3, nämlich Elektri- hierher gehören; die El[ektrizität] sei zität. Entsprechendes spielte sich dem Lichte zuzuordnen usw. dann zu Beginn der Monden- und Natürlich bedeutete für mich die Erdenzeit ab. Auf dem Saturn gab es Mitteilung ein Fragen, inwieweit keine Abspaltung. Eine U-Abspal- Dr. St[einer] meine Entdeckungen tung kann sich nicht vollziehen, gutheißen könne: Er hat nichts ge- wenn sich nicht zugleich eine I-Ab- tadelt und nichts zurechtgerückt, spaltung vollzieht. aber er machte ergänzende Bemer- kungen. Gustav Kull (1877–1949) lch hatte gesagt: Wenn wir einen Stein hochheben, so bewirken wir damit, dass die Planeten ein wenig schneller umlaufen müssen; wenn wir den Stein freigeben, so kommt Ener- 1 Näheres u.a. im Typoskript «Die Mechanik-Vorgänge sind durch die ‹Kroll-Ätherität› bewirkt – Die Kroll ist das Agens in gie, die wir in den Weltenraum hinausgedrängt haben, allen mechanischen Vorgängen», nach einer vom Verfasser aus diesem zurück und treibt den Stein zur Erdoberflä- nicht durchgesehenen Nachschrift, hrsg. von Martha Hinrich, che hinab. Dazu sagte Dr. St[einer] [in] (etwa): Sie deu- Köln 1949, 99 S. mit Abb. ten damit auf etwas, was man sonst meint, wenn man 2 Kull bezeichnet die vier übersinnlichen Ätheritäten R. Stei- von der «Elastizität des Weltalls» redet. ners (Wärme-Äther, Licht-Äther, Klang- bzw. chemischer oder Weiter machte mich Dr. St[einer] darauf aufmerksam, Valenz-Äther und Lebens- bzw. Sinn- oder atomistischer Äther) mit Füer, Licht, Schill und Widd und zusammen genom- dass zur El[ektrizität] das «Punkt»-Symbol gehöre, zum men als «Ihde». «Er hat die Neu-Worte [bewusst] aus dem Lautlichen heraus gebildet ...», so die Erklärung von Josef Busch, der sich Jahrzehnte lang der Pflege des Nachlasses des Die Elastizität des Weltalls zuletzt in Köln Lebenden widmete (in dem kurzen Bericht von 1957 «Geisteswissenschaftliche Betrachtungen über das Die Fingerzeige für einen Neuaufbau einer Wissenschaft vom Wesen der Wärme»). Wesen der Sterne und von ihren Wechselwirkungen finden 3 Entsprechend heißen die drei untersinnlichen Ätheritäten, sich in Rudolf Steiners Geisteswissenschaft. Diejenigen, die eigentlich «Anti-Äther», «Üdde» (vgl. das entsprechende Kapi- diese Geisteswissenschaft kennen, wird es interessieren zu tel im Manuskript von J. Busch «Vom verborgenen Wesen der hören, dass es mir möglich war, das Wesentliche dessen, was Materie – Der Schulwissenschaft unbekannte Tatsachen», hier vorgebracht wird, mit Rudolf Steiner durchzusprechen; Mannheim 1955 –1960, 84 S.). «Kroll» steht hierbei zu weiten er war, wie es schien, überrascht über das Mitgeteilte, fand Teilen für die bis dato unbeobachtet gebliebene sog. Dritte aber nichts zu tadeln; im Gegenteil, er gab mir Anregung für Kraft (mehr hierzu in «Die noch unentdeckte ‹dritte Kraft› – eine Gestaltung. Als ich ihm sagte: «Wenn man auf der Erd- Eine Betrachtung von Mabel Cotterell im Zusammenhang mit oberfläche einen Stein emporhebt, so müssen dadurch die einem Vortrag von W.J. Stein aus dem Jahre 1947», Der Euro- Planeten um ein Winziges schneller umlaufen», da entgeg- päer, Jg. 5, Nr. 8, Juni 2001). nete er: «Die Elastizität des Weltalls!»

(Aus: Gustav Kull, «Dynamik» im Himmelsraum Die bereits genannten Manu- und Typoskripte sowie alle und «Kynetik» im Erdgebiet, Typoskript, geb., erhalten gebliebenen Schriften und Briefwechsel von Gustav Kull nach einer vom Verfasser nicht durchgesehenen Nachschrift sollen zuletzt in Form durchsuchbarer PDFs auf einer «Nach- zusammengestellt u. hrsg. von Martha Hirrich, lass-CD» Interessenten zur Verfügung gestellt werden. Köln 1950, 485 S., mit Abb., hier S. 80) Man wird von dieser aus sich eine Kopie ausdrucken und bei Bedarf mittels Ringbindung selber ein Buch herstellen können – so das neue Konzept.

46 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Eine neue Novalis-Dichtung

Vom Leben mit Novalis Gedanken zur Dichtung «Novalis – Wesen Werden Wiederkunft» von Wilfried Hammacher

Die Verse des Dramatikers Rudolf Steiner insbesondere in seiner Geheimwissenschaft im Wer schon die Gelegenheit hatte, einem Vortrag Wilfried Umriss geschildert hat, so findet man einen Anklang in dem Hammachers aufmerksam zuzuhören, dem dürfte der unver- Bogen der ersten fünf Gedichte wieder. Was hierin über die gängliche Dank hinter seinen Worten nicht entgangen sein, Erschaffung der Welt und des Adam poetisch verdichtet den er dem Begründer der Anthroposophie resp. seiner gro- wird, ist ein Neu-Erleben zeitloser okkulter Weisheit. Das ßen Mitgefährtin gegenüber empfindet. Auch sein künstleri- sechste Gedicht ist gewissermaßen ein Übergang von den scher Beruf, den er mit seiner ganzen Persönlichkeit ergriffen kosmischen Vorgängen zu den biblischen Gestalten, die zu hat, wäre ohne deren Wirken nicht denkbar. Demzufolge hat der Entelechie von Novalis gehören. Es geht darin um Pine- Hammacher ihnen, mit denen er wie in einem inneren Dia- has, den Oberpriester der Moses-Zeit, dessen Einschreiten log immer geblieben ist, in seinem neuesten Buch ein nach- für Gott, letztendlich für den kommenden Christus, eine haltiges Zeichen gesetzt, wie es nur ein stark individualisier- entscheidende Wende im israelitischen Volk darstellt. Diese tes Geistesleben hervorzubringen vermag.1 Tat wirkte unvermindert durch weitere Inkarnationen hin- Der 81-jährige Autor schrieb eindrückliche Gedichte über durch. So umfasst der zweite Gedichtsbogen, bis zum ach- die Erdenstationen der Novalis-Entelechie, deren Inhalt das ten Gedicht, die überaus großen Schicksale des Elias und Wirken und Wandeln einer Wesenheit sind, die Jesus Christus Johannes des Täufers. Da erschüttert es den Leser, wenn er einst als die höchste unter den Erdensöhnen bezeichnet hat.2 hier in dichterischer Zusammenführung erlebt, wie sich Schon formal ist dieses Werk unter anthroposophischen an den beiden Geistesführern das Wort Gottes tatsächlich Autoren originell, da es kein weiteres Buch über Novalis dar- erfüllte, das er Moses einst sagte, mit Pinehas den Bund stellt, das sich in ein wachsendes Opus von Novalis-Bio- des Friedens schließen zu wollen und allem Samen seines graphien einreiht, sondern eine poetische Botschaft über Bluts das ewige Priestertum Jehovas zuteil werden zu lassen. das eigene Erleben des Novalis-Schicksalsdramas bringt. Wer In großen Schritten macht man die Wandlungen der integral über das Leben und Schaffen von Novalis sinnen lebensstarken, überreichen Adam-Seele zum priesterlich- möchte, begegnet hier auf poetische Art und Weise einem kämpferischen Tun des Pinehas, Elias und Johannes mit. In grandiosen Versuch, sich die geisthistorisch relevanten Er- dem Täufer-Leben findet die hochdramatische vorchristli- eignisse durch die Wortkunst zu vergegenwärtigen. Ham- che Verkörperungsreihe ihren Höhepunkt, um mit dem macher besitzt nicht nur die Willenskraft, im Novalis-Karma neunten Gedicht die nachchristliche in unbeschreiblicher einem überragenden, Jahrhunderte umspannenden Myste- Geistesanmut anzutreten. riendrama zu begegnen, sondern auch ein königliches For- Hier wird der Autor ganz lyrisch und lässt uns anfangs in mat an eigenständiger Empfindung, um es sich schließlich sublimen Tristichons das Leben Raphaels von Urbino bzw. durch eigenes Erlebnisfeuer poetisch zu erschließen. Somit die Geisteskraft, die von ihm ausgeht, mitfühlen. Wie der ist dieses Werk in unserem Kulturraum, der zunehmend den priesterliche Kämpfer als Kultur-heilender Künstler wieder Charakter einer Ruinenlandschaft annimmt, ein seltenes erscheint, der sich dem Liebesstrom Christi wie kaum je- Beispiel einer wirklich europäischen Geistesart. Denn wer mand verbunden hat, das sehen wir im Betrachten seiner lebt heute noch mit Novalis? Wer verinnerlicht noch die gro- Bildwerke. Da sich für den heutigen Forscher Raphaels Le- ßen Schicksale und Gedanken so, dass dadurch die eigene ben wie Elias in seinem Feuerwagen entzieht, geht Hamma- Seele eine Umwandlung erfährt? Nova- cher auf dessen unsterbliche Malerei lis ist der poetische Schatz eines drama- ein und verdichtet siebzehn Bilder- tischen Künstlers für Leser, die mit ihm lebnisse in Verse, die Vieles vom Wesen den Sinn für geistig Großes, schließlich ihres Schöpfers offenbaren. Das sub- für das Christliche selbst teilen. jektiv-objektive Erlebnis bekräftigend sind jedem Gedicht auch die entspre- Die Stationen chenden Bilddrucke beigefügt. Man Das ganze Werk3, das aus zwölf gro- kann dabei fühlen, wie sich das Erleb- ßen, Akt-ähnlich unterteilten Gedich- nis zu einem künstlerischen Gesamt- ten besteht, ist der Form nach hetero- werk ausweiten möchte, indem see- gen, verbleibt aber inhaltlich für den lisch die musikalische Seite des Ganzen anthroposophischen Leser von einer als zarte Ahnung auftaucht. Wie eine stets nachvollziehbaren Kohärenz. Hat göttliche Symphonie erklingt in diesen man Kenntnis von Vorgängen, wie sie Bildern eine engelstarke Seele, die bei

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allen großen Prüfungen der Menschheit als Zeuge und Mit- schönsten und auch am meisten anstrengenden Arten, über wirker schon dabei gewesen ist. Das Novalis gewidmete, Novalis zu reden. zehnte Gedicht, schaut mit leicht wehmütigem, liebevollem Was der Autor über die Kunst der Sprachgestaltung apho- Blick auf den schmerzlich unerkannten jungen Dichter der ristisch sagt,5 stimmt zu erschütterndem Ernst. Weil es ver- Goethe-Zeit. Und ein wunderbares Staunen weht durch die dichtete Wahrheit enthält. Und weil es viel zu wenige Kenner Verse, denen es gelingt, das Rätsel von Novalis mit wenigen dieser Kunst gibt. Das ins Werk einleitende Gedicht [siehe Worten zu umspannen. Kasten] steht gleich einem Tor, an dessen Balken die Jahre Dieser dritte Bogen kulminiert in den letzten zwei Ge- des künstlerischen Strebens gebaut haben. Geronnenes Le- dichten, die einerseits die Quintessenz der einzelnen Inkar- ben, zukunftsfähig, begrüßt hier den rar gewordenen Rezi- nationen und andererseits die ewige tator, der es gewiss durchschreiten wird. Ichheit, die durch sie hindurchgeht, poetisch ansprechen. Was für Wand- Dem hörenden Leser – Branko Ljubic, Dornach lungen die Wort- und Gebärden-Of- dem bildenden Hörer fenbarung in diesen Leben taten, das Was durch die Zeiten waltet, ist dem Sprachkünstler Hammacher 1 Das Werk ist «dem Geiste Marie Stei- so aufgegangen, dass er dies tief in in Ewigkeit geboren, ner-von Sivers und dem Geiste Rudolf seine künstlerische Schulung4 aufge- im Herzen sich entfaltet, Steiners zum Zeichen eines lebens- nommen hat. dem Werden ganz verschworen. langen Danks» gewidmet. Es erschien im Verlag am Goetheanum. Das Wort, es will gesprochen sein Dem Lauscher vorzufühlen 2 Siehe: Lukas-Evangelium, Kap. 7, Vers 27– 29. Diese Dichtung ist kein neues künstle- ist sprechender Beruf, 3 Eine wertvolle Analyse hinsichtlich des risches «Projekt», das viel Publikum die Glut im Bild zu kühlen, Metrums und Inhalts brachte die Re- wie sich’s das Wort erschuf. anziehen möchte. Das liegt dem Autor zension von Reinhard Bode, Allgemeine fern. Er sieht in ihr auch keine geeig- Anthroposophische Gesellschaft, Nach- Doch bleibt’s der Rede Sinn, nete Lektüre für denjenigen, der bloß richten für Mitglieder, 37/09. lesen will. Der einzige richtige Um- gemeinsam fortzuwandern: 4 In seiner Vorbemerkung zum historischen gang mit ihr ist, sie zur Sprache zu und eigensten Gewinn Inhalt und Gehalt der Dichtung (S. 10.) bringen, denn sie möchte frei schwin- schöpft einer durch den andern. erwähnt der Autor, dass die Stationen gen. Vom Mund zum Ohr, vom Leben dieser Dichtung schon am 29. Septem- für das Leben. Insbesondere ein Wer’s zweisam übt, ber 1970 Inhalt seiner Ansprache bei der Gründung der Novalis-Schule für Sprachgestalter versteht diese Auffor- strebt ungetrübt. Sprachgestaltung und Dramatische Kunst derung gut, denn der dem Willen sich und Novalis-Bühne in Stuttgart waren. offenbarende Gehalt der Dichtung ist Silvia Hammacher-Voith und Wilfried nur demjenigen zugänglich, der mit- Wilfried Hammacher, Hammacher wirkten als Gründer und tels lebendiger Wortgestaltung den Novalis – Wesen Werden Wiederkunft, Leiter (1970 –1995) dieser beiden dichterischen Prozess nachbildet. Die S. 11. Kunststätten. Rezitation ist demnach eine der 5 Siehe Anm. 4, S. 10.

Editorial / Fortsetzung von Seite 2:

Allen unseren Lesern wünschen wir eine besinnliche Ich bin nur ein Stein am großen Tempel. Ich bin ein Soldat Advents- und Weihnachtszeit. im Heere und darf von meinem Nebenmanne nicht um ein Die zeitgeschichtlichen Zeichen versprechen kein Haarbreit weichen; tät ich’s, der Marsch des ganzen Heeres ruhigeres Neues Jahr. Daher mögen sich die Kräfte aller, geriete in Unordnung. Ich weiß, dass ich durch die Feier dieser die mindestens den entschiedenen Willen haben, in den Nacht die Verantwortung für das Ganze auf mich nehme (...) Sphären des wirtschaftlichen, politischen und geistigen Auch meine Kraft ist unerschöpflich, solange meine Kamera- Lebens klar zu sehen, mehr und mehr vereinen. Zu der den zu mir stehen: sind wir vereint, kann nichts uns fällen. in der Nacht zum 15. Dezember einsetzenden «Feier der Vereinigung» finden wir in der von Rudolf Steiner hoch geschätzten Geschichte des Jahres von Mabel Collins die Thomas Meyer folgenden Meditationsworte:

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Bazillen und Viren

ie für uns entscheidende Frage ist nicht die, ob es Bak- sals (Karma), unter dem jeder Mensch steht. Im nächsten Bei- Dterien bzw. Viren gibt oder nicht, sondern ob sie die ei- trag wollen wir noch den sechsten Arzt besprechen, den Para- gentliche Ursache oder bloß Indikator einer Krankheit sind. celsus auftreten lässt, um den Fünfen den Zusammenhang Dass sie ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Organisati- zwischen den mikro- und makrokosmischen Zusammenhän- on darstellen, hatten wir schon in dem vorangegangenen gen bei einer Krankheit und beim Tod zu erläutern. Aufsatz erwähnt [siehe: Olaf Koob, «Die Schweinegrippe auf Rudolf Steiner hat in seinen medizinischen Werken die dem Hintergrunde divergierender Krankheitslehren», Jg. 14, Ärzte immer wieder belehrt, möglichst die einzelnen We- Nr. 1/ November 2009]. Die meisten Mikroben (etwas mehr sensglieder und ihr Zusammenwirken zu beobachten, um so als ein Kilogramm!) leben in uns in friedlicher Symbiose und von der Oberfläche durch intuitives Verstehen an die eigent- sind für unsere Stoffwechselorganisation und unser Immun- lichen Ursachen einer Krankheit heranzukommen. In recht system als unserem «molekularen Selbst» lebensnotwendig. einfachen, aber sehr tiefreichenden Beispielen und Meta- Hunderte von Virusarten (Viren sind Bestandteile der Zelle, phern hat er dies öfter demonstriert. So einmal, wie man die ihren ganzen Stoffwechsel an die gemeinsame Zelle ab- von einer mehr materiellen Sicht zu einer tiefer liegenden, gegeben haben und deshalb die Zelle verlassen können. Sie geistigen kommen kann. Nehmen wir die Bakterien syno- helfen außerhalb der gemeinsamen Zelle anderen Zellen, in- nym für Fliegen, so wissen wir sofort, was Steiner ausdrü- dem sie Bau- und Energiesubstanz übertragen. Sie üben also cken wollte. Ich habe dieses Beispiel ein wenig aufgearbeitet: innerhalb des sehr komplexen Zellsystems eine helfende ein Zimmer ist voller Fliegen und wir nehmen gewöhnlich und stützende Funktion aus. Nach Aussagen führender Mo- einen Fliegenspray, um diese lästigen Tiere auszumerzen, lekularbiologen ist die Behauptung, dass Viren Krankheiten wie auch in der Medizin bei Infektionskrankheiten Anti- erzeugen sollen, eine «fatale Lüge mit dramatischen Fol- biotika benutzt werden. Und in der Tat, die Fliegen ver- gen») existieren als «tote Einschlüsse» und als Information schwinden für eine kurze Zeit, um bald wiederzukommen. in unseren Zellen. «Sie schlafen dort, und niemand weiß, ob Je mehr wir sprayen, desto immuner werden einige von ih- sie jemals wieder erwachen, um sich zu vermehren.» (Bert nen gegen das Gift. Ein im Moment sehr großes Problem bei Ehgartner: Lob der Krankheit. Warum es gesund ist, ab und zu Infektionskrankheiten, die gegen die meisten der Antibioti- krank zu sein, Bergisch Gladbach 2008.) ka resistent geworden sind. Ein Mensch, der vielleicht etwas Als «Motor der Evolution» treiben sie u.a. die Entwick- weiter denkt, wird auf den Schmutz im Zimmer aufmerksam lung unseres Immunsystems voran und «die Fähigkeit des werden, der die Fliegen immer wieder anzieht. Der Schmutz Immunsystems zu lernen und sich anzupassen wäre ohne wird entfernt, die Fliegen aber kommen vielleicht etwas spä- die viralen Lebens- und Sparringspartner nicht denkbar.» ter als sonst, da irgendwann der Schmutz wieder da ist. Wie (Ehgartner a.a.O.) denkt nun ein Mensch mit spirituellem Blickwinkel? Was ist Geht es um die Ursachenerkenntnis einer Krankheit, so mit der Hausfrau los? Sie ist entweder faul oder depressiv ist das vonnöten, was Rudolf Steiner einmal als «Schichten- und kann sich nicht aufraffen, das Zimmer zu säubern. Be- urteil» bezeichnet hat. Anhand der vier Wesensglieder hat handelt man nun die rein seelische Ursache, so muss äußer- dies Paracelsus einmal in seinem Werk Volumen Paramirum lich das Zimmer von Schmutz und Fliegen zwar auch erst eindrücklich gezeigt, indem er insgesamt fünf Ärzte als Re- einmal gesäubert werden, aber, da man die wahre Ursache präsentanten verschiedener Sichtweisen sich um einen Cho- beseitigt, wird man auf die Dauer einen Langzeiterfolg ha- lera-Toten gruppieren ließ. Von jedem der einzelnen Stand- ben. Gibt es einen rein logischen Zusammenhang von Faul- punkte hatte jeder Recht, doch auch wieder Unrecht: heit, Depression und Fliegen? Wohl kaum! Aber einen le- Der erste vertrat das rein physische Prinzip, das wir heute benspraktischen! die Bazillentheorie nennen würden, der zweite den mehr Im Zusammenhang mit der Krankheitsentstehung und ätherischen Aspekt der Konstitution und somit der Lebens- Bakterien greift Steiner zu einem weiteren Bild, um aufzuzei- kräfte, der dritte den seelisch-astralen Aspekt der individuel- gen, dass beim Auftreten bestimmter pathogener Bazillen len planetarischen Konstellation, wie ihn auch heute die As- ein «Unterboden» (vergleichbar von verrottender Materie tromedizin versucht (wie wir im nächsten Beitrag noch sehen im Wald, wo Pilze ihren geeigneten Nährboden finden kön- werden, geht es gerade bei Epidemien um eine «kosmologi- nen) vorhanden sein muss, als eine Art «Erkennungszei- sche Symptomatologie». Rudolf Steiner, GA 185, Vortrag vom chen», dass im gesamten organischen und seelischen Milieu 20.10.1918) und der vierte schaute auf die Färbung der ge- etwas geschwächt ist. Die positive Seite der Bazillendiagnos- samten Persönlichkeit, des Ich, das voller Furchtempfindun- tik ist ja die, dass wir Sicherheit für den Krankheitsbefund gen war und deshalb die Krankheit an sich gezogen hat. Der z.B. bei einer Tuberkulose bekommen. Was aber nicht schon hinzugezogene fünfte Arzt, der die «quinta essentia» – die heißt, dass der Mensch allein durch das Auftreten von Ba- Quintessenz – repräsentierte, spricht vom Aspekt des Schick- zillen schon die entsprechende Krankheit hat. Im Klartext:

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bei einem Halsabstrich, wo Scharlachbazillen gefunden wer- nach geisteswissenschaftlicher Aussage die «Gnomen», die den, muss noch kein Scharlach vorhanden sein oder sich als rein erdgebundene Wesen ihre abbauend-zerstörerische entwickeln! Kraft besonders im Stoffwechsel entfalten. Dadurch werden Anhand von wohlgenährten Kühen auf einer Wiese wird aber auch notwendige Ausscheidungsprodukte geschaffen, dies demonstriert. «Denken Sie einmal, Sie entdecken eine die nach innen, im oberen Menschen zu einer abgelagerten Landschaft, in welcher Sie eine Anzahl vorzüglich genährter Materie führen, die zu unserem Gehirn (einem «toten Spie- und gut aussehender Kühe finden. Werden Sie dann sagen: gel») wird und die Grundlage für unsere rein irdischen Ge- weil diese Kühe irgendwie hereingeflogen sind, weil die dankentätigkeit abgibt. Landschaft angesteckt worden ist durch diese Kühe, ist das Aber auch durch rein seelisch unmoralische Handlungen alles, was Sie da sehen, so wie es ist? Es wird Ihnen wohl greift der Mensch in das Weltgeschehen ein und wird spe- kaum einfallen, nicht wahr, sondern Sie werden genötigt ziell durch Lüge, Verleumdung und Heuchelei zum Bildner sein, zu untersuchen, warum in dieser Landschaft fleißige gewisser seelisch-negativer Kräfte («Abschnürungen»), die Leute sind, warum ein besonders geeigneter Boden für diese dann vermaterialisiert als Parasiten im Zwischenreich von oder jene Tierpflege da ist, kurz, Sie werden wohl bei allem Leben und Tod, Geist und Materie auf Kosten anderer Wesen möglichen, was die Ursache sein kann, dass da gut gepflegte ihre Existenz führen. Dieses Kapitel einer spirituell erweiter- Kühe sind, mit Ihren Gedanken Halt machen. Aber es wird ten Infektionslehre muss noch geschrieben werden, wenn Ihnen nicht einfallen, zu sagen: Dasjenige, was da geschieht, man heute unter diesem Aspekt das Weltgeschehen beson- kommt davon her, dass die Landschaft angesteckt worden ders des 20., aber auch das 21. Jahrhundert mit seinen zer- ist durch den Einzug von gut gepflegten Kühen. – Nicht an- störerischen Ideologien anschaut! ders aber ist die Logik, welche die heutige medizinische Wis- Das ist ja wohl eines der Hauptprobleme der heutigen senschaft mit Bezug auf Mikroben und dergleichen eigent- Zeit: dass der Mensch meint, aus der Verantwortung des lich entwickelt.» (Rudolf Steiner, Vortrag vom 24.3.1920 in Weltgeschehens ausgeklammert zu sein und sich mehr oder GA 312). weniger als Opfer und nicht als Täter für das Zeitgeschehen Es ist dabei aber nicht ausgeschlossen, dass ein sehr ge- erlebt. eignetes, gesundes Milieu seinerseits durch die Anzahl der So ist ja das Leiden durch eine Krankheit auch dazu da, Kühe (Bazillen) und ihres Verhaltens wieder eine Änderung Erfahrungen über uns selber zu schöpfen «wie wir uns (im ins Pathologische erfährt – also eine sogenannte Rückkoppe- Laufe der Inkarnationen) unserer fortlaufenden göttlichen lung. Aber die eigentliche Ursache der Krankheit bleibt da- Organisation anzupassen haben.» (Rudolf Steiner, GA 143, bei unberührt. Durch diese weit verbreitete «Bazillenlogik» Vortrag vom 17.4.1912). In diesem Zusammenhang erwähnt ist es nach Steiner zu einer «Verheerung des gesunden Den- Steiner auch das Verhältnis des Menschen zu den Tieren, die kens» in der offiziellen Wissenschaft gekommen. ja durch ihn unsägliches Leid und Schmerzen (man denke nur an die Tierversuche in der Medizin zum «Wohle» des Nun betrachten wir einmal, wie diese für Mensch und Menschen!) durchstehen müssen. Diese den Tieren zugefüg- Tier gefährlichen Keime bzw. Parasiten, die ja z.T. auch ne- ten Schmerzen im Laufe der Evolution verlangen nach ei- ben den hilfreichen als «Flora und Fauna» in unserem Ver- nem karmischen Ausgleich schon auf der Erde. Das, was in dauungstrakt und auf unserer Schleimhaut leben, entstan- den Tieren Schmerz fühlt, kommt wieder in Gestalt von Pa- den sind. rasiten, die ihrerseits im Menschen Schmerz und Leid erzeu- Steiner macht dazu eine generelle Aussage: diejenigen gen und den Menschen lehren, aus den eigenen Schmerzen von ihnen, die speziell ihr parasitäres Wirken in Tier und gewisse positive Empfindungs- bzw. Mitleidskräfte für die Mensch, also in beseelten Organismen haben, sind Ge- Zukunft zu entwickeln. Aus den Empfindungen und Gefüh- schöpfe geistiger Art von der Weltenkraft Ahrimans. Neben len dieser Menschen heraus, wird der Ausgleich geschaffen Wesenheiten, deren Weltenaufgabe u.a. die Zerstörung bzw. werden zu den Schmerzen, die Tiere in der Vergangenheit er- der Abbau ist, ohne den wir ja nicht denken könnten (und leiden mussten. «Warum werden denn die Menschen ge- auch sterben), hat aber auch eine andere zerstörerische Kraft quält von Wesen, die eigentlich weder Tiere noch Pflanzen im Menschen und auch im Tierreich geschaffen: die Furcht. sind, sondern zwischen beiden stehen, die ein Wohlgefühl Bazillen und Furcht kommen somit aus einer geistigen Quel- daran haben, wenn der Mensch leidet, von Bazillenarten le, ja, sie bedingen und fördern sich geradezu! Ähnlich, wie und dergleichen Geschöpfen? Dieses Schicksal haben sie in es im Elementarreich gute und auch böse Wesenheiten gibt, früheren Inkarnationen, dadurch dass sie Leiden und Tod so finden wir dies auch in der Welt der Bakterien. Durch das den Tieren zugefügt haben, sich geschaffen.» (Steiner a.a.O.) vermehrte Wirken ahrimanischer Elementarwesen ab 1879 Dieses alles geschieht aber nicht in der Zukunft, sondern entstehen auf der Erde immer mehr tote, vermaterialisierte schon im Laufe des gegenwärtigen Erdenlebens. Wir alle Gedanken («Verstandes-Materialismus») (s. R. Steiner, GA sind aber an diesem Weltenschicksal bewusst oder unbe- 177, Vortrag vom 14.10.1917) und gleichzeitig Kleinlebewe- wusst beteiligt! sen, die dem Menschen physisch schaden wollen. Es sind Dr. med. Olaf Koob, Berlin

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Apropos 59: Eine goldene Nase, der tote Esel und der Banker

ass man ein Kind «allmählich dahin bringen kann, (…) das moralische Urteil habe ich mir selbst entfaltet; es 1 Dmoralische Impulse in sich in der richtigen Weise zu ist das meinige.» entfalten», ist – wie Rudolf Steiner festgehalten hat – «die größte, die bedeutsamste Erziehungsfrage». Allerdings: Auf der Suche nach Vorbildern für Kinder «Moralische Impulse bringen wir nicht in das Kind hi- Jugendliche und ihre Eltern haben es heute nicht leicht, nein, wenn wir ihm Gebote geben, wenn wir ihm sagen: wie schon im letzten Apropos dargelegt wurde. Es ist nicht Das sollst du tun. (…) Oder indem wir ihm sagen: Das ist einfach, Vorbilder, «die gut sind», zu finden in einer Zeit, (…) böse, das sollst du nicht tun.» Wie sich der Mensch in der – wie Rudolf Steiner schon vor bald 90 Jahren fest- intellektuell zu gut und böse stellt, «zu der ganzen mora- gestellt hat – «die Verlogenheit» die «Grundeigenschaft lischen Weltordnung», das «soll erst erwachen». Und «es des ganzen öffentlichen Lebens» ist, eine «Verlogenheit, erwacht erst, wenn mit der Geschlechtsreife» (also etwa die immer weiter und weiter die Menschen ergreift» und mit 14 Jahren. B.B.) «das rhythmische System im We- inzwischen alle Bereiche verseucht; «bis in die Tiefe der sentlichen seine Dienste in der ganzen menschlichen einzelnen Wissenschaften hinein». Für Jugendliche ist Entwicklung getan hat, und das Intellektuelle dann reif das Erleben der «Verlogenheit» noch viel schlimmer als wird zur vollständigen Entfaltung.» für Erwachsene. Woher also die nötigen Vorbilder neh- men? Aus der Politik? Da ist die Verlogenheit wohl am Wie das Kind zum moralischen Urteil kommt schlimmsten. Zum Beispiel der im Sommer 2007 nicht Steiner betont: «Es treten nur dann die richtigen morali- ganz freiwillig zurückgetretene britische Premierminister schen Impulse im Menschen mit der notwendigen Kraft Tony Blair? Als Vorbild wofür? Wie man erfolgreich die auf, wenn er im rechten Reifezustande die innerliche Be- Weltöffentlichkeit belügt? Oder wie man Kriegsverbre- friedigung erlebt, an dem Dasein selbst sich ein morali- chen (Führen eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs) sches Urteil bilden zu können. (…) Das moralische Urteil begeht, ohne dass man vor Gericht kommt? (Das scheint soll man dem Kinde nicht einimpfen. Man soll es so vor- ihn allerdings den mit dem Reformvertrag neu geschaffe- bereiten, dass das Kind» – wenn seine volle Urteilskraft nen und prestigeträchtigen Posten eines Präsidenten der erwacht ist – «an der Beobachtung des Lebens sich selber EU zu kosten.) Oder wie man sich als «Berater» eine gol- das moralische Urteil bilden kann.» Das kann es nicht, dene Nase verdient, wenn es mit der Politik nicht mehr wenn man ihm einfach abstrakt Gebote hinstellt. «Man klappt? erreicht es aber, wenn man durch das Vorbild oder das Vor-Augen-Stellen von Vorbildern wirkt. Man gebe dem Wie man sich eine goldene Nase verdient Kinde durch die Schilderung solcher Menschen, die gut «Die Blairs und das Geld sind schon seit Jahren ein The- gewesen sind oder gut sind, oder durch phantasiegemäß ma in Großbritannien – nicht zuletzt deshalb, weil To- ausgestaltete gute Menschen Bilder für das Gute.» So nys Ehefrau Cherie noch nie damit hinter dem Berg ge- «wird nicht an den Intellekt appelliert, sondern an die halten hat, dass sie ihren Mann für ausgesprochen Sympathie mit dem Guten (…) und an die Antipathie ge- schlecht bezahlt hielt während seiner zehnjährigen genüber dem Bösen. Dadurch wird die Seele so vorberei- Dienstzeit als britischer Premier. Während seine Frau als tet, dass das Gefühlsurteil später zum intellektuellen Ur- erfolgreiche Anwältin bis zu 600 000 Euro im Jahr nach teil im rechten Alter ausreifen kann.» Geschieht das Hause brachte, schaffte Tony noch nicht einmal ein nicht in der richtigen Weise, verkümmert etwas im Kind. Drittel dieser Summe. In Interviews betonte Cherie ger- Für «die intellektualistisch formulierten Gebote» soll ne, wie viel besser es der Familie gegangen wäre, wenn «das Kind erst später erwachen», wenn es «bereits der Er- auch Tony in einer großen Anwaltspraxis arbeiten wür- 2 ziehung entwachsen ist, wenn es schon ein Mensch sein de, anstatt das Land zu leiten.» Dabei hat die arme soll, der vom Leben erzogen wird». Geschieht dies zu Familie seit dem Auszug aus dem Regierungssitz «10 früh, wird das Kind «zum Moralischen nicht erwachen»: Downing Street» enorme Beherbergungskosten: «Ein «Ein direkt entwickeltes Urteil ist wie eine Blume, die von denkmalgeschütztes Landhaus bei Aylesbury, ein Palaz- ihrem Stamme und ihrer Wurzel abgeschnitten ist.» Ein zo in der Londoner Innenstadt, ein viktorianisches Ein- solches Kind fühlt sich «nach der Geschlechtsreife» wie familienhaus in der Grafschaft Durham, eine Wohnung «innerlich versklavt»; «es fehlt ihm für das ganze spätere in Bristol für den einen Sohn und – seit einem Monat – Leben jene ungeheuer wichtige Erfahrung für das Leben: ein Einfamilienhäuschen in London für den anderen

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Sohn: Innert kürzester Zeit» haben Blair und seine Gat- Kürzlich «meldeten britische Medien, Verhandlungen tin «ein beeindruckendes Immobilien-Portfolio erwor- zwischen Blair und der britischen Supermarktkette Tesco ben. Der Gesamtwert wird von der Londoner Zeitung um Beratungsdienste im Nahen Osten seien geplatzt. Evening Standard auf zwölf Millionen Pfund (circa 13 Noch deutlicher sind die Interessenkonflikte im Falle Mio. Euro. B.B.) geschätzt, wovon etwa zwei Drittel Libyens: Blair persönlich hatte ab 2004 die Geschäftsbe- durch Hypotheken belastet sind.»3 «Dass diese Schulden ziehungen zum ölreichen Wüstenstaat neu geknüpft und nicht mit den Pensionszahlungen eines Ex-Ministers be- war dabei auf sämtliche Kapriolen Ghadhafis eingegan- dient werden können, war den Blairs natürlich klar. Sie gen. Danach wurde die Firma Magna Holdings in Ber- rechneten damit, dass Tony Blair als Ex-Premier mit lu- muda gegründet, «die seither Hotels und Hochhäuser in krativen Lesereisen vor allem in den USA und Asien be- Libyen baut. Die Gelder Magnas kommen (…) vom syri- ginnen konnte. Blair soll heute zwischen 750 000 und schen Milliardär Wafik Said. Der hatte in den achtziger 1,5 Millionen Euro im Monat als Redner verdienen.» Jahren eine führende Rolle beim Kauf britischer Kampf- 2007 «bekam er 350 000 Euro für einen zwanzigminüti- flugzeuge durch Saudiarabien. Eine Korruptions-Unter- gen Auftritt in China. Außerdem hat er für seine Me- suchung des britischen Betrugs-Dezernats wurde 2006 moiren einen Vertrag über sechs Millionen Euro abge- von Tony Blair persönlich gestoppt. Dennoch versichert schlossen» – auch wenn der Verlag das Manuskript die Firma Tony Blair Associates gegenüber der Financial frühestens im Jahr 2010 erwarten kann. In den ersten Times, sie habe keine Kontakte zu Magna Holdings. Blair sechs Monaten nach dem Rücktritt als Premier hat Tony weile nur gelegentlich im Auftrag von JP Morgan in Blair als Berater in der Finanzwelt mehrere Millionen Tripolis»3. Euro verdient.2 Inzwischen hat er «zielstrebig und rasch» weitere Einkommensquellen, auch an der Wall Street bei Wie man mit einem toten Esel einen Haufen Geld den Investmentbankern, erschlossen: «Beraterverträge verdient mit der Großbank JP Morgan und dem Zurich-Konzern Der Arbeiterführer Tony Blair hat offensichtlich begrif- spülen nach unbestätigten Schätzungen jährlich vierein- fen, wie die heutige Welt, insbesondere der Finanzmarkt, halb Millionen Pfund (gegen fünf Mio. Euro. B.B.) in die funktioniert. Für die pfiffige Erzählung, die das «politi- Kassen von Tony Blair Associates, jener Firma mit luxu- sche Kulturmagazin» Die Gazette4 zum Thema bietet, hat riösem Firmensitz im noblen Londoner Stadtteil May- er nur ein müdes Lächeln übrig: «Chuck kauft für 100 fair. Die Jahresmiete dafür verschlingt allein 800 000 Dollar einen Esel. Das Tier stirbt vor der Lieferung. Chuck Franken»3 (über 530 000 Euro). will sein Geld zurück, der Farmer hat es aber angeblich schon ausgegeben. Nun will Chuck den toten Esel, um Sehr sozial und undurchsichtig… ihn zu verlosen. Verlosen? Ich sag’ den Leuten einfach Selbstverständlich ist Tony Blair ein sehr sozialer Mensch nicht, sagt Chuck, dass er tot ist. Einen Monat später – wie es sich für einen Labour-Politiker gehört: Er «lässt trifft der Farmer Chuck wieder. Was aus dem Esel gewor- sich nur für ungefähr ein Viertel seiner Arbeitszeit bezah- den ist? Ich hab’ ihn verlost, 500 Lose zu zwei Dollar ver- len. Den Großteil seiner Zeit verbringt Blair im Moment kauft und 998 Dollar Gewinn gemacht. Hat sich keiner als Beauftragter des Nahost-Quartetts unter anderem in beschwert? Nur der Kerl, der den Esel gewonnen hat. Israel – und bekommt kein Geld für sein Engagement», Dem habe ich seine zwei Dollar zurückgegeben ... Die wenn man von – allerdings großzügigen – Spesen ab- Erzählung endet mit der Anmerkung: ‹Heute arbeitet sieht. «Freunde von Blair sagen, dass er zurzeit sogar Chuck für Goldman Sachs.›» In einer Weihnachtsbe- noch hektischer eingespannt ist als früher – er soll seine trachtung «Jesus und die Finanzkrise» kommentierte die Tage um fünf Uhr morgens beginnen und selten vor Mit- Süddeutsche Zeitung das Chuck-Stücklein: «Die Geschich- ternacht aufhören und jettet dabei zwischen den USA, Is- te erklärt, wie Leerverkäufe funktionieren. Sie erklärt rael, Mittlerem und Nahem Osten, Europa und Asien hin nicht, wie so ein Eselsmodell zum Weltfinanzprinzip und her.»2 Denn zusätzlich zu seiner Nebenrolle auf der werden konnte und was dagegen zu tun ist.»5 Und, was diplomatischen Weltbühne hat er eine Reihe von Stiftun- ist die Moral von der Geschichte? Für Neo-Katholik Tony gen gegründet: «für die Versöhnung der Weltreligionen, Blair wäre die Antwort wohl: Dass der Knabe ein ver- für Sport und für die Förderung guter Regierungsprak- träumter Spieler ist und von Realwirtschaft keine Ah- tiken. Auch dafür sammelt er fleißig Spenden, die dann nung hat! Hätte er den toten Esel zu «Gammelfleisch» durch ein undurchsichtiges Geflecht von Privatfirmen verarbeitet und dieses in Döner oder Salamis versenkt, geschleust werden.» Bei soviel Power verwundert es hätte er wesentlich mehr verdient als mit seiner albernen nicht: «Die Trennlinien zwischen Politik, Wohltätigkeit Verloserei! und Privatgeschäft sind für Blair nicht exakt definiert.» Tony Blair als Vorbild? Wohl höchstens als negatives …

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Ein menschliches Chamäleon Visier der Steuerinspektoren geraten, weil seine Kanzlei Und der italienische Finanzminister Giulio Tremonti, den im Verdacht stand, Gelder am italienischen Fiskus vorbei- Blair lobt als den «gebildetsten Minister, den Europa geschleust zu haben. Gemäß Erkenntnissen der Steuerin- hat»? 6 Vom 62-jährigen Rechtsprofessor, der an den ehr- spektoren waren Tremontis Gesellschaft in Luxemburg würdigen Universitäten von Pavia und Oxford lehrte, und die panamaische Interfides operativ ‹inexistente Ge- kann man zweifellos viel lernen, denn unabhängige Be- sellschaften›, zwischen denen aber Geldtransfers erfolg- obachter halten ihn für einen «Meister des Doppelspiels»: ten.»6 So kann es nicht verwundern, dass ein Tessiner «Als Italiens Finanzminister jagt Giulio Tremonti Steuer- Abgeordneter und Anwalt, der die Szene genau kennt, sünder und lässt Schweizer Banken filzen – als Steueran- mutmaßt, der Italiener sei «möglicherweise der einzige walt hingegen weiß er die Vorteile von Steuerparadiesen Finanzminister der Welt, der einst ‹selber bedeutende Be- zu nutzen.»6 Und das abwechslungsweise, nahtlos seit träge auf Schweizer Konten› transferiert haben könnte: ‹Er den Neunzigerjahren: «Wenn er nicht Finanzminister kennt sich da bestens aus.›»8 Andere Tessiner Bankleute war, wirkte er als Steueranwalt und -berater. Und in dieser und Finanzdienstleister ließen sich in den Medien zi- Funktion arbeitet man eher gegen die Interessen des Fis- tieren, «es gebe keinen Exponenten der Regierung oder kus. Tremonti ist seit Mai 2008 zum vierten Mal Finanz- Wirtschaft Italiens, der nicht ein Konto in der Schweiz minister Italiens. Die ersten drei Amtszeiten waren: Mai habe» – Ministerpräsident Berlusconi inbegriffen. Zudem 1994 bis Januar 1995, Juni 2001 bis Juli 2004 und Sep- hat Tremontis Jagd offenbar zur Folge, dass immer mehr tember 2005 bis Mai 2006.» Zurzeit macht er Jagd auf wirklich reiche Italiener, die Milliardäre, nicht nur ihr Steuersünder. Von der Amnestie für Steuerflüchtlinge, die Geld, sondern auch ihren Wohnsitz in die Schweiz verle- er initiiert hat, erhofft er sich Einnahmen in Milliarden- gen und sich dort gar einbürgern lassen.7 höhe. «Früher, als er noch nicht Minister war, hatte er Ein Vorbild für Jugendliche? Auch das menschliche nicht viel für Pardon bei geringer Strafe übrig. Er hielt Chamäleon Tremonti kommt dafür offensichtlich nicht solches für verwerflich, da es ‹in Südamerika nach Staats- in Frage. streichen und in Italien vor Wahlen› üblich sei. Innerhalb von acht Jahren verkündete Tremonti nun aber zum drit- Ministerpräsident in fortgeschrittener Dekadenz ten Mal diesen Gnadenerlass. Er will nicht nur Steuersün- Noch sehr viel mehr Flexibilität – um es freundlich zu sa- der jagen, sondern auch ‹Räuberhöhlen wie bei Ali Baba› gen – demonstriert Tremontis Chef, Silvio Berlusconi, mit verriegeln. Ein solch lasterhafter Ort – ein Steuerparadies dem er dem Vernehmen nach im Clinch liegt. Seit bald nämlich – ist für Italiens Wirtschafts- und Finanzminister zwanzig Jahren gelingt es dem italienischen Ministerpräsi- neben Panama auch die Schweiz. Etwa 280 Milliarden denten immer wieder, die Justiz auszutricksen. Eine Zür- Euro Schwarzgeld haben Italiener ins Ausland gebracht. cher Wochenzeitung hat die Stationen präzise aufgelistet: Allein 125 Milliarden sollen davon in der Eidgenossen- «In einem Gerichtsverfahren sagte Berlusconi 1988 aus, er schaft liegen, vor allem im Tessin. Um den Bankenplatz habe nie der Geheimloge P2 angehört. Dann tauchte seine Lugano ‹trockenzulegen›, ließ Tremonti schweres Ge- Mitgliedsnummer auf. Er wurde 1990 des Meineids schul- schütz auffahren.» Giulio Tremonti und Umberto Bossi, dig gesprochen, konnte allerdings von einer allgemeinen der Chef der populistischen Lega Nord, «sind dicke Freun- Amnestie profitieren. – Berlusconi war angeklagt, Beamte de». «Tremonti hat den Ruf, ein Lega-Mann mit dem Par- der Finanzpolizei geschmiert zu haben, damit sie bei Steu- teibuch der Forza Italia (Berlusconis. B.B.) zu sein. Dabei erprüfungen in seinen Firmen nicht so genau hinsehen. startete der Jurist seine politische Karriere Ende der 1998 wurde er in erster Instanz wegen Bestechung zu zwei 1980er Jahre in der Sozialistischen Partei Italiens, kam Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Das Berufungs- aber erst über die liberale Bewegung von Mario Segni verfahren endete mit Freispruch, allerdings nur wegen Ver- 1994 ins römische Parlament. Diese Wahl hatte der politi- jährung. – Seinen Aufstieg vom Bauunternehmer zum sche Newcomer Silvio Berlusconi, Baulöwe und Medien- italienischen Medienzaren verdankt Silvio Berlusconi vor zar, gewonnen. Kaum hatte sich das neue Parlament kon- allem dem früheren Sozialistenchef Bettino Craxi, der als stituiert, wechselte Tremonti auf die Seite des Siegers, und Ministerpräsident mit neuen Gesetzen dafür sorgte, dass Berlusconi machte ihn gleich in seinem ersten Kabinett Berlusconi ungehindert seine drei Fernsehsender aufbauen zum Finanzminister.»7 Vorher war er Steueranwalt respek- konnte. Für dessen Gefälligkeiten entlohnte Berlusconi tive -berater. «Der umtriebige Rechtsprofessor hatte in seinen Freund Craxi mit etwa 21 Milliarden Lire (rund den Achtzigerjahren eine Steuerkanzlei in Mailand ge- 10,2 Millionen Euro). In erster Instanz wurde Berlusconi gründet. Anfang der Neunzigerjahre kam ein Ableger der 1998 wegen illegaler Parteienfinanzierung zu zwei Jahren Steuerkanzlei in Luxemburg dazu. An der Kanzlei war und vier Monaten Haft verurteilt. Das Berufungsgericht die Interfides SA aus Panama beteiligt.» Tremonti sei «ins hob das Urteil auf – wegen Verjährung. – Staatsanwalt-

Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 53 Apropos

schaftlichen Ermittlungen gemäß verschob Berlusconis Idee verfallen, diesen Herrn Jugendlichen als Vorbild zu Holding Fininvest von 1989 bis 1996 über Offshore-Fir- empfehlen … men Schwarzgeld in Höhe von etwa 2000 Milliarden Lire (rund 1 Milliarde Euro). Berlusconi stand wegen Bilanz- «Gottes Arbeit verrichtet» fälschung vor Gericht. Der Straftatbestand wurde vom Par- Den Gipfel der Hybris findet man aber zurzeit in den lament 2002 durch eine «Lex Berlusconi» abgeschafft. Das USA: Die New Yorker Investmentbank Goldman Sachs Gesetz galt rückwirkend, das Verfahren gegen den Regie- verdient wieder sehr viel Geld und bezahlt ihren Bankern rungschef und seine 25 Mitangeklagten musste eingestellt dieses Jahr 20 Milliarden Dollar Boni, «während der Rest werden. – Berlusconi soll römische Richter bestochen ha- der Menschheit unter der Krise ächzt, die Goldman & Co. ben, als er 1991 mit seinem Konkurrenten Carlo De Bene- auslösten». Nach «Schätzung der EU-Kommission kostet detti um die Übernahme des Verlagshauses Mondadori die Rettung maroder Geldhäuser allein in Europa bis zu stritt. Berlusconi erhielt damals den Zuschlag. Aus Mangel 1,8 Billionen Euro. Das wären 3500 Euro für jeden ein- an Beweisen wurde der Korruptionsprozess eingestellt. zelnen Europäer, Säuglinge und Greise eingerechnet.»12 Ein Berufungsgericht ging dann 2001 von Bestechung aus, Nun wehrt sich der Vorstandsvorsitzende, der Ameri- stellte das Verfahren gegen Berlusconi aber wegen Ver- kaner Lloyd Blankfein, in einem Interview gegen Kritik: jährung ein. Sein Freund und Anwalt Cesare Previti wurde «Banken erfüllten einen ‹gesellschaftlichen Zweck›». Er allerdings verurteilt. In einem Zivilprozess verlangte De selbst sei «nur ein Banker, der ‹Gottes Arbeit verrich- Benedetti Entschädigung.» Erst kürzlich fällte das Gericht tet›»13. sein Urteil: «Berlusconis Fininvest muss an De Benedetti Also auch kein Vorbild für Junge. Allerdings ein Bei- 750 Millionen Euro bezahlen. – Wegen Falschaussage ver- spiel dafür, wie dumm hochintelligente Menschen sein urteilten Mailänder Richter im Frühjahr dieses Jahres den können. Denn bei Rudolf Steiner kann man nachlesen, britischen Anwalt David Mills zu vier Jahren und sechs dass der Gott des Bankers ein Teufel ist: «in dem, was Monaten Gefängnis. Er hatte in einem Korruptionsver- Geld als Geld scheinbar produziert, lebt die ahrimanische fahren gegen Berlusconi in den neunziger Jahren falsche Kraft»14 – wobei Ahriman nicht zu fliehen, sondern zu er- Angaben gemacht. Für seinen Meineid überwies ihm Ber- kennen ist! lusconi mindestens 600 000 Dollar. ‹Mills log, um Berlus- Boris Bernstein coni zu retten›, sagten die Richter in ihrer Urteilsbegrün- dung. Der Brite hatte für Berlusconi das weltweite Netz P.S. Wenn sich Jugendliche z.B. Rudolf Steiner als Vor- von Tarnfirmen aufgebaut, über welche Schwarzgeld ge- bild nehmen, können sie leichter mit Nachrichten wie waschen und Schmiergeldzahlungen abgewickelt wur- der folgenden umgehen: «UNO-Generalsekretär Ban Ki den. Ursprünglich war auch Berlusconi in diesem Prozess Moon warnte, dass an einem einzigen Tag 17 000 Kinder angeklagt. Das Verfahren gegen ihn musste aber eingestellt an Unterernährung sterben. Alle fünf Sekunden komme werden, da das italienische Parlament im Sommer 2008 ein Kind wegen Hungers ums Leben, das seien weit ein Gesetz verabschiedet hatte, das den Regierungschef vor über sechs Millionen pro Jahr. ‹Das ist unerträglich.›»15 Strafverfolgung schützte.»9 Anfang Oktober hat das italie- Und vielleicht den Herrn Blankfein höflich anfragen, ob nische Verfassungsgericht dieses Gesetz für verfassungs- er seine unverschämten Boni nicht dagegen einsetzen widrig erklärt; die 15 höchsten Richter des Landes haben will … damit die Immunität des Ministerpräsidenten aufgehoben, so dass das Verfahren von 2008 wieder aufgenommen werden kann.10 Außerdem droht ihm ein Prozess wegen 1 Rudolf Steiner, GA 305, 19.8.1922. 2 www.stern.de 10.1.2008. Steuerhinterziehung. Mit falschen Rechnungen soll seine 3 NZZ am Sonntag, 15.11.2009. Firma Mediaset beim Kauf von Fernsehrechten den italie- 4 www.gazette.de . nischen Fiskus betrogen haben. Nun wäre Berlusconi nicht 5 Süddeutsche Zeitung, 24.12.2008. Berlusconi, wenn er das einfach hinnähme und nicht wie- 6 www.tagesanzeiger.ch 9.11.2009. der versuchen würde, die Justiz erneut auszutricksen. So 7 NZZ am Sonntag, 1.11.2009. plant er ein Gesetz, das die Verkürzung der in Italien gel- 8 Basler Zeitung, 29.10.2009. tenden Verjährungsfristen vorsieht. Damit versucht er, die 9 NZZ am Sonntag, 11.10.2009. 11 10 AP-Meldung vom 7.10.2009. Korruptionsprozesse gegen sich zu beenden. Wenn ihm 11 AP-Meldung vom 9.10.2009. jetzt nicht das Handwerk gelegt wird, verkommt Italien 12 Süddeutsche Zeitung, 10.11.2009. endgültig zur Bananenrepublik. 13 www.faz.net 9.11.2009. Bei soviel Dekadenz (auch in seinen unappetitlichen 14 Rudolf Steiner, GA 186, 30.11.1918. Privatgeschichten) wird wohl niemand ernsthaft auf die 15 AP-Meldung vom 16.11.2009.

54 Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010 Impressum Leserbriefe

Leserbriefe bunden ist, sondern sich mit dem Geis- tigen in der Wirklichkeit verbunden hat. Zeitgeist und Weltengeist haben sich Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft konkret geoffenbart. Monatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissen- schaft Rudolf Steiners (Hg. von Thomas Meyer) Rudolf Steiner zum «Impfstoff Das Bekenntnis von in sei- Jg. 14 / Nr. 2/3, Dezember/Januar 2009/2010 gegen die Anlage zur Spiritualität» nen Installationen ist Teil der imagina- Bezugspreise: Zu: Boris Bernstein, «Terror, Banker und tiven Seite dieser Offenbarungen. Über € • Einzelheft: Fr. 12.– / 8.– (zzgl. Versand) die ‹Schweinegrippe›», Jg. 13, Nr. 11 • Doppelheft: Fr. 21.– / € 13.– (zzgl. Versand) ein Bekenntnis des andern Menschen • Jahresabonnement: Fr. 130.–/ € 80.– (inkl. Versand) (September 2009) und «‹Schweinegrippe›, oder Künstlers zu urteilen, benötigt • Luftpost/Übersee: Fr.190.– / € 125.– (inkl. Versand) • Probeabonnement (3 Einzelnrn. oder 1 Einzelnr. Lügenbarone und Rudolf Steiner», Jg. 13, Selbsterfahrung, was Sie auf Ihr Butter- und 1 Doppelnr.): Fr. 35.–/ € 22.– (inkl. Versand) Nr. 12 (Oktober 2009) brot reduzieren. (Hier könnte man Faust • AboPlus (Jahresabo plus Spende): Fr.180.– / € 110.– • Probenummer: gratis und Wagner zitieren, was jedoch Ihre Erscheinungsdaten: Mit Interesse habe ich Ihre Artikel «Ru- Bemühungen verspotten würde). Einzelnummern erscheinen immer in der ersten Woche des entsprechenden Monats, Doppelnummern dolf Steiner und die ‹Schweinegrippe›» Inhaltlich erscheint Ihr Artikel von Be- um Monatsmitte. gelesen, vermisse aber die beiden kon- geisterung für Freiheitsimpulse, Schiller- Kündigungsfrist: kreten Aussagen R. Steiners zum Thema sche Werte und vorkriegsartigen Kunst- Eine Kündigung muss bis spätestens am 1. Oktober bei uns eingetroffen sein, sonst wird das Abonnement «Impfstoff»: impulsen durchtränkt zu sein. Bei ge- automatisch um einen Jahrgang verlängert. Der Jahr- gang beginnt jeweils im November und endet im Ok- «Damals schaffte man den Geist ab. Die nauerem Hinsehen entpuppt sich ein tober. Geschenkabonnements sind auf 1 Jahr befristet. Seele wird man abschaffen durch ein illusionistisches Strohfeuer im Kampfe Redaktion: Arzneimittel. Man wird (...) einen Impf- gegen aufkeimenden Neid im eigenen Thomas Meyer (verantwortlich), Brigitte Eichenberger, Andreas Flörsheimer, stoff finden, durch den der Organismus Herzen. Diese Klangformen kennen wir Marcel Frei, Christoph Gerber, Ruth Hegnauer, so bearbeitet wird in möglichst früher Franz-Jürgen Römmeler, Lukas Zingg. aus deutschem Munde! 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Diese Künst- Ruth Hegnauer, General Guisan-Str. 73, CH-4054 Basel Tel/Fax: 0041 (0)61 302 88 58 177, S. 220). ler tragen Steiner, Goethe und Schiller E-Mail: [email protected] Ob das der «Wirkungsverstärker» ist, der nicht als Kulturerbe und Reproduktions- Anzeigenpreisliste auf Anfrage oder im Internet. Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate bei den «Schweinegrippen»-Impfstoffen, maschine in sich, sondern sie indivi- und Beilagen selbst. die die Politiker erhalten, fehlt? dualisieren mittels Spieltrieb, Formtrieb, Leserbriefe: E-Mail: [email protected] oder: Stofftrieb und Wahrnehmungsschulung Brigitte Eichenberger, Metzerstrasse 3, CH-4056 Basel Gerhard Reiß, Stuttgart ihre Selbsterfahrung am Leben und mit Tel: 0041 (0)61 383 70 63, Fax: 0041 (0)61383 70 65 Leserbriefe werden nach Möglichkeit ungekürzt ihren Mitmenschen. (ansonsten immer unverändert) wiedergegeben. 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Aus dem Inhalt: «Der ganze Himmel schien herabgebeten» Der Weg zu Rudolf Steiner, 1903 – 1913 «Dr. Steiner war über meine Vorträge sehr erfreut» Dornach, 1914 – 1923 «Bis ins i-Tüpfelchen hinein ausprobiert» Die Weihnachtstagung und der esoterische Vorstand (1924/25) «Vorstandsidyllen» Das Jahrzehnt nach Rudolf Steiners Tod (1925 – 1935) «In diesem Hause lebe Seele» Die letzten Lebensjahre (1935 – 1943) ______CH: Pfeffingerweg 1A, 4144 Arlesheim Tel: +41 61-7057377 Fax: -7057106 mail: [email protected] DE: Florianstr. 20A, 70188 Stuttgart Tel: +49 711-12093579 Fax: -8703814 mail: [email protected]

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Wie britisch-amerikanische MIT ~BERß Finanzeliten dem Dritten Reich den Weg bereiteten &ACHTITELN Guido Preparatas Buch ist vielleicht der umfassendste, gedanklich weitgespann- teste Versuch zu einer neuen Sicht auf das Zeitalter der Weltkriege von 1900 bis 1945. In seinem Zentrum steht der Aufstieg Hitlers von 1919 bis 1941, der hier als erwünscht und gefördert im Sinne des Kalküls der englischen bzw. angloame- rikanischen Weltpolitik der Zeit erscheint. Hitler figuriert hier als jener radikal-nationalistische Führer der Deutschen in den Unter- gang, auf den die angloamerikanischen Eliten gewartet hatten, auf den hin sie das Umfeld präpariert hatten und den sie für notwen- dig erachteten. Preparata macht diese Sichtweise vor allem in sei- nen brillanten Analysen zur Wirtschaft der Zwischenkriegszeit plau- !NTHROPOSOPHISCHEß"~CHERßGIBTS AMß sibel: zur Politik der Reparationen und Anleihen von 1919 bis 1932, "ANKENPLATZ !ESCHENVORSTADT   "ASEL zur deutschen Inflation 1919–1923, zur Weltwirtschaftskrise nach 4ßßßß &ßßßß 1929 und zur nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungs- und Wie- deraufrüstungspolitik nach 1933. WWWBIDERUNDTANNERCH Übersetzt von Helmuth Böttiger und eingeleitet von Andreas Bracher.

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LXXVII. Samstag, 12. Dezember 2009 LXXVIII. Samstag, 23. Januar 2010 URSPRUNG UND DIE MENSCHLICHE ZIEL DES ERKENNENS FREIHEIT UND Vom Kainscharakter der gewöhnlichen zu den Stufen höherer Erkenntnis DER WAHRE ZEITGEIST Thomas Meyer, Basel MICHAEL Textgrundlage: Leitsätze Steffen Hartmann, Hamburg

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Wilhem Rath / Thomas Meyer: Giancarlo Roggero: Rudolf Steiners Rudolf Steiner «eigenste Mission» und Thomas von Aquino Ursprung und Aktualität der Mit einem Aufsatz von geisteswissenschaftlichen Giancarlo Roggero Karmaforschung zu Reginald von Piperno

Wilhelm Rath (1897–1973) war der erste Schüler Rudolf Steiners, der Rudolf Steiners «eigenste Mission» war die geisteswissenschaftliche eine systematische Betrachtung dreier Hauptäußerungen unter- Erforschung der Tatsachen von Reinkarnation und Karma. Dieses nahm, in denen Steiner selbst auf seinen karmischen Zusammen- Buch schildert den biographischen und sachlichen Ursprung dieser hang mit Thomas von Aquin gedeutet hat. Mission. Es zeigt die Rolle auf, die Wilhelm Anton Neumann und Rath hatte das Gesamtbild seiner Zusammenschau durch einen Auf- Karl Julius Schröer dabei spielten, und behandelt die Aufnahme von satz von Pater Antonino d'Achille ergänzt, der die Freundschaft von Steiners Karma-Erkenntnissen durch seine Schüler. Es stellt Steiners Thomas von Aquin und Reginald von Piperno zum Gegenstand hat. «eigenste Mission» in den Kontext der Scheidung der Geister, die Nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches hat der italieni- sich in der heutigen anthroposophischen Bewegung abspielt. Und sche Anthroposoph und Biograph von Antonio Rosmini, Giancarlo es will insbesondere die welthistorische Stellung der Geisteswissen- Roggero, eine Untersuchung über das Leben von Reginald von Pi- schaft aufzeigen: Rudolf Steiner hat den großen naturwissenschaft- perno in Angriff genommen. Naturgemäß wurde sie in diese erwei- lichen Entwicklungsgedanken Darwins auf das Feld der seelisch-geis- terte Neuauflage mit aufgenommen. Die seinen Aufsatz betreffen- tigen Entwicklung der menschlichen Individualität emporgehoben. den Zeichnungen wurden von Roggero selbst angefertigt. 204 S., 24 Abb., brosch., Fr. 27.– / € 18.– Erw. Neuaufl., 112 S., brosch., Fr. 32.– / € 21.– ISBN 978-3-907564-71-4 ISBN 978-3-907564-09-7 Die 2. erw. Auflage erscheint Mitte Dezember!

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Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst Der Europäer Jg. 14 / Nr. 2/3 / Dezember/Januar 2009/2010