Schriftträger – Textträger Materiale Textkulturen

Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933

Herausgegeben von Ludger Lieb

Wissenschaftlicher Beirat: Jan Christian Gertz, Markus Hilgert, Bernd Schneidmüller, Melanie Trede und Christian Witschel Band 6 Schriftträger – Textträger

Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften

Herausgegeben von Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

DE GRUYTER ISBN 978-3-11-037130-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037134-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041297-0 ISSN 2198-6932

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© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Einbandabbildung: Codex Manesse 362r: Rudolf der Schreiber (© Universitätsbibliothek Heidelberg) Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Vorwort

Den Druck des vorliegenden Sammelbandes haben eine Reihe von Institutionen und Personen möglich gemacht, die an dieser Stelle eine besondere Erwähnung verdie- nen. Unser besonderer Dank gilt allen voran dem von der Deutschen Forschungs- gemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 933 mit seinen Sprechern Prof. Dr. Markus Hilgert und Prof. Dr. Ludger Lieb für die großzügige finanzielle und organi- satorische Unterstützung sowie den Herausgebern der Schriftenreihe „Materiale Text- kulturen“ für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Außerdem möchten wir Julia Weber für die Erstellung des Satzes, Johanna Wange vom De Gruyter-Verlag für die Betreuung und Constanze Kreutzer und Janina Schönweitz für die redaktionelle Über- arbeitung der Beiträge danken. Besonders verpflichtet fühlen wir uns schließlich dem Direktor des Altertumswissenschaftlichen Kollegs Heidelberg Prof. Dr. Stefan Maul für seine tatkräftige Unterstützung bei der Organisation des internationalen Kollo- quiums „Textträger/Schriftträger“ und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für dessen finanzielle Förderung. Ohne sie wären dieses sehr inspirierende interdisziplinäre Treffen und folglich auch der vorliegende Sammelband nicht möglich gewesen.

Heidelberg, im August 2014

Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

Inhalt

Vorwort  V

Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung)  1

Ludger Lieb und Michael R. Ott Schrift-Träger Mobile Inschriften in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters  15

Francisca Feraudi-Gruénais Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik Rezeptionspraktische Text-Akteur-Relationen am Beispiel eines rezenten Spolienfundes  37

Amina Kropp „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ Antike Fluchtafeln als Textträger und Ritualobjekte  73

Angelika Berlejung Kleine Schriften mit großer Wirkung Zum Gebrauch von Textamuletten in der Antike  103

Don C. Skemer Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection  127

Norbert Kössinger Gerollte Schrift Mittelalterliche Texte auf Rotuli  151

Stephan Müller Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind Am Beispiel des ‚Trierer Teufelsspruchs‘ (Trier Stadtbibliothek Hs. 564/806 8°)  169

Martin Fitzenreiter (Un)Zugänglichkeit Über Performanz und Emergenz von Schrift und Bild  179 VIII Inhalt

Georg Simon Gerleigner Smikros hat’s gemalt Zur Schriftbildlichkeit griechischer Vaseninschriften  209

Susan Richter Schrift auf Haut um 1800: Ausdruck fehlender Zivilisation oder eine spezifische materiale juristische Textkultur? Annäherungen aus spätaufklärerischer Perspektive  229

Annette Kehnel “Use my body like the pages of a book” Tracing the ‘body inscribed’ as a conceptual metaphor for the experience of life in Western Thought and Tradition  247

Vorstellung der Autorinnen und Autoren — 271 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung)

Der hier vorgelegte Band versammelt die Ergebnisse des Internationalen Kolloquiums „Textträger/Schriftträger“, das im Sommersemester 2010 am Altertumswissenschaft- lichen Kolleg der Universität Heidelberg stattfand. Die Idee entstand in Heidelberg. Markus Hilgert und Diamantis Panagiotopoulos stellten das Thema „Text-Praxis“ zur Diskussion und luden im Rahmen des vierten Jahresvorhabens des Altertumswissen- schaftlichen Kollegs den Kultursoziologen Andreas Reckwitz (damals Konstanz, jetzt Frankfurt/Oder) und die Historikerin Annette Kehnel (Mannheim) zur Zusammenar- beit ein. Zur Debatte stand die Frage nach den Möglichkeiten von „Text-Handeln“, d. h. Handeln an, mit und infolge von Geschriebenem. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Text und Handeln? Wie kann das reziproke Verhältnis, das Artefakte mit Sequenzen sprachlicher Zeichen und Akteure verbindet und sich im Handeln an, mit und infolge von Geschriebenem ausdrückt, beschrieben, konzeptualisiert und für die kulturwissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht werden? Dies war die vorgege- bene Aufgabenstellung. Ziel war es, die „praxisrelevante Effektivität des Geschriebenen“ in je spezifi- schen kulturellen Praktiken näher zu bestimmen und darauf aufbauend ein gemein- sames methodisches Instrumentarium und ein deskriptives Vokabular zu entwickeln, das im Sinne einer ‚Text-Anthropologie‘ die bedeutungskonstitutiven ‚Text-Akteur- Relationen‘ darzustellen erlaubt (Hilgert 2010). Mit dem Brückenschlag zwischen his- torischer, empirischer und theoretischer Kulturwissenschaft sollte die Chance einer methodologischen und konzeptuellen Weiterentwicklung und damit die Realisierung jenes geisteswissenschaftlichen Forschungsverbundes vorangetrieben werden, der damals unter dem Arbeitstitel „Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non- typographischen Gesellschaften“ an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg auf- gebaut und erfolgreich in den SFB 933 Materiale Textkulturen überführt wurde. Andreas Reckwitz und Markus Hilgert forcierten die grundbegriffliche Klärung der Relation zwischen Praktiken, Diskursen und Artefakten mit dem Vorschlag, das Handeln an, mit und infolge von Geschriebenem als soziale Praktiken der Rezeption zu fassen (z. B. Aufschreiben, Lesen, Memorieren, Zitieren, Exzerpieren, Dramatisie- ren, Illustrieren, Kopieren, Kommentieren, Interpretieren, Verbergen, Re-Agieren). ‚Texthandeln‘ wird so verallgemeinert zu schöpferischen Akten, in denen – je abhän- gig von konkreten sozialen und historischen Kontexten – mögliche ‚Bedeutungen‘ des Geschriebenen konstituiert werden; schöpferische Akte die auf Wissensordnungen (Sinnmuster, Deutungsmuster, symbolische Codes) und subjektiven Sinnzuschrei- bungen basieren, die ihrerseits historisch und sozial-kulturell höchst variabel sind.

© 2015, Kehnel, Panagiotopoulos. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz. 2 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

Verbunden mit der Aufgabe der systematischen Rekonstruktion konkreter Rezepti- onspraktiken wurde die Aussicht auf Grenzerweiterung. Die Aussicht auf Erweiterung der ‚bedeutungsfixierten‘ Grenzen herkömmlich interpretativ-hermeneutischer Text- analyseverfahren. Wir, Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos, die Herausgeber dieses Bandes, konkretisierten den Vorschlag in einem Gedankenexperiment zu den Mög- lichkeiten des „Handelns an, mit und infolge von Geschriebenem“ in Konzentration auf die schrifttragenden Artefakte in ihrer Qualität als Textträger bzw. Schriftträger. Dass Texte durch ihre Träger und Objekte durch ihre Beschriftung einen konkreten Sinn und symbolische Virulenz gewinnen, steht außer Zweifel. In der Phase ihrer Entstehung war die Schrift eng an Gebrauchsobjekte gekoppelt, indem sie als deren Etikett fungierte. Texte erfüllten ihre Funktion – ja ihren Sinn – nur in Verbindung mit den Gegenständen, die sie trugen. Später hat sich natürlich ein Großteil des Schrift- tums als Kommunikationsmedium weitgehend von seinen Trägern verselbständigt – dies gilt insbesondere für die überwiegende Mehrheit der Texte, die wir als litera- rische Tradition einer Kultur erfassen können. Diese Texte wurden in der Regel auf neutralen Trägern weitertradiert oder gespeichert, die keine andere Funktion haben konnten, als einen Text aufzunehmen (Tontäfelchen, Pergament, Papyrus, Buch u. a.). Es war unvermeidlich, dass die wissenschaftliche (man könnte hier sagen die philologische) Auseinandersetzung mit Texten in verschiedenen Disziplinen auf das Geschriebene fokussierte und seinen Träger wegen seines neutralen Charakters, seiner eher unscheinbaren Materialität völlig ausgeblendet hat. Diese sehr einseitige Betrachtung von Texten wurde leider allzu häufig auch auf jene Texte angewendet, die auf Objekten mit einer eigenen, selbstständigen Gebrauchsfunktion angebracht waren (Architektur, Bildwerke, Grabsteine, Weihungen u. a.). Das internationale Kolloquium setzte sich daher zum Ziel, die Aufmerksamkeit auf das enge Verhältnis zwischen Text und Träger zu lenken. Aus verschiedenen Blickwinkeln sollte gezeigt werden, dass durch die Rückkopplung zwischen Texten und ihren Trägern, durch die Betonung ihrer Materialität und die Rekonstruktion ihres konkreten Wahrneh- mungshorizonts in einem gegebenen historischen Kontext, ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis sowohl vom Text als auch von dem ihn tragenden Artefakt geleistet werden kann. Bei diesem kontextimmanenten Ansatz geht es also um die Textur von Texten, ihre materielle Präsenz, die für ihr Verständnis genau so unverzichtbar ist wie ihr Inhalt. Textträger tragen Text. Schriftträger tragen Schrift. Nimmt man dieses Bild wörtlich und lässt man der Vorstellung vom schrifttragenden Artefakt als handlungs- fähigem Akteur freien Lauf, dann wird die Interaktion zwischen Geschriebenem und Beschriebenem zu einer treibenden Kraft im Spiel, dann öffnet sich der Vorhang einer Bühne, auf der historische Fallstudien vor den Kulissen dieses Gedankenexperimen- tes zur Aufführung gebracht werden können. Hier soll ‚tragen‘ ganz konkret als eine Handlung in der primären Bedeutung des Wortes gefasst werden, d. h. als Aktivität, bei der etwas unter Einsatz physischer Kräfte gehalten, gestützt und/oder fortbewegt Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 3

wird (nicht in verblasster Bedeutung von Verantwortung, Schuld oder Sorge tragen).1 Damit wird nicht allein die Materialität ins Bild geholt, sondern es wird auch das schrifttragende Artefakt zum Akteur: Als Text- und Schriftträger wird es handlungs- fähig, muss die ihm anvertraute Last (Schrift, Text) tragen, halten, stützen, fortbewe- gen, wegschaffen, vielleicht auch loswerden, wird auf diese Weise zum Handlungsträ- ger, fordert Aufmerksamkeit, evoziert Neugier, provoziert Aktionen und Reaktion etc., bringt – kurz gesagt – das hervor, was man materiale Textkulturen nennen könnte. Wir fordern auf zum Spiel mit dem metaphorischen Überschuss im Bild des Schriftträgers. Dann nämlich kommt Bewegung ins Spiel. Rollentausch wird möglich und lenkt den Blick weg von der Fixierung auf die Vorstellung von Interaktion zwi- schen Schrift bzw. Text (passiv) und Rezipient (aktiv) im aktiv-passiv Modus hin zur Vorstellung eines Spiels zwischen gleichermaßen handlungs- und leidensfähigen Akteuren. Wenn schrifttragende Artefakte, personifiziert als Text- und Schriftträ- ger, die Bühne betreten, wird die ihnen zugeschriebene Rolle als Handlungsträger anschaulich: Ihre Körper, ihr Aussehen, ihre Kostüme, ihre Bewegungen sind unmit- telbar auf der Handlungsebene mit dem Spielgeschehen verknüpft. Im Bild gespro- chen wird hier die Materialität der Beschreibstoffe – ihr Aussehen, die Beschaffenheit ihrer Oberfläche, ihr Gewicht, ihre Standorte, ihre Haltbarkeit etc. – in ihrer Bedeu- tung für die von ihnen hervorgebrachten Textpraktiken erkennbar. Konkret mag dies an einem mittelalterlichen ‚Stück‘ vorgeführt werden, in dem ein Evangelienbuch als Textträger agiert. Das Buch, eine mittelalterliche Pracht- handschrift, trägt in sich den Text der Evangelien. Sie wird von zwei Diakonen auf die Bühne getragen. Gespielt wird das Einsetzungszeremoniell eines mittelalterli- chen Herrschers, konkret die Einsetzung des Bischofs von Rom als künftigem Papst, wie sie seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. praktiziert wurde. Während die anwesenden Bischöfe ihre Gebete sprechen, legen die Diakone das geöffnete Evangelienbuch – mit der Schrift nach unten – auf den Kopf bzw. auf den Nacken des Kandidaten (caput/cervix) in einem Akt, den die Einsetzungsliturgie als impositio evangeliorum bezeichnet. In diesem Akt der Auflegung wird die ‚Schrift‘ zum Akteur, indem sie ihrerseits dem Kandidaten die Rolle des Schriftträgers aufzwingt. Sein Nacken muss sich strecken, Rücken und Knie müssen sich beugen, will er vermeiden, dass die ihm auferlegte Schrift zur Erde fällt. Wer die Position im Selbstversuch nachstellt, wird unmittelbar am eigenen Leib die Zumutung dieser vom Buch erzwungenen Haltung spüren. Der künftige Papst wird von der Materialität des ihm auferlegten Schriftträ- gers – vom Gewicht und von der Größe des prachtvoll eingebundenen Evangelien- buches – in einen Unterwerfungsgestus gezwungen. Dieser Zusammenhang kommt in außergewöhnlicher Anschaulichkeit in einer Darstellung der Einsetzung eines Papstes, vermutlich Papst Silvester II. im Sakramentar des Bischofs Warmund von Ivrea, entstanden um das Jahr 1000, zum Ausdruck. Das geöffnete Evangelienbuch,

1 DWDS 2014. 4 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

zentral im oberen Drittel des Bildes, wird vom Diakon über den Kopf des Kandidaten gehalten, und es erscheint ein zweites Mal aufgelegt auf seinem Rücken (dem ver- längerten Nacken), der sich unter der Last der Schrift nach vorne beugt. Hier wird anschaulich fassbar, wie die Materialität von Schrift und Text ihre eigenen Rezepti- onspraktiken hervorzubringen in der Lage ist. Die dem Kandidaten auferlegte Rolle des Textträgers ist als spezifisch körpergebundene Rezeptionspraktik der Evangelien nicht unabhängig von deren Materialität vorstellbar. Es gab keinen Papst, der im Zuge seiner Einsetzung nicht von der „Schrift“ in die Knie gezwungen wurde.

Abb. 1: Einsetzung (Ordination) des Papstes, vermutlich Papst Sylvester II. im Sakramentar des Warmundus von Ivrea, um 1000 (Detail). Ivrea, Biblioteca Capitolare, Ms. 31, LXXXVI, fol. 8r. (nach Mariaux 2002, Taf. 4).

Ein Zweites wird an diesem Beispiel sehr schön deutlich: die Fähigkeit der Schrift- träger zur Verdoppelung von Wirklichkeit in der Verdoppelung ihrer Trägerfunkti- onen. So wie das Evangelienbuch seine Rolle als Schriftträger – vorübergehend im liturgisch gesicherten Rahmen – dem künftigen Papst aufzwingt, vermögen schrift- tragende Artefakte in vielerlei Hinsicht ihre Trägerfunktion zu verdoppeln. Ihre Mate- rialität birgt magische Kräfte. Sie können zaubern, machen ihre Umwelt zu Kompli- zen ihrer Textträgerschaft, machen Mitspieler zu Mitträgern, verwandeln andere in schrifttragende Artefakte und drängen wieder andere in die Rolle von Statisten. So Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 5

jedenfalls scheint es, wenn man die Rolle der umstehenden Bischöfe im Sakramentar von Ivrea betrachtet. Schrift- und Textträger verdoppeln die Wirklichkeit. Sie verfügen über trans- formative Kräfte. Sie üben Einfluss auf ihre Umwelt, sind Verwandlungskünstler, suchen sich Träger, wollen andere infizieren mit ihrer Trägerrolle. Sie funktionieren paradox. Agieren nicht nur, sondern gieren. Sie üben Einfluss nicht allein als Han- delnde, sondern auch als Begehrende. Sie gieren nach Aufmerksamkeit, nach Berüh- rung, nach Nähe, nach Distanz, erzwingen Handlungen, verunmöglichen dieselbe, provozieren und untersagen Bedürfnisse, fordern Bewegung oder verdammen zum Stillstand. Textträger sind Machtträger. Sie üben Macht aus, indem sie Bedürfnisse erzeugen und die Aussicht auf Befriedigung unmittelbar mit ihrer Materialität verknüpfen: So lebt das Textamulett vom Schutzbedürfnis seines Trägers, das scheinbar leere Perga- ment einer Geheimschrift von der Neugier des Lesers, die unzugängliche Felsinschrift vom Verlangen des Verborgenen nach Unverfügbarkeit, die in den Grabstein gemei- ßelte Inschrift von der Sehnsucht der Vergänglichkeit nach Dauer etc.

Im oben erläuterten Gedankenexperiment hat sich nicht allein das schauspielerische Potential schrifttragender Artefakte gezeigt, das dann zum Tragen kommt, wenn sie in der Personifikation von Text- und Schriftträgern die Bühne betreten dürfen, sondern auch die Probleme der Fixierung auf all zu einsinnig vorgestellte Interakti- onsmodelle. Phänomene der Schriftpräsenz lassen sich nur sehr begrenzt als Inter- aktionsform zwischen – tendenziell eher passiv vorgestellter – Schrift und aktiven Rezipienten fassen. Schrifttragende Artefakte sind nicht auf Rezeptionspraktiken angewiesen, ganz im Gegenteil: sie bringen diese selbst hervor. Scherben, Rotuli oder Grabsteine in der Rolle der Schriftträger, die personifizierte Vorstellung aktiver, hand- lungs- und leidensfähiger Teilhaber an kulturellen Praktiken, schafft Distanz zu den überkommenen bedeutungsfixierten Interpretationsgewohnheiten im Umgang mit Schrift und Text. So wird Raum geschaffen für neue Versuchsanordnungen, die Mög- lichkeit zum „Umparken im Kopf“. Anders gesagt: Die metaphorischen Überschüsse der Schriftträger-Bildlichkeit setzten Kreativität frei, sie erlauben ein Nachdenken über Artefakte – über Haut, Papier, Gewebe, Grenzsteine, Fluchtafeln, Amulette, Vasen, Felswände, Rinden etc. – nicht als Speicher von in Schrift gefasstem ‚Sinn‘, von kulturellem Wissen, dessen Bedeutung von anderen (Rezipienten) abgerufen werden muss oder kann, sondern als handelnde Subjekte, deren Handlungsfähigkeit mit einer körperlichen ‚Macht‘ verknüpft ist, die Wirklichkeiten hervorzubringen, zu transformieren und auszulöschen vermag. Eben dieser transformativen Macht spüren die im vorliegenden Band versammelten Beiträge nach, indem sie in je spezifischen Einzelstudien zu höchst unterschiedlichen schrifttragenden Artefakten – von der Tonscherbe bis zur Sammelhandschrift, vom Buchamulett bis zur Hundeleine – nach der Vielfalt kultureller Deutungsangebote fragen, nach Gebrauch und Umgang der Schriftträger mit ihren Körpern. Diese Einzelstudien versuchen die neuen Ansätze 6 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

zur Materialität und Präsenz der Schrift aus verschiedenen Perspektiven, in verschie- denen historischen Kontexten und mit verschiedenen Methoden für ein neues Ver- ständnis von Texten und text- bzw. schrifttragenden Artefakten fruchtbar zu machen. Sie werden hier in einer thematischen Reihenfolge vorgelegt, an deren Anfang zwei für das Forschungskonzept des SFB 933 grundlegende Texte (Lieb und Ott, Feraudi) stehen. Daran schließen sich Beiträge an, die nach den unterschiedlichen Formen von Materialität bzw. Praxis geordnet sind und sich mit ‚getragener‘ Schrift (Kopp, Berlejung, Skemer), Schrift auf Pergament (Kössinger, Müller), Schrift auf Fels bzw. Ton (Fitzenreiter, Gerleigner) und schließlich Schrift auf Haut (Richter, Kehnel) aus- einandersetzen.

Ludger Lieb und Michael Ott (beide Heidelberg) behandeln erzählte oder fiktionale Schriftträger, die in mittelalterlichen Texten vorkommen. Anhand von konkreten Fall- beispielen wird hier versucht, das komplexe Verhältnis von Text, Artefakt, Produzent und Rezipient zu ergründen. Diese Beispiele umfassen: 1) die Erzählung von Progne und Philomela in Albrechts von Halberstadt Übertragung der Metamorphosen Ovids, bei der die Schrift auf einem weißen Tuch (Ovid) bzw. einem weißen Gürtel (Albrecht von Halberstadt) als Substitut der mündlichen Rede fungiert, 2) die Tafel des Gre- gorius (aus Hartmanns von Aue Gregorius), eine Wachstafel, die engstens mit der Biographie des Protagonisten dieser Geschichte verwoben ist, 3) das schrifttragende Hundehalsband (‚Brackenseil‘) im Titurel Wolframs von Eschenbach, das einen Hund mit seiner Leine zum Schriftträger macht und schließlich 4) die Passage aus der Vita Heinrich Seuses, in der der Protagonist den Namen Jesu in die Haut über seinem Herzen ritzt. In all diesen Fällen geht es um mobile und potentiell mobilisierbare schrifttragende Artefakte, die vielfältige und spannungsbeladene Kommunikations- kanäle ermöglichen und etablieren. Bei ihrer Behandlung übernehmen die beiden Autoren die von Konrad Ehlich eingeführten Begriffe ‚lokomobil‘ und ‚lokostatisch‘. Die ‚lokomobilen‘ Artefakte, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, sind schrift- tragende Artefakte, die Schrift von einem Ort zu einem anderen bringen. Durch den Transport eines Textes in neue Handlungskontexte werden sowohl seine Bedeutung als auch insgesamt die Grenzen der schriftlichen Kommunikation wesentlich erwei- tert. Diese transportablen und portablen Artefakte werden schließlich einem Fall von immobilen Schriftträgern gegenübergestellt: die Bauminschriften fiktionaler Schäfer in Martin Opitz’ Schäfferey von der Nimfen Hercinie, die als Einritzungen in lebendi- gen Oberflächen eine gewisse Lebendigkeit innehaben. In all diesen mittelalterlichen Texten wird die enge Verklammerung zwischen Artefakt, Schrift und Mobilität, die vielfältige Kommunikationsmodi eröffnet, explizit.

Francisca Feraudi-Gruénais (Heidelberg) fragt nach der Rolle des Textträgers in der Epigraphik und stellt rezeptionspraktische Text-Akteur-Relationen an verschiede- nen Beispielen vor. An den Anfang ihrer Überlegungen stellt sie – in gewollter Pro- vokation – einen Käse, dessen Rinde eine Aufschrift trägt. Was ist wichtiger, der Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 7

(Schrift-) Gebrauch auf der Rinde oder der Inhalt? Damit ist die „Gretchenfrage“ an den Doktor Faust der materialen Textkulturen formuliert: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Inhalt, mit dem Sinn, mit der Bedeutung?“ Ist die Bedeutung des Textträgers wichtiger als der Inhalt des Textes? Wo bleibt der Sinn? Antworten auf diese Frage sucht der Beitrag in zahlreichen Fallstudien, deren anschaulichste wohl die antiken Wurfgeschosse aus Blei (glandes plumbeae) sein dürften, beschriftet mit Flüchen oder bösen Wünschen, wie etwa der, die Kugel möge den Hintern des Feindes treffen. Ohne den mobilen Textträger wäre eine solche Inschrift zwar nicht ungefährlich, aber deutlich weniger wirksam. Der Text verdankt seine Wirksamkeit der Materialität seines Trägers. In ihrem Plädoyer für das Kerngeschäft der Epigraphik, nämlich die Re-Kontextualisierung von Inschriften unter Einbeziehung von Einzelerkenntnissen zu greifbaren Objekten, Spuren von Raumordnungen und Reflexen dynamischer Phä- nomene (z. B. Rituale), wird deutlich, dass epigraphische Forschung über Fragen zu Text-Textträger-Relationen hinaus gehen, und diese zwar wichtig, aber nur ein Aspekt unter vielen anderen sein kann.

Amina Kropp (Mannheim) stellt die Rolle von Bleitäfelchen als Textträger im kulturel- len Gebrauch sogenannter defixio-Rituale zur Diskussion. Über ein Jahrtausend vom 6. vorchristlichen bis ins 5. nachchristliche Jahrhundert ist diese magische Praktik durch mehr als 500 erhaltene – überwiegend bleierne – Fluchtäfelchen belegt. Kropp umschreibt das Ritual als eine Zauberhandlung zur Lösung „drängender persönlicher Angelegenheiten“ mit der eine andere Person beeinflusst, bezwungen, erobert oder bestraft werden konnte. Zu diesem Zweck wurden dünne Metallplättchen mit Verwün- schungen beschriftet (Schadens- und Zwangszaubern), durchbohrt oder auf andere Weise manipuliert und dann an Orte mit unheilvoller Macht, wie etwa Gräber oder unbenutzte Brunnen getragen und abgelegt. Die Metalltäfelchen fungieren zunächst als Stellvertreter für die Zielperson des Zaubers sodann als Träger der Verwünschung zur rituellen Manipulation, sie werden anstelle des Opfers mit dem Fluch belegt, durchbohrt, malträtiert. Über den Textträger werden die gewünschten Folgen für das Opfer gleichsam analog materialisiert, wie z. B. in folgendem Fluch: „Wie dieses Blei nicht auftaucht und untergeht, so soll untergehen seine Jugend, seine Gliedmaßen, sein Leben […]“. Kropp weist auf die Leistung dieser schriftvermittelten Kommunika- tion hin, die in der Materialität der Fluchtafel die raumzeitliche Trennung von Sender und Empfänger zu überbrücken weiß. Vom Wissen um die zentrale Bedeutung der Materialität des Beschreibstoffes für die Wirksamkeit des Zaubers zeugt folgende Gebrauchsanleitung im sogenannten ‚Homerischen Dreizeiler‘: „Für eine Offenba- rung: schreib auf ein Lorbeerblatt […]. Um Rennwagen zu stürzen, räuchere […] Knob- lauch […]. Für Bannungen schreib auf eine Meermuschel […]. Um Gunst zu erwerben […]: schreib auf ein Goldtäfelchen […]. Bei herbeizwingenden Liebeszaubereien: räu- chere Rose und Sumach […]“ (vgl. Kropp, Anm. 24). In Konzentration auf das Wech- selspiel zwischen Text und Textträger diskutiert der Beitrag Fragen der materialge- bundenen Wirksamkeit der Bleitäfelchen und ihre Funktion als Katalysatoren für die 8 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

Performativität des Rituals und kommt mit Isabel Zollna zu folgendem Schluss: „Die Wahrnehmung von Schrift auf ihrem materiellen Träger als bloßes Medium ist eine Reduktion, die sich in einer bestimmten Gesellschaftsform entwickelt hat.“

Angelika Berlejung (Leipzig) fragt nach dem Gebrauch und der Wirkung von Texta- muletten im Alten Orient (Mesopotamien, Syrien, Ägypten und der Levante). Im Gegensatz zum antiken Fluchtäfelchen wird im Amulett stets die Gegenwart einer Gottheit repräsentiert, die den Träger schützt und trägt. Amulette waren mobile, materiale und performative Zeichen der Gottgegenwart, durch die der Träger göttliche Gegenwart in sein Alltagsleben holte und dämonische Kräfte aus demselben bannte. Berlejung prägt den Begriff der portativen Gottespräsenz, die durch die Alltagstaug- lichkeit der bequem tragbaren Amulette ermöglicht wird. Im Bezug auf spezifische Besonderheiten von Textamuletten lassen sich rollsiegel- oder tonbullenartige Perlen oder Gemmen, die man auffädeln konnte, Röllchen aus dünnem Metallblech oder Papyrus, die in Kapseln mit Aufhängevorrichtung aufbewahrt wurden und kleine Schreibtäfelchen aus Ton, Stein oder Metall mit Aufhängevorrichtung unterscheiden. Die Texte sind zum einen Beschwörungen, die den Amulettträger vor Unglück, Krank- heiten, bösen Träumen bzw. vor den verursachenden Dämonen schützen sollten. Zum anderen finden sich apotropäische Gebete, d. h. Texte, die die Götter ermuntern und dazu auffordern, dem Amulettträger beizustehen und sich zu seinen Gunsten einzusetzen. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Beitrag der praktischen Frage, wie und wo am Körper die Textamulette getragen wurden, nämlich auf der Brust in unmittelbarer Nähe des Herzens. Hier kommt dem alttestamentlichen Auftrag an die Israeliten, sich die Worte des Mose auf Herz, Hand und zwischen die Augen (= auf die Oberstirn) zu binden besondere Bedeutung zu. Berlejung vermutet, dass es sich hier um konkrete Objekte mit Textaufschrift handelt, die auf (!) dem Herzen zu tragen waren. Nach Moses Worten sollte das Gesetz jedem Menschen auf den Körper gebun- den sein. Auf diese Weise ließ sich eben auch theologisch-ethische Programmatik in den Alltag des einzelnen Menschen einbringen. Die Zitation biblischer Verse in hebräisch-aramäisch-samaritanischen Textamuletten oder Zauberschalen sind aus späteren Zeiten durchaus bekannt. Da die Textamulette dauernd am Körper getragen wurden, waren sie zwar körperfixierte, aber mobile und alltagsfähige Dauerbegleiter des Menschen, zeitlebens mit ihrem Träger in einem unmittelbaren, persönlichen, körperlichen Verhältnis verbunden bis in sein Grab.

Don C. Skemer (Princeton), setzt die Geschichte des Gebrauchs von Textamuletten ins westeuropäische Mittelalter fort. Obgleich vergleichsweise wenige Funde aus dem Mittelalter erhalten sind, vor allem weil sie meist am Körper getragen und nicht in Schränke oder Kisten verwahrt wurden, blieben die wenigen erhaltenen Stücke weitgehend unerforscht. Theologen und Rechtshistoriker sahen in ihnen Zeugnisse primitiven mittelalterlichen Aberglaubens, obwohl, und das wird in Skemers Studie sehr deutlich, die Gläubigen und auch der Klerus regelmäßig legitimen Gebrauch von Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 9

Textamuletten machten. Im 12. Jahrhundert zum Beispiel trug einer der Baumeister von Norham Castle stets ein seidenes Säckchen mit einem Stück Pergament bei sich, auf dem die Namen Christi und der Prolog aus dem Johannesevangelium geschrieben waren. Ein Mönch aus Durham bot ihm eine kleine Reliquie aus dem Heiligtum von St. Cuthberth zur Ergänzung an. Der Text eines weiteren, sehr interessanten Amuletts aus dem 13. Jahrhundert, heute in der Canterbury Cathedral Library, MS Additional 23, erinnert den Träger acht mal an die Vorteile davon, mächtige Worte und Schrif- ten bei sich (super se) zu tragen. Ein Textamulett für den familiären Gebrauch ver- sichert seinem Träger, dass er vor Ertrinken, Tod durch Feuer und vorschnellem Tod verschont bliebe, dagegen mit erfolgreichen Niederkünften gesegnet werde. Daneben gibt es auch spezielle Geburtsamulette zum Gebrauch für Schwangere kurz vor und während der Niederkunft. Sie wurden an Gürteln getragen und auch über den Bauch der Gebärenden gelegt. Dass die Dominikaner in San Jacopo di Ripoli in Florenz einen florierenden Handel mit Textamuletten betrieben, bestätigt ebenfalls die Vereinbar- keit mittelalterlicher Frömmigkeit und Textamulettgebrauch. Skemer kommt zu dem Schluss, dass Textamulette in der longue durée zu den beständigsten Begleitern der Menschheit zählen dürften. Er identifiziert sie als festen Bestandteil der materiellen Kultur des homo portans seit der Erfindung der Schrift durch Antike und Mittelalter bis heute. Die Produktion und der Gebrauch von Textamuletten wurde über tausende von Jahren und trotz Veränderungen in ihren Inhalten, Methoden der Produktion und der Beschreibmaterialien kontinuierlich gepflegt. Sie blieben vergleichsweise immun gegen sich ändernde geopolitische Realitäten, florierten in religiösen Synkretismen und überlebten die europäische Aufklärung und das Zeitalter der modernen Wissen- schaften bis in den Cyberspace des 21. Jahrhundert, wo Internet-Anbieter in Second Life Textamulette als Protektionszauber an Mitspieler in Not verkaufen.

Norbert Kössinger (Wien) untersucht die funktionalen Potentiale ‚gerollter Schrift‘ am Beispiel mittelhochdeutscher Texte auf Rotuli. Schrift auf aneinander genähten Pergament- oder Papierstreifen, die anders als Schrift auf den Seiten eines Kodex nicht durch Aufschlagen und Blättern, sondern durch Aufrollen lesbar wird. Anhand ausgewählter Beispiele aus seiner Sammlung von mehr als 35 Rotuli mit deutsch- sprachigen Texten aus verschiedensten Bereichen (von medizinischen Texten über Verwaltungsschriftum und liturgischen Texten bis zu Dichtung und Chronistik) zeigt Kössinger zunächst die produktionstechnische Flexibilität als maßgeblichen Vorteil der Schriftrolle gegenüber dem Buch. Der sogenannte Rotulus von Mülinen, eine fast sechs Meter lange und 13 Zentimeter breite Schriftrolle, besteht aus insgesamt 15 Streifen unterschiedlichster Länge, die von 5 Zentimeter bis zu fast einem Meter reichen und die aneinander genäht oder geklebt wurden. Es scheint, dass diese Rolle kontinuierlich verlängert wurde und zwar in einem Arbeitsprozess, der mehr als 50 Jahre umfasste. Das kontinuierliche Sammeln der enthaltenen Gebrauchstexte (460 lateinische Rezepte, Beschwörungen und Segensformeln, botanisches Wissen und ein Pflanzenglossar) wird wesentlich von der Schriftrolle als Textträger gefördert. Serielle 10 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

Anschlüsse lassen sich hier leichter herstellen als beim Codex, wenn er einmal mit zwei Buchdeckeln versehen ist. Am Beispiel des Osterspiels von Muri kann Kössin- ger die Vorteile der Schriftrolle im Aufführungsgebrauch schön veranschaulichen: Die Rolle in der Hand des Souffleurs bei der Probe und Aufführung des Spiels. Die Schriftrolle erlaubt „visuelle Kopräsenz“ von Text, die im engen Korsett von Verso- und Recto-Seiten eines Codex nicht möglich ist. Sie erlaubt ‚Scrollen’ statt ‚Blättern’ was in konkreten Aufführungssituationen, wie dem des geistlichen Spiels, praktische Vorzüge bietet. Drittens ist gerollte Schrift beweglicher und mobiler als codexgebun- dene Schrift. Viertens wurden Rollen für genau determinierte Kontexte produziert, nämlich Gebrauchssituationen und Sprechsituationen, die in der Nähe von mündli- cher Kommunikation und Formen von Textvortrag stehen.

Stephan Müller (Wien) erklärt am Beispiel des ‚Trierer Teufelsspruches‘ warum mit- telalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind. Nicht Verschleierung der Lesbarkeit eines Textes – sei es zum Zwecke der Geheimhaltung, aus Spielerei oder als Ausdruck von Gelehrtenstolz – sei Sinn und Zweck der Geheimschrift, sondern vielmehr geht es darum, einem Text eine besondere Form zu geben, die von der erwarteten Form abweicht. Das kann ganz unspektakulär der Fall sein, wenn man Text und Paratext trennt; das ist brisanter, wenn man damit eine Art spezieller Ver- fügungsgewalt über einen Text zur Schau stellt und seine eigene Schrifterfindung feiert. Schließlich gipfelt es in Formen, Texten zusätzliche Bedeutungsdimensionen zuzuschreiben, die ihnen die Niederschrift in Klarschrift nicht mitgeben konnte. Geheimschrift wird somit zu einer Form der Textträgerschaft, die die Rezeption des Geschriebenen maßgeblich bestimmt: Das Lesen wird verlangsamt, es ist nicht möglich einen Text flüchtig, en passant wahrzunehmen. Oder, positiv formuliert, der Leser wird in den Text hineingezogen, der Text erschließt sich ihm in anderer Form als der der gewohnten Lektüre. Müller geht noch weiter mit der Vermutung, dass die durch die Geheimschrift erzwungene Verlangsamung in der Entzifferung einen Textes eine Form der ‚offenbaren‘ oder meditativen Aneignung fördere. Die Geheimschrift lenkt die Aufmerksamkeit auf den Text, sie bedingt eine konzentrierte und vermeidet eine flüchtige Form der Lektüre und bindet den Rezipienten so stärker an den Text, als das eine Aufzeichnung in Klarschrift täte. Und, um es auf einen Punkt zu bringen: Die Form der Schrift stattet den Spruch mit einer zusätzlichen Bedeutungsdimension aus und schreibt ihm eine besondere Geltung zu, die mit einer besonderen Form der Rezeptionspraxis korrespondiert.

Martin Fitzenreiter (Münster) nähert sich dem Phänomen der scheinbaren Verber- gung von bedeutungscodierenden Medien im pharaonischen Ägypten. Seine For- schung konzentriert sich auf Schriften, die an intentionell unzugänglichen Orten – wie dekorierte Innenseiten von Särgen, Fugeninschriften, Totentexte in der Sarg- kammer oder schwer zugängliche Felswände – angebracht wurden. Diese ‚unzu- gänglichen‘ Schriften wurden nicht grundlos produziert, sondern bewusst unzu- Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 11

gänglich gehalten, sowohl was den Anbringungs- und Aufbewahrungsort, aber auch was die kodierte Botschaft selbst angeht. Statt nach dem Inhalt dieser verborgenen Texte fragt Fitzenreiter nach den Trägermedien, die die entsprechenden Aufschriften und Bilder konserviert haben und zugleich deren Eigenschaft der Unzugänglichkeit bestimmen. Zum anderen interessieren ihn die Prozesse von Produktion, Wahrneh- mung und möglicher Rezeption, die sich um diese Trägermedien modellieren. Er geht vom ‚Primat der Artefakte‘ gegenüber ihren möglichen Inhalten aus und davon, dass die Kehrseite des Bemühens um die Verborgenheit der Schriften die Präsenthaltung des Wissens um ihre Existenz war. Die Materialität des Geschriebenen garantiert das Wissen um die Schrift ‚im Verborgenen‘. Dabei reicht das Wissen, dass dort im Verbor- genen Objekte existieren, die entsprechende Texte und Bilder tragen. Das Wissen um die Existenz sinntragender Objekte setzt die Kenntnis wesentlicher Sinnzusammen- hänge voraus, die mit dem Objekt des Text- und Bildträgers einerseits, dem Inhalt der Botschaft andererseits verbunden sind. Im Akt der Anbringung werden die Potenzen der eingesetzten Trägermedien akti- viert (der Berg, die Schrift, der Name, das Gold etc.) und die konkrete Aussage des Textes konstituiert sich im Moment der Herstellung, wenn die Auftraggeber und Pro- duzenten sozusagen selbst zu Rezipienten der von ihnen erstellten Botschaft werden. „Denn so merkwürdig es klingen mag: nicht für die Ewigkeit und nicht für irgend- welche irrationalen Rezipienten wird (praktisch gesehen) diese Inschrift angebracht, sondern für den Moment ihrer Anbringung und ihre Rezeption durch jene, die sie anbringen (lassen).“

Georg Simon Gerleigner (Kiel) stellt griechische Vasen als Text-Bild-Träger zur Diskus- sion. Sein Beitrag zur Schriftbildlichkeit, anschaulich gemacht im Bild der Schrift als Ejakulat auf einer attischen Strickhenkelamphora, geht einher mit einer grundlegen- den Kritik des Logozentrismus im Umgang mit Schrift und Text. Denn der Logozent- rismus, so Gerleigner, reduziert den Rezipienten auf die Rolle des ‚Lesers‘ und sorgt dafür, dass die großartige Pointe der Textbildinschrift ignoriert wird, die nämlich, dass die Platzierung und der graphische Verlauf der in einem Bogen zu Boden schie- ßenden Buchstaben suggerieren, dass sie ejakuliert werden bzw. Ejakulat darstel- len! Die Markierungen mit dem Schlicker können nicht nur als Buchstaben gelesen, sondern auch und gleichzeitig als Körperflüssigkeit gesehen werden: „Zweifach sehen die, die Schriftzeichen gelernt haben“. Einerseits erzielte dieser raffinierte visuelle Kniff einen weiteren witzigen Effekt, während er andererseits die Aufmerksamkeit auf den Textinhalt der Inschrift zog und die ‚Signatur‘ dadurch mit dem offensicht- lichen Esprit (oder der Schöpfungskraft) ihres Urhebers verband, was wiederum die werbende Wirkung seiner (stolzen) Aussage – „Smikros hat’s gemalt!“ – verstärkte. Der Vasenmaler zeigt damit auch, dass er mit dem Medium Schrift, gerade in seiner speziellen Kombination mit dem Medium Bild, umzugehen versteht. 12 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos

Die abschließenden Beiträge zu diesem Band beschäftigen sich mit der mensch- lichen Haut als Textträger. Susan Richter (Heidelberg) verfolgt spätaufklärerische Diskurstraditionen zu Schrift auf Haut, zur Interpretation der Kulturtechnik des Tätowierens, wie sie etwa in James Cooks Reiseberichten über die Südseeinsulaner nach Europa gelangten. Der Untersuchungszeitraum fällt in die Zeit um 1800, in der – in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht – neue anthropologisch-philosophisch- ästhetischen Beobachtungsverfahren emergieren. In diesem Zeitraum, in dem für Gumbrecht die „epistemologische Moderne“ mit noch üblichen Reflexionsmustern ihren Anfang nahm, wurden innerhalb früher anthropologischer Wissenschaftskon- zepte der Mensch als Natur- oder Kulturwesen diskutiert. Dabei rückten Körper (und Seele) als Wissensorgane in das Blickfeld von wissenschaftlicher und selbstreflexiver Betrachtung. Auch Interaktionen zwischen Körper und Seele standen zur Debatte. In dem Zusammenhang wurden Sprache und Schrift im Verhältnis zum Körper – etwa im Sinne von Einschreibeverfahren – diskutiert sowie Ausdrucksmöglichkeiten bzw. die Zeichenhaftigkeit von Körpersprache als Ausdruck des lesbaren Körpers unter- sucht. Unmittelbar anschaulich wird diese in Goethes Reflexionen über die Analogie zwischen Namen und Haut:

… denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.

Richters Studie verfolgt insbesondere zeitgenössische Diskussionen über die rechts- historischen Implikationen der Kulturtechnik des Tätowierens, die in der Verwen- dung des Tattoos als Rechtsdokument sichtbar wird. Sie erlauben es, den indigenen, mit Schrift tätowierten Körper als Ausdruck seiner Rechtsfähigkeit, seiner rechtlichen Abhängigkeiten, Verpflichtungen oder Verbindlichkeiten sowie seiner Rechte und Pflichten in der Gemeinschaft zu interpretieren. Die Körper der gesamten lebenden Gemeinschaft bildeten somit einerseits eine Abbildung geltenden Rechts bzw. gelten- der Gesetze sowie die Verankerung des Einzelnen darin – etwa durch die Dokumen- tation seiner Vergehen oder seines Einklangs mit dem Gesetz. Die Haut avancierte zum Wissensspeicher, zum Archiv der Identität seines Trägers. Jedoch zu einem – im Gegensatz zu den verschlossenen europäischen Archiven, wo das Archiv selbst Dokument und dieses sofort les- und erfassbar für alle Mitglieder der Gemeinschaft blieb – Dokument das mit dem Tod seines Trägers erlischt. Haut fungierte somit als begrenztes Gedächtnis von Ordnungen mit befristetem Erinnerungswert.

Annette Kehnel (Mannheim) fragt nach Vorstellungen vom Menschen als ‚Textträ- ger‘ im kollektiven Metaphernhaushalt abendländischer Traditionen. Der mit Noten beschriftete und gemarterte Mensch im Garten der Lüste des Hieronymus Bosch, der mit der Heilsgeschichte beschriebene gemarterte Köper des Gekreuzigten Christus und Textträger – Schriftträger: Ein Kurzportrait (statt Einleitung) 13

schließlich der mit dem Evangelienbuch belastete Körper des Papstes bieten reich- lich Anschauungsmaterial für Vorstellungen und kulturelle Praktiken des mit Schrift belasteten Körpers. Der Beitrag erkundet den metaphorischen Mehrwert im Bild des Menschen als Textträger und die Implikationen für ein Verständnis des Lebens als Text (Schrift, Buch) der sich in die Körper seiner Träger kontinuierlich einschreibt.

Literaturverzeichnis

DWDS (2014): Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) http://www.dwds.de, Stand: 29.4.2014 Hilgert (2010): Markus Hilgert, „‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, Mitteilungen der Deutschen Orientge- sellschaft 142, 87–126. Mariaux (2002): Pierre Alain Mariaux, Warmond d’Ivrée et ses images. Politique et création iconographic autour de l’an mil, Bern.

Ludger Lieb und Michael R. Ott Schrift-Träger Mobile Inschriften in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters

Viele Artefakte, mit denen Menschen interagieren, können von der Stelle bewegt, mitgenommen oder dauerhaft am Körper getragen werden. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche besonderen Konstellationen und Szenarien entstehen, wenn solche transportablen oder portablen Gegenstände beschriftet sind, also Text mit sich führen. Die Herausgeber dieses Bandes haben vorgeschlagen, im Hinblick auf schrifttragende Artefakte den Begriff des ‚Tragens‘ versuchsweise so ernst zu nehmen, dass das ‚Schrift-Tragen‘ als Aktivität der Artefakte beschreibbar wird. Wir haben uns von diesem Vorschlag inspirieren lassen und verstehen den vorliegenden Aufsatz als Experiment, das wir an einigen Artefakten aus unserem SFB-Teilprojekt durchführen wollen.1 Die Schriftträger, um die es im Folgenden gehen soll, sind keine heute noch mate- riell vorhandenen Gegenstände. Sie werden nicht im Museum oder im Archiv aufbe- wahrt und könnten auch nicht zur experimentellen Untersuchung ins Labor gebracht werden. Vielmehr geht es um Schriftträger, von denen in mittelalterlichen Texten lediglich erzählt wird. Sie existieren also nur in Erzählungen (diese Erzählungen nennen wir ‚Metatexte‘, weil sie von Texten erzählen, die auf Artefakten geschrieben stehen). Daher wissen wir über diese Schriftträger auch nur das, was erzählend von ihnen berichtet wird. Das ist manchmal wenig oder fast gar nichts, wenn beispiels- weise einfach nur erzählt wird, dass auf dem Grabstein einer gestorbenen Figur eine Inschrift zu lesen war. Doch einige Metatexte sind ausführlicher: Man erfährt etwa von der Herstellung, dem Material oder der Verwendung der Inschriften. Diese Fälle eignen sich, um auch nach dem Tragen zu fragen, also nach dem, was die Artefakte tun, wenn sie Schrift tragen, und wie sie und ihr Tun in ein Netzwerk von Handlungen und Akteuren eingebunden sind. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, solche konkreten Fälle von erzählten Schriftträgern zu analysieren und das komplexe Verhältnis von Text, Artefakt, Pro- duzent und Rezipient zu erfassen. Die Beispiele stammen aus der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters und es sind teilweise recht ausgefallene Objekte, die auch

1 Dieser Beitrag ist im Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen. Materiali- tät und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften“ entstanden (Teilprojekt C05 „Inschriftlichkeit. Reflexionen materialer Textkultur in der Literatur des 12. bis 17. Jahrhunderts“). Der SFB 933 wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert.

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poetologische Lektüren erlauben, also Rückschlüsse von den Texten in der erzählten Welt auf den Text, der die erzählte Welt entwirft. Zunächst sind aber einige Begriffsklärungen und Differenzierungen vorzuneh- men: Eine Unterscheidung zwischen ‚Schrift‘ und ‚Text‘ ist bei den hier zur Diskus- sion stehenden Gegenständen kaum relevant, da sich ein Text, der auf Artefakten zu lesen ist, immer in Schriftzeichen, also materiell manifestiert (und nicht etwa nur stimmlich präsent ist). Insofern können die Begriffe ‚Schriftträger‘ oder ‚Textträger‘, obwohl sie anderes akzentuieren, in vorliegendem Untersuchungszusammenhang weitgehend synonym verwendet werden. Komplizierter stellt sich der Begriff ‚tragen‘ dar.2 Die Bedeutungen ‚etwas von unten stützen‘ oder ‚ein bestimmtes Gewicht aushalten können‘ implizieren, dass das Getragene Gewicht hat. Die Rede vom Schriftträger verweist somit auf die Materialität der Schrift. In einigen der folgenden Beispiele ist dieser Aspekt besonders relevant, wenn nämlich die Buchstaben etwa aus Edelsteinen hergestellt sind. Allerdings muss man auch festhalten, dass das Gewicht der Schrift oftmals gegen Null geht und gele- gentlich sogar das Gewicht des Artefakts reduziert, etwa bei ‚eingegrabenen‘ Inschrif- ten. In diesen Fällen ist ‚tragen‘ also nur im übertragenen Sinn zu verstehen: Das Artefakt ist der Träger von etwas, das zwar kein Gewicht hat, das aber doch auf seiner Oberfläche dauerhaft aufgebracht ist; das Artefakt ‚stützt‘ und ‚hält‘ die Schrift. Die Bedeutung von ‚tragen‘, die im Folgenden im Zentrum stehen soll, weil sie die Aktivität des Tragenden betont, ist eine Spezifizierung der zuerst angegebenen Bedeutung (und heute auch die Hauptbedeutung von ‚tragen‘). Nicht nur das ‚Stützen‘ und ‚Halten‘ selbst wird hier als ‚Tragen‘ bezeichnet, sondern auch ,etwas mit seiner Körperkraft halten, stützen und so fortbewegen, irgendwohin bringen‘. Es geht also um schrifttragende Artefakte, die jene Schrift, die sie kraft ihrer Materialität ‚halten‘, von einem Ort zu einem anderen bringen. Diese Artefakte sind – nach der von Konrad Ehlich eingeführten Begrifflichkeit – ‚lokomobil‘, während etwa die Inschriften auf einer steinernen Hauswand ‚lokostatisch‘ sind.3 Ein Brief wäre ein in diesem Sinne

2 Zum Folgenden vgl. die Differenzierungen der Wortbedeutung im Duden: Drosdowski u. a. 1989, 1547. 3 Zu dieser Unterscheidung vgl. die klaren Ausführungen von Ehlich 1994, 30: „Je nach dem spezifi- schen Verdauerungserfordernis ist der Schriftträger selbst als fix oder (in der Mehrzahl der Fälle) als transportabel ausgelegt. Die fixen Typen finden in der Gestalt etwa von Stelen, Grabmalen, Meilen- steinen, Teilen von Bauwerken usw. ihre je spezifische Form. Für sie alle ist charakteristisch, daß die rezeptive Teildimension der sprachlichen Handlung dadurch initiiert wird, daß in sich lokomobile potentielle Leser in den visuellen Horizont des schriftlichen Textes treten und die Möglichkeit der Lektüre aktualisieren. […] Nennen wir diesen Typ von Texten lokostatisch. […] Vom lokostatischen ist der lokomobile Typ zu unterscheiden. Er erlaubt den Transport des Textes in je neue rezeptive Teil- sprechhandlungen. Es ist dieser Typ des schriftlichen Textes, der die wesentlichen Expansionen und Veränderungen schriftlicher Kommunikation zur Folge gehabt hat. Die Transportabilität des sprachli- chen Handlungsproduktes ermöglichte und ermöglicht die Vervielfältigung von Rezeptionshandlun- gen, indem der Text diatopisch beliebig zugänglich gemacht wird.“ Schrift-Träger 17

‚schrifttragendes‘, weil lokomobiles Artefakt. Allerdings steckt auch hierin wieder eine Bedeutungsübertragung, denn ein Artefakt wie beispielsweise ein Brief kann ja nicht selbst die von ihm ‚gehaltene‘ Schrift ‚fortbewegen‘, sondern wird selbst ‚getragen‘ von einem Boten. Sieht man einmal von dem besonderen Fall ab, dass das schrifttragende Artefakt selbst die Fähigkeit zur Fortbewegung hat, also ein Tier, ein Mensch oder eine Maschine ist, gibt es hier also immer zwei Träger: 1. das Artefakt, das die Schrift trägt (im Sinne von ‚halten‘), und 2. der Träger, der das mobile Artefakt trägt (im Sinne von ‚fortbewegen‘). Neben diese zwei ‚Träger‘ von Schrift treten nun noch andere Akteure, insbeson- dere Produzent und Rezipient der Schrift, so dass ein komplexes Beziehungsgefüge entsteht. Dieses beobachten zu können ist der große Vorteil von Metatexten gegen- über real erhaltenen schrifttragenden Artefakten, von denen man häufig nicht mehr weiß, wer sie wann, wo und für wen hergestellt hat und wer sie wann und wo rezipiert hat. Zu analysieren sind also die Relationen zwischen dem Produzenten von Schrift beziehungsweise Artefakt, dem Träger des Artefakts, dem mobilen Artefakt, der auf dem Artefakt fixierten Schrift und dem Rezipienten beziehungsweise Adressaten. Diese Relationen können sehr unterschiedlich gestaltet sein; die einzelnen Positionen sind mitunter mehrfach besetzt oder fallen ineinander – und nicht zuletzt können sich die Relationen und Besetzungen im Laufe der Zeit ändern. Ein letzter Aspekt muss ebenfalls noch begrifflich geklärt werden, denn in den hier zu besprechenden Fällen geht es nicht um Geschriebenes wie bei Manuskrip- ten, Briefen oder Urkunden, sondern es geht um Inschriften. Nach heutigem, intu- itivem Verständnis meint ‚Inschrift‘, dass es sich beim Schriftträger nicht um einen Stoff handelt, der gewöhnlich für das Schreiben verwendet wird (heute sind das vor allem Papier oder der Computer-Bildschirm), sondern um Materialien wie Stein, Holz, Metall. Zum anderen erwartet man gemeinhin von Inschriften, dass sie sich durch einen erkennbaren oder fühlbaren „Höhenunterschied“ gegenüber der Ebene des Schriftträgers auszeichnen. Die Schriftzeichen sind dann „erhaben“ beziehungsweise eingeritzt oder eingegraben. Allerdings ist die Frage, was ein ‚gewöhnlicher‘ Schrift- träger ist, für das Mittelalter mit seiner auf wenige und besondere soziokulturelle Bereiche beschränkten Schriftlichkeit schwerer zu beantworten als für die Neuzeit und Moderne. Gleiches gilt für die Unterscheidung zwischen einem Schreiben mit Tinte auf planen Oberflächen und dem Einritzen von Schrift in das Material. Üblich und gewöhnlich war immerhin im Mittelalter auch das Schreiben auf Wachstäfel- chen, obwohl diese Form des Schreibens als Einritzen zu gelten hat. Auch bleibt beim Schreiben mit Feder und Tinte auf Pergament, beim Abschaben und Neubeschrei- ben des Pergaments und auch im Fall von Griffelglossierungen die Materialität des Geschriebenen präsenter als dies bei neuzeitlichen Techniken des Schreibens und Druckens auf Papier der Fall ist – ganz zu schweigen von den Techniken und Prakti- ken elektronischer Textverarbeitung. 18 Ludger Lieb und Michael R. Ott

Weil also diese heute gängige und gebräuchliche Vorstellung von ‚Inschriftlich- keit‘4 einige Spezifika mittelalterlicher Textkultur nicht zu fassen vermag, soll der Begriff folgendermaßen klarer gefasst werden: Von Inschriften ist dann die Rede, wenn das Geschriebene und der Schriftträger eine gesteigerte Verbindung einge- hen – wenn also die Schrift (und das mit der Schrift Ausgesagte) über das normale Maß hinaus vom Schriftträger mitbestimmt wird. Dies gilt vor allem dann, wenn der Schriftträger selbst eine Bedeutung hat, die sich mit der Bedeutung der Schriftaus- sage in Beziehung bringen lässt. Eine solche Begriffsverwendung knüpft an einen Vorschlag Peter Strohschneiders an, der genau diese gesteigerte Verbindung von Text und Textträger beschrieben hat: Die Kommunikate würden von ihrer „phänomenalen Materialität dominiert“ und die Materialität der Schrift kann somit bei der Rezeption eines Textes nicht ausgeblendet werden.5 Eine solche Ausblendung der Materialität ist aber tief in der europäischen Schriftkultur verankert und dementsprechend rou- tinisiert und habitualisiert. Die erzählten Inschriften der mittelalterlichen Literatur setzen diese Routinisierung und Habitualisierung zumindest momenthaft außer Kraft und reflektieren so anhand von mitunter außergewöhnlichen Schriftartefakten in einem hohen Maß textkulturelle Praktiken non-typographischer Gesellschaften. Dies soll im Folgenden an vier Beispiele gezeigt werden: Anhand der Erzählung von Progne und Philomela in Albrechts von Halberstadt Übertragung der Metamorpho- sen Ovids lässt sich im Vergleich zwischen mittelalterlicher Bearbeitung und antiker Vorlage nicht nur eine signifikante Änderung des Schriftträgers beobachten; sichtbar werden auch grundlegende Möglichkeiten und Funktionen mobiler schrifttragender Artefakte. Die Tafel des Gregorius (aus Hartmanns von Aue Gregorius) ermöglicht eine

4 Der Begriff ‚Inschriftlichkeit‘ wurde mit anderer Konnotation bereits von J. Assmann 1993 geprägt. Ihm geht es insbesondere um Segens- und Fluchinschriften. Zu den Kennzeichen dieser speziellen Form von Schriftlichkeit, die er Inschriftlichkeit nennt und die er auch gegen Formen der Mündlich- keit abgrenzt, rechnet er Aspekte der Vertraglichkeit und Monumentalität. „Monumente wenden sich“, so Assmann, „an die Nachwelt, sie nehmen Zukunft in Anspruch. Die Beziehung, die sie mit der Nachwelt eingehen, ist aber äußerst prekär. Sie können nicht erwarten, daß sie respektiert und ihre Inschriften gelesen werden ohne ein gewisses Maß an Zwang und Überredung. Das ist die Funk- tion der Fluch- und Segensformeln. Sie stellen das Monument in ein ambivalentes Licht: Es erscheint als ein Segen für die, die es lesen und respektieren, und als ein Fluch für die, die es vernachlässigen und zerstören. In dieser Ambivalenz liegt ihr Vertragscharakter. Durch die Fluch- und Segensformeln wird der Betrachter in einen Vertrag mit dem Stifter hineingenommen“ (ebd., 252). Den Einfluss, den derartige Formen von Inschriftlichkeit auf den Rezipienten ausüben, nennt Assmann „inschriftliche Gewalt“ (ebd.). 5 Strohschneider 2006, 34: „Die Episteme des höfisch-laikalen Adels kennt Formen der Einschlie- ßung, die das Textuelle gewissermaßen unverfügbar werden lassen, indem sie blockieren, was aller Hermeneutik allerdings das Selbstverständlichste ist: der Übergang von der Materialität der Schrift (oder auch der Stimme) zum in ihr gespeicherten Text und seinem Sinn. Als solche Blockade erscheint die Schrift in ihrer dinglichen Präsenz, lenkt sie nicht die Aufmerksamkeit von sich selbst ab und auf Diskursives hin, sondern tritt sie selbst als sinnlich phänomenales Ereignis material in Erscheinung.“ Schrift-Träger 19

Auseinandersetzung mit der Materialität des Geschriebenen und mit verschiedenen, an eine Figur geknüpften Modi der Mobilität. Das schrifttragende Hundehalsband (‚Brackenseil‘) im Titurel Wolframs von Eschenbach kann dazu dienen, den Blick auf außergewöhnliche Formen der Nachrichtenübertragung zu lenken und damit auch auf einen Hund mit seiner Leine als Schriftträger. Mit Hilfe einer Passage aus der Vita Heinrich Seuses lassen sich die höfischen Texte um eine mystische Perspektive erwei- tern: Seuse macht sich selbst zum Träger des göttlichen Namens und verknüpft auf diese Weise die Schrift dauerhaft mit dem Schriftträger. Zuletzt ist im Rahmen eines Ausblicks auf die Literatur des 17. Jahrhunderts anhand barocker Bauminschriften zu zeigen, welche Funktion diese ubiquitären immobilen Inschriften im Vergleich zu den mobilen schrifttragenden Artefakten des 12., 13. und 14. Jahrhunderts erfüllen.

Im sechsten Buch seiner Metamorphosen erzählt Ovid von den Schwestern Progne und Philomela.6 Prognes Mann Tereus, ein gefeierter Kämpfer, verliebt sich in seine schöne jungfräuliche Schwägerin Philomela und vergewaltigt sie. Damit Philomela die Schändung nicht öffentlich macht, hält Tereus sie in einem Versteck gefangen – und schneidet ihr die Zunge heraus. Philomela fertigt daraufhin ein weißes Tuch an, in das sie mit rotem Faden die Geschichte ihrer Schändung hineinwebt. Das Tuch mit der kostbar gewirkten Inschrift sendet sie ihrer Schwester Progne, woraufhin die beiden Schwestern brutale Rache üben. Um das Jahr 1200 überträgt Albrecht von Halberstadt die Metamorphosen des Ovid ins Deutsche und verändert in seiner Übertragung den Schriftträger der Inschrift, so dass aus dem weißen Tuch ein weißer Gürtel wird:

des worchtes einen gurtel wîz dar ane leites ir vlîz: dâ was ein schrift ane erhaben von sîdînen bûchstaben, dâ mite sie urkunde, waz Terêus begunde vreveles unde schande. dô sie daz werc verande, den gurtel sie zusamen want und sande ein wîp dâ bî zuhant zu zir swester Prognê.

Deshalb fertigte sie einen weißen Gürtel an; sie legte ihren ganzen Fleiß hinein. Auf dem Gürtel stand eine Schrift aus erhabenen seidenen Buchstaben, mit denen sie Urkunde gab, welchen Frevel Tereus begangen

6 Fink 2007, V. 424–670 (6. Buch). 20 Ludger Lieb und Michael R. Ott

und welche Schande er gebracht habe. Nachdem sie das Werk vollendet hatte, wickelte sie den Gürtel zusammen und sandte sogleich eine Dienerin mit ihm zu ihrer Schwester Progne.7

Die Schrift auf dem Gürtel ist ein Substitut der mündlichen Rede. Schließlich schnei- det Tereus der Philomela – die sich den Tod wünscht – die Zunge auch deshalb ab, weil sie in einem langen Monolog (V. 249–298) deutlich macht, dass sie nicht bereit ist, die Vergewaltigung zu verschweigen:

„[…] kume ich zu dem lûte, den wil ichz bedûte daz du hâst begangen. wird aber ich hie gevangen in dem vinstern tanne, den tieren wil ich danne die gewalt kunde, den meineit und die sunde, daz sie mîn nemen goume steine velse boume klagen ich mîne swêre. […]“

„[…] wenn ich (wieder) unter Leuten komme, werde ich denen zu verstehen geben, was du getan hast. werde ich aber hier in dem finstern Wald gefangen gehalten, dann werde ich den Tieren die Gewalttat verkünden, den Meineid und die Sünde, so dass sie es erkennen – Steinen, Felsen, Bäumen werde ich mein Leid klagen. […]“8

Philomela wird nicht aufhören zu reden – ganz egal, ob sie aus der abgeschiedenen Waldwildnis entfliehen kann oder ob ihr dies nicht gelingen wird. Weil sie also nicht aufhören wird, das ihr angetane Unrecht zu verkünden, und weil Tiere, Steine und Bäume zwar ansprechbar sind, das Vergehen des Tereus jedoch hierdurch nicht auf- gedeckt werden kann, kommt der Gürtel ins Spiel. Er ist es, der als mobiler Schrift- träger einen Kommunikationskanal etabliert und somit erlaubt, zur Schwester und damit auch mit der Schwester zu sprechen. Das Abschneiden der Zunge indes ist,

7 Bartsch 1861, 16, V. 355–365 [Übersetzung von Ludger Lieb]. 8 Bartsch 1861, 16, V. 281–291 [Übersetzung von Ludger Lieb]. Schrift-Träger 21

wie sich zeigt, nur ein fast schon verzweifelter (und letztlich erfolgloser) Versuch, ein Reden zu unterbinden, das nicht aufzuhören droht.9 Zu beachten ist dabei, dass das, was gesagt werden soll – die Vergewaltigung und Entjungferung durch den Ehemann der Schwester – in gewissem Sinne unaus- sprechlich ist. Deshalb heißt es von Progne, als sie den Gürtel erhält, dass sie zwar sofort versteht, was passiert ist, jedoch kein Wort sagt (dehein wort sie gesprach, V. 370). So gesehen bietet das Anfertigen der Inschrift für Philomela auch die Möglich- keit, etwas mittels schrifttragender Artefakte und Lektüre zur Sprache zu bringen, was schwer auszusprechen und zu artikulieren ist. Der Gürtel macht die katastrophi- sche Geschichte sicht- und lesbar – und Philomela macht sich mittels der Inschrift gewissermaßen zu einer textuellen, einer literarischen Figur: Sie schreibt sich ganz materiell in das Artefakt ein. Der Träger des Artefakts, ein nicht näher beschriebenes wîp, ist hier eher unwichtig. Wichtig sind dagegen die Produzentin und die Adressatin der Schrift, die mit Hilfe des getragenen Textträgers miteinander – also von Schwester zu Schwester – kommunizieren können. Es verwundert darum nicht, dass die Schrift zwar für alle (auch für die Botin) lesbar ist, aber dennoch verborgen bleibt und nur im Rahmen der exklusiven Kommunikation der Schwestern rezipiert wird. Mobile und potentiell mobilisierbare schrifttragende Artefakte, so viel lässt sich bereits sagen, etablieren und ermöglichen komplexe Formen von Kommunikation. Im Fall von Inschriften wird diese Funktion dann noch um die je spezifische Verbin- dung von Schriftträger und Schrift erweitert: Schon bei Ovid sind das Tuch und die Schriftzeichen nicht zufällig weiß und rot. Der Textträger symbolisiert auf diese Weise die Befleckung der Jungfräulichkeit durch das Blut der Vergewaltigung. Albrecht von Halberstadt macht daraus kaum zufällig einen weißen Gürtel: Der Gürtel der Frau ist Symbol der körperlichen Liebe und Symbol der Jungfräulichkeit.10 Wenn Philomela also auf den Gürtel, den sie weggibt, den Verlust ihrer Jungfräulichkeit schreibt, so verschmelzen Schrift und Schriftträger in einer gemeinsamen Aussage: Philomela gibt mit dem Gürtel noch einmal symbolisch ihre Jungfräulichkeit hinweg, deren

9 Ebenso erfolglos versuchen zwei Vergewaltiger in Shakespeares Titus Andronicus ihr Opfer Lavinia zum ewigen Schweigen zu bringen, indem sie ihr zusätzlich zur Zunge auch beide Hände abschnei- den. Die beiden Täter verhöhnen im Anschluss Lavinias geraubte mündliche und schriftliche Aus- drucksfähigkeit. Sie könne ja versuchen, die Tat laut zu verkünden, oder „if thy stumps will let thee, play the scribe“ (II.3.4). Genau dies gelingt Lavinia doch schließlich. Sie bedient sich eines schrifttra- genden Artefakts, nämlich eines Exemplars von Ovids Metamorphosen, das sie an der Stelle der Phi- lomela-Episode aufschlägt, um ihre Schändung mitzuteilen, die ‚schon einmal‘ geschrieben wurde. Ihr Onkel bringt ihr daraufhin eine neue Schreibtechnik bei: Mit einem Stock, den sie mit Mund und ihren Stummeln führt, gelingt es Lavinia schließlich, die Namen ihrer Vergewaltiger in den Sand zu schreiben. Während ihre Sprachfähigkeit unwiederbringlich verloren ist, lässt sich der material- und instrumentenvariable schriftliche Ausdruck nicht so leicht unterbinden. 10 Man vergleiche etwa Brünhilds Gürtel im „Nibelungenlied“, den Siegfried an sich nimmt, un- mittelbar bevor Gunther mit Brünhild schläft (Schulze 2010, Str. 676f.). Zum Gürtel allgemein siehe Schopphoff 2009. 22 Ludger Lieb und Michael R. Ott

unfreiwilliger Verlust auf dem Gürtel dauerhaft festgehalten und wiederholt nachzu- lesen ist. Während bei Ovid das weiße Tuch die stoffliche Leinwand für das Geschriebene abgibt, findet sich in Albrechts Bearbeitung ein Artefakt, das nicht nur mobil ist, sondern auf Mobilität und Transportabilität hin angelegt ist. Mehr noch: Der Gürtel ist nicht nur transportabel, sondern portabel; er kann am Körper mitgeführt, ‚getra- gen‘ werden, so dass durch dieses portable Medium besonders „die Körperverbun- denheit von Medien hervorgehoben“ wird.11 Weil der Gürtel personenbezogen ist, ist dem Gürtel im Rahmen der Kommunikation mittels schrifttragendem Artefakt die Adresse der Nachrichtenübertragung materiell eingeschrieben: Die Adressatin ist die potentielle Trägerin des Gürtels – immerhin ist es die primäre Funktion dieses Arte- fakts, getragen zu werden – und auf diese Weise würde die Adressatin dann die an der Schwester verübte Untat am eigenen Körper mit sich führen und sichtbar machen.

Die Komplexität der Verklammerung von Artefakt, Schrift und Mobilität zeigt sich auch anhand der Tafel, die im Gregorius Hartmanns von Aue eine entscheidende Rolle spielt.12 Der Protagonist, Gregorius, ist das Kind eines Geschwisterpaares und wird nach seiner Geburt in einer Barke auf dem Meer ausgesetzt. Zu ihm wird eine Tafel gelegt, die seine Mutter mit eigener Hand beschrieben hat:

ein tavel was getragen dar der vrouwen diu daz kint gebar, diu vil guot helfenbein was, gezieret wol als ich ez las von golde und von gesteine, daz ich nie deheine alsô guote gewan. dâ schreip diu muoter an sô si meiste mahte von des kindes ahte: wan si hâte des gedingen daz ez got solde bringen den liuten ze handen die got an im erkanden. dar an stuont geschriben sô: ez wære von gebürte hô, und diu ez gebære daz diu sîn base wære, sîn vater wære sîn œhein, ez wære, ze helne daz mein, versendet ûf den sê.

11 Siehe Stingelin u. Thiele 2010, 8. Stingelin und Thiele ist es allerdings um technische Medien zu tun. 12 Zur Tafel des Gregorius siehe vor allem: Wenzel u. Wenzel 1996. Außerdem: Schnyder 2005, 132. Schrift-Träger 23

Der Edelfrau, die das Kind geboren hatte, brachte man eine Tafel, die war aus bestem Elfenbein und schön verziert – wie ich gelesen habe – mit Gold und Edelsteinen: ich habe nie so eine schöne gehabt. Darauf schrieb die Mutter mit bestem Können über die Herkunft des Kindes, denn sie hatte die Hoffnung, dass Gott es zu Menschen brächte, die an ihm Gottes Walten erkennen würden. Auf der Tafel stand Folgendes: es sei von hoher Geburt, und die Frau, die es geboren habe, sei seine Tante, sein Vater sein Oheim. Es sei, dieses Verbrechen zu verbergen, auf dem Meer ausgesetzt worden.13

Die materielle Pracht mag heutige Leserinnen und Leser dazu verführen, Elfenbein als Schriftträger anzunehmen – allerdings dürfte es sich (lediglich, könnte man sagen) um eine in Elfenbein eingefasste (und mit Gold und Edelsteinen verzierte) Wachsta- fel handeln. Wenn man davon ausgehen kann, dass Elfenbein, Gold und Edelsteine für Reinheit, Keuschheit und Beständigkeit stehen, dann entspricht die Materialität genau nicht der Aussage der Inschrift, in der es um Sünde, Unkeuschheit und Unbe- ständigkeit geht. Diese Wachstafel verwahrt nach der Auffindung des Kindes ein Abt, der dafür sorgt, dass das Neugeborene als vermeintliches Kind armer Fischer aufgezogen wird. Als der herangewachsene Gregorius jedoch erfährt, dass er kein Fischerkind ist, erhält er die Tafel, entscheidet sich gegen ein vom Abt für ihn vorgesehenes Kloster- leben und zieht als Ritter aus. Die Frau, die er kurze Zeit später heiratet, nachdem er ihre belagerte Stadt befreit hat, ist allerdings seine Mutter. Mit der Heirat der beiden kommt es zu einem zweiten Inzest, der auch deshalb nicht verhindert werden kann, weil Gregorius seine Tafel nur heimlich zur Hand nimmt. In einer Kammer erfüllt er täglich und allein die auf (und also von) der Tafel erhobene Forderung, der Mutter zu gedenken und Buße zu tun für den Vater:

Die tavel hâte er alle wege in sîner heimlîchen pflege verborgen ûf sîner veste, dâ die niemen weste,

13 Mertens 2008, V. 719–739. 24 Ludger Lieb und Michael R. Ott

diu dâ bî im vunden was. an der er tägelîchen las sîn sündeclîche sache den ougen zu ungemache, wie er geborn würde und die süntlîche bürde sîner muoter und sînes vater.

Die Tafel behielt er allzeit heimlich bei sich, versteckt in seiner Burg, dort, wo es niemand wusste: es war die, die man damals bei ihm fand. Darauf las er jeden Tag seine sündenvolle Geschichte – das rührte seine Augen zu Tränen –, wie er geboren wurde und von der Sündenlast von Mutter und Vater.14

Bei dieser heimlichen und intimen Auseinandersetzung mit dem schrifttragenden Artefakt, das für den neuen Landesherren das einzige Zeugnis seiner Eltern und damit auch seines Herkommens ist, wird Gregorius eines Tages von einer Dienerin beobach- tet, die sich zu ihm in die Kammer schleicht. Durch die Dienerin, die die Tafel zu ihrer Herrin trägt, erfährt Gregorius’ Frau und Mutter von dem beschrifteten Gegenstand, erkennt die von ihr selbst beschriebene Tafel und der zweite Inzest wird aufgedeckt. Gregorius zieht sich daraufhin ein Büßergewand an, lässt sich auf einer Felsen- insel anketten und (über)lebt dort dank göttlichem Beistand 17 Jahre, bis ihn zwei Männer finden, die im Traum den göttlichen Auftrag erhalten hatten, Gregorius zu suchen, um ihn nach Rom zu bringen, wo er neuer Papst werden soll. Die Tafel, die Gregorius auf seinen Bußweg mitgenommen hatte, vergisst er, bevor er auf die Insel gebracht wird. Als er nach 17 Jahren von der Insel geholt wird, ist es ihm ein Anliegen, die Tafel wieder an sich zu nehmen; er lässt danach suchen und man findet sie:

nû giengen si zestunde mit gabelen und mit rechen und begunden nâher brechen daz unkrût und den mist. nû erzeigte der dâ gnædic ist an dem guoten Grêgôriô ein vil grôzez zeichen dô, wande er sîne tavel vant als niuwe als si von sîner hant vüere der sie dâ worhte.

14 Ebd., V. 1732–1742. Schrift-Träger 25

Dann machten sie sich gleich mit Heugabeln und Rechen auf und begannen, das Unkraut und den Abfall abzuräumen. Da wirkte der gnädige Gott an dem frommen Gregorius ein sehr großes Wunder; denn er fand seine Tafel so neu, als käme sie gerade aus der Hand dessen, der sie gemacht hatte.15

Wenn davon die Rede ist, dass die Tafel „wie neu“ sei, ist damit wohl nicht nur der Erhaltungszustand der prächtig verzierten Tafel gemeint, sondern auch der Zustand des Geschriebenen, das – auch wenn dies in der Erzählung nicht expliziert wird – getilgt zu sein scheint. Auf einer symbolischen Ebene wird auf diese Weise zum Aus- druck gebracht, dass sich das Netz von Sünden, in das Gregorius verstrickt war, auf- gelöst hat: Die Tilgung der Inschrift symbolisiert die Tilgung der Sünde. Die Tafel hielt bis zu ihrer Wiederauffindung die Verknüpfung von Schuld und Unschuld präsent. Als Artefakt, das eng mit der Biographie des Protagonisten verwo- ben ist, erhält es – wie er – eine Geschichte, eine Biographie: Die Tafel ist plötzlich vorhanden, wird von der Mutter eigenhändig beschrieben, bestimmt Gregorius’ Erzie- hung, legitimiert seine Ritterschaft, lässt ihn täglich der Eltern gedenken, erlaubt der Mutter, ihn zu identifizieren, und symbolisiert schließlich die Überwindung der sünd- haften Verstrickungen. Die Mobilität des schrifttragenden Artefakts spielt hierbei eine zentrale Rolle. Was, wie und zu welchem Ziel in dieser Erzählung ‚getragen‘ wird, ist durchaus komplex. Die kostbare Tafel wird der Mutter gebracht, von der Barke transportiert, Gregorius zeitweilig entzogen, von ihm dann als persönlicher Gegenstand mitgeführt, um schließlich versehentlich liegen gelassen und wieder gefunden zu werden. Als Memorialartefakt ist die Tafel sowieso auf Tragbarkeit hin angelegt und von ihrer Bindung an Gregorius kaum zu lösen – auch wenn sich das Artefakt zeitweise ver- bergen und verstecken lässt. Das Vergessen der Tafel vor den einsamen Jahren auf der Insel bedeutet denn auch keine Auflösung der engen Verbindung des Protagonis- ten mit seinem schrifttragenden Artefakt, denn die Tafel verfügt über das Potential, wieder aktiv in die Geschichte einzutreten, um weiterhin effektiv zu sein. Eine Effekti- vität, die sich schon darin gezeigt hat, dass der Abt von der Tafel veranlasst wird, Gre- gorius an sich zu nehmen und ihn geistlich zu erziehen. Es ist wegen dieser Effektivi- tät des Artefakts auch gar nicht so leicht, den Grad an Aktivität und Handlungsmacht zu bestimmen, der einerseits der Tafel und andererseits den mit der Tafel Handelnden zukommt.

15 Ebd., V. 3626–3735. 26 Ludger Lieb und Michael R. Ott

Gerade weil die Tafel überall hin mitgenommen werden kann, gerade weil es möglich ist, sie zu entziehen, zu überreichen und zu verstecken, kann dieses schrift- tragende Artefakt eine enge Verbindung mit Gregorius eingehen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Mobilität der wertvollen Tafel nicht dazu führt, dass sie dem Protago- nisten dauerhaft verloren geht, sondern vielmehr dazu, dass sie für ihn aufbewahrt, ihm gebracht oder für ihn gesucht wird. Die spezifische Verbindung von Materialität und Geschriebenem macht das Objekt deshalb nicht nur zu einem Artefakt, sondern zum einem integralen Teil des Protagonisten.

Dass sich ein schrifttragendes Artefakt auch systematisch einer Lektüre und dem Besitz entziehen kann, lässt sich anhand einer weiteren prominenten Inschrift der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur zeigen. Im „Titurel“ Wolframs von Eschenbach fängt der junge Ritter Schionatulander einen Spürhund, einen Bracken, und bringt ihn seiner Begleiterin, Sigune:

Er truoc den hunt an dem arme Sigûnen der clâren. daz seil was wol zwelf klâfter lanc, die von vier varwe bortesîden wâren, gel, grüene, rôt, brûn diu vierde, immer swâ diu spanne erwant an ein ander geworht mit gezierde. […] Dô manz von ein ander vielt, zwischen den ringen, ûzen unt innen kôs man dran schrift wol mit kosteclîchen dingen. âventiure hœret, obe ir gebietet! mit guldînen nagelen wâren die steine vaste an die strange genietet. Smaragede wâren die buochstabe, mit rubînen verbundet. adamante, krisolîte, grânât dâ stuonden. nie seil baz gehundet wart, ouch was der hunt vil wol geseilet. ir muget wol errâten, welhez ih dâ næme, op wære der hunt dergegene geteilet. […] die schrift ein frouwe lêrte. Gardevîaz hiez der hunt. daz kiut tiuschen ‚Hüete der verte!‘ Diu herzogin Sigûne las anvanc der mære: ‚swie ditze sî ein bracken name, daz wort ist den werden gebære. man unt wîp die hüeten verte schône! die varent hie in der werlde gunst, unt wirt in dort sælde ze lône!‘ […] Der bracke unt daz seil einem fürsten durch minne wart gesant. daz was von art under krône ein iungiu künginne. Sigûne las an des seiles underscheide, wer was diu künginne unt ouch der fürste: diu stuonden bekantlîch dâ beide.

Er brachte den Hund im Arm zu der schönen Sigune. Das Seil war gut zwölf Klafter lang. Es bestand aus vierfarbiger Seide: gelb, grün, rot und die vierte braun, und immer, wo eine Spanne zu Ende war, war sie an eine andere kunstvoll angefügt. […] Wenn man es auseinanderfaltete, so sah man außen und innen zwischen den Ringen eine kost- bare Schrift. Nun hört eine erstaunliche Geschichte, wenn ihr es verlangt! Die Edelsteine waren mit Goldnägeln fest auf dem Seil vernietet. Schrift-Träger 27

Die Buchstaben waren Smaragde, zusammen mit Rubinen. Diamanten, Chrisolit und Granate waren daran. Niemals war ein Seil besser mit einem Hund versehen, auch war der Hund nicht schlecht beseilt. Ihr könnt schon raten, was ich vorzöge, wenn der Hund gegen das Seil zur Wahl gestellt würde. […] Die Schrift hatte eine Frau in Auftrag gegeben. Gardeviaz hieß der Hund. Das ist zu deutsch: ‚Gib acht auf die Fährte!‘ Die Herzogin Sigune las den Anfang der Botschaft. „Wenn auch dies ein Hundename ist, so ist das Wort doch für jeden Menschen passend. Männer und Frauen sollen gut auf den rechten Weg acht geben! So erlangen sie die Gunst der Welt und erwerben zugleich im Himmel ewigen Lohn.“ […] Der Bracke und das Seil waren einem Fürsten aus Liebe gesandt worden. Es war nach Abstammung eine junge, gekrönte Königin. Sigune las in der genauen Erklärung des Seiles, wer die Königin und der Fürst waren: Sie waren beide deutlich genannt.16

Während sich Schionatulander für das Geschriebene auf dem Hundehalsband und der Hundeleine nicht zu interessieren scheint, interessiert sich Sigune brennend für diesen von einem Hund beförderten „Brief“, der für Sigune zugleich eine zumindest romanähnliche Erzählung darstellt. Der Sinn des auf der Hundeleine Geschriebenen ist, dies wird anhand der von Sigune eingenommenen Lektürehaltung deutlich, nicht fixiert, sondern abhängig von der Rezeptionssituation. Was ursprünglich als Liebes- botschaft gedacht war und per Jagdhund auf den Weg geschickt wurde, wird in den Händen Sigunes zum Roman und begehrenswerten Text. Dementsprechend fühlt sich Sigune nun nicht mehr nur zu Schionatulander hingezogen, sondern sie begehrt auch den Text, die Inschrift auf dem Brackenseil. Ein Hund, der „Hüter der Fährte“ heißt, mag zwar zum Objekttransport anhand von Blutspuren taugen, für eine postalische Logistik ist die Kombination von Hund und Brief jedoch offenbar nicht zu gebrauchen. Bereits dem eigentlichen Adressaten dieses „Briefes“ sind Hund und Geschriebenes entkommen – und auch Sigune ent- kommt der Bracke, nachdem sie die Hundeleine, die Schionatulander an einer Zelt- stange festgebunden hat, von dieser Stange lösen will, um das Ende der Geschichte zu lesen. Weil Sigune daraufhin von Schionatulander fordert, dass er ihr den Hund wiederbringt, wird dieser beim Versuch, den Hund einzufangen, in einem Zweikampf getötet. So verliert Sigune beides, die Präsenz des Geliebten und die Präsenz der geliebten Schrift. Dem Text eignet ganz grundsätzlich eine gewisse Unverfügbarkeit, da Halsband und Leine als Textträger mit dem Hund als Beförderer des Textes eng „verknüpft“ sind. Genau das wird mittels eines Chiasmus zum Ausdruck gebracht, wenn im obigen Zitat davon die Rede ist, dass nie ein Seil besser mit einem Hund versehen und auch der Hund nicht schlecht ‚beseilt‘ war. „Hund und Leine“, so schreiben Chris- tian Kiening und Susanne Köbele, sind „nicht auseinanderzudividieren. Paradox

16 Brackert u. Fuchs-Jolie 2003, Str. 144; 146f.; 148,3f.; 149; 151. 28 Ludger Lieb und Michael R. Ott

aufeinander bezogen sind sie sowohl untrennbar wie als Einheit unbewahrbar.“17 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Sigune „gerade nicht das Seil vom Hund“ losbindet, „sondern die Einheit von beiden“ erhält.18 Das Hundehalsband im Titurel Wolframs von Eschenbach kann den Blick auf außergewöhnliche Formen der Nachrichtenübertragung und des Umgangs mit Geschriebenem lenken. Abgesehen von der unlösbaren Verknüpfung der beiden ‚Schriftträger‘ (Brackenseil und Bracke), ergeben sich auch Fragen nach der Rezi- pierbarkeit und nach der Bedingung der Möglichkeit von Lektüre. Immerhin entzieht sich mitsamt der mit kostbaren Materialien beschrifteten Hundeleine nicht nur das Artefakt, sondern ebenso der Text, der nicht vollständig lesbar ist, weil das schrifttra- gende Artefakt nicht kontrollierbar und nicht stabilisierbar ist: „Gerade die Schrift, die den fluktuierenden Zeichen Stabilität verleihen könnte, ist es am Ende, die das Bezeichnete eher in weitere Ferne als in größere Nähe rückt“ – und dies passiert, weil hier „Schrift allein nicht zu haben ist, sondern nur gebunden an einen Körper, der seiner eigenen Dynamik gehorcht und sie, die unbewegte, in Bewegung hält“.19 Wenn der bestens ‚geseilte‘ Hund und das bestens ‚gehundete‘ Seil eine Einheit bilden, dann ist das schrifttragende Artefakt lebendig und dann benötigt es keinen menschlichen Träger. Dass Hund und Halsband von Schionatulander zu Sigune getragen werden, dann aber nicht mehr einzufangen sind, hebt nur den Umstand hervor, dass Hunde und Leine eigentlich sich selbst tragen und unverfügbar bleiben: Der Schriftträger ‚hält‘ die Schrift nicht nur, sondern trägt sie fort. Obwohl er eigent- lich – wie bei Philomela und Progne – nur als Kommunikationsmittel zwischen zwei Liebenden dienen sollte, überschreitet er die Grenzen dieser Kommunikations- situation auf prinzipiell unendlich viele Adressaten hin. Das ‚Tragen‘ ist im Titurel zugleich ein ‚Sich-Entziehen‘ und die Inschrift ist dermaßen mobil, sie ist so voller Bewegungsdrang, dass sie nicht einmal für die Lektüre ruhig bleiben kann. Auch der Erzähler strengt sich bei allem erzählerischen Aufwand, den er betreibt, nicht an, den Rezipienten deutlich zu machen, was nun eigentlich auf dem Brackenseil steht. Die Mobilität des Geschriebenen, seine prekäre Lesbarkeit, macht somit auch vor den Rezipienten des Titurel nicht halt.

Während es bei Ovid, in Hartmanns Gregorius und auch im Titurel eine für Prakti- ken der Nachrichtenübertragung grundsätzliche Differenz zwischen Absender und Adressat gibt, kollabiert diese Differenz bei Heinrich Seuse, der in seiner „Vita“ davon erzählt, wie er sich den Namen Jesu in die Haut über seinem Herzen ritzt:

17 Kiening u. Köbele 1998, 259. 18 Brackert 1996, 174. 19 Kiening u. Köbele 1998, 262. Schrift-Träger 29

Eins tages, do er sin bevand in ime und sere wart kalende in götlicher minne, do gie er in sin celle an sin heinlichi und kam in ein minneklich betrahtunge und sprach also: „ach, zarter got, wan könd ich etwas minnezeichens erdenken, daz ein ewiges minnezeichen weri enzwischan mir und dir ze einem urkúnde, daz ich din und du mins herzen ewigú minne bist, daz kein ver- gessen niemer me verdilgen möhti!“ In disem inbrúnstigen ernste warf er vornan sinen schapren uf und zerlies vornan sinen buosen, und nam einen grifel in die hand und sach sin herz an und sprach: „ach, gewaltiger got, nu gib mir hút kraft und macht ze volbringen min begirde, wan du muost hút in den grund mins herzen gesmelzet werden.“ Und vie an und stach dar mit dem grifel in daz flaisch ob dem herzen die richti, und stach also hin und her und uf und ab, unz er den namen IHS eben uf sin herz gezeichent. Von den scharpfen stichen wiel daz bluot vast uss dem fleische und ran úber den lip abe in den buosen. Daz waz ime als minneklich an zu sehent von den fúrinen minne, daz er dez smerzen nit vil ahtete. […] Er truog den namen also uf sinem herzen unz an sinen tod, und als dik sich daz herze bewegte, als dik wart der nam bewegt. In der núwi waz es gar schinber. Er trug in in der heinlichi, daz in nie kein mensch gesah, denne eine sin gesell, dem zöget er es in götlicher heinlichi. So in dur na út widerwertigs an gie, so sah er daz minneklich minnezeichen an, so ward im dú widerwertikeit dest lihter. Sin selhat etwen in einem minnekosen gesprochen: „Herr, luog, die minner diser welt die zeichent irú liep uf ir gewant, ach minne minú, so han ich dich in daz frisch bluot mins herzensafes gezeichent.“20

Seuse will, dass Gott sich in sein Herz eindrückt – und mit dem Namen Jesu soll die dauerhafte Zusammengehörigkeit als Abdruck beschworen, in den Körper einge- schrieben und so letztlich „beurkundet“ werden, wie es in der Passage explizit heißt. Es sind eben nicht einfach nur Buchstaben, die Seuse ritzt, sondern es ist ein Name und ein Verweis auf Jesus Christus. Die Erwähnung der Urkunde – die ja Parteien namentlich einander verpflichtet – zeigt dabei den schriftkulturellen Kontext an, dem Seuse angehört, den er in seiner „Vita“ beschreibt und innerhalb dessen er sich mit seiner Körperinschrift auf außergewöhnliche Art positioniert.21

20 Bihlmeyer 1907, 15f. 21 Urban Küsters erläutert die Beurkundung näher: „Deutlich wird das Vorhaben, das Christusmono- gramm wie ein autographes Urkundenzeichen zur Befestigung und Besiegelung des Christusbundes auf Körper und Herz einzuschreiben. […] Interessant ist, daß dieses Christusmonogramm auf süd- westdeutschen Notarssigneten erscheint […]. Wie in der biblischen Tradition des Tav-Zeichens und in der apokalyptischen Szene der Versiegelung der Auserwählten ist das Monogramm rechtserhebliches Gedächtnis-, Kult- und Besitzzeichen: Die Person gibt sich dauerhaft in den Besitz Christi (ich bin din) und macht diese Zugehörigkeit und Auerwählung lesbar“ (Küsters 1999, 106.) Zudem weist Küsters darauf hin, dass Seuses Inschrift mittels Tüchern mobilisiert und vermehrt wurde: „Die allein einge- weihte geistliche Freundin Elsbeth Stagel ist von der Namensschrift derart fasziniert, daß sie das ›IHS‹ mit roter Seide auf weißen Tüchern aufnäht. Eines dieser Tücher bewahrt sie an der eigenen Kleidung auf, die anderen (unzalich vil) läßt sie von Seuse berühren und an einen Kreis von Gottesfreunden ver- senden […].“ (Ebd., 107). Zur Schriftkultur, wie sie sich in der Anfangspassage der „Vita“ zeigt, siehe auch Spoerri 1999. Eine ähnliche Bildlichkeit ist aus der englischen Literatur des 14. Jahrhunderts bekannt, wo der Körper des gekreuzigten Christus mit Blut beschriftet zur „Heilsurkunde“ (Charter of Salvation) wird. Siehe dazu den Beitrag von A. Kehnel in diesem Band. 30 Ludger Lieb und Michael R. Ott

Zwar scheint bei dieser Inschrift Gott als Adressat auf, aber dieser Adressat ist als Ort des Empfangs des Geschriebenen nicht ohne weiteres adressierbar, sondern nur apostrophierbar. Auch ist fraglich, inwieweit die Inschrift überhaupt auf Lektüreakte hin ausgelegt ist, inwieweit sie also überhaupt von jemand anderem gelesen werden soll. Zwar zeitigen die Aktionen Seuses durchaus als transzendent gedeutete Reak- tionen – aber Kommunikation ist das nicht. Das Wirkpotential der Inschrift ist wohl weniger informations- und kommunikationstechnisch zu verstehen, sondern auf Kör- pererfahrung, auf Beglaubigung und Verkörperung gerichtet – zumal die Inschrift an die im Johannesevangelium verkündete Fleischwerdung des Wortes anknüpft (Joh 1,14). Indem sich Seuse selbst schreibend zum Träger einer Inschrift macht und diese von diesem Zeitpunkt an dauerhaft bei und an sich trägt, sind die Schriftzeichen nicht nur portabel, sondern sie werden Teil des Körpers des Schreibers, so dass sich die Schrift mit dem Körper bewegt. Wenn Schreiben grundsätzlich mit „einer Geste der Externalisierung, der Nach-Außen-Verlagerung beginnt“,22 dann ist das Beschrei- ben der Haut ein erstes, nächstgelegenes Außen; und während die Haut zugleich trennt und verbindet, ist „das menschliche Herz im Innern Schauplatz der mysti- schen Verschmelzung und der dabei entstehenden Un-Mittelbarkeit zwischen Gott und Mensch“23. Die Narbenschrift an einer symbolisch signifikanten Stelle macht den Körper zum Artefakt, zu einem Gegenstand „buchstäblicher“ Modifikation und macht die Haut zum intimen Beschreibstoff und Schriftträger. Dass damit eine Steigerung gegenüber Inschriften auf Textilien gewollt ist, wird am Schluss des Zitats deutlich, wenn Seuse in einer Apostrophe an Gott seine Nar- benschrift mit den textilen Inschriften der Liebenden vergleicht – für die sich in der Literatur, etwa in den sogenannten Minnereden, Beispiele finden.24 Seuses Liebe ist Liebe in gesteigerter Form und wenn Seuses Liebe mit der weltlichen Liebe verglichen wird, dann nur, weil die säkulare Liebe für Seuse Ausgangspunkt einer Überschrei- tung hin zur göttlichen Liebe ist. Die Erwähnung des Griffels in der oben zitierten Textpassage zeigt schon, dass es nicht einfach nur um ein Einritzen geht, wofür andere Gegenstände vielleicht sogar besser geeignet wären, sondern um eine ganz besondere Form des Schreibens. Dementsprechend wird der konkrete Akt des Schreibens – die „Schreibszene“25 – gerade auch in ihren leiblichen Effekten eindringlich geschildert. Überdies bleibt der Schreibakt durch die Narbenschrift als Spur präsent.

22 A. Assmann 1993, 135. 23 Spoerri 1999, 309. 24 Siehe etwa die Minnerede B 210, „Der Traum von der Liebe“ (Myller 1784, XLVf.) oder die Minnere- de B 224, „Der Maienkranz“ (Haltaus 1840, 236); vgl. dazu und zu weiteren Beispielen: Ott/Pantanella 2014. Siehe zu den Minnereden auch grundsätzlich: Klingner/Lieb 2013. 25 Zum Begriff der „Schreibszene“ siehe Campe 1991 und verschiedene Veröffentlichungen Martin Stingelins. Schrift-Träger 31

Inschriften erfordern grundsätzlich einen besonderen Aufwand, indem sie die Widerständigkeit des Materials suchen. Anders als beim Schreiben auf Pergament oder Papier soll das Schreiben gerade nicht erleichtert werden, sondern das Schrei- ben fordert den besonderen Einsatz der Schreibers: damit wird die Relevanz und die Bedeutung des Geschriebenen beziehungsweise des Schreibaktes selbst unterstri- chen. Das „Investment“, das mit dem Verfassen einer Inschrift häufig verbunden ist, wird bei Seuse besonders deutlich: Der extreme Fall einer Narbenschrift, einer Blut- spur, einer Verwundung des Körpers, geht mit einem hohen Schreibaufwand einher und trägt entscheidend zur existentiellen Bedeutung dieser Inschrift bei.

Vom 14. Jahrhundert sei abschließend ein Sprung in das 17. Jahrhundert erlaubt, um anhand der im Barock überaus beliebten Bauminschriften exemplarisch über die Mobilität und Mobilisierbarkeit dieser Inschriften nachzudenken. Keine Epoche der deutschen Literaturgeschichte hat sich so für die Inschrift interessiert wie die Barock- zeit. Im Barock – so schreibt Thomas Althaus – habe man „wertgelegt auf die Fiktion einer anderen Schrift von materieller Qualität, einer Schrift von anderer Konsistenz als derjenigen des Buches selbst“26. Doch gerade wenn man sich die Bauminschrif- ten ansieht, die ab dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts in der Literatur auffällig häufig auftauchen, muss man feststellen: die Praxis des Einritzens von Gedichten geht einher mit einer expliziten kulturellen „Rückwärtsgewandtheit“, einer Sehn- sucht nach einer anderen, natürlichen Schriftlichkeit. Bauminschriften kommen denn auch vor allem in der Schäferdichtung vor, in der ein ursprüngliches, ein bes- seres, ein Schäferleben im Modus der Literatur imaginiert wird. Dahinter könnten kulturelle Entwicklungen stehen, die das gesamte Feld des Schreibens und Lesens des Nachmittelalters betreffen. „Je selbstverständlicher im Abendland geschrieben, gedruckt und gelesen wurde“, schreibt Aleida Assmann,

desto gründlicher verschwand die Idee von der Magie der Buchstaben. Die Verbürgerlichung der Kultur hat mit ihrem Fundament, der flächendeckenden Alphabetisierung, die Aura der Buch- staben zerstört. Die magische Kraft der Buchstaben wurde verdrängt von ihrem instrumentellen Charakter.27

Man darf also vielleicht vermuten, dass seit der Frühen Neuzeit die textimmanente Inschrift oft im Kontext einer „rückwärtsgewandten“ Sehnsucht nach einer lebendi- gen und gesteigerten, ja einer magischen Schriftlichkeit steht. Zwei Beispiele mögen – stellvertretend für viele weitere – genügen, um das Gesagte zu veranschaulichen.

26 Althaus 1996, 18. 27 A. Assmann 1993, 147. 32 Ludger Lieb und Michael R. Ott

Martin Opitz’ im Jahr 1630 erschienene Schäfferey von der Nimfen Hercinie ist grundlegend für die deutschsprachige Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts.28 In dieser Erzählung finden sich mehrere Bauminschriften, deren Inhalt hier weniger zur Sache tut als der Umgang mit ihnen.29 So wird etwa gegen Ende der „Schäfferey“ ein lieblicher Ort folgendermaßen geschildert:

Wir gerhieten auch an einem heckichten vndt wüsten orte zue einem see / deßen schwartzes vndt finsteres waßer / darinnen weder fisch noch geflügel gespüret wardt / vns fast ein grausen verur- sachte. Kurtz darauff giengen wir durch ein lustiges püschlein / deßen gelegenheit / wegen der nähe noch eines andern kleineren sees / der grüne bäwme / berg ab rauschenden bäche / vndt sonderlichen anmutigkeit eine herbrige der Waldtnimfen / eine rhue der hirten / eine gelehrte entweichung der Poeten / ein spatzierplatz der liebhabenden gemüter zue sein schiene: wie wir dann an den stämmen der hohen bäwme vnterschiedene gedancken vndt tichtungen sinnreicher geister eingeschnitten funden. Wir kundten vns mitt lesen kaum sättigen […]. 30

Das schlichte Leben der fiktionalen Schäfer macht Beschreibmaterial notwendig, das unmittelbar zuhanden ist, also nicht erst produziert werden muss. Mit Hilfe der Bauminschriften ist es dann möglich, sich unmittelbar Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen. Als Einritzungen in lebendige Oberflächen, wie das bei Bäumen der Fall ist, kommt dem Geschriebenen eine gewisse Lebendigkeit und eine stark einge- schränkte Mobilität zu, die auf das Wachsen der Bäume beschränkt ist. Die Standorte solcher mit Inschriften versehener Bäume sind liebliche Orte, an denen sich Gleichgesinnte versammeln können, die ähnliche Interessen haben und über einen ähnlichen Affekthaushalt verfügen. Es geht in der „Schäferdichtung“ ganz grundsätzlich um eine andere Semiotik, eine Semiotik des tiefen Gefühls und der Unmittelbarkeit zur Natur; eine Semiotik einfacher Musikinstrumente, zuhandener Beschreibstoffe, schlafender Waldnymphen, singender (alter) Frauen und dichtender Schäfer; eine Welt der Face-to-Face-Kommunikation, der Gespräche, des mündlichen Austausches und der plaudernden, entschleunigten Geselligkeit. Die Gleichgesinn- ten, die sich in dieser Welt bewegen, können und wollen die Inschriften lesen, können sie nachvollziehen und können sich mithin kaum daran sattlesen. Dementsprechend sind die „Schäfer“ der Opitzschen „Schäfferey“ permanent unterwegs und sie schreiben und lesen Inschriften, die auf Stein und auf Bäumen

28 Vgl. Niefanger 2012, 224f. 29 Rusterholz 1969, 11f., 46, 57–59; siehe außerdem 31 (Inschrift über einer Pforte), 34–44 (Inschrif- ten – darunter eine umfassende Edelsteininschrift – zu Personenabbildungen und Wappen sowie Erwähnung einer Schwertinschrift), 63–65 (Inschriften, die bei einem Brunnen aufgehängt werden sollen). Opitz verweist selbst im Widmungsbrief auf die Tradition der Gattung: Es „reden vnter gestalt der hirten (wie vorzeiten Theocritus / Virgilius / Menesianus / Calpurnius / heutiges tages Sannazar / Balthasar Castilion / Laurentz Gambara / Ritter Sidney / Der von Vrfe vnd andere / gethan haben) von tugendt / von reisen vndt dergleichen […].“ 30 Rusterholz 1969, 56f. Schrift-Träger 33

angebracht sind (beziehungsweise angebracht werden). Die Bauminschriften mögen weitgehend immobil sein – diese Immobilität wird jedoch von den Lesenden kompen- siert, die umherwandern und immer auch – zumindest potentiell – Schreibende sind und so für eine Lokomobilität des Geschriebenen sorgen können. Die weitgehende Immobilisierung der Inschriften geht mit einer Mobilisierung der Schreibenden und Lesenden einher – und wenn man dies mit den kulturellen Transformationen des Nachmittelalters verknüpfen will, kann man festhalten, dass die Beweglichkeit der Lettern und die Mobilität der gedruckten Bücher die Mobilität der Inschriften in Mit- leidenschaft zieht. Bei Bauminschriften prasselt nichts Schriftliches auf einen ein und auch aus Sicht des 21. Jahrhunderts mag diese Vorstellung etwas Beruhigendes an sich haben. In der „Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi“ – dies ist unser letztes Beispiel – findet ein Holländischer Kapitän die auf Palmblättern geschriebenen auto- biographischen Schrift des auf einer einsamen Insel gestrandeten Simplicissimus. Im Bericht des Kapitäns heißt es zudem:

„ich vermerckte auch gleich / daß bemelter Teutsche kein solcher Thor seyn müste / viel weniger ein Vbelthäter / wie die unserige anfangs darvor gehalten; dann alle Bäum / die von Art eine glatte Rinden trugen / hatte er mit Biblischen und anderen schönen Sprüchen gezaichnet / seinen Christlichen Geist dardurch auffzumuntern / und das Gemüth zu GOTT zuerheben; wo aber keine gantze Sprüche stunden / da befanden sich wenigist die 4. Buchstaben der Uber- schrifft Christi am Creutz / als INRI oder der Nahmen JESU und Mariæ / als irgends nur ein Jns- trument deß Leydens Christi / darauß wir muthmasseten / daß er ohne zweiffel ein Papist seyn müste / weil uns alles so Päbstisch vorkam; da stund memento mori auff Latein; dorten Ieschua Hanosrum Melech Haichudim auff Hebreisch / an einem andern Ort dergleichen etwas auff grie- chisch / teutsch / arabisch oder malaisch (welche Sprach durch gantz Jndien gehet) zu keinem anderen Ende / als sich der Himmlischen Göttlichen Dinge dabey Christlich zuerinnern […].“31

Die Beschriftung der Bäume der Insel, die Simplicissimus vorgenommen hat, ist einerseits Zeichen eines Mangels an Beschreibmaterial, andererseits Zeichen des Ver- suchs, die Göttlichkeit der Welt mittels Geschriebenem sichtbar zu machen.32 Deshalb heißt es im Kapitel vor dem Bericht des Holländischen Kapitäns, dass Simplicissi- mus „geistliche Bücher“ vermisst, sich dann aber eines „heiligen Mann[s]“ erinnert, für den „die gantze weite Welt“ ein Buch sei, „darinnen er die Wunderwercke GOttes erkennen“ könne.33 Simplicissimus buchstabiert dieses Erkennen aus. Tragbar aller- dings sind diese Bauminschriften nicht. Als eine religiöse, aus dem Mangel geborene Praxis, benötigt ihre Weitergabe mobile und mobilisierbare Texte – beispielsweise

31 Breuer 2005, 682. 32 Vgl. zu Grimmelshausen auch Strohschneider 2004. 33 Breuer 2005, 676. 34 Ludger Lieb und Michael R. Ott

eben jenen Bericht des Holländischen Kapitäns, der als Kapitel eingeschoben wird, um die Bauminschriften in Bewegung zu setzen.

Wir fassen zusammen: Die erzählten und fiktionalen schrifttragenden Artefakte, die exemplarisch präsentiert wurden, sind nicht nur auf unterschiedliche Art und Weise in komplexe Netzwerke von Akteuren und Praktiken eingebunden, sondern stehen auch für eine enge Verbindung von Schriftträger und Geschriebenem; eine enge Ver- bindung, die wir mit dem Begriff der Inschrift bezeichnen. Die Frage, was und wie Text getragen wird, verweist sowohl auf diese inschriftliche Verbindung von Material und Text wie auch auf verschiedene Arten der Mobilität und Mobilisierung. Hierzu zählen grundsätzlich die Unterscheidung von lokomobilen und lokostatischen Gegen- ständen, aber auch die Differenz zwischen transportablen und portablen Artefakten. Hinzu kommen Differenzierungen, die die Art und Weise des Transports betreffen. Während etwa die Tafel des Gregorius eng mit dieser Figur verknüpft ist und deren Lebensweg begleitet, steht die Verknüpfung von Hund und Leine im „Titurel“ für ein geradezu „automobiles“ Artefakt, das sich selbst bewegt und deshalb auch immer wieder entzieht. Bei Heinrich Seuse wiederum stellt der „Träger“ des Textes auch das Trägermaterial zur Verfügung, so dass Text und Textproduzent nicht mehr voneinan- der zu trennen sind – während Progne den Gürtel ihrer Schwester jederzeit an- und ablegen kann. Im Fall der barocken Bauminschriften schließlich kommen bestimmte Praktiken zum Vorschein, um lokostatische Artefakte in Bewegung zu setzen. Dass Metatexte derartige Formen des Umgangs mit schrifttragenden Artefakten beobachtbar machen, ist allerdings nicht schon die Antwort auf mögliche Fragen nach solchen Praktiken, sondern eher ein Teil der Frage. Immerhin bilden gerade fik- tionale Texte nicht einfach reale Handlungen ab. Was sich anhand der deutschspra- chigen Literatur des Mittelalters rekonstruieren lässt, sind vielmehr Diskurse, in und mit denen etwa auch Grenzbereiche und exzentrische Möglichkeiten von Schriftlich- keit ausgelotet werden können. Auch diese narrativen Vermessungen gehören aller- dings zur Textkultur des mittelalterlichen Europas.

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Rolle und Funktion der Träger von Inschriften über deren reine Textualität hinaus sind implizit wie explizit immer wieder diskutierter Gegenstand der antiken Epi- graphik. Vorrangig betrifft dies die zunehmende Wahrnehmung inschriftlicher Zeugnisse als Bestandteile komplexer Monumente und deren Kontextualisierung im ursprünglichen Wirkungsraum.2 Demgegenüber kam der dezidierten Frage nach dem „Verhältnis zwischen dem Text und seinem materiellen Trägern“ (Hervorhebun- gen Verf.)3, welchem das heutige Kolloquium gewidmet ist, in der epigraphischen Forschung bislang tatsächlich keine nennenswerte Aufmerksamkeit zu. Abgesehen von den immer wieder untersuchten und aufgrund ihres performativen Charakters für bedeutsam erachteten Aspekten des Erscheinungsbildes der verwendeten Mate- rialien der Textträger (beispielsweise echter Marmor oder wie Marmor erscheinender weiß gekalkter Sandstein) oder der Schrift selbst (beispielsweise eingeritzte oder ein- gemeißelte und farbig hervorgehobene Buchstaben bis hin zu eingedübelten gold- glänzenden Buchstaben, den sog. litterae aureae), standen die hiervon zu unterschei- denden praxeographischen Aspekte der ‚Materialität von Textträgern‘ in dieser Form noch nicht im Mittelpunkt des Interesses. Der Grund hierfür mag vermutlich im als ohnehin selbstverständlich empfundenen Vorliegen von physi(ikali)scher „Materiali- tät“ bei Textträgern liegen – worauf, wenn nicht auf „Material“, sollte Text denn sonst geschrieben sein? Als eine nicht weiter zu hinterfragende, vielleicht sogar als allzu kontingent erachtete conditio sine qua non zählte „Materialität“ daher offensichtlich

1 Der vorliegende Text entspricht weitgehend der Vortragsfassung vom 8. Juni 2010, ergänzt um ein Minimum an erläuternden Fußnoten sowie ein ‚Postscriptum 2014‘ aus der Perspektive ‚dreieinhalb Jahre danach‘ (u. S. 71–72). 2 Gerade in den beiden letzten Jahrzehnten ist dieser Aspekt so stark betont worden wie nie zuvor. Den diesbezüglich stärksten Reflex gibt sicher die neue Konzeption des Corpus Inscriptionum La- tinarum, die seit den Supplement- und Addenda-et-Corrigendabänden zu den Inschriften Spaniens und Roms einer ganz anderen Ausrichtung folgt, als noch jene aus der über 100-jährigen Tradition ihres Initiators Theodor Mommsen: von Belang ist nunmehr nicht allein der Text, sondern auch der Träger, seine Funktion und sein Kontext, denn eine Inschrift ist nicht allein Text, sondern konstituiert zugleich ein Monument. – Für Einzelstudien s. u. a. Feraudi-Gruénais 2003, bes. 24–54; Eck 2010. 3 Hervorhebungen ebenso passim bei sämtlichen relevanten Begriffen für die hier implizit zugrunde liegende Diskussion zentraler Fragen des geplanten SFB 933 zu „Materiale Textkulturen: Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften“.

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nicht zu jenen Schlüsselfaktoren, die geeignet erschienen, das in der Komplexität von Inschrifttexten im Verbund mit ihren Trägern innerhalb spezifischer Kontexte ver- borgene Wirkungspotential epigraphischer Zeugnisse adäquat zu bergen. Und noch viel weniger galt dies für den zweiten zentralen Aspekt des heutigen Kolloquiums, nämlich den Gebrauch unter expliziter Hintanstellung bzw. Ausklammerung inhalt- licher Aspekte.

… Das Internationale Kolloquium möchte neue interpretative Ansätze im Umgang mit ‚Schrift- zeugnissen‘ vergangener Kulturen erproben. Die hier ausgewählten Studien zu verschiedenen Textträgern sollen einen Beitrag leisten zur Entschlüsselung der rezeptionspraktischen ‚Text- Akteur-Relationen‘. Gefragt wird nach dem Verhältnis zwischen Text und seinen materiellen Trägern, nach dem Einfluss der Textträger nicht in erster Linie auf den Inhalt, sondern auf den Gebrauch der Texte. In welcher Weise bestimmt die Materialität eines Textes seine Rezeption und Wahrnehmung? Verändert der Gebrauch eines Texts seinen Träger? Verändert die Materialität des Trägers den Text? Bringen Textträger eigene Textpraktiken hervor? …4

Hierauf wird im Folgenden immer wieder zurückzukommen sein. Dabei eröffnet gerade dieses vorgeschlagene Set an Leitfragen die Möglichkeit, deren Eignung für eine adäquate Bewertung der „Rolle des ‚Textträgers‘“ vor dem konkreten und damit stets aufs Neue komplexen Hintergrund der lateinischen Inschriftenzeugnisse aus- zutesten und kritisch zu durchleuchten. Richtschnur für einen solchen Check sollte hierbei sein, inwieweit jene Leitfragen geeignet sind, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Rolle der Epigraphik für die Entschlüsselung der Be-Deutung(en) von Schriftträgern und ihrer Implikationen genauer zu definieren. Es sei nachfolgend somit die Chance eines, testweise mitunter bewusst zugespitzten, sich Einlassens auf die Leitfragen des Kolloquiums genutzt mit dem Ziel, ihr Potential für einen erkennt- nisfördernden Umgang mit der (lateinischen) Epigraphik auszuloten.

Zur Vorgehensweise: Den Einstieg5 bildet die Vorstellung eines konkreten Fallbeispiels in Gestalt eines – zunächst hoffnungslos erscheinenden – römischen Spolienfundes, an welchem exemplifiziert werden kann, wie sich derlei desperate (Be-) Funde mit Hilfe des Instrumentariums epigraphischer Methoden doch zum Sprechen bringen lassen. Die Tatsache seiner rezenten Entdeckung und seiner regionalen Verortung machen das Stück in diesem Rahmen zudem besonders attraktiv. Daraufhin wird in einem zweiten Durchgang6 der Versuch unternommen, genau diesen Befund einem Testlauf zu unterziehen, und zwar unter konsequenter Anwen- dung des Instrumentariums, das die dem Kolloquium vorangestellten Leitfragen zur

4 Aus dem Exposé im Programmflyer des Kolloquiums. 5 Unten S. 43–51. 6 Unten S. 52–56. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 39

Verfügung stellen. Wie weit mit diesen zu kommen ist, wird hier im Zentrum der Auf- merksamkeit stehen. Auf einer dritten Stufe7 wird es sodann um die Leitfragen selbst gehen, indem diese auf einer abstrahierenden Ebene einzeln einem Tauglichkeitscheck zu ihrem effektiven Nutzen für die antike Epigraphik unterzogen werden sollen. Viertens und letztens8 ist Bilanz zu ziehen, wobei der Fokus besonders auf zwei Hauptaspekten liegen soll: Zum einen auf dem heuristischen Wert von und den Bedin- gungen für exklusive Text-Schriftträger-Analysen in der Epigraphik. Zum anderen auf dem Zielpunkt allen Forschens, in der Epigraphik wie jeder anderen Teildisziplin, nämlich dem Zugewinn an Erkenntnis (oder realistischer: der Vermehrung von Teiler- kenntnissen), vorliegend konkret zur ‚eigentlichen‘ Be-Deutung von in Inschrifttex- ten gebundenen, materialisierten Äußerungen der Vergangenheit.

Zugegebenermaßen geht insbesondere der letztgenannte Schritt deutlich über die Kernfragen des Kolloquiums hinaus, und ist doch als hermeneutischer Visionspunkt unverzichtbar. Auch zählt das Fragen nach Be-Deutung zu den schwierigsten, wenn nicht sogar hoffnungslos illusionsbehafteten Unterfangen des historisch Forschen- den, zumal, wenn ihm der Zugriff auf lebendige Zeitzeugen komplett verwehrt ist. Doch selbst in Beispielen der allerjüngsten, zeitzeugenreichen Gegenwart scheint es ja um die Eindeutigkeit der Be-Deutungen von ‚Praktiken‘ alles andere als ein-deutig bestellt zu sein: Man denke nur an die Rücktrittserklärung des Bundespräsidenten Horst Köhler im Mai 2010. Die Voraussetzungen scheinen an sich optimal zu sein: der Protagonist lebt, und er hat seine Tat, seine „Praktik“, den Rücktritt, sogar begründet, die Begrün- dung ist lückenlos dokumentiert. Kein Historiker muss mit einer Rekonstruktion des Rücktrittstextes beauftragt werden. Und doch, die Rezeption der präsidialen Rück- trittsbegründung durch die Medien spiegelte sich noch am gleichen Tag in endlosen wie kontroversen Debatten: Die offizielle Rücktrittsbegründung wird offensichtlich nicht für bare Münze genommen, vielmehr wird nach den ‚eigentlichen Gründen‘ gebohrt, danach, was den Protagonisten ‚wirklich‘ zu diesem Schritt bewegt haben mochte. Und man kommt zu keinem einhelligen Ergebnis. Für den zumeist zeitzeugen-los (alt-)historisch Forschenden ist dies freilich eine ernüchternde, zugleich aber auch tröstliche Beobachtung. Denn offenbar lohnt es sich trotzdem die Bedeutungs-Zusammenhänge historischer Phänomene, gegenwärtiger wie vergangener, zu ergründen und dabei Strategien für eine ‚approximative Wahr- heitsfindung‘ zu entwickeln. Das Vorliegen von, vermeintlich über jegliche Mehr- deutigkeit erhabene, Zeitzeugenschaft muss nämlich gar keinen Vorteil darstellen,

7 Unten S. 57–67. 8 Unten S. 67–71. 40 Francisca Feraudi-Gruénais

vordergründig hoffnungslose, da zeitzeugenlose Befunde und Phänomene müssen nicht zwingend die schlechteren Chancen haben. Lassen Sie mich zum Einstieg mit einer Form von ‚Zeichensequenz‘ beginnen, die mittlerweile nicht mehr existiert. Jedenfalls nicht in ihrer ursprünglichen „materiali- sierten“ Gestalt von Schriftlichkeit als einer physischen und physikalisch-chemischen Einheit von Be- und Geschriebenem, und die aufgrund ihres Gebrauchs unwieder- bringlich jeglicher Möglichkeit beraubt worden ist, ihre Wirkung als dreidimensiona- les ‚Artefakt‘ von historischer Tragweite zu entfalten – es sei denn, ex eventu, nur auf indirektem Wege und damit, entgegen der eigentlichen Intention, vermittels seiner in fotografischer Ablichtung zu sehenden Reflexe (Abb. 1 links).

Abb. 1: Friaulischer Montasio-Käse mit (links) und ohne (rechts) DOP-Prägung auf der Rinde.

Was Sie hier sehen ist nichts als Käse. Ein sehr guter Käse zumal. Wie vermag er wohl den auf den ersten Blick so ‚unverdaulich‘ anmutenden Fragestellungen des heutigen Kolloquiums standzuhalten, eines Kolloquiums, bei dem es ja ausdrücklich in erster Linie gerade nicht um den Inhalt, sondern um den Gebrauch gehen soll? Mit anderen Worten: um die Auswirkungen von Textträgern auf den Gebrauch der Texte, konkret hier die Auswirkungen der Rinde auf den Gebrauch der eingebrannten Aufschrift9. Und das ‚Eigentliche‘, der Käse, der Inhalt soll außen vor bleiben?! Ein Gegenbeispiel: Sie sehen hier die gleiche Käsesorte, nur ohne Aufschrift (Abb. 1 rechts).10 Ich kann bezeugen, dass dieser anepigraphische Käse das gleiche irreversible Schicksal teilte wie der beschriftete. Aber ist das möglich? Darf die Praxis, dürfen die Konsequenzen des Gebrauchs der beiden (potentiellen) Textträger iden- tisch sein, wo doch die postulierten (vermeintlichen) Indikatoren zu 100% voneinan- der abweichen (Text – kein Text)?!

9 Transkription der Zeichensequenzen: M[on]// [---]NTASIO (kopfverkehrt!) //TASIO. 10 Aus der gleichen Produktionsstätte, jedoch ohne geschützte Ursprungsbezeichnung (DOP). Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 41

Anhand dieser, zugegebenermaßen überspitzten, Darstellung deutet sich an, worin die Probleme eines methodischen Postulats der allzu stark gebrauchs-, denn inhaltsorientierten Betrachtung von Texten und Textträgern, anders ausgedrückt, überhaupt der methodisch-gedanklichen a priori Trennung von Gebrauch und Inhalt, liegen können. Doch kommen wir nun zum konkreten epigraphischen Befund.

1 Das Fallbeispiel

Seit dem Abriss der romanischen Seitenschiffe vor rund 300 Jahren liegt im Kirchen- gemäuer der ehemaligen Sinsheimer Stiftskirche der Rest einer römischen Inschrift frei (Abb. 2).

Abb. 2: Römische Inschriftenspolie an der ehemaligen romanischen Stiftskirche von Sinsheim (Gesamtaufnahme) (EDH: HD064258)

Doch erst im Sommer 2009 rückte der beschriftete Block aus rotem Buntsandstein, der aus einem römischen Denkmal von ursprünglich größeren Abmessungen zurecht 42 Francisca Feraudi-Gruénais

gehauen worden war, in den Fokus eines intensiveren wissenschaftlichen Interes- ses.11 Der Inschriftträger ist ringsum unregelmäßig gebrochen (Abb. 3b), die Oberfläche der heute sichtbaren Vorderseite insbesondere im Bereich der oberen Hälfte durch Meißelspuren beeinträchtigt. Die Inschriftenspolie wurde kopfüber vermauert.

Abb. 3: Graphische Umsetzung (a) der am Original (b) erhalten Buchstaben (Detailaufnahme) (EDH: HD064258)

Paläographisch sind die erhaltenen Buchstaben grob dem 2. Jh. n. Chr. zuzuordnen. Der Text der Inschrift stellt sich nach Autopsie folgendermaßen dar (Abb. 3a):

------]RIO [---] / [---]SION [---] / [---] L [---]

Die disparate, auf drei Zeilen verteilte Buchstabenfolge kommt einer auf Anhieb ein- leuchtenden Textrekonstruktion nicht entgegen. Auch entbehrt der Inschriftträger aufgrund seiner sekundären Zurichtung als Baustein jeglicher charakteristischer for-

11 Befund und wissenschaftliche Aufarbeitung sind mittlerweile veröffentlicht; dort auch alle wei- teren Referenzen und Nachweise, auf deren Wiederholung vorliegend verzichtet wird: Feraudi-Grué- nais 2010; Feraudi-Gruénais 2013. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 43

maler Indizien, die eine bestimmte Funktion des Inschriftenmonuments unmittelbar nahelegen könnten. Lediglich aus dem Wissen, dass die am häufigsten vertretenen epigraphischen Monumente Weih- und Grabinschriften sind, lässt sich immerhin ver- suchsweise eine Eingrenzung der ursprünglichen Funktion als Votiv- oder als Sepul- kralinschrift vornehmen: Handelte es sich um eine Inschrift aus einem Grabkontext, wäre zu erwarten, dass die erhaltenen Buchstaben zu den Namen von Verstorbenen oder Dedikanten, vielleicht noch deren Titulatur, Dienststellungen oder sozialen Status gehörten. Die sichtbaren Wortreste lassen sich allerdings nicht als Bestandteile von formelhaf- ten Wendungen, die für Sepulkralinschriften typisch sind, ausmachen, so wie etwa Lebensalterangaben (vixit annos/menses/dies), Besoldungsangaben (stipendiorum) von Soldaten oder die Lokalisierung der Grablege (hic situs est). Auf die gängigen Wünsche für eine gute Totenruhe (sit tibi terra levis) könnte allenfalls das L der letzten Zeile verweisen. Für die erhaltenen Buchstaben der ersten beiden Zeilen ließen sich Personennamen finden, gegebenenfalls auch Bezeichnungen von militärischen oder zivilen Dienststellungen, wie sie in entsprechenden Inschriften Obergermaniens gut belegt sind. Für das vorliegende Fragment könnte demnach, obgleich ohne jede zwin- gende Notwendigkeit, an einen Dedikanten aus militärischem Kontext zu denken sein mit einer Konstruktion wie ––– ex duplica]rio [---] / [--Mis]sion[ius ---] / [s(it) t(ibi) t(erra)] l(evis). Für den zivilen Bereich ließe sich an einen ––– decu]rio denken, der auf einer Grabinschrift als Dedikant, oder – allerdings unwahrscheinlicher, da nicht im Dativ – als Verstorbener genannt wäre, oder einfach an den im Dativ genannten Namen bzw. Namensbestandteil eines Verstorbenen, etwa eines Severius, Vicarius oder Messorius. Unbeholfen, wenn auch nicht auszuschließen, wirkte in all diesen Fällen jedoch die stark dezentrierte, nach links gerückte Positionierung der abschlie- ßenden Wunschformel. Die Option Sepulkralinschrift überzeugt insofern nicht. Dies gilt umso mehr, als wir, wie gleich zu zeigen, über ein starkes Argument verfügen, das weitaus deutlicher in die Richtung einer Weihinschrift weist.

(Abb. 4) Es stützt sich auf ein bislang unbeachtet gebliebenes modernes Schriftdoku- ment, nämlich ein Schreiben des seinerzeit für die Bodendenkmalpflege tätigen und mit der damaligen Lehrstätte für Frühgeschichte der Universität Heidelberg kooperie- renden Dr. P. H. Stemmermann vom April 1936. Er referiert darin die Ergebnisse seiner Vorortbesichtigung in Sinsheim:

Am 18.Iv.36 besuchte ich … die Stiftskirche Sinsheim um die dort bei den Renovierungsarbei- ten zum Vorschein gekommenen Scherben und sonstigen Fundsachen anzusehen. … Als vor- geschichtrömerzeitlich erwies sich ein Bruchstück von einer Frauensgestalt in kräftigem Relief, erhalten von der Mitte des Leibes bis zum Scheitel. Das Relief dürfte römischen Ursprungs sein. Wegen Verbringung dieses Stücks ins Kurpfälzische Museum Heidelberg habe ich mich mit dem Bezirksbauamt ins Benehmen gesetzt. (Hervorhebungen Verf.). 44 Francisca Feraudi-Gruénais

Abb. 4: Bericht von Dr. P.H. Stemmermann vom 26. April 1936 über seine Ortsbegehung der Sins- heimer Stiftskirche

Ob der Transport dieses figürlichen Fragments nach Heidelberg letztlich erfolgte, geht aus der Korrespondenz nicht mehr hervor. Eine detailliertere Beschreibung mit Angaben von Maßen, Material und sonstigen Fundumständen fehlt ebenso. Seitdem geriet das Stück jedenfalls in Vergessenheit und wurde bis heute nicht wieder in Zusammenhang mit den römischen Funden in der Sinsheimer Stiftskirche zitiert. Meine Nachfrage beim Kurpfälzischen Museum Heidelberg nach dem Verbleib jenes Bruchstücks ergab, dass dort bislang weder ein solches Stück, zumal mit Her- kunftsangabe Sinsheim, noch die zitierte Korrespondenz bekannt waren, gab aber Anstoß dazu, dass aus dem Museumsmagazin ein Relief hervorgeholt werden konnte, das bis dahin unter den sog. ‚anonymen‘ Stücken geführt worden war (Abb. 5): Das stark bestoßene Relief zeigt den Oberkörper und den Kopf einer weiblichen, mit einer Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 45

Abb. 5: Relieftorso einer Rosmerta(?)-darstellung, vermutlich von einer Sekundärverwendung in der Stiftskirche von Sinsheim; Kurpfälzischen Museum Heidelberg, Magazin.

Tunika bekleideten Figur. Sie war vermutlich stehend dargestellt, mit über den Hinter- kopf gezogenem Mantel und quer über die Hüfte geführtem Mantelwulst. Die sichtba- ren Reste der Haargestaltung lassen eine Frisur aus lockigen, nach hinten gekämmten 46 Francisca Feraudi-Gruénais

Haarsträhnen erahnen. Attribute sind nicht zu erkennen. Der Reliefblock ist grob der 2. Hälfte des 2. Jhs. bzw. dem frühen 3. Jh. n. Chr. zuzuordnen. Dieser Befund stimmt nun auf frappierende Weise mit dem römischen Relief aus der zitierten Korrespondenz von 1936 überein. Es erscheint folglich legitim, als (sekundäre) Herkunft des bislang unter den ‚Anonyma‘ des Magazins des Kurpfälzi- schen Museums Heidelberg geführten Stücks nach über sieben Jahrzehnten ernsthaft die Sinsheimer Stiftskirche in Betracht zu ziehen. Dies vorausgesetzt spricht somit viel dafür, das Relief zusammen mit der Sinsheimer Inschriftenspolie – und sei es vorerst nur unter den Vorzeichen einer Hypothese – auch inhaltlich zu kontextualisie- ren und die Inschrift wie das Relief unter den Weihemonumenten zu verorten.

Damit zurück zur Inschrift. Es bleibt zu prüfen, wie eine Interpretation als Weihin- schrift begründet werden kann. Die erhaltene Textdisposition weist diesbezüglich Merkmale auf, die zu den folgenden Schlüssen Anlass geben: 1. Geht man von mehr oder weniger gleich großen Zeilenabständen aus, dürfte Zeile 3 mit dem einzig erhaltenen Buchstaben L die letzte Zeile der Inschrift sein; auf der darunter liegenden, zwar bestoßenen, aber insgesamt ausreichend gut erhal- tenen Fläche sind jedenfalls keine Buchstaben mehr nachzuweisen. 2. Die letzte Zeile von Weihinschriften ist, ähnlich den Grabinschriften, häufig ebenfalls formelhaften Wendungen vorbehalten, meistens V S L L M (votum solvit libens laetus merito). 3. Für die vorangehenden Zeilen ist das Spektrum an potentiellen Ergänzungs- möglichkeiten weiter. Das Gros der Weihinschriften, gerade auch solcher aus dem Umkreis von Sinsheim, bestehen in der Regel aus drei bis sechs Zeilen. So erweist sich etwa eine dreizeilige Inschrift als vollkommen ausreichend, um die drei wichtigsten Informationen einer Weihinschrift festzuhalten: die Gottheit/en, der/denen die Weihung gilt, im Dativ (Z. 1), Name/n des/der Dedikanten (Z. 2), Weiheformel (Z. 3). 4. Wie schon oben für eine hypothetische Ergänzung als Grabinschrift exempla- risch angeführt, mag man vorliegend an die Weihung eines ehemaligen Dupli- karius, … ex duplica]rio, oder eines … decu]rio [civitatis –––], den Bürgermeis- ter einer nahegelegenen civitas, beispielsweise eines Missionius + Cognomen, [Mis]sion [ius ---] denken. Entsprechend hätte es sich um eine (mindestens) vier- zeilige Inschrift gehandelt, in deren nicht erhaltenen ersten Zeile der Name der verehrten Gottheit Platz gefunden hätte.

Unter den Optionen, die der vorliegende Befund grundsätzlich zulässt, erweist sich nun eine als besonderes reizvoll: Die Buchstabenfolge RIO, die wohl als ein Wortende zu verstehen ist, lässt außer der bereits genannten Ergänzung zu decurio oder der Ablativform von duplicarius auch eine Ergänzung zu einem Götternamen, nämlich Mercurio zu. Votive an den Gott Merkur sind im östlichen Bereich der gallischen Pro- vinzen sowie gerade im nördlichen Raum Obergermaniens auffallend häufig anzutref- Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 47

fen; quantitativ rangieren die Votivinschriften für Merkur nur wenig hinter denen für Jupiter. Ein Charakteristikum unter den Merkur-Weihungen im Rhein-Main-Neckar- Gebiet stellen dabei insbesondere Doppelweihungen an Merkur und Rosmerta dar. So sind allein aus dem näheren Umkreis von Sinsheim schon zwei inschriftlich bezeugte Weihungen bekannt.12 Es stellt sich somit die Frage, ob nicht auch hier eine solche Doppelweihung zu fassen sei, wobei der erhaltene Befund freilich einen positiven Beweis dafür schuldig bleibt.

An dieser Stelle kommt nun wieder der ‚anonyme‘ Relieftorso ins Spiel. Sollte es sich hierbei vielleicht um eine Darstellung der keltischen Göttin Rosmerta handeln? (Abb. 6 a u. b)

Abb. 6 a u. b: Votivstelen mit Merkur- und Rosmertadarstellungen aus Neckargemünd (EDH: HD038672) (a) und Eisenberg (CIL XIII 11696; EDH: HD030195) (b)

12 Spechbach: CIL XIII 6388, EDH: HD036510; Neckargemünd: EDH: HD038672, s. auch Abb. 6 a. 48 Francisca Feraudi-Gruénais

Die am mutmaßlichen Sinsheimer Relief erkennbaren ikonographisch verwertbaren Merkmale wie Tunika mit um die Hüfte geschwungenem Mantel sowie über den Hin- terkopf gezogenem Manteltuch fügen sich jedenfalls widerspruchslos in das für Ros- mertadarstellungen langläufig bekannte, im Übrigen nicht sonderlich spezifische, ikonographische Muster ein (Abb. 7 a–c).

Abb. 7 a, b u. c: Votivstelen bzw. Relieftorso mit Merkur- und Rosmertadarstellungen aus Wiesba- den-Bierstadt (a), Sinsheim(?) (wie Abb. 5) (b) und Neckargemünd (wie Abb. 6 a) (c)

Sollte somit also von einer – wenigstens inhaltlichen – Zusammengehörigkeit von Inschrift und Relief ausgegangen werden dürfen, ließe sich an eine Ergänzung der folgenden Art denken.

[Mercu?]rio [et Rosmert(a)e?] [---]sion(ius) ♠ [---] [v(otum) s(olvit)] l(ibens) [l(aetus) m(erito)]

Unweigerlich stellt sich jetzt natürlich die Frage, wie man sich das Gesamtmonu- ment vorzustellen hat. Die Beispiele der näheren Umgebung vor Augen, mag an ein beschriftetes Weihrelief in der Art des Stücks aus Neckargemünd zu denken sein (Abb. 6 a): Rosmerta zur Rechten von Merkur stehend, beide mit den für sie typischen Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 49

Attributen in den Händen. Die Relation der rekonstruierbaren Proportionen von ca. 138 × 83 cm bei der Neckargemünder Votivstele wäre mit jenen von 162 × 100 cm der hypothetischen Sinsheimer Merkur- und Rosmertaweihung nahezu identisch.13 Die unterschiedlichen Materialien von Inschrift (Buntsandstein) und Relief (Keupersand- stein) der Sinsheimer Stücke müssen dabei kein Ausschlusskriterium darstellen. Zwar sind Materialabweichungen bei den bisher bekannten als Relief gestalteten und gleichzeitig inschriftlich abgesicherten Merkur-Rosmerta-Weihungen nicht bezeugt, doch war die Zusammensetzung von Votivmonumenten aus unterschiedlichen Mate- rialien prinzipiell nichts Ungewöhnliches. Eine originäre Zusammengehörigkeit der beiden (mutmaßlichen) Sinsheimer Stücke ist insofern nicht grundsätzlich zu ver- werfen, aber eben auch nicht zwingend, geschweige denn in irgendeiner Form nach- weisbar. Mit annähernder Sicherheit darf aber – immer die Herkunft des Reliefs als Spolie der Stiftskirche vorausgesetzt – davon ausgegangen werden, dass Relief und Inschrift demselben Votivkontext entstammten. So mochte das wiederentdeckte Relief Bestandteil einer, wie auch immer genau ausgestalteten, Merkur-Rosmerta- Weihung gewesen sein, und sei es nur als materiell und physisch von der Inschrift unabhängige Votivgabe des gleichen Heiligtums.

Soweit in verkürzter Form eine denkbare Text- und Textträgerrekonstruktion sowie eine mögliche Rekonstruktion des Gesamtmonuments. Es stellt sich nun die eigentli- che Frage nach dem weiteren räumlich-topographischen Kontext, denn sollten die bis hierher ausgeführten Beobachtungen, Verknüpfungen und Folgerungen zutreffen, so lieferten die beiden neu entdeckten bzw. neu zugewiesenen Fundstücke von der Sins- heimer Stiftskirche unter Umständen die Grundlage für Folgehypothesen, wie etwa die der Existenz eines an der Stelle der Stiftskirche bislang nicht bekannten (Merkur- und Rosmerta-) Heiligtums.

An dieser Stelle sei der archäologisch-epigraphisch-kontextorientierte Diskurs aller- dings nicht weitergeführt. Denn schon jetzt haben wir uns allein durch die Beschäf- tigung mit einer möglichen inhaltlichen und formalen Rekonstruktion des Denkmals vom angestrebten, gerade von inhaltlichen Fragen entkoppelten Text–Textträger-Dis- kurs allzu weit entfernt. Darum nochmals zurück, nämlich zum materiellen Träger und zum Text, für eine testweise ganz reduktionistische Befundbeschreibung (möglichst) ausschließlich nach den Kriterien der heute interessierenden Leitfragen.

13 Vgl. Feraudi-Gruénais 2010, 445. 50 Francisca Feraudi-Gruénais

2 Gegencheck: Epigraphische Analyse vs. Analyse anhand der Leitfragen „Materialer Textkultur“14

(Abb. 3 b) Gegenstand der Untersuchung ist ein Artefakt, ein materieller Träger, in Ver- bindung mit Sequenzen sprachlicher Zeichen. Dieser Textträger ist in seiner originären Gestalt beschädigt und weitgehend zerstört; das Ausmaß der Zerstörung betrifft dabei noch weitere zugehörige Teile desselben Text- (und möglicherweise zugleich auch Bild-)trägers. Erhalten sind somit lediglich Ausschnitte einer ursprünglich längeren Zeichensequenz. Zeitraum der zu vermutenden Perzeption, der (Rezeptions-)Praktiken infolge arte- faktischer Präsentifizierung und der damit in Verbindung stehenden Praxeographien war grob das 2. bzw. frühe 3. Jh. n. Chr. (dies zugegebenermaßen eine Erkenntnis, die aus paläographischen und allgemein historischen Anhaltspunkten abgeleitet worden und somit kein Ergebnis reiner Text–Textträger-Analyse ist!).

(Abb. 2) Der Textträger wurde samt der bruchstückhaft erhaltenen Zeichensequenz an der Wende vom 10. zum 11. Jh. als Spolie kopfüber vermauert und durch architektoni- sche Bauelemente (Seitenschiff) praktisch unsichtbar gemacht. Nach einer somit mindestens 1000 Jahre lang ausgeschalteten Phase potentieller Per- und Rezeptionspraktiken setzte erst im Jahr 2009 – freilich nur durch Zufall und jenseits seiner originären Praxeographie, aber doch unstrittig aufgrund seiner Materi- alität! – (wieder?) eine intensive Wahrnehmung des Textträgers ein. Mithin also eine Art Renaissance von Praktiken einer Präsentifizierung in neuem Funktionskontext. Welche Konserve sprachlichen Handelns sich hier genau verbirgt, erschließt sich nicht ohne weiteres: die lose Zeichensequenz ohne typische Formularbestandteile kommt nämlich einer auf Anhieb einleuchtenden Textrekonstruktion nicht entgegen (Abb. 3 a). Wenn überhaupt je Hoffnung darauf bestehen soll, die unklaren Reste sprach- licher Zeichensequenzen des artefaktischen Trägers zum Sprechen zu bringen, dann notwendigerweise unter vorrangiger Einbeziehung des Inhalts. Eine Fokussierung auf rein materialitäts- bzw. textbezogene Indizien kann jedenfalls nicht ausreichen, denn diese repräsentieren ja gerade die zu lösenden Variablen, wofür es aber doch notwen- dig eines tertium comparationis bedarf. Eine auf diese Grunderkenntnis Rücksicht nehmende Vorgehensweise käme allerdings einer Missachtung der hier programma-

14 Die nachfolgend verwendeten spezifischen Begriffe (sämtlich kursiv ausgezeichnet) entstammen teils dem programmatischen Vorspann des bereits zitierten Flyers zum aktuellen Kolloquium (wie oben Anm. 4); im Übrigen entsprechen sie der im Rahmen des SFB 933 generierten Terminologie; s. zuletzt Hilgert 2011. Obwohl auch hier inhaltliche Aspekte konzeptionell keine Rolle spielen, gilt diese Exklusion nicht für kontextuelle Aspekte, die sich in Begrifflichkeiten wie „Rezeptionspraktiken“, „Präsentifizierung“, „Praxeographie“, „Praxeologie“ und „Topologie“ wiederfinden. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 51

tisch favorisierten methodischen Prämissen gleich, wonach Gebrauch vor Inhalt ran- gieren soll („… Einfluss der Textträger nicht in erster Linie auf den Inhalt, sondern auf den Gebrauch der Texte …“).

Immerhin: bei genauerem Hinsehen geht es letztlich wohl doch nicht um den katego- rischen Ausschluss inhaltlicher Kriterien zur Rekonstruktion von erhaltenen Zeichen- sequenzen. So scheint nämlich‚ insbesondere ausgehend von „‚funktionsontologisch‘15 relevanten Relationsnetzen“ und diesen „zugrundeliegenden … routinisierten Sinnzu- schreibungen und geteilten Sinnmustern“16, doch danach gefragt werden dürfen, wie die wenigen erhaltenen Zeichensequenzen auf dem Sinsheimer Fragment gedeutet werden können, ob also etwa im Sinne von Grab- oder von Weihinschriften. Je nach der intendierten Rezeptionspraktik könnte nämlich, wie gesehen, das L der letzten Zeile im Sinne „routinisierter Sinnzuschreibungen“ auf eine Grabinschrift (i. S. v. sit tibi terra levis) oder eine Weihinschrift (i. S. v. votum solvit libens laetus merito) ver- weisen. Formal-inhaltliche Kriterien sprachen ja schließlich auch dafür, die Ressource der materialen Präsenz des hier Geschriebenen weitaus deutlicher in die Richtung der materialisierten Form einer Weihinschrift weisen zu lassen.17 (Abb. 4) Dies ermutigt zu einem weiteren Schritt, denn jenseits einer vornehmlich text- und materialitätsbezogene Aspekte in den Blick nehmenden Methode bewegt sich schließlich auch die Kon-Textualisierung des Sinsheimer Befundes mit einem – wohlbemerkt erst in einem text- und materialitäts-fernen Sekundärkontext, nämlich durch das Studium neuzeitlicher Archivdokumente, bekannt gewordenen – Relief (in Analogie zum hier Verhandelten vielleicht eine ‚Konserve bildlichen Handelns‘?): Dieses ist unstrittig ebenfalls ein Artefakt, wenngleich ohne jegliche sprachliche Zei- chensequenzen. Seine Relevanz liegt aber im Sinne einer Einbeziehung der „Gesamt- heit der kulturellen Modifikationen“ in seinem Artefakt-Design. Dieses textzeichenlose Artefakt (und damit vielleicht eine ‚Materialisierung ikonischer Kommunikations- konzepte‘?) versank seit seiner Auffindung vor einem dreiviertel Jahrhundert bis vor kurzem in die buchstäbliche Anonymität.18 (Abb. 3 b) Damit zurück zur in der Stiftskirche verbauten und materialisierten Verbindung von Artefakt und Zeichensequenz, also der Inschrift: Während ihre Inter- pretation als Grabinschrift zwar prinzipiell als möglich, aber letztlich als wenig plau- sibel gewertet werden musste, blieb zu prüfen, wie eine Interpretation als Weihin- schrift begründet werden könnte. (Abb. 8) Die epigraphische Untersuchung führte

15 Otto 1984, 50f. 16 Aus dem Konzeptpapier für einen Sonderforschungsbereich, Punkt 2.1.2.1. (S. 8), sowie zuletzt Hilgert 2011, 89–90 m. Anm. 10; 108 m. Anm. 31, in Anlehnung an Reckwitz 2006, 609–610. 17 Vgl. o. S. 45–50. 18 In den Akten des Kurpfälzischen Museums Heidelberg geführt unter den „anonymen Stücken“; s. o. S. 46. 52 Francisca Feraudi-Gruénais

Abb. 8: Hypothetische Rekonstruktion der Inschriftenspolie von der Stiftskirche in Sinsheim (EDH: HD064258) zur Hypothese des Vorliegens einer Doppelweihung an Merkur und Rosmerta – ein Ergebnis, das, ich wiederhole, nur durch die Nutzung einer inhaltlichen Schnittstelle mittels der Korrelierung zweier verschiedenartiger Artefakte, in denen einerseits Zeichensequenzen, andererseits ‚ikonische Kommunikationskonzepte‘ materialisiert sind, möglich geworden ist. Im Rahmen der epigraphischen Studie erfolgte somit unter Zuhilfenahme inhalts- bezogener Analyseinstrumente immerhin auch eine hypothetische Rekonstruktion des monumentbezogenen Gebrauchs der Text–Textträger-Verbindung in topologischer und praxeographischer Hinsicht – nämlich als Bestandteil eines Weihreliefs – das schließlich zur weiterführenden Hypothese der möglichen Existenz eines an dieser Stelle bislang nicht bekannten Merkur- und Rosmerta-Heiligtum geführt hat. Ich beende hier die Übersetzung der vorausgegangenen epigraphischen Studie in Terminologie und Logik eines weitgehend auf Aspekte von Materialität, Präsentifi- zierung und Gebrauch fokussierten Text–Textträger-Diskurses. Dabei hat sich gezeigt, dass eine infolge des expliziten Ausschließens inhaltlicher Aspekte solcherart reduk- tionistische Vorgehensweise nicht durchzuhalten ist, wenn man zu weiterführenden Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 53

Abb. 9: Modell einer (unendlichen) Annäherung an ‚die (Be-)Deutung(en)‘ epigraphischer Zeugnisse

(Zwischen-) Ergebnissen gelangen möchte, und sei es vorerst gerade auch nur auf der Stufe der materiellen Gestaltung und Präsenz eines Artefakts.

Die prinzipielle methodologische Problematik, die entsteht, wenn bei den – letztlich stets reziproken – Prozessen von (rekonstruierender) Auswertung und (auswerten- der) Rekonstruktion die inhaltliche Komponente a priori außen vor gelassen wird, ist evident und muss nicht eigens nachgewiesen werden. Darüber hinaus müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass wir uns derlei Exklusionen bzw. Selektionen angesichts der in den meisten Fällen sehr defizitären Befundsituation gar nicht leisten können. Umso mehr gilt es aber auch Klarheit darüber zu haben, welches Kriterium prinzipiell überhaupt was leisten kann; und dies wiederum hängt maßgeblich von dem Stellenwert ab, den es im ‚originären‘ Bezugssystem – oder besser unseren heu- ristischen Behelfssystemen – einnimmt. (Abb. 9) Denn der Prozess des Verstehens von Inschriften kommt ohne ein Instru- mentarium an hermeneutischen Methoden und heuristischen Vorgehensweisen nicht aus. Ziel solcher Prozesse ist dabei stets, die Be-Deutung(en) epigraphischer Zeugnisse im Sinne komplexer Monumente zu erfassen oder wenigstens deren Aura zu erahnen (gepunktete Ellipse) [violett]. Diese Be-Deutung einer Inschrift wird auf 54 Francisca Feraudi-Gruénais

unterschiedliche Weise konditioniert [rot gezackte Pfeile links u. oben] von Faktoren wie dem Inhalt des Inschrifttextes, seiner Intention sowie der praktischen Funktion des epigraphischen Monuments [rot]. So unproblematisch dies klingt, so beginnen die Schwierigkeiten im Konkreten jedoch bereits damit, dass die ursprünglichen, voll- ständigen Text-Inhalte in den meisten Fällen nicht mehr erhalten sind. Noch enig- matischer gestaltet sich die Frage der ursprünglichen Text-Intentionen, die selbst im Optimalfall erhaltener Inschrifttexte alles andere als evident sein müssen. Ganz zu Schweigen vom konkreten Gebrauch inschriftlicher Monumente innerhalb von deren ursprünglichen Funktionskontexten, der selbstverständlich auch für die Be-Deutung und Rezeption von Inschriften verantwortlich war [braun gezackter Pfeil], wobei deren Praktiken aber ihrerseits auch maßgeblich von den Be-Deutungen selbst, ein- schließlich der in diesen wirksam gewordenen Aspekten inhaltlicher und intentionel- ler Art, konditioniert waren [rot gezackter Pfeil rechts]. – Die Operatoren, die uns für die Erfassung der Be-Deutung von Inschriften zur Verfügung stehen, sind im Idealfall faktisch also die rekonstruierten Text-Inhalte, die rekonstruierten Text-Intentionen und die rekonstruierten Vorstellungen originärer Praktiken, von denen uns über erhaltene Monumente, überlieferte Rituale und erschlossene Kontexte allenfalls nur mehrfach gebrochene Reflexe erreicht haben [schwarz]. Wie stark diese weitgehend rekonstru- ierten Größen auf die Erschließung einer letztlich nur mittelbaren Vorstellung von Be-Deutungen (gestrichelte Ellipse) [lila] Einfluss hat, hängt konkret natürlich von den jeweils individuellen Befunden ab. Eine ganz arbiträre, d. h. auf empirische ‚Durchschnittswerte‘ epigraphischer Erfahrung gestützte, ‚Quantifizierung‘ [lila] der für die Rekonstruktion von Be-Deutungen zu erwartenden ‚Beitragsanteile‘ mag für die rekonstruierten Text-Intentionen mit 10 %, die rekonstruierten Vorstellungen von Praxis mit 30 % und die rekonstruierten Text-Inhalte mit 60 % veranschlagt werden. Epigraphik praktiziert somit Grundlagenforschung im besten Sinne [grün]; ihre Methoden basieren dabei sowohl auf dem basalen epigraphischen Handwerkszeug als auch auf einer möglichst breit angelegten Re-Kontextualisierung unter Einbezie- hung von Einzelerkenntnissen zu greifbaren Objekten, Spuren von Raumordnungen und Reflexen dynamischer Phänomene (z. B. Rituale), aus denen und für die die Inschriften entstanden sein und die sie ihrerseits geprägt haben dürften. Epigraphi- sche Forschung geht somit notwendigerweise weit über Fragen zu Text–Textträger- Relationen hinaus; letztere sind, freilich wesentliche, Aspekte unter vielen anderen und per se weder von zentraler noch von alles entscheidender Bedeutung. Unbedingt ist in diesem Zusammenhang aber auch hervorzuheben, dass die Epi- graphik nicht in der Lage ist, mit ihren Methoden allein das ohnehin so schwer fass- bare Phänomen der Be-Deutung(en) von Inschriften zu ergründen. Über mittelbare, bestenfalls unendliche, Annäherungsversuche kommt sie aufgrund der oben geschil- derten Umstände nicht hinaus. Hierzu bedarf es anderer, notwendig außerhalb der Epigraphik liegender Ansätze – und genau hierin liegt die Notwendigkeit und die besondere Chance groß angelegter Verbundprojekte vom Zuschnitt eines SFB! Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 55

3 Engführung der zentralen Leitfragen zu „rezepti- onspraktischen ‚Text-Akteur-Relationen‘“

Gerade angesichts des soeben geschilderten, gleichsam aporiebehafteten Sets an her- meneutischen Methoden und heuristischen Vorgehensweisen der Epigraphik im All- gemeinen sowie ihrer spezifischen Rolle im Besonderen, seien die dem Kolloquium zugrunde gelegten Aspekte der „rezeptionspraktischen ‚Text-Akteur-Relationen‘“ in einer letzten Stufe enggeführt und ihre wichtigsten Positionen durchdekliniert:

3.1 Verhältnis Text – materieller Träger:

3.1.1 Fallbeispiel Sinsheim: a. … aus der Perspektive der verbauten Spolie: (Abb. 10)

Abb. 10: Römische Inschriftenspolie an der Stiftskirche von Sinsheim (Nahaufnahme) 56 Francisca Feraudi-Gruénais

Es geht um das Verhältnis von Zeichensequenz zu Textträger, von den Buchsta- ben zum Block. Vorliegend bedingt durch die sekundäre Zurichtung ist hier ohne eine Rekonstruktion kein sinnvolles Verhältnis auszumachen. Dies gilt umso mehr, wenn man davon ausgeht, dass eine unverzichtbare Voraussetzung für das Ergründen des gesuchten Verhältnisses die Kenntnis des primären, ursprünglich intendierten Zustandes ist – ganz zu schweigen von einer weiteren maßgeblichen Voraussetzung, nämlich der inhaltlichen Kontextualisierung. Eine Kontextualisie- rung mit dem Sekundärkontext war sekundär wohl kaum intendiert. Der Verbund Text – materieller Träger ist bei der Spoliennutzung zum reinen Material reduziert worden. b. … aus der Perspektive der rekonstruierten Spolie (also einer virtuellen Zurückver- setzung in einen ursprünglichen Bau- und Funktionskontext): Vermutlich handelte es sich um ein Votivmonument, (Abb. 6 a) ähnlich vorzustellen wie das Neckar- gemünder Merkur-und-Rosmerta-Relief, in diesem Fall um eine Kombination aus dem Artefakt Stele als Träger von Bild und Text und den Teilartefakten Text bzw. Relief. Beide Artefakte sind in gemeinsamer Bestimmung entstanden. Entspre- chend ist das gesuchte Verhältnis zwischen den Komponenten Text und materi- eller Träger nichts anderes als eine conditio sine qua non für die ganz konkrete Existenz eines solchen Monuments. Ein wie auch immer genau geartetes Span- nungsverhältnis zwischen zwei bereits a priori existierenden und per se validen Entitäten, die auf irgendeine Weise lediglich aufeinander Bezug nähmen oder additiv zusammengeführt wären, liegt somit nicht vor.

3.1.2 Zum Vergleich: andere Inschriftengattungen und -träger:

(Abb. 11) Überblickt man den epigraphischen Bestand an nicht sekundär weiterver- wendeten Stücken, so scheinen die Felsinschriften am ehesten einer Form additiver „Verhältnis“-Bildung nahezukommen. Auf einem originär belassenen, somit nicht- artefaktischen Material, dem Felsen wird ein Text (Artefakt) aufgebracht. Freilich wurde auch hier ein Material bzw. ein materieller Träger in Gestalt eines Felsblocks instrumentalisiert. Doch dies erfolgte nicht durch eine wie auch immer geartete Wirkung des Textes, sondern durch den dahinter stehenden politischen oder auf Selbstdarstellung ausgerichteten oder anderweitig motivierten Willen, der Text und Fels erst zusammenführte. Dem Fels kam somit zusammen mit dem Text die Rolle eines Monuments zu. Man könnte diese Erkenntnis nun an sämtlichen etablierten, d. h. in der epigra- phischen Forschung gewissermaßen kanonisierten, Varianten von Inschriftenträgern gegenprüfen. Für einen Überblick über die sich dabei abzeichnenden Tendenzen in der lateinischen Epigraphik bietet sich eine Betrachtung der für die Epigraphische Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 57

Abb. 11: Felsinschrift aus Anlass einer kaiserlichen Straßenbaumaßnahme am Plöckenpaß (CIL V 1862)

Datenbank Heidelberg (EDH) definierten Inschriftenträger an (Abb. 12):19 es handelt sich in all diesen Fällen um materielle Träger von Texten (ohne diese Voraussetzung würden sie in der EDH ja auch nicht in Erscheinung treten). Dabei sind generell zu unterscheiden a. Träger, die wegen/für eine/r Inschrift geschaffen worden sind (d. h. die Funk- tion des jeweiligen Trägers besteht wesentlich darin, eine Inschrift zu tragen bzw. seine Existenz impliziert maßgeblich das Tragen eines Textes); b. Träger, die auch mit einer Inschrift versehen werden konnten (d. h. die Funktion des Trägers besteht nicht primär darin, eine Inschrift zu tragen).

Das bedeutet im Ergebnis: Im Gegensatz zu Gruppe a), die aus Trägern besteht, die gezielt für das Tragen von Text geschaffen wurden (s.u.), kennzeichnet Gruppe b), dass primär nicht für das Tragen von Texten geschaffene Träger doch auch für das Visu- alisieren von Texten geeignet erschienen und wenigstens hierfür instrumentalisiert

19 http://edh-www.adw.uni-heidelberg.de/hilfe/liste/inschrifttraeger (Stand: 25.8.2014). 58 Francisca Feraudi-Gruénais

Abb. 12: Übersichtsgraphik über die gängigen für Inschriften verwendeten Denkmaltypen, unterteilt nach deren (nicht-)-a priori-Konzeption als Inschriftenträger worden sind. Sei es nun für den ‚Hausgebrauch‘ wie an den Etiketten von Speisen (Abb. 13), für die Selbstdarstellung munizipaler Amtsträger auf Pavimentinschriften (Abb. 14), die kaiserliche ‚Selbstdarstellung‘ auf Felsinschriften (Abb. 11) oder für subtile Kampfmittel der waffenbasierten und auch psychologischen Kriegsführung wie im Fall der glandes plumbae20 (Abb. 15). – Anders die Beispiele aus Gruppe a), die für das Tragen von Inschriften prädestiniert waren. Es soll dabei durchaus nicht die Tatsache verschleiert werden, dass ein etwaiges Kriterium „zu 100% für das Tragen von Texten hergestellt“, vielleicht mit Ausnahme der Inschrifttafeln und der kleinfor- matigen tesserae, in dieser Reinform nicht existiert. Vielmehr gilt für die meisten von ihnen (hier mit * gekennzeichnet), dass sie letztlich beides sein konnten, d. h. auch ohne Inschrift existieren konnten, aber für sie in den meisten Fällen auch eine Auf- nahme von Text vorgesehen war auf hierfür vorbereiteten und damit quasi ‚institu- tionalisierten‘ Inschriftenfeldern. Das quantitativ und qualitativ starke Vorkommen

20 Zum Gebrauch der glandes plumbeae s. u. S. 63, Nr. 2). Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 59

Abb. 13: Lebensmitteletikett „pas(seres) coc(ti)“/„gegarte Spatzen“ (AE 2004, 948; EDH: HD052114)

Abb. 14: Pavimentinschrift im römischen Theater von Italica/Santiponce (CILA II 2, 383; EDH: HD004825) 60 Francisca Feraudi-Gruénais

Abb. 15: Glans plumbea (Bleigeschoss) aus der römischen Provinz Baetica, vermutlich Aurgi / Jaén (CIL II2 5, 56; EDH: HD020135.) dieser Vorrichtung spricht für eine durchaus nicht irrelevante Dominanz von Texten, die aber ihrerseits aufs engste mit dem Träger verbunden war und vor allem auf ihn angewiesen war. In der Summe ergibt sich somit, wie sehr die Verbindung aus Text und Träger in der Gattung der antiken Inschriften intentionell und a priori vor-gesehen war, so dass von einer additiven Verbindung zweier unabhängig voneinander entstandener und in diesem Sinne auch per se existenzfähiger Entitäten keine Rede sein kann. Diese Beobachtung leitet zum nächsten zu hinterfragenden Aspekt über, nämlich dem …

3.2 … Einfluss des Textträgers auf den Gebrauch des Textes (und dabei explizit in erster Linie nicht auf seinen Inhalt):

3.2.1 Für den Fall der Sinsheimer Inschrift …

… ist einer solchen Prämisse im Grunde kein rechter Sinn abzugewinnen. Der Aus- schluss von Fragen nach dem (rekonstruierbaren) Inhalt und in der Folge von (rekons- truierbarem) Kon-Text, ist, wie inzwischen mehrfach aufgezeigt, schon deshalb nicht zielführend, da ohne sie eine Rekonstruktion – also die (virtuelle) Wiederherstellung des formalen Zustandes der ursprünglichen Wirkmächtigkeit – gar nicht möglich geworden wäre. Doch selbst wenn man von einem rekonstruierten oder überhaupt intakt geblie- benen Textträger ausgehen könnte und danach fragte, welchen Einfluss der Textträ- ger – im vorliegenden Fall mutmaßlich eine Stele mit Relief und beschrifteten Textfeld – auf den Gebrauch des Textes, eine Weihinschrift, gehabt haben mochte, so muss man sagen, dass dies keine wesentlich weiterführende Frage ist, insofern es zum all- Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 61

gemeinen Konsens in der lateinischen, kaiserzeitlichen Epigraphik gehört, dass ein künstliches Aufsplitten und Gegeneinanderstellen von Träger und Gebrauch nicht der Wesensart epigraphischer Zeugnisse gerecht wird. Träger und Text sind, obgleich beide auf ihre Weise, Artefakte, sind in einer Einheit entstanden, um in dieser Einheit bestimmten Inhalten und Funktionen Ausdruck zu geben, und so waren sie auch in dieser Einheit Anlass und Aktanten von in der Folge auch praxeologisch auszuwerten- den Vorgängen. Umgekehrt und vereinfacht ausgedrückt: Für einen bestimmten Text wurde von vorn herein der ‚passende‘ Träger gewählt; der Fall, dass ein und derselbe Text auf semantisch per se unterschiedlich codierten Trägern zu finden wäre, ent- spricht nicht der allgemeinen Praxis. Zugespitzt formuliert: Eine Meilensteininschrift wird man auf einem Sarkophag vergeblich suchen.

3.2.2 Ein Beispiel einer/s anderen Inschriftengattung/-trägers:

Die glandes plumbeae (Abb. 15) sind wohl das buchstäblich dynamischste Beispiel von Textträgern, an dem man der Frage des Gebrauchs des Textes nachgehen mag. Es handelt sich bei ihnen um Wurfgeschosse, die kaum hörbar durch die Luft zu schnel- len, den Feind zu überraschen und dort nachhaltigen Schaden anzurichten vermoch- ten. Beschriftet waren diese Bleigeschosse mit Truppenbezeichnungen, nicht selten mit Flüchen und Schmähungen gegen den Feind oder mit sonstigen ausgesuchten Wünschen wie jenes berühmte „Pet[o] / Octavia(ni) / culum“,21 das den kämpferi- schen Auseinandersetzung des Bellum Perusinum zugeschrieben wird. Träger und Text bildeten zusammen eine selten perfide Mischung, der Text verstärkte noch die demoralisierende Wirkung des Trägers. Beides wurde subtil miteinander verquickt. Ohne Frage wurde der Text erst durch das Geschoß, auf dem es stand, zu einer wirk- lich einschlagenden Botschaft – dies also der handfeste praxeographische Aspekt. Aber der Text ist eben auch gezielt für das Geschoß konzipiert worden. Insofern geht die Frage nach einem Einfluss des Geschosses, des Trägers, für den Gebrauch des Textes fehl, denn ohne diesen Träger würde auch dieser Text nicht in dieser Form existieren.

21 CIL XI 6721, 7. 62 Francisca Feraudi-Gruénais

3.3 Wie bestimmt die Materialität eines Textes seine Rezeption und Wahrnehmung:

3.3.1 Fallbeispiel Sinsheim:

(Abb. 2) Aus heutiger Sicht dürfte unstrittig sein, dass die Materialität in ihrer ganz konkreten Bedeutung, d. h. die anhaltende materielle Verwertbarkeit, der entschei- dende Garant für die seit dem Jahr 2009 wieder einsetzende Perzeption der Inschrift war. Nur war genau das natürlich zu keinem Zeitpunkt – weder bei der mittelalter- lichen Sekundärverwendung beim Bau der Kirche, noch erst recht bei der antiken Primärverwendung – intendiert. Es handelt sich lediglich um einen für Archäologen, Epigraphiker und Historiker glücklichen Zufall. Wie mochte nun aber in der Antike die Materialität dieses epigraphischen Textes dessen Per- und Rezeption bestimmt haben? Hat sie dies überhaupt? – Hier wäre zunächst zu klären, was „Materialität eines Textes“ eigentlich genau meint. Ist damit das beschriebene Material in seinen geologischen Eigenschaften gemeint? Oder geht es vielmehr um die Art und Weise der materiellen Umsetzung von Text, sei es als in Stein eingemeißelte Buchstaben, sei es als mit dem Pinsel auf eine verputzte Wand- fläche gemalte „Textsequenzen“? Wie auch immer; das Material des Trägers bzw. das Material des Textes war als ein Faktor innerhalb der monumentalen Gesamtinszenie- rung einer Inschrift sicher von Bedeutung. Umso mehr gilt daher auch hier, dass es nicht die kontextfreie Materialität allein war, die für die Art und Weise der Per- bzw. Rezeption ausschlaggebend war.

3.3.2 Ein Beispiel einer/s anderen Inschriftengattung/-trägers:

Eine beliebige, in tausendfachen Varianten wiederzufindende Grabinschrift aus der Vatikanischen Nekropole in Rom (Abb. 16 b); man erfährt aus dem Inschrifttext, dass eine Aelia Urbana, kaiserliche Freigelassene, einer Aelia Saturnina, verstorben mit 36 Jahren und zwei Monaten, die Tafel gesetzt hat; es handelt sich um eine intakte Tafel mit vollständig erhaltenem Text und deutlich lesbaren Buchstaben; Perzeption und Rezeption hätten auf keine idealeren Voraussetzungen treffen können. Nur: Wo genau war die Tafel angebracht? (Abb. 16 a) Versteckt unter der Treppenwölbung, wo sie nur mit Mühe wahrgenommen und rezipiert werden konnte! Wo trafen in diesem Fall Perzeption und Praxeographie aufeinander? Mussten sie dies? Denn kein antiker Besucher des Grabes machte sich wie ein Archäologe mit Taschenlampe und Pinsel auf die Suche nach verstaubten Artefakten mit Textsequenzen. Zählte nicht vielmehr anderes? Demgegenüber gab es natürlich auch solche Inschriften, die ausgesprochen sichtbar und damit durchaus per- und rezeptionstauglich angebracht waren, in ihrer eigentlichen Materialität jedoch keinerlei Unterschiede zu der gezeigten, versteckten Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 63

Abb. 16 a u. b: Schematische Darstellung der Lokalisierung der Grabinschriften von Mausoleum E der Vatikanische Nekropole (a) und der Grabtafel der Aelia Saturnina (b)

Inschrift aufweisen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es für die Begünstigung oder Nicht-Begünstigung von Per- bzw. Rezeptionsvorgängen nicht allein auf den einen Faktor der Materialität angekommen sein kann, sondern stets ein ganzes Set weiterer Faktoren einzubeziehen ist, in diesem Fall vorrangig des Kontexts und der Raumdisposition. Es sei nur am Rande bemerkt, dass solche Befunde immer wieder die Frage nahelegen, ob Inschriften überhaupt zwingend gesehen werden sollten, oder ob nicht vielmehr auch andere Gründe für die Existenz ‚inschriftlicher Produkte‘ zu postulieren sind. Festzuhalten bleibt somit jedenfalls, dass eine reduktionistische, also allein auf die Materialität zugeschnittene Betrachtung zu fatalen Fehlergebnis- sen führen würde.

3.4 Verändert der Gebrauch eines Textes seinen Träger? – Verändert die Materialität eines Trägers den Text? – Bringen Text- träger eigene Textpraktiken hervor?

Bleiben noch drei weitere im Programmflyer des Kolloquiums formulierte Fragen, denen ich nicht ausweichen möchte, zu deren jeweiliger Beantwortung ich mich 64 Francisca Feraudi-Gruénais

allerdings nicht imstande sehe, da sie, wenigstens für die antike Epigraphik, in dieser Exklusivität weitgehend irrelevant sind. Immerhin wurde auf manche Aspekte bei der Diskussion der vorangegangenen – teils nur andersherum gestellten – Fragen impli- zit bereits eingegangen: es geht einmal mehr um etwaige Veränderungen von Trägern durch den Textgebrauch und von Texten durch die Trägermaterialität einerseits sowie um Gebrauch bzw. Praktiken von Text bzw. Träger, die dann ihrerseits den Träger bzw. Text verändert haben sollen. Es sei in diesem Zusammenhang an die glandes plum- beae erinnert,22 in deren Dynamik der Aspekt des Gebrauchs unmittelbar zu greifen ist.

Abb. 17: Defixio mit Schadenszauber aus Groß-Gerau gegen eine Priscilla (EDH: HD052165)

22 Vgl. o. S. 60, 62–63. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 65

(Abb. 17) Ähnliches gilt für die Gattung der Fluchtäfelchen, an denen noch viel ein- drucksvoller die intendierte und im unmittelbaren Sinne des Wortes greif-bare Verän- derung des materiellen Trägers, nämlich der Bleitesserae, durch den Akt der defixio sichtbar wird. Und dennoch, mögen diese vielleicht die einzigen beiden und zugleich spektakulärsten Fälle darstellen, bei denen Handeln am und mit dem Text derart konkret wird, unterscheiden sie sich doch angesichts der zugrunde liegenden Fra- gestellungen nicht grundsätzlich von den übrigen epigraphischen Zeugnissen. Denn auch hier sind Textfunktion und Materialfunktion bereits konzeptionell aufeinander abgestimmt. Der materielle Träger Bleitessera eines Fluchtäfelchens wird zu diesem natürlich erst durch den Akt des Beschreibens und Zurichtens, genauso wie dies, mutatis mutandis, bei fast jeder anderen Inschrift auch erfolgt – fast insofern, wenn man etwa an die große Zahl an spontanen Gelegenheitsinschriften, wie die Wandgraf- fiti oder sonstigen Gelegenheits- und Alltagsinschriften auf Gefäßen denkt. Dieses Genre wäre jedoch eigens zu betrachten, da es sich hier um Zeugnisse handelt, bei denen der Text erst sekundär auf den Träger aufgebracht worden ist; eine von Anfang an intendierte Verbindung eines bestimmten Textes mit einem bestimmten materi- ellen Träger kann in diesen Fällen nicht pauschal vorausgesetzt werden. Grundsätz- lich gilt somit nach wie vor die Einheit aus Faktoren des Be- und Geschriebenen, die erst im Zusammenspiel zu etwas werden, da sie vorher als informationsloses Roh- material (z. B. ein Altar mit unbeschriftetem Inschriftfeld) bzw. nicht-materialisierte Information (virtuell der Text einer nicht eingemeißelten Votivinschrift) gleichsam nicht existent sind. Das implizite Postulat von Subjekt-Subjekt-Relationen zwischen den Faktoren Gebrauch, Text, Träger und/oder Material(ität) trägt der epigraphischen Befundrealität definitiv nicht Rechnung.

4 Eine Bilanz zum heuristischen Wert von und den Bedingungen für Text–Texträger-Analysen in der antiken Epigraphik

Was sind eigentlich Inschriften, was meint Epigraphik? Einschlägigen Handbüchern zur antiken Epigraphik zufolge gehe der Begriff „Epigraphik“ auf das griechische Verb ‚epigraphein‘, ‚auf-/einschreiben‘, zurück, und dementsprechend sei Epigraphik jene Wissenschaft, die eben solche, auf feste Materialien geschriebene Textzeugnisse erforsche. Soweit ein etymologisch begründetes Erklärungsmuster, einleuchtend, oft wiederholt – und auch nicht völlig verkehrt. Aber auch nicht ganz zutreffend, denn spätestens eine differenziertere, kritische Auseinandersetzung mit dem kom- plexen Phänomen inschriftlicher Zeugnisse macht sehr bald die Einseitig- und auch 66 Francisca Feraudi-Gruénais

Unzulänglichkeit solcher Definitionen offenbar.23 Diese Problematik ist hier aller- dings nicht zu diskutieren. Und doch gibt es noch einen Punkt, den auch adäquatere Definitionen von Epigraphik nicht aufzulösen vermögen, einen Punkt, der letztlich weniger ein Problem, als vielmehr ein vielschichtiges Grundmerkmal inschriftlicher Zeugnisse darstellt: Es besteht darin, dass eindeutige Gattungs- und Funktions- grenzen häufig genauso wenig klar auszumachen sind24 wie auch Zuweisungen der betreffenden inschriftlichen Zeugnisse zu einzelnen Disziplinen letztlich nur Behelfs- maßnahmen sein können und zudem, gemessen am tatsächlichen Bestand epigraphi- scher Zeugnisse, doch nur torsohaft bleiben. Die Kategorie mit Inschriften versehener fester, aber vergänglicher Materialien, wie etwa am eingangs gezeigten Käse (Abb. 1 links), sind in der Epigraphik naturgemäß überhaupt nicht erfasst, obwohl anderer- seits funktionsgleiche epigraphische Zeugnisse, wie Etiketten für Nahrungsmittel selbstverständlich berücksichtigt sind (Abb. 13). Andererseits werden etwa Papyri oder Münzen aus guten Gründen in eigenen Fachdisziplinen versorgt, dann aber viel zu häufig nur dort erforscht und viel zu wenig in einen fächerübergreifenden Diskurs eingebracht bzw. von angrenzenden materialbasierten Fächern aktiv rezipiert. Genau dies wäre aber erforderlich, um eine Annäherung an das angestrebte und oben disku- tierte Ziel aller Forschung zu ermöglichen, nämlich ein Erfassen der Be-Deutung(en) getaner und hinterlassener materialisierter Äußerungen. Es kommt darauf an, die Unverzichtbarkeit kon-textueller Betrachtungsweisen zu unterstreichen, wobei man sich auf genau bezifferbare Kontextualisierungsra- dien überhaupt nicht festlegen wird und kann. Denn diese sind so variabel wie die Untersuchungsgegenstände selbst und werden zwangsläufig sehr unterschiedlich ausfallen. – Um dies für die Epigraphik zu konkretisieren: Nehmen wir ein letztes Mal die Sinsheimer Spolie vor, die heute völlig de-kontextualisiert in einem Archi- tekturbogen einer mittlerweile entfunktionalisierten mittelalterlichen Klosterkirche in Erscheinung tritt (Abb. 10). Nehmen wir aber auch ein beliebiges anderes Stück (Abb. 18), einen in einem Museum ausgestellten und somit nicht minder dekontex- tualisierten Grabstein, vor. An letzterem wird deutlich, dass auch vergleichsweise gut erhaltene Stücke nur über eine begrenzte Aussagekraft verfügen, solange sie un- kon-textualisiert bleiben. Fragen nach den Verhältnissen von Träger (Stein, Altar, Material der Textsequenzen, …) zu Text (sakral, fragmentiert, nicht rekonstruierbar, …) mögen zu partiellen Antworten führen, die aber per se betrachtet und sodann auch jenseits ihrer jeweiligen Objekthaftigkeit über wenig bis keine Aussagekraft verfügen. Die unumstößliche Bedeutung solcher Fragestellungen liegt vielmehr auf einer propädeutischen Ebene, als jeweils eine Frage, deren Antwort zur nächsten Frage und wieder zur nächsten Frage und irgendwann zu einem groben Gesamtbild

23 Exemplarisch für das in jüngerer Zeit verstärkt geäußerte Unbehagen an Definitionsansätzen die- ser Art s. Cooley 2012, 117–127; Panciera 2012. 24 Beispielsweise Statuenbasis vs. Altar und Ehreninschrift vs. Weihinschrift. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 67

Abb. 18: Grabstelle des C. Vibius Felix aus der Gegend von Rom (AE 1992, 202). 68 Francisca Feraudi-Gruénais

führen kann; insofern werden Fragen dieser Art aufgrund der ihnen eigenen ‚pro- gressiven Vorläufigkeit‘ letztlich nicht als ziel-führende Fragen gelten können. Unter diesen Vorzeichen ist der aufmerksamen, kleinteiligen Objektbeobachtung, die dem individuellen Untersuchungsgegenstand gerade auch in seinen materiellen Teilas- pekten gerecht wird, selbstverständlich höchste Wichtigkeit beizumessen, insofern all dies auf eine sukzessive, radial ausstrahlende Einbindung in weitere Kontexte, semantische (Be-)Deutungs- und inhaltliche Verständnisebenen abzielt (Abb. 9). Die explizite Ausblendung von inhaltlichen Fragen und die explizite Reduktion auf den Gebrauch von Texten bzw. Trägern steht dem jedoch entgegen. In diesem Zusammen- hang darf die hermeneutische wie auch heuristische Bedeutung von Leitfragen nicht unterschätzt werden. So wenig auf sie verzichtet werden kann, so gestaltet sich deren effiziente Formulierung schon deshalb als alles andere als trivial, weil sie einerseits eine – eigentlich erst noch zu erarbeitende – hinreichende Kenntnis des Gegenstan- des voraussetzen (müssen), andererseits latent immer Gefahr laufen, nolens volens Prämissen zu schaffen, die einer eigentlich angestrebten Ergebnisoffenheit im Wege stehen.

Die im Laufe des Vortrags herausgearbeiteten Beobachtungen und Probleme können abschließend wie folgt zusammengefasst werden: 1. Mit einem Plädoyer für die Methode der ‚progressiven Kontextualisierung‘; dies aus der Erkenntnis, dass das Verhältnis von Text zu Träger nur eine, vermutlich die erste Stufe von Kon-Textualisierung abbildet, die zugleich eine wichtige Vorausset- zung dafür ist, dem Aussagepotential eines Inschriftenmonuments annäherungs- weise auf die Spur zu kommen. Für das Verständnis von Aussage(intentione)n bedarf es sukzessiver Kon-textualisierungsprozesse in immer weiter zu steckende (virtuelle/rekonstruierte) Entstehungs- und Wirkungsräume hinein. 2. Mit einer Warnung vor unzutreffenden Zuschreibungen25 von faktisch Hand- lungssubjekten eignenden Funktionalitäten an Komponenten, die eigentlich als miteinander korrelierende Objektgrößen funktionieren, was gerade auch beim Verhältnis zwischen materiellen Trägern und Texten gilt. Denn die diese steu- ernde, vorauszusetzende gemeinsame Subjektgröße ist in einer Ebene außerhalb zu suchen. Von dort ist der kalkulierte Impuls für die intendierte Gesamtaussage zu erwarten, der in den Objektgrößen Text, Bild, Träger, Kon-Text u. a. ihren Ausdruck findet. 3. Mit einer Feststellung zum Stellenwert des Gebrauchs: Die im programmatischen Exposé zum Kolloquium aufgeworfene Frage nach „dem Einfluss der Textträger nicht in erster Linie auf den Inhalt, sondern auf den Gebrauch der Texte“26 sugge- riert einen Antagonismus zwischen Gebrauch und Inhalt. Demnach scheint also

25 Etwa im Fall von unhinterfragt vorausgesetzten Text-Akteur-Relationen. 26 Vgl. S. 40 m. Anm. 4. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 69

eine Divergenz zwischen diesen beiden Komponenten vorzuliegen, was es offen- bar als methodisch gewinnbringend erscheinen lässt, wenigstens experimentell das eine ohne das andere, den Gebrauch ohne den Inhalt zu betrachten. Dass genau dies für die antike Epigraphik nicht funktionieren kann, dürfte deutlich geworden sein. Beides, Gebrauch und Inhalt, sind zwar wesentlich heterogene, aber komplementäre Größen. Und es kommt ein zweiter Aspekt hinzu. Trotz aller unvermeidlichen Begrenztheit des Versuchs einer graphischen Fixierung dessen, was Be-Deutung bezogen auf epigraphische Zeugnisse ausmacht (Abb. 9), dürfte eines unstrittig sein: Dass im Sinne einer (unendlichen) Annäherung an das ‚Phantom‘ der Be-Deutung(en) epigraphischer Zeugnisse die Komponente „Inhalt“ noch immer den stärksten und entscheidenden Ausschlag gibt („60 %“). Die in der epigraphischen Forschung etablierte Methode der Zusammenschau von Textpraxis und Textinhalt findet hierin einmal mehr eine Bestätigung. Ob dies ein nur auf die Epigraphik beschränktes Phänomen ist? 4. Mit einem letzten Ausblick auf das Spannungsfeld zwischen ‚Epigraphik‘ und ‚Be-Deutung(en)‘. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Epigraphik – wie übrigens auch jede andere mit materiellen Zeugnissen befasste Teildisziplin – definitiv nicht in der Lage ist, das heuristische Instrumentarium zur Rekonst- ruktion von Be-Deutung(en) inschriftlicher Zeugnisse zu liefern. Der Epigraphik obliegt es aber, textliche Evidenz unter Einbeziehung weiterer materieller, dar- unter auch bildlicher, Evidenz zu re-kontextualisieren und zu re-konstruieren. Zur Ergründung von Be-Deutung(en) bedarf es eigener heuristischer Strategien und hermeneutischer Methoden, die sich dadurch auszeichnen, basierend auf den Erkenntnissen der einzelnen (text-)materialbezogenen Teildisziplinen, Erkenntnisse zu abstrahieren und transdisziplinär zu einem logischen System zusammenzuführen. Im hierauf idealiter angestoßenen Rücklauf kann sich dann zeigen, ob und in wie weit das so gewonnene ‚Destillat‘ an Erkenntnissen auf die jeweiligen Teildisziplinen mit einem Mehrwert zurückwirken und schließ- lich deren jeweilige Methoden in Richtung auf eine weitere Annäherung an die alles Forschen umtreibenden Fragen von ‚Be-Deutung(en)‘ sublimieren kann. Vielleicht nur eine Illusion? Der eingeschlagene Weg des im Entstehen begriffe- nen SFB 399 „Materialität und Schriftlichkeit“ könnte genau in diese Richtung führen. Damit begegnete er in der Tat einem Desiderat, besonders auch aus der Perspektive der „Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik“.

5 Postscriptum 2014 – im dritten Jahr der ersten Phase des SFB: eine Theorie im Praxistest

Für die Epigraphik im Grunde nichts Neues! Neu sind lediglich ein stattliches Arsenal an Begrifflichkeiten mit der Tendenz, im Bemühen um Abstraktion und 70 Francisca Feraudi-Gruénais

Theoretisierung zu wenig selbsterklärenden Sprachungetümen geworden zu sein. Unvermeidlich bleibt im Gegenzug die Erfassung der jeweils spezifischen Differen- ziertheit der jeweiligen Denkmälergruppen auf der Strecke. Ihrer Vertiefung kommt das theoretische Konzept nicht entgegen. Das kann und beabsichtigt es auch nicht, ist doch die Zielrichtung genau gegenläufig: nicht in die Tiefe, sondern in die Höhe, um aus einer möglichst hohen Warte möglichst viele Spielarten vortypographischer Schriftzeugnisse möglichst unterschiedlicher Kulturen und möglichst aller in Frage kommender Zeiträume in den Blick zu nehmen und mit einem gemeinsamen, neu zu etablierenden methodischen Instrumentarium zu analysieren. Für die lateinische Epigraphik zeigt sich dabei, dass ein solches Instrumenta- rium am Bedarf vorbei geht; sie bedarf einer solchen, zumal von außen aufgesetzten Eingabe auch nicht, hat sie doch selbst bereits ein hochdifferenziertes Methoden- system entwickelt, das ihren Bedürfnissen und Eigenarten deutlich besser auf den Leib geschnitten ist. Freilich geht es hier nicht um naive Selbstgenügsamkeit und eitle Arroganz methodisch bereits gut ausgestatteter Einzeldisziplinen. Im Gegenteil, Impulse von außen, Auseinandersetzungen mit kulturwissenschaftlichen Erkennt- nissen anderer Disziplinen sind willkommene, notwendige und gern geübte gute Praxis. Es ist aber doch kritisch zu hinterfragen, was die angestrebte „Entwicklung und Etablierung eines neuartigen methodischen Instrumentariums zur Analyse von schrifttragenden Artefakten (…) als Ergänzung zu herkömmlichen Analyseverfahren in den text-interpretativen historischen Kulturwissenschaften“27 wirklich an Neuem zu bringen vermag, und zwar sowohl für die kulturellen Phänomene der jeweiligen Einzeldisziplinen, als auch für das (eigentlich auch nur virtuell existierende) Phäno- men der „Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesell- schaften“ als Ganzem. Muss eine solche Zielsetzung nicht vielmehr aufgrund ihres notwendigerweise generalisierenden, mithin nicht spezifizierenden Zuschnitts einer scharfen, differenzierenden Analyse schrifttragender Artefakte nolens volens im Weg stehen? Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass die Analysearbeit einschließlich der Weiterentwicklung tauglicher Einzel-Instrumentarien unter der Hoheit der jewei- ligen Einzeldisziplinen nach wie vor bei diesen am besten aufgehoben scheint. Wirk- lich neuartig, spannend, ein Desiderat und letztlich auch nur von einem Großunter- nehmen vom Zuschnitt eines SFB zu leisten wäre nun aber die Entwicklung eines tauglichen Instrumentariums für die komplexe komparatistische Auswertung der mit der hochspezialisierten Expertise der Einzeldisziplinen gewonnen Analyseergeb- nisse. Ein Impuls für die angestrebte zweite Projektphase?

27 Aus dem Konzeptpapier für einen Sonderforschungsbereich, Punkt 2.1.1.3, s. zuletzt auch Hilgert 2011, 115–116. Die Rolle des ‚Textträgers‘ in der Epigraphik 71

Siglenverzeichnis

AE: L’Année Épigraphique (Paris 1888– ) CIL: Corpus Inscriptionum Latinarum (Berolini 1863– ) CILA: Corpus de inscripciones latinas de Andalucía (Sevilla 1989– ) EDH: Epigraphische Datenbank Heidelberg: www.epigraphische-datenbank-heidelberg.de

Literaturverzeichnis

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Abbildungsnachweise:

Abb. 1 a/b: Fotos © F. Feraudi-Gruénais Abb. 2: Foto © F. Feraudi-Gruénais Abb. 3: Graphik und Foto © F. Feraudi-Gruénais Abb. 4: Ortsakten des Referat 26, Denkmalpflege beim Regierungspräsidium Karlsruhe Abb. 5: Foto © E. Kemmet / Kurpfälzisches Museum Heidelberg Abb. 6 a/b: Fotos © Kurpfälzisches Museum Heidelberg (a), C. Witschel / EDH (b) Abb. 7 a/b/c: nach Hupe 1997, 206, Abb. 2 (a), (wie Abb. 5) (b), (wie Abb. 6 a) (c) Abb. 8: Graphik © F. Feraudi-Gruénais, C. Rödel Abb. 9: Graphik © F. Feraudi-Gruénais Abb. 10: Foto © F. Feraudi-Gruénais Abb. 11: Foto © C. Witschel / EDH Abb. 12: Graphik © F. Feraudi-Gruénais 72 Francisca Feraudi-Gruénais

Abb. 13: Nach Reuter u. Scholz 2004, 89, Abb. 143 u. 145. Abb. 14: Foto © G. Alföldy/EDH Abb. 15: Foto ©Centro CIL II, Universidad de Alcalá, http://www2.uah.es/imagines_cilii/fotos_ cilii/5/cilii5,00056,1.jpg Abb. 16: Nach Feraudi-Gruénais 2003, Abb. 10 u. 102. Abb. 17: Nach Reuter u. Scholz 2004, 71, Abb. 108. Abb. 18: Foto © F. Feraudi-Gruénais/EDH

Stellenregister

AE 1992, 202: S. 69, Abb. 18. AE 2004, 948: S. 61, Abb. 13. CIL II2 5, 56: S. 44, Abb. 11. CIL V 1862: S. 59, Abb. 11. CIL XIII 6388: S. 49, Anm. 12. CIL XIII 11696: S. 49, Abb. 6 b. CILA II 2, 383: S. 61, Abb. 14. EDH HD004825: S. 61, Abb. 14. EDH HD020135: S. 62, Abb. 15. EDH HD030195: S. 49, Abb. 6 b. EDH HD036510: S. 49, Anm. 12. EDH HD038672: S. 49, Abb. 6 a. EDH HD052114: S. 61, Abb. 13. EDH HD052165: S. 66, Abb. 17. EDH HD064258: S. 43, 44, 54, Abb. 2, 3, 8. Amina Kropp „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ Antike Fluchtafeln als Textträger und Ritualobjekte

1 Einleitung: Kurzvorstellung des Gegenstands ‚Fluchtafel‘

Bei den sogenannten ‚Fluchtafeln‘ (gr. κaτάδεσμοι; lt. defixionum tabellae bzw. defixiones) handelt es sich um dünne Metallplättchen, die als Sach- und Textquelle von einem in griechisch-römischer Zeit (ca. 6. Jh. v. Chr. – 5. Jh. n. Chr.) weitverbreite- ten Schaden- und Zwangzauberritual zeugen. Als zentrales Element der Ritualhand- lung wird die Fluchtafel üblicherweise mit Zaubertexten beschrieben, anschließend durchbohrt (oder auf andere Weise manipuliert) und zu guter Letzt an ‚magische‘ Orte wie etwa Gräber oder unbenutzte Brunnen getragen und dort abgelegt. Die Tafel als Text- bzw. Schriftträger fungiert folglich zugleich auch als Ritualobjekt. Text und Textträger korrespondieren dabei in besonderer Weise miteinander, da die rituellen Operationen nicht nur am Textträger, sondern auch mittels des darauf eingravier- ten Textes ausgeführt werden. Nicht zuletzt können die Täfelchen auch briefartigen Charakter besitzen, indem sie zur Kommunikation mit ritualspezifischen Gottheiten eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund bilden die defixionum tabellae beson- ders geeignetes Anschauungsmaterial, um das Verhältnis zwischen Textträger und Textentstehung bzw. -gebrauch im Rahmen eines antiken Rituals in Augenschein zu nehmen.

2 Ablauf und Struktur des defixio-Rituals

2.1 Was antike Ritualpräskripte verraten

Defixiones sind weitaus mehr als „beschriebene Bleistücke“;1 vielmehr sind die Tafeln Bestandteil und Produkt eines antiken Rituals, für dessen Ausführung genaue Anlei- tungen existiert haben. Im Gegensatz zu literarischen Darstellungen, die sich viel- fach exotischer Stereotype oder ironischer Brechungen bedienen, stellen rezeptartige

1 Jordan 1985a, 151 („inscribed pieces of lead“).

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Ritualpräskripte wie etwa die Papyri Graecae Magicae (2. Jh. v. – 5. Jh. n. Chr.) authen- tischeres Anschauungsmaterial antiker Ritualszenarien bereit.2 Für Struktur und Ablauf des defixio-Rituals in seiner ursprünglichen Ausprägung existieren keine direkten Zeugnisse;3 ebenso wenig ist auf der Grundlage der Quellen mit Sicherheit festzustellen, „daß stets feststehende Rituale erforderlich gewesen seien“.4 Einge- denk dieser Einschränkung soll nachfolgender Ausschnitt aus einem Zauberpapyrus (PGM V 304–369) herangezogen werden, um einen Eindruck von der Zubereitung und Ausführung eines antiken Schadenzaubers zu geben:

Nimm […] ein Bleitäfelchen und einen eisernen Ring […] schreibe den Namen, die Zauberzeichen […] und [folgendes]: ‘Gebunden sei seine Vernunft, auf daß er nicht ausführen könne das und das.’ […]. Stich ein an den Zauberzeichen mit dem Schreibrohr und vollziehe die Bindung mit den Worten: ‚Ich binde den XY zu dem betr. Zweck: er soll nicht reden, nicht widerstreben, nicht widersprechen, er soll mir nicht entgegenblicken oder entgegenreden können, sondern soll mir unterworfen sein, solange dieser Ring vergraben liegt. Ich binde seinen Sinn und sein Denken, seinen Geist, seine Handlungen, auf daß er unfähig sei gegen jedermann.‘ Wenn du aber ein Weib bannst, sag auch: ‚Auf daß nicht heirate den XY die XY.‘ Dann trag [das Bleitäfelchen] weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen, grab 4 Finger tief, leg es hinein und sprich: ‚Totendämon, wer du auch bist, ich übergebe dir den XY, auf daß er nicht ausführe das und das.‘ Dann schütt es zu und geh weg. Am besten agierst du bei abnehmendem Mond […]. Der Ring kann auch in einen unbenutzten Brunnen gelegt werden oder ins Grab eines vorzeitig Verstorbenen […].

Mit rezeptartiger Ausführlichkeit gibt das Ritualpräskript Auskunft über den rituel- len Kontext der Fluchtafeln: Aufgeführt sind verbale wie non-verbale Ritualelemente und -handlungen, die ihren festen Platz im Ritualablauf haben. Ferner finden sich Angaben zu Zweck, Anwendungsbereich und Wirkpotential des Rituals. Nicht zuletzt werden Ort und Zeitpunkt der Ritualausführung als Rahmenbedingungen für die Kommunikation mit numinosen Mächten benannt. Die Anweisungen aus dem Zau- berpapyrus beschreiben folglich ein „kompliziertes und zugleich konkret verbild- lichendes Ritual aus Wörtern, Formeln, Namen [und] Gegenständen“,5 d. h. einen rituellen Handlungskomplex mit einer regelgeleiteten, festen, wiederhol- und nach- ahmbaren Struktur.

2 Eine sehr gute Übersicht über die Zauberpapyri geben Brashear 1995; Ritner 1995, 3358–3371. Zu magischen Operationen in Fachliteratur und Dichtung vgl. auch Kropp 2008, 58–66. 3 Bereits Preisendanz 1972, 4, spricht von einem Problem der „späteren Zauberformulare […] für die synkretistischen Lamellen“. Vgl. hierzu z. B. auch Meyer 2004, 105. 4 Vorwort zu Brodersen 2001b, 8. 5 Daxelmüller 2001, 27. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 75

2.2 Das Ritualszenario: rituelle Elemente, Handlungen und Rahmenbedingungen

Wie aus entsprechenden Ritualpräskripten zusammen mit dem archäologischen Befund hervorgeht, bildet die Fluchtafel ein rekurrentes Element der Ritualhand- lung.6 Bei den verbalen Ritualelementen handelt es sich um formelhafte Texte, die auf einer Vielzahl von Zaubertafeln in ähnlichem Wortlaut nachweisbar sind. Ebenso stellen Beschriftung, Manipulation und Niederlegung der Tafel festgeschriebene ritu- elle Handlungseinheiten dar, die zu genau festgelegten Bedingungen im Hinblick auf Ablagestelle, -modalitäten und -zeitpunkt zu erfolgen haben. Auf Semantik und Wechselspiel all dieser Faktoren wird im Folgenden noch einzugehen sein. An der Anrufung des ‚Totendämons‘ zeigt sich die intendierte Kontaktaufnahme mit übernatürlichen Mächten. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um katach thonische Gottheiten wie die als ‚unterirdisch‘ (inferi) bezeichneten Toten oder auch die Herrscher der Unterwelt Dis pater bzw. Pluto und Proserpina bzw. ( A ) eracura/ Veracura. Die Erwähnung von Unterweltsgottheiten steht dabei nahezu systematisch in Korrelation zur Ablage in Totenstätten. Daneben kann das Täfelchen an jedem Ort deponiert werden, der eine Verbindung zu unterirdischen Mächten eröffnet. Dies gilt insbesondere für Brunnenschächte und andere möglichst wasserführende Stellen, wie auch das Rezept eines universal einsetzbaren ‚Bannmittels‘ (PGM VII 450f.) bezeugen kann, das die Ablage „im Brunnen, in der Erde, im Meer, in der Wasserlei- tung, in einem Sarg oder Brunnen […]“ vorschreibt. Dabei muss die Ablagestelle nicht nur die Kontaktaufnahme zu numinosen Mächten garantieren, sondern auch die Zau- berwirkung verstärken können. Auch hierfür eignen sich insbesondere Totenstätten, denen per se unheilvolle Macht zugeschrieben wird.7 Darüber hinaus stellt das Öffnen eines Grabes eine Handlung dar, die, analog zur „aggressiv-magischen“8 Operation selbst, gesellschaftlichen Normen zuwiderläuft, zumal wenn sie nachts erfolgt.9

6 In zahlreichen Ritualpräskripten heißt es z. B. „nimm eine Bleitafel“, so etwa in PGM IV 228f.; XXXVI 231; LVIII 5. 7 Vgl. hierzu z. B. Parker 1996, 32–73; Ogden 1999, 16; 22; Gordon 1999a, 210. 8 Vgl. hierzu den von Th. Hopfner 1938, 135, geprägten Terminus ‚Angriffszauber‘. Aufgenommen und näher bestimmt wird dieses Konzept von C. Bonner 1950, 103: Unter dem entsprechenden englischen Titel aggressive magic sind magische Handlungen gegen eine andere Person subsumiert, die folgen- dermaßen charakterisiert werden: „[Their] attitude to the operator, whether friendly or unfriendly, is virtually ignored. The operator aims to control the will and the acts of this other person; the control may be exercised in a harmful way, but it is not necessarily ‚black magic‘.“ Dieser Aspekt wird auch von Versnel 1991, 62, und Faraone 1991, 3f., deutlich herausgestellt. 9 Auch in der Literatur erscheint die Nacht als typischer Zeitpunkt für magische Operationen, vgl. z. B. Tib. 1,8,17 (tacito tempore noctis). Die Hexe Medea ruft für ihren Verjüngungszauber an ihrem Schwiegervater Aison (vgl. Ov. met. 7,179–293) u. a. die Nacht an (191). Zu den adäquaten Zeiten für die Zauberhandlung vgl. z. B. Hopfner 1928, 353–356; Kropp 1930, 148f.; Gordon 1999a, 204–210. 76 Amina Kropp

Wie an obiger Anleitung ersichtlich, schreiben die Zauberpapyri oftmals die Gräber von ‚vorzeitig‘ oder auch ‚gewaltsam Verstorbenen‘ als Ablageort für die Tafel vor. Dies erklärt sich durch die Vorstellung, dass jene, plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen, ihr Ziel oder ihre Bestimmung nicht erreicht haben;10 ebenso ergeht es demjenigen Toten, der keine rechtmäßige Bestattung erhalten hat, dessen Totenkult vernachlässigt oder Grab geschändet wird,11 weswegen etwa auch Arenen, Richtstätten und Schlachtfelder im Ruf stehen, rast- und ruhelose Seelen zu beher- bergen.12 An der außergewöhnlichen zeitlichen Situierung und der Verortung am Rande der sozialen Topographie zeigt sich,13 dass der Ritualvollzug eine Aktivität außerhalb der Alltagswelt darstellt.14 Die Ausführung einer defixio geht überdies im Verborge- nen und unter strenger Geheimhaltung vor sich. Als besondere Form des Schaden- zaubers, die den Einzelnen wie das Kollektiv bedroht, spielt sich das defixio-Ritual zudem jenseits der Legalität ab: Tatsächlich werden schadenbringende magische Praktiken wie etwa ‚böse Gesänge‘ (mala carmina)15 bereits ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. durch das Zwölftafelgesetz (duodecim tabulae) unter Strafe gestellt. Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten wird die Bestrafung magischer Handlungen von

10 Diese Anweisung findet sich etwa auch im ‚Großen Pariser Zauberpapyrus‘ (PGM IV 334f.): „leg [die Puppe] am Sarg eines vorzeitig Gestorbenen oder gewaltsam Umgekommenen nieder.“ Teile eines derartig Verstorbenen, wie Kleiderfetzen oder Blut, gelten auch als beliebte „Zutaten“ für Zau- berhandlungen, vgl. z. B. PGM II 49 („Fetzen vom Kleide eines gewaltsam Gestorbenen“). Zu dieser Kategorie von Toten vgl. auch Hopfner 1928, 306; 330f.; Graf 1996, 136f.; Ogden, 1999, 16f. (mit zahl- reichen Belegstellen). 11 Vgl. z. B. Hopfner 1928, 330f.; Stemplinger 1922, 60f. (mit zahlreichen Belegen); Luck 1990, 65; Gordon 1999a, 176f. (mit weiterer Literatur); Johnston 1999. 12 Vgl. z. B. den „Liebeszauber“ (PGM IV 1390–1495), der „mit Hilfe von toten Massenkämpfern, Gla- diatoren oder sonst gewaltsam Getöteten“ (1393f.) wirksam ist. 13 Bestattungen finden im antiken Rom regelmäßig außerhalb der Stadtmauern statt. Dies geht be- reits aus dem Zwölftafelgesetz (Tafel 10) hervor, vgl. Flach 1994, 191f. Allgemein vgl. z. B. Latte 1960, 102; Le Bonniec 2001; Rüpke 2001a, 19. 14 Zu anderen in den Zauberpapyri festgehaltenen Ritualen, die den Ausführenden „momentan aus seiner alltäglichen Welt herausführ[en]“ vgl. auch Graf 1997, 123. Die Aussonderung des Ritualgesche- hens aus dem Alltäglichen bestätigen aber auch literarische Zeugnisse wie z. B. die Fasti des Ovid, gemäß derer ein Bindezauberritual als fester Bestandteil bestimmter Feiertagshandlungen genannt wird. 15 Der Kenntnis des Wortlautes liegt nicht die originale Bronzeinschrift zugrunde, sondern allein Zitate und Paraphrasen von Autoren ab dem 1. Jh. v. Chr. So entstammt Fragment 8,1a (qui malum carmen incantassit) dem enzyklopädischen Werk des älteren Plinius (vgl. Plin. nat. 28,17), der das malum carmen als Zauberspruch auffasst, während es von Cicero nach Ausweis von Augustin (civ. 2,9) als Schmähgedicht gedeutet wird, vgl. Tupet 1986, 2592–2601; Flach 1994, 165; 171f.; 186; Dulckeit u. a. 1995, 67; Gordon 1999a, 253f.; Liebs 1999, 217; Dickie 2001, 142f.; Rives 2002, bes. 279–288. Allgemein verfassungs- und rechtsgeschichtlich zum Zwölftafelgesetz vgl. Flach 1994, 39f.; 109–207; Dulckeit u. a. 1995, 54–59; Liebs 1999, 20–26. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 77

staatlicher Seite fortgeführt und zunehmend verschärft.16 Vor diesem Hintergrund lässt der Ausschnitt aus PGM V 304–369 auch vermuten, dass die defixio nicht kollek- tiv vollzogen wird: Zum einen sind neben dem Ausführenden keine weiteren Akteure oder Beteiligte genannt, zum anderen gilt die Geheimhaltung sogar als Garant für die Zauberwirkung.17 Ebenso machen strafrechtliche Verfolgung und soziale Ächtung eine Ausführung „im Nichtöffentlichen, im Dunkeln“18 wahrscheinlich. Zubereitung und Ausführung einer defixio präsentieren sich folglich als isoliert ausgeführtes ‚Ich‘-Ritual. Dabei ist die Individualität jedoch allein auf den Moment des Vollzugs bezogen, nicht auf die formale Organisation des Rituals. Intersubjektivität und Nach- ahmbarkeit sind insofern gegeben, als Kenntnis und Umsetzung von rituellen Hand- lungen Teil des kollektiven Wissens sind, das mitunter auch in entsprechenden Regel- werken festgehalten und tradiert sein kann. Nicht zuletzt ist in PGM V 304–369 der „betr. Zweck“ der Zauberhandlung expli- ziert: Ziel ist die Lösung von „drängenden persönlichen Problemen“19 durch die Bezwingung einer anderen Person. Hierfür muss lediglich der Zauberspruch an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Dementsprechend lassen sich auch für die lateinischen defixiones wiederkehrende Verwendungskontexte nachweisen,20 gemäß derer sie, in Anlehnung an A. Audollent, in vier Gruppen eingeteilt werden: (1) Prozess-defixiones, die den Verlauf eines Gerichtsverfahrens zugunsten des defigens beeinflussen sollen; (2) ‚agonistische‘ defixiones zur Ausschaltung eines Widersachers in Konkurrenzsituationen, insbesondere unter Gladiatoren und Wagenlenkern,21 weitaus seltener aus wirtschaftlichen und amourösen Gründen; (3) erotische Herbeiführungs-defixiones, die auf die Eroberung einer Person abzielen; (4) sogenannte ‚Gebete für Gerechtigkeit‘ (engl. prayers for justice), eine Sonderform, die nicht der Sicherung von zumeist antagonistisch begründeten Erfolgen dienen soll, sondern Sühne oder Strafe für ein von einem üblicherweise unbekannten Täter begangenes Unrecht verlangen;22 anders als die übrigen defixiones wenden sich diese

16 Vgl. hierzu z. B. Kropp 2008, 46–50. 17 PGM V 324–325: „[er] soll mir unterworfen sein, solange dieser Ring vergraben liegt.“ Auch nach Mauss u. Hubert (1966, 15) ist das Handeln im Verborgenen ein typisches Zeichen für das magische Ritual: „[Le rite magique] se cache […]. L’isolement, comme le secret, est und signe presque parfait de la nature intime du rite magique.“ 18 Rüpke 2001b, 167. 19 Vgl. Jordan 1985b, 205: „urgent personal concerns“. 20 Die Entsprechung von Wortlaut („vocabula“) und Verwünschungsgrund („causa“) stellt bereits Audollent (1904, LXXXVIII) heraus: „est requirendum quibus de causis inimicos solerent obligare, quippe cum alia roganti alia vocabula suppetant“. Verschiedene dieser „vocabula“ sind im Index unter der Rubrik „defixionum genera et causae“ (471–473) verzeichnet. 21 Zu den defixiones im antiken Sport vgl. auch Tremel 2004. 22 Vgl. Audollent 1904, LXXXVIII: „quattuor defigendi causae“; XC: „Tabellae iudiciariae et in inimi- cos conscriptae […]; in fures calumniatores et maledicos conversae […]; amatoriae […]; in agitatores et venatores immissae […]“. Zur Aufteilung der defixiones vgl. auch Faraone 1991, 10f.; Ogden 1999, 31– 44. 78 Amina Kropp

Zauberinschriften regelmäßig an große Götter wie Mercurius oder die Quellgottheit Sulis, was sich auch in der Ablage in den entsprechenden Heiligtümern widerspie- gelt. Keine lateinische Entsprechung gibt es zu den griechischsprachigen defixiones gegen politische Gegner.23 Dieses breite Anwendungsspektrum ist jedoch nicht auf die Fluchtafeln beschränkt, sondern trifft auch auf andere Schaden- und Zwangzau- berformen zu, was in den zugehörigen Rezepten ebenfalls explizit thematisiert sein kann. So muss der Anwender eines Herbeiführungszaubers „[j]e nach dem Zweck [s] eines Zauberns […] nur die Formulierung [s]einer Wünsche ändern“.24

3 Die tabellae defixionum: Textträger und Ritualobjekt

3.1 Antike Verwendung und ritualspezifische Semantik von Blei

Wie bereits gesagt, zählt die Tafel zu den zentralen Ritualelementen, bei der es sich gemäß der oben aufgeführten Anleitung um eine ‚Bleitafel‘ handeln soll. Tatsäch- lich besteht der weitaus größte Teil der lateinischsprachigen Täfelchen aus Blei oder überwiegend bleihaltigen Legierungen: Unter den mehr als 500 bekannten Zauber- inschriften befinden sich nur etwa zehn Exemplare aus anderen Materialen.25 Dieser Befund ist nicht allein durch die gute Haltbarkeit von Blei erklärbar, denn auch andere Metalle wie Kupfer, Bronze oder Zinn dienen selten der Herstellung von Fluch- tafeln.26 Aus Edelmetallen wie Silber und Gold hingegen werden aufgrund der ihnen

23 Vgl. z. B. Faraone 1991, 16; Gager (1992, 119; 123, Anm. 14), der die Nähe zwischen politischen und juristischen Auseinandersetzungen betont, da sie auf dem gleichen Schauplatz ausgetragen werden. 24 PGM IV 2079f. Dass gegebenenfalls auch das non-verbale Ritual an die individuellen Bedürfnis- se anzupassen ist, zeigt das Beispiel des vielseitig einsetzbaren ‚Homerischen Dreizeilers‘ (PGM IV 2145–2240): „Für eine Offenbarung: schreib auf ein Lorbeerblatt […]. Um Rennwagen zu stürzen, räu- chere […] Knoblauch […]. Für Bannungen schreib auf eine Meermuschel […]. Um Gunst zu erwerben […]: schreib auf ein Goldtäfelchen […]. Bei herbeizwingenden Liebeszaubereien: räuchere Rose und Sumach […]“ (2205–2232). 25 Zu den Beschreibstoffen vgl. z. B. Cesano 1910, 1561f.; Preisendanz 1972, 3f.; Brashear 1995, 3443– 3446; Graf 1996, 120; 157; Ogden 1999, 10–13 (mit genauen Zahlenangaben). Nach Gager 1992, 3, schei- nen die griechischen Täfelchen eine größere Materialvariation aufzuweisen. Eine Übersicht über die verwendeten Materialen findet sich z. B. im Index von Suppl. Mag. II, 364 („C. Inscribed Materials (other than papyrus)“). 26 Trotz einiger Rezepte für die Herstellung von Täfelchen aus Zinn im Rahmen „aggressiv-magi- scher“ Rituale (z. B. PGM IV 2212; VII 417) sind nur wenig Exemplare auf uns gekommen, die diese Pra- xis bezeugen. Auch die Funde aus Bath sind nicht aus reinem Zinn, sondern aus Blei-Zinn-Legierun- gen gefertigt, vgl. Tomlin 1988, 82. Die Ambivalenz dieses Metalls zeigt sich auch in einer Anleitung „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 79

zugeschriebenen apotropäischen oder gesundheitsfördernden Wirkung nahezu aus- schließlich Heil- und Schutzzauberinschriften hergestellt.27 Kaum Verwendung finden auch dauerhafte Materialien wie etwa Ton oder Stein.28 Über den Gebrauch vergängli- cher Materialien kann naturgemäß keine sichere Aussage getroffen werden: Papyrus wird in einigen Anweisungen als Schreibunterlage aufgeführt.29 Wachs scheint eher der Anfertigung von Zauberpuppen vorbehalten gewesen zu sein,30 wenngleich lite- rarische Quellen die Beschriftung und Manipulation von Wachstafeln anzeigen.31 Die gleichzeitige rituelle Verwendung von Wachs und Blei wird wiederum durch den Text auf einer griechischen defixio bestätigt: „Ich binde alle diese Menschen in Blei und in Wachs.“32 Für den vielseitigen Einsatz von Blei lassen sich zunächst praktische Gründe nennen: Als Abfallprodukt etwa der Silbergewinnung ist es vergleichsweise billig und leicht erhältlich. Gefertigt werden hieraus Alltagsgegenstände wie Geschirr, Eti- ketten oder auch Wasserrohre, ebenso findet es in Glasproduktion und Malerei sowie als Abdichtungs-, Verkleidungs- und Stützmaterial in Architektur und Schiffbau Ver- wendung. Nicht zuletzt ersetzt Blei edlere Metalle für die Herstellung von Schmuck, Votivgaben und von Amuletten.33 Da es aufgrund seiner weichen und elastischen Beschaffenheit zudem einfach zu beschriften ist, dient es häufig als Schreibunterlage oder Siegel; auf Bleitafeln werden auch Orakelfragen und -antworten eingereicht.34 Zusammen mit den wachsbeschichteten Holztafeln zählt Blei folglich zu den her- kömmlichen Schreibstoffen der Antike.

zur Erlangung einer Weissagung (PGM III 298f.): „schreib auf [ein Blatt] aus Gold oder Silber oder Zinn folgende Zeichen […]“. 27 So geht die Vorstellung von Gold als Heilmittel etwa auf seine Verehrung als lebensspendendes Element zurück, da sein Glanz einen direkten Zusammenhang zur leuchtenden und unzerstörbaren Kraft der Sonne nahelegt. Die Heilkraft des Goldes und seiner Derivate wird etwa von Plinius d.Ä. be- zeugt (vgl. Plin. nat. 33,84f.). Gold, Silber oder auch Zinn werden als Schutzmittel oder zur Gewinnung einer positiven Zauberkraft verwendet, vgl. etwa PGM IV 259 (Silbertäfelchen); 1255 (Zinnblättchen); VII 919f. (Goldblättchen). Zu diesen Vorstellungen vgl. z. B. Seligmann 1910, 6–8. 28 Zu Ton als Zaubermaterial vgl. PGM II, 233–235 (Kap. II: „Ostraka“), vgl. hierzu auch Gager 1992, 92, bes. Anm. 36. 29 Tatsächlich empfiehlt das Formular für die Zubereitung einer defixio (PGM V 304–369) neben Blei auch den Gebrauch von „Papier“ (304). Zu den griechischsprachigen Beispielen für die Verwendung von Papyrus für die Zauberhandlung vgl. etwa Suppl. Mag. I, 127f., Nr. 40; 154–156, Nr. 43; 162–173, Nr. 45; Suppl. Mag. II, 61–65, Nr. 63. Auch Leinen wird verwendet, etwa in Suppl. Mag. I, 157–161, Nr. 44. 30 Vgl. z. B. PGM IV 296; 2378. 31 Z. B. Ov. am 3,7,28: Zu ihren Zauberutensilien zählt neben ‚Zauberspruch und -kraut‘ (carmen et herba) auch eine rotgefärbte Wachstafel mit dem Namen des Opfers, in die eine Nadel gestoßen wird. 32 DTA 55a. Hierzu z. B. Faraone 1991, 7. 33 Zur Gewinnung und Verwendung von Blei in der Antike vgl. z. B. Plin. nat. 34,47; 34,156–176. Hierzu insbesondere Projektgruppe Plinius 1989, 17–58; 72; Römer-Martijnse 1991; Schmitz 1993, 54. Grundlegend Blümner 1887, 88–91; 142–160; 374–378; Blümner 1899; Schwerteck 1997. 34 Vgl. z. B. Björck 1938, 96–98. Blümner 1899a, 563; Römer-Martijnse 1991, 47. 80 Amina Kropp

Im rituellen Kontext kommt es darüber hinaus zu verschiedenen Bedeutungszu- weisungen: Obwohl Blei in der antiken Chirurgie, etwa zum Kühlen und Sezieren, oder auch als Arzneimittel Verwendung findet und dementsprechend als heilungsför- dernd gilt, überwiegt gerade in der Magie die Bewertung als unheilvolles Material:35 Aufgrund seiner materialimmanenten Eigenschaften wird es mit negativen und unan- genehmen Eindrücken wie Kälte, Schwere, Nutz- und Wertlosigkeit sowie Fahlheit in Verbindung gebracht; nicht zuletzt ist der Giftgehalt von Blei bereits in der Antike bekannt.36 Auf den regelmäßigen Einsatz von Blei im Schadenzauber geht möglicher- weise auch die Deutung als Sympathiemetall des unheilwirkenden Planeten Kronos- Saturn oder vergleichbarer Gottheiten zurück.37 Ferner kann die Beschaffung der Bleitafel für das Ritual auch die Beschädigung von öffentlichem Eigentum und folg- lich die Ausführung eines gemeinschaftsschädigenden Aktes voraussetzen: Einigen magischen Anleitungen zufolge sollen die Bleistücke aus Wasserleitungen herausge- schnitten werden.38

3.2 Der Textträger: zwischen Kommunikationsmittel und Metapher

Wie aus obigem Zauberpapyrus ersichtlich, fungiert die Bleitafel im Rahmen des defixio-Rituals nicht nur als Schrift- und Textträger, sondern auch als Objekt der ritu- ellen Manipulation bzw. Ablage. Sämtlichen rituellen Handlungen eignet dabei eine besondere Semantik, da sie metaphorisch auf die dem Opfer zugedachten Folgen ver- weisen.39 Allein die Beschriftung der Bleitafel umfasst neben metaphorischen auch mediale Aspekte. Im Rahmen des Rituals kann die mit Zauberformeln beschriftete Bleitafel folglich als Kommunikationsmittel eingesetzt werden; zugleich steht sie

35 Speziell zur medizinischen Verwendung von Blei vgl. Projektgruppe Plinius 1989, 23–65; 72. 36 Vgl. hierzu Wünsch 1898, 72; Cesano 1910, 1561; Graf 1996, 120; Ogden 1999, 12. Zur bleifahlen Gesichtsfarbe, die nach Aristoteles einen baldigen Tod verheißt, vgl. Plin. nat. 11, 273. 37 Vgl. hierzu Audollent 1904, XLIX; Cesano 1910, 1561; Hopfner 1928, 326f.; 343; Watson 1991, 195 (mit Verweis auf Cod. Vatic. Pal. gr. 141f. 214r.). 38 Vgl. PGM VII 397 („Blei vom Rohr einer Kaltwasserleitung“); 431 („bleierne Platte von einer Kalt- wasserleitung“). 39 Gemäß dem Wesen der Metapher wird dabei ein Konzept mit einem Lexem bezeichnet, „dessen angestammtes Konzept einem ganz anderen Bereich unseres Weltwissens angehört“ (Blank 2001, 75). Hierfür wird eine bestehende Ähnlichkeitsbeziehung genutzt oder über die Metapher erst hergestellt. Zum metaphorischen Denken in der Magie vgl. Tambiah 1968, 189f.: In seinem Erklärungsmodell ersetzt er die von Frazer postulierte irrationale Auffassung von ‚imitativer‘ Magie durch die funda- mentale rationale Kategorie ‚metaphorisch‘; ferner schlüsselt er entsprechend die Vorstellung von ‚kontagiöser‘ Magie als metonymisches Denken auf. Zur Verwendung von Analogien und Metaphern in der Magie vgl. auch Tambiah 1978, bes. 265–294; Bell 1997, 50f.; 64f. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 81

für die abwesende Zielperson.40 Vollzogen werden die Ritualhandlungen aber nicht nur unmittelbar am Textträger, sondern zugleich auch durch den Text, d. h. mittels bestimmter Formeln. Hierbei handelt es sich um sogenannte explizit performative ‚Manipulationsformeln‘,41 wie etwa das „ich binde den XY […]“ aus obigem Zauber- papyrus. Rituelle sprachliche Äußerungen weisen einen spezifischen Handlungswert auf und sind folglich als Äquivalent zu non-verbalen Ritualhandlungen zur verstehen. Die gewünschten Auswirkungen auf das Zielindividuum können ferner auch expressis verbis durch Vergleiche oder Analogien innerhalb eines Wunschsatzes zu einem geeigneten Moment der rituellen Praxis in Bezug gesetzt werden: 42 „Wie dieses Blei nicht auftaucht und untergeht, so soll untergehen seine Jugend, seine Gliedma- ßen, sein Leben […]“ (Quomodo hoc plumbum non paret et decidit, sic decidat aetas, membra, vita […]).43 Durch die Evozierung der Ritualhandlung tritt der „performative“ Aspekt der Formeln in den Vordergrund. Dies trifft insbesondere auf die lateinischen defixiones zu, wohingegen bei zahlreichen griechischen defixiones die Analogie weniger auf den rituellen Operationen basiert als vielmehr auf dem Ritualobjekt Blei- tafel und ihren als negativ wahrgenommenen materialimmanenten Eigenschaften, die auf das Opfer übergehen sollen.44 In der Terminologie von S. J. Tambiah wird dieser Vorgang der Angleichung als „persuasive Analogie“45 bezeichnet, die, im Gegensatz zur empirischen Analogie, nicht die Vorhersage erklärungsbedürftiger oder zukünftiger Gegebenheiten auf der Grundlage beobachtbarer Analogien zum Ziel hat, sondern die Beeinflussung zukünf- tiger Ereignisse in Analogie zu einem vorgegebenen Muster bewirken soll. Die zuge- hörige Ritualhandlung, die sich, wie im Falle der defixiones, aus verbalen und non- verbalen Elementen zusammensetzt, beschreibt S. J. Tambiah mit folgenden Worten:

Die Gegenstände, die manipuliert werden, werden auf der Grundlage von Ähnlichkeit und Differenz auf Analogien hin ausgewählt, um Bedeutung zu transportieren. Von der performativen

40 Ganz deutlich zeigt sich dies in den unbeschrifteten, aber manipulierten Täfelchen, wie sie etwa in einem Brunnen in der Nähe des gallischen Rauranum (Rom) gefunden wurden (DT 109). Hierzu z. B. Preisendanz 1972, 5. Ebenso z. B. die Funde im Amphitheater von Trier, vgl. den Kommentar von Wünsch 1910, 1f., zu dfx 4.1.3⁄1–4.1.3⁄15. Zur Abkürzung dfx vgl. Kropp 2008, das ein elektronisches Corpus der lateinischen defixionum tabellae bereithält, die nach einer eigenen Systematik erfasst und durchnummeriert wurden. 41 Faraone 1991 nennt diesen Typ „direct binding formula“, Karagow 1929 „Beschreibende Formeln“ (T2–T4), die einen „Hinweis […] auf die Handlung des Fluchenden“ (29) enthalten. 42 Der Wunschsatz innerhalb eines Vergleichs erscheint bei Kagarow 1929 als „Vergleichungsfor- meln“ (T17–T18), bei Faraone 1991 als „similia similibus formula“. Zum Handlungsgehalt der Formeln auf den defixionum tabellae vgl. auch Kropp 2008, Kap. A: IV.3. 43 dfx 4.4.1⁄1. 44 Vgl. hierzu z. B. DTA 106 (Nutzlosigkeit); DTA 107 (Kälte). Hierzu auch Graf 1996, 187. 45 Tambiah 1978, bes. 265–294 (Zitat S. 275). Hierzu auch Faraone 1991, 8; Versnel 2002, 122–130; Kropp 2008, Kap. A: III.3. 82 Amina Kropp

Seite her gesehen, besteht die Handlung darin, daß an einem symbolischen Gegenstand etwas durchgeführt wird, wodurch eine kategorische und tatsächliche Übertragung seiner Eigenschaf- ten auf den Empfänger erfolgen soll. Oder anders gesagt: an zwei Gegenständen sieht man Ähn- lichkeiten und Differenzen, und es wird versucht, die wünschenswerte Eigenschaft vom einen auf den anderen, dem sie fehlt, zu übertragen.46

Dies bedeutet nun, dass bei der so beschriebenen persuasiven Analogiebildung „oberflächliche Ähnlichkeiten“47 oder aber eine Vergleichsgrundlage zwischen den jeweiligen Objekten gegeben sein muss, um in einem nächsten Schritt bestehende „Differenzen“ durch die Übertragung der gewünschten Merkmale des einen Ver- gleichsobjekts auf das andere aufzuheben. Für die Analogien in den defixiones ist hingegen entscheidend, dass Ähnlichkeitsbeziehung und Vergleichspunkt in der außersprachlichen Wirklichkeit nicht gegeben sind;48 vielmehr werden diese Zusam- menhänge allein über die rituelle (Sprech)handlung konstituiert, indem der Bleitafel manuell wie sprachlich der Schaden zugefügt wird, der letztlich dem Opfer zugedacht ist. Dementsprechend verweisen die jeweils fokussierten Elemente aus dem rituellen Kontext, Ritualobjekte wie Handlungen, auf die konkreten Folgen der Verwünschung. Auswahl oder Herstellung der Ritualobjekte ist folglich nicht über Beschaffenheit und Aussehen gesteuert, wie etwa im Fall eines bildlichen Substituts, sondern über ihre Funktion im Ritualablauf. Ähnliches gilt auch für die „Manipulationsformeln“: Paral- lel zur non-verbalen rituellen Manipulation wird erst durch die Sprechhandlung die der Metapher zugrundeliegende Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei primär dis- paraten Gegenständen hergestellt. Die Tafel wird dabei semantisch aufgeladen und somit zum Zeichen für das Opfer.

3.3 Die rituelle Gravierung: Mediale und metaphorische Dimension der Verschriftung

Im Rahmen des Rituals wird die Verwünschung in die Schreibunterlage geritzt; die Verschriftung bildet dabei eine zentrale, bisweilen mit der Rezitation gleichlau- fende Ritualhandlung, die eine mediale wie auch eine metaphorische Dimension aufweist:49 Dabei werden mündliche Äußerungen nicht schriftlich imitiert oder nach

46 Tambiah 1978, 288. 47 Ebd., 278. 48 Vgl. Faraone 1991, 10: „The so-called similia similibus formula, which is better understood as a form of ‚persuasive analogy‘ […], in which the binding is accomplished by a wish that the victim be- come similar to something to which he or she is manifestly dissimilar.“ 49 Zur Gleichzeitigkeit von rituellem Sprechen und Schreiben, vgl. Graf 1997, 125. Expliziert z. B. in PGM IV 328–330: „nimm eine Bleiplatte und schreib den gleichen Spruch darauf und sag ihn her“. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 83

Vollzug verschriftet, vielmehr können die sprachlichen Handlungen mündlich wie schriftlich realisiert werden.

3.3.1 Der Textträger als „Unterweltsbrief“

Wie aus dem o.g. Papyrus ersichtlich, kann das defixio-Ritual dem Ausführenden einen Kommunikationsraum mit numinosen Mächten eröffnen. Kontaktaufnahme und Interaktion mit dem Numinosen funktionieren dabei analog zu zwischen- menschlichen Verständigungsprozessen, d. h. mittels Sprache. Der Text- bzw. Schrift- träger dient folglich als Mittel der ‚vertikalen‘50 Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit. Diese kommunikative Funktion wird in den Zaubertexten selbst durch adressatenorientierte Formeln angezeigt. Hierzu zählen etwa Aufforderungen oder Bitten, mittels derer die Gottheiten des Rituals mit der Realisierung des Verwün- schungsinhaltes beauftragt werden: „Ich bitte euch, ihr heiligen Namen, die Men- schen sollen fallen und die Pferde zerschmettert werden“ (Precor vos, sancta nomina, cadant homines et equi frangantur).51 Daneben weisen sie auch charakteristische Merkmale eines schriftlichen Textes auf. Dies zeigt sich z. B. an metasprachlichen Determinanten wie etwa einem textphorischen infrascriptus bzw. suprascriptus ‚unten‘- bzw. ‚obenstehend‘,52 die nur einer schriftlich vermittelten Kommunikation angemessen sind. Diese „Unterweltsbriefe“53 ermöglichen eine anonyme und heim- liche Kontaktaufnahme, bei der die Aufmerksamkeit der angerufenen Gottheit nicht überstrapaziert oder auf den Ausführenden selbst gelenkt wird. Gerade im rituellen Umgang mit katachthonischen und somit als unheilvoll und schadenbringend ein- gestuften Mächten bildet die beschriftete Fluchtafel somit das ideale Kommunika- tionsmedium.54 Durch die Kombination von Rezitation und Verschriftung kann der kommunikative Kontakt zudem über zwei mediale Kanäle aufgenommen und an zwei Kommunikationspartner gerichtet werden: an den unmittelbar in der Ritualsituation

50 Zu den Kommunikationsrichtungen im Rahmen des defixio-Rituals vgl. Graf 1996, 191: „In der ri- tuellen Kommunikation lassen sich zwei Achsen unterscheiden — die horizontale, welche die agie- renden und empfangenden Menschen, und die vertikale, welche die Menschen mit den Göttern als Adressaten des Rituals verbindet.“ 51 dfx 11.2.1⁄11 52 So z. B. in dfx 4.3.1⁄1 und dfx 3.1⁄1. 53 Preisendanz 1972, 7. Ebenso schon Wünsch 1898, 71, demzufolge die schriftliche defixio regelmä- ßig die „Form eines Briefes an die Unterweltsgötter“ aufweist. 54 Hierzu z. B. Scheer (2001, 49, Anm. 88), die Burkerts Meinung aufgreift, der „im Fall der Unter- weltsgottheiten das stille Gebet für üblich [hält]“, um „die Toten und Rachegötter […] nicht auf sich aufmerksam [zu] machen“; hieraus ergibt sich auch, dass man sich der „Anwesenheit der Götter“ (36) nicht sicher sein kann. Zu lautem (religiösem) und leisem (magischem) Beten vgl. z. B. auch Sudhaus 1906; van der Horst 1994; Fyntikoglou u. Voutiras 2005, 165f. 84 Amina Kropp

angerufenen Vermittler und Überbringer sowie an den Adressaten der schriftlichen Botschaft. Der Briefcharakter manifestiert sich auch anhand außertextueller Faktoren wie der Überbringung und Deposition des Täfelchens an Orten, die mit ritualspezifischen Göttern und Dämonen in Verbindung gebracht werden. Ferner kann auch die Außen- seite des Textträgers wie eine Briefhülle aufgemacht sein.55 Ebenso finden sich der Zauberinschrift vorangestellte Dedikationen, die funktionell mit einleitenden Brief- formeln vergleichbar sind.56 Wie bereits angesprochen, kann mit einer schriftvermittelten Kommunikation die raumzeitliche Trennung von Sender und Empfänger einhergehen, die auch eine zeit- nahe Rückfrage, durch die fehlende bzw. ungenaue Angaben ergänzt oder präzisiert werden könnten, ausschließt. Folglich verlangt diese besondere Kommunikationssi- tuation vom Textproduzenten im Vorhinein, sämtliche Kommunikationsinhalte und -ziele klarer zu reflektieren und zu verbalisieren, um ein adäquates Textverständnis von Seiten des Rezipienten sicherzustellen. Dies gilt umso mehr im Rahmen einer rituellen, auf die Interaktion mit numinosen Mächten basierenden Kommunikation: Um eine korrekte Realisierung des Verwünschungsinhaltes sicherzustellen, muss der Text möglichst vollständig und unmissverständlich formuliert sein. Diese Textkon- zeption äußert sich im Rückgriff auf erprobte Formulare und Ritualtexte sowie insbe- sondere auf Formeln, die entweder die Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft des Adressaten erhöhen oder aber für größtmögliche Eindeutigkeit und Vollständig- keit sorgen. Hierzu zählen typischerweise „Anrufungs-“ oder „Beschwörungsfor- meln“, die einer Aufforderung bindenden Charakter verleihen sollen: Die Anrufung, die fast ausnahmslos als Vokativform des Theonyms erscheint, weist den defigens durch die Kenntnis des möglicherweise als exotisch oder geheim geltenden Götter- namens als Fachmann aus; dieses besondere Wissen verleiht ihm nicht nur Autorität, sondern auch Gewalt über den Namensträger. Die Beschwörung hingegen macht sich ein in den göttlichen Hierarchien begründetes Autoritätsgefälle zwischen Schwur- gottheit und beschworener numinoser Macht zunutze. Zur Vermeidung von Fehlaus- legungen oder Versäumnissen auf göttlicher Seite werden etwa längere Aufzählungen eingesetzt, die als typisches „religiös-magisches“ Textmuster gelten.57 Hierzu zählen insbesondere listenartige Kataloge z. B. in Form sogenannter „Glieder-defixiones“,

55 Vgl. hierzu z. B. Ziebarth 1934, 1039, Nr. 20; Preisendanz 1972, 7; 20 (mit Belegen). Zu den „Merkmale[n] der Briefhülle“ vgl. auch Ermert 1979, 111–113 (Zitat S. 111). 56 So z. B. in dfx 2.2.2⁄1. Vgl. hierzu den Kommentar von Corell 1993, 263, der von einer „Analogie zu den Dedikationen“ spricht. 57 Vgl. die umfassende Darstellung bei Gordon 1999b zur Genese von Listen, insbesondere im Zu- sammenhang mit literarischen Modellen, individueller Schreibfähigkeit und öffentlichen Dokumen- ten. Zu Aufzählungen im carmen vgl. Addabo 1991, 15–17; Dangel 1997, die dieses sprachliche Verfah- ren anhand der präliterarischen carmina darlegt. Zu Listen im Zusammenhang mit Fachsprache und Schriftlichkeit vgl. auch Koch 1988, bes. 32–41; Koch 1990 (mit umfassendem Textcorpus). „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 85

d. h. katalogartiger anatomischer Listen, bzw. Aufzählungen von Krankheiten und Schmerzen.58 Der eindeutigen Identifikation des defixus dient regelmäßig der soge- nannte quem-peperit-Ausdruck nach dem Opfernamen, der die Abstammung meist über den „sicheren“ Mutternamen angibt.59 In der Handlungsanweisung per Brief bestätigt sich zugleich der Götteranthropo- morphismus der Antike, der den Göttern einerseits die Fähigkeit zuschreibt, nicht nur ein gesprochenes Gebet hören, sondern es auch geschrieben rezipieren zu können; andererseits spiegeln sich darin auch andere göttliche Eigenschaften: Die adressier- ten Gottheiten „sind nicht allmächtig. Sie sind nicht allwissend. Sie sind nicht von vornherein gnädig und gut. […] Sie sind nicht omnipräsent“;60 vielmehr bedürfen sie der genauen Anleitung durch den Menschen, um tätig werden zu können. Die zuneh- mende Bedeutung der sprachlichen Ausformulierung zeigt sich auch in der Dynamik von den frühesten wortkargen defixiones hin zu den ausführlichen und mitunter redundanten „Unterweltsbriefen“, in denen die Auswirkungen der Verwünschung überaus detailliert dargestellt werden. Hieraus erklärt sich nicht zuletzt der Eindruck einer expliziten und nachdrücklichen Grausamkeit, den gerade die kaiserzeitlichen defixiones, etwa unter Gladiatoren und Wagenlenkern, vermitteln können. Aufgrund der „Zweidimensionalität“61 des Schriftträgers bietet die Verschriftung schließlich gegenüber der alleinigen mündlichen Rezitation die Möglichkeit, den Textträger zusätzlich mit magischen Bildern und Zeichen zu versehen. Da ihre Ver- wendung auf Seiten des Zaubernden exklusive Fachkenntnisse und Expertenwissen suggeriert, dienen sie der Optimierung der rituellen Kommunikationsbedingungen.62 Zu den rekurrenten ‚Zauberworten‘ (voces magicae oder mysticae) zählen die soge- nannten Ephesia grammata, eine Serie von ursprünglich sechs Lautkombinationen (askion, kataskion, lix, tetrax, damnamneus, aision/aisia), denen spätestens seit dem

58 Der Terminus „Glieder-Defixion“ stammt von Preisendanz 1972, 10. Ein typisches Beispiel ist dfx 1.4.2⁄3; vgl. hierzu auch Versnel 1998. 59 In der ausschließlichen Verwendung des Metronyms im Rahmen des quem-peperit-Ausdrucks ist einerseits eine für magische Praktiken typische Umkehrung bestehender sozialer Normen zu sehen, nach denen die Herkunftsangabe einer Person über den Vater zu erfolgen hat. Da jedoch nur die Nen- nung der Mutter völlige Sicherheit über die Abstammung einer Person geben kann, spiegelt sich hier- in andererseits auch das für magische Texte charakteristische Streben nach größtmöglicher Eindeu- tigkeit. Zur matrilinearen Filiation vgl. bereits Wünsch 1898, 64; Audollent 1904, LIf.; Jordan 1985b, 212, Anm. e; Gager 1992, 14; Graf 1996, 116. Versnel 2002, 135f., Anm. 76, geht kurz auf die kontroverse Diskussion ein, ob der matrilinearen Filiation auf den defixiones eine ägyptische Tradition zugrunde liegt. Eine eingehende Analyse des quem-peperit-Ausdrucks und seiner Varianten anhand von dfx 11.3.1⁄1 bietet Jordan 1976. 60 Scheer 2001, 35, die diese Feststellung für die Götter Homers trifft. 61 Raible 2006, 114. 62 Zum speziellen Wortlaut für die Kommunikation mit Göttern und Dämonen vgl. etwa Versnel 2002, 116f. 86 Amina Kropp

4. Jh. v. Chr. magisches Potential zugeschrieben wird.63 In einigen Fällen gehen die voces magicae auf die Kombination der sieben griechischen Vokale αεηιουω zurück, die den sieben Planeten zugeordnet werden; ebenso können ihnen in Buchstaben dargestellte Zahlenspielereien zugrunde liegen (z. B. die Zahl 365 dem Zauberwort Abrasax).64 Nicht immer ist der Ursprung der Buchstabenverbindungen zu rekonstru- ieren, da sich regelmäßig Neubildungen auf der Grundlage von etablierten Modellen wie etwa den Ephesia grammata finden: Vielfach handelt es sich dabei um Gelegen- heitsbildungen auf der Grundlage lautlicher Analogien, für die insbesondere Klangfi- guren wie Reim, Assonanz und Alliteration eine große Rolle spielen. Zunächst sinnlos wirkende Buchstabenverbindungen können referentielle Funktion erhalten, indem sie als Dämonennamen bzw. barbara onomata, d. h. als die fremden Namen exoti- scher großer Götter, interpretiert werden und etwa im Rahmen von Anrufungen und Beschwörungen Verwendung finden: „Καταξιν, der du in Ägypten ein großer Dämon bist […]“ (Καταξιν, qui es in Aegypto magnus daemon […]).65 Diese außergewöhnli- chen Sprachkenntnisse bilden einen wesentlichen Faktor im rituellen Kommunika- tionsprozess, da sie von einer großen Vertrautheit des Zaubernden mit seinen über- menschlichen Kommunikationspartnern zeugen. Schließlich sind die sogenannten charakteres zu nennen, buchstabenähnliche Symbole und Zeichen mit wahrschein- lich astrologischer Bedeutung. Die Tradierung von Zauberworten und -zeichen erfolgt mitunter über entsprechende Anleitungen, die eine rein mechanische Reproduktion ermöglichen. Dies erklärt auch, warum viele Zauberworte unabhängig vom Inhalt des Zaubertextes verwendet werden und sowohl in Schaden- als auch in Schutzzauber- texten begegnen.66 Nicht zuletzt finden sich bisweilen Zeichnungen, die den Inhalt der Tafel bildlich aufnehmen und somit zur Verdopplung oder Hervorhebung des Textinhaltes eingesetzt werden können.67

63 Allgemein zu den Zauberworten u.ä. vgl. Cesano 1910, 1576f.; Kropp 1930, 117–139; Kotansky 1991, 110–112; Graf 1997, 127–132; Ogden 1999, 46–50; Versnel 2002, 112–117 (mit weiterer Literatur). Vgl. auch den Index in PGM III, 243–278 (Reg. XII: „Zauberworte“) und in Suppl. Mag. II, 318–324 (Kap. VII: „gods, daemons […]“) und 325–335 (Kap. VIII: „magical words“); ein umfangreiches Glossar findet sich in Brashear 1993, 3576–3603, ein kleineres in Gager 1992, 265–269. Zum „Alphabetzauber“ vgl. auch Dornseiff 1925; Glück 1987, 210–229; Ogden 1999, 48f. 64 Zu den astrologischen Anleihen vgl. z. B. Cesano 1910, 1577; Versnel 2002, 115. Zu den magischen Zahlen vgl. z. B. auch Seligmann 2, 1910, 259–263. 65 dfx 11.1.1⁄16. Der Dämonenname Καταξιν scheint eine Augenblicksbildung auf der Grundlage des Zauberwortes kataskion zu sein; in den Papyri finden sich hierfür keine Belege. Die Gleichsetzung von Lautkombinationen mit Dämonennamen zeigt auch die Tafel dfx 11.1.1⁄26, in der sie als sancta nomina ‚heilige Namen‘ glossiert werden. Zur Gewinnung der Dämonennamen vgl. z. B. Hopfner 1928, 340f.; Graf 1996, 195–198; Versnel 2002, 115f. (bes. Anm. 33 mit weiterer Literatur). Bisweilen gehen diese Namen auch auf semitische Gottesbezeichnungen zurück, vgl. z. B. die Zusammenstellung in Kropp 1930, 122–127. 66 Zur Präsenz von Zauberzeichen o.ä. auf Amuletten vgl. etwa Bonner 1950, 186–207. 67 Zu den magischen Zeichnungen vgl. z. B. Gager 1992, 6f.; Gordon 2005. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 87

3.3.2 Die Schriftform als Katalysator

Schriftzeichen eröffnen als „‚sekundäre‘ Trägermedien“68 die Möglichkeit, gespro- chene Sprache medial zu transformieren und neue Formen der Kommunikation auszubilden. Dies gilt auch für die Kommunikation mit dem Numinosen im Rahmen eines defixio-Rituals: In seiner schriftlichen und damit stabilen Form verhallt das ephemere gesprochene Wort nicht ungehört, sondern kann den Adressaten noch zu einem späteren Zeitpunkt erreichen. Angesichts der anthropomorphen Gottesvorstel- lungen der Antike, gemäß derer die Gottheiten nicht omnipräsent oder allwissend sind, spielt diese Kommunikationsform eine wichtige Rolle. Durch die Gravierung des Metallplättchens wird nicht nur die Zeugenfunktion auf die Schreibunterlage übertragen, sondern überdies auch die Macht des Wortes, als carmen zunächst nur gesprochen und flüchtig, auf einen Gegenstand gebannt und haltbar gemacht.69 Die physische Existenz des Wortes wird damit noch greifbarer und seine Wirkdauer „ver- ewigt“. Diese unterstützende Funktion der Schrift wird auch in den Anleitungen der Zauberpapyri thematisiert: „Zur Verstärkung der Worte schreib auf Papyrus […].“70 Auch die Wahl des Alphabets kann „magisch“ begründet sein:71 Ein vom Sprach- system abweichendes Schriftsystem dient zunächst der Verrätselung und somit als Strategie zur Steigerung der magischen Potenz. Daneben verbirgt sich hinter der Trans- literation eines Textes in das Alphabet einer anderen, vorzugsweise älteren Sprache die Vorstellung, dass das Wirkpotential einer Äußerung nicht in jeder Sprache gleich groß, sondern an ihren ursprünglichen „Dialekt“ gebunden sei.72 Mit der Übertra- gung in eine andere Sprache würde diese dem ursprünglichen Lautkörper inhärente

68 Raible 2006, 12. 69 Hierzu stellt Rüpke 2001a, 30, fest, dass bei Ritualvollzug ohne Öffentlichkeitscharakter Verschrif- tungen „besonders ausgeprägt“ sind. Ebenso Graf 1996, 190f.; Graf 1997, 125–126. 70 PGM XXXVI 167f. Zu dieser Vorstellung von Schrift vgl. z. B. Huvelin 1901, 23 (mit zahlreichen Belegen); Hopfner 1938, 131f.; Graf 1997, 125. Zur magischen Bedeutung der Schrift vgl. auch Glück 1987, 203–217; 228. 71 Vgl. hierzu bes. die Ausführungen von Pocetti 2002, 37–57. 72 So die Aussage des christlichen Philosophen Origenes (c. Cels. 5,45): „Namen/Wörter, deren Be- schaffenheit es ist, in einer bestimmten Sprache wirksam zu sein, die in einen anderen Dialekt über- führt werden, bringen nichts mehr zustande, wie sie es mit den ursprünglichen Lauten zustande ge- bracht haben.“ Hierzu z. B. Gager 1992, 34, Anm. 42; Graf 1996, 70f.; 195–197; Gordon 1999a, 242f. In stoischer Tradition argumentiert Origenes (c. Cels. 1,24), dass sich die verschiedenen Bezeichnungen schließlich naturgegeben (φύσει) und nicht aufgrund von Übereinkunft (θέσει) ausgebildet hätten und folglich bei Zauberworten und insbesondere bei Götternamen keine arbiträre Beziehung von signifiant und signifié vorliege. Die Vorstellung von der Wirksamkeit der Originalsprache, die durch Übersetzung zerstört wird, findet sich auch in anderen Glaubenssystemen wieder, vgl. z. B. Tambiah 1968, 180f. Zur Bedeutung der Schrift im rituellen Kontext vgl. z. B. auch die Zusammenfassungen bei Susini 1982, 143–149; ebenso Glück 1987, 205f.; Hartung 1993. Zum charakter switching vgl. Adams 2003, 46. 88 Amina Kropp

Macht des Wortes vernichtet. Als sekundär mediatisierender Vorgang eröffnet die Verschriftung die Möglichkeit, eine ältere und damit prestigereichere Sprache zumin- dest in Form ihrer Grapheme beizubehalten und mit dem äußeren Anstrich auch die zugehörigen magischen Qualitäten zu konservieren. Die Bedeutung graphischer Kodierungsvorgänge zeigt sich insbesondere in mehrsprachigen Regionen wie Nord- afrika, wo lateinischsprachige defixiones verschiedentlich in griechischen charakte- res verschriftet wurden.73 Bei der rituellen Verschriftung kann auch der Schriftrichtung eine große Bedeu- tung zukommen. Tatsächlich verläuft sie auf den defixionum tabellae nicht immer „normal“, d. h. rechtsläufig, sondern bisweilen bustrophedon, retrograd oder von unten nach oben.74 Die Ausrichtung der Buchstaben kann ebenfalls vom gewöhnli- chen Schreibstil abweichen: Neben Texten in Spiegelschrift begegnen kopfstehende Varianten. Auch Anagramme und ausgefallene Buchstabenanordnungen, wie etwa Spiralen oder Schlangenlinien dokumentieren diese magische Schriftpraxis. Dass dies nicht allein der offensichtlichen Kryptifizierung der Texte dient,75 zeigt wiede- rum ein Blick in die Zaubertexte: So wird in einer defixio eine Analogie zwischen der um- bzw. abgekehrten Schriftrichtung und dem Schicksal der verwünschten Person hergestellt: ‚[…] dass jenen oder jene die Götter (vom Leben) abgewandt machen, so wie dies abgewandt (= retrograd) ist‘ ([…] ut illum aut illam aversum faciant dii sicut hoc est aversum).76 Die Metaphorik des Rituals, durch welche die konkrete Ritualsitu- ation mit dem Opfer in Bezug gesetzt wird, impliziert dabei die parallele Aktivierung einer zweiten semantischen Ebene desselben Lexems; demgemäß ist das Partizip aversum ‚abgewandt‘ zugleich auch im übertragenen Sinne (von ‚tot‘) zu verstehen.

3.3.3 Das Niederschreiben des Opfernamens: Identifikation und „Fixierung“

Wie bereits anhand des oben vorgestellten Zauberrezepts ersichtlich, stellt die Ver- schriftung des Opfernamens ein zentrales Element der Ritualhandlung dar. Die namentliche Nennung dient zunächst der Identifizierung des Zielindividuums, wobei

73 So z. B. in den griechisch-lateinischen defixiones dfx 11.1.1⁄27 und 11.1.1⁄28. Auf der Tafel dfx 11.1.1⁄28 korrespondieren Sprache und Alphabet, so dass sich der Text als Sprach- und Schriftmi- schung präsentiert; in dfx 11.1.1⁄27 hingegen ist auch der lateinischsprachige Text in griechischen charakteres verschriftet, wodurch der Prozess der Umschrift direkt nachvollziehbar wird. 74 Vgl. Tomlin 2004, 26f. 75 Ein besonders anschauliches Beispiel stellt der Diskus dfx 2.1.2⁄1 dar, der kreisförmig beschrieben ist. Vgl. den Kommentar von Curbera u. a. 1999 mit Angaben der entsprechenden Anleitungen in den Zauberpapyri. Zur Bedeutung des Schriftverlaufs vgl. z. B. Ogden 1999, 29f. 76 dfx 5.1.7⁄1: Die letzten Buchstaben des Adjektivs aversum ‚abgewandt‘ stehen zusätzlich auf dem Kopf. Hierzu z. B. Faraone u. Kropp 2010. Vgl. auch dfx 6.1⁄1 (inversum). Zur „Analogieformel“ vgl. auch Kropp 2008, Kap. A: IV.4.2.6. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 89

Vollständigkeit und Eindeutigkeit durch verschiedene sprachliche Verfahren, wie z. B. den quem-peperit-Ausdruck sichergestellt werden können. Die besondere Bedeu- tung des Namens zeigt sich auch daran, dass er mitunter das einzige Element der Zauberinschrift bilden kann; dies trifft zwar vergleichsweise häufig auf die frühen und einfachen defixiones zu, bleibt aber bis zu den letzten Zeugnissen der Ritualform nachweisbar.77 Zugleich kann die Anbringung von Schrift auf der Bleilamelle als Metapher für die Einwirkungen auf das Opfer verstanden werden, wodurch die manuelle Ritual- handlung gegenüber der verbalen Interaktion in den Vordergrund tritt: Aufgrund der „magischen“ Verbindung zwischen Name und Namensträger wird mit dem Nieder- schreiben des Namens die „Fixierung“ der Zielperson auch unmittelbar auf materi- eller Ebene vollzogen.78 Möglicherweise liegt dieselbe Vorstellung auch denjenigen Zauberinschriften zugrunde, die allein aus dem Namen des Opfers bestehen. Mit der Verschriftung korrespondiert auf Textebene die explizit performative Formel ‚hiermit schreibe ich nieder‘ (describo), die sich allerdings nur auf einem einzigen lateini- schen Täfelchen findet.79

3.4 Die rituellen Praktiken am Textträger als Metapher für die Zauberwirkung

Wie bereits einleitend dargestellt, sind neben der Beschriftung auch die Bindung bzw. Durchbohrung und die Ablage der Bleitafel als metaphorische Handlungen zu verstehen, die auf die dem Opfer zugedachten Folgen verweisen. In diesem Fall fun- giert die Bleitafel primär als Zeichen für das Zielindividuum.

77 Hierzu z. B. Audollent 1904, L; XCI–XCII. Vgl. auch López Jimeno 1991, 217, zu den griechischen Tafeln: „Puesto que la inmensa mayoría de la tablillas contienen únicamente los nombres de las vícti- mas, con o sin verbo, resulta imposible saber por qué ha sido escrita y, por consiguiente, no podemos precisar el tipo de texto.“ Ebenso Kagarow 1929, 27f.; Faraone 1991, 10; Ogden 1999, 6–10. Ein spätes lateinischsprachiges Beispiel (4. Jh. n. Chr.) ist eine Trierer defixio (dfx 4.1.3⁄6), die nur die Personen- namen Ursus, Ursula, Martinianus, Ursacia enthält. 78 Zur weitverbreiteten Vorstellung des „bannenden Schriftzaubers“ vgl. Tiemann 1938/1941, bes. 361f. (Zitat S. 361). Zur Verbindung von Name und Namensträger vgl. z. B. Wünsch 1897, IV; Hopfner 1928, 334–343.; Cassirer 1925, 40–46; Kagarow 1929, 48f.; Petersmann 2002a, 67f. (mit umfangreicher Literatur); Petersmann 2002b. 79 Die Verbform describo, die exakte lateinische Entsprechung zu καταγράφω, erscheint nur in dfx 1.4.2⁄2, parallel zu defigo (‚ich durchbohre‘) und ohne Hinweis auf eine Gottheit. Das Verbum de- scribere besitzt jedoch, anders als das griechischen Pendant, keine juristische Bedeutungskompo- nente. Das Repertoire der griechischen Fluchtafeln ist hier reichhaltiger, vgl. z. B. Faraone 1991, 5f.; 24, Anm. 20; Pocetti 1995, 269f.; Graf 1996, 114; Ogden 1999, 26f. (mit zahlreichen bibliographischen Angaben). In dfx 5.1.5⁄12 wird depono (aversum) synonym zu describo verwendet. 90 Amina Kropp

3.4.1 Die Manipulation der Fluchtafel: Bezwingung und Unschädlichmachung

„Stich ein an den Zauberzeichen mit dem Schreibrohr und vollziehe die Bindung mit den Worten: ‚Ich binde den XY […]‘“, so lautet die Anweisung aus oben vorgestelltem Zauberpapyrus. Diese Manipulationsart ist gegenüber der rituellen Bindung bei den lateinischen defixiones am häufigsten anzutreffen.80 Im archaischen Rom ist das Ein- treiben von spitzen Gegenständen nicht auf den Schadenzauber beschränkt, sondern wird auch gegen Unheil und Gefahr eingesetzt: Das Einschlagen von Nägeln dient etwa der „Festbannung“ von Seuchen.81 Vergleichbar ist die Vorstellung, eine Krank- heit durch ihre „Defigierung“ bezwingen zu können, wie etwa in einem Rezept zur Heilung epileptischer Anfälle, das durch Plinius d. Ä. überliefert ist.82 Wie an dem Zauberrezept ebenfalls ersichtlich, erfolgt die Transposition auf die Textebene durch explizit performative Formeln wie ‚hiermit binde ich fest‘ (καταδῶ bzw. ligo und seine Derivata);83 in den lateinischen defixiones begegnet regelmäßig auch ‚hiermit hefte ich fest‘ bzw. ‚hiermit durchbohre ich‘ (defigo).84 So soll etwa in nachfolgender Zauberinschrift, die auch Spuren einer Durchbohrung aufweist, die gesamte Existenz der Zielperson mittels einer „Glieder-defixio“ „durchbohrt“, d. h.

80 Aufgrund des archäologischen Befundes kann nicht klar entschieden werden, ob diejenigen Tä- felchen, die keine Nagelspuren o.ä. aufweisen, mit organischen Materialien festgebunden wurden, so wie es auch in einigen Zauberanleitungen gefordert wird (z. B. PGM V 344; VII 452f.). Hierzu stellt bereits Münsterberg 1905, 724, in seiner Rezension der Defixionum Tabellae fest, dass es sich bei der metaphorischen Umwicklung der Bleitafel wohl nicht um einen alten Brauch gehandelt haben kann. Dieser Behauptung steht aber die wahrscheinlich älteste lateinischsprachige defixio aus Pompeji (dfx 1.5.4⁄1) entgegen. Dabei handelt es sich ein von einem Bleiband zusammengehaltenes Diptychon. Ob- wohl die Verbrennung der Tafel als rituelle Manipulation regelmäßig in den Zauberbüchern oder in literarischen Texten begegnet, stellt sie in der Praxis wohl eher die Ausnahme dar. Belegbar ist dieser Vorgang etwa bei dfx 8.2⁄1: Diese Tafel befand sich in den Ruinen eines Hauses und wurde folglich auch nicht an einem typisch magischen Ort niedergelegt. Für das Mater-Magna-Heiligtum in Mainz zeichnet sich allerdings eine Häufung dieser Manipulationsart ab, vgl. hierzu Witteyer 2004, bes. 49. 81 Zum Einschlagen eines Nagels in die Cella Iovis, das mit der Bannung der Pest in Verbindung steht, vgl. Liv. 7,3,3. Zur Funktion des Saecularnagels vgl. Wissowa 1912, 126; 288; 430; Latte 1960, 154; Flach 1994, 45–49. Im Zusammenhang mit dem Schadenzauber vgl. auch Blümner 1899b, 482; Kuhnert 1901, 2374f.; Cesano 1910, 1558; 1562; Preisendanz 1972, 19. 82 Vgl. Plin. nat. 28,63. 83 Das Verb deligare, das dem griechischen καταδεῖν entspricht, ist äußerst selten. Zu den grie- chischen Verben vgl. z. B. Faraone 1991, 24f., Anm. 24, der in Anlehnung an Kagarow 1929, 25–28, die Semantik der griechischen Verben als „literal binding“ bezeichnet. Dabei handelt es sich vor- wiegend um Derivata von δεῖν bzw. δεσμεύειν ‚binden‘, wie z. B. ἐπιδεῖν ‚anbinden‘, καταδεῖν bzw. καταδεσμεύειν ‚festbinden‘, συνδεῖν ‚zusammenbinden‘. Daneben begegnen auch andere Hand- lungsverben wie etwa πεδᾶν bzw. καταπεδᾶν ‚fesseln‘. Hierzu z. B. Wünsch 1900, 239; Pocetti 1995, 267f., der den Handlungsverben allerdings den performativen Charakter abspricht; Graf 1996, 114; Ogden 1999, 26f. (mit zahlreichen bibliographischen Angaben). 84 Das Verb defigere wird insgesamt auf 16 Täfelchen verwendet. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 91

das Opfer in seiner Gesamtheit erfasst werden: „Malchio, Sohn des Nico: Seine Augen, Hände, Finger, […] Glied, Unterschenkel, Gewinn, Vorteil, Gesundheit durchbohre ich auf diesen Täfelchen“ (Malchio Niconis: oculos, manus, digitos, […] mentulam, crus, quaestum, lucrum, valetudines defigo in his tabellis).85 In einem anderen Beispiel findet sich eine für die Prozess-defixio typische ‚Zungenbindung‘, deren intendierte Wirkung durch den Nachsatz expliziert wird: „[…] ich binde ihre Zungen, ich binde sie (fest) […], damit sie nichts erwidern können“ ([…] ligo, obligo linguas illorum […], ne quid possint respondere contra).86 Dass es sich bei besagten verba defigendi um die zentrale Verben der Zauberfor- meln handelt, lässt sich besonders gut an der zugehörigen Terminologie für die magi- sche Praxis erkennen: Das griechische Substantiv κατάδεσμος, wörtlich ‚Fest‘-, ‚Hin- abbindung‘, etwa von Platon verwendet, kann als zeitgenössische Bezeichnung der magischen Praxis gelten.87 In der Literatur findet sich die Wortfamilie um κατάδεσμος auch mit der allgemeinen Bedeutung ‚Verzauberung‘, ‚Verwünschung‘. Nicht vor dem 6. Jh, n. Chr. belegt ist hingegen der in der Forschungsliteratur geläufige Terminus technicus, das lateinische defixio.88 In den Glossen des Philoxenos wird defixio als Überbegriff für verschiedene magische Praktiken ausgewiesen;89 gestützt wird diese Semantik etwa durch die pseudo-paulinischen Sentenzen aus dem 3. Jahrhundert.90 Ob es sich dabei tatsächlich um eine genuin selbstreferentielle Bezeichnung handelt, ist aufgrund der Quellenlage jedoch nicht zu entscheiden. Ferner erscheint das Verb defigere auch außerhalb von Zauberformularen und -inschriften, z. B. in der kaiser- zeitlichen Literatur, wo es vielfach im übertragenen Sinne von ‚verwünschen‘ verwen- det wird.91

85 dfx 1.4.2⁄3. 86 dfx 11.1.1⁄5. 87 Plat. rep. 364C; vgl. hierzu auch Preisendanz 1972, 1–3. 88 Vgl. ThlL 5.1, 356, 82f. 89 defixiones: νεκυομαντίαι, κατάδεσμος ‚Totenbeschwörungen‘, ‚Bindezauber‘ (Glossaria Latina II, 166, Nr. 169), vgl. z. B. Kuhnert 1901, 2377; Önnerfors 1993, 159, Anm. 6. Zur Bewertung dieser recht umstrittenen Quelle vgl. Ogden 1999, 5 (mit Verweis auf LSJ s.v., ii.40). 90 Vgl. Paul.sent. 5,23,15: qui sacra impia nocturnave, ut quem obcantarent defigerent obligarent, fecer- int faciendave curaverint, aut cruci affiguntur aut bestiis obiciuntur ‚Wer frevlerische nächtliche Opfer durchführt oder durchführen läßt, um jemanden zu verhexen, zu binden, zu verzaubern, soll ans Kreuz geschlagen oder den Zirkustieren vorgeworfen werden‘ (Übersetzung nach Graf 1996, 226, Anm. 124). Zu den pseudopaulinischen Sentenzen sehr ausführlich Liebs 1993, 28–109; ders. 1997. Vgl. eben- so Rives 2003, 328–334; Lotz 2005, 78. 91 Einen ersten Eindruck vermittelt ThlL 5.1, 342, 31–44. 92 Amina Kropp

3.4.2 Die rituelle Deposition der Tafel: Übergabe und Angleichung

„Dann trag [das Bleitäfelchen] weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen …“. Um die bannende Kraft des so manipulierten Schrifttäfelchens wirksam werden zu lassen muss es an einen geeigneten Ort getragen und dort verborgen werden. Die Deposi- tion der Fluchtafel stellt dabei einen polyvalenten Vorgang dar: Wie bereits gesagt, dient sie zum einen die Übermittlung eines „Unterweltsbriefes“ an die Gottheiten des Rituals; in diesem Fall fungiert die Tafel als Kommunikationsmittel, das an einem geeigneten Ort dem Adressaten der Botschaft zugänglich gemacht werden muss. In metaphorischem Sinne steht die Ablage des Textträgers überdies für die Übergabe des Opfers an übernatürliche Mächte. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Vorgang bei einigen griechischen Täfelchen, die dem im Grab liegenden Toten in die Hand gelegt wurden.92 Die Übergabe des Textträgers kann folglich einem non-verbalen Auftrag an eine numinose Macht entsprechen, sich des Opfers anzunehmen und die Verwünschung zu realisieren. Wie o.g. Ausschnitt aus PGM V 304–369 zeigt, kann die Übergabe auch sprachlich mittels entsprechender ‚Übergabeformeln‘ erfolgen: „Totendämon, wer du auch bist, ich übergebe dir den XY“. Derselbe Formeltyp ist auch auf den lateinischen defixio- num tabellae nachweisbar: „Ihr Unterweltsgötter, ich überantworte […] und übergebe euch Tychene, die Tochter des Charisius“ (Dii inferi, vobis commendo […] ac trado Tychenem Charisii).93 Zu den performativ verwendeten Verben zählen z. B. dare bzw. donare ‚geben‘, mandare ‚übergeben‘ samt entsprechender Präfixableitungen sowie tradere ‚überantworten‘ oder auch (de)vovere ‚(hinab)weihen‘ und desacrificare ‚hinabopfern‘.94 Analog zu Verschriftung, Bindung bzw. Durchbohrung steht der Ablagegestus ferner auch für den Angriff auf das Opfer. Im Gegensatz zur Manipulation wird damit zugleich eine Verbindung zu bestimmten Gegebenheiten des Ablageorts konstituiert; Analogieträger und Tertium comparationis können dabei je nach situativem Kontext variieren. So impliziert die Deposition des Täfelchens in einem Grab neben der Über- gabe auch die Angleichung der Zielperson an den darin befindlichen Toten und somit ihre „Grablegung“.95 Dieser Doppeldeutigkeit tragen ‚Übergabeformeln‘ wie z. B.

92 Vgl. hierzu z. B. Ogden 1999, 16 mit Verweis auf Jordan 1985a, Nr. 1; 2. 93 dfx 1.4.1⁄1. 94 Die Verben wie auch die explizit performative Realisierungsform sind nicht auf die defixiones be- schränkt, sondern begegnen auch in juristischen Dokumenten: Zu donatio als juristischem Terminus technicus vgl. z. B. Kaser 1977, 42; 190–192; zu mandatum 183–187. Ferner klingen auch Bezüge zu an- deren rituellen Handlungen (z. B. der devotio) an. Vgl. hierzu auch Kropp 2008, 147f. Zur besonderen Semantik der mit de- präfigierten Verben vgl. ebd., Kap. B: II.6.3.2. 95 Bei dfx 1.4.4⁄13 erfolgt die die Gleichsetzung zwischen Totem und Opfer nicht durch die Ablage der Tafel, sondern explizit mittels der Inschrift: „Wie diese Seele, die darinnen eingeschlossen ist, festgehalten und eingeengt wird und weder Licht noch irgendetwas sieht und keine Labung erhält, so mögen die Seele, die Geisteskräfte, der Körper des Collecticius, den Agnella gebar, festgehalten wer- „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 93

„den Eusebius (habe ich) niedergelegt“ (depositum Eusebium)96 Rechnung: Einer- seits begegnet das Derivatum ‚niederlegen‘ (deponere) nach den Rechtsquellen als Terminus technicus für die Bezeichnung der Hinterlegung (depositio) bzw. Verwah- rung (depositum) eines beweglichen Gegenstandes in die Obhut eines Verwahrers.97 Andererseits bezeichnet ‚niederlegen‘ (deponere) zugleich den antiken Umgang mit dem Sterbenden, geht eine Bedeutungskomponente des Partizip Perfekt doch auf den Usus zurück, den Todkranken zum Sterben vom Bett auf die Erde zu deponieren.98 Neben Gräbern kommen für die Gleichsetzung des Opfers mit einem Toten auch Orte in Frage, die nur einer kurzzeitigen Aufbewahrung dienen, wie etwa die Leichenkam- mern von Amphitheatern. Explizit werden aktuelle Ritualhandlung und intendierte Auswirkungen auf das Opfer wiederum durch Vergleiche oder Analogien zueinander in Bezug gesetzt: „So wie das Blei hinabfällt, so sende ich Sinto und Martialis […] zu den Unterirdischen hinab, gleichsam wie Unterirdische“ (Sic quomodo plumbum subsidit, sic Sintonem et Martialem […] defero ad inferos tamquam inferos).99 Die Richtungsangabe „zu den Unterirdischen“ (ad inferos) stellt dabei Kontakt wie auch Bezug zwischen Opfer und Unterwelt her.100 Diese Doppeldeutigkeit wird durch die Vervollständigung des

den, brennen, völlig vergehen […]“ (Quomodo haec anima intus inclusa tenetur et angustatur et non videt neque lumen neque aliquem, refrigerium non habet, sicut anima, mentes, corpus Collecticii, quem peperit Agnella teneatur, ardeat, detabescat […]). 96 dfx 4.1.3⁄9. Vergleichbar auch dfx 4.1.3⁄10: „Der Name der Prissia ist niedergelegt“ (Prissiae nomen depositum). 97 Vgl. Leonhard 1903; Kaser 1977, 163f.; 211. Hierzu auch der Kommentar von Wünsch 1910, 9, zu dfx 4.1.3⁄9 (mit Hinweis auf einen griechischen Paralleltext). 98 Vgl. hierzu ThlL 5.1, 583, 74–584, 11. 99 dfx 5.1.4⁄5. Hierzu ist anzumerken, dass Wünsch (CIL 13, 2, 1, 7554) ohne Begründung eine Umstel- lung des Textes vornimmt, indem er das ‚gleichsam wie die Verstorbenen‘ (tamquam inferos) aus der letzten Zeile nach oben versetzt. Die ursprüngliche Lesung des Abschnitts lautet folgendermaßen: „Ich sende Sinto und den Rechtsbeistand dieses Sinto den Unterirdischen hinab. […] So möge es [d. h. das Blei] ihn [d. h. Sinto] mit sich nach unten nehmen, damit er nicht [vor Gericht] erscheint, gleich- sam wie die Verstorbenen“ (Sintonem et adiutorium eius Sintonis defero ad inferos. […] Sic desumat non parentem tamquam inferos). Hinabsendung und Gleichsetzung sind auch im Originalwortlaut parallel. Ähnliche Vergleiche finden sich auch in den Zauberpapyri, z. B. PGM X 36–41: „Nimm eine bleierne Tafel […], schreib die untenstehenden Namen auf sie […]. Sprich, wenn das Blatt […] in deine rechte Sandale gelegt wird: ‚Wie diese heiligen Namen getreten werden, so sei auch der NN (nach Belieben), der Bedränger (niedergehalten)‘.“ 100 In einer griechischen Liebes-defixio findet sich eine vergleichbar doppeldeutige Richtungsan- gabe, die sowohl den Empfänger des Übergabeobjekts als auch das gewünschte Resultat bezeichnet: „Ich binde Theodora hinab zu der an Persephones Seite [d. h. Hekate] und zu den Erfolglosen: Erfolg- los möge sie selbst sein […]“ (DT 68); anders als die Unterweltsgöttin Hekate sind die „erfolglosen“ Toten aber nicht nur Empfänger, sondern auch Bezugspunkt. Der Zustand der Zielperson soll folglich mit deren Lage konvergieren, indem das negative Hauptmerkmal, die Erfolglosigkeit, auf sie über- geht. Mit dieser Formel wird also letztlich derselbe Bezug hergestellt wie mit der expliziten „Analogie- formel“: Herstellung des Kontaktes und Parallelisierung zwischen Opfer und Unterwelt. 94 Amina Kropp

Vergleichs (tamquam inferos) unterstrichen. Der Vergleich mit den Toten stellt aber nicht zwingend einen Tötungswunsch dar, sondern kann sich etwa auf die Negation grundlegender menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften beziehen, wie ein weite- rer Text zeigt: „Wie der Tote, der hier begraben ist, weder sprechen noch reden kann, so soll auch Rhodine bei Marcus Licinius Faustus tot sein und weder reden noch sprechen können“ (Quomodo mortuus qui istic sepultus est nec loqui nec sermonari potest, sic Rhodine apud Marcum Licinium Faustum mortua sit nec loqui nec sermo- nari possit).101 Einen gleichwertigen Analogiekontext bieten Brunnen, Thermen und andere Wasservorkommen. Das Versenken der Tafel kann dabei auf den Niedergang des Besitzes der Zielperson verweisen, wie bereits erwähnte defixio dokumentieren kann, die tatsächlich aus einem Brunnen stammt: „Wie dieses Blei nicht auftaucht und untergeht, so soll untergehen seine Jugend, seine Gliedmaßen, sein Leben […]“ (Quomodo hoc plumbum non paret et decidit, sic decidat aetas, membra, vita […]).102 Die mehrdeutige rituelle Ablage des Textträgers wird folglich erst durch die verbalen Ritualelemente vollständig und eindeutig.

4 Das Wechselspiel zwischen Textträger und Text

Wie oben ausgeführt, kann das defixio-Ritual einen Kommunikationsraum mit numinosen, meist unterirdischen Mächten eröffnen, die in schriftlicher Form zur Umsetzung der Verwünschung aufgefordert werden. Die beschriftete Bleitafel stellt somit einen ‚Unterweltsbrief‘ dar, der die Handlungsanweisung „von unten nach ganz unten“103 vermittelt. Aufgrund der semantischen Vielschichtigkeit der rituellen Handlungen besitzt die Bleitafel als Text- und Schriftträger weit mehr als nur mediale Funktion. Als Objekt verschiedener metaphorisch zu verstehender Ritualhandlungen wie der Beschriftung, Durchbohrung und Deposition dient sie überdies als Zeichen für das Opfer der Verwünschung. Dabei ist das defixio-Ritual in hohem Maße auf die Bleitafel als Ritualobjekt und Textträger abgestimmt. So ermöglicht Blei aufgrund seiner flexiblen Beschaffen- heit die Ausführung unterschiedlicher ritueller Operationen, zugleich wird die Ver- wünschung auf der Bleitafel in einen dauerhaften Zustand überführt. Nicht zuletzt können die materialimmanenten Eigenschaften von Blei in Bezug zum Opfer gesetzt werden. Das besondere Wechselspiel von Ritualhandlung, Textträger und Zauberin- schrift zeigt sich wiederum daran, dass typische rituelle Praktiken wie etwa die Mani- pulation oder die Ablage des Textträgers mit wiederkehrenden Textelementen kor-

101 dfx 1.4.4⁄3. 102 dfx 4.4.1⁄1. 103 Brodersen 2001a, 68. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 95

respondieren, d. h. die am Textträger vollzogene Handlung vielfach auf Textebene transponiert wird. Damit stellt die verbale Realisierung eine Doppelung der non- verbalen Handlung dar. Im Verhältnis zur rein manuellen Ritualhandlung ermöglich die sprachliche Umsetzung dabei Eindeutigkeit und Vollständigkeit des rituellen Vorgangs, was sich insbesondere im Verhältnis von Ablagegestus und ‚Übergabefor- mel‘ zeigt. Überdies hat die Schriftform im Vergleich zur rein mündlichen Rezitation verstärkende Wirkung, da sie dem gesprochenen Wort nicht nur eine feste physische Form verleiht, sondern darüber hinausgehende Elemente wie z. B. Zauberzeichen und Zeichnungen umfassen kann. In ihrer doppelten Rolle als Ritualobjekt und Text- träger fungiert die Bleitafel folglich als Katalysator für die Performativität des Rituals. Material und Handhabung des Textträgers haben jedoch nicht nur Einfluss auf Ritu- alstruktur und Textkonstitution; vielmehr bringt die rituelle Anbringung von Text gegenüber vergleichbaren schriftlosen Ritualen, die lediglich die manuelle Operation des Bindens oder Durchbohrens aufweisen, bestimmte auf die defixiones beschränkte Textelemente erst hervor. Dies hängt mit der Besonderheit der rituellen Verschriftung zusammen, die neben einer ‚normalen‘ medialen auch eine metaphorische Dimen- sion aufweist. Die Metaphorik der Schreibhandlung zeigt sich explizit an Analogien, die einen ungewöhnlichen Schriftverlauf (aversum ‚rückläufig‘) in Bezug zum Opfer (aversum ‚tot‘) setzen. In besonderen Maße trifft dies aber auf performativ verwen- dete Verben des Schreibens zu, wie das einmalig belegte „hiermit schreibe ich nieder“ (describo), das den üblichen ‚Manipulationsformeln‘ ligo oder defigo nachempfunden ist. Mit Verben wie ‚niederschreiben‘ oder auch ‚durchbohren‘ (defigere) und ‚festbin- den‘ (ligare) wird eine konkrete, physische Handlung bezeichnet, deren Objekt, nach Handlungsvollzug, im Vergleich zu seinem Anfangszustand grundlegend verändert ist. Angesichts der ‚Performativität‘ dieser ‚Manipulationsformeln‘ wird die Ritual- handlung nicht nur am Textträger, sondern zugleich auch verbal mittels des darauf eingravierten Textes ausgeführt. Mit den Worten von C. A. Faraone lässt sich dieser Formeltyp beschreiben als „a performative utterance, that is, a form of incantation by which the defigens hopes to manipulate his victim in an automatic way“.104 Dies bedeu- tet, dass der defigens die Handlung vollzieht, die das performative Verb bezeichnet. Im Gegensatz zu denjenigen Formeln, die einen göttlichen Interaktionspartner erken- nen lassen, wie etwa Anrufungen, Aufforderungen oder auch die „Übergabeformel“, findet die verbal realisierte Manipulation des Zielindividuums ohne Zwischenschal- tung eines numinosen Adressaten oder Empfängers statt. Diese Texte sind folglich nicht zur Rezeption durch Gottheiten und Dämonen bestimmt, vielmehr sollen die Verwünschungen selbst unmittelbar die Beeinträchtigung oder Nötigung des anvi- sierten Opfers bewirken. An die Stelle eines numinosen Kommunikationspartners, der mit der Erfüllung der Verwünschung beauftragt wird, tritt die Vorstellung einer

104 Faraone 1991, 10. 96 Amina Kropp

‚mechanischen‘ bzw. ‚automatischen‘ Wirkweise der verbalen und non-verbalen Ritu- alelemente: „Handlungen und Worte werden als Werkzeuge gedacht.“105 Dieser Glaube an die Selbstwirksamkeit des menschlichen Wortes, der durch- aus mit der Furcht vor dem ‚bösen Blick‘ (fascinum) vergleichbar ist, kann erklären, warum eine Verwünschung nicht ausschließlich dann wirksam wird, wenn numinose Mächte einer menschlichen Bitte Folge leisten; vielmehr kann magisches Sprechen aufgrund der dem menschlichen Wort inhärenten Macht götterlos und automatisch wirksam gedacht sein. Mit anderen Worten:

Beim Zauberspruch kann man wie überhaupt beim Zauber zwei Arten unterscheiden: entweder verfügt der Mensch selbst über die wunderbare Kraft, mit der er das Gewünschte erreichen kann, d. h. seine eigene magische Kraft erwirkt unmittelbar, was [er] will, oder der Mensch zwingt durch seine Macht irgend ein dämonisches Wesen oder einen Gott, das Erstrebte auszuführen, er erreicht also durch Vermittlung und den Dienst einer außer ihm stehenden Macht das Gewollte. Beim Zauberspruch sind beide Fälle möglich, beim Gebet nur der letztere.106

Der „einfache götterlose Zauberspruch“107 wie die „Ein-Verb-Formel“ vom Typ ‚ich binde fest‘ bzw. ‚ich durchbohre‘ (καταδῶ bzw. defigo) kann als Urform der Verwün- schung gelten.108 Ab der Kaiserzeit weisen die Täfelchen eine zunehmend detaillierte und durchdachte Komposition auf, was auch anhand von Formelinventar, Zauber- worten bzw. Dämonennamen sowie aufwendiger optischer Ausgestaltung greifbar wird. Das Verhältnis der späteren Zauberinschriften verschiebt sich dabei zugunsten adressatenorientierter Texte, woran sich zeigt, dass die Kommunikation zwischen defigens und übermenschlichen Mächten gegenüber dem als selbstwirksam gedach- ten Wort zunehmend an Bedeutung gewinnt.109 Dies hat auch auch die funktionelle Spezialisierung des Schrift- und Textträgers als Mittel der Kommunikation mit Göttern und Dämonen zu Folge. Damit einher geht wiederum eine stärkere Gewichtung der

105 Björck 1938, 35, Anm. 1. 106 Pfister 1922, 2154. 107 Björck 1938, 117. 108 Vgl. z. B. López Jimeno 1991, 211: „Las más antiguas carecen por completo de dedicatorias o peticiones a los dioses, lo cual parece apuntar a una incorporación posterior de este elemento religioso a la tradición y rituales mágicos.“ Auffällig ist z. B. López Jimeno 1991, 72–79, Nr. 10. Dabei handelt es sich um eine relativ ausführliche Tafel aus Selinunt, die neben Namen und Verbform auch die Angabe der angewünschten Folgen und eine Aufzählung der Körperteile, aber keinen Hinweis auf eine Gott- heit enthält. Einzige frühe Ausnahme ist López Jimeno 1991, 85–100, Nr. 12, die sich an Persephone wendet. Vgl. auch Cesano 1910, 1569: „[…] può avvenire che sulle tabelle manchi sia l’invocazione alla o alle divinità“ (mit Auflistung aus DTA und DT). Ebenso Kagarow 1929, 5; 21; 26–28; Björck 1938, 117f.; Versnel 1991, 61; 94, Anm. 7: „[D]irect instructions to the gods or daemons date from the period of the Roman Empire. Earlier instructions to the gods are the exceptions, not the rule.“ 109 Interessanterweise trifft diese Dynamik auch auf die Entwicklung der alttestamentlichen Segens- formeln zu die „[v]on der Indifferenz [d. h. der fehlenden Angabe des Segensbewirkers] zur Eindeutig- keit [d. h. der eindeutigen Angabe von Jahwe als Segensbewirker]“ (Wagner 1997, 265) verläuft. „ … Dann trag das Bleitäfelchen weg ans Grab eines vorzeitig Verstorbenen“ 97

medialen Funktion von Verschriftungsprozessen, deren ‚Performativität‘ im Rahmen eines antiken Schaden- und Zwangzauberrituals die enge Konzeption von Schrift allein als Trägermedium kontrastieren kann. Angesichts der Tatsache, dass dies ins- besondere auch unserer modernen Auffassung zuwiderläuft, ließe sich in Anlehnung an die Romanistin Isabel Zollna abschließend feststellen: „Die Wahrnehmung von Schrift auf ihrem materiellen Träger als bloßes Medium ist eine Reduktion, die sich in einer bestimmten Gesellschaftsform entwickelt hat.“110 Die hier vorgelegte Untersuchung mag als ein Beitrag zur Erweiterung des Ver- ständnishorizontes im Hinblick auf antike Schriftlichkeit gelesen werden. Um das magische Potential der defixiones zu aktivieren, ist nicht allein das richtige Textver- ständnis, sondern gerade auch die Präsenz und Materialität der Schrift von zentraler Bedeutung. Erst im Prozess der Transformation eines Bleitäfelchens zum Textträger, in der weiteren rituellen Behandlung des als Schreibunterlage fungierenden Materi- als (Bindung bzw. Durchbohrung, Tragen, Deposition) entfaltet die Fluchtafel ihre Wirksamkeit.

Abkürzungsverzeichnis

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 110 Vgl. Zollna 1985, 72: „Die Wahrnehmung eines Wortes als bloßes Zeichen ist eine Reduktion, die sich in einer bestimmten Gesellschaftsform entwickelt hat.“ Hierzu bereits Cassirer 1925, 48: „Hier [d. h. im mythischen und primären sprachlichen Denken] drückt demnach das Wort nicht als bloß konventionelles Symbol den Inhalt der Anschauung aus, sondern es verschmilzt mit ihm zu einer unauflöslichen Einheit.“ 98 Amina Kropp

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Angelika Berlejung Kleine Schriften mit großer Wirkung Zum Gebrauch von Textamuletten in der Antike

1 Einleitung und Fragestellung

Im Alten Orient (hier: Mesopotamien, Syrien), in Ägypten und der Levante (hier: Palästina, phönizische und philistäische Städte) waren Amulette, die ein Mensch an seinem Körper trug, seit Alters her gang und gäbe. Diese Stücke wurden von ihrem Eigentümer während seines Lebens kaum abgelegt, und waren derart eng und körperlich mit ihm verbunden, dass man sie ihm/ihr im Todesfall als Teil des per- sönlichen Besitzes mit ins Grab gab1 bzw. bei Kremationen mitsamt der Leiche ver- brannte2. Amulette werden archäologisch zwar meistens im Kontext von Gräbern auf- gefunden, doch war dies nur ihre Endstation, die sie nach einer längeren Einsatz- und Wirkungszeit erreicht haben. Ihre allerletzte Aufgabe war es zwar u. a., die (hilflose) Leiche bei der Loslösung des Totengeistes und seines Übergangs in die Unterwelt zu beschützen.3 Zuvor aber hatten die Stücke Bedeutungen und Wirkungsweisen, die ihr menschlicher Träger zu seinen Lebzeiten von ihnen erwartet hatte. Die Verbun- denheit eines Amuletts mit seinem Träger konnte bereits im Säuglingsalter beginnen, wenn dem Kind ein Amulett geschenkt wurde, oder aber auch erst später, wenn ein Mensch es erwarb. Nur im letzteren Fall ist davon auszugehen, dass der Amulettträger eine gezielte Auswahl vorgenommen hatte, im Fall von Kindern oblag die Entschei- dung über ein Amulett wohl zumeist den Eltern. Der Verkauf von Amuletten fand im Vorderen Orient und Ägypten überwiegend in Heiligtümern statt, wo der Tempelbe- sucher eine Devotionalie erwerben konnte, um sie selbst zu behalten oder an seine Frau/sein Kind weiterzugeben. Von den Käufern aus gesehen bestand Interesse, ein Stück der Gottheit, ihrer Wirkmacht und ihres Schutzes, die am heiligen Ort zu spüren war, sozusagen materialisiert mitzunehmen. Ein solches Amulett konnte für den Rest des Lebens auch ein biographisches Erinnerungsstück sein, wenn der Käufer dadurch

1 Herrmann 1994, 3f.; Klasens 1975, 232–236; Andrews 2001, 76. 2 So aus Brandspuren zu erschließen, s. z. B. Beyer 1994, 248. 3 Die gezielte sekundäre Verwendung von Amuletten im funerären Kontext als Grabbeigaben endete nach der Verwesung der fleischlichen Teile und dem Umsiedeln der Gebeine ins Repositorium. Der Verwesungsprozess war für die Leiche, den Menschen in seiner schwächsten Form, ein Risiko, da er von Grabräubern, Tierfraß oder Dämonenbefall gefährdet war. Hier schützten ihn die Amulette ein letztes Mal, bevor er nach abgeschlossener Verwesung als Totengeist in die Unterwelt übergesiedelt war und seine blanken Knochen ins Repositorium geworfen wurden. S. dazu ausführlicher Berlejung 2008 b.

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an seinen Heiligtumsbesuch bzw. eine Wallfahrt (oder auch ein damit verbundenes Gelübde o.ä.) erinnert wurde. Amulette waren Teil der symbolischen Sinnwelt der reli- giösen Wirklichkeitsbestimmung und ermöglichten es dem Menschen, Grenzberei- che, die der Einflussnahme oder Erfahrung entzogen waren, positiv zu besetzen und sie unter göttlichen Schutz zu stellen. Ihre Grundsatzaufgabe bestand darin, negative Kräfte abzuwehren und positive anzuziehen4. Für das Letztere war von Bedeutung, dass ein Amulett die Gegenwart einer Gottheit repräsentierte, die sich wie ein schüt- zendes Dach über den Träger stellte. Durch ihre Mobilität und Alltagstauglichkeit waren Amulette eine Form der portativen Gottespräsenz. Neben ihren schützenden Wirkungen waren Amulette aber auch Heilmittel (z. B. gegen Unfruchtbarkeit, Impotenz), Statussymbol, kommemoratives Gedenkstück, Zugehörigkeits- und Loyalitätszeichen. Zudem waren sie für den Träger natürlich auch Ausdruck und Zeichen seiner besonderen religiösen Beziehung zu einer bestimmten Gottheit und besaßen insofern auch Bekenntnischarakter. Innerhalb dieser kurz skizzierten Amulettpraxis sind mehrere Amuletttypen zu unterscheiden, denen bisher auch schon diverse Untersuchungen gewidmet wurden. Allgemein kann man die bisher belegten Amulette in Ägypten, Syrien, Mesopota- mien und der Levante in sechs Gruppen einteilen: Zumeist unterscheidet man auf- grund optischer Kriterien5: Natürliches (z. B. Muscheln, Pflanzenfasern, Tierkno- chen, Stoffe, Fäden), Gemmen/Perlen, tropfenförmige Anhänger mit Anhängeröse/ Bohrung (hier ggf. auch Münzen), Siegelamulette und –ringe, figürliche Amulette und Textamulette. Mischformen sind möglich (z. B. kann eine Muschel, Münze oder ein figürliches Amulett mit Schriftzeichen versehen werden).

Eine besondere Gruppe, die im Kontext der vorliegenden Fragestellung nach „Textträ- gern-Schriftträgern“ am relevantesten ist, ist die Gruppe der Amulette, die als nicht- figürliche, miniaturisierte Textträger ausschließlich oder mehrheitlich Schrift-/und/ oder Textelemente religiösen Inhalts enthalten, kurz im Folgenden als „Textamulette“ bezeichnet. Sie werden wie andere Amulette auch von einem Menschen direkt auf seinem Körper getragen. Insofern wird ein Mensch also zu dem Träger eines Textes, mit dem er zeitlebens über den Tod hinaus körperlich verbunden bleibt. Texte und Menschen gehen im Fall von Textamuletten also eine besondere Verbindung ein, sodass es sich nahelegt, die Textamulette bzw. die Textamulettpraxis an dieser Stelle in Bezug auf die folgenden Fragen auszuwerten: 1. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Text und Handeln? 2. Welches Verhältnis besteht zwischen dem Text und seinem menschlichen Träger? 3. Verändert der menschliche Träger die Schrift oder den Text?

4 Zur doppelten Funktion von Amuletten s. Galling 19772, 10; Beltz 19984, 442f. Ausführlicher zur Funktion von Siegelamuletten s. Keel 1995, 266–277; Staubli 2010, 8–12. 5 So weitgehend mit Dubiel 2008, 18f. Kleine Schriften mit großer Wirkung 105

4. Verändert der Gebrauch eines Texts seinen menschlichen Träger? 5. In welcher Weise bestimmt die Materialität einer Schrift ihre Rezeption und Wahrnehmung?

Um diese Fragen anhand der Texte auf den Amuletten anzugehen, sei dem vorlie- genden Beitrag eine kleine Einleitung in die altorientalisch-ägyptisch-levantinische Textamulettpraxis vorangestellt:

2 Einführung in die Textamulettpraxis

Textamulette sind im Alten Orient, in Ägypten und in der Levante ein diachron beleg- tes, internationales, multikulturelles und mehrsprachiges Phänomen. Sie finden sich in Mesopotamien ab der archaischen Zeit6 (vermehrt erst ab dem Ende des 3. Jt. oder Anfang des 2. Jt. v. Chr.), in Ägypten ab der 12. Dyn. (= Beginn des Mittleren Reiches)7 (vermehrt erst ab der 22. und 23. Dyn. = Beginn des 1. Jt.s v. Chr.)8, wobei die griechi- schen magischen Papyri aus Theben des 2. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. hervorzu- heben sind9. In Syrien sind Textamulette eventuell ab der 2. Hälfte des 9. Jh. v. Chr.10, sicher dann aber im phönizisch-punischen Wirtschafts- und Kulturbereich ab dem 7. Jh. bis in das 2. Jh. v. Chr.11 belegt. Aus deutlich späterer Zeit (1. Jh. v. Chr. mit Blütezeit im 2.–4. Jh. n. Chr.) stammen Stücke aus dem griechisch-römischen Wirtschafts- und Kulturbereich12. Die Geschichte der Textamulette ist damit noch keinesfalls erschöpft, da sie in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten faktisch bis heute weiter- bestehen – was hier aber zu weit führen würde.13

6 Bereits aus der frühen Zeit der Schriftentwicklung ist ein Amulett aus Uruk mit dem piktographi- schen Zeichen für EN bekannt, s. van Buren 1949, 419–422. 7 So aus dem Vorkommen von Amulettkapseln zu schließen, s. dazu Cintas 1946, 66f.; zu weiteren Belegen s. Ogden 1973, 231–233, Janssen/Janssen 1992, 157–165 und die folgende Anm. 8 Zu den Textröllchen s. grundlegend Edwards 1960. Beschriftete Amulettkapseln der 22. Dyn. aus Gold finden sich in Ray 1972, 247–253, pl. XLIII,2, bes. 251–253; Bourriau/Ray 1975, 257f., pl. XXIX. Zu ägyptischen Textamulettbehältern von der 12. Dyn. bis in die islamische Zeit s. Flinders Petrie 1914, 29f pl. xix, xliii und xliv. 9 S. Anm 30. 10 Lemaire 1990, 323–327 (Amulettkapsel?). Unsicher in der Identifikation als (goldene) Amulettkap- sel ist Maxwell-Hyslop 1971, pl. 100 (Alalach IV; B.M. 125984). 11 Zu den beiden beschrifteten Kalksteinamuletten aus Arslan Tasch des 7./6. Jh. v. Chr. s. Berlejung 2010. Zu Amulettkapseln des 7.–2. Jh. v. Chr. s. Vercoutter 1945, 311–337, pl. XXIX; Quillard 1970, 5–32, pl. I–V; Quillard 1987, 1–11.86–110, pl. I–V; XXVII–XXIX. Zu den Stücken von der phönizischen Küste s.u. Berlejung 2008 a und Berlejung 2011 a. 12 Kotansky 1994, xviii und Nr. 28; 48; 51; 54–56. 13 Zu einem Abriss der Geschichte der Textamulette s. Cohn 2008, 17–21; dort auch zu späteren jüdi- schen Tefillin und Phylakterien. Ebenfalls einen kurzen Geschichtsabriss bietet Skemer 2006, 23–30, 106 Angelika Berlejung

Die äußere Gestalt von antiken Textamuletten kann man im Wesentlichen in drei Typen differenzieren: 1. Gemmen/Perlen, rollsiegelartige und tonbullenartige Objekte, die eine Vorrich- tung aufweisen, sodass man sie auffädeln kann. 2. Röllchen aus dünnem Metallblech oder Papyrus, die in Kapseln mit Aufhängevor- richtung aufbewahrt werden (wohl aus Ägypten stammend14). Papyrus kann ggf. auch gefaltet werden. 3. Kleine Schreibtäfelchen aus Ton, Stein oder Metall mit Aufhängevorrichtung (wohl aus Mesopotamien stammend).

Für Amulette gab es am menschlichen Körper bevorzugte Tragepositionen15: Man trug sie an längeren Schnüren um den Hals, also auf der Brust – woraus sich die Hals- Brust-Position ergab, die über dem Herzen liegt. Oder man trug sie an den Armen bzw. Handgelenken. Deutlich seltener sind Taille und Fußknöchel sowie evtl. Stirnbänder belegt (nicht für alle Amulettgruppen).16 Textamulette wurden zumeist auf der Brust getragen. Dies geht u. a. aus einem kleinen Amulett mit der folgenden zweisprachigen (neuassyrischen und aramäi- schen) Aufschrift hervor, die zugleich dokumentiert, dass die Aufschriften mehrspra- chig sein und mehrere Schriftsysteme kombinieren konnten.

Beispiel: Nr. 1: bir-ti idi lìb-bi = byn ydy’ wlbb’ Zwischen die Arme/Seiten und das Herz.17

Diese Trageposition steht in einem größeren anthropologischen Kontext. Das Herz galt als das Zentrum des emotional durchdrungenen Denkens, und Arme/Hände sind das Medium der Handlungsfähigkeit. Amulette auf/zwischen Herz und Hand bringen folglich zum Ausdruck, dass das Zentrum des emotional durchdrungenen Denkens (= Herz) und das Medium der Handlungsfähigkeit (= Arm/Hand) durch das Amulett gestärkt und geschützt werden sollten. Herz und Arm/Hand beschreiben einen Men- schen recht umfassend, und sind somit auch die Punkte, die unbedingt zu schüt- zen waren. Wenn sie von negativen Kräften befallen waren, so war ein Mensch schon zu Lebzeiten am Rande der Unterwelt. Herz und Arm/Hand beschreiben das innere

der bis in das Mittelalter ausgreift. 14 So mit Quillard 1987, 109; Vercoutter 1945, 312f., 343f. 15 S. Dubiel 2008, 114. 16 S. dazu Dubiel 2008, 51–54, 102–112. Nach Dubiel, ebd., 53 ist die Hals-Brustlage die neutrale Po- sition, die für den ganzen Menschen gilt und wo auch die unterschiedlichsten Amulette getragen werden können. 17 Bullenförmiges Amulett des wohl 7. Jh.s v. Chr. aus Nimrud (ND 2348) s. Millard 1972, 132f. (fig. 3); Lemaire 2008, 526; Berlejung 2012, Nr. 1. Kleine Schriften mit großer Wirkung 107

Denken/Fühlen ebenso wie das äußere Handeln, sodass es sich faktisch um eine Art „anthropologischen Merismus“ handelt, der den ganzen Menschen umfasst. War an diesen Schlüsselstellen eines Menschen ein Amulett angebracht, dann war er im Ganzen geschützt. Trug er an diesen Schlüsselstellen seines Körpers einen bestimm- ten Amuletttext, dann war damit auch eine Programmatik zum Ausdruck gebracht: Sein Träger lebte sein Leben unter diesem Text als Lebensprogramm und unter dem Dach eben der Gottheit, die in seinem Amulett repräsentiert bzw. (implizit oder expli- zit) genannt war. Im Folgenden seien daher die wichtigsten Texte kurz vorgestellt, die auf Textamuletten belegt sind.

3 Die Texte der Textamulette

3.1 Alter Orient

Mesopotamische und syrische Textamulette des Schreibtafeltyps (z.T. mit ikonischen Elementen) tragen zumeist Teile von Beschwörungen. Diese richten sich gegen die Dämonen Lamaschtu, Pazuzu, utukki lemnuti oder sind aus der Serie Hulbazizi18. Lamaschtu-Amulette, zumeist aus Stein, sind wohl die ältesten.19 Die entsprechen- den Amulette sollten ihren Träger vor diesen Dämonen schützen, die zumeist für bestimmte Krankheiten oder böse Träume verantwortlich gemacht wurden.

Nr. 2: Beispiel Lamaschtu-Amulett (mit ikonischem Element), das die Dämonin dazu auffordert, das Weite zu suchen20: 1. Lamaschtu, Tochter Anus 2. ist ihr erster, zweiter Name; Schwester der Straßengötter 3. der dritte; Schwert, das den Kopf zerschmettert 4. der vierte; die, die das Feuer entzündet 5. der fünfte; Göttin, deren Gesicht schrecklich ist 6. der sechste; Vertraute, Angenommene der Irnina 7. der siebente. Bei den großen Göttern sei beschworen. 8. Mit dem Vogel des Himmels mögest du wegfliegen!

Ab dem 7. Jh. v. Chr. finden sich figürliche Pazuzu-Amulette, von denen einige mit Beschwörungen oder auch mit dem Namen des Amulettträgers oder –herstellers

18 Zu diesen Beschwörungen nach wie vor grundlegend Finkel 1976. 19 Vgl. Lambert 1976, 57–64. Ein Katalog der Lamaschtu-Amulette findet sich in Wiggermann 2000, 217–252; s. weiter Heeßel 2002, Nr. 24, 26, 28, 29, 31, und nun Farber 2014. 20 Text aus: Heeßel 2002, 99f., Nr. 24. 108 Angelika Berlejung

beschriftet sind.21 Während die Beschwörungen die Wirkung des Amuletts gegen den Dämon verstärken sollten, diente die Namensaufschrift der Individualisierung und Personalisierung des jeweiligen Stückes. Einige der Aufschriften22 sind zweisprachig, manche (obwohl Pazuzu und Lamaschtu Wesen aus dem mesopotamischen Kulturbereich sind) sind nur in ara- mäisch beschriftet. Dazu kommen Stücke, die mit pseudo-Keilschrift oder gar mit Fantasiezeichen beschriftet sind. Diese Zeichen ergeben als Text oder auch als Ein- zelwort keinerlei Sinn. Dies weist darauf hin, dass den Schriftzeichen an sich magi- sche Wirkung zugeschrieben wurde, die die Wirkkraft des Amuletts verstärken sollte. Das Schriftzeichen an sich war also der Funktion des Schriftzeichenträgers Amulett zu- und untergeordnet. Ein sinnvoller Text- oder Wortsinn ergab sich hier dann zwar nicht, dennoch tat dies der schützenden Wirkung des Amuletts für seinen Träger keinen Abbruch. Ebenfalls erst aus dem Mesopotamien des 1. Jh. v. Chr. stammen Amulette des Schreibtafeltyps mit Bild- und Textelementen, die keine Beschwörungen gegen Dämonen, sondern beschwörende Ermunterungen für Götter und übernatürliche Wesen (s. z. B. den Pfeil = Sirius23) enthalten. Sie fordern die Götter dazu auf, dem Amulettträger beizustehen und sich zu seinen Gunsten einzusetzen. Um diese Texte von den oben genannten zu unterscheiden, wäre es ggf. angebracht sie als „apotropä- ische Gebete“ an bestimmte Gottheiten zu bezeichnen, die im Amulett materialisiert wurden. Als Beispiel diene ein Amulett aus Stein, das zwei Beschwörungen/apotropäische Gebete (und einen umlaufenden Bildfries) enthält. Der erste Text (bekannt aus Hul- bazizi) richtet sich an Sirius. Der zweite Text ist in dieser genauen Zusammenstellung ungewöhnlich (wohl Kompilat aus der Beschwörung ša maldi eršija) und richtet sich an den Sonnengott Schamasch24, der darum gebeten wird, (vom Amulettträger, der nicht namentlich, sondern nur durch NN, Sohn von NN, genannt wird) furchterre- gende Träume abzuhalten.

21 S. Heeßel 2002 und Heeßel 2007. 22 Siehe z. B. Heeßel 2002, Nr. 1 [pseudo-Keilschrift]; Nr. 9 [aramäische Inschrift, die wohl den Ei- gentümer benennt]; Nr. 6; 12; 14; 15; 20; 21 [Beschwörung]; Nr. 22 [unlesbare aramäische Aufschrift]. Belegt sind auch Pazuzus mit Eigentümerbezeichnung [Nr. 46] oder dem Namen des Herstellers [Nr. 116]). Weitere Pazuzu Köpfe mit Aufschriften sind publiziert in Heeßel 2002, Nr. 91; 94; 98; 99; 106– 109; 113; 119; 126; 155; 162; 163 [Beschwörung]); MS 2447 = Schoyencollection.com/assyrianlit.htm; s. weiter Farber 1989, 93–108 und Taf. 12–15, Lamaschtu, Pazuzu und Hulbazizi). 23 Wiggermann 2007, 102f., Inc. I = Farber 1989, 103–108, Z. 1–8. Die Beschwörung ist aus diversen Amuletten und Hulbazizi bekannt. 24 Wiggermann 2007, 102f., Inc. II = Farber 1989, 103–108, Z. 9–19. Kleine Schriften mit großer Wirkung 109

Nr. 3 (2. Beschwörung/apotropäisches Gebet): 1. [Auf] Befehl von Ninurta, den erst[en] Sohn, den geliebten [So]hn. 2. Auf Befehl von Marduk, der in Babylon wohnt, der Stadt des E[sagil]. 3. Auf Befehl von Aschur, der [in Aschur] wohnt, der Stadt des E-esch[bar-Enlila]. 4. Auf Befehl von Ea, dem König des Ap[sû]. 5. [Auf] Befehl von Nabu, der in [Babylon] wohnt, der [S]tadt des Esagi[l]. 6. [Auf Bef]ehl von Sagkal, dem König des Kam[pfes]: 7. Möge Schamasch seine [furchterreg]enden (Träume) wegt[ragen]!

Auf diesem Amulett sind Teile verschiedener Texte vereinigt worden, die aus unter- schiedlichen Serien von Beschwörungen/apotropäischen Gebeten stammen. In diesem speziellen Fall wäre zu überlegen, ob das Stück eine Tag- und eine Nachtseite besaß, da sich die erste Beschwörung an Sirius (also einen Stern) richtet, wohingegen der Sonnengott des zweiten Textes erst mit dem Morgen aufgeht. Die Tatsache, dass der Text nicht namentlich spezifiziert, wer der Bedrohte und Amuletteigentümer ist, kann entweder so interpretiert werden, dass das Stück vom Priester blanco für unter- schiedliche Gelegenheiten genutzt und für verschiedene Patienten eingesetzt wurde25 oder aber dass es sich um eine Art Muster-Amulett handelt, das noch erst (für den jeweiligen Käufer) individualisiert werden musste.

Bildlose Textamulette, die wie Rollsiegel gestaltet waren,26 trugen ebenfalls Beschwö- rungsexzerpte (Hulbazizi) und konnten namentlich individualisiert sein. Für diese Stücke galt noch mehr als für die größeren Schreibtafeltyp-Amulette, dass sie den Texten nur wenig Raum boten. Der Platz, der für den Text verfügbar war, konnte inso- fern optimal genutzt werden, als dass man die langen mesopotamischen Beschwö- rungen nur in Abkürzung des Incipits oder als Exzerpt zitierte. Als Beispiel sei ein Amulett des Schreibtafeltyps zitiert, das in der Ikonographie eines Lamaschtu-Amu- letts gestaltet ist, aber mit einer Beschwörung gegen Pazuzu (Standardinschrift B) beginnt und dann zur Beschwörung ša maldi eršija (Hulbazizi) wechselt:27

Nr. 4: 1. Beschwörung: Du starker 2. xxxx; der die abge 3. grenzte Fläche meines Bettes 4. überschreite[t,] [mich erschreck]te.

25 So Wiggermann 2007, 103. 26 Zu einem Beispiel s. MS 3272/1= Schoyencollection.com/magical.htm (Tonzylinder; neuassyrisch, 8. Jh. v. Chr.; 1,0 × 2,0 cm mit kleiner Inschrift, die eine Beschwörung gegen Krankheit und unruhigen Schlaf einer namentlich genannten Frau enthält). 27 Heeßel 2002, 101, Nr. 28. 110 Angelika Berlejung

Um die Wirksamkeit eines Amuletts zu steigern, wurden (s. die Beispiele oben) Abkürzungen aus mehreren Beschwörungen auf einem Stück kombiniert. Ikonische Elemente konnten weitere Aspekte aus der altorientalischen Dämonologie aufrufen. Wie die jeweilige (Bild- und) Textauswahl auf derartigen Amuletten motiviert war, bzw. wer sie nach welchen Kriterien vorgenommen hat, ist schwer zu entscheiden. Da die Stücke aus dem Umfeld der Tempel und dort ansässigen Schreiberschulen stammen, wurden sie wohl dort entsprechend konzipiert. Die Standardinschriften der Beschwörungsserien waren dort bekannt, der ikonographische Kanon ebenso. Inwieweit die Amuletthersteller innerhalb eines Amuletts eine gezielte „Traditions- synthese“ betrieben, und nicht einfach Versatzstücke und Exzerpte kombinierten28, muss dahingestellt bleiben. Auch der genaue Zusammenhang zwischen Amulettge- stalt (also Schreibtafeltyp oder Rollsiegel; mit oder ohne ikonische Elemente) und bestimmten Beschwörungsserien wäre noch genauer zu untersuchen. Ob Wünsche des Käufers dabei eine Rolle spielten oder berücksichtigt wurden, ist kaum mit Sicher- heit zu sagen.

3.2 Ägypten

In Ägypten gab es neben Objekt-, Siegelamuletten, Skarabäen oder Gemmen mit kurzen religiösen Formeln (oder auch Einzel-Hieroglyphen oder gar Pseudo-Hierogly- phen) auch Texttamulette in Schreibtafelform (ab der 26. Dyn. und später). Älter sind hingegen Textamulette (mit und ohne Bildelemente) in Röllchenform. Diese sind ab der 12. Dyn. bis in die islamische Zeit belegt.29 Die Textamulette konnten aus Papyrus oder Metalllamellen bestehen, wobei Papyrus in manchen Fällen auch gefaltet wurde. Herstellungsanleitungen für Textamulette aus Papyrus, Metall oder anderen Materia- lien finden sich unter den griechischen magischen Papyri aus Theben des 2. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr.30 Auch in Ägypten weisen die Texte aus, dass es zwei Bewegungs- richtungen gab: Unheilsmächte konnten durch Beschwörungen abgewehrt, Heils-

28 Dies kann so weit gehen, dass Sätze mittendrin abbrechen oder Sätze ganz unterschiedlicher Se- rien miteinander kombiniert werden, s. z. B. Lambert 1976, 57–64. 29 S. oben Anm. 7 und 8. Zu einer Typologie und Entwicklungsgeschichte der ägyptischen Amulett- formen s. Quack (in Vorbereitung). 30 Zu den Texten s. Betz 19962. Beachte dort bes. die Herstellungsanleitungen für Textamulette PGM III. 410–23 (aus Silber), PGM VII. 218–21 (reiner Papyrus), PGM VII. 579–90 (wahlweise aus Gold, Sil- ber, Zinn, Papyrus), PDM XIV. 1003–14 (aus Silber oder Zinn), LXXXVI. 1–2, oder die Textamulette ebd., PGM XVIIc. 1–14; PGM XVIIIa. 1–4; PGM XVIIIb. 1–7; PGM XXX. 1–25; PGM XLI. 1–9 (?); PGM XLII. 1–10; PGM XLIII. 1–27; PGM XLIV. 1–18; PGM XLV. 1–8; PGM XLVII. 1–17; PGM XLVIII. 1–21; PGM XLIX; PGM LIX. 1–15 (Amulett für die Mumie); PGM LX. 1–5; PGM LXXI. 1–8; PGM XCIX. 1–3 (mit Gottesprä- dikation) u. v. a. Zum synkretistischen Charakter der magischen Papyri s. Betz 19962, xlv–xlviii und (grundlegend) Preisendanz 1956. Kleine Schriften mit großer Wirkung 111

mächte durch Gebete oder göttliche Schutzzusagen in die menschliche Gegenwart eingeholt werden. Abwehr von Schadensgestalten (Wiedergänger, Dämonen, Götter) bezeugen z. B. hieratische Textamulette (z.T. mit Bildelementen) auf (gerollten und z.T. gefalteten) Papyrusstreifen, die aus der Zeitspanne zwischen dem späten Neuen Reich und der frühen römischen Kaiserzeit (ca. 13. Jh. v. bis 2. Jh. n. Chr.) datieren31. Hingegen hatten ägyptische Textamulette in Gestalt der hieratischen Papyri der 22. und 23. Dynastie ihren Focus im göttlichen Schutzversprechen. Diese Orakelschutz- dekrete wurden schon Kleinkindern umgebunden und sollten dafür sorgen, dass sich dieselben gesund und sozial erfolgreich entwickeln würden.32 Die namentliche Indivi- dualisierung war üblich, sodass zwischen einer bestimmten Gottheit und einem Men- schen eine enge Verbundenheit konstituiert wurde. Als Beispiel diene der folgende Text, bei dem es sich um einen Entwurf, nicht um ein fertiges Amulett handelt.33

Nr. 5: Es sagte Chonsu(?)-in-Theben-Neferhotep, dieser große und alte Gott des Urbeginns: „Ich werde [Eigenname], meinen Diener, retten. Ich werde jeden Traum, den er sieht, gut machen. Ich werde ihn vor Schlange und Krokodil retten, vor jeder Schlange und jedem Krokodil, das beißt. Ich werde ihn vor Unreinheit, vor Gemetzel und vor jedem [Buch?] „im Jahr“ retten. Ich werde ihn vor jeder Krankheit des Leibes retten. Ich werde ihn vor Augenleiden, vor Herzleiden, vor Leiden der Seiten des Leibes schüt- zen. Ich werde ihn vor Leiden der Rippen und Leiden des Gesichts retten. Ich werde ihn vor jeder Krankheit des Leibesinneren retten. Ich werde ihn vor Kentern auf dem Fluss, vor dem Dorn des Ufers retten. Ich werde ihn vor Übel, vor Krankheit der Brust retten. Ich werde ihn an jedem Platz, an dem er ist, bewahren (?). Ich werde seinen Leib bei jeder Reise, die er unternehmen wird, schützen. Ich werde ihm Lob geben …“ (Rest zu unklar).

Texte dieser Art sind auch darum interessant, weil sie ein präzises Licht darauf werfen, wovor man sich fürchtete bzw. wogegen Amulette genau schützen sollten. Zu den gefürchteten Bedrängnissen gehörten demnach34: Tod, Mord, Finsternis, körperliche oder mentale Krankheit, schlechte Träume, Kummer, Angst, Unfrucht- barkeit/Geburtsprobleme, Reiseunfälle, Schlangen-, Skorpion-, Krokodilbiss, Blitzschlag, Kollaps einer Wand, Hexerei, Geistererscheinungen, böse Götter oder Sterne, Dämonenbefall, Armut, Unruhe, Böses, den bösen Blick oder bösen Mund,

31 S. dazu demnächst Fischer-Elfert 2014. 32 Zu den Texten s. grundlegend Edwards 1960. Nun auch Peust 2008, 324–330. Nach Peust 2008, 325 wurden die Amulette nach der ersten Kindheitsphase zu einem „nicht näher bekannten Zeitpunkt“ abgelegt, was sich so nicht verifizieren lässt. 33 So mit Quack 1994, 8. Teilweise parallel geht (u. a.) Bohleke 1997. 34 Unter Einbezug von Edwards 1960, xx. Vgl. weiter Betz 19962, PGM CXXI. 1–14; PGM LXXXIX. 1–27 u. ö. 112 Angelika Berlejung

Anklage, Ungerechtigkeit, Unordnung, Beleidigung, Verleumdung, Spott, Sklaverei, Unanständigkeit, Bösartigkeit, Bitternis und Arroganz. Daraus ergibt sich für die Funktionsweise von Amuletten, dass ihre Schutzwirkung für lebende Menschen nicht nur auf die Abwehr tödlicher Gefahren für Leib und Leben ausgerichtet war, sondern dass sie den Einzelnen auch vor dem Verlust des ererbten Eigentums- und Ehrstatus35 und gegen Übergriffe sozialer Art bewahrten. Das Herstellen von umfassender Har- monie zwischen dem einzelnen Amulettträger und den ihn zu Lebzeiten umgebenden Mitgeschöpfen (z. B. Schlangen), Mitmenschen, übernatürlichen Wesen und Göttern, war das Hauptziel der ägyptischen Amulette und kann als solches auch als Ziel vor- derorientalischer und levantinischer Amulette angenommen werden.

3.3 Levante

Die Texte aus der Levante können in der Gestalt des Schriftträgers mesopotamischen oder ägyptischen Vorbildern folgen, enthalten aber doch inhaltlich – sofern es sich um längere Texte (und nicht nur um Einzelzeichen) handelt- eher Bezüge auf das lokale Pantheon36. Sie beinhalten am häufigsten das Element der Bitte um göttlichen Segen für den Amuletträger, Schutz-, Rettungs- und Bewahrungswünsche.37 „Schüt- zen“ (nṣr) und „bewahren“ (šmr) gehören neben „segnen“ (brk) im Textamulettcorpus zu den wichtigsten Verben. Stehen sie im Imperativ oder Iussiv, richten sie sich immer an eine Gottheit. Trotz ihrer Kürze identifizieren die Aufschriften den Amulettträger manchmal auch namentlich, sodass zwischen dem Amulett und seinem Träger bzw. den im Text genannten Gottheiten und dem Amuletträger ein individualisiertes, per- sönliches Verhältnis konstituiert wurde. Möglich sind auch hier Texte, die eher als Bitten und Gebete um Beistand („apotropäische Gebete“), oder eher als Abwehr- und Beschwörungsformeln gegen Unheilsmächte zu verstehen sind. Als Beispiel diene die phönizische Inschrift auf einer Goldlamelle aus Granada, die um ca. 500 v. Chr. datiert wird (und die eine Dekanendarstellung als ikonographi- sches Element enthält).38 Der Text richtet sich an den Gott Eschmun, der ohne Zeit- begrenzung einen Menschen schützen soll, der diesen Gottesnamen auch in seinem Eigennamen trägt.

35 Zum Status der Ehre s. Neumann 2006 a und 2006 b, 37f. 36 Anders hingegen die figürlichen Amulette, die in Ikonographie und auch in den Aufschriften ägyptischen Vorbildern folgen, s. Berlejung 2008 a. 37 Zu einem Überblick s. Berlejung 2008 a; Berlejung 2011 a; Berlejung 2012; Berlejung 2013. 38 Berlejung 2012, Nr. 4; Lemaire 2007, 53–56 (Goldetui und Goldlamelle). Kleine Schriften mit großer Wirkung 113

Nr. 6: Schütze und bewahre den Eschmun-yaton (= „Eschmun hat gegeben“), Sohn des Immay (Hypocor.), o Prinz Eschmun, bei Tag und Nacht und zu jeder Zeit.

Möglich sind auch Abwehrformeln gegen Schadensgestalten, sodass es der Text eines Amuletts in Tonbullenform (aramäische Aufschrift, erste Hälfte des 7. Jh. v. Chr., Her- kunft unbekannt) auf den Punkt bringt:39

Nr. 7: 1. Dass sie bring[e]/du bring[est] 2. Heil/Wohlergehen, 3. Dass sie vertreibe/du vertreibest 4. [U]nheil.

Wenn man die allgemeine Funktion der Amulette so bestimmt, dass sie positive Kräfte anziehen und negative abwehren sollten, lässt sich unschwer erkennen, was die Texte auf den Amuletten leisteten: Sie verstärkten diese Wirkung. Dazu kommt der Effekt, dass die Texte klar benennen konnten, welcher Gott welchem Menschen wofür bzw. wogegen helfen sollte. Auf diese Weise entstanden Stücke, die durch die Namensnennungen zwischen dem Träger und der Gottheit eine personalisierte und enge Beziehung herstellten. Da kleine Geschenke die Freundschaft auch zwischen Menschen und Gottheiten erhalten sollten, kann kaum verwundern, dass Menschen durch Votivgaben an Gottheiten positive Beziehungen stiften und festigen wollten. Textinhalte von Amuletten konnten diesen Aspekt ebenfalls mit integrieren, wenn ein Text so formuliert war, dass eine Gabe an die Gottheit (‚für‘) erwähnt wurde, die dem Segenswunsch für den Amulettträger vorausging. Votivinschrift und Segensbitte gingen eine Verbindung ein. Es gab also eine menschliche Vorleistung, von der sich der Mensch die göttliche Gegenleistung erhoffte. Wieder scheint der Aspekt im Vor- dergrund zu stehen, dass das Amulett in der Wirkung verstärkt werden sollte, positive Kräfte für den Amulettträger anzuziehen, negative abzuwehren, und dass zwischen dem Amulettträger Mensch und seiner Gottheit eine enge positive Beziehung konsti- tuiert und stabilisiert werden sollte. Beispiel hierfür ist ein Anhänger des Schreibta- feltyps aus Lapislazuli40 (aus der Umgebung von Tyros, ohne Bildelement, 6./5. Jh. v. Chr.). Der Text zeigt die Schnittstelle zwischen Votivgabe und Amulett:

39 Berlejung 2012, Nr. 3; Lemaire 2001, Nr. 23, S. 113f. Das ovale Tonstück ist der Länge nach durch- bohrt und somit zur Aufhängung gedacht. 40 Veröffentlicht von Bordreuil 1986, bes. 82–86; Berlejung 2008a, Nr. 21; Lemaire 2008, 526; Berle- jung 2011a, Nr. 1.2, Berlejung 2012, Nr. 5. 114 Angelika Berlejung

Nr. 8: Vs. 1. Für Baal Ha- 2. mon und für 3. Baal Saph- 4. [on], damit sie mich wahrhaftig seg- Rs. 1. nen (brk)! Restlicher Platz unbeschrieben

Zwei Amulette des Textröllchentyps sind auch in Ketef Hinnom bei Jerusalem gefun- den worden, die ca. in das 6./5. Jh. v. Chr. zu datieren sind. Sie bestehen aus Silberla- mellen, wobei die Kapseln verloren sind. Ihre Besonderheit besteht darin, dass beide Fundstücke textliche Parallelen zueinander, aber auch zu Texten haben, die zuvor nur aus dem Alten Testament bekannt waren. Der Text der Inschriften ist deutlich länger und komplexer als die Texte der bisher besprochenen Fundstücke, wenngleich auch hier der Fokus darauf liegt, dass der Amulettträger unter göttlichen Schutz gestellt werden und die göttliche Präsenz ihn im Leben begleiten sollte.

Nr. 9 und 10:

KH1 KH2

Z. 1. [xx] Jahu [xx] Z. 2. [xxxxxxxx] Z. 3. [… der g]ro[ße Gott?, der bewahrt] Z. 4. den Bund und Z. 5. [die] Gnade denen, die lieb[en] Z. 6. [ihn] und denen, die befolgen Z. 7. [seine Befehle …] Z. 8. […] die Ewigkeit […] Z. 9. [x] Segen, aus jeder [Fal-] Z. 1’ [Für N.N., Sohn/Tochter des] Z. 10. le und vom Bösen, Z. 1. [N.N.], gesegn[et] sei/ist si[e]/e[r] Z. 11. denn in ihm ist Erlösung. Z. 2. bei Jahw[e], Z. 12. Denn Jahwe Z. 3. dem Helfer und Z. 13. [x] er bringt uns zurück [das]/oder: (ist) Z. 4. dem Austreiber des unser [W]iederhersteller [und]41 Z. 14. [Li]cht/oder: [Fe]ls. Es segne Z. 5. [B]ösen. Es segne dich Z. 15. dich Jahwe [und] Z. 6. Jahwe, er Z. 16. [er] bewahre dich. [Es] lasse Z. 7. bewahre dich.

41 Der Text birgt in KH1 Z. 13f. eine crux, da die Zeichenreste nicht eindeutig identifizierbar sind. Drei Möglichkeiten sind gegeben: (denn Jahwe) (1.) „bringt uns zurück das Licht“ (2.) „ist unser Wiederher- steller und Licht“ (3.) „ist unser Wiederhersteller und Fels“. Alle drei Optionen ergeben einen guten Sinn. Zum Text der beiden Stücke s. Berlejung 2008 a und b, Berlejung 2011 a, Nr. 1.5. Kleine Schriften mit großer Wirkung 115

KH1 KH2

Z. 17. aufscheinen Jahwe Z. 8. Es lasse aufscheinen Jah- Z. 18. [sein] Antli[tz über] Z. 9. [w]e sein Antlitz Z. 19. [dir …]. Z. 10. [über] dir und er ge- Rest abgebrochen Z. 11. währe dir Frie- Z. 12. [d]en. Es folgen sechs(?) unleserliche Zeilen

Amulett KH1 zeigt eine enorme Dichte der religiösen Aussagen, da Lobpreis-, Bekennt- nisaussagen und Segenswünsche kombiniert wurden. Die einzelnen Aussagen stehen diversen Bibelversen sehr nahe: In KH1 wurden Teile von Dtn 7,9; Neh 1,5; Dan 9,4 und Num 6,24–25a identifiziert. Im Amulett KH2 findet sich ebenfalls eine Version des „Priestersegens“, die weitestgehend Num 6,24–26 entspricht. Damit beinhalten die Amulette zentrale Theologumena offizieller Jerusalemer Jahwe-Theologie wie sie im Alten Testament aus dtn/dtr und priesterlichen Schriften bekannt sind. Die Aufschrif- ten der beiden Amulette von Ketef Hinnom und ihr Verhältnis zu den alttestament- lichen Parallelen werden kontrovers diskutiert. Es gibt offensichtliche Übereinstim- mungen und dennoch vorhandene Abweichungen, die bisher unterschiedlich erklärt wurden42. Eine traditionsgeschichtliche Beziehung zwischen den Texten erscheint als einfachste Option43: Die verschiedenen Segensformeln, die durch die Amulette und den Masoretische Text bezeugt sind, partizipieren alle an einem gemeinsamen Traditionsstrom priesterlicher liturgischer Segensformen Jerusalemer Prägung. Sie wurden in Auswahl als Texte für die Amulette verwendet, wobei insbes. der Vergleich mit der dreigliedrigen Struktur der Masoretischen Fassung des Segens in Num 6,24–26 zeigt, dass der biblische Text das Ergebnis einer literarischen Bildung und theologi- schen Reflexion ist. Die beiden Amuletttexte scheinen demgegenüber weniger durch- komponiert und stärker aus Versatzstücken zusammengesetzt. Doch unterscheiden sich KH1 und KH2 auch an mehreren Punkten vonein- ander. Eigens erwähnt seien das Gottesverhältnis und die Segenswünsche, die in beiden Stücken unterschiedlich konzipiert wurden. Im zweiten Amulett KH2 wird dem Amulettträger Segen zugesprochen, ohne dass daran eine Bedingung geknüpft wäre. Dieses Stück steht damit (Num 6,24–26 und) den ‚üblichen‘ Amuletten näher, die für den göttlichen Segen keine expliziten Konditionen kennen und einfach nur Segen erbitten. Die positiven Kräfte, die Jahwe zugeschrieben werden, sollen ohne wenn und aber in das Leben des Amulettträgers eingeholt werden. Durch die ersten Zeilen von KH144 kommt dort eine neue Ausrichtung des Segens zustande, da hier im Geist des Deuteronomiums der Lobpreis Jahwes als Bundesgott entfaltet wird, der

42 Zu einer Zusammenfassung der aktuellen Diskussionslage s. Leuenberger 2008, 165–171; Berle- jung 2008 a und Berlejung 2008 b. 43 S. dazu Berlejung 2008 a und Berlejung 2012; ähnlich schon Liwak 2001, 232f. 44 Zu den Unterschieden zwischen KH1 und KH2, s. Berlejung 2008 a, 47–50; Berlejung 2008 b. 116 Angelika Berlejung

seine Bundes- und Gnadetreue nur der Menschengruppe gewährt, die ihn liebt und seine Gebote hält. Damit ist also für die positive Wirkung Jahwes eine Einschränkung im Wirkungskreis gegeben. Dieser Wirkungskreis wird auf die begrenzt, die Jahwe lieben und gehorsam sind. Insofern wird im Amulett nicht nur Jahwes Segen erbeten, sondern auch an den Menschen ein Auftrag formuliert: Er muss Gott lieben und seinen Geboten folgen, nur dann gilt für ihn die grundsätzliche Bundestreue Jahwes. Damit steht der Text von KH1 nicht nur dem dtn/dtr Konzept des bedingten Segens enorm nahe, sondern führt auch in seinem Textduktus vom Kollektiv einer Glaubens- bzw. Gehorsamkeitsgruppe (Z. 3–14 [„denen, die…“; „uns“]) zum Individuum (Z. 14–19 „dich“; „dir“), das sich dieser Gruppe zuordnet. Der Weg des Textes von einem kollek- tiven Gottesverhältnis, das klaren Gehorsamkeitsbedingungen unterworfen ist, zum einzelnen Menschen, der als Individuum an den Segnungen und Zusagen aber auch Bedingungen für sein Kollektiv teilhat, ist auch in Dtn 6,4–9 („Höre Israel…“; „unser Gott…“; „du sollst…“) vorgezeichnet. Zudem setzt KH1 faktisch praktisch um, was nach Dtn 6,6–9 Mose dem einzelnen Israeliten („Du“) anbefahl:

6. Und es sollen sein diese Worte, welche ich dir heute befehle, auf deinem Herzen!45 7. Und auch deinen Kindern sollst du sie einschärfen/wiederholen und du sollst mit ihnen46 (als Adressaten)/mit ihnen= durch sie/mittels ihrer (= instrumental) reden, wenn du in deinem Hause weilst und wenn du auf Reisen gehst, wenn du dich hin- legst und wenn du aufstehst. 8. Und du sollst sie als/zu einem Zeichen auf deine Hand binden, sie sollen sein als/ zu Markern47 zwischen deinen Augen. 9. und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und auf deine Tore schreiben! [Es folgt ein Neuansatz…]

Der Auftrag an die Israeliten, sich die Worte des Mose auf Herz, Hand und zwischen die Augen (= auf die Oberstirn) zu binden, ist an Bedeutsamkeit kaum zu überbieten. Die Formulierung „auf dem Herzen sein“ ist im Alten Testament ansonsten nur noch in Ex 28,29f belegt, wo es um die konkreten Lose geht, die auf der Brust zu platzieren sind. Insofern ist m.E. in Dtn 6,6 nicht etwa metaphorische Rede am Werk, sondern ein konkretes Objekt mit Textaufschrift gemeint, das auf (!) dem Herzen zu tragen ist.48 Dtn/dtr Theologen biblischer Zeiten hatten gegen Textamulette in der Sache

45 Fischer/Lohfink 1995, 188 interpretieren diesen Satz als ‚Auswendigwissen‘ und das Herz als Meta- pher für das Gedächtnis. Zu den Problemen des Textes s. Berlejung 2012, Finsterbusch 2005, 240–247. 46 S. auch Prov 6,22. 47 Die Etymologie ist unklar, zur Diskussion s. Keel 1981, 163f., und Keel 2007, §754. 48 Die Deutung der Formulierung als „Auswendigwissen“ und des Herzens als Metapher für das Gedächtnis, so z. B. Finsterbusch 2005, 240, Braulik 1986, 57, ist zu stark und einseitig dem paräne- tischen Konzept von Dtn verpflichtet und ignoriert den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Texten auf dem Leib, s. Berlejung 2012. Kleine Schriften mit großer Wirkung 117

keine Vorbehalte, solange das Richtige in Bezug auf ihre Theologie von Jahwe darauf geschrieben stand. Entsprechend dtn/dtr Konzeption sollten also die Worte des Mose, das dtn Gesetz und damit letztendlich dtn/dtr Kernaussagen, jedem Menschen auf den Körper gebunden sein. Auf diese Weise ließ sich eben auch theologisch-ethische Programmatik in den Alltag des einzelnen Menschen einbringen49. Die Zitierung eta- blierter liturgischer Formeln auf Amuletten (oder auch Zauberschalen50 u.ä.) reflek- tiert die Vorstellung, dass liturgische Texte über ihre religiöse Bedeutung, ihr kulti- sches Setting und die Performanz durch einen professionellen Priester hinaus aus sich selbst heraus magische Wirkungen51 haben können. Die Zitation biblischer Verse in hebräisch-aramäisch-samaritanischen Textamuletten oder Zauberschalen52 späte- rer Zeiten gehört in denselben Kontext.

4 Die Macht des Textes: Performativität

Allen Textamuletten liegt die Überzeugung zugrunde, dass dem geschriebenen Wort Wirkmacht zukommt. Es hat, gleich ob ein Gebet, Segen, eine liturgische Formel, eine Beschwörung, Bitte, ein Ritual oder Versprechen, und selbst wenn keiner den Text laut liest oder lesen kann, durch seine pure Präsenz auf Dauer performative Kraft. Daher ist es für die Wirkung eines Amuletts in der Sache nicht notwendig, den genauen Text zu kennen. Die bezeugte Praxis von Textamuletten weist sogar durch Material oder Aufbewahrungspraxis darauf hin, dass die Stücke nicht für die Relecture bestimmt waren. Und wenn der Amulettträger sein Amulett bereits gerollt, verpackt oder schon als Kleinkind erhalten hatte, war ihm der genaue Text, den er an sich trug, nicht bekannt. Wichtiger war es, ein Amulett von jemandem zu erwerben, dessen Autorität in Bezug auf die Anfertigung eines wirksamen Amuletts anerkannt war, und zu dem (u.U. namentlich personalisierten) Amulett in eine möglichst enge, ungebrochene körperliche Nähe zu treten. Dies hieß also, es dauernd bei sich zu tragen. Dauerhaf- tigkeit und Konstanz sind auch Aspekte, die bei Amuletten eine Rolle spielen. Denn die Texte auf den Amuletten sollten am Körper ihres Trägers eine Dauerwirksamkeit herstellen, sodass ihre performativen Schutz-, Abwehr und Segenskräfte ohne Zeit- unterbrechung körperlich mit ihm verbunden waren. D. h. auch wenn der Mensch gerade nicht betete oder kultische Verrichtungen tätigte, sollte er mit seinen Göttern positiv verbunden sein. Der Angriff böser Mächte auf den Lebenden musste dauernd und überall mit göttlicher Hilfe abgewehrt werden, wie zugleich auch die positive

49 S. ausführlicher dazu Berlejung 2011 b und Berlejung 2012. 50 Isbell 1975, Nr. 66; Müller-Kessler 2005; Shaked/Bhayro/Ford 2013, 21 (Bezug zu Num 6). 51 Zur engen Beziehung zwischen magischen und liturgischen Praktiken und Texten, s. Schäfer/ Shaked 1997, 1–19. 52 Dazu s. Schäfer/Shaked 1999, 2–13; 15–17. 118 Angelika Berlejung

und Leben spendende Macht der jeweils im Amulett repräsentierten Gottheit/en materialisiert, angezogen und vergegenwärtigt werden musste, um im Alltag zu bestehen. Hier sahen sich die Menschen offenbar Angriffen und Gefahren aus ganz unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt. Die Amulette und ihre Texte dokumentie- ren den klaren Dualismus zwischen dem Amulettträger und den diesen bedrohenden Widrigkeiten. Insofern war es die zentrale Aufgabe von Amuletten, zwischen dem einzelnen Amulettträger und den ihn zu Lebzeiten umgebenden Mitgeschöpfen (z. B. Schlangen), Mitmenschen, übernatürlichen Wesen und Göttern eine umfassende Harmonie herzustellen. Die Stücke sollten – durch Texte (und ggf. Bilder) unterstützt und präzisiert – die Vitalität und die Ordnung rund um ihren Träger steigern, sodass zwischen Textinhalt (Formeln oder Schutzzusagen) und Textverwendung als Amulett eine sinnvolle und gezielte Beziehung bestand. In KH1 kommt des weiteren der Aspekt zum Ausdruck, dass für den Amulettträ- ger auch ein Auftrag formuliert wird. Da der göttliche Segen und damit die Amulett- wirksamkeit an die Bedingung gebunden ist, dass man Jahwe liebt und seine Gebote bewahrt, ist faktisch impliziert, dass entsprechend zu agieren ist. Der Amuletttext formuliert also theologisch-ethische Aspekte, die als Lebensprogramm das Handeln des Amulettträgers bestimmen sollen.

5 Auswertung

Von den oben zitierten Textamuletten ausgehend lässt sich abschließend formulie- ren, dass diese Stücke in Bezug auf die Ausgangsfragen folgende Aspekte ansprechen und präzisieren. Nochmals ist daran zu erinnern, dass zwischen Amuletthersteller, -käufer und -träger zu unterscheiden ist, die zur Aufschrift des Amuletts unterschied- lich klar zu bestimmende Beziehungen hatten. Anzunehmen ist, dass wenigstens der Hersteller und wohl doch auch der Käufer den jeweiligen Text auswählten und kannten. Schenkte man ein Amulett einer anderen Person, so war wenigstens der Schenkende der Überzeugung, dass er zwischen dem Beschenkten und der Gottheit des Amuletts eine Verbindung hergestellt bzw. eine Schadensgestalt von ihm abge- halten und sein Leben unter einen performativen mobilen Schutzschild gestellt hatte, der ggf. durch die Einfügung des Namens auf dem Amuletttext einzigartig und perso- nalisiert war.

5.1 Ad 1: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Text und Handeln?

Der Text eines Amuletts kann ein Programm formulieren (prospektiv), an das Handeln eines Menschen ethische Anforderungen stellen (als Bedingung dafür, dass Gottesse- Kleine Schriften mit großer Wirkung 119

gen erfolgt; KH1), eine Gottheit zum Handeln (Bittgebet, apotropäisches Gebet) oder eine Unheilsmacht zum Weggehen auffordern und/oder das göttliche Versprechen explizieren, das Handeln eines Menschen dauerhaft schützend zu begleiten. Zitate aus der Liturgie von Gottesdiensten oder aus Beschwörungsserien/apotropäischen Gebetstexten sind möglich, die Gottheiten zur Nähe/Hilfe, Unheilskräfte zur Distan- zierung motivieren sollen. Der Text kann auch das Bekenntnis eines Menschen zu seinem Gott materialisieren und seinem Gebet durch das Amulett Permanenz verlei- hen, und/oder er kann göttliche Gegenwart in das menschliche Leben einholen. Dem Text ist der Aspekt der Performativität inhärent, wobei das Handeln eines Menschen und das Handeln einer Gottheit/eines Dämons aufeinander bezogen werden können. In Bezug auf die Zeitlinie ist deutlich, dass der durative Aspekt von Bedeutung ist, da die Beziehung, die zwischen einer Gottheit bzw. einem Dämon und einem Menschen konstituiert wird, zeitlebens und unter allen Lebensbedingungen gelten soll: Gotthei- ten sollen dem Menschen dauerhaft verbunden sein, Dämonen dauerhaft auf Distanz gehalten werden. Die Gegenwart eines Menschen soll segnend/schützend begleitet und seine Zukunft abgesichert und positiv gestaltet werden.

5.2 Ad 2: Welches Verhältnis besteht zwischen Text und seinem menschlichen Träger?

Da die Textamulette dauernd am Körper getragen wurden, waren sie zwar körper- fixiert, aber mobile und alltagsfähige Dauerbegleiter eines Menschen. Dies gilt nun allerdings für alle Amuletttypen. In Bezug auf das Verhältnis des Texts auf einem Amulett zu seinem Träger, muss denn Vieles offen bleiben, da man nicht weiß, ob der Träger den Text selbst ausgesucht hat, oder bereits als Kind geschenkt bekam. Wenn Amulette zudem in Röllchenform in Kapseln getragen wurden, ist zu bezweifeln, dass das Nachlesen dem Träger möglich war. Nichtsdestotrotz bestand ein sehr unmittel- bar, persönliches Verhältnis der körperlichen Verbundenheit, da das Amulett seinen Träger zeitlebens bis in sein Grab begleitete. Er trug es sicher, da er (entsprechend den ihm vermittelten gesellschaftlichen Maximen) von dessen Wirkung ausgehen konnte, unabhängig davon, was auf dem Text geschrieben stand. Allein die Form als ver- schlossenes Röllchen, Schreibtäfelchen oder Siegel versicherte dem Träger, dass er ein Amulett mit Schutzwirkung besaß. In jedem Fall waren die Aspekte des Schutzes und Segens, der materialen Kumulation von Segenskraft und portativen Gottes- präsenz das, was für die Motivation ausschlaggebend war, jemandem ein Amulett zu schenken, es für sich selber zu erwerben und es zu tragen. Die Träger der Stücke lebten in enger Beziehung mit ihrem jeweiligen Gott, den sie in ihrem Amulett ver- gegenwärtigt sahen. So lässt sich formulieren, dass Textamulette, insbes. wenn sie Amulettträger und einzelne Gottheiten namentlich nannten (und der Amulettkäufer und -träger dies intendierte bzw. wusste), zwischen beiden beziehungsstiftend und -bewahrend waren. 120 Angelika Berlejung

Die Aufschrift konnte ein Stück so personalisieren, dass es weder austausch- noch übertragbar war. Der Text auf den Amuletten differenziert sie klar von anepigra- phischen Amuletten, da er vereindeutigt und individualisiert: Zweck/Bitte, Funktion, Anlass und die Namen der beteiligten Menschen wie Gottheiten oder Schadensge- stalten konnten explizit genannt und sehr persönlich-individualisierte Beziehungen konstituiert werden. Wie genau diese Beziehungen qualifiziert waren, konnte im Amuletttext expliziert sein. Hier bezeugen die Texte (je nach Textumfang aber auch je nach lokalen Traditionen), dass von einer kurzen oder längeren Schutz- oder Segens- bitte (mit oder ohne voraufgehende Weihegabe, Gelübde, Bedingungen) an eine Gottheit, von der der Amuletträger Hilfe erwartete, über kurze Vertreibungsrufe oder längere Beschwörungszitate gegen Dämonen, göttliche Schutzversprechen bis hin zu einer ausführlichen Segensbitte mit Bekenntniselementen und Lobpreisungen Vieles möglich war.

5.3 Ad 3: Verändert der menschliche Träger die Schrift oder den Text?

Ein Amuletthersteller, der einen Text für ein Amulett auswählte, oder Traditionssyn- these betrieb, indem er Texte aus Liturgien oder Beschwörungsserien dafür kombi- nierte, veränderte diese Texte insofern, als er sie selektierte, neu kontextualisierte und einem gezielten Zweck zuordnete. Diese Texte wurden dann auf ein bestimmtes Individuum und dessen Lebensschicksal bezogen. Ein Mensch, der einen Text für sein Amulett auswählte, veränderte diesen Text insofern, als er ihn auf sich selber bezog. Kaufte er ein Serienstück oder ließ er eine Sonderanfertigung machen, dann sorgte er durch seine Auswahl dafür, dass aus den ihm zur Verfügung stehenden religiösen Symbolsystemen und Traditionen eben genau das auf seinem eigenen Amulett vor- handen war, was ihm selber wichtig und plausibel war. Auch in diesem Fall fanden Selektion, Kombinationen und Synthesen sowie neue Kontextualisierungen und Zweckbestimmungen statt. Dies ist eben dann der Fall, wenn Formeln, die aus dem kultischen Gottesdienst stammen, auf individuelle Amulette geschrieben wurden, um sie für das Privatleben wirksam zu machen. Sind Textzeilen aus Beschwörungs-/ Gebetsserien oder altorientalischen Literaturen für ein Amulett ausgewählt oder gar über die Seriengrenzen hinaus kombiniert worden, dann wurden dieselben faktisch aus ihrem üblichen Zusammenhang isoliert und – z.T. unabhängig von der Voll- ständigkeit der Sätze und der Standardisierung bzw. Kanonisierung des jeweiligen Texts in den Schreiberschulen – kombiniert und auf ein Privatamulett übertragen. Insofern dokumentieren die Textamulette einerseits einen recht freien Umgang der Amuletthersteller mit der eigenen religiösen Tradition der Beschwörungstexte, der kultischen und liturgischen Formeln, andererseits aber zugleich deren Geltung über den Bereich des offiziellen Kults und die Schreiberschulen hinaus. Textamulette waren insofern auch ein Medium, mit dem Inhalte der offiziellen Tempeltheologien, Kleine Schriften mit großer Wirkung 121

Standardtexte der Beschwörungskunst oder Liturgieelemente den Weg in die private Frömmigkeit nehmen konnten. Schrift/-lichkeit konnte als Möglichkeit eingesetzt werden, um dem Einzelnen bestimmte religiöse Inhalte der jeweiligen Theologie(n) mit- und weiterzugeben.

5.4 Ad 4: Verändert der Gebrauch eines Texts seinen menschlichen Träger?

Diese Frage lässt sich kaum beantworten. Man könnte annehmen, dass die Kenntnis des Amuletttexts einen Menschen in Bezug auf bestimmte Zusagen oder Ängste ein sorgloseres Leben führen ließ; dies gehört aber eher in den Bereich der spekulati- ven Psychologisierung. Immerhin kann man aus KH1 und Dtn 6 schließen, dass es den Anspruch geben konnte, dass der Text auf dem Amulett ein Programm formu- lierte, das für den Träger handlungsrelevant werden sollte. KH1, das dem Menschen den Gottessegen nur unter Vorbehalt des Gehorsams und der Gottesliebe zusagte, konnte das Handeln seines Trägers durchaus beeinflussen, indem es ihn wenigstens an Basisparadigmen seines Gottesverhältnisses bzw. der Bundestreue seines Gottes Jahwe erinnerte. Der mnemotechnisch-didaktische Aspekt von Textamuletten kommt in KH1 und Dtn 6 gut heraus, wobei wie immer schwer zu entscheiden ist, inwiefern Programmatik und Praxis sich entsprachen. Für mesopotamische und ägyptische Textamulette scheint nur selten der ethische oder didaktische Aspekt im Focus der Texte zu stehen. Zwar sind Textaufschriften belegt, die dem Träger in Erinnerung rufen, dass die Götter ethisch einwandfreies Handeln erwarten, belohnen und lieben, jedoch stehen dort bedingungslose göttliche Schutzzusagen oder -bitten für den menschliche Träger im Mittelpunkt. Votivformeln oder gar längere -texte auf amu- lettgestaltigen Schriftträgern (s. etwa Nr. 8) konnten allerdings die Vorstellung zum Ausdruck bringen, dass im Sinn der Gabenzirkulation eine menschliche Votivgabe oder ein Gelübde als Vorleistung göttlichen Schutz erst ermögliche. Der Mensch ging in Vorleistung, damit er Segen erwarten konnte.

5.5 Ad 5: In welcher Weise bestimmt die Materialität einer Schrift ihre Rezeption und Wahrnehmung?

Amulette waren mobile, materiale und performative Zeichen der Gottgegenwart (por- tative Gottespräsenzen) und der intakten Gottesbeziehung des Amulettträgers, der die göttliche Gegenwart in sein Alltagsleben holte und dämonische Kräfte aus demselben bannte. Sie besaßen performative Kraft durch die Macht der auf ihnen dargestellten oder auch namentlich genannten Gottheiten. Das Amulett war nur der Repräsentant und das Medium göttlicher Gegenwart und Wirkung. Der Textinhalt an sich (z. B. eine aufgerufene Beschwörung, die Bitte, das Heranrufen von Göttern und Vertreiben von 122 Angelika Berlejung

Schadensgestalten, Gebete, liturgische Formeln) trugen zu ihrer Wirkung mit bei. Aufgeschriebene Kurzgebete bezeugen den Gedanken, dass das Aufschreiben eines Gebets dasselbe performativ perpetuieren kann. Aber auch den einzelnen Schrift- zeichen an sich wurde magische Wirkung zugesprochen. Um dieselbe zu steigern wurden denn auch auf einem Amulett ggf. verschiedene Schriften (Keilschrift, Ara- mäisch, Hieroglyphen, Pseudo-Keilschrift, Pseudo-Hieroglyphen, Phantasiezeichen) kombiniert; auch die Kombination mit ikonischen Elementen diente dem Zweck, das Amulett potenter zu machen. Alle diese Dinge konnte man allerdings nur von der Nähe aus erkennen und nur nach einer Schreibausbildung lesen. Gerade im Fall der Kombination von Schriften aus unterschiedlichen kulturellen Ursprungsländern und aus unterschiedlichen Symbolsystemen ist auch damit zu rechnen, dass der Reiz des Fremden, der Hauch der Exotik mitspielte, wenn man ein Amulett kaufte, das mit Schriftzeichen versehen war, die aus fernen Ländern stammten bzw. die man noch nie gesehen hatte, denen man aber allein wegen ihrer Existenz auf einem amulettgestalti- gen Schriftträger (und ggf. wegen eines überzeugenden Verkäufers) die erwünschten Effekte zutraute.

Abkürzungsverzeichnis

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Don C. Skemer Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection

Textual amulets were portable devices filled with apotropaic text and images. They were believed to give the bearer magical protection against the demonic forces that were blamed for everything from plague and sudden death to toothache and bad luck. We now regard the once-common ritual practice of wearing textual amulets as magic, but in the far more uncertain world of the Middle Ages, they promised protection and healing to their users. Most often worn or carried on the body, textual amulets were one of the most widespread manifestations of the written word in the medieval world, and were used at all levels of society because of an almost universal belief in the magical power of particular words, symbols, and images to ward off evil. A concate- nation of scriptural quotations, divine names, common prayers, liturgical formulas, Christian apocrypha, narrative charms or historiolae, magic seals, word and number squares, characteres (non-standard or magical script), devotional images, crosses and other religious symbols in amulets offered divine or supernatural protection to their bearers. Traditional Christian elements were supplemented over the centuries with elements borrowed from pseudo-Solomonic magic and Kabbalah. Medieval sources often referred to the textual amulet as brevis or scriptura in Latin and equivalent terms in the vernacular. For that reason, one can think of the textual amulet as a “magic writ”; that is, a piece of writing that looked like a brief official letter (writ in English), folded or rolled so that it could be worn on a person’s body.1 In some societies, people have written powerful words and symbols directly on the body like a tattoo, but this practice was not common in the Middle Ages. Instead, people most often carried amulets made from pieces of writing material on which textual elements were written, inscribed, and eventually printed. The texts of pro- tective amulets were generally confined to one side of a flexible writing support or Textträger — papyrus, metal sheets, parchment, or paper — that was then folded or rolled to reduce its size and make it more portable. Small devotional books could also be worn as amulets. Coincidentally, a homo portans armed with textual amulets can also be considered a Textträger, or bearer of texts for protection and healing. One could transport such amulets, depending on their size and number, by placing them

1 This article was first given as paper entitled Magic Writ: Textual Amulets from Papyrus to Printing at the Textträger-Kolloquium, Universität Heidelberg, Altertumswissenschaftliches Kolleg, 7–8 June 2010. The author wishes to thank Professor Annette Kehnel for her suggestions. For a general introduction, see Skemer 2006; Barb 1963; Bartelink 1973; Bozóky 2003, 72-78; Bühler 1964; Cardini 1982; Duffy 1992, 267–298; Hansmann/Kriss-Rettenbeck 1966, 119–146.

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in containers, such as gold or silver suspension capsules, jewelled cases, cloth sacks, and leather pouches. Such containers ranged from purely utilitarian to highly deco- rated. Their drawstrings bound the amulets to the bearer, thus encircling the body protectively and positioning the amulets so as to offer general or specific protection. People generally positioned protective objects over the heart because it was con- sidered the gateway to the soul and the seat of memory. Shielding the heart with pow- erful words and images was believed to offer the bearer comprehensive protection against demonic invasion and evil spirits. When magical texts instruct someone to hang one or more amulets around one’s neck, it was almost always assumed that they would thus cover the heart like a shield. When protection was the primary goal, people tended to wear textual amulets in this position night and day, just as many people today wear crucifixes and St. Christopher’s medals over their hearts for good luck, more than as a sign of piety. Yet textual amulets could also be used in other ways, some of which may seem quite strange to us. They could be positioned on the body like bandages to cover wounds and afflictions; read devotionally like prayer books; gazed upon like portable icons; carried ceremonially into battle like shields; affixed to walls, like a broadside or poster; placed on valuable livestock, vineyards, or cultivated land to protect agricultural bounty; molded into ingestible substances such as bread or cheese and ingested as a form of sacred medicine; and rinsed in water so that some of the iron-gall ink would wash off to produce a potable word therapy. In addition to protective use, textual amulets could be used aggressively, in the manner of black magic or necromancy, by placing them in physical contact with other people in order to bind and control their actions. Textual amulets were designed to be carried on the body, like certain types of medieval books that were produced in distinctive physical formats to make them easily transportable for personal devotion, itinerant preaching, calendar reckoning, medical reference, and other purposes. Among the best-known portable books were girdle books (Beutelbücher) and vade mecum folding books (Faltbücher), which were made in such a way that they could be suspended from one’s belt. Small-format books of private devotion, narrow text rolls (Textrolle), wax writing tablets, and single-quire personal notebooks could be kept and carried in purses, sacks, satchels, and other leather or fabric containers. These could be worn over the shoulder by a strap like a modern handbag, or attached to the belt or girdle by a drawstring or two loops at the top.2 Such books might contain textual extracts, bits of useful information, or

2 There are relatively few extant examples of portable book containers. See Miner 1957, 55. For late medieval English pouches and cylindrical boxes of the sort that might have transported and stored amulet rolls, see Hobson 1929, 50. Pilgrims and other travelers with purses worn over the shoulder are common in late medieval art, as in Hampe 1902, 18 (fig. 12), 50 (fig. 39), 54 (fig. 44). For a recent study of pouches, purses, and other containers, illustrated with photographs and drawings, see Goubitz 2007. Such a purse worn on the belt is depicted in the illustrated manuscript of Laurent de Premier- fait’s French translation of Boccaccio’s Decameron (Vatican Library, Pal. Lat. 1989), executed around Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 129

even magical recipes and exemplars for textual amulets. Pockets began to be added to clothing at the end of the Middle Ages, offering another means of carrying objects.3 But books and valuables (e.g. coins, seals, keys) that a homo portans transported in sacks, purses, and pockets were there primarily for reference. Unlike other portable texts, amulets had to be properly positioned on the body to be effective. A comprehensive study of the history of textual amulets requires physical evi- dence. Yet relatively few artifacts have survived because they were most often worn continuously on the body, rather than being safely stored in cupboards, chests, book boxes, and the sturdy containers that helped preserve codices, which were often protectively encased by wooden boards with leather covering and metal hardware (bosses, clasps). Even those textual amulets which survive in libraries and museums have often defied correct identification because of their unconventional texts and formats. The study of amulets has also been hampered because many theologians and canon lawyers viewed their use as superstition and idolatry. Yet at the same time, the community of Christian believers, including local clergy and much of the laity, did not hesitate to make or use textual amulets. Since the Enlightenment, another impediment to study has been a cultural prejudice against amulets and other forms of popular magic as irrational superstitions practiced by backward or primitive peoples. Textual amulets have often been studied in relatively narrow categories, sharply delimited by time, place, and culture, although they were a widespread ritual prac- tice, crossing geographical boundaries. When studying medieval textual amulets, like their predecessors among Egyptian magical papyri, one must remember the distinction between the inert and activated forms of texts. Richard Gordon properly distinguishes between “the receptaries or for- mularies on the one hand, which contain a whole variety of bare or ‘inert’ exemplary texts, and applied magic on the other […] which have been written out onto a mate- rial surface, a Textträger”.4 This is a useful distinction, though it does not mention texts that were set down from memory without a written exemplar. We need to study extant amulets in their activated form—that is, as applied magic. Textual elements were assembled from written exemplars and other sources, then copied onto separate

1411–14 for Duke John the Fearless of ; the manuscript was once part of the Bibliotheca Pa- latina in Heidelberg. The illustration accompanies Boccaccio’s story about a love amulet, called ung brief (Decameron 9, 5), which Calandrino is readying for use on Niccolosa, the object of his affections. On his belt is a leather purse, in which he might have carried the amulet prior to using it by touching Niccolosa’s body. Calandrino’s friend Bruno, who had prepared the love amulet, is shown handing it to him. The miniature depicts a sequence of events in the story over time, including the unsuccessful seduction attempt. Cf. Boccaccio Decameron (1989), 209–10, reproducing the miniature on fol. 175r of the manuscript and transcribing the relevant text. For a discussion of Boccaccio’s story, see Skemer 2006, 182–183. 3 Yarwood 1978, 325–326. 4 Gordon 2002, 70. 130 Don C. Skemer

Fig. 1: Egyptian papyrus amulet, fourth–fifth century writing supports for the use of people who are sometimes identified in the text by first name, and worn on the body in conjunction with other ritual practices. Extant artifacts provide important physical evidence, but must be supplemented whenever possible by contemporary textual sources that provide historical context about pro- duction and use. Studying textual amulets from an archeological standpoint extends the purview of codicology by rediscovering lost and ephemeral writing formats. Innumerable papyrus amulets have survived in Egypt, and these document the gradual and incomplete transition from pagan to Christian magic. Fairly typical is a Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 131

twenty-line Greek fever amulet of the fourth or fifth century A.D. (Princeton Papyri Collections, II, 107), measuring 15.5 × 13.0 cm when unfolded (fig. 1). The text includes a series of divine names and badly misquoted passages from the Lord’s Prayer, Psalm 90, and Isaiah.5 Magical texts written on perishable writing supports for personal use were ephemeral by nature, but they survived in the refuse heaps of ancient Oxyrhy- nchus and other places in Egypt because of that land’s arid environment and unique ways of discarding or reusing papyri, whether literary, sub-literary (including com- pendia of magic and textual amulets), or documentary. Elsewhere in the Mediterra- nean world, extant amulets often took the form of small inscribed sheets of precious or base metal, which could be inserted into suspension capsules with loops that per- mitted them to be worn around the neck. Textual amulets continued to be produced in the successor states of the Roman Empire, including the Byzantine Empire and the Islamic world. In the Latin West, the Church was the agent responsible for disseminat- ing Christianity, along with ancient ritual practices, to pagans. In Western Europe, the earliest surviving amulets tend to be metal. Those that have survived in moist soil can be found with metal detectors. For example, the recently discovered Mercian royal hoard of Anglo-Saxon metalwork in Staffordshire, containing some 1500 gold and silver pieces that date from ca. 650 to the early eighth century, includes an inscribed gold band based on Psalm 67:2 or Numbers 10:35, which could have been an amulet.6 As in Patristic literature, we find scattered references to particular textual amulets (no longer extant) in theological treatises, sermons, chronicles, hagiography, peni- tentials, and other medieval sources through the twelfth century. These references suggest that the clergy, enjoying a virtual monopoly on reading and writing, quietly condoned or actively facilitated amulet production and use, even though canon law officially discouraged the practice as an exercise in idolatry and superstition. For example, Reginald of Durham (d. 1173) included an interesting reference to textual amulets in his collection of legends about the miracles of St. Cuthbert.7 There we learn that Bishop Hugh de Puiset (or Pudsey) of Durham (r. 1153–98) had employed a layman named Richard of Wolviston (or Richard the Engineer) to rebuild Norham Castle, on the River Tweed in Northumberland, and add a stone keep to it. Around his neck, Richard wore a silk sack filled with small parchment amulets (scripta) based on the names of Christ and on scriptural quotations, probably including the apotropaic prologue of the Gospel of John (1:1–14), which had been used in textual amulets since antiquity. A Durham monk learned about Richard’s amulets and offered him a small

5 Kase 1936, 102–103, no. 107. 6 “When Moses had lifted up the ark, he said ‘Rise up, Lord, and may your enemies be dispersed and those who hate you be driven from your face”. Concerning this discovery, see Leahy/Bland 2009. 7 Raine 1835, 94–98 (chapter 47), 111–112 (chapter 54). There are other medieval literary accounts of such magic kits assembled from disparate sources, such as the one owned by the itinerant book illuminator Jean Gillemer around 1470. See Lecoy de la Marche 1892, 396–408; Bozóky 2003, 77–78. 132 Don C. Skemer

piece of St. Cuthbert’s burial shroud, a holy relic, which Richard added to his silk sack. Like other medieval people, Richard wore powerful names and words as a guar- antee of divine protection rather than as a personal display of faith. But he carried them along with other magical or apotropaic objects. Literary accounts about textual amulets were not mere stock tales. Rather, they describe a common ritual practice that transcended barriers of class, gender, and age. They could appeal to a broad cross-section of society because they placed limited demands on reading ability and were deeply rooted in faith, common beliefs, oral tra- dition, and collective memory. In the fourteenth and fifteenth centuries, higher levels of literacy facilitated navigation of more textually complex amulets. Producers were now not just clerics, but also lay practitioners of medicine and the magical arts, and even local charlatans and healers. In the period of expanded lay literacy between the Black Death and the advent of printing, there was a proliferation of practical hand- books, medical compendia, commonplace books, household miscellanies, books of secrets, and other manuscripts containing versions of amuletic texts. Latin and ver- nacular versions of such texts were also copied onto flyleaves, pastedowns, margins, and other unused writing surfaces in Books of Hours, prayer books, devotional mis- cellanies, and other books. Innumerable manuscripts containing non-activated amuletic texts are preserved in European and American libraries. For example, the Universitätsbibliothek Heidel- berg holds dozens of Artzneibücher, Rezeptesammlungen, and other compendia from the fourteenth to sixteenth centuries. The Zauberrezepte in these manuscripts include many amuletic texts that could serve as exemplars for textual amulets written on sep- arate writing supports and activated for personal use. The Speyer Arzneibuch of 1321 (CPG 214) at Heidelberg includes individual German vernacular blood-staunching or childbirth amuletic texts, found amid common charms for verbal (not written) use, pharmaceutical recipes, and instructions for phlebotomy or other medical proce- dures.8 Nearly identical copies of amuletic texts can be found in sources from different places. For example, two fourteenth-century manuscripts in the Princeton University Library contain a common narrative-style Latin fever charm based on an apocryphal story about St. Peter sitting outside Jerusalem’s Latin Gate. One was copied informally on the inside back wrapper of a northern Italian legal miscellany (Princeton MS. 25). The amuletic text is in its activated form for use by Pietro and Alasia. It occupies a space of about 4.5 x 9.5 cm, similar in dimension to a small textual amulet, which perhaps served as an exemplar (fig. 2). The other is an exemplar in a southern French medical miscellany, chiefly in the Limousin dialect of the Occitan language, with some Latin, for use by a medical practitioner (Garrett MS. 80).9

8 Schulz 2003, 181–182; Miller/Zimmermann 2005, 103–107, 454. 9 Princeton University Library, Princeton MS. 25: “Contra febrem † In nomine patris et filii et spiritus sancti amen. ante portam Iherusalem jacebat petrus, et aliis superuenit dominus et ait illi, quid jaces Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 133

Fig. 2: Fever amulet copied in an Italian legal miscellany, fourteenth century (detail from back wrapper)

While exemplars for textual amulets are very common, amulets in their acti- vated form, often including the owner’s given name, are a relative rarity in libraries and museums. Careful study of the texts, images, physical presentation, and prove- nance of extant amulets from the thirteenth to seventeenth centuries show how texts, symbols, and images were combined to provide specific or general protection; and how memory, reading, vocalization, performance, ritual, interactivity, visualization, body-measurement, complex folding patterns, Christian numerology, the relation- ship between producers and users, and other factors contributed to enhance magical efficacy. Embedded instructions in Latin or vernacular languages provide insight into the unwritten rules for fabricating and wearing textual amulets. One of the earliest and most interesting textual amulets is from the mid-thirteenth century: Canterbury Cathedral Library, Additional MS. 23.10 It is complex enough that one might wonder if it was created as a cleric’s personal grimoire, or formulary of

hic petre? et respondens petrus dixit domine, de mala febre passus sum. ait illi surge petre dimittet te febris, et continuo surexit, et secutus est eum, et ait illi nunc oro domine ut quicumque uel quodcum- que haec scripta super se portauerit febris ei nocere non possit. Ait illi dominus, fiat tibi sicut petisti. Amen † christus uincit † christus regnat † christus imperat his febris cotidianis, biduanis, tercianis, quartamis(!) ut exeatur ab hoc famulo dei petro uel famula dei alasia. Amen”. The Latin text in Garrett MS. 80, under the vernacular rubric “Breu per febre” is edited in Corradini Bozzi 1997, 139. 10 For a full description of the manuscript and a transcription of the text, see Skemer 2006, 199–212, 285–304. There is also a brief description in Ker 1977, 306–307. 134 Don C. Skemer

amuletic texts, like a small rectangular folding book, though the lack of rubrication would have been a serious impediment to reference use. The manuscript appears to have been owned later by landowning families in the county of Kent, certainly in the fifteenth century, and at that point would have been used as an amulet. The parch- ment sheet has seven vertical and three horizontal folding creases; these numbers, sacred to Christians, were probably intentional. Yet it was small enough to be carried on the body, despite thirty-two thicknesses of parchment when folded and possibly rolled slightly for insertion into a sack or other container that the owner could wear. Many of the textual components of the Canterbury amulet are accompanied by expla- nations of their magical efficacy and intended applications. The user is reminded eight times about the benefits of wearing powerful words and symbols super se and is twice prompted to speak powerful names aloud and say the Pater noster three times. There are several references to the Heavenly Letter, a popular amuletic text that existed in many versions, based in part on the ancient apocryphal letter from Christ to King Abgar V of Edessa. The text of the Canterbury amulet contains numerologically significant lists of divine, angelic, and demonic names in the three languages that Christians held sacred (Hebrew, Greek, and Latin). Traditional Christian nomina sacra are supplemented by names commonly found in pseudo-Solomonic texts.11 On the Canterbury amulet’s verso are seventeen pseudo-Solomonic seals and three blank seals, as well as five small magical figures, which offered multiple forms of protection to those who wore them or looked at them. Based on pseudo-Solomonic books of magic circulating in the West since the twelfth century, the seals promised protection against fire, storm, flood, sudden death, and other misfortunes. Two other seals were said to be those that the archangel Gabriel had delivered to and St. Columba. These seals are designed to complement bits of the dense text, pre- sented with the built-in redundancy of traditional magic. On the amulet’s face are six long lists of divine names, as well as a dense band of figures and circles based on Chi-Rho monogram and signs of the cross, incorporating divine names, includ- ing AGLA and Alpha et Omega. The Canterbury amulet offered all-encompassing pro- tection through a concatenation of amuletic texts that overlaid conventional white magic, some of which went back to the early centuries of Christianity, with pseu- do-Solomonic seals and figures of more recent origin. Far more common than multi-purpose amulets like the Canterbury amulet were smaller folding amulets on parchment or paper. Their texts addressed specific dangers and afflictions or offered general protection against evil spirits and misfortune. The

11 Names such as anofenaton, cirice, craton, hameth, hebreyel, iothe, mefron, nomos, occinoos, orion, panthon, saday, sampra, and usion are quite similar to those found in the Sworn Book of Honorius and other pseudo-Solomonic texts. For a very useful compendium of such elements in pseudo-Solomonic manuscripts, see Hedegård 2002, 219–291 “Index vocum mysticarum atque nominum daemonicorum, angelicorum et divinorum”. Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 135

Fig. 3: German or Bohemian amulet, fourteenth century earliest dated and best-known textual amulet of this sort is the Chartula of St. Francis of Assisi, containing the Laudes Dei altissimi and Benedictio Fratris Leonis, written on two sides of a piece of parchment measuring 13.5 × 10.0 cm.12 St. Francis prepared it on Monte Alverno in 1224, before receiving the Stigmata (bodily marks matching the Five Wounds of Christ on the Cross), for his spiritual companion Brother Leo, who would wear it on his body for years (Assisi, Sacro Convento, MS. 344). It functioned as a prayer amulet, filled with divine names, blessings, and quotations from scripture, probably composed from memory. The Chartula survived because it was written by St. Francis and eventually venerated as a holy relic. But most extant textual amulets were not venerated relics. They were smaller folding amulets for ordinary people, like the one for Pietro and Alasia. When such amulets survived, it was often by accident, as a result of having been bundled with old family papers or reused in bookbindings. Among such chance survivals is a textual amulet of German or Bohemian origin, probably dating from the second half of the fourteenth century.13 Preserved at the

12 For studies and editions of the chartula, see Lapsanski 1974, 18-37; Esser 1976, 134–146; Boccali 1978, 258–263; Lodi 1979, 1686, no. 3373; Langeli 1994, 103–159; Langeli 2000, 30–41, 79–82. 13 Austin, University of Texas, Harry Ransom Humanities Research Center, Popular Imagery Collec- tion, box 11, no. 422. The unidentified book from which it was recovered had five sewing stations, 136 Don C. Skemer

University of Texas at Austin, this 36-line parchment fragment, measuring 16.0 × 23.0 cm in its present mutilated state, survived because it was reused as a front paste- down in a book (fig. 3). The magical efficacy of the amulet, internally called scriptura, is largely based on standard lists of divine names in Hebrew, Greek, and Latin.14 The text also includes the names of the Seven Sleepers of Ephesus; liturgical formulas, such as “Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat”; cryptic series of majus- cule letters and characters, interspersed with red crosses; and other textual elements. The amulet was made for someone named Wenczlinus, the Latin diminutive of Wenzel, which is the German equivalent of the Bohemian name Venceslav. His name is written six times in red ink, including in the supplicant’s appeal to Christ for protec- tion against all evil (“custodi me famulum tuum Wenczlinum ab omni malo”). Wenc- zlinus is promised divine protection from all dangers to his body and soul (“ab omne periculo corperis et anime”). Brief quotations from a version of the Heavenly Letter were copied twice from the same exemplar and assure the owner that whoever carries these words on their body will not drown, die in a fire, or suffer death (that is, without having received the last rites of the Church). Despite naming a male supplicant, the text promises successful childbirth. This is not unprecedented in amulets incorpo- rating the Heavenly Letter and suggests that the amulet was available for family use. The principal visual element in Wenczlinus’s amulet is the Crucifixion scene— Christ on the cross surmounted by the Titulus Crucis or INRI inscription. Christ’s body is twisted, as was common in German artistic renderings of the Crucifixion at this time, and he is flanked by the Virgin Mary and the Evangelist John. This pen-and-ink drawing is tinted in red, blue, and green watercolors. Above the Crucifixion scene are two horizontal swords (tinted red), which may refer to the liturgical formula “Christus superat gladium”, often used in amulets. Between the two swords is an arrow, perhaps a visual reference to plague arrows. To the right of the Crucifixion scene is a seal at the center of which is a three-barred cross, symbolizing the Crucifixion.15 The cross has

boards with five bosses, and the shelf mark A27. For a digital image and description (containing misleading information), go to: http://www.lib.utexas.edu/taro/uthrc/00484/hrc-00484p2.html (Retrieved 28.8.2014). 14 The principal list of divine names reads as follows, with losses (due to the mutilation of the manu- script) and conjectural readings in square brackets: “Incipiunt nomina domini nostri ihesu christi. Sother, messias, aios [i.e. hagios], emanuel, theos, panton, crondon [i.e. craton], kyrie, eloe, noys- ion, saluator, primogenitus, principium et uia, ueritas, sapientia, uirtus, paraclitus, ego, ego sum qui sum, qui est mediator, agnus, ouis, uitulus, aries, primus, ymago, gloria, splendor, mons, fons, uitis, flos, [ianu]a, petra, angelus, sponsus, pastor, sacerdos, propheta, [sanct]us, eternus, immortalis, rex, ihesus christus, iudex, lapis, omnipotens, misericors, karitas, dauid, stirps, saluator, radix(?), oluia [i.e. alleluia?] †† tetragramaton, cla[ ], sother, uis, ihesus christus”. Another list reads, “Decem sunt nomina apud hebreos qui deus nomina [ ] eloy ely, eie, messias, sother, emanuel, sabaoth, adonay”. 15 The cross is not a three-barred Western ecclesiastical cross. Instead, it appears to be related to the Eastern Orthodox or Slavonic cross, which has narrower bars at the top (for the INRI inscription) and at the bottom (for the Suppedaneum or footrest). In Byzantine and Russian art, the third cross-bar is Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 137

curled ends, perhaps a visual reference to Christ’s twisted body. Along the rim of the seal, interspersed with crosses, is an abraded inscription that seems to read, “† AGLA † CCOCR † HELA”. The first and third words are divine names, ultimately of Hebrew origin, and common in magical text. The second is a more cryptic series of majuscule letters, which might have stood for “Crux Christi O Christe Rex”. Below the Crucifix- ion scene is the Greek letter Alpha surmounted by a cross pattée (Tatzenkreuz), both in red. Wenczlinus’s amulet has four horizontal and three vertical creases, perhaps using Christian numerology to enhance the efficacy of its text and images. This folded amulet would easily fit inside a pouch or sack worn over the heart. In this amulet, textual elements and Christian imagery offered general protection as well as specific protection in a time of pestilence. Other amulets, such as birthing amulets for parturient women, offered specific protection. Among the most common birthing amulets to survive are late medieval English and French amulet rolls dedicated to St. Margaret of Antioch, the patron saint of pregnant women. During the Middle Ages, her legend was closely associated with protection for women during pregnancy and childbirth. Such an amulet roll could be worn on the body in anything from a simple white linen sachet to a decorated leather case. Exterior surfaces of enclosures could even be decorated with religious images or liturgical formulas, which identified the contents and visually reinforced the textual amulets placed inside. Perhaps the finest example is a cuir ciselé cylindri- cal case or capsa, which encloses a six-membrane St. Margaret roll of 1491 (397.0 × 9.8 cm), probably of Parisian origin (New York, The Pierpont Morgan Library, M1092).16 When closed, the fitted case and removable cap measures approximately 5.0 cm in diameter and 10.5 cm deep. On the exterior surface are three panels with cut-leather and painted portraits of St. Margaret with her crucifix and the Dragon, St. Peter with keys, and St. John the Baptist with the Lamb of God.17 This case does not appear to have had loops for a carrying strap, so it must have been transported in a sack of some sort, perhaps a velvet or embroidered sack like those illustrated in late medieval

usually tilted, but not in the amulet for Wenczlinus. See Grube 1957; Seymour 1898, 359. For another three-barred cross (albeit without curled ends) in a seventeenth-century German magic roll see foot- note 26. 16 For descriptions of the roll and case, see Arnim 1984, 709–712; Plotzek 1987, 246–247, no. 86; Sothe- by’s 1995, no. 192: “The prayer to St. Geneviève, patron saint of Paris, suggests that it was written in Paris. The flanking of St. Margaret’s image on the case with St. John the Baptist and St. Peter possibly implies that the pregnant woman was called Jeanne and her husband Pierre”. The prayer related to childbirth reads as follows: “Pro muliere parturiente. Presta quaesumus omnipotens deus qui hu- manum genus multiplicans: quique ancille tue uterum dignanter fecundasti da ei cum salute anime et corporis in pariendo virtutem et ad sacrum baptisma tu me scientis uteri fructum pervenire. Per christum dominum nostrum amen”. 17 Goubitz 2007, 11: “Containers of leather, made durable by tanning, naturally present an invitation to decoration. This was done especially on amulet containers and receptacles for fire-making equip- ment, because of their great significance to everyday life”. 138 Don C. Skemer

Fig. 4: French birthing kit, fifteenth–seventeenth century

Annunciation scenes. If worn on the belt or supplied with drawstrings of appropri- ate length, the sack and its powerful contents could be positioned over a pregnant woman’s abdomen. However, the roll could also be removed for devotional and amu- letic use. The amulet roll opens with a badly rubbed miniature of St. Margaret emerging from the Dragon. Repeated opening of the roll and devotional rubbing contributed to the miniature’s present condition. Below the miniature is a well-known Vie de Saincte Marguerite, written in 666 octo-syllabic verses, with the incipit “Après la saincte passion”. In Christian numerology, 666 was the Number of the Beast (Revela- Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 139

tion 13:17–18), so the number of verses was very likely a veiled reference to St. Marga- ret’s triumph over the Devil in the form of the Dragon. Toward the end of the roll are three brief Latin and French prayers appealing for the intercession of St. Margaret, St. Geneviève (patron saint of Paris), and the Virgin Mary; and an eight-line Latin prayer related to childbirth (“Pro muliere parturiente”). As attested by the level of presenta- tion, the female supplicant (“ancilla tua”) was probably a woman of relatively high social status, perhaps named Jeanne. While the prayer does not include instructions for amuletic use, the Latin prayer begins about 43.0 cm from the end of the roll and therefore could have been placed face-down on the parturient woman’s abdomen. Textual amulets were often kept together and used in groups. This was most common in “birthing kits” for use during labor and childbirth. A recently reunited kit from southern shows how separate amulets could be used either singly or collectively (Princeton University Library, Princeton MS. 138.44).18 In the seventeenth century, the kit was owned by a woman surnamed Lacroix, in Nogaro (Midi-Pyrénées région, Département de Gers), then a town with fewer than two thousand inhabitants, situated in Gascon wine country, about 150 kilometers from the Spanish border.19 The birthing kit consisted of at least two handwritten and three printed amulets, which came to be kept in a purse (15.0 × 9.5 cm) of embroidered white silk, decorated with tulips and other flowers in red, green, and blue (fig. 4).20 The design of the fabric was inspired by Indian chintz imported to England and Holland in the late seventeenth and early eighteenth century.21 The fabric was most likely reused from a woman’s dress or bed hanging. The purse has a long strap made from a linen tape of the sort used in making clothes; it is approximately 50.0 cm in overall length, so that when

18 Concerning a French birthing kit of the thirteenth or fourteenth century, which a family in Auri- llac, Département de Cantal, kept in a small rectangular linen sack (12.5 × 9.5 cm), see Aymar 1926. 19 Camus 1997, 2, 318–324. 20 There is evidence that Christians wore silk reliquary pouches around the neck as early as the tenth century. Some amulet sacks were similar in appearance to square reliquary purses with drawstrings. Extant embroidered examples survive from the thirteenth to eighteenth centuries. Cf. Belting/Jephcott 1994, 302–303; Owen-Crocker 2004, 265; Cronin 1998, 145. Most of the extant examples were for litur- gical use in churches and monasteries. For thirteenth-century liturgical silk reliquary pouches from Sint-Truiden, Kerk O.L.Vrouw Hemelvaart and Tongeren, Kerk O.L. Geboorte, see the online database of Brussels, Royal Institute for Cultural Heritage, at http://www.kikirpa.be/ (Retrieved 28.8.2014). Images of these and many later examples of silk reliquary pouches can be found by searching the database under bourse liturgique. In the twelfth and thirteenth centuries, English monasteries some- times used silk or linen pouches, often decorated to store royal charters and other folded parchment documents with wax pendant seals. Silk and linen were also used for the linings and drawstrings of these muniment pouches. One of the extant examples, made of silk and embroidered with gold flow- ers, was used to house a grant made by St. Thomas Becket as Archbishop of Canterbury to the Priory of the Holy Trinity, London. For a discussion and illustrations, see Palgrave 1836, cxxxvii–cxxxviii, cxxxvii, cxlviii, plate V. 21 For examples, see Crill 2008, 21, fig. 16; [34], plate 1. 140 Don C. Skemer

worn around the neck, the sack and its contents would dangle lengthwise over the woman’s abdomen, perfectly positioned to offer the woman comprehensive reproduc- tive aid for fertility, pregnancy, labor, and childbirth. The oldest of the textual amulets in the kit is a bifolium removed from a fif- teenth-century French manuscript, most likely a Book of Hours that included a section of brief amuletic texts in French and Latin, promising protection to those who in good Christian devotion meditated about the Passion while gazing at particular apotropaic images. Women who could not bear children were instructed to place on their bodies a prayer accompanied by the painted image of the Measure of Christ. A second French charm (“orayson”) relates to the Side Wound of Christ, which the Roman centurion Longinus had made with his lance. Here the text promises protec- tion to those born under its red lozenge-shaped wound. The parchment manuscript leaf serving as a wrapper includes a Latin amuletic text, called a “brevet” in the French prefatory explanation. The bifolium and wrapper folded down to a small rec- tangle and may well have been used separately before being included in the present birthing kit sometime in the seventeenth century. At this time, much of the text in this amulet was copied by hand on a piece of paper, perhaps offering insurance against loss and allowing more than one person at once to benefit from the amuletic text, which did not contain the user’s name.22 Other seventeenth-century items in the silk sack include two small broadside amulets on paper. The first of the two, possibly unique, is a French prayer to Our Lady of Montserrat (“Oraison tres deuote à la glorieuse V[ièrge] Marie de Montserrat, bonne en toute tribulation”). At the top of the broadside is a mutilated seal of the Abadia de Santa Maria de Montserrat, in Catalonia, depicting its Romanesque statue of La More- neta, or Black Madonna, in the Benedictine abbey’s mountainous landscape, with the motto “[Maria Virgo] Semper Letare”. The prayer is accompanied by instructions about amuletic birthing use: “Item toute femme estant en trauail d’enfant, luy mettant ladite Oraison sur elle, tantost sera deliurée”. The second is a French and Latin amulet, with an illustration of the Side Wound of Christ, promising successful childbirth and other forms of protection to those who offer a prayer based on the Side Wound of Christ (“Cest la vraye mesure de la playe du sacré coste de Nostre Seigneur Jesus Christ”).23

22 Similarly, there are two versions of a ca. 1400 plague amulet from Pisa for a man named Domen- ico (Pisa, Bibliotheca Universitaria, MS. 736, nos. 2–3). For a discussion, see Skemer 2006, 178–180; Del Guerra 1933. A portion of Del Guerra’s transcription is reprinted in Cardini 1982, 72. For a brief description of this textual amulet, among the manuscripts received from the Fondo Camici-Roncioni, see Mazzatinti 1916, vol. 24, 62, no. 726 (5) “[Orazioni contro la peste (sec. XV)]”. 23 The text of the second amulet, printed in Paris, concludes with broad promises of protection, reminiscent of the Heavenly Letter: “Ceux qui prient auec foy la mesure de la Playe des coste de IESVS sont preserués de beaucoup de dangers specialmente du feu, de l’eau, de la tempeste, de la peste, de toute blesseure, & des Demons: este de dangers les femmes qui sont en trauail d’enfant & les fait deliurer heureusement, &c.”. Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 141

The two broadsides were folded up like amulets. A dealer’s description that came with Princeton MS. 138.44 mentions that the sack also contained a printed ribbon, approximately 90.0 cm in length, with a Spanish inscrip- tion related Our Lady of Montserrat (“Medida de neustra s[eñ]ora de Mont- serrate”). No longer extant, the ribbon was long enough — the word medida refers to the measure of the Virgin Mary’s abdomen when pregnant — to function as a birthing girdle encir- cling the parturient woman. Perhaps a pilgrim who had purchased it at the abbey, which had operated a printing operation since 1499/1500, brought the printed ribbon back.24 Any of the printed items could have been pur- chased from an itinerant colporteur, who in a sense was also a Textträger when carrying and displaying his wares. Accompanying these pieces is a contemporary paper wrapper. Judging from its folds and stains, the wrapper was folded in a lozenge shape to resemble the apotropaic Side Wound of Christ. Several red wax seals kept the textual amulets and broadsides inside the wrapper, so that the various items could be applied collectively to a woman’s abdomen in the manner of Fig. 5: German amulet roll, seventeenth century a birthing girdle. On the wrapper is an (detail of three sections) inscription in a large round hand of the mid-seventeenth century, describ- ing the contents as “Reliques De made[mois]elle Lacroix de Nogaro à l’usage des amis”. The honorific title mademoi- selle then meant that Lacroix was a laywoman, whether married or not. Perhaps she

24 Concerning the Montserrat press, see Roure/Marín/Parer 2007, 203, 215–216; Altés I Aguiló 1999. 142 Don C. Skemer

was a local midwife or a wise woman dispensing reproductive magic. While these textual amulets were certainly not sacred relics as defined in canon law, they were no doubt considered such by Lacroix and her friends, and perhaps by users in the eighteenth century, if the silk purse dates from then.25 Whether used individually or collectively, over a considerable span of time, these textual amulets were believed to deliver God’s power to the faithful. Contemporary with such birthing kits were German magic rolls based on a concat- enation of traditional white magic, pseudo-Solomonic magic, and Christian Kabbalah. A fine example, recently acquired by the Princeton University Library, is a mid-seven- teenth-century German amulet roll with a multi-purpose text, written on the face of a four-membrane parchment roll measuring 215.0 × 6.0 cm (fig. 5).26 When fully rolled, it would easily fit into a pouch worn on the body to protect the bearer from a wide array of misfortune and adversaries. The name of the German amulet roll’s owner is not indicated, but this does not mean that its contents were not activated for personal use. At the same time, the roll could conceivably also serve as a portable source of exemplars that could be copied out on small slips of parchment or paper for use as amulets.27 Most of the thirty-seven seals on the roll offer the bearer divine protection

25 In terms of canon law, there were classes of relics: first-class relics included instruments of a saint’s martyrdom or notable body parts; second-class relics could include books and other bits of writing copied by saints and thus having come in contact with them, like a saint’s garments; and third-class relics were other artifacts that came in contact with saints later, cf. Dooley 1931, 4. 26 Princeton University Library, C0938, no. 496. This roll was formerly in the private collection of Dr. Ernst Klug, professor of medicine at the Institut für Rechtsmedizin der Freien Universität, Berlin, and was donated by Bruce C. Willsie to the Princeton University Library. Another example from Germany is a five-membrane magic roll, usable in whole or part as an amulet. It was written on parchment (271.0 × 9.5 cm) in the first half of the seventeenth century. This amulet roll was sold in Munich at a Hartung & Hartung auction, sale no. 124, 3–5 May 2010, lot 50; and then again in London, Sotheby’s, 7 December 2010, lot 34. On the roll’s face are thirty-four pseudo-Solomonic and alchemical seals executed in green, red, and other colors. Some seals have German inscriptions explaining its value against a particular source of misfortune, from envy and hate to snakebites and witchcraft: “Neid vnd Haß, Vergiftung, Feindschaft, Zauberey, Feinde, Unversechener Zuefall, sturmb vnd Vngewit- er, armueth vnd triebsaal, Thüer vnd Schlangen büß”. Additional amuletic texts are written along the length of the dorse, including a three-barred cross and adjacent amuletic text based on divine names, the travel charm “Christus autem per medium illorum ibat”, and other elements written in a German cursiva currens. The roll includes the name Johannes Michael, presumably the owner. A brief description of the Zauberrolle and selected images of magic seals is at http://www.hartung-hartung. de (Retrieved 28.8.2014) (24-134772); and Sotheby’s 2010, 32, no. 34. An eighteenth-century amulet roll of magic seals and text, with writing on both sides, survives in Linz, Oberösterreichisches Landesmu- seum, Inv.-Nr. F 10.418. Several images are available at http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zau- berrolle_1.jpg. 27 In describing a seventeenth-century English magic roll, which measured only 2.7 cm thick when fully rolled (London, British Library, Additional MS. 25311), W. Sparrow Simpson speculated that its seals could be “transcribed singly, on pieces of vellum, and carried about the person; or possibly, they were to be engraved on places of metal, and worn as medals”. See Sparrow Simpson 1884, 314. Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 143

against evil spirits, disease, and death. The roll begins and ends with the Tau cross and the Tetragrammaton, the ineffable name of God (YHWH) written in Hebrew script and also transliterated (“Iod, He, Vau, He”). Particular series of majuscule (הוהי) letters (magische Buchstabenreihe) separated by crosses or punctus are meant to look cryptic and magical but can be decoded. At the beginning of the roll, the Tetragram- maton is accompanied by the inscription “† C † M † B †” (that is, “clarissimae memo- riae benedictus”). One of the seals offers protection against the Devil and the plague through cryptic inscriptions similar to those found on contemporary religious medals and magic rings of that time period, such as “V.R.S.N.S.M.[V]” (“Vade retro satana. Nunquam suade mihi vana”) and “N.D.S.M.D.” (“Nunquam draco sit mihi dux”), both found in medals of the Cross of St. Benedict; and “Z.D.I.A.” (“Zelus domus libera me. Deus expelle pestem de loco isto. In manus tuas Domine commendo animam meam. Ante coelum et terram Deus erat”.), using conjurations and the Seven Last Words as protection against the plague.28 Several images are based on traditional Christian iconography, such as the ancient Chi-Rho monogram, inscribed “In hoc vince”; the Sacred Heart, inscribed “Ihesus Maria Joseph”; and a heart-shaped Crucifixion scene, accompanied by the hymn “Rex gloriae, venit in pace”, written in a German cursive hand of the mid-sev- enteenth century. The text includes crosses of every description (including Greek and Tau), sacred numerology (for example, the number 72), and characteres. The text con- tains Hebrew names of God; and a large Tau cross, with an appeal for divine aid (“Per signum crucis Thau libera me Domine in nomine patris † et filius † et spiritui sancti † Amen”.). Even more prominent are elements influenced by pseudo-Solomonic magic, including pentacles, triangles, squares, five- and six-pointed stars, and multi-rayed figures; divine names, such as AGLA, Adonai, Elohim, and Alpha et Omega; and retro- grade writing. Unlike Jewish Kabbalistic examples written entirely in Hebrew, textual amulets based on Christian Kabballah tend to use Hebrew script restrictively. In the German amulet roll, Hebrew is chiefly used in connection with the Tetragrammaton, which was configured into powerful apotropaic forms (seals, crosses, a mandorla, and a word square); and into ideograms based on the letter Aleph.29 The amulet roll concludes with a large figure of the Tetragrammaton arranged as a Tower of Fortitude, surmounted by a figure of the Scale of 10 and a cross, though Kabbalists assigned the Tetragrammaton a gematria numerological value of 26. This figure is accompanied

28 Canéto 1863; Elworthy 1895, 401. 29 On the importance of the Tetragrammaton in Kabbalah, as well as Kabbalistic elements in amu- lets, see Scholem 1987, 323–330; Wallace Budge 1961, 366–379, 390–405. For comparison, Bridgeman Education (London, The Bridgeman Art Library) offers digital images of at least three Jewish Kabba- listic amulets, which were written on parchment or paper in the sixteenth to eighteenth centuries (Cavallon, France, Musée Juif Comtadin, image numbers XIR 230801, XIR 23082; and Jerusalem, Israel Museum, image number IMJ 328804). http://www.bridgemaneducation.com (Retrieved 28.8.2014). 144 Don C. Skemer

by an apotropaic inscription from Psalm 60:4 (“Turris fortitudinis ante occidentem inimicis”). As with the French birthing kit, the German amulet roll was based on magical texts available in manuscript or print. The compiler’s principal sources included manuscripts and printed compendia of ritual magic. One of the main sources was Cla- vicula Salomonis, the Latin version of a pseudo-Solomonic handbook, which was cir- culated in manuscript form and consulted in the libraries of practitioners of astrology and the magical arts in the seventeenth century. Hebrew word squares and related figures were borrowed from Christian Kabbalah. Some of the figures can be found in printed books, such as Henry Cornelius Agrippa von Nettesheim’s (1486–1535), De occulta philosophia.30 Copied from the Clavicula was the amulet roll’s most vivid talis- manic seal. This was the Face of Shaddai (first pentacle of the Sun), a personification of a Hebrew name of God, invoking its power and offering good luck to the possessor, with the Latin inscription “Ecce faciem et figuram eius per quem omnia facta sunt et cui obediunt omnes creaturae”. Several pentacles have inscriptions from Psalms, promising triumph in arms; for example, the fifth pentacle of Mars, with Psalm 90:13 (“Super aspidem et basiliscum ambulabis et concalcabis leonem et draconem”); the sixth pentacle of Mars, with Psalm 36:15 (“Gladius eorum intret in corda ipsorum et arcus ipsorum confringatur”); and the sixth pentacle of Jupiter, imperfectly quoting Psalm 21:17–18 (“Foderunt manus meas et pedes meas et enumeraverunt omnia ossa mea”). Also copied from the Clavicula is the second pentacle of Saturn, which incor- porated the all-purpose ancient Roman magic word square “SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS”. In most cases, powerful words, symbols, and images worn on the body were far more important than the particular writing support or means of copying. Early print- ing supports this conclusion. Building on the popularity of textual amulets during the Middle Ages, mechanical reproduction on paper in the fifteenth century offered a new way to meet the growing lay demand for religious articles of all categories. From the 1420s, at least, decades before the revolutionary application of moveable type to printing, paper block prints of devotional images might add Christian prayers or popular jingles suggesting amuletic use. These could serve as amulets when based on imagery such as St. Christopher with the Christ child, and the Instruments of the Passion (arma Christi) or Mass of St. Gregory. In the second half of the fifteenth century, printed amulets and devotional broadsides coexisted with woodcuts and metal-cuts

30 Ribadeau Dumas 1972; Clavicula Salomonis 2000; Henry Cornelius Agrippa von Nettesheim used some of the figures in De occulta philosophia, see Nowotny 1967, cxxvii (Scala denarii); ccxxx (word square based on the Tetragramaton, with additional letter aleph); cclxxvii (three seals based on the Chi-Rho monogram, with inscription In hoc signo vince, referring to the legend of Constantine’s vision of the Christogram IC XC NIKA before the Battle of Milvian Bridge in 312 A.D., and a seal of Solomon, with six-pointed star, and a seal based on Hebrew letters). Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 145

incorporating brief devotional or amuletic texts. Printers often left the non-activated form “N[omen]” and a blank space for the owner’s name. Handwritten amulets pro- vided early printers with exemplars, physical models, and a commercial inducement to batch-produce broadside amulets along with devotional texts and images, indul- gences, and other cheaply printed forms of popular literature. Unlike handwritten amulets, which had been custom-produced like manuscript books, paper amulets could be printed on speculation, at a low unit cost. Paper amulets were printed in press runs from a few hundred to a few thousand in expecta- tion of meeting a robust market demand, though they were inherently ephemeral and thus survive in meager numbers, if at all. For example, the Dominican convent of San Jacopo di Ripoli in Florence did a thriving business in producing textual amulets and devotional broadsides for sale, many of which were purchased wholesale by street peddlers and sold off one by one. Between 1476 and 1482, the ecclesiastical press established at the Dominican convent of San Jacopo di Ripoli in Florence printed about twenty-five devotional broadsides, including amuletic texts that could serve an amuletic function if they incorporated iconography or themes associated with pro- tection.31 One of the Ripoli broadside amulets, based on the Measure of Christ, was printed around 1480. A broadside paper amulet (10.5 × 22.0 cm) of the “Orazione della misura di Cristo”, may be a surviving example of those printed at the Ripoli press (New York, The Pierpont Morgan Library, PML 16529). As with other early printed amulets, few examples survive despite the number of identical copies printed.32 The transition from textual amulets from manuscript to print culture in the fifteenth century was never complete. In subsequent centuries, handwritten and printed amulets contin- ued to co-exist and to borrow freely from one another, as they both did from oral tradition. Moreover, textual amulets continued to be used along with relics, pilgrim’s badges and ampullae, religious figurines, and other objects believed to be sources of divine protection or good luck. Such objects included cheap trinkets produced in urban workshops, sold at pilgrimage sites, and hawked by illiterate street peddlers. The study of textual amulets in the Middle Ages and early modern era sheds light on homo portans as Textträger. Amuletic texts were written on flexible writing sup- ports that contributed to their portability, and they were among the most common objects that people carried with them. The choice of writing support was generally a matter of convenience; that is, producers tended to use the most prevalent writing

31 Bühler 1937; Skemer 2006, 228–230, fig. 9; Rouse/Rouse 1988, 37–38, note 40; imprints listed on 70–94 include the following broadside prayers: nos. ii–vi, viii, x, xii, xiii, xvii–xix, xxix, xliii, xlvii, xlviii, l, liv, lix, lxi, lxvii, lxix, lxxv. 32 Printed amulets with single amuletic texts were as ephemeral as handwritten amulets. In the years 1512–20, for example, the Memmingen printer Albrecht Kunne produced a vernacular broadside am- ulet (23.2 x 14.2 cm) based on the Heavenly Letter (“Himmelsbrief: Ain abgeschrift des brieffs den gott gesant hat auff sant Michelsberg”), which survived in only one copy, now lost, at the Universitätsbib- liothek Heidelberg. See Schlechter/Ries 2009, 542, no. 926. 146 Don C. Skemer

material available locally at the time (papyrus, metal sheets, parchment, or paper). Amulet producers in the Middle Ages, like their ancient forebears, occasionally used sacralized writing materials, such as sheets or strips of parchment removed from manuscripts of scripture or liturgy. As with ancient medical authorities like Marcellus Empiricus of Bordeaux, instructions in medieval handbooks and recipe collections might call for the use of virgin parchment (pergamena virginea or charta non nata) to guarantee ritual purity and enhance efficacy; pigeon’s blood or myrrh to be used as ink; and a complex sequence of magical rites and operations, accompanied by retro- grade writing and other practices associated with necromancy and aggressive magic. There is no way to know how common such exotic writing materials and rituals may have been in the magical universe of the Middle Ages. Producers of textual amulets needed a basic level of literacy and thus tended to be local priests and monks provid- ing conventional Christian magic as part of pastoral care. Exotic writing practices and materials were no doubt more common among lay practitioners of magic. By assembling powerful words and images into a material text activated for a par- ticular person, one imbued them with special meaning. In the popular imagination, wearing textual amulets continuously on the body offered more lasting protection than that of verbal charms, which could only be uttered from time to time. Unlike religious medals and jewelry with space for brief inscriptions, textual amulets written on flexible writing supports could accommodate a more extensive, multi-purpose text, expandable over time, in a physical format that was at once lightweight, flexi- ble, portable, concealable, inexpensive, and disposable. Folding sheets or small rolls allowed one to combine and overlay a range of amuletic texts in a physical format that facilitated use and enhanced power. Different physical configurations had particu- lar advantages: folding created columns and cells for particular texts; rolls curled so that they surrounded the body protectively, most distinctly when they were wrapped around a pregnant woman’s abdomen. Parchment was the best writing support for de luxe amulets with miniatures, which, like illuminated manuscripts, survived in disproportionate numbers. By the fifteenth century, paper was inexpensive enough to become the writing support of choice for the production and distribution of nearly identical printed amulets, as well as devotional broadsides and indulgences with pos- sible amuletic functions. In conclusion, textual amulets are best studied over the longue durée, in relation- ship to medieval book history and popular belief. In this way, one can see that textual amulets were one of the most enduring phenomena in the magical universe. They have been an integral part of the material culture of the homo portans over the course of thousands of years, from the ancient world through the Middle Ages. The produc- tion and use of textual amulets continued for millennia despite changes in their con- tents, methods of production, and writing materials. Textual amulets have proved to be relatively immune to changing geo-political realities, have thrived on religious syncretism, and stubbornly defied European rationalism and modern science. Even Magic Writ: Textual Amulets Worn on the Body for Protection 147

today, they live on in cyberspace, where Internet vendors still offer the protective shield of written magic to people in need.

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List of figures

Fig. 1: Egyptian papyrus amulet, fourth–fifth century. Princeton University Library, Department of Rare Books and Special Collections, Manuscripts Division, Princeton Papyri Collections, II. 107 Fig. 2: Fever amulet copied in an Italian legal miscellany, fourteenth century (detail from back wrapper). Princeton University Library, Department of Rare Books and Special Collections, Princeton MS. 25. Fig. 3: German or Bohemian amulet, fourteenth century. Austin, University of Texas, Harry Ransom Humanities Research Center, Popular Imagery Collection, box 11, no. 422. Fig. 4: French birthing kit, fifteenth–seventeenth century (including bifolium from a devotional manuscript, two paper amulets, Lacroix paper wrapper with red wax seals, and embroidered silk purse with drawstrings). Princeton University Library, Department of Rare Books and Special Collections, Princeton MS. 138.44. Fig. 5: German amulet roll, seventeenth century (detail of three sections). Princeton University Library, Department of Rare Books and Special Collections, C0938, no. 496.

Norbert Kössinger Gerollte Schrift Mittelalterliche Texte auf Rotuli

Mittelalterliche Schriftlichkeit stützt sich in medientechnischer Hinsicht fast aus- schließlich auf den Codex als Überlieferungsträger. So richtig diese Aussage ist, sie bedarf doch der Differenzierung: Denn neben der codexförmigen Aufzeichnung von Schrift gibt es bekanntlich alternative Medien der Schriftfixierung, von Konzepten auf Wachstafeln bis hin zu steinernen Inschriften. Gegenstandsbereich der folgenden Ausführungen ist der Rotulus, also die aus einem oder mehreren aneinander genäh- ten Pergament- oder Papierstreifen bestehende Schriftrolle, wie sie im Mittelalter vom 7. bis zum 16. Jahrhundert in Gebrauch ist, oder in Gebrauch bleibt, wenn man die mittelalterlichen Rotuli in mediengeschichtlicher Kontinuität zu den antiken Buch- rollen sehen möchte.1 Bei der Beschäftigung mit mittelalterlichen Rotuli stehen wir vor zwei grund- sätzlichen Problemfeldern, einem heuristisch-phänomenologischen und einem hermeneutischen. Ich beginne mit der Heuristik und beschränke mich hier auf das Wesentliche: Eine umfassende Bestandsaufnahme der Schriftrollen des Mittelalters existiert nicht einmal im Ansatz, nur für ausgewählte Bereiche liegen Zusammenstel- lungen jüngeren Datums vor. Dies gilt für die lateinischen Rotuli genauso wie für die aller europäischer Volkssprachen. Man kann zurückgreifen auf die Sammlungen in Wattenbachs Schriftwesen, in Bischoffs Paläographie oder – nicht zuletzt für einige deutschsprachige Fälle – auf die in Karin Schneiders Handschriftenkunde.2 Spät- mittelalterliche Gebetbücher in Rollenform hat zuletzt Hans-Walter Storck in einem Artikel zusammen- und vorgestellt, Chroniken in Rollenform hat Gert Melville unter dem Stichwort Geschichte in graphischer Gestalt gesammelt und untersucht, hier ins- besondere den Liber de genealogia Christi und das Compendium veteris testamenti des Petrus Pictaviensis sowie die Compilatio historiarium veteris testamenti des Johannes de Utino.3 Historiker denken bei Schriftrollen zudem sofort an die Tradition jener der Gebetsmemoria verpflichteten Totenrotuli, denen Gabriela Signori zuletzt eine Studie gewidmet hat, sowie an den berühmten Lorscher Rotulus Ludwigs des Deutschen.4

1 Was durchaus bezweifelbar ist. Grundlegende terminologische und sachgeschichtliche Erwägun- gen bei Grubmüller 2005 und Muzerelle 1985, 58f. Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentli- chen auf den Erkenntnissen meiner Habilitationsschrift: Kössinger 2013. 2 Wattenbach 18863, 150–174; Bischoff 19862, 52–54; Schneider 20092, 189f.; Jakobi-Mirwald 2004, 113–120. 3 Storck 2010; Melville 1987. 4 Signori 2008; Lorscher Rotulus 1994/2004.

© 2015, Kössinger. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz. 152 Norbert Kössinger

Bibliothekare denken an mittelalterliche Bibliotheksverzeichnisse in Rollenform, die sogenannten Hilfswissenschaftler an rollenförmige Urbare, Rechnungsbücher oder Wappenbücher.5 Theologen denken zu allererst an die einschlägigen Bibelstellen bei Ezechiel, bei Jesaja und in der Apokalypse, dann an die süditalienischen Exultetrol- len, denen im Kontext der Osterliturgie eine zentrale Bedeutung zukommt, und für die sich insbesondere natürlich Musikhistoriker interessieren.6 Bildwissenschaftler denken an die überreiche Tradition des ikonologischen Motivs der Schriftrolle.7 Mit- tellateiner denken nicht zuletzt daran, dass auch eine Tradition literarischer Texte in Rollenform existiert, wie im Fall des Streitgedichts Ganymed und Helena.8 Und schließlich denken Judaisten sofort an die epochenübergreifende Tradition geroll- ter Schrift in der jüdischen Religion (Thorarollen, Hamesh Megillot, Megillat Esther sowie die Sonderformen der Tefillin und Mesusa).9 Ein ziemlich heterogenes Feld also, das hier in den Blick kommt, und das sich nicht weiter (jedenfalls nicht besonders) verunklärt, wenn man die Wissenschaft von der Älteren deutschen Sprache und Literatur hinzunimmt, denn literaturwis- senschaftlich arbeitende Germanisten denken zugegebenermaßen meistens an gar nichts oder sehr wenig, wenn die Rede auf deutsche Textüberlieferung in Rollen- form kommt. Allenfalls das Osterspiel von Muri oder die Frankfurter Dirigierrolle sind bekanntere Fälle, die beide aus dem Bereich des geistlichen Spiels stammen.10 So konstatiert Volker Honemann in einem Artikel über Funktionen des Buches in Mittelal- ter und Früher Neuzeit von 1999 völlig zu Recht, dass „die Bedeutung der Rolle bisher schlecht erforscht und deswegen meist unterschätzt“11 sei. Birgit Studt hat Rollen in einem Aufsatz über Gebrauchsformen mittelalterlicher Rotuli als eine „Randerschei- nung der spätmittelalterlichen Schriftkultur“12 bezeichnet. Auch das sicher mit guten Gründen. Damit ist der aktuelle mediävistische Forschungsstand angedeutet und wir können als Desiderat daraus ableiten, dass eine solide katalogartige Zusammenstel- lung dieses Überlieferungsträgers nötig wäre, allein um sich einen Überblick zu den erhaltenen Materialien verschaffen zu können. Eine solche systematische Bestands- aufnahme aller erhaltener mittelalterlicher Rotuli ist – wie bereits Studt festgehalten hat – durch die Tatsache erschwert, dass „Rotuli eher in archivalischen als biblio- thekarischen Zusammenhängen und häufig in Sonderfonds überliefert sind, so dass

5 Repräsentativ für den gesamten Bereich verweise ich hier lediglich auf die Studie von Clanchy 20133, der sich auch mit Rotuli befasst. 6 Kiening 2011, 11–35; Kelly 1996. 7 Weitzmann 1947/19702. 8 Lenzen 1973. 9 Ehrman 2007; Herzog 2007. 10 Zuletzt im Überblick Schulze 2012, 38–44 und 56–60. 11 Honemann 1999, 541. 12 Studt 1995, 327. Gerollte Schrift 153

sie sich in den gedruckten Handschriftenkatalogen einschlägiger Bestände nur selten verzeichnet finden.“13 Für meinen spezifischen germanistischen Interessenszusammenhang bestand das Ziel in einer möglichst vollständigen Zusammenstellung und in einer umfassen- den philologischen Untersuchung des erhaltenen Bestands. Das edierte und analy- sierte Material, von dem ich gleich einige Teile etwas eingehender vorstellen werde, bildet dabei die Grundlage für den Entwurf einer Typologie der auch hier wieder schwerpunktmäßig deutschsprachigen Rotulus-Überlieferung unter Einbezug nicht- deutschsprachiger Fälle.14 Damit komme ich zu dem Teil, den ich eingangs ‚Herme- neutik‘ genannt habe. Die Untersuchung von Rotuli als Überlieferungsträger scheint mir nicht nur irgend- ein heuristisch bislang unzureichend erschlossener Gegenstand zu sein, sondern auch und vor allem ein Faszinationsbereich, aus dem sich reiches Kapital schlagen lässt für eine historisch adäquat und methodisch fundiert vorgehende Medien- und Literaturgeschichte. Denn so selbstverständlich, wie man seit langem nach dem Verhältnis von Codex und Text fragt, können wir das auch für die mittelalterlichen Schriftrollen tun. Handschriften sind in unserem modernen wissenschaftlichen Ver- ständnis inzwischen viel mehr als reine ‚Texttransporter‘, sie sind gleichsam „Kul- turträger“, wie Michael Curschmann es einmal genannt hat, die längst ihren eigenen literarhistorischen Platz haben.15 Was wir dabei an den Rollen fallbezogen studieren können, ist das text- oder medienanthropologische Anliegen einer Beschreibung der Relation von Text und Textträger, mithin die Frage danach, ob sich die Text-Überliefe- rung mit all ihren Beschreibungsebenen auf der einen Seite, mit Text-Poetologie und Text-Gebrauch auf der anderen Seite bis zu einem gewissen Grad engführen lassen.16 Es macht eben einen Unterschied, um die eingangs genannten Beispiele wieder auf- zugreifen, ob man etwas in eine Wachstafel einritzt, in einen Codex schreibt oder in Stein meißelt. Sinn und Sinnträger, Kommunikation und Materialität der Kommu- nikation, ‚medium‘ und ‚message‘ sind Kategorien, die wir begrifflich und von der Sache her unbedingt voneinander trennen sollten, aber nur, um sie schließlich doch und sinnvoll wieder in Beziehung zueinander setzen zu können. Für die Schriftrollen lässt sich dieser Ansatz vorläufig und vereinfacht auf die Frage bringen, warum ein bestimmter Text in Rollenform und nicht in einer anderen medialen Form, etwa in Codexform, aufgezeichnet wurde. In Frage steht also die pragmatische Funktionalität des Mediums in je spezifischen Fällen. Ich möchte diese etwas abstrakte Skizze nun anhand einer Reihe von Fallbeispie- len konkretisieren, anhand derer ich Determinanten einer Theorie von gerollter Schrift

13 Studt 1995, 327. 14 Ausgeführt in Kössinger 2013. 15 Curschmann 1999, 421. 16 Zu diesem Ansatz Hilgert 2010 und Müller 2005. 154 Norbert Kössinger

im Mittelalter entwickeln möchte. Voranstellen möchte ich einen kurzen Überblick zu dem gesamten Bereich, wie er sich aus germanistischer Sicht darstellt: Ergeben hat meine Sammlung mehr als 35 Rotuli mit deutschsprachigen Texten, die sich text- typologisch insgesamt zwölf Gruppen zuordnen lassen, wobei ich für die vier letzten Typen ausschließlich auf englisch-, französischsprachige oder lateinische Rollen zurückgreifen muss, es aber nicht für unwahrscheinlich halte, dass es deutschspra- chige Repräsentanten für diese Gruppen gegeben haben könnte.17 Diese Typen seien hier in aller Kürze vorgestellt: 1. ein medizinischer Typ mit drei Vertretern aus dem 11./12. und 14. Jahrhundert, 2. Verwaltungsschrifttum ab dem 11. Jahrhundert, das ins- gesamt eine sehr heterogene Gruppe darstellt, zu der Güterverzeichnisse (‚Rodeln‘), ein Eigenleutverzeichnis, ein Weistum und ein Reliquienverzeichnis zählen, 3. Ein- zelrollentexte und sogenannte ‚Dirigierrollen‘ aus dem Bereich des weltlichen und geistlichen Spiels aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, die zusammenzusehen sind mit 4., dem paraliturgisch-orationalen Typ mit (vor allem mittelniederländischen) Ver- tretern aus dem 14. und 15. Jahrhundert. 5. ist der Typ Spruchdichtung mit vier Ver- tretern aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Typ 6 sind Minnereden (Liebesbriefe), die sich in zwei Fällen erhalten haben (Regensburger Liebesbrief und De ghelasen sale, beide aus dem 14. Jahrhundert), Typ 7 sind Texte aus juristischen Zusammenhängen, z. B. die Darstellung einer Fehde zwischen Hagenauer und Straßburgern aus dem 14. Jahrhundert. Typ 8 sind Text-Bild-Verbindungen, wie sie etwa beim Berliner Papst- Kaiser-Rotulus aus dem 15. Jahrhundert vorliegt. Die folgenden Gruppen lassen sich wie gesagt ausschließlich mit englisch- und französischsprachigen bzw. lateinischen Rollen belegen: Typ 9 sind Legenden, etwa die des hl. Guthlac oder Margaretenle- genden. Typ 10 sind lateinische Chroniken (Chronicon Novaliciense, Chronicon Bene- dictoburanum), Typ 11 ist die Epik, für die es mit dem Abenteuerroman Amadas et Ydoine einen erhaltenen anglonormannischen Vertreter gibt. Und schließlich Typ 12 die Lieddichtung. Die chronologische Verteilung ist im 13., 14. und 15. Jahrhundert relativ gleichmä- ßig, das 11. und 12. Jahrhundert ist etwas seltener vertreten. Aus der frühen Zeit vor dem 12. Jahrhundert haben sich keine volkssprachigen Rotuli erhalten. Der einzige Repräsentant eines Rotulus aus karolingischer Zeit überhaupt ist der Lorscher Rotulus Ludwigs des Deutschen. Von der Schreibsprache her gesehen umfassen die ausge- hobenen Rotuli punktuell das gesamte deutsche Sprachgebiet unter Einschluss des Mittelniederdeutschen und des Mittelniederländischen. Gliedern wir das Material nicht von den Texten her, sondern von der medialen Anlage der Rollen, so ergibt sich ein anderes Bild: Die meisten Rotuli sind fragmentarisch erhalten, vollständig erhal- tene finden wir dennoch in immerhin 16 Fällen. Im Unterschied zur antiken Buchrolle sind alle deutschsprachigen (und das gilt ebenfalls für fast alle weiteren mittelalter- lichen) Rotuli nicht in Kolumnen auf der Langseite des Beschreibstoffes, sondern auf

17 Ausgeschlossen sind hier von vornherein lediglich sekundär bezeugte Rotuli. Gerollte Schrift 155

der Schmalseite von links nach rechts beschrieben, also in Form einer charta trans- versa, wie man in antiker Terminologie sagen würde.18 Opistographe, also beidseitig beschriebene Rotuli, bilden die Ausnahme, wobei es hier nochmals den Sonderfall von kopfständiger Beschriftung auf der Rückseite geben kann. Der größte Teil ist nur einseitig beschrieben. Beschreibstoff ist ganz überwiegend Pergament, auch bei den erhaltenen Rotuli des 15. und 16. Jahrhunderts. Zu unterscheiden sind ferner Rotuli, die lediglich aus einem einzelnen Streifen bestehen, von solchen, die aus mehreren Streifen zusammengesetzt sind. Was die Texteinrichtung von der Ausstattung und vom Layout her angeht, zeigt sich ein reiches Spektrum an Möglichkeiten, das sich eng an jenes der kodikalen Formen von Schrift- und Textgestaltung anlehnt. Als Benutzungshilfen sind in manchen Fällen Stäbe an den Enden der Rolle angebracht. In seltenen Fällen haben sich Kapseln zur Aufbewahrung erhalten. Es zeigt sich also bereits an diesem Punkt, dass die Rede von dem mittelalterli- chen Rotulus den Blick auf verschiedene mediale und funktionale Typen verstellt, die zumal ‚buchgeschichtlich‘ deutlich voneinander abzuheben sind und auch so behandelt werden müssen. Es gilt hier also Ähnliches wie für die pauschale Rede von dem mittelalterlichen Codex. Daraus ableiten lässt sich das Desiderat eines Beschrei- bungsinstrumentars, das – komplementär zur Kodikologie – spezifisch auf Rotuli ausgerichtet ist, also eine Art ‚Rotulologie‘, wie man es nennen könnte. Nun zu meinen Fallbeispielen: Das erstes Beispiel gehört zu meinem Typ 1, also dem Bereich der Medizin. Der sogenannte Rotulus von Mülinen (Bern, Burgerbib- liothek, Cod. 803, Abb. 1) ist vielleicht im Kloster Murbach, der Schreibsprache der deutschsprachigen Bestandteile nach zu urteilen im 11. und 12. Jahrhundert jedenfalls im Alemannischen entstanden. Die Pergamentrolle ist im Ganzen fast sechs Meter lang und circa 13 Zentimeter breit. Sie wurde in voller Breite und Länge ein- und zwei- spaltig auf beiden Seiten beschrieben. Überschriften und Initialen sind in roter Farbe gehalten. Die Rolle enthält insgesamt ungefähr 460 lateinische Rezepte, Beschwö- rungen und Segensformeln, dann Pflanzenbezeichnungen mit 140 althochdeutschen Interlinearglossen und auf der inneren Seite weitere Rezepte sowie ein alphabetisch angelegtes, lateinisch-althochdeutsches Pflanzenglossar.19 Worauf es mir hier zunächst ankommt, ist die Zusammensetzung dieser Rolle: Sie besteht aus insgesamt 15 Streifen unterschiedlichster Länge, die von 5 Zentimeter bis zu fast einem Meter reicht, die aneinander genäht oder aneinander geklebt wurden. Ganz offenbar geschah die Anlage der Rolle aber nicht in einem Arbeitsgang, sondern Stück für Stück über einen längeren Zeitraum, wohl etwas mehr oder weniger 50 Jahre insgesamt. Das belegen die Wechsel der Schreiber (insgesamt neun ohne die zusätzlich zu zählenden glossierenden Hände), die oft, aber nicht immer, mit einem

18 Eine Ausnahme von dieser Regel bilden grundsätzlich Bildrotuli, auf die ich hier nicht näher ein- gehen kann. 19 Beschrieben bei Krotz 2010a. 156 Norbert Kössinger

Streifenwechsel zusammenfallen. Die Rolle zu verlängern ist jedenfalls ohne Prob- leme möglich gewesen, genauso wie sie durch die Herausnahme eines Streifens zu verkürzen gewesen wäre. Der Rotulus enthält nun unter den vielen lateinischen Rezepten auch eines in deutscher Sprache, nämlich ein Rezept gegen Gicht, zu dem es eine zweite, zeitnahe Überlieferung in einem fragmentarisch erhaltenen Münchener Codex gibt (Bayeri- sche Staatsbibliothek, Clm 23479, Abb. 2).20 Ein Vergleich bietet sich an, um die Spezifik der Rollenüberlieferung gegenüber dem Codex herauszuarbeiten: Auf medialer und kontextueller Ebene sind sich die Texte sehr ähnlich. Bei beiden handelt es sich um planmäßige Einträge mit ähnlichem Schriftspiegel und ähnlichem Textlayout. In beiden sind die Texte gerahmt durch ähnliche Überlieferungskontexte, Rezepte, Beschwörungen, Tier- und Pflanzenna- men. Ihre Differenz wird erst greifbar, wenn man die Texte selbst untereinander ver- gleicht: Bei dem Text im Codex handelt es sich genau genommen um einen deutsch- lateinischen Mischtext, der laufend mit den typischen id-est-Formeln als Formen von Kontextglossierung operiert, mit denen lateinische Einzelwörter oder kleinere Syntagmen übersetzt werden (z. B.: paralisin patiatur. idest uirgihtdigot werde). Diese kann man tendenziell als vortragsfern einstufen und sie haben ihren Ort traditionell in den Bereichen Schule und Gelehrsamkeit. Der rotulare Text ist demgegenüber rein deutschsprachig, was bereits aus der Überschrift hervorgeht (Contra paralysin theu- tonice). Über den ersten Wörtern des Textes stehen neumenartige Akzente, denen man früher magische Bedeutung zugeschrieben hat, was sich aber als falsch erwies.21 Sie sind übernommen aus dem Akzentuierungssystem Notkers des Deutschen und dienen somit vielmehr der richtigen Betonung des Textes, lassen in jedem Fall also darauf schließen, dass der Text vorgetragen werden sollte, was durch die lateinische Handlungsanweisung dic neben der Überschrift noch deutlicher wird.22 Was können wir aus diesem Beispiel lernen? Gerollte Schrift ist zunächst einmal gegenüber kodikaler Schrift offensichtlich eine produktionstechnisch flexiblere. Seri- elle Anschlüsse lassen sich hier leichter herstellen als beim Codex, wenn er einmal mit zwei Buchdeckeln versehen ist. Der rein deutschsprachige Text im Rotulus scheint zudem für eine konkrete Text-Akteur-Situation aufgezeichnet worden zu sein, seinen mündlichen Vortrag in einer ganz bestimmten Situation. Für den kodikal überliefer- ten Text scheint dagegen eher ein schulischer oder wissensvermittelnder Gebrauchs- kontext nahezuliegen. Zweitens: Das Osterspiel von Muri (Aarau, Kantonsbibliothek, MsMurF 31a), der älteste überlieferte Text eines geistlichen Spiels in deutscher Sprache, stammt wie der Rotulus von Mülinen aus dem Alemannischen und wurde um die Mitte des

20 Beschrieben bei Krotz 2010b. 21 Henzen 1969, 14. 22 Di Clemente 2009, 38. Gerollte Schrift 157

Abb. 1: Contra paralysin theutonice aus: Rotulus von Mülinen, Z. 775–791.

13. Jahrhunderts aufgezeichnet.23 Dieser Rotulus ist nur fragmentarisch überliefert – er enthält etwa die Hälfte des ursprünglichen Gesamttextes, wie Ranke errechnet hat – und man hat einige Zeit gerätselt, bis man die authentische Anordnung der erhal- tenen Textstücke rekonstruieren konnte. In ihrem originären Zustand muss die Rolle, die aus drei Blättern von je 60 bis 70 Zentimeter Länge zusammengeheftet war, unge- fähr zwei Meter lang gewesen sein. Der Text ist in diesem Fall in abgesetzten Versen zweispaltig auf dem etwa 16 Zentimeter breiten Pergamentstreifen angeordnet. Auch

23 Eine Beschreibung im Marburger Repertorium 2012 mit Verweis auf ein vollständiges Digitalisat. 158 Norbert Kössinger

Abb. 2: Contra paralysin id est vergiht aus: München, Bayerische Staatsbibl., Clm 23479, Bl. 1v. Gerollte Schrift 159

dieser Rotulus ist auf der Rückseite beschrieben, hier ist der Text auf der Rückseite aber kopfständig eingetragen. Warum das? Den Ablauf des Lesens oder Vorlesens der Rolle müssen wir uns so vorstellen,

dass zuerst die beiden Spalten der Vorderseite (recto) des ersten Blattes nacheinander, dann ebenso die der Vorderseite des zweiten und des dritten [Blattes] zu lesen waren; darauf war das Ganze nicht von rechts nach links [in der Beschreibrichtung der antiken Buch- rolle sozusagen umgeblättert], sondern von unten nach oben (über die Schmalseite) gewendet worden, so dass auf der Rückseite (verso) der Text im Vergleich mit dem der vorderen [Seite] auf dem Kopf steht und in der Reihenfolge 3v a–b, 2v a–b, 1v a–b zu lesen war. Dabei blieb eine Partie […] vom oberen Teil der Rückseite des dritten [Blattes] und wahrscheinlich auch vom unteren Teil der Rückseite des ersten Blattes unbeschrieben, da diese Partien beim Einrollen des Ganzen (die Vorderseite nach innen) […] die Außenhülle der Rolle bildeten, die der Abscheue- rung am meisten ausgesetzt war.24

Wie lässt sich diese außergewöhnliche Anlage der Rolle erklären, für die mir keine äquivalenten Vergleichsfälle weder aus dem Bereich der Überlieferung des geistli- chen Spiels noch aus anderen Bereichen der mittelalterlichen Rollen bekannt sind? Zunächst einmal sind beide Hände eines Lesers oder Vorlesers der Rolle zwingend an die Rolle gebunden oder an (hier nicht erhaltene) Stäbe, mit denen man das Perga- ment rollen konnte, denn sonst würde sich die Rolle von selbst einrollen. Der Lese- ausschnitt ist relativ frei wählbar und variabel. Das ist ein großer Vorteil gegenüber dem Codex, erfüllt in diesem Fall aber nur dann eine praktische Funktion, wenn der Benutzer den Ausschnitt eines vollständigen Streifens, also ca. 60 cm ausgerollt hielt, denn anderenfalls müsste er jeweils beim großen Zeilensprung von Spalte eins auf Spalte zwei zurückrollen, was den Lese- oder Vortragsfluss in empfindlicher Weise unterbrechen würde. Verlängerbarkeit der Rolle ist hier im übrigen natürlich nicht intendiert, sondern im Gegenteil erfordert die Anlage des Ganzen eine zentimeterge- naue Vorausplanung. Die Rolle scheint für eine Gebrauchssituation angefertigt worden zu sein, auf die man in der Forschung bereits auf anderem Wege gekommen ist. Die Rolle enthält ihrem Textbestand nach nämlich sozusagen nur den ‚nackten‘ Text aller Sprecherrol- len des Osterspiels ohne lateinische und volkssprachige Lieder und ohne Handlungs- oder Regieanweisungen. Nur an zwei Stellen werden lateinische Gesangsincipts am Rand zitiert. Daraus hat man geschlossen, dass es sich bei dieser Rolle um den Text handelt, den ein Souffleur vor Augen gehabt haben könnte. Eine solche oder eine in diesem Sinne ähnliche Funktion ist jedoch nicht unproblematisch – wenn man den Begriff und die Funktion nicht überhaupt für einen Anachronismus halten will. Man darf sich den Souffleur dann jedenfalls nicht als versteckt, wie im modernen Drama vorstellen, sondern als sichtbaren Bestandteil des Spielraums. Er hält den Text

24 Das Osterspiel von Muri 1967, 57. 160 Norbert Kössinger

oder vielleicht wird er vor seinen Augen gehalten und für ihn abgerollt, was inklusive Wenden von oben nach unten an insgesamt nur sechs Stellen nötig war, so dass er den Überblick über einen größeren Textausschnitt behalten konnte.25 Wie auch immer man sich zu diesem Problem letztlich stellen mag, mir scheint der Rotulus mit dem Osterspiel von Muri eine Reihe von Indizien aufzuweisen, die darauf hindeu- ten, dass er grundsätzlich für einen ‚aufführungsgebundenen‘ Kontext gedacht ist, womöglich in einem Entwurfsstadium, das der Vorbereitung einer szenischen Auf- führung als Grundlage gedient haben könnte.26 Dafür spricht die Anzeige der vielen Sprecherwechsel (teilweise im Plural) mit Referenz auf konkret anzusprechende Ein- zelpersonen oder Gruppen, die Rubra mit den beiden Gesängen sowie die Nennung von mehreren Namen und Orten. Vor allem jedoch die spezielle rotulare Form mit zweispaltiger Textanlage (entlehnt aus dem Bereich der höfischen Dichtung) und opistographe, kopfständige Beschriftung (entlehnt aus dem Bereich des Urkunden- wesens und später bekannt aus mehreren Gebetsrotuli) stellt eine Form des ‚Austes- tens‘ von Aufzeichnungsmöglichkeiten dar, wie sie für eine zukünftige Aufführung hätte nützlich sein können und wie sie eventuell für das Einstudieren der Rollen hätte gebraucht werden können.27 Dass sich die mediale Form im Fall des Osterspiels von Muri nicht etabliert hat, mag dafür sprechen, dass es sich um ein gescheitertes Expe- riment handelt. Die Frankfurter Dirigierrolle stellt im Vergleich ein alternatives Modell aus dem Bereich des geistlichen Spiels dar, bei dem es sich sicher um ein rollenförmi- ges ‚Regiebuch‘ (ausschließlich mit Lied- und Textanfängen) handelt, das im Kontext von Aufführungen ein sichtbarer Bestandteil der Inszenierung war, ja möglicherweise darüber hinaus geradezu als ein in seiner theologischen Semantik aufgeladenes Requist eingesetzt worden sein könnte.28 Das dritte Beispiel gehört zu meinem orational-paraliturgischen Typ 4. Auch diese Rolle, die ich Heiltumsrotulus taufen möchte, ist fragmentarisch erhalten (Prag, Nationalmuseum, Cod. I E a 14, Abb. 3). Drei ca. 20 cm breite Pergamentstreifen ungleicher Länge sind hier noch auf uns gekommen. Sie sind in die Mitte des 15. Jahr- hunderts zu datieren. Beschriftet ist der Rotulus einspaltig und nur auf einer Seite in einer sehr sorgfältigen gotischen Buchschrift mit teils recht aufwändig ornamen- tierten blauen und roten Initialen. Die Schreibsprache des Textes ist ripuarisch. Das Erhaltene beginnt damit, dass eine Reliquienmonstranz vorgezeigt werden soll, die Reliquien der Patriarchen und Propheten enthält: Man sal uch tzounen eyne monstran- cie dae inne is beslossen stucker ind heyltum van patriarchen ind propheten. Der Text

25 Butterworth 1999; Strietman 2007 mit Diskussion der einschlägigen (nicht unumstrittenen) iko- nographischen Zeugnisse. 26 In eine andere Richtung argumentiert zuletzt Henkel (im Druck), dem ich herzlich für die Überlas- sung seines Beitrags vor der Drucklegung danke. 27 Ähnlich auch Schulze 2010, 11: „Gebrauch für Probe u[nd] Aufführung“. 28 Ausführlich mit Argumentation Kössinger 2013. Eine Beschreibung im Marburger Repertorium 2013 mit Verweis auf ein vollständiges Digitalisat. Gerollte Schrift 161

Abb. 3: Fragment des Blankenheimer Heiltumsrotulus

geht nahtlos zum Neuen Testament über: Reliquien von Joseph, der Jungfrau Maria, den Hl. Drei Königen, von Simeon und von Lazarus werden präsentiert. Es folgen unzählige weitere Heilige, insbesondere Ritterheilige, wie der Hl. Georg, die vier Mar- schälle Cornelius, Ruprecht, Antonius und Quirin, deren Reliquien in Monstranzen vorgeführt werden. Auf dem letzten erhaltenen Streifen gibt dann ein Sprecher die Anweisung nun stehen zu bleiben und den Empfehlungen, die vorgetragen werden, zu folgen. Darauf folgt der Empfang der Segnung mit dem Heiligen Sakrament und als Abschluss der Besuch der sich wohl unmittelbar anschließenden Heiligen Messe. Was soll das Ganze? Bei diesem Text haben wir das Glück, über eine parallele, fast vollständige kodikale Überlieferung in einem schmalen Band im Heberegisterformat zu verfügen, der unter dem Titel Blankenheimer Heiltumsbuch (Prag, Nationalmu- seum, Cod. XII E 14, Abb. 4) bekannt ist.29

29 Gerig 1952. 162 Norbert Kössinger

Abb. 4: Blankenheimer Heiltumsbuch

Bei der Rolle handelt es sich offenbar um eine zeitlich etwas früher anzusetzende Fassung, die von derselben Hand zu stammen scheint, also die unmittelbare Vorlage für den Text im heftartigen Codex gebildet haben wird. Dieser beginnt so: Gerollte Schrift 163

Ir Eerbaren ind ir seligen synt ir dan her komen syt dit loueliche heiltum zo sien / ind anzoschauwen / gode van hemelrych ind marien synre lieuer moeder zo loue. / Ind den lieuen heiligen die heiltom ind gebeyntz hie hant / Ind in der gehoichnisse man it vch tzeunen wirt. naist alder ind louelicher geiwenheit (Bl. 1r).

Alte Gewohnheit ist es also, so sagt der Sprecher, den wir uns jetzt konkret als Geist- lichen vorstellen können, dass man an einen Ort geht, um das Heiltum anzuschauen und anzubeten. Man tut es auch in Erinnerung, gehoichniss, an die Tradition. Es handelt sich ganz offensichtlich um Texte zu einer Heiltumsweisung, verbunden mit einer bedeuart, einer Wallfahrt also, wie es im Text heißt, deren Anlass und Ort sich nun exakt benennen lassen. Denn wer diese Weisung für wen durchgeführt hat, erhellt aus einem Gebet am Ende des Codex:

Ouch ir lieue broeder ind susteren bidden wir […] vur alle die alderen ind vor vaderen vnser genedi- ger heerschaff die veruaren synt van blanckenhem ind manderscheit (Bl. 22v).

Das Gebet richtet sich also gewissermaßen aus Perspektive der gräflichen familia an diejenigen, die seit alters her die Prozession ausrichten, nämlich die Grafen von Blan- kenheim und Manderscheid und schließt ihre Vorfahren in die Gebetsmemoria mit ein.30 Die Funktion der Rolle, deren sozialgeschichtlicher Ort also das nicht unbedeu- tende und in der deutschsprachigen Handschriftenproduktion produktive Adelszen- trum Schloss Blankenheim in der Eifel ist, besteht darin, dem pastoralen Leiter der einmal jährlich durchgeführten Reliquienschau als Regie- und Textbuch zu dienen, die er selbst auseinanderrollen und mit sich führen konnte.31 Der vollständige kleine Codex ersetzt zu einem etwas späteren Zeitpunkt den Rotulus, was einen praktischen Grund in den erheblichen liturgischen Erweiterungen der Reliquienzeigung hat. Die Rollenform fiel ihnen ‚zum Opfer‘ und der Text wurde in ein handlicheres und vor allem für Überarbeitungen (die sich sehr zahlreich in der Heftfassung belegen lassen, s. exemplarisch Abb. 4) besser verwendbares Heft übertragen. Dass damit auch der liturgischen Inszenierung eine wichtige mediale Dimension genommen wurde, hat der populären Heiltumsweisung, die sich bis ins 17. Jahrhundert gehalten hat, im übrigen keinerlei Abbruch getan. Ich versuche das aus den Beispielen Entwickelte abschließend zu einem Konzept von Determinanten gerollter Schrift im Mittelalter zu bündeln. Erstens: Auf produk- tionstechnischer Ebene ist eine Rolle, die aus einem Pergament- oder Papierstreifen oder der Aneinanderreihung und Aneinanderbindung mehrerer Streifen besteht, ein- facher herzustellen als ein Codex. Dieser ist zudem, wenn er einmal mit Buchdeckeln

30 Initiator war aller Wahrscheinlichkeit nach Georg VIII. von Loen, der beim Kölner Erzbischof einen umfänglichen Ablass für die teilnehmenden Pilger erwirken konnte. 31 Beckers 1993. 164 Norbert Kössinger

versehen ist, nur noch schwer erweiterbar, was bei einer Rolle relativ unkompliziert möglich bleibt. Gerollte Schrift ist somit eine über einen langen Zeitraum hinweg quasi beliebig verlängerbare und kürzbare Schrift. Die Rolle ist auseinandernehmbar und wieder zusammenfügbar. Ein Streifen aus einem Rotulus kann relativ leicht aus seinem ursprünglichen Kontext in andere, neue Kontexte inseriert werden. Überhaupt ist die Rolle problemloser, als das im Codex möglich ist, anschlussfähig für serielle Zusammenhänge, also etwa die Anfügung weiterer Rezepte, Gebete oder ähnliches. Zweitens: Gerollte Schrift ist eine Schrift, die grundsätzlich über andere Mög- lichkeiten visueller Kopräsenz verfügt als die fest vorgegebenen gegenüberliegenden Verso- und Recto-Seiten des Codex. Durch die Möglichkeit des Scrollens gegenüber dem Blättern des Codex ist ein je frei veränderbarer Textausschnitt sichtbar. Dies kann sich in bestimmten Gebrauchssituationen als ein ‚praktischer‘ Vorzug erweisen, das Scrollen selbst kann aber, wie etwa im Fall der süditalienischen Exultetrollen geradezu zum einem Teil liturgischer Inszenierung werden, was so exklusiv nur von diesem Medium geleistet werden konnte. Drittens: Rollen verfügen gegenüber kodikalen Formen von Schriftlichkeit über einen höheren Grad an Beweglichkeit und (Trans-)Portabilität. Sie sind somit, auch das ist als Tendenz zu nehmen, ortsungebundener und mobiler als der Codex. Viertens: Die Rollen wurden offenbar für genau determinierte Kontexte produziert und in solchen Kontexten auch eingesetzt. Für Gebrauchssituationen und Sprechsitu- ationen, die in der Nähe von mündlicher Kommunikation und Formen von Textvor- trag stehen. Die Rolle hat ihren genuinen Ort jedenfalls außerhalb schriftsichernder Orte. Sie sind meist keine regulären Bibliotheksbestände und wohl nie primär für die Aufbewahrung in Bibliotheken angefertigt worden. Insofern mag man sie zu Recht als ephemer bezeichnen. Sie sind in diesem Sinne ‚Verbrauchsschrift‘. Schrift führt, so möchte ich das weiterdenken, nie eine gleichsam autarke, von allen Zusammen- hängen entbundene Existenz als graphischer Code, sondern sie kommt immer nur in konkreten Gebrauchszusammenhängen vor.32 Für die Überlieferungsträger Codex und Rotulus hieße das, sie gerade nicht als binäre Oppositionen oder als diametral entgegengesetzte Alternativen in einem Koordinatensystem zu beschreiben, etwa nach dem Muster: Rotulus entspricht Mündlichkeit bzw. Nähe; Codex entspricht Schriftlichkeit bzw. Distanz. Es scheint mir demgegenüber vielversprechender, von vorneherein von einer skalaren Systematik der funktionalen Verwendungszusam- menhänge auszugehen, einem Kontinuum, in dem Rolle und Codex vorkommen, aber keineswegs die jeweils äußersten Pole bilden müssen. Denn die Qualität der Über- lieferung überhaupt wird man den Rollen bei aller Ephemerität kaum absprechen wollen.33 Vielmehr lassen sich im Blick auf mittelalterliche Rotuli divergente Grade von Überlieferungsqualität differenzieren.

32 Kiening 2008. 33 Oesterreicher 1993; Koch/Oesterreicher 1985; Ehlich 1983; Oesterreicher 2008. Gerollte Schrift 165

Die Buchrolle bietet, und damit komme ich zum Schluss, in medialer und funk- tionaler Sicht eine Reihe von Differenzmerkmalen gegenüber kodikalen und anderen weiteren Formen von Schriftlichkeit. Das heißt freilich nicht, dass jede mittelalterli- che Rolle zwingend alle genannten Merkmale von gerollter Schrift erfüllen muss, die ich aufgeführt habe. Die Beispiele sollten lediglich das funktionale Potential dieser Überlieferungsform aufzeigen. Was an rotularen Textformen im Einzelnen auf uns gekommen ist, ähnelt sich stark untereinander und zeichnet sich durch eine große Schnittmenge an gemeinsamen Merkmalen aus. Von ihren medialen Anlagen her und von den funktionalen Typen her können wir deutliche Unterschiede beobachten. Die Rollen bilden somit eine überlieferungsgeschichtliche Gruppe, die im Sinne einer Familienähnlichkeit zusammenzusehen ist. Sie besetzen eine Nische im weiten Feld mittelalterlicher Formen von Schriftlichkeit und an dieser spezifischen Systemstelle scheinen sie keineswegs rein zufällig die Spätantike überlebt zu haben, sondern sie füllen hier Funktionen aus, die der Codex nicht in adäquater oder jedenfalls nicht in äquivalenter Weise leisten konnte. In diesem Sinne ist ein altes Medium im Mittelalter nicht gestorben, sondern auf würdige Weise alt geworden.34

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34 In Anlehnung an die Formulierung von Adams 2001: „Old media don’t die; they just have to grow old gracefully.“ 166 Norbert Kössinger

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Abbildungsnachweis

Abb. 1: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 803. Abb. 2: Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23479. Abb. 3: Prag, Nationalmuseum, Cod. I E a 14, Streifen IIr. Abb. 4: Prag, Nationalmuseum, Cod. XII E 14, Bl. 5v und 6r. Stephan Müller Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind Am Beispiel des ‚Trierer Teufelsspruchs‘ (Trier Stadtbibliothek Hs. 564/806 8°)

Spätestens seit der grundlegenden Zusammenschau der nichtdiplomatischen Geheimschriften des Mittelalters durch Bernhard Bischoff1 wissen wir, dass es sich bei den Geheimschriften des Mittelalters um ein facettenreiches Phänomen handelt, das alles andere als selten ist. Dabei werden einige Grundtechniken immer wieder variiert: Man ersetzt, vertauscht oder ergänzt Buchstaben, man benutzt erfundene oder unbekannte Schriftzeichen. So bekannt diese Techniken aber auch sind, so rät- selhaft ist in vielen Fällen der Grund des Gebrauchs. Überblickt man die kursieren- den Erklärungsansätze, dann reichen sie von gut nachvollziehbaren Anlässen der „Geheimhaltung“ (etwa dann, wenn es sich um Tabuwortschatz handelt) bis hin zur Behauptung, dass es sich einfach um „Spielerei“ handele. Aber so einleuchtend die Erklärungen im Einzelfall auch aussehen mögen, immer handelt man sich damit gra- vierende Folgeprobleme ein. Was bedeutet eigentlich „geheim“ in einer Handschrif- tenkultur, die keinen anonymen Buchmarkt bedient? Wäre nicht die Kontrolle über den Codex die beste Form der Geheimhaltung, zumal die Techniken der Verschlüs- selung nicht gerade kompliziert sind? Was bedeutet „Spielerei“ in Hinblick auf den materiellen Wert und die Exklusivität von Handschriften gerade im Früh- und Hoch- mittelalter? Wer spielt da mit wem oder für wen? Kurz: Was uns auf den ersten Blick als alltägliches Phänomen erscheint, das ist mit Blick auf die kulturellen Rahmenbe- dingungen, in denen es stattfindet, alles andere als trivial. Ich will dieses Problemfeld eines speziellen Gebrauchs von Schrift im Mittelalter anhand eines Beispiels abstecken, anhand des sogenannten ‚Trierer Teufelsspruchs‘.2 Der Text findet sich in der Handschrift Hs. 564/806 8° der Stadtbibliothek Trier. Genauer dort auf der Versoseite von Blatt 65 am unteren Rand von lateinischen Anmerkungen zu den Evangelien, wobei sich kein inhaltlicher Bezug des deutschen Textes zur lateinischen Umgebung ausmachen lässt. Geschrieben wurde die Hand- schrift wohl in der Benediktinerabtei St. Eucharius und dort entstand vielleicht auch der deutsche Nachtrag. Über die Datierung kursieren unterschiedliche Angaben. Der

1 Bischoff 1980. 2 Damit biete ich einen Einblick in die Arbeit eines inzwischen abgeschlossenen DFG-Projekts zu den deutschen Glossen und Texten in Geheimschrift, dessen Ergebnisse in Form einer Monographie zur Veröffentlichung vorbereitet werden.

© 2015, Müller. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz. 170 Stephan Müller

Haupttext wird ins 9. Jahrhundert datiert. Über den deutschen Nachtrag liest man ab und an, dass er aus dem 11. Jahrhundert stamme, nachdem das so bei Elias von Steinmeyer in der ersten Edition steht,3 wobei ich annehme, dass hier einfach die römische IX zu einer XI versetzt sein könnte. Paläographisch und auch sprachlich jedenfalls ist eine Datierung noch ins 9. Jahrhundert durchaus möglich, so wie das die neuere Handbuchliteratur auch ansetzt.4 Kurios ist auch, dass der Text zweimal entdeckt wurde. Lange nach der ersten Edition druckt ihn Richard Laufner5 wieder ab und feiert dabei auch die „Entschlüsselung“ des Textes. Dem ersten Herausgeber, Elias von Steinmeyer, war die Geheimschriftlichkeit des Textes kaum eine Erwähnung wert, denn er kannte die Methode der Verschlüsselung sehr gut aus zahlreichen mit- telalterlichen Handschriften und löst einfach stillschweigend auf. Bei der Technik der Geheimschrift handelt es sich um die sogenannte bfk-Ver- schlüsselung, bei der einfach Vokale durch Konsonanten ersetzt werden, die im Alphabet auf diese Vokale folgen. So wird aus a ein b, aus e ein f, aus i ein k (deshalb bfk-Geheimschrift), aus o ein p und aus dem u ein x (da v auch vokalisch gebraucht werden kann und w erst sekundär als Verbindung von u und u – also als double u – ein Buchstabe des lateinischen Alphabets werden wird). Neben der bfk-Verschlüs- selung wird seltener (und später) auch die cgl-Verschlüsselung gebraucht, wobei der Vokal hier durch den im Alphabet nach-nachfolgenden Konsonanten ersetzt wird. Die bfk-Technik wird für deutsche Wörter ab dem 9. Jahrhundert angewandt, wobei ein Zeugnis noch aus dem 8. Jahrhundert stammen könnte.6 Anfangs begegnet diese Technik nur in Glossen, mit dem ‚Trierer Teufelsspruch‘ dann auch für ganze Texte – überhaupt ist der ‚Trierer Teufelsspruch‘ der erste deut- sche Text in Geheimschrift.

Die Methode der Vokalersetzung – so technisch einfach sie auch ist – wurde dabei als durchaus exklusiv beschrieben: Im Mittelalter und auch in der heutigen For- schung noch spricht man von den notae bonifatii, also von den Schriftzeichen des Heiligen Bonifatius und schöpft diese Bezeichnung, soweit ich das ermitteln konnte, aus einem frühmittelalterlichen Schrifttraktat, den man früher dem Hraba- nus Maurus zuschrieb, der aber inzwischen als pseudohrabanisch gelten muss. In diesem Traktat von der Erfindung der Buchstaben – ‚De inventione litterarum‘ – wird auch die Technik der Vokalersetzung vorgeführt und berichtet, dass man sage, der Heilige Bonifatius habe diese Technik gelehrt. Doch das wird sofort eingeschränkt,

3 Steinmeyer 1916, 399f. (Nr. 80). Darüber hinaus datiert Bernhard Bischoff den Nachtrag ins 10. Jahr- hundert. Dies mit weiterer Literatur zur Handschrift im Paderborner Repertorium (www.paderborner- repertorium.de/8871) (24.06.2014). 4 Klaes 2013, 471f. (mit weiterer Literatur). 5 Laufner 1965. 6 Nievergelt 2009, 260. Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind 171

Abb. 1: Der ‚Trierer Teufelsspruch‘ indem der Text hervorhebt, dass schon die Alten diese Technik kannten, wobei er auf antike Traditionen verweist, wofür Sueton mit seinen Kaiserviten Caesars (Kap. 56) und des Augustus (Kap. 88) Pate gestanden haben könnte.7 Sicher ist also nur, dass der Heilige Bonifatius nicht der Erfinder der Technik sein kann – wenn man trotzdem an der Bezeichnung notae bonifatii festhält, dann spiegelt das die Hochschätzung des scheinbar Geheimnisvollen, dem man vorauseilend immer großes Interesse ent- gegenbringt.

Aber nun zum Text selbst; zuerst eine Transkription:

nxvukl lkh ∙ bidbn ∙ dfnrkhchbn ∙ crkst thfmbnnflkh chfs ∙ chēkst ∙ thfrdfn ∙ dkv vfl ∙ gkBbnt ∙ īsknfn nampn ∙ xxkllkh gbn nxvuklkh.thfn ∙ xrfidpn ∙ slbhbn ∙ mkt tfn cplBpn ∙

Nimmt man die Vokalersetzungen zurück – und man sieht, dass nicht alle Vokale ersetzt wurden, weshalb man von einer Teilverschlüsselung spricht – ergibt sich fol- gender Text in Klarschrift:

nuvuil lih ∙ bidan ∙ denrihchan ∙ crist themannelih ches ∙ chenist ∙ therden ∙ div- vel ∙ gibant ∙ insinen namon ∙ uuillih gan nuvuilih.then ∙ ureidon ∙ slahan ∙ mit- ten colbon ∙

Was hier deutlich wird, ist dass neben der Vokalersetzung auch die Worttrennung den Sinn verstellt. Unsicher ist indes, ob das so gewollt war, denn der Text scheint eine Abschrift zu sein. Dafür spricht, dass ein Wort fehlen könnte – und das in einer Konstellation, die gerne einmal zu Abschreibfehlern führt, nämlich bei der Wiederho- lung einer Buchstabengruppe. Dies kann man am besten nachvollziehen, wenn man

7 Derolez 1954, 349–354. 172 Stephan Müller

die Klarschrift weiter zu einem normalisierten Text umarbeitet und ihn vorsichtig mit Interpunktion ausstattet, wie ich das in meiner kleinen Anthologie althochdeutscher Texte getan habe:8

Nu vuillih bidan den rihchan Crist, the mannelihches chenist (ist) ther den divvel gibant, in sinen namon uuillih gan; nu vuilih then ureidon slahan mitten colbon.

Man sieht, dass der Text scheinbar Endreim aufweist, was – wenn man davon ausgeht, dass der Endreim erst mit Otfrid von Weißenburg (um 870) für das Deutsche etabliert wird – ein recht frühes Zeugnis für einen deutschsprachigen endgereimten Text wäre. Rein reimt dabei nur ureidon und colbon und am Ende des ersten Verses muss ein ist ergänzt werden, um den Binnenreim herzustellen. Nun wäre das Fehlen des ist das genannte recht typische Schreiberversehen, da chenist ja ebenfalls auf ist endete. Aber ist so ein Schreiberversehen auch plausibel, wenn der Text in Geheimschrift notiert wird? Eine Unsicherheit muss hier bleiben; ich ergänze das ist, weil eine met- rische Gestaltung von Zauber- und Segenssprüchen in deutscher Sprache durchaus keine Ausnahme darstellt. Wenden wir uns nun dem Inhalt zu. Ich übersetze ihn so: „Nun will ich den herr- lichen Christus anbeten, der die Erlösung der Menschen ist, der den Teufel fesselte. In seinem Namen will ich gehen; Nun will ich den Abtrünnigen mit einem Kolben schlagen.“ Nach Wolfgang Haubrichs handelt es sich dabei um eine „Angangsformel“9 zur Bitte um die Hilfe Christi beim Kampf gegen den Teufel, der mit einem colbon ausge- tragen werden soll. Diesen möglicherweise „exorzistische[n] (?) Prügelritus“10 sieht er in Analogie zum „Höllensieg Christi in der Osternacht“11. Es wird wohl kaum mehr möglich sein, den konkreten Ort und den Kontext möglicher Anwendungen dieses Spruches zu rekonstruieren, aber es scheint auf der Hand zu liegen, dass es Sinn macht, einen Text, der zur Teufelsaustreibung gedacht ist, nicht in Klarschrift in eine Handschrift nachzutragen. Mit dieser Annahme wird man auch von einem späteren Fall unterstützt, von einer Teufelsbeschwörung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahr- hunderts, die heute in Prag liegt (Prag, National- und Universitätsbibliothek, Ms. XXIII F 129)12 und die in einer runenähnlichen Schrift verschlüsselt ist. Damit scheint der Fall klar bewertet zu sein: Eine Teufelsbeschwörung wird ver- schlüsselt, um Missbrauch zu verhindern und vielleicht auch um den Schreiber zu schützen, der sich mit der Aufzeichnung an der Grenze zur Häresie bewegt haben

8 Müller 2007, 282. 9 Haubrichs 1995a, 348. 10 Haubrichs 1995a, 348. 11 Haubrichs 1995b, 227. 12 Beckers 1984. Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind 173

mag. Zweifel gegen eine solche eindeutige Interpretation kommen dagegen schon in quantitativer Hinsicht auf. Wir haben hier den ersten deutschen Text in Geheim- schrift vor uns und die nächsten Verschlüsselungen längerer Texte werden uns erst im 13. Jahrhundert begegnen. In der chronologischen Umgebung des ‚Trierer Teufels- spruchs‘ finden sich dagegen Hunderte von verschlüsselten deutschen und lateini- schen Glossen, die alles andere als brisante Inhalte verbergen. Der Text stünde ganz separiert für sich da, was natürlich noch kein Gegenargument ist, aber immerhin auf- horchen lässt. Gravierender ist der Befund, dass die Technik eine derart geläufige war, so dass jeder, der Zugang zu der Handschrift hatte, den Text ohne größere Probleme ent- schlüsseln konnte. Dass es hier nicht um Geheimhaltung geht, das belegt aus meiner Sicht aber endgültig ein Befund, der bislang übersehen wurde. Der Text nämlich ist mit Entschlüsselungshilfen ausgestattet und steht damit in der Tradition geheim- schriftlicher Texte des Mittelalters, die oft ihre eigenen Schlüssel neben sich stehen haben; vor allem erfundene Alphabete stehen oft in den Handschriften, in denen sie angewendet werden.13 Die Entschlüsselungshilfen im ‚Trierer Teufelsspruch‘ sind nun anderer Natur, aber ähnlich eindeutig. Zuerst ist auffällig, dass in dem kurzen Text zwei Großbuchstaben gebraucht werden, zwei Mal steht ein B in gkBbnt und in cplBpn. In beiden Fällen steht das B dabei neben Konsonanten, die ebenfalls einen Vokal darstellen könnten, wie das ja bei b, f, k, p und x zutrifft. Potentiell uneindeutig wird die bfk-Geheimschrift ja nur dort, wo man sich nicht sicher sein kann, ob ein b nun ein b sei, oder ein a, etc. Hier liegt nun die Funktion der beiden Großbuchstaben, sie machen klar, dass das große B für ein b steht und eben kein ersetzter Vokal ist. Und weiter: So wird eindeutig klar gemacht, dass die umgebenden Konsonanten Vokale ersetzen, wir haben es also mit Entschlüsselungshilfen zu tun. Aber mehr noch. Im Text blieb ja, wie bereits gesagt, eine Reihe von Vokalen stehen. Solche Teilverschlüs- selungen sind nicht selten, aber soweit ich sehe, handelt es sich dabei in der Regel um zufällige Entscheidungen. Anders im ‚Trierer Teufelsspruch‘. In der folgenden Transkription sind alle Konsonanten fett gesetzt, die für einen Vokal stehen könnten:

nxvukl lkh ∙ bidbn ∙ dfnrkhchbn ∙ crkst thfmbnnflkh chfs ∙ chēkst ∙ thfrdfn ∙ dkv vfl ∙ gkBbnt ∙ īsknfn nampn ∙ xxkllkh gbn nxvuklkh.thfn ∙ xrfidpn ∙ slbhbn ∙ mkt tfn cplBpn ∙

13 Nur drei Beispiele von vielen: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 597; Marburg, Universitätsbibliothek, Mscr. 25; Olmütz/Olomouc, Wissenschaftl. Bibl., Cod. M I 204. Dort sind je- weils die verwendeten Alphabete an exponierter Stelle beigegeben und teilweise erst in der Neuzeit getilgt, so dass aus den Inhalten erst sekundär „geheime“ Inhalte wurden. 174 Stephan Müller

Gehen wir durch die erste Zeile, dann sieht man, dass (fast) alle Konsonanten, die Vokale ersetzen können, dies auch tatsächlich tun. Nur in einem Falle kann man nicht mechanisch entschlüsseln und müsste nachdenken, nämlich bei bidbn für bidan. Hier steht das erste Mal ein Vokal im Text, der als Vokal gelesen werden soll (anders als die konsonantischen v und u in vukl), so wird markiert, dass das b im Anlaut ein b bleiben soll und eben nicht als a gelesen werden soll. Vollständig verschlüsselt würde bkdbn stehen, das man etwa auch als „aidan“ lesen könnte,14 zumindest müsste man abwägen, ob es sich bei bk um einen Diphthong handeln könnte. Grundsätzlich sieht man daran, dass es immer dann schwierig und potentiell mehrdeutig wird, wenn mehrere Konsonanten nebeneinander stünden, die als Voka- lersatz dienen könnten. Also immer, wenn b, f, k, p oder x nebeneinander zu stehen kommen, wird es schwieriger. Schon die erste Zeichenkette ist aber als Hinweis dar- aufhin zu lesen, dass man solche Häufungen von b, f, k, p oder x vermeiden wollte. Der Text könnte ja mit nxxxklkh beginnen, aber tut es nicht, sondern schreibt das konsonantische vu und grenzt es damit gut vom vorangehenden x (=u) und k (=i) ab. Es gibt im ganzen Text nur einen Fall, in dem b, f, k, p oder x unkommentiert aufeinander folgen – und zwar in dem sehr transparenten Fall xxkllkh für uuill ih (will ich), der sicher keinen Zweifel hervorruft. Für die beiden anderen Fälle – gkBbnt und cplBpn – war ja schon zu zeigen, dass hier mit Hilfe der Großbuchstaben das potenti- elle Problem gelöst wurde. Kurz: In nur einem Falle – und zwar in einem alles andere als komplizierten – müsste man kurz nachdenken, ansonsten kann man mechanisch b, f, k, p oder x als Vokalzeichen lesen. Es kommt ganz offensichtlich nicht darauf an, den Inhalt unzugänglich zu machen. ‚Geheimhaltung‘ ist das also nicht, oder wäre zumindest eine ziemlich schlechte und – wenn es um den Schutz von Inhalt und Schreiber ginge – recht fahrlässige. Wie kann man die Funktion der Geheimschrift alternativ beschreiben? Zunächst muss man dabei darauf hinweisen, dass der Begriff „Geheimschrift“ falsche Erwar- tungen weckt und an Formen der Geheimhaltung persönlicher und brisanter Fakten denken lässt, wobei sich besonders für das Frühmittelalter ganz pauschal sagen lässt, dass man Schrift schlicht und einfach nicht dafür benutzte, um individuelle Geheim- nisse aufs Pergament zu bringen. Eine solcherart private Schriftlichkeit ist eine Sache der Neuzeit und mit dem Teufelsspruch haben wir ja auch sicher kein ‚privates‘ Zeugnis vor uns, sondern einen formelhaften Text. Auch der Bereich der öffentlichen Schriftkommunikation, an denen moderne Formen der Spionage ansetzen würden, ist für das Mittelalter nicht das Feld, in dem wichtige Geheimnisse ungeschützt zirku- lieren würden. Schrift war hier immer begleitet von körperlichen Trägern der Schrift, also von persönlich involvierten Boten; anonyme Kanäle der Schriftzirkulation ent- stehen erst mit Institutionen, wie jenem des Postwesens, die andere Anforderungen

14 Schwierig wäre dann die Bedeutung, da „aidan“ so nicht belegt ist, aber als althochdeutsche Form von mittelhochdeutsch „eiden“ denkbar wäre. Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind 175

an Geheimhaltung mit sich bringen.15 Aber selbst wenn wir unsere Erwartungen in Sachen „Geheimhaltung“ zurücknehmen, bleibt die Frage, warum dann sonst diese Form der Schrift verwendet wurde, die – und das sollte man nicht übersehen – ja eklatant von den gängigen Formen des Schreibens abweicht. Etwas Besonderes sind die Geheimschriften zweifellos, die Frage ist nur, wie sich diese Besonderheit adäquat beschreiben lässt. Für einen Lösungsversuch setze ich bei einer Eigenschaft von Geheimschriften an, die bislang wenig gewürdigt wurde.16 Sowohl die Techniken der Ersetzung, als auch die erfundenen und fremden Alphabete machen den Inhalt zwar irgendwie schwerer zugänglich, aber exponieren die Schrift in ihrer Form. Wer nach Geheim- schriften sucht, hat medial keine großen Probleme: Auf der Seite stechen die Wörter und Sätze förmlich hervor. Inhaltlich wird die Bedeutung verstellt, formal wird sie exponiert. Zumindest grenzt sich die Geheimschrift medial vom umgebenden Text ab und das korrespondiert mit benennbaren Funktionen von Geheimschriften. Oft sind Überschriften und Nachträge in Geheimschrift geschrieben, Explicitformeln, Schreibernennungen etc. Paratext trennt sich damit vom Text. Auch bei den Glossen – also den meist zwischen den Zeilen geschriebenen Wörter, die einen glossierten Text begleiten – gibt es solche Spuren. Dort stehen oft geheimschriftliche und klar- schriftliche Glossen nebeneinander und es liegt nahe, dass damit auch verschiedene Funktionen der Glossen getrennt werden; aber hier ist noch grundlegende Forschung zu leisten.17 Geheimschrift fällt auf und auch die Erfindung einer Geheimschrift ist etwas, mit dem man auffällt. Schon der Traktat „De inventione litterarum“ nennt mit Stolz die Erfinder von Schrift und Geheimschrift und nicht selten sind es Herrscher, die auch als Schrifterfinder gefeiert werden – von den berühmten Buchstaben des Chilperich18 bis hin zu den Geheimschriften der Habsburger, die man Rudolf dem Stifter,19 Kaiser Friedrich III.20 und Kaiser Maximilian I.21 zuschreibt. Das berüchtigte Alphabet Karls des Großen ist allerdings eine Erfindung des Johannes Trithemius, auch wenn es zuweilen noch in der populären Literatur zirkuliert. Doch nicht nur Herrscher erfin- den Schriften, auch Gelehrte tun das. Als frühe Beispiele haben wir nur die Schrift des Aethicus,22 in der er seine Kosmographie abgefasst haben will, und jene der Hildegard

15 Müller 2008, 310f. 16 Nievergelt 2009, 266 weist auf das Phänomen hin, dass Geheimschrift eine optische Hervorhe- bung bedeutet. 17 Grundlegend dazu Nievergelt 2009. 18 Grimm 1821, 52–60. 19 Seemüller 1909, 207. 20 Lhotsky 1952. 21 Wiesflecker 1986, 319. 22 Prinz 1993. 176 Stephan Müller

von Bingen,23 die litterae ignotae, mit denen aber so gut wie keine Texte geschrieben wurden. Geheimschrift ist auch ganz konkretes Medium von Gelehrtenstolz, wie etwa im Cod. pal. germ. 597 der Heidelberger Universitätsbibliothek aus dem Jahr 1426. Auf der Rectoseite des ersten Blattes steht dort: das ist ein a b c vnd das haben wir selbs neus gemacht24, wobei der Eintrag, der teilweise in einem erfundenen Alphabet abge- fasst ist, von späterer Hand durchgestrichen wurde, und damit wurde die Schrift des Codex erst sekundär zu einem in Geheimschrift. Nun steht in diesem Codex, der in großen Teilen in verschiedenen erfundenen Alphabeten geschrieben wurde, nichts Besonderes. Man wird (zumindest wenn man auf Geheimnisse aus ist) richtiggehend enttäuscht. Es handelt sich um ganz traditionelle Rezepte und Kurztexte, die etwas Besonderes nur deshalb sind, weil sie eben in einer ungewöhnlichen Schrift geschrie- ben wurden, wobei in diesem Falle auch noch Bilder mit einbezogen werden, auf die in den Texten Bezug genommen wird. Der Codex als ganzer verdient sicher noch eine eingehende Untersuchung, aber für den vorliegenden Argumentationszusammen- hang lässt sich schon jetzt sagen, dass es auch dort nicht um Geheimhaltung geht, sondern darum, dem Wissen, das im Codex abgelegt ist, eine ganz besondere Form zu geben. Über diese Umwege glaube ich der historischen Bedeutung des Geheimschriften- gebrauchs im Falle des ‚Trierer Teufelsspruchs‘ näher zu kommen. Es geht darum, einem Text eine besondere Form zu geben, die von der erwarteten Form abweicht. Das kann ganz unspektakulär der Fall sein, wenn man Text und Paratext trennt, das ist brisanter, wenn man damit eine Art spezieller Verfügungsgewalt über einen Text zur Schau stellt und seine eigene Schrifterfindung feiert und es gipfelt schließlich in Formen, Texten zusätzliche Bedeutungsdimensionen zuzuschreiben, die ihnen die Niederschrift in Klarschrift nicht mitgeben konnte. Eine solche Modifikation der Bedeutung des in Geheimschrift Aufgeschriebenen ergibt sich allerdings nicht nur aus der Form. Sicher, sie hebt den Text hervor, sie macht ihn besser sichtbar – fast wie ein Textmarker wirkt die Geheimschrift hier – aber damit ist es nicht getan. Denn auch wenn ich zu zeigen versuchte, dass die Geheimschriften des Mittelalters in der Regel leicht zu entziffern sind, auch wenn ich zeigen konnte, dass man sogar bewusst versuchte, die Hürden niedrig zu halten und Missverständnisse zu vermeiden, bedeu- tet der Umgang mit Geheimschrift trotzdem eine andere Form, als jene der gewohn- ten Lektüre. Auch wenn sie nicht unüberwindlich sein soll, eine Hürde stellt die Ver- wendung von Geheimschrift trotz allem dar. Das Lesen wird verlangsamt, es ist nicht möglich einen Text flüchtig, en passant wahrzunehmen. Oder, positiv formuliert, der Leser wird in den Text hineingezogen, der Text erschließt sich ihm in anderer Form als der der gewohnten Lektüre. Vielleicht geht man nicht zu weit, wenn man darüber

23 Embach 2001. 24 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg597/0004 (Stand 24.6.2014). Die Transkription der durchstrichenen Passage verdanke ich Christina Jackel. Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind 177

spekuliert, ob solche Formen der Entzifferung einen Text eher ‚offenbaren‘ (oder einer meditativen Aneignung öffnen) anstatt ihn in (Klar-)Schrift einfach zur Lektüre vor- zubereiten. Grund für diese Spekulation wären solche Fälle wie die Geheimschrift der Hildegard von Bingen, zumal das nicht der einzige Fall von außergewöhnlichem Schriftgebrauch im Kontext der Mystik wäre.25 Aber auch hier wird erst eine systema- tische Sichtung weiter Aufschluss geben können. Für die ‚Trierer Teufelssprüche‘ ist aber so doch ein Fazit zu gewinnen. Zuerst: Es geht nicht um die Geheimhaltung eines Textes – und damit unterscheidet sich der Fall nicht von den Gewohnheiten mittelalterlichen Gehheimschriftengebrauchs. Ja, mehr noch, die Hilfen zur Entschlüsselung der Vokalersetzungen und die Vereindeu- tigungen zeigen, dass sehr wohl der präzise Wortlaut dem Leser an die Hand gegeben werden sollte. Der Blick auf andere Fälle mittelalterlichen Geheimschriftengebrauchs ließ uns eher in eine andere Richtung denken: Die Geheimschrift lenkt die Aufmerk- samkeit auf den Text, sie bedingt eine konzentrierte und vermeidet eine flüchtige Form der Lektüre und bindet den Rezipienten so stärker an den Text, als das eine Aufzeichnung in Klarschrift täte. Und, um es auf einen Punkt zu bringen: Die Form der Schrift stattet den Spruch mit einer zusätzlichen Bedeutungsdimension aus und schreibt ihm eine besondere Geltung zu, die mit einer besonderen Form der Rezep- tionspraxis korrespondiert. Diese Geltung und diese Dimension der besonderen Bedeutung ist natürlich nicht in allen Fällen des Geheimschriftengebrauchs immer dieselbe; oft wird es sich nur um ganz beiläufige Phänomene handeln. Wie das im Fall der ‚Trierer Teufelssprüche‘ zu beschreiben ist, kann ich nicht letztlich klären. Sicher aber wird der Text so als ein bedeutender markiert. Er wird aus seiner Umgebung herausgehoben und von ihr abgegrenzt zugleich. Ein moderner Begriff von „Geheim- schrift“ kann all das nicht beschreiben, sondern führt uns auf den Irrweg der Erwar- tungshaltung gegenüber modernen Formen von Kryptographie. Wir haben es also mit Geheimschrift zu tun, die eigentlich keine ist: Sie hält nichts geheim, schützt keinen Inhalt, schließt keinen Leser aus. Vielleicht sollte man sie besser gar nicht „Geheim- schrift“ nennen. Doch dagegen spricht nicht nur, dass mir kein besserer Begriff für die Sache einfallen will – „Sonderschrift“ oder ähnliches wird der Sache nicht gerecht – sondern vor allem, dass uns der Begriff „Geheimschrift“ auf die Spur der Andersartigkeit mittelalterlicher Text- und Schreibpraxis bringen kann. Man darf nur nicht nach geheimen Inhalten suchen, sondern muss sich etwa auf die Geheimnisse materieller Textkulturen einlassen, um historisch adäquat über Fälle wie den ‚Trierer Teufelsspruch‘ nachdenken zu können. Dazu wollte ich einige Impulse geben – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

25 Ich danke Caroline Emmelius für den Hinweis auf die im Text inszenierten Verschriftlichungspro- bleme des Werkes der Margery Kempe; vgl. Emmelius 2004. Deutlich wird in diesem Fall immerhin, dass sich hier ein mystischer Text konventionellen Schreibpraktiken entzieht. Geheimschriftlichkeit könnte ein alternativer Schriftmodus sein, der auf diese Aufschreibeproblematik reagiert. 178 Stephan Müller

Literaturverzeichnis

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Ein nicht unwesentlicher Teil des uns aus pharaonischer Zeit erhaltenen Text- und Bildmaterials entstammt Zusammenhängen, die eine aktive Lesung bzw. Betrachtung bereits in antiker Zeit ausschließen. Die Aufzeichnung geschah auf Trägermedien – oder, wenn man genauer formuliert und auch die verwendeten Schriftzeichen als ein Trägermedium der codierten Aussage anspricht: mittels Trägermedien –, die offenbar intentionell unzugänglich gehalten wurden. Intentionell heißt, dass der Träger nicht durch Zufall oder Unfall zu der Eigenschaft kam, unzugänglich zu sein. Unzugäng- lich soll heißen, dass eine praktische Rezeption der darauf verzeichneten/durch sie kodierten Botschaften nicht möglich oder vorgesehen war. D. h., Unzugänglichkeit impliziert nicht zwingend Unsichtbarkeit. Unzugänglich können auch Inschriften und Bilder sein, die zwar zu sehen, aber kaum zu lesen und zu betrachten, oder gar gut zu lesen und zu betrachten, aber unmöglich zu verstehen sind.1 Eine Besonderheit solcher Inschriften und Bilder ist, dass diese Negation der praktischen Lese- oder Betrachtungsmöglichkeit sich nur auf eine gewissermaßen „unmittelbare“ Rezipientengruppe bezieht, während es durchaus intendiert sein kann, dass eine „mittelbare“ Rezipientengruppe – Götter, Geister o.ä. – die Bot- schaft wahrnimmt. Ein Beispiel dafür sind in der pharaonischen Kultur die „Briefe an die Toten“, die als Adressaten genau solche nicht-empirische Rezipienten ange- ben.2 Diese „Briefe“ können ganz regulär in Briefform auf Papyrus abgefasst werden. Sie können aber auch das Textformular des Briefes auf einem im Kult verwendeten Gegenstand platzieren z. B. einem Opfergefäß. Die Zustellung der Botschaft haben wir uns dann als einen rituellen Akt vorzustellen, durch den der Textträger in seiner

* Ich danke den Organisatoren und den Teilnehmern des Kolloquiums „Textträger“ für die ungemein inspirierende Veranstaltung. Ich danke Alexandra Verbovsek und Angelika Lohwasser für die mit vie- len kritischen Hinweisen versehene Durchsicht der ersten Fassung des Aufsatzes. Wertvolle Hinweise zum Performanzbegriff der Kunst-/Theaterwissenschaft verdanke ich Sabine Gädeke.  1 Die folgenden Überlegungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Phänomen der „re- stringierten Schriftpräsenz“, wie es in Frese/Keil/Krüger 2014 behandelt wird; siehe insbesondere die Beiträge von Christina Tsouparopoulou, Joachim Friedrich Quack und Ludwig D. Morenz. 2 Grieshammer 1975. Diese Tradition ist bis in die Neuzeit belegt: El-Leithy 2002.

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medialen Wirksamkeit aktiviert wird und die Botschaft überträgt.3 Als geradezu archetypisch für dieses Konzept einer nicht-empirischen Rezeption sind schließlich alle als „Gebet“ phänomenologisierten Formen kultureller Praxis anzusehen. Die Bot- schaft des Gebetes soll prinzipiell nur ein transzendenter Adressat wahrnehmen; ein „Du“, das empirisch nur im „Ich“ zu verorten ist.4 Doch zurück zu den materiellen Belegen. Aus dem Umfeld altägyptischer reli- giöser Praxis kennt man eine ganze Anzahl von Beispielen dafür, dass Inschriften und Bilder an Orten angebracht sind bzw. Objekte mit Aufschriften und Dekor an Orten untergebracht werden, die als intentionell unzugänglich anzusehen sind, ins- besondere im funerären Bereich: dekorierte Innenseiten von Särgen, Fugeninschrif- ten, Totentexte in der Sargkammer usw. Doch überhaupt muss man sich die Frage stellen, wie man sich wohl die Schrift- und Bildteppiche auf den Wänden gerade der ptolemäerzeitlichen Tempel überhaupt als rezipierbare Botschaften vorzustellen hat. Dasselbe gilt für Statuenbasen oder -rückenpfeiler; im Prinzip auch für Stelen und Dekrete. Haben sich Leute hingestellt und gelesen, was dort steht?5 Im folgenden Aufsatz soll versucht werden, dem Phänomen der scheinbaren Ver- bergung von bedeutungscodierenden Medien im pharaonischen Ägypten methodo- logisch näher zu kommen. Da in der Ägyptologie traditionell Texte im Mittelpunkt der Forschung stehen, wird vor allem auf diese eingegangen. Es ist aber immer zu bedenken, dass Bild und Schrift gerade in der monumentalisierten Bedeutungscodie- rung eine enge Symbiose eingehen – und das wohl selten in so prägnanter Form wie im pharaonischen Ägypten.

3 Meskell 2004, 82–84. Siehe etwa den von Seidlmayer 2006 behandelten Fall der Kommunikation mit einem Toten, in dem die Übernahme einer Grabanlage durch die Bezahlung des imaginären Vor- besitzers schriftlich auf einer im Kult verwendeten Schale abgesichert wird. Die rituelle Nutzung kera- mischer Textträger mit Briefen an die Toten behandelt ebenfalls Bommas 1999. 4 Zu Phänomenologie und Praxis des Gebets: Flasche 1990; aus ägyptologischer Sicht behandelt von Luiselli 2007. 5 Der Grad der Literalität in pharaonischer Zeit ist umstritten; es kursieren Schätzungen von höchs- tem 1% der Bevölkerung bis zu erheblich größeren Segementen (bis zu 50 %); siehe zuletzt: Moers 2001, 158–163; Popko 2006, 75–81; Gee 2010, 149, jeweils mit Literatur. Eine ausführliche Diskussion der „Schriftlichkeitskultur“ Altägyptens gibt Morenz 1996. Unbestritten bleibt, dass die Monumental- schrift als eine Spezialschrift nur von einem geringen Teil der literaten Bevölkerung aktiv beherrscht wurde, was aber nicht ausschließt, dass ein weitaus größerer Bevölkerungsteil in der Lage war, hi- eroglyphische Texte in bestimmtem Umfang über bekannte Signalformulierungen und -zeichen zu rezipieren. (Un)Zugänglichkeit 181

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Die klassische Lösung des Problems der Unzugänglichkeit liegt auf der Hand: Bot- schaften wie die erwähnten sollen gar nicht empirisch rezipiert werden. Inschriften und Bilder im Verborgenen, sei es durch die Anbringung oder Verwahrung an unzu- gänglichen Orten, sei es durch die Notierung in schwer zu erfassender Schrift, sind: magische Texte und Bilder. Sie wirken von allein. Und: sie richten sich an sakrale Entitäten, deren Rezeptionsverhalten von dem unseren verschieden ist. Was sich aber auf transzendente, empirisch nicht erfassbare Räume, Zeiten und Adressaten bezieht, muss auch empirisch weder zugänglich sein noch in seiner Wirksamkeit geprüft werden. Was diese Aussage auszeichnet ist zweierlei: Sie kann sich auf sinngemäße Äuße- rungen in antiken Texten stützen, die als Adressaten z. B. von Opfern und Gebeten übernatürliche Entitäten angeben und die versichern, dass solche Sprüche bereits millionenfach als wirksam erwiesen sind.6 Und sie scheint für den modernen (west- lichen) Rezipienten akzeptabel und wird auch in der wissenschaftlichen Literatur erstaunlich selten hinterfragt. Dass Adressaten nicht-empirische – d. h. nebulöse – Entitäten sind und dass Wirkung sich magisch – d. h. irgendwie von selbst – einstellt, scheint einleuchtend und als Erklärung hinreichend zu sein.7 Jedenfalls brechen auch methodisch anspruchsvolle Studien gewöhnlich an der Stelle ab, an der sie die magische Performativität derartiger Inschriften und Bilder festgestellt haben.8 Wie sich diese Performativität, die latente Fähigkeit zur Performanz, zu Wirksamkeit und agency, aber konkret äußert, warum man an dieser Stelle auf sie Wert legt, wann und wer eigentlich; das wird gemeinhin nicht erörtert.9 Will man die These der imaginären Adressaten und der magischen Selbstwirk- samkeit hinterfragen, dann lautet die Antithese wohl: Keine verborgene Botschaft hat irgendeinen Sinn und somit irgendeine Wirkung – solange sie verborgen bleibt. Auch dass die zur Debatte stehenden Beispiele explizit als Botschaften an das Irreale, an Götter oder Geister konzeptualisiert sind, spielt dabei keine Rolle, denn es geht

6 Die Versicherung der millionenfachen Erprobtheit z. B. im Schlusssatz einer Passage im „Buch von der Himmelskuh“; Hornung 1982, 46. 7 Es ist hier nicht der Ort, über den recht naiven Umgang vieler Ägyptologen mit z. B. dem Begriff „Gott“ zu sinnieren, siehe: Fitzenreiter 2013. 8 Siehe etwa: Servajean 2003. Auch in der sehr anregenden phänomenologischen Untersuchung von Meyer-Dietrich 2006, in der detailliert die Performanz der Bilder und Aufschriften analysiert wird, bleibt der Aspekt der praktischen Wirksamkeit, des Momentes, wie sich diese Potenzen realisieren, weitgehend ausgeblendet. So ist der Umstand, dass der besprochene Sarg der Senbi von einem Uch- hotep usurpiert wurde, eher en passant erwähnt. Doch gerade dieser Einbruch der Praxis sollte für die Wirkung entscheidende Bedeutung haben! 9 Wenn Servajean 2003, 24 feststellt: „En prononçant les formules, le défunt ne communique pas, il crée.“, fragt man sich denn doch, wie ein Verstorbener Zaubersprüche ausspricht… 182 Martin Fitzenreiter

nicht um Intention, sondern um Wirkung. Negiert man die Möglichkeiten aber, dass es einen irrealen Rezipienten und eine quasi selbstlaufende magische Performanz gegeben hat, dann stellt sich die Frage um so mehr, wozu Botschaften an unzugängli- chen Plätzen angebracht oder im Zuge bestimmter Praktiken verborgen werden. Denn wenn sich die Möglichkeit ausschließt, dass die Inschriften und Bilder den irrealen Adressaten erreicht haben und dieser dann für mögliche Wirkungen verantwortlich gemacht werden könnte,10 dann bleibt die Frage, woraus die offenbare Wirksamkeit solcher Botschaften resultiert, und worin? Grundlos wird man sie nicht angebracht haben, jedenfalls nicht immer und immer wieder und sogar in gesteigertem Maße. Siehe die kontinuierliche Zunahme des dekorierten und beschrifteten Materials in den verschlossenen Bereichen funerärer Anlagen und ebenso an den Tempelwänden. Um nun nicht bei der Konstatierung eines Paradoxon stehenzubleiben – man brachte Inschriften und Bilder immer häufiger in unzugänglicher Weise an, aber das war völlig sinnlos – muss im Rahmen der Antithese angenommen werden: dass diese Bot- schaften durchaus ihre realweltlichen Adressaten hatten; ferner: dass sie auch real- weltliche Wirkungen erzielten; und schließlich: dass aus diesem Grund das Bedürfnis bestand, solche Inschriften und Bilder zu produzieren.11 Um diese (Anti-)These zu entfalten, erscheint es mir sinnvoll, zwei Aspekte genauer zu untersuchen: Zum einen die Trägermedien, die die entsprechenden Auf- schriften und Bilder konserviert haben und zugleich deren Eigenschaft bestimmen, unzugänglich zu sein. Zum anderen die Prozesse von Produktion, Wahrnehmung und möglicher Rezeption, die sich um diese Trägermedien modellieren lassen und ebenfalls unmittelbar um deren Eigenschaft kreisen, unzugänglich zu sein. Weitaus weniger interessant sind die Inhalte der Inschriften und Bilder selbst – denn die waren a priori ja gar nicht wahrzunehmen, weil intentionell verborgen. Etwas zuge- spitzt formuliert: ich meine, dass gerade im Fall religiöser Schriften und auch Bilder uns weniger der Inhalt, als die Art der Aufzeichnung hilft, deren Wirkung und Sinn zu verstehen.12 Um dieses Primat der tatsächlich vorliegenden Artefakte bzw. Befunde gegenüber ihren nur möglichen Inhalten zu unterstreichen, soll in der folgenden Ausführung eine begriffliche Differenzierung dieser ganz unterschiedlichen Phänomenen bereits auf der Ebene der Begriffe vorgenommen werden. Daher wird zwischen der konkre-

10 Wohlgemerkt: vom heutigen Forscher. Die antiken Akteure machten natürlich die irrealen Rezipi- enten für die Wirkung verantwortlich. Hierin liegt der Unterschied von Theologie und Religionswis- senschaft. Siehe noch unten. 11 Siehe bereits Baines 1985, 4 dazu, dass man verborgene Inschriften oder Bilder nicht über die Erklärung, sie seien für das Verbergen oder für sakrale Entitäten geschaffen worden verstehen kann, sondern nur über den Gedanken der audience. 12 Zur Aussage, religiöse Texte seien „nichts anderes als Aufschriften“ siehe: Fitzenreiter 2011, 704. Die hier vorliegenden Ausführungen sollen gewissermaßen der Erläuterung der dort etwas salopp formulierten Behauptung dienen. (Un)Zugänglichkeit 183

ten „Aufschrift/Inschrift“ und dem (archetypischen) „Text“ – d. h. der ggf. mehreren Belegen gemeinsame Sinneinheit – unterschieden, und ebenso zwischen dem kon- kreten „Bild“ und dem (archetypischen) „Ikon“. Allerdings soll diese Unterscheidung hier nicht im platonischen oder strukturalistischen Sinne als die zwischen dem nur einige Facetten erfassenden „Abbild“ und einem richtigen/totalen „Urbild“ (= Text/ Ikon) verstanden werden, sondern als eine Unterscheidung auf der Ebene der Praxis: Text und Ikon sind Hilfsbegriffe, die für das Feld all jener Bedeutungen stehen, die von den Rezipienten mittels Schrift und Bild konstituiert und kommuniziert werden (können). Inschrift und Bild aber sind reale Gegenstände; im archäologischen Sinne: Befunde. Jenseits ihrer Fassung in solche konkrete Medien (Schrift, Bild, aber auch: Sprache, Bewegung, Klang usw.) sind Text und Ikon, allen idealistischen Ansätzen von Erkenntnis- bis Kunsttheorie zum trotz, nicht existent. Diese These soll im folgen- den noch ausgeführt werden.13

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Bei etwas eingehenderer Betrachtung von Beispielen für unzugängliche Schriften oder Bilder fällt auf, dass jeweils das Bewusstsein ihrer Existenz bei einer größeren Gruppe potentieller Rezipienten anzunehmen ist und ihre Existenz z.T. auch deutlich signalisiert wurde. So war z. B. beim sogenannten pinnacle vom Gebel Barkal die ca. 70 Meter hoch oben am Berg angebrachte Inschrift durch eine Vergoldung zumindest auffällig (die nur einige Zentimeter großen Zeichen aber kaum lesbar) (Abb. 1a u. b).14 Die Verborgenheit bzw. die Unmöglichkeit der Lesung war also nur eine Seite der Intention; die andere Seite war die, die schiere Existenz im Bewusstsein zu halten. Das trifft auch für die in Grabkammern verborgenen Objekte zu, von denen diejenigen, die in den funerären Kult involviert waren, durchaus wussten, dass sie vorhanden sind und dass sie Aufschriften und Bilder tragen. Dasselbe gilt für die Inschriften der Tem- pelwände, die zwar den meisten nicht lesbar gewesen sein werden, deren Existenz aber unübersehbar ist. Und schließlich signalisiert jede in Hieroglyphen geschrie- bene Inschrift, dass es sich hierbei um einen Text handelt, selbst dem, der diesen

13 Siehe zu diesem Problemkreis etwa die Unterscheidung von picture (= Bild) und image (= Ikon) durch Mitchell 2001 (zitiert nach: Schulz 2010, 86). Das Problem von Inschrift und Text wird aus- führlich behandelt in: Morenz/Schorch 2007, wo mehrfach auf die Bedeutung der kommunikativen Situation bei der Konstituierung des „Textes“ aus seiner medialen Erscheinung heraus Bezug genom- men wird, z. B. „Lesen konstituiert nicht nur den Leser, sondern auch den Text“ (Stefan Schorch, op. cit. 120) oder „Ein Text existiert erst durch die Lesung.“ (François Vouga, op. cit. 353) und besonders Hardmeier 2007, passim. Cancik-Kirschbaum 2007, 163 wirft auch bereits die Frage der nichtsichtba- ren Texte auf. 14 Kendall 2004. 184 Martin Fitzenreiter

Abb. 1 a: Der pinnacle am Gebel Barkal (Karima/Sudan) mit den Inschriften des Taharqo und des Nastasen an der Spitze (oben links,) (Foto: M. Fitzenreiter; Inschrift aus: Timothy Kendall, „The Monument of Taharqa on Gebel Barkal“, in: Steffen Wenig (Hg.), Neueste Feldforschungen im Sudan und in Eritrea, Meroitica 21, Wiesbaden 2004, fig. 24) zu decodieren nicht in der Lage ist. Noch den Rezipienten im arabischen Mittelalter und denen im Europa der frühen Neuzeit war wohlbekannt, dass man es hierbei mit Schrift und darin verborgenem Text zu tun hat, auch wenn man den Inhalt höchstens erraten konnte. Daraus ergibt sich als ein erster und wichtiger Punkt, dass die Aufschriften und Bilder also keineswegs einfach ohne Rezipienten gedacht sind, dass aber die Rezep- tion nicht das tatsächliche Lesen oder auch nur intensive Betrachten beinhaltet. Es (Un)Zugänglichkeit 185

Abb. 1 b: Konzeptualisierung des Felsens als Uräusschlange in einer Darstellung im Felstempel Ramses II. in Abu Simbel (aus: Timothy Kendall, „Die Könige vom Heiligen Berg“, in: Dietrich Wildung (Hg.), Sudan. Antike Königreiche am Nil, Ausstellungskatalog München, Tübingen: Wasmuth, 1996, Abb. 32, Zeichnung: Peter Der Manuelian) geht nur darum zu wissen, dass es die Botschaft dort „im Verborgenen“ gibt. Und um das zu wissen, reicht das Bewusstsein, dass dort im Verborgenen Objekte existieren, die entsprechenden Text und Bilder tragen oder tragen sollten: in einer Grabkammer z. B. ein Sarg. Andererseits – und das ist der zweite wichtige Punkt – setzt das Bewusst- sein der Existenz sinntragender Objekte die Kenntnis wesentlicher Sinnzusammen- hänge voraus, die mit dem Objekt des Text- und Bildträgers einerseits, dem Inhalt der Botschaft andererseits verbunden sind. Man muss wissen, was ein Sarg ist (im pha- raonischen Ägypten eben durchaus auch mehr, als nur ein Leichenbehältnis)15 um zu ahnen, dass mit diesem auch Texte verbunden sind. Ja, man muss sogar wissen, welche Texte dort in etwa in Inschriften vorhanden sein sollte. Um diesen Zusammenhang von Bewusstheit von der Existenz der Inschrift einerseits und der Kenntnis wesentlicher damit verbundener Sinnzusammenhänge

15 Zum Sarg als einer „ritual machine“: Willems 1988, 239. 186 Martin Fitzenreiter

anderseits zu erläutern ein Beispiel: Der erwähnte pinnacle am Gebel Barkal war bereits ein sakral konnotiertes Objekt, bevor er dekoriert wurde. Der beeindruckend in der Landschaft liegende Tafelberg (heute Gebel Barkal genannt, auf Ägyptisch Dw wob) war ein heiliger Platz, lange ehe die Ägypter dieses Gebiet um 1500 v. u. Z. besetzten. Auch die freistehende Steinsäule (pinnacle) wurde schon damals als hei- liges Zeichen konzeptualisiert, wie ihre Interpretation als Uräusschlange bereits unter Ramses II. (ca. 1290–1224 v. u. Z.) nahelegt. Aber durch die Umgestaltung und Beschriftung unter Taharqo (ca. 690–664 v. u. Z.) wurde der gesamte Komplex neu interpretiert und spezifiziert. Er wurde konkret mit diesem Pharao in Verbindung gebracht. Dieser Vorgang wurde noch einmal wiederholt durch die erneute Beschrif- tung unter dem napatanischen König Nastasen (ca. 335–315 v. u. Z.).16 D. h., der Akt der Einschreibung veränderte und spezifizierte jeweils die Bedeutung der natürlich gegebenen Felsformation in eine ganz konkrete Richtung. Er schränkte damit das mögliche Bedeutungsspektrum aber auch bewusst ein. Dieser Aspekt ist m. E. ein zweiter Punkt von besonderer Wichtigkeit: die Kon- kretheit des Aktes der Beschriftung, die eine Einheit aus Trägermedium und Inschrift konstituiert und die auch den Moment der eigentlichen Wirksamkeit – und damit den Sinn – einer solchen, scheinbar verborgenen Inschrift konstituiert. Denn so merkwürdig es klingen mag: nicht für die Ewigkeit und nicht für irgendwelche irra- tionalen Rezipienten wird (praktisch gesehen) diese Inschrift angebracht, sondern für den Moment ihrer Anbringung und ihre Rezeption durch jene, die sie anbringen (lassen). Das klingt nach wenig, ist aber sehr viel. Denn in diesem konkreten Akt wird ein ganzes Bündel an Potenzen der eingesetzten Medien aktiviert (der Berg, die Schrift, der Name, das Gold etc.), aber es ergibt sich idealtypisch nur eine und konkrete Aussage. Diese konkrete Aussage konstituiert sich im Moment der Herstel- lung, wenn die Auftraggeber und Produzenten sozusagen selbst zu Rezipienten der von ihnen erstellten Botschaft werden. Der Vorgang kann sich aber wiederholen, und zwar in jedem Moment, in dem weitere Rezipienten einige der medialen Potenzen des Objektes „lesen“ und so deren Botschaft neu konstituieren und entschlüsseln. Wobei tatsächlich in jedem „Lesen“ der Akt der Neukonstituierung und der Entschlüsselung wieder zusammenfallen. Dass jedes „Lesen“ (allgemein: Rezipieren) neben dem Entschlüsseln auch den Vorgang der Konstituierung des zu-Lesenden umfasst, mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Doch ist genau diese Einsicht hilfreich, wenn man Sinn und Wirkung von scheinbar verborgenen Botschaften erfassen will. Entscheidend ist nämlich nicht, dass es z. B. eine Inschrift und einen Berg gibt und was diese beiden Medien idealtypisch „bedeuten“, sondern dass die dem Berg, die der Inschrift und die noch weiteren Merkmalen eigenen medialen Potenzen von konkreten Rezipienten in einem kognitiven Prozess zusammengeführt und verstanden werden. Dabei greifen

16 Siehe die Materialzusammenstellung von Kendall 2004. (Un)Zugänglichkeit 187

die Agenten auf einen Vorrat an Wissen und Techniken zurück,17 über den sie die bedeutungstragenden Potenzen der Medien auslösen und so eine konkrete Bedeu- tung hervorrufen bzw. erfahren. „Bedeutung“ ist nichts a priori gegebenes, sondern wird produziert.

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Man kann diesen Moment einer konkreten praktischen Situation der Bedeutungs- oder Sinngenerierung recht gut über den bereits erwähnten Begriff der Performanz beschreiben. Der Begriff ist der sprachwissenschaftlichen Sprechakttheorie entlehnt und wird in der Ägyptologie meist auch entlang der dort zugrunde gelegten Definition des to do things with words (John L. Austin) genutzt. Im hier gebrauchten Sinne ist die Erweiterung dieses Begriffes auf Handlungsvorgänge der Produktion kulturellen Sinnes ganz allgemein gemeint, unter denen das Sprechen und Hören nur eine Teil- menge bilden und die die Sinnproduktion durch Gesten, Klänge, Bilder, Objekten, Gerüche, Empfindungen ganz allgemein umfasst, wie sie der performative turn in den Kulturwissenschaften, insbesondere auch der Kunst- und Theaterwissenschaft propagiert.18 Auch in der (prähistorischen) Archäologie ist der Begriff weniger über die Sprachwissenschaft eingeführt, sondern über die ethnologische Ritualforschung in der Nachfolge von Victor Turner,19 während in der Ägyptologie bisher der an der Sprach-/Textwissenschaft orientierte Gebrauch des Begriffs im Rahmen der Text- und Ritualanalyse überwiegt.20 Die Erweiterung des Gebrauches der Sprechakttheorie in Richtung einer „Bildakt-Theorie“ wurde von Jan Assmann bereits 1990 erarbeitet.21 Seine zur Erfassung der Wirksamkeit von Bildern (und Schriftbelegen) entwickelte Methodik ist in der ägyptologischen Kunstforschung fruchtbar etabliert.22 Dem sind

17 Wissen und Techniken: Bereits das „Lesen“ ist ein vielfältiger Vorgang, kann laut oder leise sein, kann Bewegung und Gesang inkorporieren, ja muss nicht einmal das Wiedergeben, was die Schriftzeichen im Sinne dessen codieren, der sie aufgezeichnet hat, sondern auf ganz anderen Asso- ziationen aufbauen. Techniken der Decodierung können sich diverser Maschinen bedienen oder im Ablaufen von „song lines“ bestehen usw. Rezipienten, die mit bestimmten Techniken nicht vertraut sind oder denen es an bestimmten Kenntnissen mangelt, müssten entsprechende Bedeutungsnetze „übersetzt“ werden. 18 Siehe die weit von der Sprechakttheorie wegführenden Erörterungen in: Fischer-Lichte 2005. 19 Turner 1986; siehe zur Verarbeitung dieser Ansätze auch in der Ägyptologie und verwandten Fä- chern: Metzner-Nebelsick 2003; Drücker/Roeder 2005; Mylonopoulos/Roeder 2006. 20 Siehe: Roeder 2003, bes. 205f. und zusammenfassend Meyer-Dietrich 2010. Der Begriff perfor- mance wird von Parkinson 2002, 78–81 und Parkinson 2009 in Bezug auf die Realisierung der Wirk- samkeit von literarischen Werken verwendet; siehe auch: Lepper 2008, 311–313. 21 Assmann 2004 (Neufassung). 22 Siehe etwa: Meyer-Dietrich 2006, 12–17; Luiselli 2007, bes. 89; Luiselli 2011. 188 Martin Fitzenreiter

die Überlegungen zum Bildakt verwand, die Horst Bredekamp entwickelt.23 In der anglophonen archäologietheoretischen Literatur wird das Phänomen der kulturellen Wirksamkeit von Objekten auch über das Konzept der agency of objects angegangen.24 Mit Performanz sei die eigentümliche Eigenschaft ganz allgemein beschrieben, die kulturelle Objekte25 in dem Moment haben, in dem sie von menschlichen Agenten hervorgebracht und/oder aktiviert werden. In diesem Moment realisiert ein sonst bedeutungsloses Ding oder Phänomen die Fähigkeit, „wirksam“ zu sein. Die Potenz kultureller Objekte/Ausdrucksformen, in einer praktischen Situation Performanz zu besitzen, soll hier über den Begriff Performativität beschrieben sein. Performativität in diesem Sinne ist gewissermaßen die spezifische, einem Objekt/einer Ausdrucks- form innewohnende, latente Qualität, eine ganz bestimmte Performanz hervorzu- rufen. Die Performativität eines Musikinstrumentes ist seine Fähigkeit, zu klingen, die im Klang ihre Performanz findet; die Performativität von Schriftzeichen ist u. a. die Eigenschaft, Lautwerte zu kodieren, die in der Lesung ihre Performanz entfalten (wobei Schrift durch die Ikonizität der Schrift-Zeichen, der Aufzeichnungsart usw. noch eine ganze Reihe weiterer performativer Potenzen besitzt) usw.26 Im Rahmen einer Handlung wird diese Potenz real: Schriftzeichen werden gelesen und offenba- ren/realisieren ihren Inhalt (Text), Bilder werden gesehen und erweisen sich als die Umsetzung einer visuell gefassten Vorstellung (Ikon), Worte werden gesprochen und erzeugen einen Sinn, Objekte deuten auf kulturelle Realitäten (eine Krone deutet auf den Träger als König) usw.

23 Bredekamp 2010. 24 Meskell 2004, 5f., 51–55 und passim mit einer Diskussion der Ansätze. Einen Überblick zu den diesem Zugang eigenen Ausgehen von der „Materialität“ der Dinge und den daraus resultierenden Eigenschaften zugrundeliegenden Modellen der Ethnologie siehe: Hahn 2005. 25 Korrekt wäre es, ganz allgemein von kulturellen Ausdrucksformen zu sprechen, denn neben durch menschliche Tätigkeit veränderten Objekten können auch unberührte, aber im Zuge einer kul- turellen Ansprache/Klassifizierung kulturell „aufgehobene“ Objekte („merkwürdige“ Gesteine) oder Gegebenheiten („erhabene“ Landschaften usw.) diese Rolle spielen, außerdem auch der im Sprechakt konstituierte Laut (in der Lautfolge: Sprache), die kulturell konnotierte Emotion (ein Wutanfall besitzt erhebliche Performanz wie auch das Weinen eines Kindes) usw. „Kulturelles Objekt“ ist insofern eine Tautologie, als bereits die Qualität „Objekt“ einem Phänomen die Eigenschaft der „kulturellen Auf- hebung“ eigen macht. 26 Diese Begriffsbestimmung unterscheidet sich z.T. von anderen, die im Zusammenhang mit Theori- en der Performanz/Performativität diskutiert werden; zum Dilemma der diffusen Terminologie siehe: Snoek 2003, der unter „performance“ den Akt der Aufführung und unter „performativity“ die Eigen- schaft von „performative (speech) acts (to) cause changes to take place“ (op.cit., 80) versteht. Ähnlich Roeder 2003, 205, der „Performanz/performance“ als „Auf- und Durchführung“ von „Performativität im Sinne des performativen Sprechaktes“ trennt und einen Unterschied zwischen „Handlungsakt“ und „Handlungsaufführung (= Performanz)“ herausstreicht. In beiden Fällen erscheint mir die enge Bindung an die Sprechakttheorie und das Übersehen der kulturellen Wirkungspotenzen auch von nonverbalen Handlungen einer umfassenden Theorie kultureller Wirkungsmechanismen im Wege zu stehen. (Un)Zugänglichkeit 189

Wichtig bei der Beurteilung dieser Performanz ist aber, zweierlei zu beachten. Zum einen: Nicht in der Latenz seines Vorhandenseins entwickelt ein Ding/Phänomen Bedeutung und daraus wiederum Wirksamkeit, sondern nur und ausschließlich aus der Situation seiner praktischen Aktivierung.27 Eine Aktivierung, die im übrigen auch unwillkürlich und zufällig sein kann; ein versehentliches Anschauen, ein nebenbei gehörter Ton. Und eine Aktivierung, die immer nur ein Teil des Spektrums an Per- formativität indiziert: nicht alle Töne, sondern nur einige, nicht alle Bilder, sondern Ausschnitte usw. Um den bourdieuschen Feldbegriff heranzuziehen: der Moment der Performanz eines Objektes besteht darin, dass in einer konkreten praktischen Situation aus dem Feld latenter Bedeutungen genau die und nur die ausgewählt und gewissermaßen „verschmolzen“ werden, die eine bestimmte Aussage hervorrufen.28 In unserem Fall beinhaltet dieser Moment auch die kognitive Verschmelzung von Bild- oder Schriftträger mit der konkreten Fassung von Bild oder Inschrift, also von Felsmassiv und Dekoration, und die aktive Kombination von deren latenten Bedeu- tungen. Womit dem Objekt eine ganz bestimmte, begrenzte Bedeutung verliehen wird – oder werden soll. Denn nun kommt ein dritter, oft übersehener Aspekt zum Tragen: die durch Akti- vierung ausgelöste Performanz des kulturellen Objektes ist nicht gleich ihrer Wirkung. Was die Performanz eines kulturellen Objektes hervorruft, die Emergenz des prakti- schen Aktes, seine nur bedingt kalkulierbare Wirkung, ist nämlich ebenfalls ein kon- kretes Phänomen, das zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich ausfallen kann.29 Dieselben Hierogly- phen wurden von Athanasius Kirchner und François Champollion ganz verschieden

27 „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1989, 262f.). Ent- sprechend dieser Ursentenz des linguistic turn in der Philosophie (als Mutter aller turns) ließe sich er- weitert formulieren: Die Bedeutung einer Handlung/eines Objektes ist ihr/sein Gebrauch in der Praxis . Siehe zur Problematik der Wittgensteinschen Aussage, die vollständig lautet: „48 Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle sei- ner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Spra- che. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.“: von Savigny 1998, bes. 8f. 28 Wobei die Rezipienten nur solche Bedeutungen aktivieren können, die ihnen bekannt sind bzw. von ihnen dem entsprechenden Feld zugeordnet werden (das entspricht in der Sprachwissenschaft der Kompetenz als Gegenpol zur Performanz nach Noam Chomsky). 29 Daher unterscheiden sich Rezeptionen auch zwischen verschiedenen Rezipienten, Zeiten, Räu- men usw.; siehe: Verbovsek 2006, 119f. Der Umstand macht die Rezeption zu einem schöpferischen Vorgang. Er führt aber auch dazu, dass der Rezipient (der gelegentlich Archäologe ist) bei ungenü- gender Kenntnis möglicher Bedeutungen (= Kompetenz) oft ins freie Assoziieren verfällt. Oder bei Kenntnis zu vieler möglicher Bedeutungen den Bogen einer konkreten Deutung überspannt. Für die ägyptosophische Rezeption (Hornung 1997) ist eine möglichst geringe Kompetenz antiker Sachverhal- te – besonders soziokultureller Zusammenhänge – allerdings äußerst wichtig, um produktiv zu sein. Diese wird durch den hohen Grad an Kompetenz von neuzeitlichen Deutungsmöglichkeiten aufgeho- ben z. B. die Kenntnis von psychoanalytischen Anamneseverfahren. 190 Martin Fitzenreiter

gelesen (und so ist es gelegentlich noch heute), dasselbe Bild offenbart verschie- denen Betrachtern ganz andere Sachverhalte, eine standesamtlich ausgesprochene Scheidung ist für die katholische Kirche nicht wirksam, ob eine Krone einen König oder Narren macht entscheidet die Situation usw.30 D. h. man muss davon ausgehen, dass die Performanzen des pinnacle im Neuen Reich, in der 25. Dynastie und in der napatanischen Zeit schon aufgrund der unterschiedlichen Zusammenstellung der aktivierten Elemente andere waren und die Emergenzen dieser Aktivierung ebenso. Im Übrigen ist mittels dieser Begriffsarbeit nur beschrieben, dass es das Phäno- men der konkreten Wirksamkeit von scheinbar unzugänglichen Objekten gegeben hat. Was diese genau beinhaltet, was das Zeichen aus Steinsäule und Inschrift

30 Für die Archäologie erscheint mir daher in der Auseinandersetzung mit dem Ansatz der „agency of objects“ wichtig zu sein, agency oder Performanz nicht essentialistisch auf das Objekt zu fokus- sieren, sondern als Phänomen einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu sehen, also als ein Praxisphäno- men. Es ist immer der Agent, der das Objekt – sei es ein Gerät, ein Bild, eine Schrift oder auch ein Wort – zum „klingen“ bringt. Ebenso ist die Wirkung dieses Aktes über den Agenten zu erfassen: auch seine „Unterwerfung“ unter ein Objekt (z. B. dass die Krone den König macht) ist nur als Hand- lung zu verstehen. Dennoch sollte der Ansatz der „agency of objects“, den „Eigensinn der Dinge“ zu beachten (Hahn 2005, 46–49) gerade in der Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie berück- sichtigt werden, die zu sehr auf die willentliche Handlung des Agenten fokussiert und seine Bin- dung an das durch kulturelle Ausdrucksformen vorgegebene Bedeutungsnetz gelegentlich übersieht. Dementsprechend ist der hier vorgeschlagene praxistheoretisch inspirierte Ansatz auch nicht pass- gleich zu Ansätzen aus der Sprechakttheorie, in denen es primär um die Fähigkeit von Sprache geht, Handlungspotenz zu entwickeln. So erscheint es mir nur bedingt sinnvoll zu sein, den Begriff der Performanz von Objekten, Texten und Sprechakten darauf zu beschränken, dass diese kulturellen Ausdrucksformen in Struktur und Verwendung bewusst auf die Erzeugung von kulturellen Entitäten angelegt sind (to do things with words). Die so im Handlungs-/Sprech-/Bildakt gegebene Beschreibung einer vorgesehenen Entität (z. B. einer Ehe) lässt sich m.E. besser als Affirmation, als Beschreibung des erhofften Zustandes und des Weges dahin bezeichnen, während die komplexe Performanz des Aktes eine große Zahl möglicher Emergenzen zulässt, wozu eben auch das Misslingen des affirmativ Intendierten zählen kann. Auch wenn the ritual fails (Clifford Geertz) hat das seine Wirkung, und zwar nicht zu knapp (Hüsken 2007). Etwas anderes ist es, wenn zwischen solchen kulturellen Ausdrucks- weisen unterschieden wird, denen eine bestimmte Performativität inhärent ist (z. B. eine Krone, ein Götterbild, die Worte: „Du bist König!“), und solchen, die a priori keine Performativität transportieren (ein Metallreifen, eine dekorative Plastik, rein deskriptive Worte wie „Ein Königs ist …“). Diese Unter- scheidung von Aussageformen und auch die von performativen Texten z. B. in preskriptive, operative und interpretative ist in der Analyse von sprachlichen Aussageformen sehr sinnvoll (Roeder 2004). Bei der Ausdehnung des sprach- oder textwissenschaftlichen Performanz-Begriffes auf Handeln ganz allgemein ergibt sich jedoch das Dilemma, dass in konkreten praktischen Situationen beinahe jede kulturelle Ausdrucksweise mit Performativität aufgeladen werden kann bzw. semiotisch gesprochen nach Krysztof Pomian zu einem Semiophor wird. Auch hierbei gilt, dass die dem Semiophor eigene Performativität kein inhärentes Abstraktum ist, sondern eine Qualität, die ihm erst in Rahmen von Praxis eigen wird. Es ist der von Bell 1992 beschriebene Prozess der ritualization, der die in Hand- lungsakten erworbene Performativität bestimmter Objekte, Worte, Gesten usw. wenigstens zeitwei- se festschreibt und in das Feld der mit Kompetenz verwalteten latenten Bedeutungsträger einspeist. Dazu aus ägyptologischer Perspektive: Meyer-Dietrich 2006, 20–22. (Un)Zugänglichkeit 191

also tatsächlich in einem bestimmten Moment der Aktivierung denn nun bedeutet, bleibt ungeklärt. Inhalt und Bedeutung zu rekonstruieren scheitert oft genug an der schmalen Quellenbasis. Die Deutungen des pinnacle reichen von der Monumental- statue eines Königs oder Gottes über eine Riesenschlange bis zur oberägyptischen Krone und sogar zum XXXL-Phallus.31 Solche inhaltlichen Fragen werden durch die Beschreibung von Performativität, Performanz und Emergenz nicht geklärt.32 Diese praxisorientierte Beschreibung stellt aber immerhin heraus, dass es den Moment der Einschreibung eines Sinnes in die Steinsäule unter Taharqo gab und ermöglicht so, einen historischen Moment im Umriss zu erfassen. Außerdem stellt sie heraus, dass dieser Moment in der Erinnerung blieb und wiederholte Aktivierung erfuhr, bis hin zu einer komplexen Neuschaffung, indem eine weitere – und erst recht kaum sicht- bare – Beschriftung unter Nastasen hinzugefügt wurde. Ferner sie macht deutlich, dass jede dieser Aktivitäten, so unlesbar die konkreten Inschriften eigentlich waren, sehr wohl Rezipienten im Hier und Jetzt hatte. Und schließlich stellt sie heraus, dass es nicht eigentlich die Inschrift ist, die Sinn und Wirkung des Objektes konstituiert, sondern die konkrete Wahrnehmung der Einheit aus Textträger (= Felsen), Inschrift und noch vielen weiteren Potenzen. Damit ist aber auch klargestellt, dass nicht die vermeintliche magische Wirkung in transzendenten Räumen oder auf transzendente Adressaten in den Mittelpunkt einer archäologischen Interpretation derartiger Belege gestellt werden muss, sondern die Facetten der Wirkungsmöglichkeiten im Hier und Jetzt aller – oder möglichst vieler – denkbaren Rezeptionsvorgänge.

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Was hier an einem – geographisch gesehen – für Ägyptologen etwas abgelegenen aber dafür recht übersichtlichen Beispiel darzustellen war, lässt sich auf die sehr viel komplexere Welt der Tempeldekoration übertragen. Kaum ein Mensch wird sich die Schrift- und Bildernetze der ägyptischen Tempel vor allem aus der griechisch-römi- schen Zeit durchgelesen haben. Aber alle, die es wissen mussten, waren sich der Exis- tenz der dort kodierten Botschaften bewusst. Aus diesem Moment der Bewusstheit können die Inschriften und Bilder dann auch, obwohl nicht angesehen oder gelesen, ihre Wirksamkeit entfalten. Auch hier gilt: Worin der Sinn der steinernen Bibliotheken der Tempel griechisch-römischer Zeit eigentlich besteht, ist in der Diskussion. 33 Dass

31 Kendall 2008 mit einer Vielzahl möglicher bedeutungstragender Assoziationen um den pinnacle. 32 Was neben der Unkenntnis historischer Zusammenhänge auch daran liegt, dass die Emergenz der konkreten Performanz selbst für die Agenten selten ganz vorauszusagen ist. Es ist Teil der Dialektik der Praxistheorie, dass die tatsächliche Auswirkung der performativen „Verschmelzung“ latenter Be- deutungen mehr ist als die berühmte „Summe ihrer Teile“. 33 Assmann 1992 a; Assmann 1992 b, 177–195. 192 Martin Fitzenreiter

es einen Sinn gibt steht außer Frage, und ebenso, dass dieser weniger darin besteht, dass man diese Deko- ration studiert, als dass sie geschaf- fen wird und dass sie existent ist. Wobei noch ein weiterer inter- essanter Aspekt der Unzugänglich- keit eine Rolle spielt: Es gibt etliche Schriften, die selbst für den, der sie denn lesen wöllte, unlesbar sind, sofern er nicht einen ganz spezifi- schen Code ihrer Entzifferung kennt. Damit sind nicht Schriften allge- meiner Art gemeint, die prinzipiell natürlich bereits sowohl Schrift- kenntnis wie Lesekompetenz verlan- gen. Es handelt sich um Beispiele für die so genannten kryptographischen oder visuell-poetischen Texte.34 Ganz frappierend sind zwei Beispiele dieser Textsorte aus dem Tempeln in Esna, in denen in einem eigent- lich recht zugänglichen Bereich des Tempels Inschriften fast ausschließ- lich mit den Zeichen des jeweiligen heiligen Tieres geschrieben wurden (Abb. 2).35 Beide Inschriften flankieren einen Nebeneingang zum Tempel, der aber für den täglichen Priester- dienst genutzt und daher frequen- tiert wurde. Die an der südlichen Seite bevorzugt bis zum Exzess das Bildzeichen des Widders, die an der nördlichen Seite das des Krokodils. Abb. 2: Kryptographie oder visuelle Poesie: Zwei Das Resultat entspricht zwar prin- Inschriften am Tempel des Khnum von Esna (nach: zipiell den Regeln der zeitgenös- Serge Sauneron, Le Temple d’Esna II, PIFAO, sischen (ptolemäisch-römischen) Kairo:IFAO, 1963, 204, 235).

34 Assmann 1996, 456–460; Morenz 2004; Morenz 2008. 35 Sauneron 1963, Text No. 103, 126; Leitz 2001; Morenz 2002. (Un)Zugänglichkeit 193

Textproduktion, ist durch seine Überspitzung aber außergewöhnlich. Letztendlich sind die beiden Texte lesbar, doch es ist davon auszugehen, dass nur selten jemand sich die Mühe der Aktivierung der Textperformanz durch Lesung dieser Inschriften angetan hat. Ein wesentlicher performative Moment lag hier wohl in der Erstellung der Inschrift (und ihrer Vorlage) selbst, ein Akt, der ein hohes Maß an Kenntnis demonstriert (und damit wohl eine meditative Dimension besaß, neben einer otiös- ästhetischen36). Durch die Anbringung an einem Ort, an dem man Inschriften nor- malerweise zwar erwartet, aber nicht liest, setzt das ungewöhnliche Schriftbild dann permanent ein Signal, aufgrund dessen sich der die Tempelbeschriftung eher ignorie- rende Rezipient doch der Inschrift zuwendet, den er dann gleichwohl aber nicht lesen kann und der ihm also in seiner originären Sinnhaftigkeit verborgen bleibt. Damit hat die Inschrift aber ihre Wirkung nicht verfehlt: Gerade die Verborgenheit des Sinnes ist Teil der Botschaft. Es handelt sich bei den Texten um Hymnen, die in eigentlich recht platter Weise die unglaubliche Komplexität des Wesens der Gottheit zu beschreiben suchen, die sich dem menschlichen Verstand gerade nicht erschließen kann.37 Indem die Inschrift als Erscheinung erfassbar, aber in ihrem Text-Sinn unerfassbar wird, hat sie diese Botschaft weit eindrücklicher vermittelt, als es die Pleneschreibung dessel- ben Inhalts vermag. Die Ratlosigkeit des entsprechend konditionierten Betrachters ist somit ein wohlkalkuliertes Ergebnis und für diesen wohl auch ein eindrückliches Erlebnis. Nur am Rande noch ein Beispiel dafür, dass auch die Dekoration der Tempel- wände, wie wohl kaum gelesen, in ihrer Wirksamkeit durchaus eklatant sein konnte. Unter Kaiser Claudius waren die Römer die notorische Feindschaft zwischen Ombos und Dendera leid.38 Von Seiten der römischen Verwaltung wurde eine Verbrüderung beider Gottheiten dekreditiert, die sich in der Umarbeitung eines Tempelreliefs auch öffentlich manifestieren sollte: Auf der Ostwand des Tempels, wieder im Bereich eines Nebenzuganges und damit an einem im täglichen Kultdienst frequentierten Platz, wurde in einer der üblichen Opferszenen das Bild der zweiten zum König gewen- deten Gottheit getilgt und durch ein Bild ersetzt, das den Krokodilgott Sobek zeigt. Dieses wendet sich aber nicht, wie das getilgte Bild, dem König zu, sondern dem Bild des Horus. Beide Gottheiten reichen sich zudem in völlig unägyptischer, aber gut römischer Manier die Hände.39 Über die Wirksamkeit der Aktion, die so ganz aus

36 Fitzenreiter 2004, 32; Derchain 2008. 37 Dies geschieht über die in der ägyptischen Hymnik konventionelle Aneinanderreihung von Ei- genschaftsbeschreibungen wie „der Gott, der Herr der Götter, der Lebende, der Herr der Lebenden, der Tapfere, der Herr der Tapferen (?)“ oder „der mit starken Armen, der mit mächtigem Gebrüll, der vollkommene Schützer“ usw. (Übersetzung von Leitz 2001, 273). 38 Nach Juvenal, Satiren 15 (aber hier ist satirische Übertreibung möglich) wurde bei einer tödlichen Prügelei zwischen verfeindeten Tieranhängern aus Ombos und Dendera ein Ombite von seinen Mör- dern aufgegessen. 39 Cauville 2007. 194 Martin Fitzenreiter

römischem Geist geboren scheint, kann man nur spekulieren. Bemerkenswert bleibt, wie gewärtig die Dekoration bzw. das Wissen um das reguläre Schema der Dekoration offenbar war, so dass ein Eingriff in das gewöhnliche Schema einen besonderen per- formativen Effekt haben konnte bzw. haben sollte. Umarbeitungen von Inschriften und Bildern sind bereits aus früheren Perioden bekannt. Solche der Amarnazeit betrafen dabei auch Bereiche, die ganz sicher kaum für das menschliche Auge sichtbar waren, ebenso, wie die anschließende Neude- koration niemand wahrnehmen konnte. Ein Beispiel dafür sind die Obelisken der Hatschepsut vor dem fünften Pylon des großen Amun-Tempels von Karnak. Das Obe- liskenpaar wurde bereits unter Thutmosis III. durch den Bau der Usechet-Halle in seiner Erscheinung marginalisiert.40 Dennoch hat man unter Echnaton das Bild und den Namen des Gottes Amun an der Spitze der Obelisken getilgt und in der Zeit der Restauration wiederhergestellt.41 Hier wiederum kann man ausschließen, dass Per- formanz und Emergenz jeder dieser Aktionen in der andauernden Rezeption lag – weder vorher noch nachher war die Amunsdarstellung eigentlich sichtbar gewesen. Vielmehr lag die Wirkung allein im Moment der Überarbeitung und Tilgung des vor- angegangenen Zeichens, und das zwei mal. Was im Übrigen ein Schlaglicht auf das Phänomen „Propaganda“ wirft: Sogenannte propagandistische Texte, Bilder oder sonstige Handlungen zielen kaum darauf, andere zu überzeugen, zu gewinnen oder einzuschüchtern. Die Aufgabe von „Propaganda“ ist immer und vor allem die Selbst- vergewisserung derjenigen, die die entsprechende Handlung initiieren. Nur für diese selbstreferenzielle Rezipientengruppe resultiert die Peformanz des propagandisti- schen Aktes in die gewünschte Emergenz, dass ihr Tun richtig, gut, wahr und real ist.42 Bei anderen Rezipienten vermittelt die Emergenz solch penetranter Performanz oft eher das Gegenteil.

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Als Fazit dieser Diskussion einiger Beispiele für das Wechselspiel von Verbergung und Veröffentlichung sei festgehalten: Indem Botschaften unzugänglich gemacht werden, wird ihnen die „Verborgenheit“ als ein performatives Element bewusst verliehen. Ver- borgenheit als Kategorie der Rezeption setzt aber immer voraus, dass die Rezipienten sich der Existenz des Verborgenen bewusst sind. Performative Verborgenheit setzt gewissermaßen das Wissen voraus, dass etwas unzugänglich gemacht/verborgen

40 Arnold 1992, 119; Abbildung der Obeliskenspitze mit gut erkennbarer Überarbeitung: Lange/Hir- mer 1967, Taf. 134; siehe auch: LD III, Bl. 24. 41 Zur Praxis der Wiederherstellung von Inschriften und Bildern: Brand 1999. 42 Zu diesem Aspekt der „Selbstindoktrination“: Morenz 1996, 8. (Un)Zugänglichkeit 195

wurde. Dieses wiederum kann nur erzeugt werden, indem wenigstens einiges von dem Verborgenen oder vom Prozess der Verbergung öffentlich bleibt.43 Und hier wird der Bild-/Schriftträger interessant. Denn es sind gerade die Träger- medien, die den Verweis darauf geben, dass sie eine „verborgene“ Botschaft transpor- tieren. Dazu muss den Rezipienten die Spezifik des Trägermediums natürlich bewusst sein. Am pinnacle war die Besonderheit der Felsformation als sakraler Ort lange eta- bliert; die Vergoldung hob die Existenz einer Botschaft noch gesondert hervor. Särge und andere Objekte der Grabausstattung – im Moment der Grablege öffentlich – sind als Trägermedien bestimmter Textsorten bekannt. Tempelwände sind per se als Orte der Vermittlung sakraler Zusammenhänge prädestiniert; die differenzierte Regie des Verbergens und Veröffentlichens inszeniert die Performanz möglicher Botschaften.44 Die kryptographischen Inschriften verweisen schließlich auf den Aspekt, dass das Zeichen selbst als Medium des Verbergens genutzt werden kann. Man weiß, dass es eine Botschaft in sich trägt, aber man kommt nicht dahinter. Der zuletzt genannte Aspekt spielt schließlich wieder eine Rolle bei einer Gruppe von Schriften, in denen die Zeichen tatsächlich „unlesbar“ sind. Unlesbare bzw. nicht zur „Lesung“ vorgesehene Schrift ist u. a. ein Spezifikum der Amulettpraxis, wozu in Ägypten auch die ganze Spanne der Skarabäen und anderer beschrifteter Miniaturob- jekte zu rechnen sind. Auch hier ist theoretisch die Lesbarkeit aller Zeichen denkbar. Was aber im tatsächlichen Moment der konkreten Nutzung rezipiert wurde, ist doch weitgehend offen und wird in den seltensten Fällen darin bestanden haben, dass man das Schrift-Bild bewusst las.45 Garantiert nicht lesbar war jedenfalls ein beschrifteter Sarg wie der aus einer Cachette im Grab des Ijurudef in Saqqara aus dem Übergang zur 3. Zwischenzeit (Abb. 3.a).46 Die Inschrift auf dem Sargdeckel erscheint auf den ersten Blick wie eine übliche Sargaufschrift mit Anrufung der Totengötter und Namensnennung des Verstorbenen, ist aber die freie Aneinanderfügung von Bildzeichen ohne lesbaren Zusammenhang. Ein ähnliches Phänomen begegnet auf den späten Horusstelen (Abb. 3.b). Oft sind diese, ihre älteren Vorbilder imitierend, mit Zeichen bedeckt, die den Hieroglyphen

43 Die Alternative wäre das Vergessen eines Objektes, das als Trägermedium einer Botschaft dient. Damit verliert das Objekt aber jede Bedeutung und fällt in den Zustand einer in kein praktisches Feld eingebundenen Latenz. Es wird ein Ding, das erst durch seine Entdeckung wieder Performanz entwi- ckeln kann – und zwangsläufig entwickelt. 44 Die Außenwände großer Tempel werden erst in der Ramessidenzeit als Flächen propagandisti- scher Botschaften entdeckt und in der Spätzeit zu solchen religiöser Identitätsstiftung entwickelt. Wobei durch das Verhängen einzelner Götterbilder der Reliefdekoration mit Tüchern u.ä. eine wei- tere, praktische und aktive Dimension des Verbergens und Enthüllens hinzukommt; siehe hierzu: Brand 2007. 45 Vgl. Eschweiler 1994. 46 Raven, 1991, pl. 25 (Coffin No. 64). 196 Martin Fitzenreiter

Abb. 3: Unlesbare Texte: a) Sarg No. 64 aus der Chachette im Grab des Iurudef, Saqqara (aus: Maarten J. Raven, The Tomb of Iurudef. A Memphite Official in the Reign of Ramesses II, EES 57th Memoir, Leiden/London, 1991, pl. 25) b) Horusstele Leiden A 1052 (aus: Heike Sternberg-El Hotabi, „Der Untergang der Hieroglyphen- schrift. Schriftverfall und Schrifttod im Ägypten der griechisch-römischen Zeit“, CdE 69, 1994, fig. 7.a)

ähnlich sehen, aber ohne lesbaren Sinn bleiben.47 Auch die größte Scharfsinnig- keit erbringt bei solchen Beispielen48 keinen sinnvollen Text. Und doch ist völlig

47 Sternberg-El Hotabi 1994; Sternberg-El Hotabi 1999, 188f. 48 Die Liste von Beispielen für sogenannte „Phantasieinschriften“ besonders aus griechisch-römi- scher Zeit ließ sich verlängern. Es muss aber festgehalten werden, dass ein Beispiel wie der Sarg aus der Cachette im Grab des Iurudef bereits an das Ende des Neuen Reiches/in die 3. Zwischenzeit (um 1000 v. u. Z.) datiert und sogenannte „korrupte“ Inschriften z. B. auf Uschebtis im Neuen Reich häufig sind. Unlesbare, aber performativ wirksame Inschriften sind ein Phänomen der gesamten pharaoni- schen Zeit. (Un)Zugänglichkeit 197

klar, dass diese Aufschriften ihren Zweck erfüllten. Denn weder diese Aufschriften, noch die Archetypen, die sie imitieren, waren ja zum Lesen eigentlich gedacht. Allen diesen unleserlichen Schrift-Abbildern ist eigen, dass sie – wiewohl auf den ersten Blick sinnlos und sozusagen ohne Botschaft – in entsprechenden Situationen der Rezeption dieselbe Performanz entwickeln, wie sie eine „richtige“ Inschrift entfalten kann. Dass sie dies tun, liegt aber nicht an der Aufschrift, sondern es liegt an dem Objekt, auf das diese geschrieben ist. Das Trägermedium ist in seiner Wirksamkeit definiert und überträgt diese auf die Inschrift bzw. besser: das Schrift-Bild. Es ist der Sarg, dessen Performanz im Zentrum jeder Rezeption auch der darauf verzeichneten Inschriften steht und damit diesen – in ihrer Fassung als Aufschrift lesbar, unlesbar und aus welchem ursprünglichen funktionalen Zusammenhang auch immer genom- men – die Eigenschaft verleiht, als ein Text konstituiert, kommuniziert und verstan- den zu werden.49

7 Exkurs: Skizze einer praktischen Semiotik

Beziehen sich die bisher angestellten Überlegungen auf die Interpretation der Funk- tion von Inschriften und Bilder bzw. beschrifteter und/oder dekorierter Objekte in der ägyptischen Religion, so hat die Betrachtung des Verbergens von Inhalt auch noch eine Dimension, die im allgemeineren Sinne für die theoretische Behandlung von Zeichen interessant sein kann. Die klassische strukturalistische Semiotik geht, zugegebenermaßen zu simpel ausgedrückt, von der Dichotomie von Bezeichnendem und Bezeichnetem, Signifikant und Signifikat aus.50 Und auf den ersten Blick scheint dieses Schema auch auf die behandelten Beispiele gut zu passen: Der Textträger verweist auf den Text. Im Falle der verborgenen Texte verweist er auf einen Text, der den Rezipienten gewissermaßen als Vorwissen bekannt sein muss. Der Sarg mit der sinnlosen Aufschrift ist nur sinn- voll durch den Verweis auf einen Sarg mit einer sinnvollen Inschrift und damit den beiden Inschriften gemeinsamen sinnvollen Meta-Text. Doch ist die Gleichung so einfach? Oder haben wir uns hier auf eine Haushaltsse- miotik eingelassen, die Vorwissen und Signifikat/Bezeichnetes verwechselt. Denn die angeblich sinnlose Inschrift verweist ja gar nicht auf jenen anderen Text. Sie gewinnt nur die Fähigkeit zur performativen Wirkung aus der Eigenschaft, über ein Reservoir

49 Es sind solche Beispiele, die einen Verweis auf Marshall McLuhan und sein „the medium is the message“ unumgänglich machen, das durch einen berühmten Druckfehler im Buchtitel zu der die dif- fuse Emergenz der Performanz trefflich beschreibenden Formulierung „The medium is the massage“ (1967) wurde. 50 Zur differenzierteren Darstellung: Eco 1977. Zum Problem des semiotischen Wertes von archäologi- schen Befunden als Zeichen/Symbole und ihrer Deutung: Burmeister 2003, 265–274; Burmeister 2009. 198 Martin Fitzenreiter

an kulturellem Vorwissen auch mit anderen, lesbaren Inschriften verbunden zu sein. Will heißen: Vorwissen (hier: um die „richtige“ Aufschrift auf einem anderen Sarg) ist nicht das Bezeichnete, sondern ist Teil der Aktivierung des Signifikanten. Das Sig- nifikat – wenn man bei der zweiteiligen Semiotik bleiben will –, das Bezeichnete ist nämlich kein Ding, sondern ein Moment: der der Performanz. Allein im praktischen Augenblick der Aktivierung aller signifikanten Elemente findet ein Verweis statt, und der hat als Erscheinungsform die Performanz und äußert sich in deren emergenter Wirkung – dem, was oben als „Text“ bzw. „Ikon“ bezeichnet wurde. Dieser praxistheorethische Zugang zur Semiotik steht gewissermaßen an der Stelle des üblicherweise zur Behebung der Defekte der Dichotomie aus Bezeichnen- dem und Bezeichnetem vorgeschlagenen „semiotischen Dreiecks“, das zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ein Zeichen/Bezeichnung stellt.51 Als erweiterte Fassung ist auch ein „semiotisches Viereck“ in der Diskussion, das als viertes Element die Kompetenz des Empfängers als Determinate der Emergenz zu berücksichtigen sucht.52 Da diese geometrischen Modelle aber in mehr oder weniger jeder ihrer Fas- sungen (wie die gesamte klassische Semiotik/Logik) statisch konstruiert sind, soll durch den Rekurs auf den Feldbegriff die Dialektik und Prozesshaftigkeit des prakti- schen Vorganges des Verweisens herausgestellt sein: Das latent Bezeichnende ist ein Konglomerat möglicher Bedeutungen (= Vorwissen/Kompetenz), die sich als ein Feld der materiellen Fassung eines Objektes oder auch einer sprachlichen Formulierung in deren Funktion als Zeichen anlagern bzw. diese „umgeben“. Der Verweis/die Bezeich- nung ist ein konkreter Akt, bei dem über dieses als Zeichen verstandene Objekte oder Worte eine bestimmte Anzahl möglicher Bedeutungen aus deren Feld latenter Bedeutungen aktiviert werden und ihre Performanz entfalten. Diese Performanz rea- lisiert die praktischen Wirkung (Emergenz) des so konkret aktivierten Zeichens: in der Sprache z. B. den Vollzug des Gebetes, des Opfers, der Hochzeit etc. durch die Aus- sprache bestimmter, performativer Worte. Diese „tatsächliche“ Wirkung des Sprech- aktes, also das „Erschaffen“ von Phänomenen mittels Sprache, ist der Ausgangspunkt der Sprechakt-/Performanztheorie. Sie kann aber auf alle kulturellen Handlungen ausgedehnt werden, z. B. auf die „Erschaffung“ von sozialem Geschlecht (gender) durch Kleidung o.ä.. Der praktische Akt der Aktivierung einer Auswahl möglicher (und bekannter) Bedeutungen muss jedes mal wiederholt geleistet werden, damit das Zeichen als solches wirksam (performativ) und damit überhaupt Signifikant sein kann. Ohne den signifizierenden Akt der „Bedeutungszuschreibung“ ist das Zeichen nicht wirklich Zeichen, sondern nur Ding (= latent). Sowohl die performative Schaf- fung des Zeichens (Signifikant/Bezeichnendes) als auch des Signifikat/Bezeichneten als seine emergente Wirkung ist damit immer konkret in Raum, Zeit und individueller

51 Zu verschiedenen Fassungen dieser Konstruktion siehe: Eco 1977, 70; http://de.wikipedia.org/ wiki/Semiotisches_Dreieck (Stand 13.01.12) 52 Hahn 2005, 119. (Un)Zugänglichkeit 199

Handlung. Die kollektive Verständlichkeit des Aktes der individuellen Zeichenakti- vierung ergibt sich aus der gemeinsamen Partizipation am Feld möglicher Bedeutun- gen, wie sich umgekehrt die Unterschiede der Rezeption aus der individuell verschie- denen Auswahl möglicher Bedeutungen erklären (so entstehen Missverständnisse).53 Im Übrigen sei festgehalten, dass zwischen dem performativ Bezeichneten (z. B. dem mit einem Namen Benannten) einerseits und dem damit bestimmten Phänomen (z. B. einer Person) andererseits keine Identität besteht, wie es das klassische semioti- sche Dreieck ja auch herausstellt. Jede Bezeichnung ist eine Abstraktion, die sich der Realität annähert, diese aber nie zur Gänze wiedergibt. Das ergibt sich bereits aus der individuellen Konkretheit jedes bezeichnenden Aktes. Dieses Schema einer praxistheoretischen Semiotik klingt zugegebenermaßen etwas theoretisch. Ich möchte es daher kurz am Beispiel erläutern: Der Sarg mit der sinnlosen Aufschrift kann als Zeichen wirken, weil er ein ganzes Bündel von kom- munikativen Eigenschaften in sich vereint, u. a. die Form der Mumie, die Gesichts- maske und eben die Aufschrift. Der Sinn dieser Aufschrift ist durch die Unlesbarkeit eigentlich verborgen, wird aber durch die Kenntnis anderer Aufschriften vermutet. In der konkreten Aktivierung des Zeichens „Sarg“ bzw. auch des Elementes „Aufschrift“ wird aber nicht auf andere Särge oder Aufschriften verwiesen, sondern es wird die aktive Performanz des Objektes ausgelöst. Und es ist genau diese Performanz, die als Zweck des Zeichens und seiner Kraft zu „verweisen“ definiert werden kann, also als das eigentliche Signifikat, das, was ausgelöst (bezeichnet) werden soll. Unabhängig vom praktischen Moment der Aktivierung gibt es nämlich kein Signifikat. Ohne die Aktivierung der Performativität eines (latenten) Zeichens kann dieses nicht als Signi- fikant wirksam werden. Dieser Aspekt wird gern vernachlässigt, wenn (In-)Schriften gewissermaßen nur als Texte gelesen und dann interpretiert werden. Oben wurde bereits erwähnt, dass man gerade religiöse Schriften besser versteht, wenn man sie nicht als Ema- nationen idealer Textkorpora ansieht, sondern als Aufschriften. Die Lesung als Teil eines idealen Korpus impliziert gewissermaßen die haushaltssemiotische Falle, dass man in jedem Textbeleg einen Verweis auf den gemeinsamen Urtext oder die Parallele sieht. Derartiges ist aber nur eine Übersetzungshilfe. Der eigentliche Verweis jeder Inschrift ist auf sich selbst und ihre Wirkung. Um dieses Phänomen zu verdeutlichen noch einmal zum Beispiel der Widder- und Krokodilinschrift von Esna: Die krypti- schen oder spielenden Schreibungen sind nur verständlich, wenn man Paralleltexte kennt. So verhalf die immense Kenntnis derartiger Texte Christian Leitz dazu, schlüs- sige Lesungen anzubieten. Aber es ist natürlich nicht der Zweck der Inschriften, auf Paralleltexte zu verweisen. Ihr Zweck ist es, als eigentümliches Moment aus sich selbst zu wirken. Dabei ist die in ihnen kodierte sprachliche Ebene – also der Wortlaut

53 Das Missverstehen wird von Hardmeier 2007, 214 sicher mit recht als der „Normalfall“ von Kommunikation klassifiziert. 200 Martin Fitzenreiter

– nur ein minimaler Bestandteil des Wirkungsspektrums, der Emergenz. Bereits das Schriftbild bietet diverse Rezeptionsanstöße, oder, wie Ludwig D. Morenz so schön formuliert: „So provoziert diese Schrift den faszinierten Leserblick und lockt ins Gehölz mehrschichtiger Sinne.“54 In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, nicht nur vom Textträger, sondern auch von der Materialität des Textes zu sprechen. Damit ist gemeint, dass wir Texte nicht nur als Schrift auf einem Untergrund betrachten dürfen, sondern dass die Schrift selbst ja bereits ein Untergrund ist, an den sich der Inhalt der Botschaft heftet.55 Schriftzeichen selbst sind also Textträger. Amulette, besonders wenn sie die Form von Schrift-Symbolen wie das ägyptische Anch/Lebens-Zeichen haben, bilden gewissermaßen archetypisch diese unbedingte Verschmelzung von realem Textträger und surrealem Sinn, von Signifikant und Signifikat ab. Dass Schriftzeichen Textträger sind – diese Aussage ist natürlich eine Tautologie, beschreibt aber einen Fakt, der genauso oft übersehen wird. Die kryptische Inschrift ist eben nicht der „Text“ der Sprachebene, sondern ein überaus komplexes Zeichen- konglomerat. Der in ihr transportierte „Text“ ist nicht nur die Lesung der Sprachcode- ebene, sondern noch vieles mehr. Erst der Moment der Rezeption dieser komplexen Sinnebenen löst die Performanz des latenten Textes und damit dessen Emergenz in all ihren Facetten aus. Es ist überhaupt nur der Vorgang der Aktivierung der Perfor- manz eines Konglomerates aus Zeichenträgern, der den latenten Text in Form einer Aussage oder Botschaft konkret realisiert. Fassen wir unter Rückgriff auf die praxistheoretische Semiotik zusammen, so lässt sich das dialektischen Verhältnis aus Schriftträger/Inschrift und Text oder auch Bildträger/Bild und Ikon recht gut beschreiben: Im Grunde ist jede Aufzeichnungs- form ein Phänomen der Kategorie „Schrift-/Bildträger“, egal ob wir jetzt von Holz, Papier oder Tinte und schließlich (In-)Schrift oder Bild reden. Die die Botschaft for- mulierenden virtuellen Entitäten „Text“ oder „Ikon“ selbst sind in diesem komplexen Konglomerat der Medien kodiert und werden erst im Moment einer aktiven Rezep- tion existent. Warum so viel semiotheoretische Akrobatik? Weil sie dem Archäologen hilft, die Befunde zu deuten. Befunde sind nämlich immer und nur Schrift-/Bildträger,

54 Morenz 2002, 81. Die parallele Bearbeitung des Esna-Textes durch Ludwig D. Morenz (2002) und Christian Leitz (2001) ist geradezu ein Paradebeispiel für zwei ganz unterschiedliche, letztendlich aber einander ergänzende Zugänge zum Text in der Ägyptologie. Christian Leitz interessiert der Gesamtkorpus der religiösen Texte und entsprechend kann er die als Kryptographien aufgefassten Schreibungen durch die Kenntnis der Parallelen für die Lautwerte einzelner Zeichen als auch aus Pa- rallelen für die Standartformulierungen der Hymnik erschließen. Ludwig D. Morenz geht ähnlich vor, ist aber vor allem an der Wirkungsdimension der Texte interessiert, die er entsprechend als visuelle Posesie in einem gelehrten Diskurs verortet. Einen Ansatz, die inhaltliche wie die Sinndimension die- ser Texte zu erfassen bot bereits Assmann 1991, der den Begriff der „Krokodilizität“ der vieldeutigen Zeichen prägte. 55 Assmann 1991, 86 (nach Aleida Assmann). (Un)Zugänglichkeit 201

niemals Texte. Den Text müssen wir (jeweils konkret) rekonstruieren, ebenso, wie ihn die antiken Agenten jeweils konkret konstruiert haben.

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Die Beispiele für das über das Trägermedium realisierte Verbergen und zugleich Realisieren der Performanz wurden auch deshalb vorgestellt, um zu einigen konkre- ten Überlegungen zum Sinn der Beschäftigung mit den Wirkungsmechanismen von Schrift- und Bildmedien zu kommen. Es soll zuletzt also um die Frage gehen: wie wird ein von uns als Befund archäologisch erfasstes Ding oder Phänomen zu einem wirksamen Objekt? Zu einem wirksamen Objekt, das im Fall religiöser Praxis sogar so starken „Eigensinn“ entwickelt, dass es als Subjekt, als Essenz, als Partner der Kom- munikation wahrgenommen wird! Bereits oben wurde erwähnt, dass die Interpretation der sogenannten verbor- genen Texte gewöhnlich mit deren vermeintlichen Funktion als Botschaften an das Übernatürliche abbricht. Die bis hier vorgenommene Analyse sollte gezeigt haben, dass die Wirksamkeit solcher scheinbar oder bewusst verborgener Inschriften und Bilder aber durchaus aus der konkreten und sinnvollen Performanz/Emergenz im Diesseits resultiert. Diese Erkenntnis hat m.E. einige Bedeutung für die Interpretation antiker religiöser Schriften und Bilder. Dabei ist, auch in Bezugnahme auf die ein- gangs etwas lapidar dahingestellten Bemerkungen zu transzendenten Entitäten und ihre angebliche Rezeptionsfähigkeit, eine Bestimmung des Erkenntniszieles sinnvoll. Religionswissenschaft ist nicht gleich Theologie. Theologie hat die Aufgabe, religiöse Zeichen – in unserem Fall sind das z. B. archetypische Bilder (Ikone) und Texte – in ihrer Sinnhaftigkeit innerhalb des religiösen Bezugsystems zu deuten. Theologie ist im Falle von Schriften vor allem Exegese. Religionswissenschaft hingegen untersucht den Sinn von Religion in einem gesellschaftlichen Bezugssystem. Im Fall von Schrif- ten ist das die Suche nach dem berühmten „Sitz im Leben“. Wenn wir nun verborgen gehaltene Belege entlang ihrer Konzeptualisierung als Botschaft an das Übernatür- liche interpretieren, folgen wir einem theologisch vorgezeichneten Pfad der Exegese und kommen zu wertvollen Erkenntnissen über theologische Vorstellungen.56 Religi- onswissenschaftlich ist diese Interpretation jedoch relativ belanglos. Religionswis- senschaftlich gesehen interessiert sogar weniger, was dort eigentlich geschrieben steht, als vielmehr, warum es dort steht, und wie das dort geschrieben Stehende von den Agenten in konkreten Situationen produziert, rezipiert und tradiert wird.

56 Nur selten ist das den Autoren aber bewusst. Assmann 1983 ist die große Ausnahme, wenn er gleich einleitend herausstellt: „Es geht also weniger um Religion, als um Theologie“ (XI). 202 Martin Fitzenreiter

Was damit gemeint ist, lässt sich am Beispiel „sinnloser“ Texte demonstrieren, etwa dem Gekritzel auf den späten Horusstelen. Dort steht – sozusagen aus theo- logischer Sicht – Kokolores (wobei es die Aufgabe der Theologie ist, zu erläutern, warum dieser Kokolores dennoch seine magische Wirkung entfalten kann57). Aus religionswissenschaftlicher Sicht erleben wir, dass eine Zeichenfolge ohne erkennba- ren semantischen Inhalt durch die Vergesellschaftung in einem spezifischen Kontext eine besondere Wirkung entfalten kann. Ich nenne das die Konkretheit der prakti- schen Situation, aus der heraus jedes kulturelle Objekt überhaupt erst seine Bedeu- tung erfährt. Eine archäologisch operierende Religionswissenschaft interessiert sich gewissermaßen mehr für die (konkrete) Inschrift als für den (archetypischen) Text.58 Ein Beispiel: Beschriftete Objekte der funerären Kultur verschwinden in den Kata- komben der Gräber. Dort nützen sie eigentlich niemandem, weder den Toten noch den Lebenden.59 Sie hatten aber größte Bedeutung für die Riten der Transformation, die mit dem Akt der Bestattung zusammenhängen. Kathlyn M. Cooney hat kürzlich mustergültig analysiert, wie im Zuge der funerären Praxis einzelne Objekte mit Bedeu- tung aufgeladen werden und wie sich diese Bedeutungen im Zuge der Bestattung entfalten können.60 Und einer der Faktoren – und ein nicht zu vernachlässigender – ist die Dekoration von Objekten der funerären Ausrüstung bis hin zur Mitgabe von Schrift-Objekten par excellence, wie z. B. dem Totenbuch. Solche Objekte sind eben nichts Selbstverständliches und – wie man es so oft liest – „typisch“ für die funeräre Religion Ägyptens. Sie sind geradezu atypisch, immer individuell, Ergebnisse kon- kreter strategischer Handlungen und ihr Auftreten verlangt nach Erklärung, weniger ihre Abwesenheit. Das Phänomen von Pseudoinschriften wie auf dem Sarg aus der Ijurudef-Cachette lässt sich durch diese Sichtweise sehr viel besser erfassen als mit den üblichen Erklärungsmustern von Verfallszeiten, Verlust priesterlichen Geheim- wissens und sonstiger ägyptologischer Verschwörungstheorie.61 Das offensichtliche

57 Oder warum es aus theologischer Sicht keine Wirkung entfalten kann und deshalb aus dem kano- nischen Zeichenapparat auszuscheiden hat. Diesem (missionierenden religiösen Bezugssystemen ei- genen) theologischen Ansatz der Monopolisierung bestimmter Zugänge zur religiösen Praxis folgt die auch in der Religionswissenschaft lange übliche Scheidung religiöser Zeichen und Praktiken in (gute) „Religion“ und (böse) „Magie“. Eine Unterscheidung, um die sich die praktische Religionsausübung – in ihrem empirischen Sinn für die Performativität auch der nicht sanktionierten Kulthandlungen bewusst – in der Regel wenig schert (auch im christlichen Abendlande). Die Ägyptologie ist von der wenig hilfreichen Unterscheidung in Magie und Religion mittlerweile abgekommen: Koenig 2002. 58 Der Gedanke wird ausgeführt in: Fitzenreiter 2011. Zur theoretischen Hinterfütterung siehe zum anderen Male Wittgenstein, o. Anm. 27. 59 Die Nutzung solcher Depots schon in der Antike durch „intrakulturellen Grabraub“ (Cl. Näser) und ähnliche Prozesse soll hier nicht beachtet sein; siehe dazu: Näser 2008. 60 Cooney 2007 a, 273–299; Cooney 2007 b. Vergleiche die klassische Studie zur Bedeutung materiel- len Aufwandes im Rahmen funerärer Praktiken von Goody 1962. 61 Siehe auch die Kritik, wie sie sich an dem zum Topos gewordenen Begriff der „Demokratisierung“ des Totenglaubens in Ägypten im Übergang zum Mittleren Reich neuerdings entzündet: Willems (Un)Zugänglichkeit 203

Bedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten, an bestimmten Segmenten des religiösen Diskurses und seinen Medien teilzuhaben, ist eine Beobachtung von größter Bedeu- tung für die Religionssoziologie Ägyptens – denn es betrifft das Leben im Hier und Jetzt der pharaonischen Gesellschaft. Betrifft das Beispiel des Sarges vor allem den Zugang zu den materiellen Res- sourcen pharaonischer Religion, also das Vermögen, Sargmacher und Sargmaler mit entsprechender Ausbildung zu bezahlen, so sei noch an einem anderen Beispiel der Zugriff auf die immateriellen Ressourcen religiösen Wissens dargestellt. Wie eben gesehen, ist Text an sich bereits ein hohes Gut, sogar wenn dieser Text durch seine Schriftfassung in wirre Zeichen gar nicht zu „lesen“ ist (sehr wohl aber zu „dekodie- ren“ – denn das Eigentümliche dieser korrupten Inschriften ist ja, dass sie für den konditionierten Rezipienten eben genau die benötigte Sinneinheit reproduzieren). Im Fall der Kryptographie oder spielenden Schreibung haben wir es hingegen mit einem Zeichenkonglomerat zu tun, das durchaus auf einen konkreten Inhalt verweist, der aber praktisch wieder nicht zu entschlüsseln ist bzw. – und hier liegt das religions- soziologisch interessante Phänomen – nur unter Anleitung zu lesen ist. Damit wird priesterliches Geheimwissen als Distinktionsmerkmal herausgestellt. Man fragt sich allerdings: wem gegenüber? Gegenüber der „Masse“ der Bevölkerung schwerlich, da von ihr ja sogar die Lesekundigen kaum die Hieroglyphen lesen konnte. Es muss sich also auf die eingeweihte Kollegenschaft oder aber auf das imaginierte Kollektiv der Weisen der Vorzeit und der Nachzeit beziehen, die man zu übertreffen oder wenigs- tens zu verblüffen sucht.62 Interpretieren wir solche Beispiele ganz aus ihrem Kontext heraus, wird Religion als ein sehr lebendiges Segment menschlichen Tuns erfassbar und Theologie als ein Produkt immenser, aber immer konkreter intellektueller Praxis. Wenn aus dem bisher Gesagten eine gewisse Geringschätzung theologischen Kon- zeptualisierens (durchaus auch: Spekulierens) herauszulesen sein könnte, so trügt der Eindruck. Theologie ist ein zentraler Aspekt der Daseinsbewältigung. Aber nur die Verortung von Theologie in die konkreten Zusammenhänge des performativen Feldes ihres Zeichensystems lässt dessen eminente kulturelle Bedeutung erst plas- tisch werden. Nur aus dieser Perspektive lässt sich beschreiben, wie die Performanz eines Objektes – sei es eine Statue, sei es eine Inschrift, sei es auch das „stille Gebet“ – dazu führen kann, dass der Rezipient deren Emergenz als Realisierung der Präsenz einer übernatürlichen Entität wahrnimmt, als „Einwohnung“ einer Gottheit oder den Moment der „Gottesnähe“.63 Womit wir wieder zum Ausgangspunkt der Überlegung gelangt sind: Auch die theologische Deutung des Verbergens von Inschriften und Bildern auf Bergspitzen, Särgen oder Briefen an die Toten als ein „Gebet“, eine Botschaft an das Irreale, ist

2008, 131–228; Gee 2010, 142–145. 62 Eine plastische Beschreibung dieses Milieus: Assmann 1996, 452–463. 63 Assmann 1984, 8 u. passim. 204 Martin Fitzenreiter

Teil des performativen Gewebes, das die Wirksamkeit dieser Inschriften und Bilder in konkreten Momenten der Aktivierung latent vorbereitet. Denn in manchen Fällen kann die die Performanz initiierende Handlung gerade aufgrund solcher theologisch inspirierten Überlegungen das Verbergen an einem unzugänglichen Ort und sogar das Vernichten eines Trägermediums (durch Verbrennen, Zerschlagen, Verschlucken usw.) sein. Die Initiierung der Performativität einer Inschrift oder eines Bildes besteht nicht nur im Lesen oder Betrachten.64

Abkürzungsverzeichnis

LD III: Carl R. Lepsius, Denkmaeler aus Aegypten und Aethiopien, Zweite Abteilung (Band III u. IV), Berlin, 1849–58.

Literaturverzeichnis

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64 Alexandra Verbovsek wies mich darauf hin, dass mit der Kategorie „Verborgenheit“ eine gewis- sermaßen uns als westlichen Forschern eigentümliche Annahme auf das altägyptische konzeptuelle System übertragen wird. Dieser Einwand ist sehr wichtig, denn wie die Ausführungen zeigen sollten, waren die besprochenen Objekte, Inschriften und Bilder für den zeitgenössischen Rezipienten eben genau nicht „verborgen“, sondern sehr wohl in Rezeptionsvorgänge eingebunden. Die Inszenierung der „Verborgenheit“ als geradezu archetypisches Element der pharaonischen Kultur ist vor allem ein Element der westlichen Rezeption, geprägt von der Vorstellung des „fernen, unbekannten Landes“. Interessant zu sehen, wie die Performativität des modernen Konzeptes Verborgenheit seine laten- te Wirkung in Museen wie wissenschaftlichen Analysen gleichermaßen entfaltet und das Bild von Ägypten als einem dunklen Land der Mystik webt. Das Element Verborgenheit ist gewissermaßen die konkrete Fassung der Exotik Ägyptens aus westlicher Perspektive, die sich im Konzept des „Geheim- nisses“ bis in die zeitgenössische Ägyptologie zieht; siehe u. a.: Assmann 1999; Glück/Morenz 2007. (Un)Zugänglichkeit 205

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Dieser Beitrag beschäftigt sich vornehmlich mit einer bestimmten Form von Schrift auf antiker griechischer Keramik, nämlich den gemalten Buchstabenketten in den Bildern auf Tongefäßen, die in der Tradition der griechischen Vasenmalerei verziert wurden. Nach einigen allgemeinen theoretischen Überlegungen zu Schrift werde ich einen sehr knappen Überblick über die Anfänge von Alphabetinschriften auf griechischer Keramik geben, dann auf deren bisher in der Forschung übliche Klassifikation einge- hen und die Begrenztheit dieser anhand eines prägnanten Fallbeispiels demonstrie- ren.

1 Überlegungen zum Wesen der Schrift

Διπλῶϛ ὁρῶσιν οἱ μαθόντες γράμματα – „Zweifach sehen die, die Schriftzeichen gelernt haben.“ Dieser Sinnspruch, der dem hellenistischen Komödiendichter Men- ander zugeschrieben wird (180 Jäkel2), weist der Schrift eine Doppelnatur (διπλῶϛ) zu, eine Eigenschaft, welche gerade für das Verständnis von Vaseninschriften wichtig ist: Schrift ist eben nicht nur Sprache oder so etwas wie „reiner Text”, sondern Sprache in ihrer materiellen, sichtbaren und damit, wenn man so will, bildlichen Form. Die zitierte Sentenz betrachtet dieses Verhältnis freilich eher von der komple- mentären Seite aus: Sie betont, dass sich der Mehrwert der Zeichen dann ergibt, wenn man sie, also das Schriftsystem, gelernt und damit verstanden hat (μαθόντες); der bildliche Charakter spielt hier eine untergeordnete Rolle, auch wenn er als unmittel- barere Rezeption impliziert ist (das einfache Sehen muss anscheinend nicht erlernt werden).3 Bereits das für das Objekt des Verständnisses verwendete Wort, γράμματα,

1 Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopoulos danke ich an dieser Stelle herzlich für die Ein- ladung zum Kolloquium, Celia Krause für die Vermittlung. Der vorliegende Beitrag basiert auf For- schungen, die ich im Rahmen meiner (noch unpublizierten) Dissertation (Gerleigner 2012) angestellt habe; er enthält (unter anderem), in deutscher Übersetzung und teils abgeändert, Teile von deren Einleitung und erstem Kapitel. In der Arbeit beschäftigte ich mich mit dem Verhältnis von Schrift und Bild auf vornehmlich attischer Keramik und der Entwicklung dieses Phänomens in der archaischen Zeit. 2 Jäkel 1964. 3 Der Primat des Textinhalts findet sich deutlicher in einer weiteren Menander-Sentenz (586 Jäkel): Ὁ γραμμάτων ἄπειρος οὐ βλέπει βλέπων – „Der der Schriftzeichen Unkundige sieht nicht, auch wenn er sieht.“

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verweist auf das duale Wesen von Schrift:4 In seiner Grundbedeutung heißt das Verb γράφειν, von dem γράμμα abgeleitet ist, „ritzen“, und wird unter anderem sowohl für „schreiben“ als auch für „zeichnen“ oder „malen“ verwendet; entsprechend konnte γράμμα Buchstaben wie auch Zeichnungen und Malereien bezeichnen, also Schrift- zeichen und Bilder. Beobachtungen dieser Art finden sich durchaus auch in der jüngeren Forschung, auch wenn bei Überlegungen zum Verhältnis zwischen Bild und Text die Rolle von Schrift im Verhältnis zur Sprache bisher oft wenig beachtet wurde. Dem Spezialfall von Bildern, die Texte beinhalten, bzw. Texten, die Bilder bein- halten, wurde durch das Konzept des „Ikonotexts“, welches sich nicht auf die Unter- schiede, sondern auf die Symmetrien und Interdependenzen der beiden Medien kon- zentriert, größere Aufmerksamkeit zuteil.5 Der Begriff wurde in diesem Sinne vom Literaturwissenschaftler Peter Wagner geprägt, um Situationen zu charakterisieren, bei denen das Verstehen von Texten wesentlich mit dem gleichzeitigen Verstehen eines Bildes verknüpft ist.6 Wagner wies darauf hin, dass es nicht nur wichtig ist, die beiden Medien als in ihrer Schaffung von Bedeutung gegenseitig voneinander abhän- gig zu verstehen, sondern dass dies auch dazu beitragen kann, sie jeweils einzeln besser in ihrer Wirkungsweise zu begreifen. In der engeren Definition ist ein Ikono- text „an artifact in which the verbal and the visual signs mingle to produce rhetoric that depends on the co-presence of words and images“, in der weiteren „the use of (by way of reference or allusion, in an explicit or implicit way) an image in a text or vice versa“.7 Wagners Forderung nach einer integrierten Analyse solcher Medienkombinati- onen ist sehr begrüßenswert, aber sein Konzept kann dafür kritisiert werden,8 dass es die Unterschiede in den Ausdrucksmodi von Text und Bild ignoriert bzw. redu- ziert, indem es nämlich im Fall beider Medien eine sprachbasierte Funktionsweise annimmt.9

4 Siehe dazu bereits Lissarrague 1985, 89, und Lissarrague 1992, 191. Unter seinen zahlreichen wich- tigen Arbeiten zu griechischen Vaseninschriften und ihrem Verhältnis zu Bildern sind diese beiden frühen Aufsätze François Lissarragues aufgrund ihrer treffenden allgemeinen Beobachtungen weg- weisend. 5 Vgl. Bill Mitchells Begriff „imagetext“, der sich auf Kombinationen von Text und Bild bezieht ( Mitchell 1996, 53). 6 Wagners erste Studie zu dem Thema (Wagner 1995) behandelt etwa (unter anderem) Stiche von William Hogarth. 7 Beide Zitate stammen aus Wagner 1996b, 15f., der Einleitung zu seinem Sammelband zu Ikonotex- ten (Wagner 1996a). 8 Vgl. Sabine Gross’ Bemerkungen in ihrem Rezensionsaufsatz zu „Recent Research in Intermediality“ (Gross 2001). 9 Es ist daher keine Überraschung, dass für Wagner Intermedialität eine „subdivision of intertextua- lity“ ist (Wagner 1996b, 17). Smikros hat’s gemalt 211

So hinterfragte die Philosophin Sybille Krämer vor kurzem überzeugend das „phonographische Dogma“, dass Schrift nur die graphische Verkörperung mündli- cher Sprache sei.10 Ihr Konzept der „Schriftbildlichkeit“ steht im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, dass Schrift (nichts weiter als) geschriebene Sprache sei und damit eine Ordnung diskursiver Art habe.11 Dies, so Krämer, sei aber ein Problem, weil das Verständnis dieser Intermedialität als sprachliche Intramedialität der Schrift die graphische Dimension zugesteht, nur um sie „zugunsten einer sprachimmanenten und nicht-bildlichen Diskursivität“ zu neutralisieren.12 Doch die (falsche) Annahme der angeblichen Eindimensionalität und Linearität von Schrift ignoriere die Tatsache, dass jeder geschriebene Text die Zweidimensionalität einer Oberfläche nutzt. Diese „Ideographie“ mache nämlich inhaltliche Aspekte sichtbar, die auf der phonetischen Ebene kein Äquivalent besitzen, wie etwa die Zwischenräume zwischen Wörtern (die nicht notwendigerweise mit Sprechpausen korrespondieren), Inhaltsverzeichnisse, Überschriften oder das Verhältnis zwischen Fußnote und Text, das etwas repräsen- tiert, das sonst nicht existieren würde (Fußnoten erlauben es dadurch beispielsweise, „mehrstimmige“ Texte zu schreiben).13 Mit diesen knappen Ausführungen soll hier nur nachdrücklich darauf hingewie- sen werden, dass Sprache nicht einfach von bildlichen Aspekten getrennt werden kann, sobald sie sich in der Form von Schrift materialisiert – und dies, so kann man erwarten, gilt umso mehr, wenn Schrift in Bilder integriert wird. Das hat zur Kon- sequenz, dass man sich bewusst sein muss, dass man eine wesentliche Ebene der Komplexität von Schrift-Bild-Kombinationen außer Acht lässt, wenn man sich bei deren Betrachtung nur auf Unterschiede zwischen „Text“ und „Bild“ konzentriert. Was dabei verloren geht, ist der Umstand, dass Bilder, die Wörter enthalten, nicht nur „reinen“ Text sondern Text in Form von – eben materieller – Schrift enthalten. Wechselbeziehungen können also auf zwei Ebenen auftreten: Zwischen dem Bildinhalt eines Bildes und 1. dem Textinhalt der Schrift und 2. dem Bildinhalt der Schrift. Wagners Forderung, die Interdependenz von Text und Bild in Ikonotexten zu berücksichtigen, fügt diesem System von Wechselbeziehungen eine dritte Dimension hinzu, die erweitert werden kann, indem man sie auf ihre beiden Ebenen anwendet. Bei der Untersuchung von materiellen Texten gilt es also, die schriftbildliche Natur von Schrift mit ihrem signifikatorischen Mehrwert zu beachten, insbesondere

10 Siehe z. B. Krämer/Bredekamp 2003 und Krämer 2003 (worauf das Folgende im Wesentlichen ba- siert). Beispielsweise wies aber auch schon Mitchell darauf hin, dass Buchstaben bereits als „visible marks on the page“ eine bildliche Dimension haben (Mitchell 1996, 47). Vgl. in diesem Zusammen- hang auch folgende, häufig zitierte Beobachtung Mitchells, die auf die Arbeiten Marshall McLuhans zurückgehen (etwa McLuhan 1964): „all media are mixed media“ (Mitchell 1994, 5), womit er darauf verweist, dass kein Medium in einer „puren“ Form existiert. 11 Krämer 2003, 158. 12 Krämer 2003, 159. 13 Krämer 2003, 160. 212 Georg Simon Gerleigner

dann, wenn die Schriftzeichen mit Bildern kombiniert sind, so wie dies bei den gemalten Inschriften der griechischen Vasenmalerei archaischer und klassischer Zeit der Fall ist.

2 Eine sehr kurze Geschichte früher griechischer Vaseninschriften

Zu welcher Zeit auch immer das phönizische Alphabet von den Griechen adaptiert wurde:14 Die meisten frühen griechischen Alphabetinschriften des 8. Jh.15 sind nicht nur auf Keramik erhalten, sondern wurden in den meisten Fällen auch vom Besitzer bzw. Benutzer eines Gefäßes – also nicht unbedingt seinem Hersteller – darauf ein- geritzt. Diese Inschriften (abgesehen von Abecedaria – Inschriften, die das Alphabet wiedergeben und somit keinen Textinhalt in strengerem Sinne besitzen)16 bestehen üblicherweise aus nur einem oder zwei Wörtern, stellen aber eine Verbindung her zwischen dem Inhalt der Inschrift und entweder dem Gefäß, indem dieses als Besitz, Weihung, Geschenk oder Handelsgut markiert wird, oder dem Gefäßinhalt, wie etwa im Fall von Transportamphoren.17 Während dies und auch die Fundorte der Gefäße auf einen Ursprung der Schrift in einem primär ökonomisch motivierten Kontext deuten,18 gibt es bemerkenswerte Ausnahmen, die zeigen, dass Schrift auf Gefäßen sich schnell dahin entwickelte, auch anderen Zwecken in einem anderen Kontext zu dienen: Der sog. Nestorbecher und die sog. Dipylonkanne, die beide in das dritte Viertel des 8. Jh. datieren, tragen Inschriften, die bereits zu diesem Zeitpunkt auf das Symposion (bzw. dessen Vorgänger oder lokale Varianten) als Kontext des Ursprungs und des Gebrauchs sowohl der Gefäße als auch ihrer Inschriften verweisen.19

14 An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass es in spätmykenischer Zeit eine – von der spä- teren Praxis unabhängige – Tradition von gemalten griechischen Inschriften auf Keramik gab (wenn auch nicht im Kontext von Bildern), und zwar in der Linear B-Schrift; siehe dazu Judson 2013. 15 Hier und im folgenden beziehen sich alle Jahresangaben auf die Zeit v. Chr. 16 Die Abecedaria konnten, nachdem sie eingeritzt worden waren, natürlich auch von anderen Per- sonen rezipiert werden und auch als Dekorationselement dienen. Zu archaischen griechischen Abe- cedaria und ihren Funktionen siehe Lejeune 1983 und Tiverios 2011. 17 Siehe z. B. Latacz 2006, 257f., der sich auf die Funde des 8. Jh. der euböischen Siedlung auf Pithekoussai bezieht. Einen sehr nützlichen Überblick über frühe griechische Alphabetinschriften und ihre Funktionen bietet Powell 1989. 18 Wachter 2006 bietet eine kritische Auseinandersetzung mit der so genialischen wie unwahr- scheinlichen Theorie Barry Powells (Powell 1991 und 2002), dass man die griechische Schrift entwi- ckelt hätte, um die homerischen Epen aufzuschreiben. 19 Siehe Latacz 1990, 233–235, Murray 1994 und Danek 1994, bes. 40f., wo Danek überzeugend dar- legt, dass mündliche Rezitation eine wichtige Rolle bei diesen beiden geritzten Inschriften spielte (vgl. dazu auch Giuliani 2003, 115f.). Die Inschrift auf dem „Nestorbecher“ war im 8. Jh. nicht einzigartig: siehe Wachter 2010, 252f. Smikros hat’s gemalt 213

Ist man, wie ich an dieser Stelle, vor allem an der Verwendung von Schrift und besonders Schrift in Bildern durch die Handwerker interessiert, welche die Gefäße verziert haben, wird man sich jedoch vor allem auf diejenigen Inschriften konzent- rieren, die vor dem Brand der Gefäße auf diese gemalt wurden, da man sich nur in diesen Fällen sicher sein kann, dass die Schrift Teil der ursprünglichen Dekoration war, wie sie von ihrem Hersteller gedacht war.20 Bei den gemalten griechischen Vaseninschriften handelte es sich anfangs fast aus- schließlich um sog. Signaturen von Töpfern/Herstellern und Malern (oft möglicher- weise die gleiche Person).21 Das früheste erhaltene Beispiel einer solchen Inschrift, aus dem letzten Viertel des 8. Jh., befindet sich auf einem spätgeometrischen Kra- terfragment aus Pithekoussai22 und ließ das Gefäß sprechen:23 ]ΙΝΟΣΜΕΠΟΙΕΣΕ̣[, „-inos hat mich gemacht“.24 Die erste erhaltene Inschrift, die den Maler eines Gefäßes erwähnt ([…ΕΓΡ]ΑΦΣΕΝ, „[…] hat […?] gemalt“), wird später datiert, in die Mitte des 7. Jh., und wurde auf Naxos gefunden.25 Auf einem etwa gleichzeitigen Mischgefäß,26 das in Cerveteri gefunden wurde, können wir ein frühes Beispiel einer solchen Buch- stabenkette (ΑΡΙΣΤΟΝΟΦΟΣΕΠΟΙΣΕΝ, „Aristonophos hat’s gemacht“)27 sehen, die „ornamental“ in das figürlich dekorierte Bildfeld integriert wurde. Obwohl die ersten „Signaturen“ korinthischer Handwerker, die den Markt für figürlich verzierte bemalte Keramik im Laufe des 7. Jh. dominierten, erst im ersten Viertel des 6. Jh. auftauchen, wurde eine andere Art von Inschrift – im textuellen wie bildlichen Sinne – vermutlich bereits im zweiten Viertel des 7. Jh. von protokorin- thischen Vasenmalern erfunden: Namensbeischriften, die, festen und langlebigen Konventionen folgend,28 nahe den Figuren geschrieben wurden, auf welche sie sich

20 Vgl. Lissarrague 1985, 72, und Steiner 2007, 68. 21 Beim Begriff „Signatur“ im Kontext von Vaseninschriften ist Vorsicht geboten: Heute impliziert dieser eine eigenhändige Unterschrift, doch dies war nicht zwangsläufig der Fall in der griechischen Vasenmalerei, wo es zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass ein Vasenmaler, wenn er denn eine „Si- gnatur“ schrieb, keine „Malersignatur“ schrieb, die (vermutlich) seinen Namen enthielt, sondern eine „Töpfersignatur“, die den Namen eines anderen wiedergab, wenn Töpfer und Maler nicht diesel- be Person waren; in vielen Fällen muss die Frage auch offen bleiben. 22 Ischia, Museo Archeologico; siehe Wachter 2001, EUC 1. 23 Der locus classicus der Diskussion solcher „oggetti parlanti“ ist Burzachechi 1962; vgl. Wachter 2010, bes. 251. Zur Frage von „Speaker and Addressee in Early Greek Epigram and Lyric“ siehe Schmitz 2010 (vgl. Baumbach u. a. 2010, 11–19). 24 Zur alten und häufig diskutierten Frage, auf wen sich ἐποίησεν, „hat gemacht“, beziehen kann – Töpfer, Werkstattbesitzer, Maler – siehe jetzt den ausgewogenen Überblick bei Heesen 2009, 238–240 (mit weiterer Literatur). 25 Kraterfragmente, Naxos, Archäologisches Museum (?); siehe Wachter 2001, IOI 5. 26 Rom, Musei Capitolini, Palazzo dei Conservatori Inv. 172; siehe Wachter 2001, INC 1. 27 In der Inschrift wird üblicherweise ein Schreibfehler angenommen (Φ statt Θ), so dass die Lesung Ἀριστόνοθος meist als die plausiblere akzeptiert wird (siehe Wachter 2001, INC 1, mit weiterer Litera- tur, zu der seither Izzet 2004, Cordano 2007 und Bagnasco Gianni 2007 hinzuzufügen sind). 28 Zu diesen Konventionen s.u. Anm. 45. 214 Georg Simon Gerleigner

beziehen. Solche Namen sind dann auch die ersten gemalten Inschriften, die auf Keramik, die in Athen hergestellt wurde, auftauchen, und zwar im letzten Viertel des 7. Jh.; „Signaturen“ finden sich dort ebenfalls erst eine Generation später. Im Laufe des 6. Jh. übernehmen athenische Handwerker die führende Rolle in der Vasenmalerei, und nicht nur steigt in dieser Zeit die Zahl von Vasenbildern mit Schrift beträchtlich, sondern das Phänomen erfährt auch eine sehr facettenreiche Entwicklung. Welche neue Arten von Texten jenseits von Namen und „Signaturen“ in diesem Kontext in Vasenbildern erscheinen, kann in diesem Rahmen nicht weiter und chronologisch differenziert erötert werden,29 wird aber zumindest aus dem folgenden Abschnitt ersichtlich werden.

3 Der Logozentrismus der Inschriftenklassen

Wie eben schon anklang, beruht die konventionelle, in der Forschung übliche Unter- scheidung von Arten von Inschriften auf deren Textinhalt (notabene bestehen die meisten „Texte“ von Vaseninschriften aus nur einem oder zwei Wörtern); sie ist gewis- sermaßen „logozentrisch“30. Diese Tradition geht zurück auf die früheste ausführliche allgemeine Behandlung gemalter griechischer Vaseninschriften, die Teil von Otto Jahns einflußreicher Einfüh- rung in seiner „Beschreibung der Vasensammlung König Ludwigs in der Pinakothek zu München“ aus dem Jahr 1854 ist.31 Als Altertumswissenschaftler – Philologe und Archäologe zugleich – wollte Jahn durch die Inschriften etwas über die „Bedeutung der bemalten Vasen“ erfahren.32 Er unterteilte das Material in verschiedene Katego- rien, welche implizit primär, wenn auch nicht ausschließlich, auf dem Textinhalt basieren: Inschriften, „welche die Verfertiger von Vasen bezeichnen“, welche „die Bedeutung und den Gebrauch der Gefässe […] bezeichnen“,33 die eine „Sentenz“ ent- halten, die „den dargestellten Figuren in den Mund zu legen“ sind, ferner „sinnlose, nur scheinbare Inschriften“ aus „Buchstaben oder buchstabenähnliche[n] Zeichen“, dann „Inschriften zur Deutung der dargestellten Gegenstände und Figuren“, Inschrif- ten, die (einen Namen und) das Adjektiv καλός, „schön“, enthalten, und schließ- lich „eingekratzte“ Inschriften, darunter vor allem „Angaben eines Besitzers“ und „Gefässnamen mit hinzugefügter Zahl, mitunter auch einer Preisangabe“. Besonders auf die Namensbeischriften und die verschiedenen Varianten der Inschriften mit dem

29 Ausführlich dazu meine (bislang unpublizierte) Dissertation (Gerleigner 2012). 30 Ich verwende das Wort nicht im spezifischeren Sinne Klages’ oder Derridas (für den Hinweis auf die Verwechslungsgefahr danke ich Stephan Müller). 31 Jahn 1854, CV–CXXXI. 32 Jahn 1854, CV. 33 Dazu zählt er vor allem die Preisinschriften der panathenäischen Amphoren und Trinksprüche. Smikros hat’s gemalt 215

Wort καλός geht Jahn sehr differenziert ein;34 überhaupt sind seine Ausführungen auch heute noch mit großem Gewinn zu lesen und enthalten viele scharfsinnige Beobachtungen und Bemerkungen. Jedenfalls war Jahns Darstellung sehr einflußreich, denn alle folgenden Über- blicke, etwa in Handbüchern zur Vasenmalerei, sind bis heute ähnlich strukturiert (und im Vergleich weniger differenziert).35 Ein repräsentatives Beispiel ist der ent- sprechende Teil der Internetseite des vielgenutzten Beazley Archive in Oxford, wo folgende Klassen gemalter Vaseninschriften aufgelistet sind:36 „Names of figures and objects“, „Exclamations“ (darunter Mitteilungen an den Benutzer des Gefäßes wie etwa Trinksprüche und die von einer Figur gesprochenen Worte), „Painter and potter/ maker signatures“, „Praise – kalos/kale inscriptions“ und „‚nonsense‘ inscriptions“, die als „meaningless combinations of letters, or even formless shapes, that seek to imitate the decorative effect of literate inscriptions“ beschrieben werden. Diese letzte Kategorie ist die logische Konsequenz einer primär textbasierten Her- angehensweise: die Schublade, in die alle Inschriften gleichsam verbannt werden, welche keinen Text enthalten – nachdem alle Inschriften mit Textinhalt in die anderen Kategorien gesteckt wurden. Zwar kann hier nicht ausführlicher darauf eingangen werden, aber gerade diese „Nonsens-Inschriften“, deren simplifizierender und ten- denziöser Name die vielfältigen Arten, auf welchen sie trotz mangelnden Textinhalts Sinn ergeben, verschleiert, sind äußerst faszinierend und weisen auf eine der großen Schwächen der logozentrischen Klassifizierung hin, denn manche von ihnen können zeigen, welch wichtige Rolle die Platzierung der Inschriften im Bild spielt. So sugge- rierten nicht wenige der Zeichenketten durch ihre Position im Bild und im Verhältnis zu anderen Bildelementen dem kundigen Betrachter zumindest, welche Arten von Inschriftentexten in diesen Fällen imitiert wurden. Jedenfalls stellen die eben genannten fünf logozentrischen Klassen von Vasen- inschriften (in leicht variierenden Abstufungen der Differenzierung) den Kern der vergangenen wie gegenwärtigen Kategorisierung dar,37 welche damit den

34 Zu den Kalos-Inschriften merkt Jahn an (Jahn 1854 CXXI–CXXVIII), dass einige von diesen, die grundsätzlich in verschiedenen Teilen des Bildfelds platziert wurden, auf die dargestellten Figuren bezogen werden konnten, die meisten jedoch nicht, und in diesen Fällen dann eher eine Art Wid- mung – potentiell erotischer Natur – des Malers oder Käufers eines Gefäßes an einen „schönen“ Jungen (oder selten an ein „schönes“ Mädchen) darstellten. Die vielen Kalos-Inschriften ohne spezi- fischen Namen (ὁ παῖς καλός, „der Junge ist schön“, selten auch in der weiblichen Version) interpre- tierte er als eine Art allgemeine Version, die für auf Vorrat und nicht auf Bestellung gefertige Gefäße verwendet wurde. 35 Vgl. z. B. Cook 19963, 242–246 („captions“, „signatures“, „mottoes“, „dedications and owners’ names“), Boardman 1974, 200–203, Sparkes 1991, 110–113, oder Snodgrass 2000, 23–25. Vgl. auch die vorgeschlagenen Kategorien in Henry Immerwahrs Skizze seines „projected corpus of Attic vase in- scriptions” (Immerwahr 1971, 54); vgl. Immerwahr 2007, 156. 36 http://www.beazley.ox.ac.uk/tools/pottery/inscriptions/default.htm (Stand 28.2.2014). 37 Dies ist ein wenig zu relativieren: Beispielsweise werden einige, wenn auch nicht alle, Worte, die 216 Georg Simon Gerleigner

konzeptuellen Rahmen für die Herangehensweise an dieses Phänomen bildet. Rufen wir uns die theoretischen Überlegungen zu Schrift und ihrer Verknüpfung mit Bildern am Anfang dieses Aufsatzes ins Gedächtnis, so wird klar, dass ein solcher Ansatz defi- zitär ist, will man die Schrift-Bild-Kombinationen in ihrer Komplexität erfassen.

4 Ein Fallbeispiel: die Berliner Strickhenkelamphora des Smikros

Um einerseits einige der Grenzen der konventionellen Klassifikation und anderer- seits die Vorzüge des oben vorgestellten holistischeren Ansatzes zu zeigen, werde ich im folgenden einige ausgewählte, besonders prägnante Vasenbilder mit Inschriften näher untersuchen; Ausgangspunkt und Zentrum ist dabei eine attisch-rotfigurige Amphora mit Strickhenkeln, die sich heute in der Berliner Antikensammlung befin- det, und die aufgrund ihres Stils in die Zeit um 520/10 datiert werden kann.38 Eine ihrer zwei figürlich verzierten Seiten (Abb. 1) zeigt einen Silen, einen der halb-menschlichen, halb-tierischen (Maultier/Esel/Pferd) Begleiter des Weingottes Dionysos, der, seiner Ausrüstung (Speer und Pelta, ein leichter Schild), Körper- und Kopfhaltung nach, einen Waffentanz vollführt.39 Auch zwei Inschriften finden sich hier, gemalt mit dem gleichen verdünnten Tonschlicker, mit dem auch Details wie der Kranz des Silens ausgeführt wurden. Eine Buchstabenkette wurde mehr oder weniger horizontal über die Figur geschrieben und ist nur noch fragmentarisch erhalten

gemalten Figuren als deren direkte Rede zugeschrieben werden, bereits von Jahn deswegen als solche erkannt, weil sie vor die Münder der Figuren geschrieben sind, was bedeutet, dass in diesem Fall auch ein graphischer Aspekt eine Rolle bei der Kategorienbildung spielt. Man kann jedoch mit Recht sagen, dass dieser Aspekt nur implizit berücksichtigt wird, weil er für gewöhnlich nicht als Conditio sine qua non für solche Aussprüche angesehen wird. 38 Berlin, Antikensammlung Inv. 1966.19, unbekannter Fundort, Beazley Archive Pottery Database number (BAPD) 352401. 39 Vgl. Greifenhagen 1974. Anhand von Silenen (auch Satyrn genannt) wurden – in sprachlichen Er- zählungen wie in Bildern – die Grenzen menschlichen Verhaltens und die Verlockung und die Gefahr, diese zu übertreten, verhandelt, ein Thema, das die archaische und klassische griechische Kultur durchdringt (zu diesem Thema im Kontext des Symposions und seiner Bilderwelt siehe Lissarrague 1990, bes. Kapitel 1). Daher tun sie nicht nur Dinge, die Menschen niemals tun (sollten), sondern auch, wie hier, die gleichen Dinge, nur mit größeren oder kleineren Unterschieden. Im vorliegenden Bild hat der Speer, welchen der Silen trägt, einen wellenartig gekrümmten Schaft, was anzeigt, dass er in der Wildnis gefertigt wurde, wo Silene eben leben, was sie wiederum als liminale Wesen charak- terisiert. Ein weiterer Unterschied (zu Darstellungen menschlicher Waffentänzer) liegt darin, dass der Tänzer ithyphallisch ist, was im Fall von Silenen generell als attributives (und nicht situatives) ikono- graphisches Element anzusehen ist, weil der Zustand ständiger Erregung allgemein charakteristisch für diese Strolche ist. Smikros hat’s gemalt 217

Abb. 1: Attisch-rotfigurige Strickhenkelamphora, Berlin, Antikensammlung 1966.19, Seite A

(Abb. 2): ΣΤΥΣΙ[ –––]Σ, was plausibel zu ΣΤΥΣΙ[ΠΠΟ]Σ40 rekonstruiert werden kann, ein Name, der in etwa „steif [wie ein] Pferd“41 bedeutet, was ein passender Name für

40 Obgleich Beazley schrieb, dass die Lücke zu breit ist, um nur den fehlenden Teil eines Namens beinhaltet zu haben (Beazley 19712, 323.3bis), sehe ich kein Problem, nur drei Buchstaben zu ergän- zen, da die Zwischenräume zwischen den einzelnen Buchstaben der Inschrift sehr unterschiedlich sind (vgl. den Abstand zwischen den ersten beiden Buchstaben). In jedem Fall ist die Lücke nicht breit genug für die übliche Rekonstruktion ΣΤΥΣΙ[ΠΟΣΚΑΛΟ]Σ (zuerst bei Greifenhagen 1967, 17; vgl. Immerwahr 2009, Nr. 2497), selbst wenn alle fehlenden Buchstaben so eng nebeneinander geschrie- ben wurden wie der vierte und der fünfte Buchstabe. Mögliche alternative Rekonstruktionen gibt Tsantsanoglou 2010, 32. Torsten Meißner, dem ich für seine äußerst hilfreichen Kommentare herzlich danke (siehe auch Anm. 57), schlägt ΣΤΥΣΙ[ΠΕΛΤΟ]Σ vor, was nicht nur attraktiv wäre, weil es gut in die Lücke passen würde, sondern besonders auch wegen seiner mehrfachen Ebenen der Anspielung: πέλτη bezeichnet nicht nur den Typ Schild, den der Silen trägt, sondern ist auch ein Synonym von παλτόν, „Schaft“. Wenn ich hier ΣΤΥΣΙ[ΠΠΟ]Σ bevorzuge, dann nur, weil dieses auch auf einem wei- teren Gefäß belegt ist (s.u. Anm. 42). 41 Abgeleitet von στύω, „steif machen“, von Aristophanes für Erektionen verwendet (vgl. Henderson 218 Georg Simon Gerleigner

Abb. 2: Attisch-rotfigurige Strickhenkelamphora, Berlin, Antikensammlung 1966.19, Seite A, Detail einen Silen ist,42 weil er auf den hybriden Körper und die ständige sexuelle Erregung dieser Wesen anspielt.43 Nahe der Spitze seiner Eichel sehen wir den ersten Buch- staben einer weiteren Inschrift: ΣΜΙΚΡΟΣΕΓΡΑΦΣΕΝ, „Smikros hat’s gemalt“, eine, wie wir gesehen haben, alte Formel der „Signatur“ eines Vasenmalers, bestehend aus einem Namen und dem Verb im Aorist.44 Eine Namensbeischrift und eine „Signatur“: Exemplare zweier sehr häufiger Arten von Vaseninschriftentexten, die problemlos in die konventionellen Kategorien passen. Doch die Information, welche die Bezeichnungen vermitteln, ist minimal

1975, 112 Nr. 7). Siehe auch Kossatz-Deißmann 1991, 173 s. v. STYSIPPOS, die vermutete: „Ist Sodomie mit Stuten gemeint?“ 42 Ein Name, der vom Vasenmaler Oltos ebenfalls für einen Silen verwendet wurde, auf einer etwa gleichzeitigen rotfigurigen Trinkschale (Neapel, Museo Archeologico Nazionale Inv. 81330, aus Vulci, BAPD 200544). 43 Ἵππος, „Pferd“, allein konnte schon sexuelle Konnotationen haben, da es als Synonym für „Phal- los“ verwendet wurde (siehe Henderson 1975, 126f. Nr. 84 [zitiert von Lissarrague 1987, 68 Anm. 25]). 44 Wie wir schon bei den ganz frühen Beispielen gesehen haben, wurde in einigen Fällen das Verb – entweder ἐποίησεν, „hat gemacht“, oder ἔγραψεν, „hat gemalt“ – noch um ein Akkusativobjekt, fast immer das Personalpronomen der 1. Person Singular, με, „mich“, ergänzt. In der schlichten Version, wie hier, stand es dem Leser der Inschrift frei, als Objekt „mich“ oder so etwas wie „dieses Gefäß“ zu ergänzen (vgl. Wachter 2004, 307). Smikros hat’s gemalt 219

(„Namensbeischrift“ impliziert etwa noch, dass es etwas gibt, auf welches sich der Name bezieht). Aber genau der Umstand, der unmissverständlich klarmacht, dass der Name mit einer dargestellten Figur verbunden ist, ist graphischer Natur: die Platzie- rung des Wortes (in diesem Fall)45 mehr oder weniger horizontal über der Figur, sich über einen großen Teil ihrer Breite erstreckend. Andererseits ist „Name“ aus textuel- ler Sicht eine weite und eher diffuse Kategorie, weil Namen sich beispielsweise nicht nur auf menschliche, sondern auch auf göttliche, tierische oder monströse Wesen, gar auf Gegenstände oder Orte beziehen können. Sie können sich als Eigennamen auf Individuen beziehen und damit auf das im voraus angenommene Wissen (um histo- rische oder fiktive Personen) des Lesers, oder als „sprechende“ Namen ihre Bezugs- figuren unabhängig von solchem Wissen charakterisieren.46 Letztere Differenzierung ist zwar von großer Wichtigkeit für die verschiedenen Möglichkeiten der Interaktion zwischen Wort und Bild,47 geht aber in der Klassenbezeichnung verloren. Im vorlie- genden Fall betont der Name Stýsippos zwei Eigenschaften, die auch in der bildli- chen Darstellung des Silens sichtbar sind: seine Erektion/Sexualität und sein teils tierischer Körper48 (breite Stupsnase, lange Ohren, großer Phallos, Schweif)/seine Andersartigkeit. Warum ist er dann überhaupt mit einem Namen versehen? In diesem Fall könnte man vermuten, dass zwar die Darstellung eines – typischerweise erregten – Silens beim – für ihn untypischen – Waffentanz viele Betrachter amüsiert hat,49 die Betonung seiner Sexualität durch den „sprechenden“ Namen aber den Witz gesteigert hat, indem er dadurch auf eine spezifischere Bedeutung zugespitzt wurde.50 Aber das

45 Zu den beiden über Jahrhunderten in der überwältigenden Mehrheit der Fälle eingehaltenen Plat- zierungskonventionen von Namen („Starting-point principle“ und „Direction principle“) siehe Wach- ter 2001, 228 §104f. 46 Natürlich waren alle Eigennamen ursprünglich sprechende Namen, aber in den meisten Fällen, und das gilt für die antike griechische ebenso wie für die zeitgenössischen europäischen Kulturen, ist die wörtliche Bedeutung etwa eines Eigennamens entweder nicht mehr offensichtlich oder zumindest nicht mehr unmittelbar dominierend. 47 Da „sprechende“ Namen, insbesondere Komposita, theoretisch so gebildet und verwendet wer- den können, dass sie sich auf jeden beliebigen Aspekt des Bildes beziehen, ist ihr Interaktionspoten- tial nicht nur andersartig, sondern höher als im Fall von (etwa mythologischen) Eigennamen. Nicht wenige Vasenmaler, unter ihnen Smikros, nutzten dieses Potential auf interessante und unterschied- liche Weisen. 48 Vgl. Lissarrague 1987, 68. 49 Obwohl diese Gefäßform, eine Halsamphora, üblicherweise nicht zu denen gehört, die primär mit dem Symposion assoziiert werden, kann ihre Verwendung in diesem Kontext nicht ausgeschlos- sen werden (vgl. Scheibler 1983, 46): Es ist nämlich nicht unplausibel anzunehmen, dass sorgfältig geformte (siehe die Strickhenkel) und verzierte Halsamphoren wie diese hier zur Ansicht aufgestellt wurden, nachdem der Wein, den sie enthielten, in ein Mischgefäß umgefüllt wurde, auch wenn diese Praxis nur für Etrurien belegt ist (siehe Kaeser 1992, 192f.). 50 Dieser Interpretationsvorschlag soll nicht exklusiv sein: Das Bild (samt Inschriften) könnte bei- spielsweise durch die Konstruktion der Andersartigkeit des Silens auch zum Diskurs über angemesse- nes soziales Verhalten beigetragen haben (siehe dazu Lissarrague 1990, 11–14). 220 Georg Simon Gerleigner

mag noch nicht alles gewesen sein: Namen, die auf „-ippos“ enden, waren beliebt in der zeitgenössischen athenischen Oberschicht, was bedeutet, dass zeitgenössische Betrachter „Stýsippos“ möglicherweise als Parodie verstehen konnten.51 Die „Signatur“ ist ein weiteres gutes Beispiel für die blinden Flecken des Logo- zentrismus: Dieser ignoriert die großartige Pointe, dass die Platzierung und der gra- phische Verlauf der in einem Bogen zu Boden schießenden Buchstaben suggerieren, dass sie ejakuliert werden bzw. Ejakulat darstellen!52 Die Markierungen mit dem Schlicker können nicht nur als Buchstaben gelesen, sondern auch und gleichzeitig als Körperflüssigkeit gesehen werden: „Zweifach sehen die, die Schriftzeichen gelernt haben“! Einerseits erzielte dieser raffinierte visuelle Kniff einen weiteren witzigen Effekt, während er andererseits die Aufmerksamkeit auf den Textinhalt der Inschrift zog und die „Signatur“ dadurch mit dem offensichtlichen Esprit (oder der „Schöp- fungskraft“) ihres Urhebers verband, was wiederum die werbende Wirkung seiner (stolzen) Aussage – „Smikros hat’s gemalt!“ – verstärkte.53 Der Vasenmaler zeigte damit auch, dass er mit dem Medium Schrift, gerade in seiner speziellen Kombination mit dem Medium Bild, umzugehen verstand. Das oben skizzierte interpretative Modell deckt diese Wechselbeziehungen recht gut ab: Wir konnten nämlich interessante Beziehungen beobachten zwischen dem Bildinhalt des Bildes und 1. dem Textinhalt der Schrift (die Bedeutung des „sprechen- den“ Namens des Silens, welche die Ikonographie bekräftigt [und umgekehrt]) und 2. dem Bildinhalt der Schrift (die Buchstaben der „Signatur“ werden ein gegenständ- liches graphisches Element des Bildes); zudem wird eine zweifache gegenseitige Abhängigkeit klar: 1. Um seinen Witz zu transportieren, braucht der „sprechende“

51 Dies wurde zuerst von Beazley vorgeschlagen (Beazley 19632, 1609), und zwar im Zusammenhang mit der erwähnten Schale des Oltos (s.o. Anm. 42). Dort war die Parodie vielleicht noch deutlicher, wenn man den Namen mit einem der beiden Inschriften ΚΑΛΟΣ in demselben Bild verbinden kann, wie es Beazley getan zu haben scheint (vgl. Beazley 19632, 65 Nr. 108 und 1609); es wird nämlich generell angenommen, dass sich Kalos-Namen auf die Jeunesse dorée Athens beziehen (zu Kalos- Inschriften siehe Lissarrague 1999 und Slater 1999). Vgl. dazu auch Wachters Diskussion von „horsey names“ (Wachter 2001, 257 §238). 52 Siehe auch Steiner 2007, 203. Üblicherweise verwendeten Vasenmaler Punkte oder Striche, um Körperflüssigkeiten darzustellen (vgl. z. B. den ejakulierenden Silen auf rotfigurigen Hydriafragmen- ten um 480/70, die dem Kleophrades-Maler zugeschrieben werden: Malibu, J. Paul Getty Museum Inv. 85.AE.188, unbekannter Fundort, BAPD 43417 [siehe dazu Lissarrague 2000, bes. 195], oder den defäkierenden Komasten auf einer schwarzfigurigen Kleinmeisterbandschale der Mitte des 6. Jh., Ko- penhagen, Thorvaldsens Museum Inv. 76, unbekannter Fundort, BAPD 9933). Die Substitution gab es auch umgekehrt – Punkte oder Striche konnten für Buchstaben stehen (siehe etwa die „summa- rische“ Wiedergabe von Inschriften auf Grabstelen auf atttisch-rotfigurigen Lekythen durch den sog. Inschriften-Maler, z. B. Athen, Nationalmuseum Inv. 1958, aus Eretria, BAPD 209239; ca. 460/50). 53 Vgl. mit Zweifeln Steiner 2007, 203. James Clackson, dem ich für die folgende Idee danke, schlug vor, eine weitere humorvolle Anspielung darin zu sehen, dass der Name Σμικρός – „der Kleine“ – neben einem recht großen Phallos geschrieben steht; tatsächlich wurde vermutlich zumindest das Antonym – μέγας, „groß“ – im Sinne von „erigiert“ verwendet (Henderson 1975, 115f. Nr. 21). Smikros hat’s gemalt 221

Name eine visuelle Verankerung (die Bezugsfigur und ihre Ikonographie). 2. Damit die „Signatur“ besonders wirksam wird, braucht sie ihre Platzierung und zumindest eine vage Ähnlichkeit ihrer Bestandteile, der Buchstaben, zur bildlichen Darstellung von Ejakulat. In beiden Fällen profitieren beide Medien voneinander. Die andere Seite des Gefäßes (Abb. 3) zeigt einen weiteren Silen, dessen Spiel auf dem Doppelaulos54 als Begleitmusik zum Tanz seines Pendants verstanden werden könnte. Sein Name, ΤΕΡΠΑΥΛΟΣ, ist ähnlich dem des anderen Silens platziert, und bezieht sich ebenfalls (und noch stärker) auf das, was das Bild zeigt, denn er bedeutet

Abb. 3: Attisch-rotfigurige Strickhenkelamphora, Berlin, Antikensammlung 1966.19, Seite B

54 Keine Flöten, wie häufig falsch angenommen wird, sondern eher oboenartige Rohrblattinstru- mente. 222 Georg Simon Gerleigner

„der, der durch den (oder: sich am)55 Aulos erfreut“. Eine zweite Inschrift beginnt gleich unterhalb der unteren Öffnung der Auloi: ΝΕΤΕΝΑΡΕΝΕΤΕΝΕΤΟ. Wie im Fall der ejakulierten „Signatur“ suggeriert nicht nur die Platzierung, sondern auch die Schreibrichtung der Buchstabenkette, dass sie etwas darstellt, das aus den Instru- menten kommt:56 Damit könnte Speichel gemeint sein,57 könnte aber auch für Musik stehen, die sich in Form von Buchstaben materialisiert ist. Das Lesen der Silben bekräfigt dies: Sie sind onomatopoetisch, imitieren Klänge.58 Falls und wenn sie laut gelesen wurden,59 hätte dies im Rahmen einer geselligen Zusammenkunft sicher zur Unterhaltung beigetragen. Und es gibt möglicherweise noch eine weitere Dimen- sion: Die Lautmalerei wurde vielleicht nicht relativ willkürlich ausgewählt, sondern könnte auf dem antiken musikalischen Begriff ΝΕΤΕ basieren,60 der Bezeichnung für die unterste Saite der Leier (und damit die höchste Tonhöhe), der zwar erst ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. belegt ist, aber vermutlich älter ist.

55 Vgl. Wilson 1999, 82 Anm. 96. 56 Dass Inschriften das Auge der Betrachter lenken, funktioniert aber natürlich nur bei denjenigen, die das griechische Alphabet kennen (oder eines, das darauf basiert, wie das etruskische). Zum be- wussten Einsatz der Schreibrichtung von Vaseninschriften zur Schaffung von Bedeutung in verschie- denen Kontexten siehe Lissarrague 1992, 195, Lissarrague 1995, 129, und Lissarrague 2000, 194f.; vgl. auch Lissarrague 1990, 59f. 57 Diesen Vorschlag verdanke ich Luca Giuliani. Andererseits ist es angesichts der Platzierung der „Signatur“ auf der anderen Seite nicht ganz abwegig, dass es sich hier um eine visuelle Zweideu- tigkeit erotischer Natur handelt (eine Möglichkeit, die mir von Stephan Müller und Robin Osborne vorgeschlagen wurde, wofür ich ihnen danke). Dies würde zu Torsten Meißners Vorschlag passen, das αὐλός in ΤΕΡΠΑΥΛΟΣ als Anspielung auf seinen Phallos zu verstehen (was ein plausibles Addendum zur langen Liste „harter länglicher Objekte“ wäre, die als spielerische Synonyme für das „male organ“ bei Henderson 1975, 120–124, aufgeführt werden). 58 Ohne hier ins Detail gehen zu können, sind die jeweiligen Vorschläge von Albertoni, Steinrück und besonders Tsantsanoglou, die Inschrift als Text mit lexikalischer Bedeutung zu verstehen, mei- ner Ansicht nach letztlich die schwierigeren und unplausibleren Lesarten, die wohl sogar für Mut- tersprachler schwer zu erkennen gewesen wären (Albertoni 1977, Steinrück 1998 [2003] und Tsantsa- noglou 2010, 32f.). Gerade der Umstand, dass die Inschrift aus einigen wenigen wiederholten Silben (oder phonetischen Varianten dieser) besteht, macht es plausibler, dass es sich um ein Onomatopo- etikon handelt. Und selbst wenn eine der vorgeschlagenen Interpretationen als Satz oder Vers zuträ- fe, wäre die Inschrift immer noch – und nicht zufällig – lautmalerisch. Vgl. ein dem Sappho-Maler zugeschriebenes Bild auf schwarzfigurigen Epinetronfragmenten um 500 (Eleusis, Archäologisches Museum Inv. 907, aus Eleusis, BAPD 7965), auf dem Amazonen, die in Trompeten blasen, von Silben umgeben sind, die recht plausibel einen Versuch darstellen, musikalische Töne als lautmalerische Inschriften wiederzugeben (siehe Pöhlmann/West 2001, 8 [mit weiterer Literatur]; vgl. dazu auch die Rezension von Zimmermann 2006, 258). 59 Eine vieldiskutierte Frage; siehe dazu Steiner 2007, 68–72. 60 Ursprünglich von Greifenhagen 1967, 19, vorgeschlagen, und von anderen später aufgegriffen; siehe auch Bélis 1984 und 1988. Ich danke an dieser Stelle Marie Louise Herzfeld-Schild sehr herzlich für ihren Rat in (antiken wie allgemeinen) musikalischen Dingen. Smikros hat’s gemalt 223

Wie dem auch sei, konventionellerweise würde diese Inschrift als „Nonsens“ katego- risiert werden, was offensichtlich wenig hilfreich wäre, vielleicht noch als „Ausruf“ oder ähnliches. Dass diese beiden Kategorien sich nicht gegenseitig ausschließen,

Abb. 4: Attisch-schwarzfiguriger Skyphos, Madison, Chazen Museum of Art 1979.122, Seite A zeigen die beiden beinahe identischen Bilder eines etwa gleichzeitigen Trinkbe- chers in Form einer weiblichen Brust (Abb. 4):61 Das Lied des Leierspielers kann nicht gelesen werden, ist aber sichtbar als Kette von buchstabenartigen Zeichen, die in einem Bogen, der charakteristisch für Inschriften ist, die die direkte Rede von Figuren darstellen sollen, aus seinem Mund zu Boden strömen. Viele, wenn auch bei weitem nicht alle solcher missverständlicherweise „Nonsens“-Inschriften genannten Zeichenketten werden (mehr oder weniger) genau dort hingesetzt, wo Vasenmaler konventionellerweise bestimmte Arten von Inschriftentexten platzieren – zumindest solche, die einen bestimmten konventionellen Platz im Bildfeld haben, wie etwa Namensbeischriften. Dadurch, dass sie an eine graphische Praxis gekoppelt sind, können sie gewissermaßen das logozentrische System unterlaufen. Doch dies können Platzierung und Ikonographie auch leisten, wenn keine „Nonsens“- Inschriften im Spiel sind: Auf dem Innenbild einer rotfigurigen, etwas späteren

61 Madison, Chazen Museum of Art Inv. 1979.122, unbekannter Fundort, BAPD 5153. 224 Georg Simon Gerleigner

Abb. 5: Attisch-rotfigurige Schale, London, British Museum E816, Innenbild, Detail

Schale in London beispielsweise (Abb. 5),62 wo das zweite Wort des in dieser Zeit sehr häufig zu findenden Lobpreises ΛΕ̣ΑΓΡΟΣ | ΚΑΛΟΣ, „Leagros [ist] schön“, vor den offenen Mund des erotisch involvierten Mannes geschrieben ist und damit in einer Doppelfunktion als Ausruf der Freude etwa über die helfende Geste seiner Partnerin fungiert.63 Und auch wenn der Name ΛΕ̣ΑΓΡΟΣ nicht wie gewöhnlich vom Kopf des Mannes ausgeht, ist er doch durch seine Platzierung entlang seines Körpers auf ihn bezogen und könnte möglicherweise, wenn man das ΚΑΛΟΣ schon als Ausruf wertet und damit von ihm abtrennt, dann auch als sein Name verstanden werden, wodurch sich, zur Belustigung des Betrachters, der „schöne“ Jüngling Leagros, sonst Objekt homoerotischer Begierde, als etwas älterer Symposiast beim Geschlechtsverkehr mit einer Frau entpuppt. Diese Beispiele sind keineswegs erschöpfend: Für jede „Kategorie“ könnten Bei- spiele angeführt werden, bei denen einerseits die Kategorien verschwimmen und andererseits die bildliche Komponente einer Inschrift absolut essentiell ist. Mehr

62 London, British Museum Inv. E816, aus Vulci, BAPD 203238. 63 Dann vielleicht (auch) als Adverb καλῶς zu lesen – im attischen Alphabet dieser Zeit werden Omi- kron und Omega fast immer noch mit dem gleichen Buchstaben geschrieben. Smikros hat’s gemalt 225

noch: Es lässt sich, wie im letzten Beispiel, erkennen, dass Vasenmaler manchmal absichtlich mit den Inschriftenkonventionen und der entsprechenden Erwartungs- haltung der an diese gewöhnten Betrachter gespielt haben, um sie zu überraschen und mit immer neuen kleinen und großen Finessen zu unterhalten.

5 Methodische Konsequenzen

All dies sollte Konsequenzen für unsere Herangehensweise an Vaseninschriften haben. Zum einen ist klar geworden, dass es nicht ausreicht, einfach vage eine „ästhe- tische“ Dimension zu berücksichtigen und damit zufrieden zu sein – das würde in etwa dem gleichkommen, im umgekehrten Fall den Buchstabenketten neben ihrer Platzierung und ihrem Verlauf im Bild eine allgemeine sprachliche Bedeutung zuzu- gestehen, aber sich dann nicht näher mit dem Textinhalt zu befassen. Zum anderen zeigt die von uns beobachtete zusätzliche Bedeutung, die durch die Interdependenz der beiden Medien in ihrer direkten Kombination entsteht, auch, dass es nicht genügt, einfach nur den bildlichen Aspekt von Inschriften miteinzubeziehen. Auch wenn es nicht möglich ist, ein Klassifikationssystem zu entwerfen, welches allen Aspekten gerecht wird, und man an der – einseitigen, reduktiven, chronolo- gisch indifferenten, aber dennoch nicht irrelevanten oder nutzlosen – logozentri- schen Kategorisierung festhält,64 muss man sich zumindest ihrer Implikationen und Begrenztheit bewusst sein. Das textfixierte Paradigma, das sie gesetzt hat, hat bisher zu einem eher statischen, eindimensionalen Bild eines sehr lebendigen, facettenrei- chen Phänomens geführt. Es bleibt daher zu hoffen, dass der hier skizzierte Ansatz ein nuancierteres Licht auf griechische Vasenbilder mit Inschriften werfen kann.

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64 Eine Unterteilung nach graphisch-bildlichen Gesichtspunkten wäre nicht weniger einseitig und zudem weniger praktikabel. 226 Georg Simon Gerleigner

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Abbildungsnachweise

Abb. 1-3: © bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte Abb. 4: © Chazen Museum of Art, University of Wisconsin-Madison (Cyril Winton Nave Endowment Fund purchase) Abb. 5: © The Trustees of the British Museum Susan Richter Schrift auf Haut um 1800: Ausdruck fehlender Zivilisation oder eine spezifische materiale juristische Textkultur? Annäherungen aus spätaufklärerischer Perspektive

James Cook (1728–1779) beschrieb nach seiner Landung auf der Südseeinsel Tahiti im Juli 1769 in seinem Bordjournal die Nacktheit der Inselbewohner, die ihm jedoch auf ganz eigene Weise eine Bedecktheit durch Zeichen auf der gesamten Haut offenbarte:

Both sexes paint their Bodys, Tattow, as it is called in their Language. This is done by inlaying the Colour of Black under their skins, in such a manner as to be indelible. Some have ill-design’d figures of men, birds, or dogs; the women generally have this figure Z simply on every joint of their fingers and Toes; the men have it likewise, and both have other different figures, such as Circles, Crescents, etc., which they have on their Arms and Legs; in short, they are so various in the application of these figures that both the quantity and Situation of them seem to depend intirely upon the humour of each individual, yet all agree in having their buttocks covered with a Deep black. Over this Most have Arches drawn one over another as high as their short ribs, which are near a Quarter of an inch broad. These Arches seem to be their great pride, as both men and Women show them with great pleasure.1

Tattow war der von ihnen genutzte Begriff für die eingestochenen Zeichen auf ihren Körpern. Ulrike Landfester verweist darauf, dass sich mit Cooks ausführlichem Bericht das Phänomen und die Kulturtechnik des Tätowierens sowie der Begriff Tattow schnell in den zeitgenössischen europäischen Wissenskanon integriert hatte, obwohl er gerade diesen Terminus nicht in sein Concise Vocabulary Of The Language Of Othahitee auf- nahm.2 Die Verbreitung gelang nicht zuletzt durch vorangegangene und nachfolgende Reiseberichte3, einige mitgereiste Indigene, die in Salons in London und in Paris ihre tätowierte Haut präsentierten4 sowie zusammenfassende Beschreibungen des

1 Cook 1769. Grundsätzlich zur Südsee vgl. Meißner 2006; Calder/Orr/Lamb 1999, 1–24. Ich danke meinen Mitarbeitern Michael Roth und Steve Bahn für Recherchen und kritische Anmerkungen zum Thema. 2 Landfester 2006, 13–20; hier 19. 3 Georg Forster schrieb vom punctieren und bewertet das Tätowieren der Haut als Versuch der Insu- laner, sich hässlich zu verschönern. Forster 1967, hier Bd. 1, 381. Berg 1982. 4 Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) hatte von seiner Reise den tätowierten Eingeborenen Aotourou bzw. Aorotu nach Frankreich mitgebracht. Er wurde in zahlreiche Salons eingeführt und

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Tätowierens, die in Zeitschriften breit rezipiert wurden oder ihre Aufnahme in populär aufklärende Sammlungen wie Christian August Vulpius’ (1762–1827) Curiositäten [der] physisch=literarisch=artistisch=historischen Vor= und Mitwelt zur angenehmen Unter- haltung gebildeter Leser fanden. Gerade diese Sammlung, die zwischen 1811 und 1823 erschien, erregte im gesamten deutschsprachigen Raum große Aufmerksamkeit.5 Vulpius Intention zielte mit den Curiositäten auf Aspekte der Geschichtsschreibung ähnlich der heutigen Kulturgeschichte, die zeitgenössisch aus seiner Sicht zu wenig Beachtung fanden, wie er 1811 in der Einleitung zu seinem ersten Band formulierte:

Gewöhnlich beschäftigt sich die Historie nur mit dem großen Gange der Weltbegebenheiten und mit der politischen Geschichte der Völker und Staaten, oder mit der Literatur-Geschichte der Wis- senschaften. Es giebt [sic!] aber außer diesen respectablen Zweigen unsres Wissens, noch eine Menge sehr interessanter Nebendinge, welche die Geschichte nicht berührt, und aus welchen man den Geist und das Wissen, die Meinungen und Vorurteile, die Sitten und Gebräuche, die Tugenden, Thorheiten und Laster, kurz das Leben der Vorwelt mit seinen Formen und seinen bunten Farben weit besser kennenlernt, als aus der ernsteren Weltgeschichte.6

Vulpius bot als guter Antiquar7 seinen Lesern anhand von Beispielen einen ausführ- lichen Überblick über die Verbreitung des Tätowierens in unterschiedlichen Kulturen der Erde im Rahmen von Sitten und Gebräuchen. Er verwies nicht zuletzt auf Gepflo- genheiten des Tätowierens in der europäischen Antike8 oder bei christlichen Pilgern,

„bestaunt“. Da er jedoch kaum Französisch sprach, war die Verständigung mit ihm schwierig und die Fähigkeiten des Intellekts Eingeborener wurden zeitgenössisch kritisch diskutiert. Vgl. Bitterli 19912, 195ff. Die Tätowierung interessierte französische Gelehrte besonders, weshalb die Reisenden aufgefordert wurden, zu berichten (ebd., 33). Der Göttinger Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) erhielt während seines Aufenthalts in London die Gelegenheit, Omai kennenzulernen, den Cook von seiner zweiten Reise mit nach England gebracht hatte. In seinem Tagebuch notierte Lichtenberg Einzelheiten zu der Begegnung, insbesondere zur Tätowierung. Er beschrieb sie als blaue Flecken, die um die Hände Omais gezogen waren. Vgl. Gumbert 1977, hier Bd. 1, 106. Zu Omai vgl. Bitterli 19912, 187ff. 5 Der verwilderte Franzose Cabri auf der Insel Nukahiwa, nebst Abbildung, in: Vulpius 1813, 120–135. Vulpius reflektiert sein Sammeln und die Edition von Versatzstücken aus Reiseberichten wie folgt: Es sollen dieselben [die Kuriositäten] das Sonderbare aus der physikalisch-litterarisch-artistisch-histo- rischen Welt enthalten, was ich aus Manuskripten, alten und neuen Büchern zusammen suche, wohin meine seit 16–18 Jahren gemachten Collectaneen zielen, u[nd] was mir sonst noch hier u[nd] dort in die Augen fällt, was curiös, angenehm u[nd] für die Leser unterhaltend ist. Vulpius, 2003, hier Bd. 1, 162. Zu Vulpius als Sammler vgl. Daum 2007, 125–140; hier 133f. Zur Rolle der Altertumskunde und der Mitwirkung Vulpius’ vgl. Kaufmann/Kaufmann 2001, 15ff. 6 Zum Begriff des „Curiosen“ vgl. Hemmerling 2012, 221–229. Zur Rolle des „Curiosen“ in Reiseberich- ten vgl. Leask 2002. 7 Die antiquarische Tätigkeit bzw. Forschung bestand im Wesentlichen aus der Sammlung und Regis- trierung so genannter nationaler Monumente, Rechtsformen, Sitten, Bräuche, Traditionen wie etwa Lieder sowie die Sicherung von Überresten. Vgl. dazu Stagl 1998, 40–52. Noch immer Lohre 1902. 8 Schon 1792 lag zu Körperbemalungen und Tätowierungen in der Antike eine Abhandlung von Karl August Böttiger vor; Böttiger 1792, Bd. 2, 139–164. Schrift auf Haut um 1800 231

die nach Jerusalem gezogen waren, ohne jedoch eine Einordnung oder einen Kom- mentar zu kulturellen Parallelen oder möglichen Kommunikationszielen tätowierter Haut der Südseeinsulaner oder antiker Kulturen zu geben. Mit den Beschreibungen wurden oft auch Bilder publiziert und so der Eindruck vom Aussehen der Indigenen für den europäischen Betrachter nachvollziehbar gemacht. Der relativ große Bekanntheitsgrad der Kulturtechnik des Tätowierens steht jedoch in deutlichem Gegensatz zu seiner Wahrnehmung in zeitgenössischen wissenschaft- lichen und gesellschaftlichen Diskursen in der deutschen Spätaufklärung des ausge- henden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Der Untersuchungszeitraum wurde in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrechts Hinweis auf die um 1800 einsetzenden anth- ropologisch-philosophisch-ästhetischen Beobachtungsverfahren gewählt. In diesem Zeitraum, in dem für Gumbrecht die „epistemologische Moderne“9 mit noch üblichen Reflexionsmustern ihren Anfang nahm, wurde innerhalb früher anthropologischer Wissenschaftskonzepte der Mensch als Natur- oder Kulturwesen diskutiert.10 Dabei rückten Körper (und Seele) als Wissensorgane in das Blickfeld von wissenschaftlicher und selbstreflexiver Betrachtung. Auch Interaktionen zwischen Körper und Seele standen zur Debatte. In dem Zusammenhang wurden Sprache und Schrift im Ver- hältnis zum Körper – etwa im Sinne von Einschreibeverfahren – diskutiert sowie Aus- drucksmöglichkeiten bzw. die Zeichenhaftigkeit von Körpersprache als Ausdruck des lesbaren Körpers11 untersucht. Es lag somit ein grundlegendes öffentliches Interesse an Körpern als Untersuchungsgegenstand sowie ein Spektrum an Erklärungsmustern vor, vor deren Hintergrund das Phänomen der tätowierten Haut der Südseeinsula- ner eingeordnet oder bewertet werden konnte. Die vorliegende Studie wird zunächst nach diesen zeitgenössischen Deutungsversuchen und Erklärungen von Tätowierun- gen der polynesischen Völker innerhalb der ästhetischen und sprachwissenschaftli- chen Forschungs- und Gesellschaftsdiskurse der deutschen Spätaufklärung fragen. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, ob und wie die europäische Sicht auf die spezifische Materialität der lebenden Haut als Zeichenträger die Deutung der Zeichen bzw. der Kulturtradition des Tätowierens an sich beeinflusste.

1 Tätowierte Haut als Schmuck oder Kleid

James Cook, und nach ihm zahlreiche Augenzeugen, die konkrete Beschreibungen der Techniken, der Anwendung und einzelner Motive des Tätowierens auf dem Süd- see-Archipel, insbesondere Tahitis und den Marquesas-Inseln verfassten, erkannten

9 Gumbrecht 1998, 17–41; hier 23–29. 10 Hoorn 2006, 125–142; hier 131f. 11 Campe 1993, 163–184; hier 178f. 232 Susan Richter

darin nur einen geringeren Zivilisationsgrad tätowierter Völker oder einzelner Perso- nen. Die Beschreibung der Tätowierungen ging der in der Regel mit der abwertenden oder antikisierend-metaphorisch verbrämten Diskussion um die Nacktheit der Insu- laner und deren offenherzigen Präsentation einher.12 Als einer von wenigen Autoren verglich der französisch-deutsche Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781–1838) im Jahr 1817 als Teilnehmer der russischen Expedition Otto von Kotzebues die Täto- wierungen auf den Inseln Polynesiens mit einem schönen Kleid, das sich Chamisso selbst gern mit allen den Schmerzen, die es kostet, erkauft hätte.13 Es handelt sich um eine der wenigen Textstellen, wo ein Europäer eine Tätowierung für erstrebenswert hält, jedoch durch die Ablehnung der Häuptlinge keine erhält. Zugleich ist es der Versuch, die Tätowierung mit dem Zivilisations- und Sozialisationsmerkmal von Klei- dung gleichzusetzen14 sowie den Zeichen auf der Haut eine ästhetische Komponente zuzuerkennen. Die Frage der tätowierten Nacktheit wurde in den Reiseberichten von Chamis- sos Vorgängern deutlich kritischer diskutiert, vor allem dann, wenn Tätowierungen auch an vor Ort lebenden Europäern wahrgenommen wurden. Die Anpassung der Europäer an die bebilderte Nacktheit der Insulaner wurde in der Regel durch die Rei- seberichterstatter als notwendige und nicht zu verhindernde Maßnahme erklärt, um in der Inselgemeinschaft zu überleben. Die Tätowierung dokumentierte und unter- strich eine neue Zugehörigkeit, die sich durch die nicht mehr zu löschenden Zeichen auf der Haut auch gegenteilig als einen entfernenden Schritt aus der Zugehörigkeit zur europäischen Gesellschaft verstehen ließ.15 Diese Begründung des Freiherrn von

12 Louis Antoine de Bougainville deutete die Nacktheit der Tahitianer im Kontext des Goldenen Zeit- alters und bediente sich entsprechender Metaphern aus der Mythologie zu ihrer Beschreibung: Ich habe niemals so wohlproportionierte Männer gesehen; um einen Mars oder Herkules zu malen, würde man nirgens schönere Muster finden. Ihre Züge unterscheiden sich nicht von denen der Europäer, und sie würden ebenso weiß sein, wenn sie sich nicht beständig im Freien und in der prallen Sonne aufhielten; s. Bougainville 1772, 202. Christiane Küchler-Williams verweist darauf, dass gerade der Körperbau, die Haltung und Züge mit antiken Statuen verglichen wurden. Auch die besondere Hellhäutigkeit fand Beachtung. Küchler-Williams 2006, 302–325; hier 305f. Vgl. auch Hall 2008, 66; Kohl 2001, 151. Diese ästhetische Identifikation findet auch in der Bildenden Kunst statt, vor allem bei William Hodge. Vgl. dazu Kohl 2001, 155–156. Zur Nacktheit und Erotik vgl. auch Bonter 2000; Laqueur 1992. 13 Chamisso um 1910, 155. Zum Begriff tatuieren vgl. Bd. 2, 268. 14 Es gab allerdings im ausgehenden 18. Jahrhundert mit der breiten literarischen Rezeption der Ge- schichte Pygmalions und seiner belebten Statue einen ausgeprägten Diskurs um die Sinne, insbeson- dere die Tastsinne, die, anders als die Augen, Gefühle verstehen und zu geben vermochten. Doch sie mussten dafür frei, die Haut ohne Kleidung oder Bedeckung agieren können. Kleidung wurde deshalb bei Bodmer als durchaus einschränkend, störend und oft behindernd verstanden. Vgl. dazu Binczek 2007, 315. 15 Umgekehrt konnte eine teilweise kulturelle Zugehörigkeit von Indigenen durch europäische Kleidung erreicht werden, insbesondere durch antikisierende und vor allem weiße Draperien, die den Körper und insbesondere die Tätowierungen verhüllten, wie etwa bei Omai. Auch die Gestik der Hände orientierte sich an antiken Statuen. Omai gelangte nach der zweiten Reise Cooks (1772–1775) Schrift auf Haut um 1800 233

Langsdorff, der 1803/04 an der russischen Weltumsegelung unter Kapitän Adam Johann von Krusenstern (1770–1846) teilgenommen hatte, findet sich etwa für die Tätowierungen des auf Nukuhiwa lebenden Engländers Edward Robarts und den Franzosen Jean Baptiste Cabri:

Unserem Gewährsmann Cabri, der fast am ganzen Körper tatauiert [sic!] war, hatte man bei einer solchen Gelegenheit ein Augenornament eingeschlagen. Der andere Gewährsmann Roberts trug nur ein kleines viereckiges Muster auf der Brust und versicherte uns, daß er sich nie mit dieser Zierde hätte einverstanden erklären können, hätte ihn nicht die im vergangenen Jahre hier herr- schende Hungersnot gezwungen, sich unter die 26 Tischgenossen aufnehmen zu lassen, die Kätänuäh, der Häuptling des Tiohai-Tales, damals durchfütterte.16

Die tätowierte Haut im Kontext indigener Bevölkerung spiegelte im zeitgenössischen europäischen Verständnis somit grob den Zivilisationsgrad des Trägers wider und konnte als Indikator von Inklusion oder Exklusion zu europäischen bzw. nicht- euro- päischen Gemeinschaften verstanden sowie als Ausdruck von Grenzgängerschaft (bei Deserteuren, Beachcombern17 wie Cabri oder bei Matrosen) als nicht mehr vollstän- dige Zugehörigkeit zu einer der Gruppen gewertet werden. Auf gar keinen Fall kam deshalb eine freiwillige Tätowierung eines Europäers in Betracht, denn die Zeichen führten laut Krusenstern zu einem negerartigen Ansehen.18 Über die Verdunkelung und Veränderung der Haut durch Tätowierungen ergab sich die Entfernung von der europäischen Kultur.

nach England und wurde von Joshua Reynolds (1723–1792) im antiken Gewand porträtiert; 1775–76, Öl auf Leinwand, 236 x 146 cm. National Gallery of Ireland, Dublin. Omai präsentierte sich auch dem Königspaar 1774 in einem antikisierenden Gewand mit einem Hut aus Palmstroh aus seiner Heimat. Er trat als Grenzgänger verschiedener Zeiten und Welten bzw. Kulturen auf. Vgl. den Kupferstich „Omiah the Indian from Otaheite presented to their Majesties at Kew by Mr Banks & Dr Solander, 17 July 1774“. Kupferstich 11.1 x 13.9 cm. National Library of Australia, Rex Nan Kivell Collection, NK10666. Vgl. dazu Meyer 1995, 38–52; hier 49. 16 Langsdorff schrieb weiter: Wenn in einem trockenen Jahre Hungersnot eintritt, so gibt derjenige, der noch den größten Vorrat an Lebensmitteln hat, gewöhnlich ist es der Häuptling, seinen hungrigen Landsleuten davon ab. Diese armen Schlucker bewirtet er eine Zeitlang, und alle Teilnehmer erhalten aus diesem Anlaß ein bestimmtes Zeichen eintatauiert. Kraft eines Tabus sind in der Folgezeit alle diese Ordensbrüder miteinander verbunden und müssen sich gegenseitig in einem ähnlichen Falle mit Nah- rungsmitteln unterstützen, wenn einer von ihnen dazu in der Lage ist. Dabei ist es möglich, daß man verschiedenen solchen Gesellschaften gleichzeitig angehört. Auch bei Tanzfesten entstehen ähnliche Schmausgesellschaften. Stets wird darauf gesehen, daß von allen Gerichten der Priester (Taua) einen Teil erhält, wenn er nicht selbst an der Tafel teilnehmen kann. Langsdorff 1812/1813, Kap. 7. 17 Zum Begriff des Grenzgängers oder Beachcombers als einem desertierten und in die indigene Ge- meinschaft integrierten Europäer vgl. Frank 2006, 95f. Gudrun Hentges diskutiert die Glückserfah- rung der geflohenen Europäer, die der bürgerlichen Gesellschaft den Naturzustand vorzogen. Hent- ges 1999, 188. 18 Tilesius zitiert Krusenstern, s. Tilesius 1828, 145. 234 Susan Richter

Der eigenen (hellen) Haut kam im christlichen Europa eine große Bedeutung für die eigene Identität zu. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) nahm in Dichtung und Wahrheit auf einen etwas unfreundlichen Scherz Johann Gottfried Herders (1744– 1803) Bezug, der ihn mit dem Ursprung seines Namens „Goethe“ mit Anlehnungen an die „Goten“ oder „Kot“ verhöhnt hatte. Goethe rekurrierte darauf:

Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte: denn der Eigen- name eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.19

Für Goethe ist die Haut wie der Name und sogar noch mehr als dieser der Person ur eigentümlich und somit identitätsstiftend. Dafür musste sie unverletzt und unver- ändert bleiben20, fungierte sie doch als vox animi oder Spiegel der Seele. Was sich in der Haut spiegelte, war zuvor als Vorstellungen oder Einflüsse in die Seele „einge- schrieben“ worden. Schrift und Bilder galten aus Sicht Platons, Descarts und in deren Folge auch bei den Zeitgenossen als „Synonym für Einprägung“ und das Gedächt- nis bzw. die Seele als „graphische Einprägeschicht“.21 Diese Einschreibung spiegelte sich im Körper, insbesondere durch die Haut. Dieser Spiegel hatte gerade im Kontext der Lehre von der Physiognomie durch Johann Caspar Lavater (1741–1801) rein und transparent zu bleiben, um den Blick in das Innere, auf die Gefühle und die natür- lichen Anlagen des Menschen (gut oder böse) zu ermöglichen.22 Claudia Benthien spricht somit vom zeitgenössischen „Ideal der unverbergenden Haut“, das sich vor allem gegen die beschönigende Kosmetik, den Puder wandte, mit dem die adelige Gesellschaft Alter und Makel korrigierte und somit ebenfalls den Blick auf die Seele verbarg.23 Diesem Ideal des Unverbergenden und somit des Natürlichen standen die Tätowierungen der Südseeinsulaner vollständig gegensätzlich gegenüber. Sie ließen den Blick auf das Innere nicht zu, verdunkelten ihn sogar. Ein Rückschluss auf den physiognomischen Identitätsgrundsatz der Einheit von Körper und Seele war somit nicht möglich.24 Dies realtivierte schnell die anfängliche Einordnung der Tahitianer

19 Goethe 1957, 444. 20 Ganz anders argumentiert Goethe in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Vgl. Landfester 2005, 83–98; hier 94–96. 21 Koschorke 1995, 135–154; hier 137f. Thums 2003, 139–164; hier 150f. 22 Ulrike Zeuch spricht von verräterischer Haut, die Identität offenbart und Geheimnisse der Seele preisgibt; Zeuch 2003, 9–12; hier 10. 23 Claudia Benthien geht der Frage weniger für den historischen Kontext der Aufklärung, sondern kulturhistorisch breit bis zum 20. Jahrhundert nach; Benthien 20022, 111–130; hier 119ff. 24 Dieser gilt auch für die frühe anthropologische Forschung Herders, Goethes, Sömmerings etc. Käuser 1993, 41–60; hier 47ff. Campe spricht in diesem Zusammenhang vom Gesicht als Medium des Mienenspiels; Campe 1993, 168. Schrift auf Haut um 1800 235

als reine und ideale Naturkinder.25 Dazu kam die Verletzung der Haut, das Schaben oder Schinden wie es Goethe genannt hatte, das den Spiegel auf die Seele zerstörte. So blieb die tätowierte Haut der indigenen Bewohner der Südsee in der zeitgenös- sischen Beurteilung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zunächst nur eine interessante, jedoch fremde Kuriosität, dem oberflächlich höchstens die Funktion als dekorativer Schmuck oder als kaum gelungener Versuch eines Kleidungsersatzes zuerkannt wurde, ohne jedoch damit annähernd europäischen ästhetischen oder moralischen Ansprüchen gerecht zu werden.

2 Recht und Gesetz auf der Haut

Eine ganz andere, durch den Kulturkontakt mit James Cook und seiner Besatzung angeregte zeitgenössische Deutung ihrer Tätowierungen stammte von den Insulanern selbst, die einen Zusammenhang zwischen ihren Zeichen und der Schrift der Englän- der konstatiert hatten.26 Den Begriff Tat tow, so schrieb Cook fasziniert, gebrauchten die Südseeinsulaner auch für die Briefe, welche sie die Engländer schreiben sahen: The practice is universal among them, and it’s called tat-tow, a term which they after- wards applied to letters when they saw us write, being themselves perfectly illiterate.27 Sie verwiesen somit auf eine Analogie zwischen der Schrift und dem Papier der Eng- länder sowie ihren Zeichen auf der menschlichen Haut. Ihre Haut bildete das Manu- skript bzw. das zu beschreibende Material, das aber durch eine „verletzende Schrift“28 beschrieben wurde, denn in der richtigen Übersetzung bedeutete das Wort Tat-Tow kunstgerecht eine Wunde schlagen.29

25 Als begeisterter Anhänger Rousseaus war beispielsweise Commerson überzeugt gewesen, auf Tahiti eine ideale Gesellschaft von Edlen Wilden vorgefunden zu haben und betonte deren Vorbild- lichkeit für die europäischen Gesellschaften. Die von ihm idealisierten Gemeinschaften auf den Inseln schienen Paradiese ohne Fehler und Makel zu sein. Um seine Leser zu überzeugen, setzte Commerson auf eine Mischung aus aufklärerischem Gedankengut und antiker Stilistik. Er beschwor die Idylle Ar- kadiens herauf: Geboren unter dem schönsten Himmelsstrich, genährt von den Früchten eines Landes, das fruchtbar ist, ohne bebaut zu werden, regiert eher von Familienvätern als von Königen, kennen sie keinen anderen Gott als die Liebe. Commerson 1772, 365. Diese Insel schien mir so beschaffen, dass ich ihr schon den Namen Utopia beigelegt, den Thomas Morus seiner idealen Republik gegeben, s. ebd.. 26 Darauf verweist bereits Landfester 2005, 17. 27 Cook 1769, 44. 28 Mit der Rolle des Schmerzes und der Stigmata im Kontext von Haut und Tätowierung setzt sich Ulrike Landfester auseinander. Landfester 2005, 95f. 29 Their method of Tattowing I shall now describe. The coulour they use is lamp black prepared from the smook of a kind of Oily nutt (the candlenut) used by them instead of Candles; the Instruments for pricking it under the skin is made of very thin flat pieces of bone or shell … one end is cut into sharp teeth and the other fasten’d to a handle; the teeth are diped into the black liquor and then drove by quick sharp blows struck upon the handle with a stick for that purpose into the skin so deep that every stroke is 236 Susan Richter

Cook ging auf den Vergleich nicht ein. Auch die meisten Reisenden nach ihm sahen offenbar keine Verbindung. Den möglichen Zusammenhang zwischen den tätowierten Zeichen und einer Form von Schrift erwog erst der Thüringer Naturfor- scher und Kupferstecher Wilhelm Gottfried Tilesius von Tilenau (1769–1857). Er ver- öffentlichte ihn allerdings erst Jahre nach seiner Rückkehr 1828, ohne dabei Rekurs auf den Vergleich der Eingeborenen zu nehmen, wie er bei Cook zu lesen war. Weitere Vergleiche blieben aus. Der lebende menschliche Körper als Textträger galt wohl zeit- genössisch als zu fremd. Dies ist jedoch verwunderlich, weil gerade ein im 18. Jahr- hundert über Jahrzehnte anhaltender Diskurs in Frankreich und im Alten Reich der Frage nach der Ursprache und der Urschrift im Kontext von Körperlichkeit nachging. Tilesius hatte gemeinsam mit Langsdorff an der russischen Expedition in die Südsee teilgenommen. Nach intensiver Beobachtung, zahlreichen eigenhändigen Zeichnungen tätowierter Personen von verschiedenen Inseln30 und der Auseinan- dersetzung mit Langsdorffs Reisebericht revidierte Tilesius seine bisherige Sicht auf Tätowierungen in seiner Abhandlung Über den Ursprung des bürgerlichen Lebens und der Staatsform in den Südsee-Inseln. Es handle sich nach seinem Vergleich mit Zeichen auf Gegenständen und Waffen der Einheimischen sowie ausführlichen Gesprächen mit dem Franzosen Cabri bei den tätowierten Zeichen auf der Haut der Insulaner nicht um bloßen Putz, Zierrat, Auszeichnungen oder Stellvertreter der Klei- dung. Vielmehr glaubte er, an den Tätowierungen der Bewohner der Insel Nukuhiwa ganz neue Gesischtspuncte zu erkennen: Tilesius sah darin Documente und Schuld- verschreibungen, offene Contracte von abgeschlossenen Verträgen, Obligationen oder Verpflichtungen. Er erkannte in den Tätowierungen zwar noch keine Schrift, aber Symbole, die eine Form offiziellen Schriftgutes als Ausdruck einer funktionierenden Rechtskultur, der Dokumentation von Besitz und Ansprüchen, zu leistenden Diens- ten sowie wirtschaftlicher Verflechtungen auf menschlicher Haut darstellten.31 Das Vorkommen von Zeichen, die aus seiner Sicht parallel zur europäischen Schriftlich- keit gesetztliche Verbindungen zwischen den Menschen dokumentierten, deutete er als einen wichtigen und von den Insulanern bereits vorsichtig beschrittenen Weg zur Staatlichkeit und zu einem Uranfange eines bürgerlichen Lebens.32 Die Staatlichkeit, die Tilesius auf den Inseln im Aufkeimen sah,

followed (with) a small quantity of blood, the part so marked remains sore for some days before it heals. As this is a painfull operation especially the tattowing their buttocks it is perform’d but once in their life time, it is never done until they are 12 or 14 years of age. Cook 1769, 125. Vgl. auch Werbeck 1962, 621. 30 Seine beiden bekanntesten Bilder finden sich im Austellungskatalog des Metropolitan Museums. Kjellgren/Ivory 2005, 57, Abb. 21. Sie waren erstmals in Langsdorffs Reisebericht erschienen. 31 Dies widerspricht der Ansicht vieler Berichterstatter aus dem 18. Jahrhundert, die, trotz der Dieb- stähle der Tahitianer über die in den Reiseberichten geklagt wird, von klassenlosen Gesellschaften ohne Privateigentum auf den Inseln ausgingen; Commerson 1772, 365–372; hier 371f. 32 Tilesius 1828, 133–168; hier 164, 142ff., 140, 151 und 165. Schrift auf Haut um 1800 237

und [die] noch unvollkommen seyn kan, so man auch hier gerade, wo nur der Zwang der Natur als das Mittel zur Herrschaft des Rechts erscheint, den Staat allmählig [sic!] durch sich selbst ausbilden sehen [kann], weil die Gesetze hier nur erst Verträge, Eingeständnisse und Verpflich- tungen, kurz Producte der Erfahrung und Nothwendigkeit sind.33

Diese wiederum bildeten nach Tilesius die Grundlage von innerer Sicherheit und Wohl- fahrt eines Staatswesens, das sich auf den Inseln konstituierte.34 Der Tätowiermeister vertrat nach Tilesius deshalb nicht die Stelle eines Putzmachers wie Langsdorff ange- nommen hatte, sondern die des Notarii publici, indem er auf den Körpern der Parteien Anspruch und Verbindlichkeit fixierte. Schuld war somit nicht abzuleugnen und die bestehende Ordnung einzuhalten.35 Zur Bekräftigung seiner These von wichtigen Verträge[n] und Documente[n] auf der Haut36 nahm Tilesius auf die Abhandlung des britischen Kapitäns George William Manby (1765–1854) Bezug, der von Tätowierungen als einer förmlichen Bildersprache ausging.37 Die Deutung der Tätowierungen als Rechtsdokumente durch Tilesius, die eine Form von Schriftgut auf der Haut widerspiegelten, fand eine zeitgenössische theore- tische Kontextualisierung, die seine Argumentation nicht nur stützte, sondern dem europäischen Leser auch verständlich machen konnte. So wurde etwa der Begriff der Urschrift im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts diskutiert. Zedlers Universalle- xikon verstand unter „Urschrift“ im 51. Band aus dem Jahr 1747 jedwede Schrifft, die keine ihresgleichen vor sich gehabt.38 Damit war laut Zedler und nach Krünitz’ Oeco- nomischer Encyclopädie zugleich ein Original gemeint, für den europäischen Kontext etwa eine Urkunde. Eine Urschrift bzw. eine Urkunde war laut Krünitz eine ursprüng- liche Schrift, ein Original und damit ein Dokument, das auf einem Schrift- oder Text- träger wie Pergament oder Papier niedergelegt worden war.39 Verwandt sei der Begriff der „Urschrift“ laut Grimm’schem Wörterbuch mit Lemmata wie „Inschrift“ oder „Aufschrift“, die sich erstmals im Alten Testament durch die Zehn Gebote auf den Tafeln von Gott selbst drein gegraben wurden.40 Die Lexika verzeichneten wie zahl- reiche wissenschaftliche Abhandlungen zu Rechtsaltertümern und Untersuchungen zu Überresten aus dem Mittelalter für die abendländische Geschichte verschiedene materielle Text- und Schriftträger, welche Gesetztestexte oder Rechtsgeschäfte der Vergangenheit dokumentierten.41 Die lebende menschliche Haut kam dabei nicht

33 Ebd., 148. 34 Ebd., 149. 35 Ebd., 153. 36 Ebd., 146. 37 Ebd., 168. Vgl. dazu auch bereits Arburg 2003, 287–310; hier 292ff. 38 Zedler 1747, 513. 39 Krünitz 2014. 40 Grimm 1854–1961 a; Grimm 1854–1961 b. 41 So etwa Grimm 1821. Oder Keerk 1803, 229–231. 238 Susan Richter

vor. Doch das hieß nicht, dass das genannte Spektrum der Textträger erschöpfend dargestellt war und darauf beschränkt bleiben musste, was gerade die beginnende Altertumswissenschaft mit ihrem Interesse für Tontäfelchen, aber auch für die mit- telalterlichen Pergamente relativierte. Mit den Pergamenten war in Europa seit dem 4. Jahrhundert die schriftliche Rechtskultur und die Literatur eng mit der Materialität von Tierhaut verbunden, die beschrieben, bemalt und zur erneuten Nutzung abge- schabt wurde.42 Es handelte sich jedoch um einen toten und von seinem ehemaligen tierischen Träger extern genutzter, konservier- und haltbarer Beschreibstoff für die fortschreitende Kodifizierung des Lebens europäischer Gemeinschaften. Die Verbin- dung von Haut und Schrift gehörte somit grundsätzlich zur europäischen Tradition. Diesen vertrauten europäischen Kriterien widersprach aber nun Tilesius’ Schilderung der lebenden, menschlichen Haut als Material eines Kodex und damit als Textträger. Dieser Aspekt des Beschreibstoffes war für Tilesius auch nicht vorrangig. Ihm ging es darum, einerseits aufzuzeigen, dass die Südseeinsulaner eine Rechtskul- tur als Teil entstehender Staatlichkeit besaßen und andererseits den Charakter der Urkunden auf der Haut zu diskutieren. Friedrich Karl Weigand verwies in seinem Wör- terbuch der Synonyme 1843 auf das wichtigste Kriterium einer Urkunde, dass sie als Original mit ihren bleibenden Zeichen Beweiskraft habe.43 Ein solches Original im Sinne eines Dokuments lag laut Tilesius mit der Tätowierung auf den Körpern der Einwohner auf den Südseeinseln etwa durch die Anordnung der Zeichen sowie in der spezifischen Aussage des Inhalts bei jedem Einzelnen individuell vor. Der indi- gene Körper war, wenn man Tilesius Annahme weiterdenkt, Ausdruck seiner Rechts- fähigkeit, seiner rechtlichen Abhängigkeiten, Verpflichtungen oder Verbindlichkei- ten sowie seiner Rechte und Pflichten in der Gemeinschaft. Die Körper der gesamten lebenden Gemeinschaft bildeten somit einerseits eine Abbildung geltenden Rechts bzw. geltender Gesetze sowie die Verankerung des Einzelnen darin – etwa durch die Dokumentation seiner Vergehen oder seines Einklangs mit dem Gesetz. Es handelte sich um eine Kodifizierung der Gemeinschaft und zugleich eine Buchführung des Einzelnen44 im Zusammenhang mit dem Codex auf der Haut. Zugleich spiegelten die Körper nach Tilesius Rangstrukturen der Gemeinschaft und Besitz: Herrschaft oder Gefolgschaft, Reichtum oder Armut. Die Haut des Einzelnen fungierte als Schrift- träger. Normen und Politik schrieben sich auf den Körpern der Insulaner ein.45 Die

42 Dazu grundlegend Corbach 2003, 13–46; hier 11f. 43 Weigand 1840–1843. 44 Zu den frühneuzeitlichen Vorstellungen von Buchhaltung, den Notiz-, Ablage- und Ordnungssys- temen vgl. Heesen 2003, 263–286. 45 Alfons Labisch spricht von der Einwirkung von Politik auf die Körper der Menschen in einem poli- tischen System, indem sich etwa Gesundheits- oder Körperauffassungen nach den Auffassungen des Systems richten bzw. dieses widerspiegeln. Dies zeigt sich etwa in der Ausbildung eines nationalen Körperverständnisses, wie es aus der Turnerbewegung entstand. Nun ist bei den Tätowierungen das Einschreiben auf bzw. in die Körper wörtlich zu nehmen. Labisch 1998, 507–536; hier 524. Schrift auf Haut um 1800 239

Haut war als Manuskript Träger allgemein gültiger und spezifischer persönlicher Informationen, der Geschichte eines Lebens, ein Bericht über Verhaltenserwartun- gen und Verhalten. Der Körper eines Südseeinsulaners war demnach ein physischer, ein sozialer und ein politischer Körper. Durch die konsequente Fortführung gravierte sich im Laufe des Lebens einer Person seine gesamte persönliche Rechtsgeschichte und damit seine Rolle innerhalb der Gemeinschaft in seinen Körper. Das Äußere des Körpers avancierte zum Wissensspeicher, zum Archiv seiner Identität.46 Jedoch zu einem im Gegensatz zu den verschlossenen europäischen Archiven, wo das Archiv selbst Dokument und dieses sofort les- und erfassbar für alle Mitglieder der Gemein- schaft blieb. Die Haut bildete ein Dokument und ein Archiv im Sinne der Verwahrung des Dokuments in einem, das mit dem Tod des Trägers bzw. des Menschen endete und die Verfügbarkeit von Wissen über diese Person einstellte. Die Haut fungierte somit als begrenztes Gedächtnis von Ordnungen mit befristetem Erinnerungswert, kam aber der europäischen Sicht Tilesius’, wie eine Urkunde fungieren zu können, indem Originalität sichergestellt war, nach. Der lebende Körper als Rechtsdokument erschien somit zeitgenössisch möglich, Recht und Gesetz regelrecht inkorporiert. Tilesius zeigte seinen Lesern mit der Deutung der Hautzeichen, wie sich die Insula- ner von Naturwesen bzw. „edlen Wilden“, die bisher in Europa im Kontrast und als ideale Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft diskutiert worden waren, allmählich zu Kulturwesen als einer früh-bürgerlichen Gesellschaft wandelten. Die Zeichen auf der Haut waren für ihn Ausdruck des längst eingesetzten Denaturierungsprozesses. Das Ideal des „edlen Wilden“ in der Südsee war somit dekonstruiert. Doch wie waren Körperlichkeit und Schrift bzw. eine Textkultur auf oder mit dem Körper aus zeitgenössischer Sicht zu begründen? Das ausgehende 18. Jahrhundert widmete sich verstärkt der Frage nach dem Ursprung der Sprache. Johann Gottfried Herder beteiligte sich mit seiner Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache an der Beantwortung der Preisaufgabe der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin aus dem Jahr 1769: Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? Er erhielt für seine Position einer natürlichen, nicht göttlichen Sprachentstehung den ersten Preis. Dem Thema blieb Herder lange verbunden und setzte sich deshalb ausführlich mit den Auffassungen zur Entstehung der Sprache von Giambattista Vico (1668–1744) auseinander. In seiner Schrift Brief zur Beförderung der Humanität von 1793 fragte Herder im Anschluss an Vico nach dem Urgrund der metaphorischen Sprache des Menschen.47 Herder sah in der metaphorischen Sprache nicht nur reprä- sentative Zeichen von Vorstellungen, sondern emotionale Zeichen der Affekte und sinnlichen Triebe:

46 Landfester spricht von der Archivierung von Erinnerungen auf der Haut; Landfester 2005, 93f. 47 Trabant 1996, 232–251. 240 Susan Richter

Der Neapolitaner Giambattista Vico hatte in seinem geschichtsphilosophischen Werk La scienza nuova das Feld menschlicher Phänomene abgesteckt und gezeigt, dass der Mensch Initiator und Autor seiner Geschichte gewesen sei.48 Dabei kam es Vico darauf an, dass die Transformation der Natur durch den Menschen in eine soziale und zivilisierte Umgebung als schöpferisches Wirken des Menschen anzuse- hen sei, worin sich sein natürliches Wesen offenbarte. Durch dieses schöpferische Wirken des Menschen erlerne er auch die Prinzipien der Natur. Für Vico war Natur somit Entstehungs- und Wirkungskategorie. Zu diesem Schöpfungsprozess des Men- schen gehörte für Vico auch die Entwicklung von Zeichen und Sprache bei allen Völkern als Form der Kommunikation und als Grundlage zur Schaffung politischer Organisation sowie zur Konstituierung von Recht. Der Untersuchung von Etymolo- gien widmete sich Vico umfassend.49 Er verband Sprachschöpfung eng mit Körper- lichkeit. Sprachschöpfung war für ihn eine Form der corpolentissima fantasia.50 Dies galt nicht nur für die phonetische Sprache, sondern gleichzeitig für visuelle Zeichen der Schrift, für eine Urschrift. Für Vico stellten Lautsprache und Schrift „semioge- netische Zwillinge“51 dar, Schrift konnte sogar der Lautsprache in der Entwicklung vorausgehen. Der Beginn der Verwendung von visuellen Zeichen stellte für ihn ein parlare scrivendo, ein schreibendes Sprechen dar. Unter scrivere verstand er eine visualisierte Form des Zeichengebens oder Zeichenproduzierens, die eine visuelle Kommunikationsform ermöglichte.52 Unter graphé (Schrift) subsumierte Vico deshalb körperexterne mediale Praktiken wie etwa das Schreiben mit Griffeln, Federn etc. auf verschiedene Beschreibstoffe, aber ganz betont auch körperzentrierte oder vom Körper ausgehende Praktiken wie Gestik und Mimik, die verständliche Zeichen für das Gegenüber in die Luft schrieben. Der Körper ist für ihn Initiator und Produzent von Schriftlichkeit, jedoch nicht eindeutig mit einer Trägerfunktion ausgestattet, Zeichen abzubilden und zu speichern. Die Verankerung von Zeichen auf dem Körper, insbesondere der Haut, wird von Vico nicht thematisiert. Da die Reiseberichte zu den Tätowierungen der Südseeinsulaner erst in den späten 1760er und den nachfolgenden Jahren erschienen und erst in deren Kontext auch abendländische Beispiele aus der Antike diskutiert wurden, konnte diese körperliche Kommunikationsform der täto- wierten Haut von ihm nicht berücksichtigt werden. Dennoch liegt die Vorstellung des menschlichen Körpers als Träger von Zeichen und somit als Kommunikationsmedium durchaus nahe, verband Vico doch die Geschichte des Menschen unmittelbar mit seiner Leiblichkeit. So gelangte er zu der Einsicht, dass die ausschließliche schöpferi-

48 Vico 1928/1931. In deutscher Übersetzung vgl. Vico 1990, CXLVI und CLXI. Schlaffer 1990, 184ff. Fritzsch verweist auf Vicos Analyse menschlicher Gedanken und sozialer Kognitionen, durch die der Mensch nach Vico zu Wissenschaft der Natur und der menschlichen Dinge gelangt sei; Fritzsch 1985, 17. 49 Cacciatore 2002, 13, 61. 50 Vico 1928/1931, § 376. Vgl. dazu Wilhelm 2001, 183. 51 Vico 1928/1931, § 429. Wilhelm 2001, 187. 52 Vico 1928/1931, § 431. So auch Wilhelm 2001, 188. Schrift auf Haut um 1800 241

sche Quelle von Kultur und Geschichte der menschliche Körper sei, ein erkennender Körper, der in sich den Geist trage und somit als Spiegelbild des Universums fungie- re.53 Die materielle Natur des Menschen war schöpferischer Ausgangs- und gleichzei- tiger Bezugs- bzw. Reflexionspunkt der schöpferischen Akte und somit einer voran- schreitenden Kultur und Geschichte des Menschen. Vico bezog diese Sicht aus dem Mythos des Jupiter, dessen Körperlichkeit das gesamte Firmament ausmachte und der aus und auf seinem Körper durch Blitze oder Donner kommunizierte. Der Mensch tat es ihm als materielles Naturwesen nach. Somit kam dem lebendigen menschlichen Körper bei Vico mit der Doppelfunktion von erkennender Initiative und Reflexion von Kulturhandlungen auch eine natürliche mediale Trägerschaft, kommunikative Reprä- sentanz und Archivierung des kulturellen Handelns zu. Der erkennende Körper war Schöpfer einer Urschrift und zugleich Reflexionsort des Kommunizierten. Genau dies spiegelt sich in den Tätowierungen auf der Haut der Südseeinsulaner wider. Aus Vicos Konzeption von der Verbindung von Körper, Kommunikation und Refle- xion, die kulturübergreifend gilt, war also zeitgenössisch durchaus die menschliche Haut als Träger von Texten und Symbolen und somit von Narrativen und Nachrichten möglich. Der Körper und die Haut können nach diesen Vorstellungen als Manuskript dienen.

3 Fazit

Die Untersuchung hat zunächst gezeigt, dass trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Sitte und Kulturtechnik des Tätowierens in der Südsee diese Tatsache keinen Eingang in die deutschsprachigen ästhetischen Debatten oder die Diskussionen um Schrift, Urschrift oder Sprache des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts fand. Tätowierte Haut blieb ein vielpubliziertes Curiosum, diente aber weder als Beispiel noch als Argument in einem der Diskurse, noch widmeten zeitgenössische Wissenschaftler diesem anthropologischen Phänomen ihre gezielte Aufmerksamkeit. Dies mag daran liegen, dass die für Europa außergewöhnliche Materialität der lebenden menschli- chen Haut als Beschreibstoff und Textträger als zu fremd wahrgenommen wurde. Ganz vereinzelt wurde auf Propagandaflugblättern des Dreißigjährigen Krieges ein menschlicher Körper als Träger von Auszügen aus der Heiligen Schrift dargestellt. Es handelte sich dabei aber um ein Konstrukt, eine Metapher bzw. eine Personifikation der Idea Religionis, bildlich auf dem Papier entworfen, nicht um eine reale und vor allem verbreitete Nutzung von Haut als Medium zur Verkündigung von Gottes Wort.54

53 Kleimann 2009, 245, 247. 54 Auf das Flugblatt Idea Religionis verweist Landfester und geht davon aus, dass es Ähnlichkeiten mit der Anordnung von Tätowierungen aufweist; Landfester 2005, 92f. 242 Susan Richter

Die Ähnlichkeit mit eigenkulturellen Gegebenheiten und eine Innovationskraft als interessantes Novum lagen offensichtlich bei den Berichten über die Tätowierungen in der Südsee nicht vor. Das Verhältnis von lebendiger Haut und schmerzhaft eingra- vierten Zeichen führte somit zu einer auffälligen Nichtwahrnehmung. Die in dieser knappen Skizze aufgezeigten möglichen Deutungsmuster (ohne Anspruch auf Voll- ständigkeit) lagen den Zeitgenossen vor und hätten die Tätowierungen erklären bzw. einordnen helfen können. Doch sie wurden nicht einmal von denjenigen herange- zogen, die sich der Entschlüsselung bzw. Deutung widmeten: den Reisenden selbst. Einigen wenigen wie Tilesius ist jedoch die ausführliche Beschäftigung und Deutung der Zeichen auf der Haut zu verdanken. Den lebendenden menschlichen Körper, insbesondere die Materialität der Haut, verstand er als Medium einer juris- tischen und zur Staatsbildung beitragenden Textkultur. Aus seinen Ausführungen ergibt sich der Schluss, dass für Tilesius die Kulturen der Südsee, die ihre lebende Haut als offizielles Kommunikationsmittel nutzten, nicht mehr als manuskriptlose Kulturen zu verstehen waren. Tilesius war somit ein Wissenschaftler, der mit dieser Sicht auf die fremdkulturellen Praktiken der Tätowierung den Weg zu Jacques Derri- das Axiom, es gäbe keine schriftlosen Kulturen, frühzeitig mit bereitete.55

Quellen

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55 Derrida ging auch von der Materialität der Schrift aus, die im Kontrast zur Stimme stehe. Thiel 1997, 60–98; hier 73f. Kimmerle 2000, 40f. Schrift auf Haut um 1800 243

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Annette Kehnel “Use my body like the pages of a book” Tracing the ‘body inscribed’ as a conceptual metaphor for the experience of life in Western Thought and Tradition

This article focuses on the human body as “Textträger”, as an inscribable entity, the material onto which a text can be inscribed or imposed and from which this text is to be read and communicated. It explores the embedding of the ‘body inscribed’ in the metaphorical understanding of life as a text (a book, a chapter) that imprints itself on human beings as ‘parchment’.

1 Prologue

In her paper on ‘Foucault and the Paradox of Bodily Inscriptions’ (1989), Judith Butler criticised Foucault’s notion of the body as a site where regimes of discourse and power inscribe themselves. She points to the fact that “to speak in this way invaria- bly suggests that there is a body that is in some sense there, pre-given, existentially available to become the site of its own ostensible construction.”1 She goes on to argue passionately against the existence of a body proper, against a body as an object or surface on which constructions occur, against the notion of ‘a body’ seen as ontolog- ically distinct from the process of construction it undergoes. Foucault’s notion of the ‘body inscribed’ – Butler wants to say – implies a return to the notion of the body as a given fact of nature rather than a contingent effect of power. There can be no doubt that this idea of the constructed body has great merits. It radically opposed the political abuse of concepts such as race, gender, class, crim- inality, colour, and so forth, and it deconstructed the biological reductionisms that accompanied the rise of modernity and their repeated use and abuse for political pur- poses. On the other hand, a real disadvantage was its forgetfulness about the physical body, the body in the flesh, and – following on from this – a notorious incapacity to engage with more recent theories and modes of thinking about the way realities are perceived and constructed, theories that try to take into account the very materiality of the bodies and brains that actually experience and try to make sense of the world. I am thinking in the first instance of the concept of embodied cognition, developed in philosophy, cognitive science, and linguistics in the last thirty years or so, which

1 Butler 1989, 601.

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takes the physical body seriously as the material foundation that enables and shapes human experience and the process of understanding, interpreting and making sense of things. The idea is that the basic concepts underlying human understanding of the world are grounded in bodily experience. In ‘Metaphors We Live By’, George Lakoff and Mark Johnson (1980) first developed the idea of ‘conceptual metaphors’; they argued that all abstract concepts in our minds are grounded metaphorically in embodied and situated knowledge. From there an extremely imaginative research project took off, enquiring about the role of embodied experience in thought and lan- guage, seeking to find out more about the interaction of bodily experience and mental concepts. Experimental research in Embodied and Grounded Cognition has gone on in many interesting ways to analyse the forms of interaction between bodily percep- tion and mental concepts.2 To name just one very straightforward example, there are the experimental studies done by Zhong and Leonardelli under the heading ‘cold and lonely’, which showed that body temperature affects our dispositions. In their exper- iments, people were asked to fill out a trait assessment questionnaire for a randomly chosen person whilst holding either a hot or cold drink. People holding a warm drink were more likely to rate the target person as being warm and friendly than those who held the cold drink.3 Raymond Gibbs draws attention to what he calls ‘embodied sim- ulations‘, stressing that we imagine (simulate) real life experience, bodily activities, and perceptions in our use of language. His research also makes clear that it is not simply the bodily experience in the strict sense that matters for ‘concept making’, but also the way imagination plays with bodily experience. His examples, such as “chew an idea”, “grasp an argument”, “throw away friendship”, or “cough up a secret”, stress the element of simulation, the weight put on imagination, on phantasies, on simulated bodily experience when we put our experience into words, as in the ‘body in mind’ metaphor employed by Mark Johnson in his book on the bodily basis of meaning, imagination, and reason.4 In this paper I want to contribute to this discussion, not by experimental research, as psychologists might do, but by what might be called excavations in the cultural memories of our metaphors. In particular I am interested in the metaphor that depicts life as a text that inscribes itself into ‘Textträger’, of life as constituting a story that imprints intself on human beings as writing material.

Thus the image is used in political speech. Obama’s speech on the eve of the 13th of April 2013, when the assassin Tsarnaev was taken into custody by the police after the Boston Marathon bombing, uses the metaphor: “We’ve closed an important chapter in this tragedy”.

2 Barsalou 2008; Gibbs 2010. 3 Ritchie 2013, 99, cf. Barsalou 2010, Zhong/Leonardelli 2008. 4 Gibbs 2010; Johnson 1999. “Use my body like the pages of a book” 249

“It’s high time that we close the chapter on August war 2008” was the way Alex- ander Ankvab formulated his hopes for better relations between the Abkhazians and Russia five years after the war. Lyrics frequently refer to the image: “One closed chapter opens up another part” (Kanye West in “Don’t Look Down”). Phrases such as “Chapters open, chapters close”, “Closing a chapter in life can be both difficult and joyous” turn up when people speak about how to handle changes in life. We also find the image of the ‘body inscribed’ in sentences such as “Life has marked him” (“Das Leben hat ihn gezeichnet” in German), and the instruction “to memorise something” as “writing it behind your ears” at least in German (“Schreib Dir das hinter die Ohren!”). And finally there is a contemporary imagery that employs the ‘body inscribed’ even more radically as a metaphor for lovers, describing the experience of loving and being loved as a process of mutual bodily inscriptions: With the invitation “Use my body like the pages of a book”, Jerome, the lover, offers a future for the love between him and Nagiko, the heroine in Peter Greenaway’s Film “The Pillow Book”. I will return to this phrase in the epilogue to this study. The theoretical concept of the Heidelberg SFB “Materiale Textkulturen”, with its focus on the material and bodily foundations of text practice in pre-modern cultures, inspired the inquiry into this particular strand in Western thought, a tradition that understands human experience in the image of the human body inscribed by the text of life: The human body as ‘Textträger’, an inscribable entity, the material onto which a text can be inscribed or imposed and from which this text is to be read and commu- nicated.5 I will start from the constructivist concept of bodily inscriptions as developed by Foucault and criticised by Butler, developing it further and transferring it to the field of embodied cognition. It is hoped thus to widen our understanding of the body in its composite nature, both as a discursive event and as a natural fact in terms of the material grounding for experience and interpretation. The keyword then would

5 The term ‘Textträger’ stems from Gordon 2002, 70. When Diamantis Panagiotopoulos and the Alter- tumswissenschaftliche Kolleg at the University Heidelberg invited me to work together on the theme we first set out to create a history of cultural practices of textbearing, starting from liturgical practi- ces of carrying gospel books during processions, through the traditio legis imagery, down to the late medieval “Beutelbuch”. However, recent developments favoured a focus on the exploration of the human body proper in its quality as a ‘Textträger’. Therefore I concentrated on the premodern imagery depicting the human body in its very quality as the material surface onto which texts are written or otherwise applied. The recent fascination with anthropodermic parchments and especially bookbin- dings made from human skin in a number of volumes in Harvard libraries namely in the Harvard Law School, the Rare Books and Manuscripts Library and the Countway Library of Medicine will not be dealt with in the article. Cf. the recent advice for caution http://etseq.law.harvard.edu/2014/04/852- rare-old-books-new-technologies-and-the-human-skin-book-at-hls/ (Retrieved 28.8.2014) 250 Annette Kehnel

be embodied experience; the aim would be to supply another metaphor – more pre- cisely a meta-metaphor – that allows us to talk about the natural body in its function as ‘experience-maker’, on which every single process of making sense is grounded, stored in the materiality of the body like a text on the pages of a book, thus adding to the research in embodied cognition from the point of view of a historical anthropolo- gist, who works on the conceptual metaphor of ‘bearing’.6 We work from three pre-modern examples – from Flemish art in the late 16th century, medieval English lyrics from the 14th century, and early medieval liturgical practice in the late 10th century – which depict the body in three specific ways as the material precondition for experience and link it with specific sets of mental and cultural concepts, with stories about the pains of hell, the longing for salvation and the burdens of power. Or to put it in another way, the three examples highlight an understanding of human experience as an interplay between the materiality of the body inscribed and that of the ‘inscriber’. The human body proper as ‘Textträger’ in an active mode is a body that in its very materiality experiences, stores and bears with it the texts inscribed onto it in the course of life. On the other hand, the ‘acteur’, the ‘inscriber’ of these texts is experience: the physical experience of human life imposed on the body as factual imposition (‘Zumutung’), stories narrated into the skin and flesh of the human body in its physical materiality. In the epilogue we will briefly turn to calligraphy on human parchment in Peter Greenaway’s film “The Pillow Book”.

6 Cf. my research project Homo portans. A study of the bearing-element in culture http://homo- portans.de/ (Retrieved 28.8.2014). The project explores the human ‘capacity of bearing’ as a decisive element in the history and development of human cultures. It aims to trace the long-term evolution of the ‘bearing element’ in culture, found in material artefacts, social practices and discourses as a mental concept, with solid bodily foundations in the universal human experience of bearing and being borne. Homo portans aims at a comprehensive exploration of the human ‘capacity of bearing’, structured in three mutually complementary approaches: a) as a physical activity with vast consequences for the development of human cultures starting from the great human expansions “out of Africa” some 100,000 years ago down to present-day migrations or global mobility concepts; b) as a universal bodily and mental experience that shapes concepts of perception both negative (being weary and burdened), and positive (being capable of bearing) both in the active and in the passive mode; and c) as a “metaphor we live by” in the sense of Lakoff and Johnson, that is, a conceptual metaphor constructing meaning as reflected in many languages (e.g. something important carries weight, we are placing a burden on someone, we are bearing responsibility, consequences, costs, guilt, titles, blame, etc.). The project aims to take up these linguistic ‘incidents’ and outlines a new field of research for inter- disciplinary approaches to the nature of human cultures (patterns of interpretation, constructions of meaning, representation of identities etc.) by tracing the long-term evolution of the ‘bearing element’ in culture. “Use my body like the pages of a book” 251

2 Three case studies from the pre-modern period

2.1 Case Study 1: The body inscribed ‘in use’ as book of music. A detail from Hieronymus Bosch’s Garden of Earthly Delights

The first case study is deliberately provocative and begins in the comic mode: The depiction of a body inscribed with a musical score on the buttocks.

Fig 1: The “Bottom Book of Music”. Hieronymus Bosch, The Garden of Earthly Delights (Detail).

The scene is one of the many amusing details in Hieronymus Bosch’s triptych known as the Garden of Earthly Delights, in the Prado in Madrid. It is situated on the right wing of the triptych, where the delights and the tortures of Hell are illustrated. The mood of the wing is that of a night-time scene in Hell, which – to follow Beltings’ mar- vellous description – appears in the foreground like a torture chamber and darkens towards a background filled with countless episodes. The many motifs make the work appear like a compendium.7 The torture chamber exercises torture in the ‘musical’

7 Belting 2002, 20. 252 Annette Kehnel

mode. Gigantic musical instruments are transformed into instruments of torture: Two sinners are crucified on the strings of an instrument which is a hybrid of a harp and a lute. Next to them a naked crowd – an angelic choir? – led by a monstrous choir master with a frog’s mouth, is bawling notes from a score inscribed on the buttocks of the poor soul stuck under the gigantic body of the hybrid instrument. Further to the right we find a howling horde of woodwind and percussion beneath an upturned hurdy-gurdy. Another poor soul has been placed in a drum that is beaten constantly by a devil. Above him we find a man with a round red face and blown-up cheeks who plays an oversized oboe. Behind them we find another crowd of men in pain, trying to close their ears with their hands to escape the tortures of the hellish music, but apparently without success.8 I cannot here go into all of the possible interpretations of this magnificent piece of work. Belting suggests that it means that there is no need for the world to wait for Hell. In the hands of humankind, it has already become hell on earth. He points to the fact that the punishment of cardinal sin by a distorted version of sinful pleasure, as presented here by Bosch, was also a conventional notion at the time, though Bosch’s fantastic imagery goes far beyond the norm.9 De Certeau, on the other hand, who speaks of a crisis of signification in Bosch’s work, stresses that the Garden intentionally invites and frustrates the beholder’s desire to decipher visual signs, and insists upon the image’s refusal to be totalized by a verbal commentary.10 For the present purpose it is important to note that the martyrdom of the body with a musical score on its buttocks, while rendered immobile by being stuck under the body of a giant instrument, opens up an ambivalence between the pains of public exposure and use (the choir sings the notes from the person’s buttocks) and the pleas- ures of sexual satisfaction. This might be inferred from the relatively relaxed and quiet impression of the body inscribed – at least the visible parts of it – which does not resist being used. On the contrary, the posture seems to imply a certain degree of concentrated occupation, maybe a rather satisfactory occupation that could result from sexual interaction with the abdomen of a second body also stuck under the lute on the other side. We have here an extraordinary and otherwise unknown imagery of a body inscribed on the privy parts, in public use as a musical score, at the same time involved (maybe?) in sexual activity with another body, both stuck between a gigantic third body (a womb?) composed of the musical instrument and an oversized scorebook. Pains and pleasures of the body, inscribed as a body being used, seem to interact here in a most remarkable way.

8 Belting 2002, 38; Zuffi 2012, 83. 9 Ibid., 35 10 De Certeau 1995, 59. “Use my body like the pages of a book” 253

Fig 2: The Garden of Earthly Delights by Hieronymus Bosch (Detail from the left wing of the triptych).

Belting and others have pointed to the fact that this kind of musical torture has no precedent in literature. This fact, however, should not distract from the apparent modelling of the tortures of hell here depicted on the crucifixion of Christ, a crucifix- ion in the comic mode, with the typical instruments of the Arma Christi:11 Three men

11 Verderber 2014, 203–204, who points to Bosch’s general rejection of the conventional depiction 254 Annette Kehnel

on three crosses. While the central figure is stretched on the strings of an oversized harp, we find the second sinner to his right chained to the bridge of the lute part of the hybrid instrument of musical martyrdom. Both men are in even greater pain in view of the large black snails winding round the wooden stems of their musical ‘crosses’. The third man in the gesture of the crucified is situated to the left of the central cross, beside the hurdy-gurdy turned upside down. He is depicted with arms widespread in the shape of the cross, falling to his right side, supported by black hands that grasp the upper part of his breast. He seems to be having a breakdown from the extraordi- nary noises that surround him, and from the torments of cacophony. In the same part of the image, right in front of him, another sinner, bent forward, heavily burdened with the weight of the oversized oboe, resembles Christ bearing the cross, his body pierced by a flute stuck in his back. The imagery of musical torture displayed in this hell plays with the instruments of torture displayed in the tradi- tion of the Arma Christi. The crown of thorns might be alluded to in the flower girdle round the opening of the lute. A lance with an indefinable black item (a sponge in the shape of a toad) reaches into the image from the left; the bridge of the lute might also be interpreted as the column, whilst hammer and nails appear in the figure of the gambler nailed to the tavern table in the foreground of the picture. The dice – repre- senting the lots cast for the robe of Christ – appear together with an amputated hand pierced by a knife – on the shield held by the bird-like creature beating him with a rod scourge. Nearby, the dice are cast to roll across the board of a game that has been lost. Thus the body inscribed with the musical score is embedded into this imagery of the suffering of Christ. It is being victimised, tortured by musical pains, stuck in between the hellish oversized instrument over his body and an oversized music book under it. At the same time, the body is used by the choir as a score, thus enforcing the pains of this musical hell. The body itself turns into an instrument of torture – a body inscribed that helps to increase the pains of hell. This allusion to the crucifixion of Christ leads us on to the next example, a liter- ary tradition that associates the body of Christ on the cross with the pains of his body being inscribed like the parchment used to issue a charter.

2.2 Case Study 2: The body inscribed enacting Salvation: the body of Christ on the Cross as parchment for a charter

The imagery of the body of Christ on the Cross used as parchment for the charter of salvation first appears in the English literary tradition in a Franciscan sermon book

of the arma Christi. This detail in the garden of delights, with its striking allusions to the crucifixion, therefore seems even more remarkable. “Use my body like the pages of a book” 255

around the year 1300: the Fasciculus Morum, edited by Siegfried Wenzel in 1989. In a rather longish meditation on the passion of Christ we find the following images:12 “And in the fifth place, Christ suffered and shed his blood so that he might exclude the devil from purchasing us. By his trick the devil had bought mankind from our first parents for less than its regular price – as it were, for an apple of very little value. But notice: we see everyday that he who offers more obtains the goods more easily. But Christ offered and gave more than the devil: not just an apple but his body and soul all together, that he might thus free us from the devil’s hard and cruel power through his bitter and terrible death. As a result, we are his children and not the devil’s. On that exchange he left a most reliable charter for us. Notice, that a charter that is written in blood carries with it extreme reliability and produces much admiration. Just such a charter did Christ write for us on the cross when he who was ‘beautiful above the sons of men’ stretched out his blessed body, as a parchment-maker can be seen to spread a hide in the sun. In this way Christ, when his hands and feet were nailed to the cross, offered his body like a charter to be written on. The nails in his hands were used as a quill, and his precious blood as ink. And thus, with this charter he restored to us the heritage that we had lost, as was explained above, in the sixth chapter of part X. ([…] set huiusmodi carta[m] scripsit nobis in cruce quando ‘speciosus forma pre filiis hominum’ corpus suum benedictum extendit, sicut pergamenarius ad solem per- gamenum explicare videtur. Sic Christus minibus et pedibus in cruce affixus corpus suum ad cartam scribendam exposuit; clavos eciam in manibus habuit pro calamo, sanguinem preciosum pro encausto.” (p. 212) Here we have one of the earliest expressions of the idea of Christ’s body stretched on the cross, being used as parchment for the charter of love, written with his blood, enacting the deed of salvation. Miri Rubin speaks of this striking imagery as an artic- ulation of the Passion through Eucharistic symbolism.13 Using the metaphor of a legal document, the promise made by Christ’s suffering body was inscribed on a parch- ment, the undertaking to be renewed and to offer redemption. The charter confirms the exchange of Christ’s sacrificed body, which brought the hope of redemption for Man’s love. It is a document inscribed on the crucified body, with the wounds as its script. Rubin points to the dizzying qualities of this metaphor: Christ as parchment: one can smell the body in the parchment that had covered it. Christ’s skin is the parchment, his wounds its letters, his blood the sealing wax, and the Eucharist, that section of the charter left for safekeeping in the hands of those striking the legal trans- action.

12 Wenzel 1989, 212–213. 13 Rubin 1991, 306–308. Cf. for the legal character of bodily inscriptions the example of Heinrich Seuse in the third example in the first paper of the present volume by Ludger Lieb and Michael Ott; also the contribution by Susan Richter, Schrift auf Haut. 256 Annette Kehnel

Fig. 3: Christ’s crucified body depicted as a charter and inscribed with the text of the Short Charter. London British Library, MS Additional 37049, fol. 23r (ca. 1400–50) from Steiner 2003, p. 86, fig 8. “Use my body like the pages of a book” 257

In the course of the 14th century the idea was further developed in English lyrics in a poem called the Long Charter of Christ, a Passion lyric from around 1350, described by Emily Steiner as a rather elaborate apocryphal retelling of Christ’s life, told by Christ himself from the Cross (Incarnation, Temptation, Last Supper, Resurrection, Harrowing of Hell, Celebration of the Mass). The crucifixion is depicted as a process of the bloody inscription of a charter using the body of Christ as parchment. The Har- rowing of Hell is the renegotiation of the contract, and the Eucharist is the indenture of the charter issued for security and remembrance. The charter itself, the centrepiece of the poem, grants heavenly bliss to all readers and listeners in exchange for a ‘rent’ of perfect penance. In contrast to the previous example, the imagery of the body of Christ as the parchment of a charter had a fair distribution. Steiner mentions more than twenty manuscripts containing this poem, and another twenty-five manuscripts that contain a shorter version, called the Short Charter, and a prose text called the Charter of Heaven. After 1400, revised versions of the Long Charter came into circu- lation. The rise of this literary form has been contextualized within an ever growing understanding of social life in terms of legal bonds, in a period in which justice was increasingly centred on the written record and in which royal bureaucracy and also personal bonds were verging on vernacularization, a point of intersection between vernacular theology and vernacular legality.14 Cristina Maria Cervone, in her wonder- ful book on the poetics of incarnation, develops the implications of this imagery in a most powerful and imaginative way under the heading “When Christ as a ‘Doer’ is also the ‘Love Deed’”. The “Word made flesh” speaks from the Cross the words of the charter of salvation, describing it as being written by and on his own human body. The poet envisions Christ’s skin as proclaiming his lordship heraldically by livery, then reimagines Christ’s skin as if it were parchment for the charter. Her interest focuses on the poetical ways of thinking about Christ’s humanity. This chapter examines agency and action within narrative, particularly the kenotic agency of God’s language of love as 14th-century authors see it:15

Ne myȝte I fynde no parchemyn ffor to laston wel and fyn But as loue bad me do Myn owne skyn y ȝaf þer-to …………. 51 To a pyler I was plyȝt

54 I tugged and tawed al a nyȝt And waschon in myn ovne blod 75 And streyte y-streyned vpon þe rod

14 Steiner 2003, 193; Cervone 2012, 86-94, 238–239, n. 2 for full bibliographical references. 15 Cervone 2012, 87–9, line 51–99. 258 Annette Kehnel

Streyned to drye vp-on an a tre As parchemyn oveth for to be Hereþ now and ȝe shulle weton Hou þis chartre was y-wryton Vpon my neb was mad þe enke 80 Of iewes spotel on me to stynke The pennes þat þe lettres wryton Weron scories þat I wiþ was smyton Hou many lettres þer on ben Red and þou maist weton and sen 85 ffive thousand CCCC fifty and ten Woundes on me boþe rede and wen To shew ȝou alle my loue dede Mi self I w[ill] þe chartre rede Ȝe men þat gon forþ by the weye 90 Abideth and lokeþ with ȝoure ye And redeþ on þis parchemyn Ȝif eny serwe be lyk to myn O uos omnes qui transitis per viam attendite Wiþstondeþ and hereþ þis chatre rad 95 Whi I am wounded an al for-blad

The speaking subject of the poem, Christ himself, offers his very skin – suitably stretched and dried on the Cross, as parchment ought to be, as material on which to write a charter in order to make the conveyance of his gift (redemption) as secure as possible. I follow Cervone’s interpretation in the following description:16 The image of Christ’s skin, stretched and dried as if it were parchment, is a specifically imagined, painful reminder of the cruel reality of his suffering on the Cross. It heightens the emotional intensity of this vivid narrative. The poet insists over and over again on the shocking notion that Christ offered his skin as parchment. The passage relies on the strong contrast between the overwhelmingly sickening wetness of “washon in myn ovne blod” and the unendurable stretch and desiccation of “streyned to drye vp-on a tre”. Cervone reminds us that anyone who has been cut suddenly and deeply can identify with the instinctive horror experienced at the first gush of blood and drop in blood pressure. In the same way, the poet relies on his readers having experienced some discomfort from pulling or even touching badly dried-out skin. The bodily activ- ities of ‘tugged’ (76), ‘tawed’ (76), and ‘washon’ (77) give way to the apparently passive pain of ‘streyned’ (78 and 79). However, the appearance of the parchment’s passivity is deceptive, for what is described is a case of the body’s active sufferance. As to the reasons for the use of Christ’s skin as parchment, we are told that they lie in his poverty: he had no parchment and therefore gave his skin. Cervone reminds us

16 Cervone 2012, 88. “Use my body like the pages of a book” 259

of the powerful play with the bodily pains in the choice of verbs and adverbs (‘streyte’ (tautly)/‘y-streyned’ (stretched), ‘to drye’ in painful contrast to ‘waschon in myn ovne blod’). Moreover, there is implicit approval of the use of Christ’s body because of the special suitability of this particular skin for this particular task. The gift of the donor’s very own skin, which at the same time necessitates his death, paradoxically reiter- ates the largesse of his gift of eternal life. Cervone points out how this reinforces the notion, expressed early in the poem, that the kenotic act of Incarnation (a deed) initi- ates the gift of salvation (a deed). “From its inception within the narrative, the charter metaphor reinforces Christ’s lordship, his aristocratic heritage, and his concomitant lordly responsibilities.”17 Christ next makes his own agency clear by indicating how the charter itself was written and what it says. Writing the charter was his idea, he explains, and as lord he is the one who gives the gift. He does not write the charter with his own hand, however; the Jews act as his scribes, writing out his intent: their scornful spitting is the ink, their scourges the pens, the red wound from scourging the rubrication. The reading of the charter continues: Christ’s humanity both enables and embod- ies the poem’s poetic conceit of the ‘love deed’. Indeed, his wounded human body serves as a central pivot for the poem’s form, physically voicing the words of the nar- rative enacted both by and on itself. […] After reading the text of the charter, Christ notes that the deed was sealed with the five wounds, impressed on the sealing wax of flowing blood. Christ then goes on to say that because the charter was written on his skin, he must journey to hell in person to show the charter to the devil. In a wonderful exten- sion of the charter metaphor, he explains that he will leave an indenture (copy for the grantee) on earth in the form of the Eucharist. The metaphor of Eucharist-as-indenture ensures that all Christians, living and yet-to-be-born, may obtain an efficacious copy of Christ’s body, the charter. There is no limit to the number of indentures possible, and each indenture retains the power of the original without diminishing that original; so too, each Eucharist host bears the efficacy of the original hostia without diminishing that original. Christ’s body, his skin, becomes the vehicle for the message of salvation while his body, the Eucharist, is the infinetely replicable form available to Christians throughout time. The original grantor’s copy, his crucified body, is preserved archivally in heaven until needed as a witness at the end of time.18 The body is inscribed in action. The painful and lethal experience of being sac- rificed empowers the body to enact salvation. In the process of being inscribed with the utterly unbearable, the body proper acquires qualities hitherto unknown to it: The capacity to enact ultimate freedom in a position of ultimate constriction, stretched

17 Cervone 2012, 88. 18 Ibid., 91. 260 Annette Kehnel

on the cross, unable to move, dried out, treated and written upon like a parchment by the parchment-maker, and finally sealed with the wounds of Christ, the seals of death. Here the history of salvation, the human need for redemption, is translated into the imagery of the body inscribed acquiring transforming powers, the transform- ing powers of a story inscribed into the body of a human being, in a way that is to be read by others: we might call the process a process of production of material virtual- ities in which the story of salvation is inscribed in the body of suffering humankind, unable to accept defeat, transforming its hope for redemption in a material proof of victory: a charter, a legal document the validity of which lies beyond doubt. In fact, this imagery of the body inscribed took shape in a way in Foucault’s later work, when he concentrated more and more on issues relating to the care of the self and the other. A project that emerged out of his concern for asceticism and ‘spiritual- ity’, not in the Christian sense but rather borrowed from the Greek notion of salvation (sozein) as the idea of caring for the self, the purpose of which was to ensure the well- being, the good condition of someone, or something or of a collective – “a pro-active taking care of, guarding, and perhaps nourishing the goods of one’s life, material and spiritual”.19

Foucault’s striving for salvation in this sense brings back the universal dimensions of the need for salvation, expressed in different cultures in different ways. The body of Christ imagined as the parchment for a document that enacts salvation once and for all in the form of a charter is thus a most powerful image for the act of salvation through the bodily gift of love.

2.3 Case Study 3: “The body imposed” with the burden of the book: The gospel laid on the back of the future bishop of Rome

Whereas the foregoing examples portrayed the materiality of the body in its quality as material to be written upon, the third – and chronologically earliest – example high- lights the body as ‘Textträger’ in the very literal sense. It depicts the body laden with the weight of a text imposed on it: The body of the future bishop of Rome as ‘bearer of the gospel’ on his back; more precisely, on the nape of his neck. This at first sight seems a very unusual way to use text, a rather unusual ‘text practice’: A book with its pages opened up, laid on the back of a person in a semi-in- clined posture. It forms part of the liturgical rituals that accompany the ordination of a bishop. Our knowledge stems from liturgical books with the words of the texts and the gestures to be performed on the occasion, the so-called ordines.

19 Rabinow 2009, 39f. “Use my body like the pages of a book” 261

The earliest sources attest to the ritual date as far back as the 6th century A.D., when we find mention of the Impositio Evangeliorum, the imposition of the open Gospel on the body of the bishop of Rome on the occasion of his ordination, in the Chancery Book of the Roman Curia, the Liber Diurnus Romanorum Pontificum. In the chapter “Der ordinatione pontificis”, in the rules for the ceremony we find the following instruction: The bishops present at the occasion are to say prayers over the candidate to be promoted to the bishopric, they lay their hands on the head of the candidate, and after that the open gospel is to be laid on the candidate’s head (super caput!) by the deacons present. (“Postmodum adducuntur euangelia et aperiuntur et tenentur super caput electi a diaconibus”).20 The mention of the head as the place where the gospel is to be placed is usually interpreted as a sign that this ritual element was taken over from the East, where it had been known in the 4th century as part of the ordination ceremony in the apostolic constitutions. It seems clear that it came as a new rite to Rome in the 6th century. Future developments to be reconstructed from the so-called Statuta ecclesiae antiqua preserved the Impositio Evangeliorum. It still forms part of the ordination ceremony in a slightly changed mode, however: two bishops hold and lay the open evangile on the neck of the future , one of them says the benediction, and the other bishops present touch the head of the candidate with their hand.21 So it is no longer the deacons, but the bishops themselves that lay on the gospel. Moreover, they lay it on the candidate’s neck, rather than on his head. Richter sees here an evolutionary development in the rite, possibly triggered by a tendency to diminish the role of the deacons, and secondly for rather pragmatic reasons: The bishops simply got tired of holding the heavy gospel, with its cover and the precious stones on it, over the head of the candidate, so they rested it on his neck.22 That expla- nation, however, did not ring true for contemporary medieval minds: The imposition of the gospel was paralleled with the joke mentioned by Christ in Mt 11,30, about the

20 Liber Diurnus 1958, 209ff., here 318; cf. Richter 1972, 20–22; see 13, n. 63 for the wording of the whole ordo: “Psallent secundum consuetudinem. Procedit electus de secretario cum cereostatis sep- tem et venit ad confessionem. Et post laetaniam ascendunt ad sedem simul episcopi et presbiteri. Tunc episcopus Albanensis dat orationem primam. Deinde episcopus Portuensis dat orationem se- cundam. Postmodum adducuntur evangelia et aperiuntur et tenentur super caput electi a diaconibus. Tunc episcopus Ostiensis consecrat eum pontificem. Post hoc archidiaconus mittit ei pallium. Deinde ascendit ad sedem et dat pacem omnibus sacerdotibus et dicit ‘Gloria in excelsis Deo’” 21 Kleinheyer 1984, 37f., Handauflegung und Ordinationsgebete. Canon 90 of the Statuta ecclesiae antiqua: 90: “Episcopus cum ordinatur, duo episcopi ponant et teneant evangeliorum codicem super cervicem eius, et unus super eum fundente benedictionem, reliqui omnes episcopi, qui adsunt, mani- bus suis caput eius tangant.” Cf. Kleinheyer 1962, 65–66. 22 Richter 1972, 21 with reference to Botte, B. L’ordre d’apres les prieres d’ordination (Lex orandi 22), Paris 1957, 19. I was not able to trace the reference. 262 Annette Kehnel

responsibility to preach the gospel mentioned by Paul as a great burden (“Woe is me if I do not preach the gospel!”, 1 Cor 9,16).23 The image of the text of the gospel laid open on the back of the future bishop of Rome is quite remarkable, and remained confined to the ordination of the .24 Engels mentions a letter by Pope Urban II from the late 11th cent. where he discusses the implications of onction and points out the difference between forma and virtus sacramenti. Whereas virtus might get lost, in case the ordained leaves the community of the church, the forma of a sacrament, he says, functions like a seal, once imprinted on the body it stays with its bearer for ever and enables him to exercise spiritual power. The gospelbook imposed on the candidate might be best compared to a seal, impressed onto the pope’s body as writing material for the continuation of God’s salv- ific history with humankind.25 I even found a depiction of exactly this element in the ordo, namely in the Sacramentary of Warmundus of Ivrea, drawn up around the year 1000.

Fig. 4: Impositio Evangeliorum. Ordination of Pope Sylvester II in the Warmund-Sakramentary (Detail), Bibliotheca Capitulare Ivrea, cod. LXXXVI, fol. 8r (Mariaux 2002, Planche 4).

23 Lengeling 1962, 19. 24 Engels 1987, 717. 25 Ibid. 727. “Use my body like the pages of a book” 263

The scene depicts the ordination of Pope Sylvester II. We see here the very moment of the Impositio, depicted in double: a deacon in blue standing behind the candidate holds the open gospel over the candidate’s head. At the same time, there is something lying on the candidate’s back. It is implausible that the item could be part of the garment, since it is not attached by laces or anything else. Quite obviously, the item depicts the beautiful binding of a bound manuscript laid upside-down, with the pages opened on the back of the Pope-to-be.26 In order to ensure that the book does not fall, the candidate’s body has to stay in a bowing position. The book is not only a load to bear for the candidate, it also forces him into a rather uncomfortable posture: A posture of submission to the text of the book to be borne. Whereas modern research on liturgical studies is rather sceptical about this ritual element within the ordination ordo for the Pope (as we have seen with regard to Richter), contemporary theologians were happy to interpret the act and give it a spiritual meaning.27 First there is the obvious reference to the weight of the office that the candidate is about to take on. The Impositio Evangeliorum calls to mind – and to body! – the factual weight linked to the office. The ‘onus apostolicae sedis’ here materializes in the weight of the gospel book laid on the body of the future Pope. Later this ‘onus’ also found expression in the ever increasing size and weight of the Pope’s Crown, the tiara,28 and in the 13th century Pope Clement IV, in a letter to a cardinal priest, liter- ally decribes the office as a burden, and seeks support to bear the ‘onus apostolicae sedis’.29 Another interpretation seems to ascribe transformatory powers to the act of impo- sition of the gospel book. This dimension implies analogies to contemporary magical practices, as inherent in the carrying of amulets. Maybe this is the reason why some early medieval interpreters, such as Amalar von Metz, doubt the legitimacy of this ritual element “Dicit …ut duo episcopi teneant evangelium super caput eius: quod neque vetus auctoritas intimat, neque apostolica traditio, neque canonica auctori- tas.”30 The word incarnate, the story of the gospel made flesh in the letters inscribed in the parchment of the gospel, is imposed on the body, into the flesh of the ritual can- didate, the future Bishop of Rome. This Impositio Evangeliorum is an ‘imposition’ on the body in the true sense of the word: it weighs heavy on the back of the candidate,

26 Thank you to Paul Binski and Patrick Zutshi (Cambridge), who kindly looked at the image and confirmed the identification of the item as an open book. 27 Santantoni 1976, 138–147. 28 Paravicini-Bagliani 2010, 52–53. 29 Pasztor 1999, 334. 30 Richter 1972, 22, note 128. 264 Annette Kehnel

it weighs him down and makes his body suffer the weight of the grand narrative of death and salvation told and retold by generations over the centuries. The act of the imposition has been interpreted as an act of communication between the text of the gospel and the texture of the body of the future Pope. In this sense the book itself, the weight that it puts on the body, the impression it makes on the skin is the actual instrument of inscription: the brush, which inscribes the body of the future Pope with the story that he now, as leader of the church, has to continue writing. Moreover, the book placed open and upside-down embraces the Pope’s body, turns it into a page within the volume, thus incorporating him into the grand narrative he is supposed to continue.

2.4 Conclusions of the case studies

We attempted to trace the imagery of the ‘body inscribed’ as a conceptual metaphor for the experience of life in Western Thought and Tradition, beginning with the obser- vation that in present-day language we often refer to the concept of ‘life as a book’ or life seen as a series of chapters. Phrases such as “Chapters open, chapters close”, or “We closed that chapter” are used to describe changes in life. In a more literal sense, the image of the ‘body inscribed’ appears in phrases such as “Life has marked him”, or in the admonition: “Präg Dir das ein”. In three case studies from the pre-modern period we have reconstructed different dimensions of the conceptual metaphor, all of them giving expression to the idea that experience inscribes itself onto the body, and – vice versa – that the body that lives it, writes the story of life. The book of music on the buttocks of a poor sinner, suffering the pains of musical hell, pictures the body inscribed as a body ‘in use’: a body exposed to the public (the choir) who witnesses the painful situation and sings from the body without sharing the pain. At the same time, the body inscribed seems to acknowledge its situation, inescapably stuck between the instruments of torture, suffering the process of being inscribed without resistance, finding other pleasures, maybe erotic satisfaction, in the shelter of the enormous body (womb) of the lute. The second example, the image of a document being written on the body of Christ on the Cross, who functions as a parchment for the Charter of Salvation, known from late medieval English passion lyrics, explores the body inscribed enacting salvation. In the drastic description of the painful process of producing the parchment (washed in blood, drenched, dried out and stretched on the cross with the nails) the reader suffers the process of inscription together with the body inscribed, and thus partici- pates in the deed of salvation. Here the body inscribed in its very materiality performs salvation, it suffers inscription with the aim of transforming suffering into the good of all. The body inscribed is a caring body in that it enacts salvation, thus taking an active part in the production of meaning (salut et solace). “Use my body like the pages of a book” 265

Finally, the body is inscribed in the imagery of the Impositio Evangeliorum as known from the Roman liturgy for the ordination of Popes since the late 6th century. Here the body inscribed is depicted as the body laden with the weight of the Gospel. The imposition of the open gospel book onto the back of the new Pope is a strong expression both for the weight of responsibility, the weight of the office, and for the inclusion of the body inscribed into the history told in the book. The body inscribed turns into a page of the book, of the story of life that he himself is supposed to con- tinue to write.

3 Epilogue

Let me end with Peter Greenaway’s 1996 film “The Pillow Book”. In fact, this film seems to prefigure the concept of “Materiale Textkulturen” in a most idiosyncratic exploration of the work of the late 10th-century poet Sei Shonagon, a lady in waiting at the court of the Japanese Empress Consort Teishi. Her pillow book – a term used to describe collections of casual writings of men and women after they retired to their rooms at night, kept in the drawers of their wooden pillows – is a most remarkable piece of literature. A random collection of notes it seems, such as lists of things she liked (plain paper if it is nice and white [148]) and disliked (depressing things: One has written a letter and receives no reply [13]), reflections on unsuitable things (ugly handwriting on red paper [32]), nature descriptions (clouds [137]), pleasant things (looking through old papers as one of the things that arouse a fond memory of the past [17]), observations (I saw a woman who had an excellent hand-writing and sent a beautifully written poem to the man of her choice, and he replied with some pre- tentious jottings [144]), diary entries (It is getting so dark that I can scarcely go on writing; and my brush is all worn out. [185]), etc.31 Sei Shonagon’s apparent preoccupation with writing and the activity of collecting written notes runs through the whole of her work, and Peter Greenaway’s modern adaption develops this into an obsession of his heroine Nagiko, the daughter of a cal- ligrapher, first for being written upon by her lovers and eventually for writing herself on male bodies. The experience of having words written on her skin dates back to her childhood, when her father inscribed readings from Sei Shonagon’s Pillow Book onto her body. She later marries a calligrapher, whom she leaves because he is incapable of performing beautiful calligraphy. Her desire to be written upon gets ever stronger and she eventually hires calligraphers as lovers to perform calligraphic services on her body until she meets Jerome, who challenges her to become the brush and write on his body after he discovers that he is unable to write on her, and is blamed as

31 Shōnagon 1976, 11; Nutu 2007, 36–44. 266 Annette Kehnel

a worthless ‘scribbler’. Her cutting rebukes lead Jerome to challenge her to write herself: “Use my body like the pages of a book. Of your book!” Frightened – she first runs away – but very intrigued by Jerome’s suggestion, Nagiko and Jerome dive into the experience of mutually inscribing each other’s bodies in a most powerful sequence of scenes, pictured as an exploration into the innocence of the Garden of Eden (subtitled sexe d’un ange). Out of this satisfaction arises Nagiko’s desire to become a writer, and Jerome agrees to serve as human parch- ment. He takes over the function of writing material as well as that of a means of communication for her “First Book of Thirteen”, by becoming the life-messenger of the text to the publisher. The publisher, who had originally refused to accept Nagiko’s work, finds pleasure both in Nagiko’s first book, and in reading it from Jerome’s body. He licks the writing and tastes the flesh that bears it. The act of deciphering the text is also that of discov- ering the body of its bearer, and he and Jerome become lovers.

Fig. 5: Nagiko beeing inscribed by her husband the calligrapher, from: The Pillowbook, A film by Peter Greenaway, 1996.

Nagiko, deeply hurt by this betrayal, starts sending other male bodies, inscribed with the texts of her books, to the publisher, who in turn betrays his lover Jerome, as he prefers the body of an inscribed messenger to the now writing-less body of Jerome. The situation eventually drives Jerome to suicide (although by accident), and the story “Use my body like the pages of a book” 267

ends in a tragic completion of the work of Nagiko, writing her sixth volume “The Book of The Lover” on the skin of Jerome’s dead body. Her thirteenth and last book, the “Book of the Dead”, is delivered to the publisher by a messenger who finally kills him. The inscription of bodies in this powerful mise en scene of a story of love and betrayal has been read in many different was, e.g. as a story of Nagiko’s transforma- tion from the child inscribed by her father to an independent woman writer, from passive paper to active brush, from what is generally perceived as a feminine role to a masculine one.32 For the present purpose however, the imagery of the bodies mutually inscribed as an image for the gift of love – however fragile – suggests an interesting afterthought to the findings presented above: Peter Greenaway’s imagery of the bodies of lovers inscribed in the relation between Jerome and Nagiko is a very powerful image for the experience of love as a craving for the word to become flesh in the lovers’ bodies. Both the creative and destructive potential of love is vested in the ambivalent desires of the self (the author) in search of self-expression and bodies in want of inscription offering themselves as a means of fulfilment: Or – to put it in other words – the experience of love is conceptualised in the image of “life as a book in need of parchment finding fulfilment in the lover’s body inscribed”.

Bibliography

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32 Nutu 2007, 92. 268 Annette Kehnel

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List of figures

Fig. 1: www.classicalite.com/articles/5978/20140217/600-year-old-butt-song-from-hell-in- hieronymus-boschs-the-garden-of-earthly-delights-transcribed-on-tumblr.htm (Retrieved 20.8.2014) Fig. 2: https://www.museodelprado.es/en/the-collection/online-gallery/on-line-gallery/zoom/1/ obra/the-garden-of-earthly-delights/oimg/0/ (Retrieved: 20.8.2014) Fig. 3: Cristina Maria Cervone, Poetics of the Incarnation: Middle English Writing and the Leap of Love, Philadelphia 2012. Fig. 4: Cars H. Hommes, Equilibrium, markets and dynamics, Berlin/Heidelberg u. a. 2002. Fig. 5: http://www.nh-design.co.uk/2012/04/literally-literally-obsessed (Retrieved 20.8.2014)

Vorstellung der Autorinnen und Autoren

Angelika Berlejung (Prof. Dr.) Nach dem Studium der Evangelischen Theologie, Assyriologie und Semi- tistik an den Universitäten Heidelberg und München, erfolgte die Promotion an der Universität Heidelberg, die mit dem Ruprecht-Karls Preis gewürdigt wurde. In den folgenden Jahren arbeitete Angelika Berlejung als wissenschaftliche Assistentin in Rostock und Heidelberg, wonach sie habilitierte und als Professorin für Sprachen und Kulturen Syriens und Palästinas in Leuven/Belgien lehrte. Als Co-Director leitete sie die Ausgrabungen in Qubur al-Walayda/Israel, später dann die Ausgrabungen in Ashdod-yam/Israel. Sie erhielt das Sackler-Fellowship für Altorientalistik und Klas- sische Studien der Universität Tel Aviv. Derzeit besetzt sie die Professur extraordinaire für Altorientalistik an der Faculty of Arts der Universität Stellenbosch/Südafrika und ist Professorin für Alttestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Geschichte und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.

Francisca Feraudi-Gruénais (Dr.) Nach dem Studium der Klassischen Archäologie, Alten Geschichte und Klassi- schen Philologie (Latein) in Heidelberg und München, erfolgte 1997 die Promotion in Heidelberg. Seit 1997 ist Francisca Feraudi-Gruénais wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsprojekt „Epigraphische Datenbank Heidelberg (EDH)“ der Heidelber- ger Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Grab- kultur im kaiserzeitlichen Rom, Lateinische Epigraphik, Antikenrezeption, Bild-Text- Phänomene und Beischriften („Corpus of Ancient Label Inscriptions, CALI“).

Martin Fitzenreiter (Dr.) Nach Abitur und Wehrdienst arbeitete Martin Fitzenreiter zunächst in einer Kunstgießerei, bevor er 1988–1998 das Studium der Ägyptologie, Sudanarchäologie und Islamkunde an der Humboldt-Universität zu Berlin aufnahm, wo er auch promo- vierte. Während er danach von 1999–2009 in der Kunstgießerei Flierl in Berlin arbei- tete, blieb er Privatgelehrter. 2009–2011 übernahm er Lehraufträge an den Universitä- ten Heidelberg und Köln; bevor er 2011 die Stelle als Kurator am Ägyptischen Museum der Universität Bonn antrat. Zusammen mit Steffen Kirchner und Olaf Kriseleit ist er Herausgeber der „Internet-Beiträge zur Ägyptologie und Sudanarchäologie (IBAES)“. Er organisierte zahlreiche Workshops und veröffentlichte Publikationen zu kulturhis- torischen Themen in der Ägyptologie, zuletzt: Original und Fälschung, BÄB 4 (Berlin 2014); sowie als Herausgeber: Authentizität. Artefakt und Versprechen in der Archäolo- gie, IBAES XV (London, 2014). www.m-fitzenreiter.de 272 Vorstellung der Autorinnen und Autoren

Georg Simon Gerleigner Nach dem Magisterstudium der Klassischen Archäologie, Griechischen Philologie und Alten Geschichte in München und Florenz promovierte er 2012 an der University of Cambridge, gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Thema der Dissertation war das Verhältnis zwischen Schrift und Bild in der griechischen Vasen- malerei. Seit Oktober 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klas- sische Archäologie des Instituts für Klassische Altertumskunde der Christian-Alb- rechts-Universität zu Kiel. Er ist Mitbegründer des „Kiel-Hamburg-Aarhus Network for the Study of Ancient Visual Culture (KHAN)“.

Annette Kehnel (Prof. Dr.) Annette Kehnel studierte Geschichte, Biologie und Geschichte der Natur- wissenschaften in Freiburg, Oxford und München. In ihrer Dissertation 1995 befasste sie sich mit der mittelalterlichen Geschichte des irischen Klosters Clonmacnoise am Trinity College Dublin. 1999/2000 wurde sie DAAD Post-Doktorand Stipendiatin am Greyfriars College in Oxford. Nach ihrer Habilitation 2003 an der TU Dresden im SFB 537 mit einer Arbeit über die regionale Umsetzung universaler Ordnungskonzepte am Beispiel des Franziskanerordens auf den Britischen Inseln, erhielt sie 2005 die Profes- sur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim.

Norbert Kössinger (Dr. phil. habil.) Das Studium der Germanistik, Theologie, Nordistik und Italianistik in München und Pisa, schloss Norbert Kössinger 2006 mit einer Dissertation zum Thema Otfrids Evangelienbuch in der frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie ab. Von 2006 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn. Von 2011 bis 2014 war er Universitäts-Assistent am Institut für Germanistik der Universi- tät Wien. 2014 habilitierte er mit einer Arbeit über SchriftRollen. Untersuchungen zum mittelalterlichen Rotulus. Seit dem Wintersemester 2014/15 vertritt er den Lehrstuhl für Ältere Deutsche Sprache und Literatur am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz.

Amina Kropp (Dr.) Nach dem Studium der Romanistik und Latinistik in Heidelberg und Paris ( Sorbonne), erfolgte 2006 die Promotion zum Thema Magische Sprachverwendung in vulgärlateinischen Fluchtafeln an der Universität Freiburg. Von 2006 bis 2008 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik sowie am Romanischen Seminar der Universität Heidelberg. In 2008/2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.–17. Jahrhundert)“ der LMU. Derzeit ist sie akademische Rätin am Romanischen Seminar der Universität Mannheim (Abteilung Sprach- und Medienwissenschaft). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Vulgär- Vorstellung der Autorinnen und Autoren 273

latein und romanische Sprachgeschichte, (historische) Pragmatik sowie Mehrspra- chigkeit und Spracherwerb, sowohl in historischen Kontexten als auch im Zusam- menhang mit aktuellen migrationslinguistischen Fragestellungen.

Ludger Lieb (Prof. Dr.) Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie an der LMU München und der Hochschule für Philosophie erfolgte 1995 die Promotion über äsopische Fabeln der Frühen Neuzeit. 2003 habilitierte er an der TU Dresden mit einer Arbeit zur Wiederholung im Artusroman ‚Erec‘. Von 2008 bis 2010 war er Professor in Kiel. Seit 2010 ist er Professor für Ältere Deutsche Philologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seit 2013 ist er Sprecher des Sonderforschungsbereichs 933 „Materiale Textkulturen“ in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. den höfi- schen Roman, Liebesdichtung und Inschriften.

Stephan Müller (Prof. Dr.) Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik an der LMU München, das Stephan Müller dort 1997 mit einer Promotion abschloss, erfolgte 2002 seine Habilitation an der TU Dresden. Von 2005 bis 2010 war er W3-Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Paderborn und seit 2010 Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur am Institut für Germa- nistik der Universität Wien. Seit 2014/15 ist er Wolfgang-Stammler Gastprofessor an der Universität Fribourg. Seine Forschungsschwerpunkte erfassen Althochdeutsche Sprache und Literatur, Heldensage und Heldendichtung, Theorie und Geschichte von Schrift und Überlieferung, Historische Erzählforschung. Publikationsauswahl: Alt- hochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie (Stuttgart 2007); Deutsche Texte der Salierzeit. Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert, hrsg. v. St. Müller und J. Schneider (München 2010); Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissen- schaften, hrsg. v. K. Malcher, St. Müller, K. Philipowski und A. Sablotny, Mittelalter Studien 28 (München 2013); Monographie in Vorbereitung (als Abschluss eines gleich- namigen DFG-Projekts): Handbuch der deutschen Glossen und Texte in Geheimschrift.

Michael R. Ott (Dr.) Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Frankfurt/M. Dort war Michael Ott von 2008 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik. Seine Promotion erfolgte im Jahr 2012 mit einer Arbeit zum späten 16. Jahrhundert: Fünfzehnhundertsiebenundachtzig. Literatur, Geschichte und die ‚Historia von D. Johann Fausten‘. Seit 2013 ist er Mitarbeiter am SFB 933 im Teilprojekt C05 („Inschriftlichkeit. Reflexionen materialer Textkultur in der Literatur des 12. bis 17. Jahrhunderts“). Zu seinen zentralen Forschungsinteressen gehören die Kulturwissenschaften, der New Historicism und die Postkolonialen Studien. 274 Vorstellung der Autorinnen und Autoren

Diamantis Panagiotopoulos (Prof. Dr.) Nach dem Studium der Klassischen Archäologie, Ur- und Frühgeschichte, Vorderasiatischen Archäologie und Ägyptologie in Athen und Heidelberg, promo- vierte Diamantis Panagiotopoulos 1996 an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über ein minoisches Kuppelgrab der Frühen und Mittleren Bronzezeit. Von 1998 bis 2001 erhielt er ein Postdoktoranden-Stipendium der Deutschen Forschungsgemein- schaft. 2003 habilitierte er an der Universität Salzburg mit einer Arbeit über die mykenische Siegelpraxis. Seit 2003 ist er Professor für Klassische Archäologie an der Universität Heidelberg. Seit 2013 ist er Vorstandsmitglied des Heidelberger Exzellenz- clusters „Asia and Europe in a Global Context“.

Don C. Skemer (Dr.) Don Skemer is Curator of Manuscripts of the Department of Rare Books and Special Collections at the Princeton University Library. He holds a PhD in medieval history from Brown University and has research interests in the history of the medie- val book, manuscript studies, and magic. He is the author of Binding Words: Textual Amulets in the Middle Ages, Magic in History (Pennsylvania 2006) and principal author of Medieval and Renaissance Manuscripts in the Princeton University Library (Princeton, NJ.), 2 volumes.

Susan Richter (PD Dr. phil.) Susan Richter promovierte 2007 zum Thema Fürstentestamente der Frühen Neuzeit. Politische Programme und Medien intergenerationeller Kommunikation (Göttingen 2009). Die Studie erhielt drei Preise, darunter 2008 den Ruprecht-Karls- Preis der Universität Heidelberg für die fünf besten Dissertationen der Universität und 2009 den Kuensberg-Preis für Rechtsgeschichte. Bis 2012 war sie Nachwuchs- gruppenleiterin am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“. Seit 2013 vertritt sie den Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit in Heidelberg. Ihre Habilitation 2013 zum Thema Pflug und Steuerruder – Zur Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in der Aufklärung erschien 2014 bei Böhlau in Köln. Susan Richter forscht momentan zur Ideen- und Verwaltungsgeschichte der Aufklärung. Kürzlich erschien der Aufsatz German „Minor“ Thinkers? The Perception of Moser’s and Justi’s Works in an Enlightened European Context, in: ATP (Administrative Theory & Praxis), 36/1 (2014), 51–72.