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Bayerische Landeszentrale 3 | 1 3 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

In Erinnerung an Arno Hamburger 1923–2013 Ein Interview

NNeeuee HHerraauussffoorrdderruungeen uundd nneeuee MMöglliichhkkeeiitteen ffüürr ddiiee ppolliittiischee KKommmuuniikkaattiioonn iimm WWaahllkammpff // DDiie EErrffaahrrunngg ddeerr „„GGrrooßenn DDepprressiionn“ uunnd ddiiee KKrriissee dderr WWeellttwwiirrtt-- schaafftt sseiitt 2200007 // EEurroppaa:: vvoon dderr WWeessttiinntteegrrattiioon zzuurr VVerreiiniigunng ddess KKonnttiinentts // Diie vverrgeessenen FFrrauuenn vvonn AAiichhaacchh Einsichten und Perspektiven

Autorinnen und Autoren Impressum

Prof. Dr. phil. habil. Michael Gehler ist Leiter des Instituts für Einsichten Geschichte an der Stiftung Universität Hildesheim. und Perspektiven Arno S. Hamburger entkam der Shoah durch Emigration nach Palästina; nach dem Krieg war er – seit 1972 – Stadtrat und Vor- Verantwortlich: sitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg. Monika Franz, Prof. Dr. Christina Holtz-Bacha ist Professorin für Kommuni- Praterinsel 2, kationswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. 80538 München Dr. phil. Heike Knortz ist außerplanmäßige Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der PH Karlsruhe. Redaktion: Dr. Robert Sigel ist Mitarbeiter in der Bayerischen Landeszen- Monika Franz, trale für politische Bildungsarbeit und Lehrbeauftragter für Werner Karg, Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU München. Jan-Alexander Liedtke, Dr. Rudolf Stumberger ist Privatdozent an der Johann-Wolf- Uta Löhrer, gang-Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwer- Katharina Willimski, punkt visuelle Soziologie und Sozialstrukturanalyse und arbeitet Jonas Hensler als freier Journalist in München. Gestaltung: www.griesbeckdesign.de

Veranstaltungshinweis Druck: Druckerei Bonifatius; Paderborn Symposium „Bayern und der Erste Weltkrieg“ vom 21. bis 23. November 2013 Titelbild:Arno Hamburger in britischer Uniform 1942 Ort:Armeemuseum Ingolstadt Foto: privat Zeit: 21.11.2013, 14.00 Uhr bis 23.11.2013, ca. 11.30 Uhr

Der Blick auf „Bayern und das Reich“ während des Ersten Weltkrieges steht im Mittelpunkt der Tagung der Bayerischen Die Beiträge stellen keine Meinungs- Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und des Armeemu- äußerung der Landeszentrale für seums Ingolstadt. Diese Perspektive weitet sich in den Vorträgen politische Bildungsarbeit dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die auf die historischen Krisenerfahrungen der Beteiligten, auf Autoren die Verantwortung. Heimatfront und Zivilgesellschaft im Kriege sowie auf die mo- derne Operationsgeschichte und den geschichtskulturellen und Die Landeszentrale konnte die Urhe- berrechte nicht bei allen Bildern dieser musealen Umgang mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhun- Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, derts“. Den Abschluss der Tagung bildet eine Podiumsdiskussion glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren. mit Publikumsgespräch zum Thema „Museumsreif? – Der Erste Weltkrieg in der heutigen Erinnerungskultur“.

Anmeldung erbeten unter [email protected] oder schriftlich andas Bayerische Armeemuseum Tagungsgebühr:5 €

138 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

140 Neue Direktion der LZ

Werner Karg und Katharina Willimski 142 Ein Gespräch mit Arno S. Hamburger (1923-2013)

Christina Holtz-Bacha 154 Internet, Facebook,Twitter & Co. Neue Herausforderungen und neue Möglichkeiten für die politische Kommunikation im Wahlkampf

Heike Knortz 164 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Michael Gehler 180 Von der Westintegration zur Vereinigung des Kontinents: die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

197 Neue Publikationen der Landeszentrale

Rudolf Stumberger 198 Die vergessenen Frauen von Aichach

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 139 Neue Direktion der Landeszentrale

Dr. Harald Parigger stellt sich vor:

• geboren am 9. 9. 1953 in Flensburg • Abitur 1972 am Alten Gymnasium Flensburg im humanistischen Zweig • Studium der Germanistik, Sozialkunde und Geschichte; auch Kunstgeschichte, Mittellatein und Philosophie an der Universität Würzburg • Dissertation über das spätmittelalterliche Bamberger Stadtrecht • Referendariat in Bamberg und Coburg • wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Würzburg und Köln • Lehrtätigkeit in Lichtenfels und Bayreuth • Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft „Schule und Heimatpflege“ • Redakteur und Ausstellungsdidaktiker im Haus der Bayerischen Geschichte • Seminarlehrer am Maria-Theresia-Gymnasium in München • Mitglied im Landesvorstand der Arbeitsgemeinschaft „Schule und Wirtschaft“ • seit fast 25 Jahren:schriftstellerische Arbeit, Lese- und Vortragstätigkeit • Schulleiter am Gymnasium Grafing • seit August 2013:Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Interessen und Leidenschaften: Musik machen und hören/sehen, Bücher und Briefe schreiben, lesen, Italien und Frankreich bereisen, ausgedehnt wandern, Kochrezepte entwickeln, Freund- schaften pflegen, Gast und Gastgeber sein Foto: Monika Franz

140 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Neue Direktion der Landeszentrale

Liebe Leserin, lieber Leser,

30 Lehrer-Jahre, die gehen nicht spurlos an einem vorbei. bei der ersten Sichtung des Jahresberichts war ich beein- Damit meine ich nicht die erlittenen Blessuren, die den Kol- druckt von der Vielfalt, mit der in dieser Einrichtung poli- legen vielleicht gleich in den Sinn kommen, auch nicht den tische Bildung vermittelt wird. Besitz der Eigenschaft, alles besser zu wissen, der mögli- Neben einer Vielfalt von Publikationen, zu denen an her- cherweise den Nichtlehrern sofort einfällt. ausragender Stelle auch diese Zeitschrift gehört, gibt es Beides ist unbestreitbar und auch mir sicher zu eigen, aber Fortbildungsveranstaltungen für die unterschiedlichsten es gibt noch eine andere, wichtigere Prägung. Adressatenkreise, eine Fülle von hochrangigen Kooperatio- Sie besteht darin, dass ein Lehrer an vielen Dingen interes- nen im Rahmen der historisch-politischen Pädagogik und siert ist, sich aber mit der oberflächlichen Betrachtung nicht Didaktik, eine weitgespannte fachliche Beratung, die Be- zufriedengeben, sondern die Gegenstände seines Interesses treuung zahlreicher Projekte innerhalb der Gedenkstätten- auch verstehen und die danach gewonnene Erkenntnis wei- und Denkmalpflege sowie internationale Kontakte vor al- tergeben will. lem im Bereich der Jugendarbeit. Dieses Bedürfnis, Erkenntnisse vermitteln, anderen Leuten Gern gebe ich zu, dass es mich mit Stolz erfüllt, eine so viel- nutzbar machen zu wollen, wird langjährigen Lehrern (und seitige und wirkmächtige Institution leiten zu dürfen. Und Lehrerinnen natürlich genauso) zur zweiten Natur, von der natürlich möchte auch ich zur künftigen Prägung der Lan- sie nicht lassen wollen und können, selbst wenn sie der deszentrale beitragen. Sie noch moderner und noch vielsei- Schule den Rücken kehren. tiger zu machen, sie, ganz im Sinn der eingangs genannten Genauso ging und geht es mir nach der langen Zeit, die ich Spuren, noch stärker an der Vermittlung politischer Bildung mit Ausnahme weniger Jahre in der Schule, mit Schülerin- der jungen Menschen aller Schichten zu beteiligen, wird die nen und Schülern verbracht habe:Was ich auch sehe, was ich Aufgabe sein, die ich uns allen für die nächsten Jahre gestellt auch erfahre, wenn es mir sehens- und erfahrenswert er- habe. scheint, frage ich mich sogleich, wie man es anderen ver- Bitte begleiten Sie uns dabei! mitteln könnte. Was gäbe es für diesen Drang Geeigneteres als die Bayeri- Mit herzlichem Gruß sche Landeszentrale für politische Bildungsarbeit! Schon Ihr

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 141 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

„Als ich 1945 vom Plärrer aus in Richtung Burg geschaut habe, sah ich, was da los war, und mein erster Gedanke war: Das, was der Verbrecher Streicher am 10. August 1938 gesagt hat, ‚die Saat, die wir gesät haben, ist aufgegangen‘, genau das war eingetroffen. Die Altstadt sahso aus wie unsere Synagoge am Hans-Sachs-Platz am 10. August 1938.“1

Ein Gespräch mit Arno S. Hamburger (1923–2013)

Interview von Werner Karg und Katharina Willimski

1942: Arno Hamburger in britischer Uniform Foto: privat

142 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

Luftaufnahme eines Moschavs („Nahalal“, Jezreel-Tal, Galiläa) aus dem Jahre 1935 Foto: ullstein bild, Fotograf: Roger-Violett

Im Frühjahr dieses Jahres sind Herr Arno Siegfried Ham- vertrauensvoll, mit Bedacht und mit Esprit in das von ihm burger und die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Erlebte Einblick gewährt hat. übereingekommen, seine Lebensgeschichte so zu publizie- Der hier vorliegende Vorabdruck der noch in der ren, dass sie vor allem jüngeren Lesern einen Zugang zur Planung befindlichen Gesamtpublikation wurde Herrn Geschichte des 20. Jahrhunderts eröffnet:Im Spiegel dieser Hamburger Ende September vorgelegt; die Freigabe hierfür Biografie können Jugendliche einen tiefen und lehrreichen hat seine Familie erteilt. Herr Hamburger ist am 26. Sep- Einblick gewinnen – in die Brüche und Hoffnungen der tember 2013 verstorben. Weimarer Republik, in die Mechanismen des Antisemitis- Das Interview beleuchtet eine äußerst dramatische mus und des Holocaust, in die Vorgeschichte der israeli- Phase in Arno S. Hamburgers Leben:Dargestellt werden schen Staatsgründung, aber auch in die justizielle Aufarbei- die Zeit nach seiner Ausbürgerung aus Deutschland, sein tung nach dem Krieg und die Neugestaltung der demokra- Leben als Jugendlicher in Palästina und seine Rückkehr tischen Ordnung in Deutschland. nach Nürnberg. Im Leben Arno S. Hamburgers, der von der Wei- Im Mai 1939 gelang es dem jungen Arno Hambur- marer Republik bis zur Gegenwart das dann doch nicht ger, sich für eine Ausreise ins britische Völkerbundmandat so kurze 20. Jahrhundert als Akteur und als Betroffener, als Palästina zu qualifizieren – seine Form der Alija2. Nach ei- Subjekt und als Objekt, unmittelbar begleitet, ertragen und nem mehrtägigen Vorbereitungskurs in Hamburg-Blanke- mit beeinflusst hat, wird die Zeitgeschichte wie in einem nese, den ihm seine Eltern ermöglichten, war er der einzige Brennspiegel erfahrbar. In vier ausführlichen Interviews von insgesamt 17 jüdischen Jugendlichen aus Nürnberg, der zeigte sich Herr Hamburger als detailsicherer, streitbarer, das für die Emigration benötigte Zertifikat erhielt. Am humorvoller und warmherziger Gesprächspartner, der uns 22. August 1939, weniger als zwei Wochen vor Kriegsbe-

1 Vor diesem Hintergrund stellt das Interview auch einen Beitrag zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vor 75 Jahren dar; die Zerstö- rung der Nürnberger und der Münchner Synagoge Monate vor dem 9. November 1938 weisen auf die weiteren Verbrechen voraus. 2 Der Begriff Alija stammt aus dem Alten Testament und bezeichnet die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land. In der Moderne bezeichnet der Begriff die Einwanderungswellen jüdischer Siedler nach Palästina und später in den dort gegründeten Staat Israel.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 143 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger ginn, musste sich der damals 16-jährige Arno von seinen El- Hamburger: Wir haben bei den Familien gegessen, jeder in tern verabschieden, um an Bord eines Schiffes zu gehen, das seiner eigenen. Wie ich sagte:Es gab Privates, es gab auch ihn zusammen mit anderen jüdischen Flüchtlingen in ein den eigenen Stall. Wir in meiner Familie hatten vier Kühe Land bringen sollte, in dem er weder die Sprache be- und tausend Hühner. Dazu besaßen wir eine Orangenplan- herrschte noch irgendjemanden kannte. tage und Kleefelder zum Grasen für die Kühe. Am Abend Landeszentrale: Herr Hamburger, Sie sind 1939 in Israel nach der Schule musste man noch aufs Feld fahren. Alles, angekommen – in Tel Aviv ist das Schiff gelandet. Was ist auch die Geräte, die man zum Bestellen der Felder ge- mit Ihnen in diesem für Sie fremden Land geschehen? braucht hat, wurde gemeinschaftlich gekauft und dann vom Hamburger: Nun, wir – die 80 Jugendlichen, die auf der Bürgermeister, vom Leiter des Dorfes, je nach Gebrauch auf „Galiläa“ waren – wurden in Gruppen von je zehn bis zwölf die einzelnen Familien verteilt. Wir hatten ein Maultier für Jugendlichen beziehungsweise Kindern über das ganze vier Familien und mussten uns am Abend das Tier teilen, um Land verteilt und entweder in einem Kibbuz oder in einem aufs Feld fahren und Klee holen zu können. Genauso war Moschav3 untergebracht. Ich kam mit den elf Jugendlichen, es beim Pflügen der Felder, denn wir hatten auch Getreide. mit denen ich schon im Mai 1939 in Hamburg-Blankenese Die Arbeit war jedenfalls schon ziemlich schwer, zusammen war, nach Kfar Haim. Kfar Haim liegt ungefähr besonders weil wir sie nicht gewohnt waren. Und man war in der Mitte zwischen Tel Aviv und Haifa, östlich von Ne- auch die Temperaturen nicht gewohnt. tanja, aber nahe an der damaligen Straße von Tel Aviv nach Landeszentrale: Hat man die Kühe irgendwie kühlen Haifa. müssen? Wir kamen in ein Muschav-Ovdim und wurden auf Hamburger: Die Kühe hat man nicht kühlen müssen. Der einzelne Familien aufgeteilt. Muschav-Ovdim – das ist eine Kuhstall hatte auf allen vier Seiten Fenster. Man lernte üb- Siedlungsart, in der jede Familie ihr eigenes Haus und ihren rigens auch das Melken. Und nach ungefähr drei Monaten eigenen Kuhstall hat. Aber die Erzeugnisse werden gemein- auf dem Moschav war es dann möglich, sich einigermaßen schaftlich über eine Kooperation verkauft. Ebenfalls ge- zu verständigen. meinschaftlich werden die Einkäufe für den gesamten Mo- Landeszentrale: War das für die Familie, in die Sie ge- schav, aber auch die für die einzelnen Bauern und Siedler er- kommen sind, – den russischen Mann und die polnische worben. Frau – auch so, dass sie in Ihnen einen wichtigen Arbeiter Ich kam also in eine dieser Familien. Der Mann gefunden haben? kam aus Russland, die Frau aus Polen, dazu hatten die bei- Hamburger: Das kann man so sagen. Aber auch das per- den noch ein zweieinhalb Jahre altes Kind. Wie gesagt, die sönliche Verhältnis wurde von Zeit zu Zeit viel besser, be- erste Zeit war sehr schwierig. sonders mit dem kleinen Mädchen. Ich war ja nur von Sep- Landeszentrale: Wie haben Sie sich mit Ihrer Gastfamilie tember 1939 bis Anfang 1941 dort, bevor ich mich zum Mi- verständigt? litär gemeldet habe. Aber im zweiten Jahr war die Lage so, Hamburger: Mit Händen und Füßen. Ich erinnere mich an dass der Mann Typhus bekommen hat und die Frau schwan- die erste Arbeit, die man mir gegeben hat:Das war das „Ei- ger wurde. er-Saubermachen“. Die Frau hat mir gezeigt, wie man das Als sie entbinden musste – das Krankenhaus war in macht, hat aber vorsorglich schon einmal eine große Tasse Petach Tikwa, ungefähr 40 Kilometer weit entfernt – lagen danebengestellt, als ich anfing zu putzen. Die kaputten Ei- dann sowohl der Mann als auch die Frau im Krankenhaus. er kamen in die Tasse, und nach dem fünften kaputten Ei hat Ich war ungefähr zehn Tage mit dem Kind alleine. Das hat sie schließlich gesagt:„Ende! Geh in den Hof, da hat be- natürlich die Bindung zur Familie noch verstärkt:Sie haben stimmt noch jemand Arbeit für dich!“ mich behandelt wie ihren eigenen Sohn. Wir arbeiteten den halben Tag, von frühmorgens In dem Moschav bin ich nach einiger Zeit ziemlich halb sechs bis mittags um zwei in der Landwirtschaft, und berühmt geworden. Ich musste immer frühmorgens um drei am Nachmittag bekamen wir dann alle zwölf gemeinsam aufstehen und die Lichter im Hühnerstall anmachen, denn Hebräischunterricht von jemandem, der auch Deutsch das waren Petroleumlampen, die man noch aufpumpen konnte. Es handelte sich dabei aber keinesfalls um einen musste. Aber ich habe ja, bevor ich ausgewandert bin, von ausgebildeten Lehrer, und unterrichtet wurden wir in einem 1938 bis 1939 ein Praktikum als Elektriker gemacht. Also gerade nicht benutzten Kuhstall. habe ich in dem Hühnerstall Kabel gezogen und diese an- Landeszentrale: Haben Sie alle zusammen gegessen, oder schließend über einen Pfahl im Hof zu mir ins Zimmer ge- haben Sie bei den jeweiligen Familien gegessen? legt. Neben meiner Matratze war der Stecker, und da habe

3 Kibbuzim und Moschavim sind ländliche Genossenschaftssiedlungen. Hervorgegangen aus dem Kibbuz, unterscheidet sich der Moschav von diesem vor allem durch den weniger sozialistisch geprägten Charakter. So ist Privatbesitz ausdrücklich vorgesehen, andere Teile der Gemeinschaft verbleiben jedoch nach wie vor in Kollektivbesitz.

144 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger ich in der Früh um drei einfach den Stecker eingesteckt. Das Hamburger: Natürlich, das sowieso. Aber dahinter steck- führte dazu, dass innerhalb von einem halben Jahr alle Hüh- te auch der Gedanke, dass man einen Kern von Leuten mit nerställe dort elektrisches Licht hatten. Das hat mir natür- militärischer Ausbildung für spätere Zeiten schafft. Nach- lich schon einen bestimmten Ruf eingebracht. dem wir zunächst nur in englischen Einheiten waren, wur- 1941 erließen die jüdischen Organisationen einen de Anfang 1944 die Jewish Brigade4 gegründet, wohin man Aufruf an die Bevölkerung, dass sich pro Siedlung zwei sich transferieren lassen konnte. Leute zum Militär melden sollen, um einen Nukleus für ei- Landeszentrale: Waren Sie beteiligt bei den Diskussionen ne zukünftige Armee zu bilden. Man hat dann unter den der Juden über das Engagement für und mit den Briten be- Moschav-Siedlungen ausgelost, wer gehen musste bezie- ziehungsweise gegen sie? hungsweise sollte. Hamburger: Ja, wir waren beteiligt, es hat manchmal gro- Ich war zwar nicht in dem Topf, aber das Los hat- ße Auseinandersetzungen gegeben, ich erinnere mich sehr te meinen Gastgeber, meine Familie, getroffen, und die Frau gut. So etwa bei der Ausbildung:Ich habe kein Wort Eng- hatte ja gerade das zweite Kind geboren. Ich sagte dann zu lisch verstanden, und das war natürlich peinlich. Ich muss- meinem Gastgeber:„Du gehst nicht – ich gehe!“ Und ob- te immer, wenn es da irgendwelche Befehle gegeben hat, zu wohl er eigentlich dagegen war, habe ich mich durchsetzen meinem Nachbarn schielen, was der jetzt gerade gemacht können und meldete mich schließlich zum Militär. hat, und das hat den verständlicherweise geärgert. Bereits Landeszentrale: Sie haben in einem früheren Gespräch ge- nach drei Wochen hat mir das 14 Tage Bau eingebracht. sagt, Ihr Gastgeber sollte für Sie auf keinen Fall die Rolle ei- Wirklich, ich hatte mehrere solche Vorfälle. Nach nes Ersatzvaters einnehmen. der Ausbildung waren wir in einem Lager in der Nähe von Hamburger: Nein. Ich war damals 17, und er war damals, Haifa, wo ich gerade meinen dritten Streifen bekommen sagen wir, 30. Er hieß Meir Schufmann, sie hieß Ina und de- hatte. Dort gab es einen Staff Sergeant, einen Rang höher als ren Tochter Amira. Eyrud, der dann zur Welt kam, ist En- ich, bei dem ich ständig grinsen musste, weil er gestottert de 1940 geboren. hat. Dafür hat der mich angezeigt beim Sergeant Major, Landeszentrale: Was ist aus Eyrud geworden, wissen Sie beim Spieß, das war die höchste Unteroffiziersstufe. das? Landeszentrale: Haben Sie eigentlich in der Zeit im Mo- Hamburger: Ja, der besitzt heute den Hof, den sein Vater schav oder auch später Übergriffe von Arabern erlebt? früher hatte. Hamburger: Wir waren dort auch eingeteilt als Shomrim, Landeszentrale: Und Amira – lebt sie noch? als Wächter über die Weiden und die Orangenplantagen, Hamburger: Das weiß ich nicht. und da ist es schon vorgekommen, dass aus den benachbar- Landeszentrale: Sie haben sich anstelle von Meir Schuf- ten Dörfern Leute gekommen sind, die die Früchte gestoh- mann gemeldet, mit dem Sie gearbeitet haben. Und das durf- len haben. Aber direkte feindliche Übergriffe mit Schlägen ten Sie, obwohl Sie gerade erst nach Israel gekommen und oder so, das kam nicht vor. Sie haben eben geklaut, und wir noch sehr jung waren? haben versucht, sie daran zu hindern. Hamburger: Ja, ja. Ich war frei in meiner Entscheidung. Fürs Wachestehen wurden wir auch im Dorf aus- Landeszentrale: Und dann haben Sie sich verabschiedet. gebildet mit kleinen Gewehren vom Kaliber 22. Gab es da ein Fest? Landeszentrale: Sie haben aber keine Übergriffe erlebt. Hamburger: Nein, ich bin direkt ins Ausbildungslager süd- Hamburger: Nein, also Übergriffe, Auseinandersetzun- lich von Tel Aviv. Das Militärcamp gibt es immer noch: gen, die über das Verbale hinausgingen, hat es nur zwischen Mein Enkel, der jetzt beim Militär ist, wurde im gleichen den Engländern und uns gegeben. Die haben uns als na- Lager ausgebildet. Es war ein riesiges englisches Militärla- tives5 betrachtet, und das haben wir uns natürlich nicht ge- ger mit sehr großen Ausbildungs- und Paradeplätzen, auf fallen lassen. denen man exerziert hatte. Schon bei der Ausbildung ging das los! Wir waren Landeszentrale: Hatten Sie dann zwischendrin auch Ur- nun einmal die natives. Denn die Engländer hatten ja Sol- laub, so dass Sie manchmal zur Familie zurückkonnten? daten aus dem ganzen Empire, auch in Palästina. Es gab Hamburger: Ja, während der Ausbildung. Neuseeländer, Australier, Schwarze und Inder. Und die ein- Landeszentrale: Und die Idee war:Juden werden Mitglie- zelnen Länder haben sich nicht immer sehr gut verstanden. der der englischen Armee, um gegen die Deutschen zu Nur wenn man gemeinsam im Dreck lag, dann war das al- kämpfen? les vergessen. Aber wenn man irgendwo stationiert war, war

4 Die Jewish Brigade war eine Einheit der britischen Armee und setzte sich aus Freiwilligen des britischen Völkerbundmandats Palästina zu- sammen. Sie bestand bis zum Sommer 1946. 5„Natives“: aus dem Engl., in etwa mit „Ureinwohner“ zu übersetzen. Als Kolonialmacht verstanden sich die Briten von Grund auf überle- gen gegenüber den Einheimischen.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 145 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger es anders. Als wir beispielsweise 1944 mit dem Schiff nach Hamburger: Ja, das war 1944, als wir nach Europa gekom- Europa gefahren sind – das waren besondere Schiffe, die men sind. sehr schmal gebaut waren –, waren ganz unten die Schwar- Landeszentrale: Die Gründung der Jewish Brigade fand zen, und dann sind die Inder gekommen, dann noch einmal 1944 statt, da waren Sie noch in Palästina. Gab es da einen andere, dann wir, und dann, ganz oben, waren die Englän- Gründungsakt, oder wie hat das funktioniert? der. Das Schiff hat ziemlich geschaukelt, besonders unten, Hamburger: Nein, das ist ausgerufen worden. Und es wur- weil es so schmal war. Viele wurden seekrank, das war de gesagt, jeder, der will, könne sich transferieren lassen. schlimm! Landeszentrale: War das eine besondere Verwendung? Landeszentrale: Das sind jetzt schon die nächsten Statio- Hamburger: Das war keine besondere Verwendung, das nen Ihres Lebens – aber beschreiben Sie uns doch noch Ih- war ganz einfach:Die jüdischen Behörden haben darauf ge- re Ausbildung zum Soldaten in dem Camp südlich von Tel drungen, genau wie die Australier, die Neuseeländer und die Aviv – was haben Sie da gelernt? anderen, eine eigene Einheit zu haben. Das waren ungefähr Hamburger: Na, alles, was man so lernen muss:schießen, viereinhalbtausend Mann! Primär englische Offiziere, aber kriechen, Wache stehen, marschieren, exerzieren. es hat auch jüdische Offiziere und Unteroffiziere gegeben. Landeszentrale: Aber die Gruppe dieser zehn, zwölf Ich war ja bereits Unteroffizier, als ich noch bei einer engli- Freunde aus Blankenese, die haben Sie nicht mehr getrof- schen Einheit war. fen? Landeszentrale: Dann sind Sie in Port Said auf das Schiff Hamburger: Die waren schon weg. gegangen und 1944 in Italien gelandet? Landeszentrale: Haben Sie dort überhaupt noch jeman- Hamburger: Ja, wir sind von Nordafrika aus Ende 1944 in den gekannt? Italien gelandet und dann nordwärts gezogen. Hamburger: Na ja, man hat sich kennengelernt! Es hat Landeszentrale: Also dort, wo die Amerikaner schon weit eben welche gegeben, die man gemocht hat. vorgedrungen waren? Landeszentrale: Wann haben Sie dieses Lager verlassen? Hamburger: Ja, und wir sind raufmarschiert in Richtung Hamburger: 1942. Wir mussten zunächst verschiedene Florenz. Am 8. Mai 1945 waren wir in Spoleto, in Zentral- Aufgaben in Palästina ausführen. So standen wir zum Bei- italien. spiel Wache neben Lagern, die voll mit Munition waren. Ein Landeszentrale: Waren Sie in Italien denn noch in Kämp- anderes Mal haben wir – noch mit einem weiteren Jungen fe verwickelt? aus Deutschland – sechs deutsche Offiziere weggebracht. Es Hamburger: Die Hauptmacht der Deutschen war schon gab da ein Gefangenenlager in Latrun. Dafür haben sie zwei weiter, viel tiefer im Land, so dass es nur einzelne Kämpfe mit ausgewählt, die deutsch sprechen konnten. Und die deut- versprengten Einheiten gab. Allerdings gab es noch einige schen Offiziere haben natürlich nicht gewusst, dass wir Überfälle durch Partisanen, die zwar inzwischen auf unserer ebenfalls Deutsche waren. Seite waren, auf die man sich jedoch nicht verlassen konnte. Das waren zum Beispiel unsere Aufgaben, bis wir Bei Kriegsende am 8. Mai waren wir – wie gesagt – dann 1944 auf dem Weg durch die Wüste nach Europa ge- in Spoleto. Ich bin natürlich sofort nervös geworden, da ich kommen sind. ja weiter nach Nürnberg wollte. Landeszentrale: Sind Sie dabei über den Sinai gefahren? Landeszentrale: Haben Sie das Kriegsende auch als so Hamburger: Wir sind mit dem Zug über den Sinai gefah- wichtiges, zentrales Datum wahrgenommen? ren, um in Port Said eingeschifft zu werden. Von dort aus Hamburger: Natürlich habe ich das so wahrgenommen. ging es weiter nach Europa. Das war schon wichtig:Das Leben würde sich jetzt voll- Landeszentrale: Erinnern Sie sich noch daran, ob diese kommen verändern. Und vor allen Dingen bestand ja mein deutschen Offiziere, die Sie begleitet haben, irgendetwas ganzes Sinnen und Trachten darin, dass ich wissen wollte, Besonderes besprochen haben? was daheim los ist. Hamburger: Nein, nein, kein Wort. Nichts, das wert ge- Es hat damals einen Erlass gegeben, dass niemand, wesen wäre, zu hören. Die haben sich ganz normal unter- der nicht in irgendeiner Form eine Beschäftigung als Besat- halten. Da hat es die Jewish Brigade auch noch nicht gege- zer oder irgendetwas dahingehend hatte, nach Deutschland ben, denn die hätte man ja erkannt. Wir haben dann später hineindurfte. ein eigenes badge6, ein weiß-blaues Abzeichen, bekommen. In Florenz, ungefähr 150 Kilometer von Spoleto entfernt, Landeszentrale: In Port Said, wo Sie dann auf das Schiff gab es ein Hauptquartier der achten Armee, von wo aus ich gegangen sind – waren Sie schon Soldat der Jewish Brigade? versuchte, nach Deutschland zu gelangen.

6 Englischer Begriff für „Marke“. Im militärischen Kontext stellt badge ein Abzeichen dar, das zur Identifikation des jeweiligen Verbandes dienen soll.

146 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

1941, Arno Hamburger (links) bei seiner Ausbildung in der britischen Armee Foto: privat

Ich betrat das dortige Büro und habe zunächst mit Hamburger: Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hat er mir das einem Major gesprochen, der die rechte Hand eines Gene- Ding gegeben! Und kaum hatte er unterschrieben, da riss rals war, der dort wiederum den Oberbefehl über das ich es ihm schon weg, lief raus, an dem Major vorbei, habe Hauptquartier hatte. Und ich erzählte dem Major meine salutiert, und weg war ich. ganze rührende Geschichte, doch der sagte:„Ich kann Ih- Anschließend ging ich in Florenz zu einem ameri- nen nicht helfen. Es gibt die Regel, dass niemand nach kanischen Captain und erklärte ihm, ich hätte die Erlaubnis, Deutschland fahren darf.“ nach Deutschland einreisen zu dürfen, und dass ich 14 Tage Ich fragte ihn, ob ich nicht den Oberkommandie- Urlaub hätte. Ich fragte ihn dann, ob er mir nicht helfen renden sprechen könne, es sei doch ein besonderer Fall. Ihm könne, und er sagte:„Also nach Deutschland fahre ich habe ich ebenfalls meine Geschichte erzählt und dazu ge- nicht, aber ich bin ein Kurier und morgen früh fliege ich mit sagt:„Major XY hat gemeint, Sie geben mir einen Sonder- dem Flugzeug nach Bozen.“ pass.“ Und er fragte:„Did he? Hat er das wirklich gesagt?“ Am nächsten Tag, das war ein Samstag, bin ich dann Dabei war neben ihm ein Telefon, und ich hab noch gedacht: mit nach Bozen geflogen und von da aus getrampt. Ameri- „Wenn er jetzt ans Telefon geht und ihn anruft, dann sagt kaner haben mich gerne mitgenommen. Die waren immer der ihm:‚Ich hab kein Wort davon gesagt!‘, und dann bist froh, wenn sie mich dabeihatten, weil die Bauern unterwegs du aber im Eimer!“ nur Deutsch und kein Englisch sprachen. „Aber“, so fuhr er fort, „wenn der das gesagt hat, Landeszentrale: Dann haben Sie übersetzt … dann wird es schon stimmen!“ Dann gab es da in dem Pass Hamburger: Ja, das war ja in Südtirol, dort haben alle so ein Papier mit einer Prägung – nicht mit einem Stempel, Deutsch gesprochen. mit einer Prägung –, worauf er schrieb:„14 Tage Urlaub mit Ich wurde schließlich mitgenommen bis an einen Kontroll- der Erlaubnis, nach Deutschland einreisen zu dürfen“. punkt südlich von Innsbruck. Die ganze Strecke bin ich per Landeszentrale: Glauben Sie, dass er Sie durchschaut hat? Anhalter gefahren mit amerikanischen Jeeps und Lastautos,

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 147 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

Die zerstörte Nürnberger Hauptsynagoge 1938 Foto: ullstein bild

und am Samstagabend gegen sieben waren wir an der Doch bevor er umdrehte, habe ich den Captain ge- Grenze. fragt, ob er mich mitnimmt nach Innsbruck. Der Wachpos- Dort befand sich ein englischer Wachposten, der ten ließ mich endlich gewähren, und so erreichte ich mit mich aufhielt und fragte, wo ich hinwollte. Ich sagte:„Nach dem Amerikaner am 26. Mai Innsbruck. Von dort fuhr ich Nürnberg, nach Deutschland“, aber er verweigerte mir in ei- mit einem amerikanischen Lastwagen weiter nach Mün- ner vehementen Diskussion trotz meines Passes die Einreise. chen, wo ich nachts gegen Mitternacht ankam. In der Zwischenzeit war ein Jeep aus Innsbruck Landeszentrale: Aber der Laster wurde dann nicht mehr hinzugekommen mit einem amerikanischen Captain, den kontrolliert? der Sergeant sodann kontrollierte. Er wollte nach Italien. Hamburger: Nein, nein, ich war ja in Uniform und habe ei- Mit der Begründung, dass man von der besetzten Zone nicht nen guten Eindruck gemacht:Ich wurde also mitgenommen nach Italien könne, wurde der Captain also ebenfalls nicht und dann in einem Zelt der MP (Military Police) abgeliefert. durchgelassen, so dass er wutentbrannt zurückfahren Die haben mich auch auf einer ihrer Pritschen schlafen las- musste. sen.

148 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

Das zerstörte Nürnberg im März 1945 Foto: ullstein bild, Fotograf: Walter Frentz

Am Sonntagmorgen ergab sich dann eine Mitfahr- und sagte:„Hört auf mit eurem G’schmarre!“, haben die na- gelegenheit nach Nürnberg. An einem sonnigen Maitag war türlich die Welt nicht mehr verstanden. ich dann letztendlich am Plärrer angekommen, das war der Landeszentrale: Wie haben Sie Ihre Eltern wiedergefun- 27. Mai 1945. den? Landeszentrale: Sie sind in eine zerstörte Stadt heimge- Hamburger: Ich war in der zerstörten Stadt, bin dann zu kommen. dem Haus in der Wunderstraße gelaufen, von wo aus ich Hamburger: Als ich vom Plärrer aus in Richtung Burg ge- weg bin, aber da ist niemand mehr gewesen. Mein Vater war schaut habe, sah ich, was da los war, und ich muss Ihnen sa- ja am Gleisbau als Zwangsarbeiter eingesetzt, also bin ich gen – ich sage das übrigens immer wieder –, mein erster Ge- dann weiter zur Schnieglinger Straße gelaufen. danke war:Das, was der Verbrecher Streicher am 10. Au- Landeszentrale: Immer noch am Sonntag, immer noch an gust 1938 gesagt hat, „die Saat, die wir gesät haben, ist dem gleichen Tag? aufgegangen“, genau das war eingetroffen. Die Altstadt sah Hamburger: Ja, freilich. Ich habe ja nicht gewusst, wo ich so aus wie unsere Synagoge am Hans-Sachs-Platz am sonst hinsollte. 10. August und die Synagoge in der Essenweinstraße am Am Friedhof an der Schnieglinger Straße ange- 10. November 1938:geborstene Balken, zerbrochene Mau- kommen, habe ich dort geklingelt – das war so um eins, halb ern, nur die Fassaden standen noch! zwei –, und es ist jemand an die Tür gekommen, den ich seit Landeszentrale: Und die Menschen, auf die Sie getroffen meiner frühesten Jugend kannte. Das war ein Funktionär sind, haben Sie mit denen gesprochen? des Bar Kochba, des jüdischen Turnvereins, der dann nicht Hamburger: Nein. Es hat dann, als ich länger da war, schon mehr Bar Kochba hieß, sondern JTUS, Jüdischer Turn- und Vorfälle auf der Straße gegeben, weil ich ja eine ganz ande- Sportverein. Und der sagte zu mir:„Was kann ich für Sie re Uniform trug. Die Leute fingen hinter meinem Rücken tun?“ Darauf ich zu ihm:„Kennen Sie mich nicht? Ich bin zu tuscheln an:„Was ist denn das für einer? Der hat ja eine der Arno Hamburger!“ Da ist er sehr erschrocken. Ich ha- ganz andere Uniform an.“ Wenn ich mich dann umdrehte be ihn sogleich gefragt:„Wissen Sie eventuell, was mit mei-

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 149 Ein Gesprächmit Arno S. Hamburger

1946: Arno Hambur- hilfe. Meine Mutter hat also neben mir gesessen, und ich ger in US-Ziviluni- wurde gefragt, was ich da mache. Ich würde doch mit mei- form ner Mutter wegfahren dürfen! Wieso und weswegen, woll- Foto: privat ten die Männer wissen. Es waren zufällig zwei jüdische Of- fiziere. Denen habe ich erzählt, sie mögen gleich mit mir an den Friedhof fahren, und da hat es dann Kaffee und Kuchen gegeben. Mein Vater hat ja auch sein Geschäft wiederbe- kommen, eine Großschlächterei, also gab es auch Fleisch. Landeszentrale: War das Geschäft nicht zerstört? Hamburger: Es war im städtischen Schlachthof, der war nicht kaputt. Er hat sein Geschäft gleich wiederbekommen. Nürnberg wurde ja am 20. April befreit. Einen Monat, be- vor ich gekommen bin. Und die Amerikaner, die am 20. April in Nürnberg eingezogen sind, fragten, ob die Familie, also die Eltern, ir- gendetwas bräuchte. Sie sagten, „ja“, das Benzin sei knapp. Noch am Nachmittag standen fünf Kanister Benzin da. Al- so die Amerikaner haben uns sehr geholfen. nen Eltern passiert ist?“ Und er antwortete:„Ja, die woh- Landeszentrale: Und als dann der Urlaub zu Ende ging ... nen in einem kleinen Zimmer. Hier, bei der Leichenhalle, da Hamburger: … bin ich nicht zurückgefahren. Und dann gibt es Nebenräume für alles Mögliche.“ Zunächst bin ich war der Teufel los! Aber ich habe mit meinem commander natürlich erschrocken, habe dann aber zu ihm gesagt:„Dann gesprochen und ihm eben gesagt:„Meine Eltern brauchen gehen Sie mal rein und sagen Sie meinem Vater, dass er raus- mich noch.“ Und er sagte:„Also gut, dann bleib noch zwei kommen soll.“ Wochen!“ So bin ich noch zwei Wochen geblieben, und in Ich habe eigentlich Angst gehabt davor, was pas- dieser Zeit ist die Einheit von Tarvisio nach Rotterdam ver- siert, wenn ich da jetzt plötzlich auftauche und die Eltern legt worden, von wo aus ich dann im kommenden Jahr noch keine Ahnung haben. Er ist also rein, und das ist ein ziem- vier-, fünf-, sechsmal nach Nürnberg gefahren bin. Ich ha- lich langer Weg. Mein Vater kommt heraus und läuft mir be immer wieder Urlaub gehabt. Manchmal bin ich mit der entgegen, ich geh auf ihn zu, und er hat mich erst nicht er- Maschine in Nürnberg gewesen. kannt. Ich habe mein beret7 vom Kopf genommen, und da Landeszentrale: Mit dem Motorrad? hat er mich erkannt und hat furchtbar geschrien und ist mir Hamburger: Mit dem Motorrad, ja. Es war das erste Mo- in die Arme gefallen. Meine Mutter hat gehört, dass er torrad, das ich hatte. Ich habe dann noch viele gehabt. schreit, und als sie sehen konnte, wie wir uns da in den Ar- Nach langen, langen Diskussionen mit meinem Va- men lagen, ist sie ohnmächtig geworden. Sie ist einfach um- ter bin ich dann letztendlich auch in Nürnberg geblieben. gefallen. Wir sind dann zu ihr, haben sie aufgehoben und in Ich wollte zuerst nicht, auf keinen Fall, nach all dem, was das Zimmer gebracht. Dann saß ich in der Mitte, der Papa vorgefallen war. Dann hat er gesagt:„Schau, ich kann nicht links und die Mama rechts, und so ging es ans Erzählen. in einem anderen Land noch einmal von vorn anfangen. Ich Meine Mutter hat immer wieder gesagt:„Wenn ich gewusst will versuchen, wieder zu einem normalen Leben zu fin- hätte, dass du Soldat bist, wäre ich gestorben!“ Sie haben mir den.“ Schlussendlich hat er mich überzeugt, dass ich als ein- dann auch erzählt, was mit meinen Großeltern, dem Onkel ziges Kind zuerst einmal für meine Eltern da sein muss. Siegfried und der Tante Ida passiert ist. Es ging eben den Meine Arbeit bei den Nürnberger Prozessen be- ganzen Nachmittag ans Erzählen und Berichten. gann ich dann erst 1946, nachdem ich im August 1946 ent- Landeszentrale: Blieben Sie dann über Nacht? Ich meine, lassen worden bin – in Palästina, dort, wo ich eingetreten Sie waren ja noch Soldat. war. Hamburger: Ich habe ja Urlaub gehabt und besaß einen Landeszentrale: Sie sind noch einmal zurück nach Palästi- gültigen Pass. Das war sehr wichtig, denn ich bin ab und zu na gefahren? kontrolliert worden. Einmal war es auch so, dass uns die Mi- Hamburger: Wir sind 1946 von Toulon aus mit dem Schiff litärpolizei aufgehalten hat. Ich war gerade mit meiner Mut- erst wieder nach Port Said und von dort dann mit dem Zug ter im Auto. Mein Vater hat ein Auto bekommen, seinen nach Palästina gefahren, um schließlich in Rehovot entlas- Führerschein hat er sofort gemacht mit meiner tätigen Mit- sen zu werden.

7 Im Deutschen:Barett. Das beret war eine Kopfbedeckung und Bestandteil der britischen Militäruniform.

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1945: Mit dem Motorrad und in britischer Uniform auf dem Weg nach Nürnberg Foto: privat

Landeszentrale: Für Ihre Eltern, die Sie sechs Jahre lang Hamburger: Ab Mai 1939. Das rettete ihm das Leben. Es nicht gesehen haben, muss es ja grausam gewesen sein, Sie hat ja keine deutschen Männer mehr gegeben. Darum ar- wieder weggehen zu lassen. beitete er zusammen mit russischen Kriegsgefangenen bei Hamburger: Na ja. Zu der Zeit hatte ich schon einen Job einer Firma, die Gleise verlegt hat. und habe ein Visum für Deutschland bekommen. Außer- Landeszentrale: Gab es da jemanden, der ihn beschützt dem besaß ich einen britischen Pass – ich war ja zuvor aus- hat? gebürgert worden. Und mit Hilfe des Passes bin ich dann Hamburger: Beschützt? Nein! Sie haben ja gesehen, was er mit dem Schiff nach Marseille und von dort aus mit einem verdient hat. Wir haben die Lohnsteuer gleich weggezahlt. amerikanischen Zug nach Deutschland gefahren. Ende Au- Keine Fleischmarken, keine Waren, nichts. gust bin ich schließlich entlassen worden und im September Wenn Sie das Bild von 1939 mit dem von 1945 ver- 1946 wieder in Nürnberg gewesen. Ich lebte zuerst im gleichen, dann sehen Sie auch, wie sich der Mann in sechs Grand Hotel und dann in einer beschlagnahmten Villa. Mei- Jahren verändert hat. ne Eltern wohnten immer noch am Friedhof. Dann habe ich Landeszentrale: Als Sie dann zurück in Nürnberg waren, am 1. Oktober 1946 angefangen, im Justizpalast zu arbeiten. haben Sie da zu irgendeiner Gelegenheit Nazis angetroffen? Landeszentrale: Als Sie nach Palästina zurück sind zur Hamburger: Es hat keine gegeben. Es hat keine Nazis ge- Entlassung, hatten Sie da Gelegenheit, noch einmal in den geben, keine. Auch aus meiner Generation war niemand Moschav zu gehen? mehr da. Entweder sie waren in Kriegsgefangenschaft, oder Hamburger: Ja, natürlich war ich dort. Das ist klar. sie sind gefallen. Landeszentrale: Ihre Eltern haben die Jahre 1939–1945 in Ich habe ja auch keine sozialen Kontakte gehabt. Nürnberg überlebt, und Ihr Vater wurde als Zwangsarbei- Das ist erst gekommen, als wir deutsche Jugendliche be- ter eingesetzt. treuten. Innerhalb der GYA war das, der German Youth

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Arno Hamburger mit seinem Vater und seiner Mutter vor 1939 Arno, wieder vereint mit seinen Eltern, nach 1945 Foto: privat Foto: privat

Activities. Und „wir“, das waren die ausländischen Mitar- Wir, die deutschen Ausländer – das waren ja meis- beiter, Engländer, Franzosen und Deutsche, die ausgewan- tens Juden, die aus Deutschland emigriert waren – haben dert waren oder vertrieben wurden. Es hat verschiedene eben versucht, den Leuten zu zeigen, dass wir weder Hör- Gruppen gegeben:Lesegruppen, philosophische Gruppen, ner noch Kalbsfüße haben, sondern auch Menschen sind Musikgruppen, Sportgruppen. Ich hatte eine Sportgruppe wie alle anderen. Und dadurch bin ich ab dem dritten Jahr mit ca. 30 Mädchen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, und meiner Rückkehr wieder einigermaßen mit Mitgliedern der im Austausch mit denen habe ich dann zum Teil auch deren deutschen Gesellschaft in Berührung gekommen. ❚ Eltern kennengelernt.

Foto linke Seite: Lohnsteuerkarte des Vaters von 1944 Foto: privat

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Internet, Facebook, Twitter & Co. Neue Herausforderungen und neue Möglichkeiten für die politische Kommu- nikation im Wahlkampf

Von Christina Holtz-Bacha

„Machen Sie eine typische Handbewegung!“ – Bundes- umweltminister Peter Alt- maier, hier in einer Kabinetts- sitzung am 21. Dezember 2012, gilt in seiner Partei als „Twitter-Pionier“. Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Fotograf: Bernd Kühler

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„Mariechen ist abgefüttert. Der Kaffee ist da. Also kann’s losgehen.“ So twitterte SPD- Chef während seiner Elternzeit im Sommer 2012, als er sich einer Twitter-Fragestunde stellte. Bevor er aber seine politischen Anliegen loswerden konnte, musste er erst Fragen zu den im Bild erkennbaren goldglänzenden Türgriffen seiner Wohnung und zu seinem Kaffeebecher beantworten. Mittlerweile hat sich Ga- briel ein Image als eifriger Microblogger geschaffen. Heute hat er fast 22000 Follower. Dass die spontane Verbreitung aller Arten von Informationen über die „neuen Me- dien“ aber durchaus Gefahren birgt, musste Gabriel allerdings auch schon feststellen.

Bei einem Facebook-Eintrag nach einer Palästina-Reise ver- Professionalisierung der politischen griff er sich mit seinem Urteil über Israel und erntete eine Kommunikation Protestwelle, die ihn zum Zurückrudern zwang. Als „Twit- ter-König“1 indessen gilt Gabriels Politikerkollege Peter Die traditionellen Modelle des Wahlverhaltens führten die Altmaier von der CDU. Noch bevor er im Frühjahr 2012 Wahlentscheidung auf Faktoren zurück, die als langfristig das Bundesumweltministerium übernahm, tat er sich zu sei- stabil galten. Sie konnten aufgrund soziodemografischer ner Zeit als Geschäftsführer der Unionsfraktion als Twitter- Merkmale oder aufgrund einer festgefügten Parteineigung Pionier in seiner Partei hervor. Er bringt es mittlerweile auf mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wem ein Wäh- mehr als 34500 Follower. ler seine Stimme geben wird. Die Verlässlichkeit der Wäh- Längst haben Internet und soziale Netzwerke Ein- lerinnen und Wähler, die sich darin ausdrückte, hat nachge- zug in die politische Kommunikation gehalten, und zwar lassen. Die Gründe dafür liegen im sozialen Wandel, der die nicht erst seit Barack Obamas Internet-Kampagne in der traditionellen Milieus aufgebrochen hat. Die Gesellschaft US-Präsidentschaftswahl 2008. Diese galt jedoch als ein hat sich differenziert, es entstehen Lebensstilgruppen, die Wendepunkt in der Art und Weise, wie Wahlkampf abläuft. aber als weniger stabil und dauerhaft einflussreich gelten als So hieß es am Wahltag in der New York Times über die Kam- einstmals die sozialen Schichten. Dieser Modernisierungs- pagne: “It has rewritten the rules on how to reach voters, prozess hat die politischen Bindungen geschwächt, die raise money, organize supporters, manage the news media, Stammwählerschaften der Parteien sind kleiner geworden, track and mold public opinion, and wageand withstand po- Wahlentscheidungen wandeln sich leichter und schneller. litical attacks, including many carried by blogs that did not Wie einzelne Wählerinnen und Wähler sich beim Wahlter- „ exist four years ago. 2 Die Kampagne 2012 schließlich hat min entscheiden werden, lässt sich nicht mehr so einfach die zunehmende Bedeutung der digitalen Medien für den vorhersagen. Sie entscheiden sich später, verändern ihre Wahlkampf und die allmähliche Verlagerung weg von den Entscheidungen noch während des Wahlkampfes und be- klassischen Wahlkampfkanälen vorgeführt. halten sich vor, ob sie überhaupt an die Wahlurne gehen. Internet und soziale Netzwerke haben neue Mög- Das macht den Umfrageinstituten ebenso zu schaffen wie lichkeiten für die politische Kommunikation mit sich ge- den Wahlkampfstrategen, die Volatilität der Wählerschaft bracht, sie haben die Politik verändert und das Verhältnis stellt sie vor neue Herausforderungen. von Politik und Medien neu definiert. Diese Veränderungen Neben der gesellschaftlichen Differenzierung und treffen zusammen mit gesellschaftlichen Entwicklungen, der nachlassenden Verbindlichkeit der sozialen Gruppen die die Bedingungen für die Politikvermittlung schwieriger wirken sich für die politische Kommunikation tiefgreifende gemacht und zur Anpassung gezwungen haben. Veränderungen in den Mediensystemen aus. Kaum war in

1 Stephan Dörner: „Twitter-König“ der CDU wird Minister, in: Handelsblatt vom 16. Mai 2012. 2 Adam Nagourney: The ’08 campaign: sea change for politics as we know it, in: New York Times vom 3. November 2008.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 155 Internet, Facebook, Twitter & Co. den 1970er-Jahren das Fernsehen als vermeintlich einfluss- neuen Medientechnologien auch neue Anpassungsleistun- reichstes Wahlkampfmedium entdeckt, als etwa ab Anfang gen erfordern. der 1980er-Jahre neue Technologien und, daraus folgend, Diese Professionalisierung − im Sinne einer fort- die gesetzliche Liberalisierung eine Vermehrung der Ange- dauernden Anpassung an die Herausforderungen durch bote mit sich brachten. Vor allem in den Staaten Westeuro- gesellschaftliche Veränderungen mit ihren Konsequenzen pas bedeutete das ein Ende des öffentlich-rechtlichen Mo- für politisches Verhalten sowie die Entwicklung im Me- nopols. Die Public-Service-Sender sahen sich einer bisher diensektor − hat Folgen im politischen Kommunikations- nicht gekannten Konkurrenz ausgesetzt, die obendrein management mit sich gebracht. Einerseits ist die Rede von durch ihre Orientierung am Werbemarkt andere Akzente in der De-Ideologisierung der politischen Kommunikation. Inhalt und Aufbereitung setzen. Damit setzte ein, was Gemeint ist damit, dass „die Parteien statt eines scharfen Blumler und Kavanagh (1999) als „thethird ageof political weltanschaulichen und programmatischen Profils positive communication“ bezeichnet haben, ein Zeitalter, geprägt ,Produkteigenschaften‘ und ‚universale Kompetenz‘ her- von „media abundance, ubiquity, reach, and celerity“3: eine ausstellen“.4 Durchaus damit zusammenhängend, setzt sich Fülle von Kommunikationskanälen, allgegenwärtig, schnell andererseits eine Marketingperspektive durch, die Ver- und mit großer Reichweite. Die bis dahin ungekannte Viel- kaufsaspekte in den Vordergrund und Überredung vor zahl insbesondere an Fernsehkanälen hat zu einer Frag- Über- zeugung stellt. Experten aller Art, vom Eventmana- mentierung des Publikums geführt, das nun nicht mehr so gement über PR- und Werbeagenturen bis zur Meinungs- einfach anzusprechen ist wie zu Zeiten weniger Program- forschung, übernehmen und unterstützen das aktive Kom- me, wo sich das Publikum konzentrierte. Die Fülle des An- munikationsmanagement, dessen Ziel es ist, die gebots hat es mit sich gebracht, dass die Zuschauerinnen Definitionsmacht in der Hand zu halten und dafür zu sor- und Zuschauer der Politik einfacher ausweichen und sich gen, dass die politischen Botschaften möglichst unverändert leichterer Kost zuwenden können. Die auf hohe Zuschau- von den Medien übernommen werden oder an ihnen vorbei erquoten zielenden kommerziellen Sender tragen ihrerseits die Wählerschaft erreichen. dem vermeintlich vorrangigen Unterhaltungsinteresse des Diese Entwicklungen ließen sich zuerst in Wahl- Publikums Rechnung, nehmen politische Angebote zurück kämpfen beobachten, also zu Zeiten, in denen unmittelbar und verpacken sie in einer Weise, die sie attraktiver machen für den Machterhalt oder die Übernahme von Macht ge- soll. Die Politik, die für die Ansprache der Wählerschaft auf kämpft wird. Wahlkämpfe sind daher Hochzeiten der poli- die Medien, vor allem das Fernsehen, angewiesen ist, sah tischen Kommunikation, die die Strategien für die Anspra- sich daher gezwungen, sich ihrerseits unterhaltender zu ver- che von Bürgerinnen und Bürgern in markanter Weise kaufen. Dieser Zug zur Entertainisierung der Politik brach- hervortreten lassen. Das gilt längst nicht mehr nur für na- te hybride Angebote hervor, die Politik leichter verdaulich tionale Wahlen, sondern auch für Wahlen und Abstimmun- anbieten, und trieb die politischen Akteure in ein Umfeld, gen auf anderen Ebenen des politischen Systems. Sie dienen in dem sie bisher fremd waren. zugleich als Vorbilder für politische Kampagnen außerhalb Diese Entwicklungen − die Unberechenbarkeit der von Wahlkämpfen oder auch für die alltägliche politische Wählerschaft und die Veränderungen der Medienland- Kommunikation. schaft − haben die Politik herausgefordert und Anpassungs- leistungen notwendig gemacht, die sich als Professionalisie- Der Kampf um die Aufmerksamkeit rung bezeichnen lassen. Dieser Begriff kam zunächst auf mit der stärkeren Sichtbarkeit von Beratern und Verkaufsspe- Ebenso wie die kommerzielle Werbung muss auch die poli- zialisten in Wahlkämpfen, also einer Tendenz zum Outsour- tische Kommunikation in erster Linie darauf zielen, die cing von Kampagnenaufgaben, obwohl sich Parteien und Aufmerksamkeit der Medien und der Wählerschaft zu ge- Kandidaten nicht erst neuerdings solcher professioneller winnen. Sie steht dabei in der Konkurrenz mannigfacher Hilfe bedienen. Schnell wurde aber deutlich, dass profes- und attraktiverer Angebote, gegen die sie sich durchsetzen sionelles Marketing von Politik, nicht nur zu Wahlkampf- muss, und gleichzeitig vor dem Problem, dass viele Rezi- zeiten, einer Professionalisierung aller an der politischen pienten sich nicht so sehr für Politik interessieren und poli- Kommunikation Beteiligten bedarf und darüber hinaus ei- tische Angebote daher nicht aktiv suchen. nen andauernden Prozess darstellt, nicht zuletzt weil die

3 Jay G. Blumler / Dennis Kavanagh: The third age of political communication: influences and features, in: Political Communication 16, 1999, S. 209–230. 4 Winfried Schulz: Wahlkampf unter Vielkanalbedingungen. Kampagnenmanagement, Informationsnutzung und Wählerverhalten, in: Media Perspektiven 8/1998, S. 378–391.

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Bundeskanzlerin Angela Mer- kel beim Erinnerungsfoto nach dem Ende der Sendung „Wahlarena“ am 9. September 2013 im Ersten: Parteien, die im Wahlkampf auf Personali- sierung oder Privatisierung setzen, gehen auch ein Risiko ein: Welche Aspekte der Per- son und ihrer Persönlichkeit werden medial aufgegriffen, was wird betont, was wird wie bewertet? Foto: ullstein bild, Fotograf: Sven Simon

Der Kampf um Aufmerksamkeit für Programm und Kan- des politischen Marketing aufwenden, um die politische didaten umfasst auch solche Strategien, die darauf gerichtet Karriere zu retten, oder ist gar daran gescheitert. Auch an- sind, Aufmerksamkeit von bestimmten Themen abzulen- derswo gibt es die Einbeziehung des Privaten in die politi- ken. Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten haben unter- sche Selbstdarstellung, dieses ist dann aber eher von der Per- schiedliche Kompetenzen oder Erfolge aufzuweisen, und son des Kandidaten abhängig. Diese Privatisierung ist eine sie haben „wunde Punkte“, die sie im Wahlkampf lieber geeignete Ablenkungsstrategie, die auf persönliche Sympa- nicht diskutiert haben möchten. Sie setzen daher auf De- thie setzt. So ganz unpolitisch ist sie indessen auch nicht: Thematisierung oder Ablenkung. Eine bewährte Strategie, Politikerinnen und Politiker, die ihre private Seite bemühen, die Aufmerksamkeit von Medien und deren Publikum zu um sich der Wählerschaft anzupreisen, hoffen darauf, dass gewinnen und gleichzeitig von unbequemen und schwieri- ihre (positiven) persönlichen Eigenschaften auf die öffentli- gen Themen abzulenken, ist Personalisierung. Gemeint ist che Rolle übertragen werden und sie sich auch damit für das damit die Verknüpfung politischer Programme und Pro- von ihnen angestrebte Amt empfehlen.6 blemlösungen mit Personen. Die Politikerin, der Politiker stehen für die Sache. Die Personalisierung politischer Bot- Direkte und indirekte Ansprache schaften macht die abstrakte und daher eher schwer erklär- der Wählerschaft bare Politik leichter verständlich und kommt auch damit den Medien und der Wählerschaft entgegen.5 Bis zum Aufkommen der digitalen Medien war die Politik Eine besondere Form der Personalisierung ist „Pri- zur Ansprache der Wählerschaft auf die Massenmedien an- vatisierung“. Während Personalisierung die Fokussierung gewiesen, denn die meisten Bürgerinnen und Bürger kom- auf Personen bezeichnet, die nicht notwendig „unpolitisch“ men nur selten direkt mit der Politik in Kontakt. Etwa seit sein muss und wegen ihrer die Komplexität reduzierenden den 1970er-Jahren galt ihr Interesse vorrangig dem Fernse- Funktion auch nicht unbedingt negativ zu beurteilen ist, be- hen, dessen audiovisuelle Qualität besondere Wirksamkeit zieht sich Privatisierung auf das Eindringen des Privaten in erhoffen ließ. Hier ging es vor allem um den Zugang zu den die Politikvermittlung. In den USA ist es selbstverständlich, redaktionellen Angeboten wie etwa Nachrichtensendun- dass sich Kandidaten auch in ihren privaten Rollen präsen- gen, weil die Politikdarbietung in ihnen neutraler und daher tieren, dort gehört das Private ganz selbstverständlich mit glaubwürdiger erscheint. Damit ging auch die eifersüchtige auf die politische Bühne, und mancher Kandidat musste ge- Beobachtung der ausgewogenen Berücksichtigung aller im rade wegen Enthüllungen über sein Privatleben alle Tricks Wettbewerb stehenden politischen Akteure einher. Das

5 Vgl. Christina Holtz-Bacha / Eva-Maria Lessinger / Merle Hettesheimer: Personalisierung als Strategie der Wahlwerbung, in: Kurt Imhof / Peter Schulz (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisierung des Öffentlichen, Opladen 1998, S. 240–250. 6 Vgl. Christina Holtz-Bacha: Das Private in der Politik: Ein neuer Medientrend?, Aus Politik und Zeitgeschichte (2001), B41–42, S. 20–26.

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Streben in die mediale Berichterstattung verbindet sich al- hen und daher vielleicht gerade noch vor Augen haben, lerdings mit dem Risiko der Veränderung der politischen wenn sie ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel machen. Auf- Botschaften. Die Medien verfahren nach ihren Selektions- grund ihres offensichtlichen Werbecharakters und der qua- und Produktionskriterien. Abgesehen davon, dass die Me- si natürlichen Einschränkungen für Plakate, die dadurch be- dien kürzen müssen, hat es die Politik nicht in der Hand, dingt sind, dass Plakate stets nur im Vorbeigehen oder was aus ihren Angeboten wird: Was wird aufgegriffen, was -fahren und daher sehr, sehr kurz beachtet werden, haben wird betont, was wird wie bewertet? sie ihre Funktion im Wahlkampf allerdings vor allem darin, Diesem Risiko lässt sich ausweichen durch den auf den bevorstehenden Wahltermin aufmerksam zu ma- Einsatz solcher Instrumente, die in der Verantwortung der chen. Politik liegen und keine Veränderungen durch mediale Ver- arbeitungsprozesse erfahren. Das sind die sogenannten paid Neue Herausforderungen − media (im Gegensatz zu den earned media, womit die „Er- neue Möglichkeiten arbeitung“ der Berücksichtigung in den redaktionellen An- geboten der Medien gemeint ist), dazu gehören alle Werbe- Die neue Unberechenbarkeit der Wählerschaft hat die Po- mittel, wobei Wahlwerbung in Radio und Fernsehen wegen litik vor besondere Herausforderungen gestellt. Die Betei- der großen Reichweite am interessantesten ist. Die meisten ligung an Wahlen ist weniger selbstverständlich geworden. europäischen, nord- und lateinamerikanischen Staaten er- Vor der Stimmenwerbung ist es daher die erste Aufgabe von lauben Parteien oder Kandidaten Werbung während der Wahlkampagnen, die Wählerinnen und Wähler zu mobili- letzten Wochen eines Wahlkampfes; in vielen Ländern stel- sieren, um sie schließlich an die Wahlurnen zu bringen. Die len die Rundfunkanstalten für Wahlspots kostenlose Wer- Kurzfristigkeit von Wahlentscheidungen und die Neigung, bezeit zur Verfügung, manche geben den Wahlkämpfern die es sich auch während des laufenden Wahlkampfes noch ein- Möglichkeit zum Ankauf von Werbezeit. Radio und Fern- mal anders zu überlegen und die Wahlentscheidung zu än- sehen fungieren nur als Transporteure der Wahlwerbung, dern, verlangen eine dauerhaft intensive Kampagne, um die deren Gestaltung bleibt in den Händen der Parteien oder Wähler bei der Stange zu halten. Aufgrund globaler Ab- Kandidaten. Sie können sicher sein, dass ihre Werbung so hängigkeiten und übernationaler Zusammenhänge steht die ausgestrahlt wird, wie sie es selbst gewollt haben. Diese Politik zudem vor dem Problem, dass Versprechungen für Möglichkeit der unveränderten Selbstdarstellung hat aller- die Zukunft unsicher, weil oftmals nicht allein auf nationa- dings wie- derum ihren Preis: Das Medienpublikum weiß, ler Ebene zu entscheiden sind. Das hat zuletzt die Finanz- dass es sich um Werbung handelt, dass es Parteien und Kan- krise deutlich vorgeführt. Positionen und Problemlösungen didaten um seine Stimme geht. Das aktualisiert unter Um- müssen daher vage bleiben oder werden durch allgemeine ständen Reaktanzen, wie sie bei allen Arten von Werbung Sympathiewerbung ersetzt. Dafür eignen sich Personen vorkommen. Die je nach Land mehr oder weniger weit ge- meist besser als abstrakte Themen. hende Regulierung von Wahlwerbung − zeitliche und men- Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich genmäßige Beschränkungen, Platzierung, Vorgaben für gebracht hat, kommen diesen Herausforderungen entgegen. Text und Bild − und Distanzierungsstrategien der Rund- Zunächst ist mit dem Internet ein neues Werbemittel ent- funkanstalten, die die Wahlwerbung als solche ankündigen, standen, das die Ansprache der Wählerschaft an den tradi- die Verantwortung von Parteien und Kandidaten hervorhe- tionellen Massenmedien vorbei erlaubt und auch eine ge- ben und die Fernsehspots mit der Kennzeichnung „Wahl- wisse Form der Interaktivität bietet. Die sozialen Netz- werbung“ versehen (wie das etwa im deutschen Fernsehen werke haben diese Möglichkeiten noch einmal erweitert. der Fall ist), tun ein Übriges, um den Wahlkämpfern den Schon in den 1990er-Jahren kamen E-Mail und Einsatz von Werbespots zu verleiden. Internet in Wahlkampagnen in den USA zum Einsatz.7 Um Unter den anderen, nicht an die Massenmedien die Jahrtausendwende entwickelte sich der Aufbau von Da- gebundenen Werbemitteln erreichen nur Plakate nennens- tenbanken, die dem Kampagnenmanagement zur gezielten werte Reichweiten in den Ländern, wo Plakatwerbung in Ansprache der Wählerschaft dienen. Zur gleichen Zeit ka- Wahlkämpfen üblich ist. Plakate haben zwar eine große men Blogs auf, und die neuen Techniken wurden zuneh- Breitenwirkung, denn an ihnen ist einfach nicht vorbeizu- mend auch für das Fundraising genutzt. Den ersten Rekord kommen. Außerdem sind sie oft das letzte Werbemittel, das setzte dafür der sonst glücklose Präsidentschaftskandidat die Wählerinnen und Wähler auf dem Weg ins Wahllokal se- Howard Dean im Jahr 2004. 2005 kam Youtube auf und er-

7 Vgl. Andreas Jungherr / Harald Schoen: Das Internet in Wahlkämpfen. Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen, Wiesbaden 2013.

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ben meinte.9 Zu bewundern war der Einsatz von E-Mails, Websites und sozialen Netzwerken für die Orga- nisation und Mobilisierung der Kampagnenhelfer und für das in den USA so wichtige Fundraising sowie für die An- sprache der Wählerschaft, der Einsatz von Youtube und von SMS. In jeder Hinsicht übertraf Barack Obama dabei seinen Gegner John McCain: Doppelt so viele Leute besuchten Obamas Website; er hatte viermal mehr Zuschauer für sei- ne Youtube-Videos, fünfmal mehr Freunde allein auf Face- book; dazu passt, dass er auch zehnmal mehr Mitarbeiter für die Online-Kampagne hatte.10 Der Hype um die digitalen Kampagneninstrumente machte jedoch vergessen, dass der größere Teil des Kampagnenbudgets von Obama immer noch in die klassische Wahlwerbung im Fernsehen ging. Auch im Präsidentschaftswahlkampf 2012 richtete sich der Blick abermals auf die Obama-Kampagne. Wieder Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Howard Dean, um- hatte Obama einen deutlichen Vorsprung gegenüber seinem geben von Anhängern, auf einer Wahlkampfveranstaltung in Spo- Herausforderer. Obama postete deutlich mehr in sozialen kane am 25. August 2003. Deans Nutzung der „neuen“ Medien Netzwerken und Blogs als Mitt Romney und bekam auch für Wahlkampfzwecke gilt als wegweisend für die Obama-Kam- erheblich mehr Resonanz durch Facebook-Likes, Twitter- pagnen 2008 und 2012. Foto: ullstein bild, Reuters, Fotograf: Jason Reed Retweets und Reaktionen auf Youtube.11 Im Sommer 2012 hatte Obama mehr als 27,6 Millionen Freunde auf Face- book, 207000 Youtube-Abonnenten und mehr als 18 Mil- öffnete vor allem auch die Möglichkeit der schnellen Ver- lionen Follower auf Twitter. Der Vergleich mit 2008, als breitung von Bewegtbildern außerhalb der klassischen Mas- Obama lediglich 1,7 Millionen Freunde auf Facebook und senmedien. 83000 Youtube-Abonnenten hatte, belegt die rasante Ent- Die US-amerikanischen Präsidentschaftswahl- wicklung.12 Dennoch behält die Fernsehwerbung ihre Rele- kämpfe der Jahre 2008 und 2012 haben schließlich in be- vanz. Die Obama-Kampagne investierte 2012 404 Millionen sonderer Weise vorgeführt, was sich mit den „neuen Me- Dollar in Fernsehspots, die Romney-Kampagne sogar dien“ machen lässt. Schon 2008 galt die Obama-Kampagne 492 Millionen Dollar.13 In die Internetwerbung gingen für als vorbildlich für den Einsatz digitaler Techniken bei der Obama dagegen nur etwas mehr als 52 Millionen Dollar, für Stimmenwerbung: “The2008 racefor theWhiteHouse [...] Romney gut 26 Millionen.14 fundamentally upended the way presidential campaigns are Daneben zeichnete sich die US-Wahlkampagne „ fought in this country , urteilte New-York-Times-Bericht- 2012 durch einen noch einmal verfeinerten Zielgruppen- erstatter Nagourny, als der Wahlkampf zu Ende ging. Viel- zuschnitt aus. Schon nach dem Wahlkampf 2008 galt die leicht mehr noch als in den USA hat die Obama-Kampagne Wählerdatenbank der Demokraten als ihre „neue Waffe“,15 2008 die Wahlkampfbeobachter aus anderen Ländern be- sie ist die Schatztruhe, die der Kampagnenorganisation das eindruckt. „Obama“ wurde geradezu gleichbedeutend mit Microtargeting erlaubt. Das heißt, aufgrund einer riesigen dem digitalisierten Wahlkampf oder „election 2.0“8, obwohl Menge von Daten kann die Wähleransprache sehr fein per- seine Kampagne keine neuen Instrumente aufbrachte, wohl sonalisiert werden. Solche Wählerkarteien gab es schon lan- aber die Möglichkeiten des Online-Wahlkampfes in einer ge, und sie dienten vor allem als Grundlage für Telefonkon- Weise nutzte, wie man sie bisher noch nicht gesehen zu ha- takte, um die Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren und

8 Darren G. Lilleker / Nigel A. Jackson: Elections 2.0: Comparing e-campaigns in France, , Great Britain and the United States, in: Schweitzer/Albrecht (Hg.): Das Internet im Wahlkampf. Analysen zur Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 96–116. 9 Vgl. Jungherr / Schoen (wie Anm. 7), S. 102 f. 10 Jennifer Aaker / Victoria Chang: Obama and the power of social media and technology, 2009. 11 Vgl. Pew Research Center: How the presidential candidates use the web and social media. Obama leads but neither candidate engages in much dialogue with voters, August 2012. 12 Vgl. ebd. 13 Mad Money: TV ads in the 2012 presidential campaign, The Washington Post online. 14 Laura Stampler: Obama spent more on online ads than it cost to build the Lincoln Memorial, in: Business Insider, November 2012. 15 David Talbot: Die neue Waffe der Demokraten, in: Technology Review vom 15. Januar 2009.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 159 Internet, Facebook, Twitter & Co.

Der demokratische Bewerber für das Amt des Bürgermei- sters von New York, Anthony Weiner, hier neben seiner Frau Huma Abedin bei einer Pres- sekonferenz am 23. Juli 2013 in New York, ist eines der jüngsten Beispiele für eine eher unprofessionelle Nutzung von Twitter im Wahlkampf: Weiner hatte sexuell anzügli- che Fotos über Twitter ver- sandt; die demokratischen Vorwahlen am 10. September 2013 verlor er deutlich. Foto: ullstein bild, Reuters, Fotograf: Eric Thayer

für einen Kandidaten zu gewinnen.16 Die Digitalisierung hat Rückkehr zu den alten Methoden des Grassroot Cam- es nun aber möglich gemacht, eine Vielzahl von Daten über paignings und des unmittelbaren, nicht über die Massenme- Wählerinnen und Wähler zusammenzuführen, so dass sie dien vermittelten Austausches mit der Wählerschaft. Wohl mit ihren persönlichen Interessen und Themen und regio- auch deshalb sagt Joe Trippi, der 2004 Howard Dean in nal unterschiedlich angesprochen werden können. Die seinem Wahlkampf beraten hatte: „[...] für mich fühlt es Grundlage für die „big data“ der Obama-Kampagne legte sich so an, als ob Technik der Politik ihre Seele zurückgege- sein Wahlkampf 2008, in dem bei allen Gelegenheiten ben hat.“19 E-Mail-Adressen gesammelt wurden, die sich anderen Da- Vor allem das Fernsehen, das bislang Ziel der Be- ten zuordnen ließen. Eine besondere Rolle spielte dabei das gehrlichkeiten von politischer Seite war, verliert durch die- damals eingerichtete soziale Netzwerk MyBo.17 Die Aus- se Entwicklungen an Relevanz als Wahlkampfmedium. wertung der Daten aus dem Wahlkampf 2008 lieferte „Na- Das bedeutet den Rückgang des medialen Einflusses auf die men von 69 Millionen Wählern, die bei der letzten Wahl für Politikvermittlung, die journalistischen Selektions-, Verar- Obama gestimmt hatten [...]. Außerdem verriet big data, beitungs- und Kommentierungsleistungen entfallen. Statt- welche Wähler noch unentschlossen waren, und sogar, wel- dessen treffen die politischen Botschaften direkt auf die che Anhänger der gegnerischen Republikaner sich eventu- Wählerinnen und Wähler, die nun selbst übernehmen müs- ell noch umstimmen ließen. In diesem Wahlkampf wurden sen, was ihnen bislang abgenommen wurde. Für die Politik über 100 Millionen Dollar allein dafür ausgegeben, das entfällt damit das unbequeme Risiko der Veränderung, aber größte soziale Netzwerk in der Geschichte der Politik auf- auch Überprüfung ihrer Aussagen durch die mediale Bear- zubauen. Millionen Amerikaner tauschten sich über The- beitung. Zwar behält das Fernsehen für den Wahlkampf ei- men aus, die sie wirklich betrafen.“18 ne gewisse Attraktivität durch seine großen Reichweiten, Der Einsatz von Internet, Facebook und Co. er- die jedoch gleichzeitig das „Zielgruppentargeting“ er- laubt den Kampagnenorganisationen, direkt mit den Wäh- schweren. lerinnen und Wählern in Kontakt zu treten und ein virales Die individuell zugeschnittene Wähleransprache Marketing zu betreiben. Sie umgehen dabei die klassischen – alles für jeden –, die durch die digitalen Kampagnenkanä- Massenmedien, auf die sie bislang angewiesen waren und die le und die Anhäufung von big data möglich geworden ist, jahrzehntelang das primäre Ziel der Wahlkämpfer waren. belegt endgültig den Übergang von der Produktorientie- Insofern bedeuten die neuen Kampagneninstrumente eine rung über die Verkaufs- zur Marktorientierung,20 wie sie die

16 Vgl. Joe Trippi: Technik gibt der Politik die Seele zurück, in: Technology Review vom 1. Februar 2013. 17 David Talbot: Die personalisierte Wahl-Kampagne, in: Technology Review vom 24. März 2009. 18 Trippi (wie Anm. 16). 19 Trippi (wie Anm. 16). 20 Vgl. Jennifer Lees-Marshment: Political marketing and British political parties. The party’s just begun, Manchester 2001.

160 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Internet, Facebook, Twitter & Co.

book, Twitter & Co. den Bürgerinnen und Bürgern ebenso schnelle Reaktionen auf politische Ereignisse; manch ein Politiker sah sich schon einem Entrüstungssturm ausge- setzt, der dann nur mit viel Aufwand wieder zu beruhigen ist. Die neuen Kampagneninstrumente bringen indes- sen für die Politik einen erhöhten Mobilisierungsbedarf mit sich, der sich zum einen daraus ergibt, dass das Internet zu großen Teilen ein Pull-Medium darstellt: Die Nutzerinnen und Nutzer müssen aktiv werden, die Inhalte kommen nicht wie bei den klassischen Massenmedien, die Push-Me- dien sind, auf sie zu, ohne dass sie viel Aktivität erfordern. Sie werden also weniger leicht zufällig mit politischen An- Präsident Barack Obama vor Unterstützern am 24. Oktober geboten konfrontiert, als das vor allem beim Fernsehen der 2012 in Denver, Colorado. Wähler übernehmen im digitalen Fall ist. Obendrein erlauben die neuen Technologien eine Wahlkampf zunehmend die Funktion, Wahlkampfbotschaften stärkere Selektion von Informationen, als das bei den Mas- zu kommunizieren. Foto: ullstein bild, Reuters, Fotograf: Kevin Lamarque senmedien der Fall ist. Das führt dazu, dass sich die Wähle- rinnen und Wähler verstärkt solchen Inhalten zuwenden, die zu ihren bestehenden Einstellungen und Meinungen passen. Die Herausforderung, die sich aus der (zufälligen) Ausbreitung des Marketingsdenkens in der Politik mit sich Konfrontation mit anderen Positionen zum Beispiel in den gebracht hat: Es geht nicht mehr darum, ein Produkt, eine Fernsehnachrichten, Talkshows oder den Kandidatenduel- Ideologie, eine Partei oder einen Kandidaten an die Frau len im Fernsehen ergibt, entfällt. Zum anderen haben viele und an den Mann zu bringen und ihnen schmackhaft zu ma- Nutzer der sozialen Netzwerke andere Motivationen als chen, sondern das Produkt wird unter Verkaufsaspekten ge- den Austausch über politische Inhalte. Das erklärt den Ein- staltet. Überzeugungen sind auf diese Weise beliebig ge- satz eines Heers von freiwilligen Wahlkampfhelfern in den worden. USA, die solche Barrieren überwinden, um diese Nachteile Mit den digitalen Techniken sind aber auch neue auszugleichen. Und so lautete dann auch eine Erkenntnis „Player“ im politischen Feld hinzugekommen, die in das aus dem Vergleich der US-Präsidentschaftswahlkämpfe Wahlkampfgeschehen eingreifen und die Politik zu Reak- 2012 und 2008: “In 2012, in short, voters are playing an in- tionen herausfordern. Es entstanden zahlreiche politische creasingly largerolein helping to communicatecampaign Internetangebote, insbesondere Blogs, die über die Kampa- messages, while the role of the traditional news media as an „ gne berichten, den Wahlkampf diskutieren und kommen- authority or validator has only lessened. 21 tieren, Aussagen hinterfragen und auf ihre Richtigkeit prü- fen. Die Schnelligkeit der digitalen Techniken, die für die Die USA – Vorreiter, aber kein Modell Kampagnenorganisation einen großen Vorteil darstellt, kann hier zum Problem werden. Ein Videomitschnitt vom Wahlkampfmanager von Parteien und politische Berater aus Ausrutscher beim Wahlkampfauftritt, ein nicht für die Öf- aller Welt beobachten stets sehr genau, wie in den USA fentlichkeit bestimmter Kommentar ins versehentlich noch Wahlkampf läuft. Nicht umsonst verfolgt uns mittlerweile offene Mikrofon, das Foto vom privaten Wochenende – al- seit Jahrzehnten das Schlagwort der Amerikanisierung22 les ist in Sekundenschnelle ins Netz gestellt und weltweit und verbunden damit oft die Erwartung, die raffinierte verbreitet. Das etwa musste der ehemalige britische Pre- Kampagnenführung, wie sie uns in den USA vorgeführt mierminister Gordon Brown im Wahlkampf 2010 erleben, wird, sei ein Vorbild und ließe sich so einfach übernehmen. der nicht gemerkt hatte, dass sein Mikrofon noch offen war, Das lässt indessen vergessen, dass die Kampagnenin- als er eine Wählerin als bigott beschimpfte. Innerhalb kür- strumente und die Art und Weise ihres Einsatzes in einem zester Zeit fand sich das Ereignis auf Youtube, wo dann auch engen Zusammenhang mit dem politischen und dem Wahl- zu sehen war, wie Brown abermals anreiste, um sich bei der system der USA, aber auch anderen gesellschaftlichen Fak- Frau zu entschuldigen. Obendrein erlauben Internet, Face- toren stehen. Die Kandidatenorientierung, Hand in Hand

21 Pew Research Center (wie Anm. 11), S. 4. 22 Vgl. Christina Holtz-Bacha: Political campaign communication: Conditional convergence of modern media elections, in: Frank Esser / Barbara Pfetsch (Hg.): Comparing political communication. Theories, cases, and challenges, Cambridge 2004, S. 213–230.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 161 Internet, Facebook, Twitter & Co.

Podcast und initiiert einen Zukunftsdialog via Internet. Der deutsche Regierungssprecher twittert. Vor allem das Enga- gement im Web 2.0 ist zu einem Ausweis der Modernität ge- worden, die Zahl der Freunde und Follower ein Indikator für Popularität, der Kandidaten und Parteien aber auch schon in Manipulationsverdacht durch gekaufte Freunde gebracht hat. Ebenso wie der Parteivorsitzende der deutschen Sozialdemokraten, der mit seinem „Twitterview“23 während der Elternzeit Furore gemacht hat, haben die Politikerinnen Tweet des Regierungssprechers Steffen Seibert mit weiterführen- und Politiker erkannt, dass ihnen die Entwicklung digitaler dem Link zum Podcast, daneben der „Follow-Button“ Kommunikationsmittel vielseitige Möglichkeiten für den Screenshot: https://twitter.com/RegSprecher vom 20.09.13 unmittelbaren Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern be- schert hat. Diese Instrumente machen sie unabhängiger von mit einer starken Polarisierung, die Notwendigkeit des in- den klassischen Massenmedien, deren Verarbeitungsrouti- dividuellen Fundraisings, die wachsende Bedeutung der nen das Risiko der Veränderung und der Kürzung mit sich Vorwahlen, ein in der Bevölkerung weitverbreitetes Desin- bringen, sie müssen dann aber auch auf deren Glaubwür- teresse an Wahlen, das kommerzielle Mediensystem, aber digkeit verzichten, die den Werbecharakter ihrer politischen auch gesetzliche Regelungen (z. B. Beschränkungen für Botschaften in den Hintergrund treten lässt. Die extensive Wahlwerbung, Datenschutz) spielen eine Rolle und führen direkte Kommunikation mit ihrer Wählerschaft nimmt die dazu, dass US-Wahlkämpfe ihren Beobachtern bestenfalls politischen Akteure indessen insofern stärker in die Pflicht, als Inspiration dienen können, jedes Land aber seine eige- als Internetseiten und erst recht Auftritte in sozialen Netz- nen Rahmenbedingungen für die Wahlkampfführung hat. werken und Twitter der permanenten Pflege und Aktuali- Andererseits stellt die gesellschaftliche Moderni- sierung bedürfen, um in der Netzgemeinde akzeptiert zu sierung die Politik überall in der westlichen Welt vor werden. Nicht umsonst hat sich auch im US-Wahlkampf ähnliche Herausforderungen. Es ist schwer geworden, die herausgestellt, dass die Dialogmöglichkeiten des Web 2.0 Wählerinnen und Wähler mit politischen Botschaften zu er- nur wenig genutzt wurden; Kommentare von Seiten der reichen; die Wählerschaft hat sich differenziert, ist unbere- Empfänger führten kaum zu abermaligen Reaktionen.24 chenbar geworden, muss mobilisiert werden, bevor an „Jetzt ist der Kaffee alle [...] und Mariechen hat Stimmenwerbung zu denken ist. Die neuen Möglichkeiten Hunger“, so beendete Sigmar Gabriel seine Fragestunde via zur personalisierten Wahlkampfkommunikation kommen Twitter.25 Ihm war gelungen, auf die Ferne Nähe herzustel- dieser Entwicklung entgegen, damit schiebt sich jedoch len, politische Statements mit einem privaten Touch zu ver- endgültig die Markt- vor die Produktorientierung. Schließ- binden und so zu demonstrieren, was sich mit den neuen lich muss die Politik die Veränderungen im Nutzungsver- Kommunikationsmöglichkeiten so alles machen lässt. Der halten des Medienpublikums nachvollziehen und sich die Neuigkeitswert seiner Aktion hat ihm Aufmerksamkeit ge- neuerdings attraktiveren Kommunikationskanäle zunutze bracht; mit der Zeit wird die Gewöhnung dazu führen, dass machen. Die Erfahrungen aus den USA können dabei hilf- die digitalen Instrumente Aufmerksamkeit nicht garantie- reich sein. ren, sondern ebensolcher Strategien bedürfen wie die Ver- Es geht heute nicht mehr ohne. Internet, soziale mittlung politischer Botschaften über die alten Medien. ❚ Netzwerke, Twitter müssen sein. Das gilt nicht nur für Wahlkämpfe, sondern ebenso für die alltägliche politische Dieser Aufsatz wurde erstmals veröffentlicht unter dem Ti- Kommunikation. Jede Website weist heute die Logos von tel Web 2.0: nuevos desafíos en comunicación política, in: Facebook und Co. auf, jede Politikerin und jeder Politiker Diálogo Político. Publicación trimestral de la Konrad-Ade- hat eine eigene Website. Die Parteien füttern Youtube-Ka- nauer-Stiftung A. C. 1/2013, S. 11–27. näle, die Bundeskanzlerin präsentiert ihren wöchentlichen

23 Florian Gathmann: SPD-Chef Gabriel im Twitterview vom 27. Juli 2012: „Jetzt ist der Kaffee alle“, Spiegel online, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-chef-sigmar-gabriel-im-twitter-interview-zur-bankenregulierung-a-846712.html [Stand: 2. Februar 2013]. 24 Vgl. Pew Research Center (wie Anm. 11). 25 Gathmann (wie Anm. 23).

162 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Internet, Facebook, Twitter & Co.

Ankündigung

Der Landtagswahlkampf 2013 präsentierte sich hinsichtlich der von Frau Prof. Holtz-Bacha im vorstehen- den Artikel skizzierten Entwicklungslinien uneinheitlich: Wiewohl die Parteien teilweise eine stärkere Affi- nität zu netzpolitischenThemen zur Schau trugen, wurde das Internet insbesondere im Hinblick auf seine Interaktivität mehrheitlich kaum als Kampagneninstrument genutzt. Eine differenziertere Darstellung der digitalen Dimension des bayerischen Landtagswahlkampfes finden Sie in dem Band Landtagswahl und Parteien in Bayern 2013 – Eine Bilanz, voraussichtlich ab April 2014 bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit erhältlich. Eine Analyse des digitalen Bundestagswahlkampfes finden Sie in dem voraussichtlich im Herbst 2014 er- scheinenden Band Massenmedien und Wahlen. Die Bundestagswahl 2013, hg. v. Christina Holtz-Bacha, Wiesbaden: Springer VS.

Aaker, Jennifer & Chang, Victoria (2009), Obama and the Lilleker, Darren G. & Jackson, Nigel A. (2011), Elections 2.0: power of social media and technology. The European Business Comparing e-campaigns in France, Germany, Great Britain Review, http://www.europeanbusinessreview.com/?p=1627 and the United States, in: Das Internet im Wahlkampf. Analy- [Stand: 20. November 2012]. sen zur Bundestagswahl 2009, hg. v. Eva Johanna Schweitzer & Steffen Albrecht, Wiesbaden 2011, S. 96–116. Blumler, Jay G. & Kavanagh, Dennis, The third age of poli- tical communication: influences and features, in: Political Mad Money: TV ads in the 2012 presidential campaign, The Communication 16, London 1999, S. 209–230. Washington Post, http://www.washingtonpost.com/wp- srv/special/politics/track-presidential-campaign-ads-2012/ Dörner, Stephan, „Twitter-König“ der CDU wird Minister, [Stand: 18. Januar 2013]. Handelsblatt, http://www.handelsblatt.com/politik/ deutschland/peter-altmaier-twitter-koenig-der-cdu-wird- Nagourney, Adam, The ’08 campaign: sea change for politics minister/ 6641820.html [Stand: 2. Februar 2013]. as we know it. New York Times vom 3. November 2008, http://www.nytimes.com/2008/11/04/us/politics/04memo. Gathmann, Florian, SPD-Chef Gabriel im Twitterview vom html?_r=0 [Stand: 2. Februar 2013]. 27. Juli 2012: „Jetzt ist der Kaffee alle“, Spiegel online, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-chef-sigmar- Pew Research Center, How the presidential candidates use gabriel-im-twitter-interview-zur-bankenregulierung-a-846712. the web and social media. Obama leads but neither candidate html [Stand: 2. Februar 2013]. engages in much dialogue with voters, http://www.journa- lism.org/analysis_report/how_presidential_candidates_use_ Holtz-Bacha, Christina, Political campaign communication: web_and_social_media [Stand: 3. Oktober 2012]. Conditional convergence of modern media elections, in: Comparing political communication. Theories, cases, and chal- Schulz, Winfried, Wahlkampf unter Vielkanalbedingungen. lenges, hg. v. Frank Esser & Barbara Pfetsch, Cambridge 2004, Kampagnenmanagement, Informationsnutzung und Wähler- S. 213–230. verhalten. Media Perspektiven 8/1998, S. 378–391.

Holtz-Bacha, Christina, Das Private in der Politik: Ein neuer Stampler, Laura, Obama spent more on online ads than it cost Medientrend?, Aus Politik und Zeitgeschichte (2001), B41–42, to build the Lincoln Memorial, Business Insider, S. 20–26. http://www.businessinsider.com/infographic-obama-romney- final-ad-spend-2012-11 [Stand: 23. Januar 2013]. Holtz-Bacha, Christina, Lessinger, Eva-Maria & Hettes- heimer, Merle, Personalisierung als Strategie der Wahlwer- Talbot, David, Die neue Waffe der Demokraten, Technology bung, in: Die Veröffentlichung des Privaten und die Privatisie- Review, http://www.heise.de/tr/artikel/Die-neue-Waffe-der- rung des Öffentlichen, hg. v. Kurt Imhof & Peter Schulz, Demokraten-275974.html [Stand: 2. Februar 2013]. Opladen 1998, S. 240–250. Talbot, David, Die personalisierte Wahl-Kampagne, Tech- Jungherr, Andreas & Schoen, Harald, Das Internet in Wahl- nology Review, http://www.heise.de/tr/artikel/Die-personali- kämpfen. Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen, sierte-Wahl-Kampagne-403871.html [Stand: 2. Februar 2013]. Wiesbaden 2013. Trippi, Joe, Technik gibt der Politik die Seele zurück, Tech- Lees-Marshment, Jennifer, Political marketing and British nology Review, http://www.heise.de/tr/artikel/Technik-gibt- political parties. The party’s just begun, Manchester 2001. der-Politik-die-Seele-zurueck-1793373.html [Stand: 2. Februar 2013].

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 163 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Krisen und Krisenängste Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Von Heike Knortz

Vergleichbarkeit der Bilder: Menschenschlangen vor der New Yorker Börse,24. Oktober 1929 Abbildung: Süddeutsche Zeitung Photo,Fotograf: Scherl

164 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

„This Time Is Different“!? Verschuldung zwingt dann zum Sparen, und wenn dies Zur Vergleichbarkeit der Weltwirtschafts- mas senweise geschieht, folgt unweigerlich die Rezession. krise der 1930er-Jahre mit der gegenwär- Angesichts der dramatischen Entwicklung der tigen Krise Weltwirtschaft nach 2007 verwundert es nicht, dass schon bald Vergleiche zur „Großen Depression“ nach dem Bör- „This Time Is Different“ – unter diesem provokanten Titel senkrach von 1929 angestellt wurden, sowohl publikums- dokumentierten 2009 die US-Ökonomen Carmen M. Rein- wirksam in den Massenmedien2 als auch in wissenschaftli- hart und Kenneth S. Rogoff einen 800-jährigen Zeitraum chen Fachzeitschriften3. Dabei beunruhigte insbesondere wiederkehrender Finanzkrisen.1 Die Autoren wollen den der starke Einbruch der Industrieproduktion 2008/09, weil Lesern ihres Werkes damit nicht etwa verdeutlichen, dass der Rückgang im Vergleich zu Vorjahresperioden für die Krisengründe und -verläufe sich in spezifischen histori- USA oder Großbritannien zehn Prozent überstieg und z. B. schen Situationen substanziell unterscheiden, wie beispiels- für die Bundesrepublik rund 25 Prozent bzw. für Japan weise Analysten zu gegebener Zeit vielfach glauben machen knapp 40 Prozent betrug. In der Folge ging die Wirtschafts - wollen. Reinhart/Rogoff konzentrieren sich auf wiederkeh- leistung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), in der Europäi- rende typische Ursachen und Konstituenten solcher Krisen schen Union um 4,8 Prozent zurück. Doch schon bald – wie massenhafte Käufe von Wertpapieren, Devisen oder schien der Abwärtstrend, wenn auch nicht zur Umkehr ge- Immobilien auf Kredit, in deren Folge viele Kreditnehmer bracht, so doch zumindest gestoppt: Japan konnte nach ei- im Fall von Kurs- bzw. Preisverfall ihre Verbindlichkeiten nem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts 2009 von gegenüber den Banken nicht mehr bedienen können. Die 6,2 Prozent 2010 ein bescheidenes Wachstum von 0,5 Pro-

… und 2007: Kundenansturm vor der „Northern Rock“-Bank in London Fotografin: Reuters – Alessia Pierdomenico

1 Carmen Reinhart / Kenneth Rogoff: This Time Is Different, Princeton 2009. Deutsch: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Fi- nanzkrisen, 5München 2011. 2 Vgl. beispielsweise: Thomas Fischermann: Schneller – aber auch tiefer?, in: Die Zeit, Nr. 17 vom 16. April 2009. 3 Vgl. beispielsweise: Werner Abelshauser: Geschichte wiederholt sich nicht. Oder doch? Szenarien der Finanzmarktkrise, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 6. Jg. (2008), Heft 4, S. 565–576.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 165 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Arbeitslosenzahlen in der Arbeitslosenzahlen in der Weimarer Republik Weimarer Republik Quelle: Nach Konjunkturstatistisches Handbuch 1936, hg. v. Ernst Wagemann, Institut für Konjunktur- forschung, Berlin 1935, S. 16

zent verzeichnen, dem Rückgang von 5,6 Prozent in der dürfte.6 Vielmehr habe „die gegenwärtige Krise mit der Bundesrepublik folgte nur noch ein solcher von einem Pro- Welt wirtschaftskrise von 1929 nicht sehr viel zu tun […], da zent, und die Leistung anderer wichtiger Industrieländer das Krisenumfeld vollständig anders ist und der bisherige wie Frankreich schien bereits wieder bescheiden zu wach- Krisenverlauf auch nicht dem der Weltwirtschaftskrise von sen (0,4 Prozent) oder, wie in den USA, zumindest nicht 1929 entspricht“.7 Selbst das Institut der deutschen Wirt- weiter zu schrumpfen. Auch wenn sich die Arbeitslosen- schaft (IW) stellte bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt quote in den USA seither um acht Prozent bewegt, in der fest, „dass sich Deutschland in einer gänzlich anderen wirt- Eurozone aktuell bei zwölf Prozent liegt, in Ländern wie schaftlichen Konstellation befindet als das Deutsche Reich Spanien oder Griechenland sogar ein Viertel der Erwerbs- vor und während der Großen Depression der 1930er Jah- fähigen ohne Beschäftigung ist,4 scheint die Große Depres- re“.8 Demgegenüber scheinen die wirtschaftspolitisch Han- sion der 1930er-Jahre das alles nach wie vor in den Schatten delnden, also Regierungsvertreter, Präsidenten von Zentral- zu stellen: Hier war im Verlauf der gesamten Krise in den banken und Vertreter des Internationalen Währungsfonds USA die Industrieproduktion um fast 47 Prozent zurück- (IWF), die Entwicklung von Beginn an weniger gelassen ge- gegangen, im Deut schen Reich um knapp 42 Prozent, in Ita- sehen zu haben, wenngleich deren „kollektive Reaktion […] lien und Frank reich um 33 bzw. 31 Prozent, während allein nicht immer koordiniert oder durchdacht“ war.9 Seit gerau- in den USA und dem Deutschen Reich die Wirtschaftslei- mer Zeit mehren sich auch Unstimmigkeiten, beispielswei- stung um ein Viertel sank und die Arbeitslosenquote in den se wenn der US-amerikanische Finanzminister Timothy Industrieländern auf über 20 Prozent stieg.5 Geithner oder Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman Auch aufgrund dieser Daten scheint bei Wirt- als Kolumnist in der New York Times den Sparkurs der schaftshistorikern die Auffassung zu überwiegen, dass sich deutschen Bundesregierung kritisieren,10 die Deutsche Bun- trotz gewisser Parallelen die Geschichte kaum wiederholen desbank immer wieder einmal vor dem Aufkauf von Staats-

4 Die Daten lassen sich generieren mit dem Statistikportal „Statista“ unter: http://de.statista.com/ [Stand: 8. September 2013]. 5 Vgl. Christina D. Romer: Great Depression, Article forthcoming in the Encyclopaedia Britannica, 2003, S. 10, abrufbar unter: http://elsa.berkeley.edu/~cromer/great_depression.pdf [Stand: 8. September 2013]. 6 Vgl. Florian Pressler: Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der Großen Depression, München 2013, S. 225. 7 Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, 2München 2011, S. 114. 8 Michael Grömling / Michael Hüther / Manfred Jäger / Rolf Kroker: Deutschland nach der Krise: Aufbruch oder Depression? Wirtschafts- historische Betrachtung und wirtschaftspolitische Leitlinien, Köln 2009, S. 93 (= Analysen. Forschungsberichte aus dem Institut der deut- schen Wirtschaft Köln Nr. 55). 9 Nouriel Roubini / Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft, 3München 2011, S. 368. 10 Vgl. Claus Hulverscheidt: Verpackte Wahrheiten, in: http://www.sueddeutsche.de/geld/deutschland-und-usa-in-der-eurokrise- transatlantische-reibereien-1.950695 [Stand: 8. September 2013]; und Marc Brost: Ein Hitzkopf ruft „Holzkopf“, in: Die Zeit, Nr. 14 vom 26. März 2009.

166 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Arbeitslose in der Bundesrepublik Deutschland Hyperinflation in absoluten Zahlen in Prozent aller zivilen Unter Hyperinflation versteht man eine Inflation mit extrem Erwerbspersonen 2001–2012 hohem Verfall des Geldwertes, einhergehend mit extremen Preissteigerungen und einer massiv beschleunigten Inflati- onsgeschwindigkeit. 1922–1923 erlebte Deutschland in der Weimarer Republik einen solchen Geldwertverfall. Kostete im Dezember 1922 ein US-Dollar noch 8.000 Reichsmark, verfiel dieser Wert im April 1923 auf 20.000 Mark, Anfang August auf eine Million Mark und im November auf über 4,2 Billionen Mark. Für das wertlose Geld konnten kaum noch Waren er- worben werden. Hauptursachen der Inflation lagen u. a. in der über die Erhöhung der Geldmenge vorgenommenen Kriegsfinanzierung, der defizitären Haushaltslage sowie den in Devisen zu leistenden Reparationspflichten. 1924 konnte die Lage zunächst durch die Übergangswährung der Renten- mark, dann am 30. August durch die Einführung der Reichs- mark stabilisiert werden, die auf der Deckung durch Gold bzw. in Gold eintauschbaren Devisen beruhte.

Zur Untermauerung dieser These sollen im Folgenden in erster Linie strukturelle Problemlagen der Großen Depres- Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de 2013 sion und der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise offenge- legt werden. Wenn sich dabei in den beiden Krisen ver- anleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) warnt schiedene Erscheinungen in chronologisch unterschiedli- oder wenn nicht zuletzt in Frankreich vor einem Europa „à cher Reihenfolge überlagern, wird die differierende Abfolge l’heure allemande“11 infolge deutscher Stabilitätskultur ge- dieser Krisenerscheinungen hier ebenso wenig interessieren warnt wird. wie sich unterscheidende wirtschaftspolitische Instrumen- Die hierin zum Ausdruck kommenden unter- te; es soll im Folgenden ausschließlich um deren Wirkung schiedlichen Bewertungen der Politik in der Krise resultie- gehen. Zur Verdeutlichung dieser Vorgehensweise sei auf ren dabei aus länderspezifischen Krisenerfahrungen. So Albrecht Ritschl verwiesen, der solch eine „überraschende stellt die „Große Depression“ gerade für die Bürger der Ver- Parallele“ bei der frühen Bekämpfung der Kreditklemme einigten Staaten von Amerika ein Trauma dar, das in der ge- identifiziert: Während der Großen Depression zwangen die genwärtigen Krise entsprechende Ängste auslöst; die Be- Regeln des Goldstandards mehr oder weniger zur Kredit- fürchtungen und Ängste der Deutschen beruhen wiederum beschränkung, als das Finanzsystem – wie heute klar dia- auf sich hiervon unterscheidenden Krisenerfahrungen in gnostiziert wird – dringend mit Krediten der Notenbanken der Vergangenheit, wie z. B. der Erfahrung der Hyperinfla- hätte versorgt werden müssen. Aber auch bis zum Jahres- tion 1922/23. Die sich in Diskussionen über die einzuschla- beginn 2009 haben die Notenbanken der USA und Groß- gende Politik widerspiegelnden Erfahrungen weisen in je- britanniens vermieden, „die Bonitätsanforderungen für die dem Fall darauf hin, dass dieses Mal nicht alles anders zu Hereinnahme von Wertpapieren als Deckungsunterlage für sein scheint. Der Diskurs über die richtige Krisenpolitik kurzfristigen Zentralbankkredit herabzusetzen. Aus Sorge zeigt nämlich deutlich, so die hier vertretene These, dass die vor hochriskanten Papieren (toxic assets) bestand man auf politisch Verantwortlichen eine Wiederholung der Großen hohen Qualitätsanforderungen“12 – und provozierte damit Depression befürchten und dieser durch entsprechende zunächst ebenfalls eine Kreditklemme. Maßnahmen gegenzusteuern suchen, ein deutliches Indiz Nicht erwartet werden darf im Folgenden also ge- dafür, dass sie sehr wohl eine Gleichartigkeit der aktuellen rade für die Jahre um 1929 eine an Fakten orientierte Dar- Krise mit der der 1930er-Jahre unterstellen. stellung von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaft-

11 Thierry Phillippon: Le sauvetage de la Zone Euro: L’Europe à l’heure allemande, in: Le Nouvel Observateur, 3. November 2011, S. 76 ff. 12 Albrecht Ritschl: War 2008 das neue 1931?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 20/2009, S. 27–32, hier: S. 32.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 167 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 lichen Ereignissen, die in die Krise der Weltwirtschaft führ- kengeschäft war so angelegt, dass ein Rückgang der Immo- ten; hierzu liegt bereits eine Vielzahl wirtschaftshistorischer bilienpreise oder, was dann tatsächlich geschah, ein Anstieg Analysen und Darstellungen vor.13 Um der Anschaulichkeit der Zinsen unweigerlich zu einer Überschuldung vieler willen wird besonders auf Entwicklungen in den USA und Kre ditnehmer führen musste.17 Die tiefer gehende Ursache in Deutschland zurückgegriffen, prinzipiell aber geht es um liegt allerdings in der Geldpolitik der US-Notenbank unter eine globale Bewertung der beiden Krisen. Eine solche Per- ihrem Vorsitzenden Alan Greenspan, die seit den 1980er- spektive scheint vielen bisher zur gegenwärtigen Krise ver- Jahren, besonders aber nach 2000/01 aus einer konsequen- fügbaren Publikationen zu fehlen, die nicht selten die Situa- ten Niedrigzinspolitik bestand, so dass für Kapital nach tion des Deutschen Reiches mit der der heutigen Bundesre- renditeträchtigeren Anlagemöglichkeiten gesucht wurde. publik vergleichen oder sich, was teilweise natürlich auch Gleiches gilt für eine Geldschwemme aus aufstrebenden dem Zeitpunkt des Erscheinens geschuldet ist, ausschließ- Schwel len- sowie Ölländern.18 lich auf den Vergleich der Finanzkrisen bzw. zuletzt auf die sog. „Euro-Krise“ konzentrieren.14 In einem zweiten Finanzkrise und Bankenrettung Schritt werden anschließend mit dem gleichen methodi- Dass viele Hypothekenkredite an mittellose Amerikaner schen Vorgehen die nach dem Börsenkrach von 1929 ver- vergeben worden waren (sog. Subprime-, also zweitklassige folgte Politik und deren Folgen betrachtet, um abschließend Geschäfte), war zunächst nicht weiter aufgefallen, da Ban- die gegenwärtige Politik und die diese antreibenden Kri- ken durch spezifische Konstruktionen die Kredite von ih- senängste bewerten zu können. ren Risiken getrennt hatten. Die hieraus entstandenen neu- en Finanzprodukte wurden von den Rating-Agenturen mit Die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 Bestnoten („Triple-A“) versehen und durch Verkauf welt- weit gestreut. Als dann in den USA erste Schuldner nicht Die Subprime-Krise des US-Immobilienmarktes mehr in der Lage waren, ihre Raten zu zahlen, überschau- Mitte des Jahres 2009 urteilte der Harvard-Historiker Niall ten Banken in Europa oder Asien nicht einmal ihre eigenen Ferguson über die gegenwärtige Krise der Weltwirtschaft: Risiken, geschweige denn jene anderer Institute. Die Geld- „Die Geschichte wiederholt sich natürlich nicht exakt. Die- häuser misstrauten nun einander und liehen sich unterein- se Krise wird vermutlich nicht so schwer werden wie die ander kaum noch Geld, was aber eine unabdingbare Vor- Große Depression – schon weil die heutige amerikanische aussetzung für einen funktionierenden Geldmarkt ist. Die Geld- und Fiskalpolitik das genaue Gegenteil von damals Subprime-Krise hatte sich so bereits in der zweiten Hälfte ist. Trotzdem besteht die Gefahr, dass diese Krise so lang des Jahres 2007 zur internationalen Bankenkrise entwickelt: dauert wie ihre Vorläuferin in den 1930er Jahren.“15 Inzwi- So bekamen die Deutsche Industriebank AG (IKB) und ver- schen geht die Krise bereits in ihr siebtes Jahr,16 denn sie schiedene deutsche Landesbanken infolge von Fehlspekula- begann, als es in der ersten Jahreshälfte 2007 zu einem rei- tionen am US-Immobilienmarkt Probleme,19 weltweit mel- henweisen Ausfall von Hypothekenkrediten am US-ameri- deten fast alle großen Finanzhäuser hohe Verluste, und die kanischen Immobilienmarkt kam. Das dortige Hypothe- „Northern Rock“-Bank, deren besorgte Kunden zuvor die

13 Zur Großen Depression vgl. beispielsweise: Derek H. Aldcroft: Die zwanziger Jahre. Von Versailles zur Wall Street 1919–1929, München 1978 (= Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, 3); Theo Balderston: Economics and Politics in the , Cam- bridge 2002; Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, München 1985; James Harold: Deutschland in der Welt- wirtschaftskrise 1924–1936, Stuttgart 1988; Charles P. Kindleberger: Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, 3München 1984 (= Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, 4); Heike Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten Deutschen Republik, Göttingen 2010, S. 200–271. 14 Vgl. beispielsweise Harald Wixforth: Managerversagen, Marktversagen, Politikversagen? Die deutschen Finanzkrisen 1931 und 2007/08 im Vergleich, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010) H. 2, abrufbar unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Wixforth-2-2010 [Stand: 8. September 2013], oder auch: Johannes Bähr / Bernd Ru- dolph: 1931 – Finanzkrisen – 2008, München/Zürich 2011. Im Hinblick auf die gegenwärtige Krise der Weltwirtschaft sei ferner verwiesen auf Roubini/Mihm (wie Anm. 9) oder auch auf: Paul Krugman: Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt/New York 2008. Zur „Euro- Krise“ vgl. Miroslav Beblavý / David Cobham / L’udovít Ódor (Hg.): The Euro Area and the Financial Crisis, Cambridge 2011; dieser wird auch das gesamte Kapitel 19 gewidmet in einer aktualisierten Auflage des Lehrbuches von: Richard Baldwin / Charles Wyplosz: The Eco- nomics of European Integration, 4London 2012. 15 Niall Ferguson: Deutschland verdrängt die Gefahr, in: Die Zeit, Nr. 28 vom 2. Juli 2009. 16 Unter http://www.tagesschau.de/wirtschaft/chronologiefinanzmarktkrise100.html [Stand: 8. September 2013] findet sich eine laufend ak- tualisierte „Chronologie der Krise“ seit Sommer 2007. Einen knappen Überblick von den Ursprüngen der US-Immobilienkrise bis zur Staatsschuldenkrise liefert zudem Plumpe (wie Anm. 7), S. 110–115. 17 Vgl. Wixforth (wie Anm. 14), Abschnitt 4. 18 Vgl. Roubini/Mihm (wie Anm. 9), S. 356–363. 19 Vgl. Wixforth (wie Anm. 14), Abschnitt 2.

168 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Schalter gestürmt hatten, um an ihre Guthaben zu gelangen, deten US-Bundesstaat Kalifornien25 vor allem Island, das wurde vom britischen Staat übernommen, um so die dorti- zur Abwendung seiner Zahlungsunfähigkeit die Hilfe des gen Einlagen zu garantieren. Auch in den USA garantierte IWF in Anspruch nehmen musste. Islands Banken hatten die Regierung Sparern und Anlegern bald ihre Einlagen und sich verspekuliert und waren in der Folge vom Staat über- verstaatlichte die beiden US-Hypothekenbanken Fannie nommen worden, der dadurch selbst in Zahlungsschwierig- Mae und Freddie Mac. Anfang 2008 sorgte die US-Noten- keiten geriet. Schon bald benötigten weitere Länder die fi- bank zudem dafür, dass die Investmentbank Bear Stearns nanzielle Hilfe des IWF. kurz vor ihrem Zusammenbruch von der Großbank J . P. Alle Maßnahmen zur Stützung der Banken26 konn- Morgan Chase übernommen wurde. Im September melde- ten zudem nicht verhindern, dass das marode Finanzsystem te die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Vie- funktionsuntüchtig blieb. Deshalb drohte eine Welle von le andere Investmentbanken waren vom Zusammenbruch Insolvenzen in der Industrie, weil zum Teil ganzen Bran- bedroht, und auch der Versicherungskonzern American In- chen, wie den deutschen Autozulieferern, zu zögerlich Kre- ternational Group (AIG) konnte nur durch einen hohen dite gewährt wurden.27 Um eine solche Welle zu verhindern, Kredit der Notenbank überleben.20 ging die US-Notenbank schon bald dazu über, Schuldver- schreibungen von Unternehmen aufzukaufen, die Realwirt- Die Finanzkrise wird zur Wirtschaftskrise schaft also direkt mit Krediten zu versorgen. Weltweit Noch während die staatliche Rettung einzelner Banken glo- zurückgehende Verkäufe auf dem ohnehin von Überkapa- bal anhielt, versorgten Zentralbanken weltweit die Märkte zitäten gekennzeichneten Automarkt und massiv zurück- mit zusätzlichem Geld, um so ein Überspringen der Ban- gehende Aufträge für die deutsche Industrie seit Oktober kenkrise auf die Realwirtschaft zu vermeiden, um also Un- 2008 bei zugleich nachgebenden Preisen ließen erste War- ternehmen weiterhin Zugang zu Krediten garantieren zu nungen vor einer Deflation laut werden: „Fallende Preise können. Während die USA schließlich mit einem Rettungs- (etwa für Benzin und Lebensmittel) sind zwar hübsch für paket von 800 Mrd. US-Dollar ihr Finanzsystem vor dem den Verbraucher, aber von einem gewissen Punkt an Gift für Kollaps bewahrten,21 konnte auch in Europa nur „durch die Volkswirtschaft. Wer würde sich für eine Investition umfangreiche staatliche Schutzmaßnahmen, die von direk- (sei’s in Kühlschrank, Haus oder Maschine) Geld leihen, ten Hilfen und Bürgschaften bis hin zu Liquiditätshilfen der wenn er es in ‚teuren‘ Euro zurückzahlen muss? Wenn sein Europäischen Zentralbank reichten, […] ein vollständiger Wert steigt, wird Geld gehortet, nicht ausgegeben. Mit den Zusammenbruch des Finanzmarktes verhindert werden. Preisen fallen die Löhne – eine teuflische Abwärtsspirale.“28 Gleichwohl mussten die Banken ihre Kreditvergabe ein- schränken, da im Zuge von Abschreibungen erhebliche Internationale Konjunkturprogramme und die Krise Wertberichtigungen auf ihre Eigenkapitalbasis vorzuneh- der Weltwirtschaft 2009 men waren, die wiederum ihre eigene Kreditvergabefähig- Während die Bankenrettung anhielt – beispielsweise wurde keit deutlich begrenzten.“22 Abstürzende Börsenkurse lie- in der Bundesrepublik im Januar 2009 die Commerzbank ßen jetzt eine Weltwirtschaftskrise wahrscheinlich werden: teilverstaatlicht, im Oktober folgte die Verstaatlichung der Wie Ende September, kam es am 10. Oktober 2008 erneut Hypo Real Estate (HRE) –, einigten sich um die Jahres- zu einer „Panik an der Deutschen Börse“,23 was Vermö- wende 2008/09 Industrie- und Schwellenländer auf die Be- gensverluste nicht nur privater Anleger bedeutete. Vor al- reitstellung umfangreicher Konjunkturhilfen für ihre pro- lem aber drohten Staatsbankrotte: Bevor selbst Dubai24 in duzierenden Unternehmen: Mehr noch als die USA mit der Schuldenfalle steckte, war es neben dem hoch verschul- 1.200 Mrd. Euro stellte China hierfür 1.500 Mrd. Euro zur

20 Vgl. hierzu ausführlich auch: Bernd Rudolph: Hintergründe und Verlauf der internationalen Finanzkrise 2008, in: Bähr/Rudolph (wie Anm. 14), S. 145–241. 21 Die ursprünglich beabsichtigten 700 Mrd. US-Dollar wurden nach einer Ablehnung im Repräsentantenhaus um 100 Mrd. aufgestockt. Zum Für und Wider, zu Hintergründen und Folgen des Rettungspaketes vgl. Heike Buchter / Mark Schieritz: Der größte Rettungsversuch aller Zeiten, in: Die Zeit, Nr. 40 vom 25. September 2008. 22 Plumpe (wie Anm. 7), S. 112 f. 23 So der Titel eines Artikels auf S. 1 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 238 vom 11. Oktober 2008. 24 Vgl. Michael Thumann: Reich gegen Reich, in: Die Zeit, Nr. 50 vom 3. Dezember 2009. 25 Vgl. Heike Buchter: Ausgepumpt, in: Die Zeit, Nr. 3 vom 13. Januar 2011. 26 Zu den Banken-Rettungspaketen allgemein vgl. Kapitalspritzen und Garantien rund um die Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 240 vom 14. Oktober 2008. Zum bundesdeutschen Rettungspaket vgl. Woher die 500 Milliarden Euro kommen, in: Frankfurter Allge- meine Zeitung, Nr. 245 vom 20. Oktober 2008. 27 Vgl. Ulrich Viehöver, Die am Rande sieht man nicht, in: Die Zeit, Nr. 50 vom 4. Dezember 2008. 28 Josef Joffe: Koste es, was es wolle, in: Die Zeit, Nr. 49 vom 27. November 2008; sowie: Daniel Eckert / Holger Zschäpitz: Preisverfall sorgt nur kurz für Kauflaune, in: Welt am Sonntag, Nr. 47 vom 23. November 2008.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 169 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Die europäische Staatsschuldenkrise Die Deflationsgefahr Als im Januar 2009 unter diesen Bedingungen US-amerika- Eine Deflation ist das Gegenteil einer Inflation. Im Falle einer nische Ratingagenturen die Bonitätsnoten für Irland, Spa- Deflation sinken die Preise im Durchschnitt und über eine län- nien, Portugal und Griechenland senkten, bedeutete das in gere Zeit hinweg spürbar. Das ist insofern problematisch, als der Folge für diese Länder steigende Zinsen und die Gefahr, der Wert laufender Kredite im Vergleich zu den damit ange- eines Tages für ihre Anleihen keine Käufer mehr finden zu schafften Sachwerten – somit die Gefahr der Überschuldung können. Die Entwicklung entsprechender Credit Default eines Kreditnehmers – steigt und die Unternehmen deshalb Swaps (CDS), also von Papieren, die Anleger gegen Zah- immer weniger zu investieren bereit sind. Die Ursache einer lungsausfälle absichern, verwies schnell auf die hohe Wahr- Deflation ist in einer Verminderung der Geldmenge zu sehen scheinlichkeit einer Zahlungsunfähigkeit, also eines „Staats- oder auch in einer sinkenden Umlaufgeschwindigkeit des bankrotts“ Griechenlands. Wie in den 1920er-Jahren, als of- Geldes, wenn also mit Geld keine Nachfrage realisiert, son- fenkundig hätte sein müssen, dass viele Länder, u. a. auch dern es stattdessen gehortet wird. Eine Deflation kann dem- das Deutsche Reich, mehr Kapital aufnahmen, als sie in der entsprechend auch entstehen, wenn Vermögenswerte durch Lage waren zurückzuzahlen,31 hatten Anleger lange auch Kredite finanziert wurden, deren Preis- oder Kursverfall in der die realwirtschaftliche Entwicklung in Griechenland igno- Folge zu Überschuldung und dem Zwang zu massenweiser riert und umfangreich Kredite vergeben. Im Verlauf der Rückzahlung der Kredite führt. Das Geld fehlt nun für die Großen Depression wurde das Deutsche Reich schließlich Nachfrage nach Waren und Dienstleitungen. Das – umgangs- insolvent; Griechenlands Zahlungsunfähigkeit zeigte sich sprachliche – „Platzen“ einer „Spekulationsblase“ bewirkt an dem sog. „Schuldenschnitt“ vom März 2012.32 Ein Jahr schnell eine Deflation, da aus der ungenügenden Nachfrage nach der Herabstufung durch die Ratingagenturen galt die ein Beschäftigungsrückgang resultiert. Die Unterbeschäfti- Lage aller Mittelmeerstaaten als so bedrohlich, dass finan- gung wird nach John Maynard Keynes so lange bestehen zielle Hilfen angedacht werden mussten.33 Damit war die bleiben, bis es zu einer die gesamtwirtschaftliche Nachfrage Finanzkrise nicht nur auf die Realwirtschaft, sondern auch erhöhenden Veränderung des Investitions- oder Konsumver- auf Staaten der europäischen Währungsunion übergesprun- haltens, der Staatsausgaben oder auch der Geldmenge gen, in der schon bald über „Rauswerfen oder Retten“ dis- kommt. Zur Bekämpfung der Deflation können die für die kutiert wurde. Geldpolitik verantwortlichen Zentralbanken neben einer Sen- Diese Diskussion stellt die eigentliche „Euro-Kri- kung der Zinsen also die Geldmenge durch Geldschöpfung se“ dar, die nicht mit der Schuldenkrise verschiedener Euro- erhöhen.29 Länder verwechselt werden darf. Das Problem hoher staat- licher Verschuldung liegt in der sich daraus ergebenden mangelnden Handlungsfähigkeit eines Staates: Noch wäh- Verfügung, gefolgt von Japan (380 Mrd.), Brasilien mit mehr rend der Großen Depression galt als allgemein anerkannt, als 220 Mrd. und Russland mit etwa 150 Mrd. Die Bundes- dass der Staatshaushalt ausgeglichen zu sein habe, sich Ein- regierung beabsichtigte, die Konjunktur mit 84 Mrd. Euro nahmen und Ausgaben eines Staates also die Waage halten zu stützen, Großbritannien mit 41,5 sowie Frankreich mit mussten. Konjunkturell bedingte Einnahmeausfälle hätten 26 Mrd. Euro.30 Viele in wirtschaftlichen Schwierigkeiten damit automatisch Ausgabenkürzungen hervorbringen steckende Unternehmen hofften nun auf staatliche Unter- müs sen, was die Konjunktur wiederum verschlechtert hät- stützung, in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel te. Dieses Postulat aus der Zeit des wirtschaftlichen Libera- auch so namhafte wie die bereits vor der Krise verlustreiche lismus kann inzwischen als überholt gelten, doch könnte Karstadt- und Quelle-Mutter Arcandor, Heidelberger aus starker Überschuldung eines Staates, in deren Folge er Druck oder Jenoptik; viele andere mussten aufgrund des keine Kredite mehr erhält, und dem damit verbundenen Auftragsausfalls die Arbeitszeit reduzieren, darunter der Zwang zum Sparen durchaus ein dem Haushaltsausgleichs- Halbleiterhersteller Infineon oder der Autobauer Daimler. postulat vergleichbarer Effekt resultieren. So warnt der ja- Dennoch rutschte die Weltwirtschaft 2009 in die stärkste panische Ökonom Richard Koo davor, dass Europa durch Krise seit 1945. seinen geplanten Schuldenabbau in eine deflationäre Ab-

29 Mit Bezug auf die Deflation der 1930er-Jahre ist immer noch grundlegend der Artikel von Manfred Feldsieper: Deflation, in: Handwörter- buch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Band 2, hg. von Willi Albers / Karl Erich Born / Ernst Dürr, Stuttgart/New York/Tübingen/ Göttin gen/Zürich 1988, S. 133–141. 30 Vgl. Große Pakete, in: Die Zeit, Nr. 4 vom 15. Januar 2009. 31 Vgl. Aldcroft (wie Anm. 13), S. 280. 32 Vgl. Nach Schuldenschnitt: Griechenland wird als Zahlungsausfall eingestuft, in: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/nach-schulden- schnitt-griechenland-wird-als-zahlungsausfall-eingestuft-11678408.html [Stand: 8. September 2013]. 33 Vgl. Marc Brost / Mark Schieritz: Abgebrannt am Mittelmeer, in: Die Zeit, Nr. 3 vom 14. Januar 2010.

170 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 wärtsspirale gerate; und auch die in das deutsche Grundge- setz implementierte „Schuldenbremse“ droht, wie die Er- Die Europäische Zentralbank (EZB) fahrungen der Schweiz mit diesem Instrument zeigen, lang- Die am 1. April 1998 gegründete Europäische Zentralbank ist fristig zu niedrige öffentliche Investitionen nach sich zu zie- die Zentralbank der an der Europäischen Währungsunion teil- hen und damit künftiges Wachstum zu gefährden.34 nehmenden EU-Staaten und bildet zusammen mit den natio- nalen Zentralbanken (wie etwa der Deutschen Bundesbank) Die Angriffe gegen den Euro das Europäische System der Zentralbanken. Sie hat ihren Sitz Die irische Regierung, die das Land zur Rettung seiner Ban- in Frankfurt am Main. Ihre Präsidenten waren bislang der ken hoch verschuldet hat (die Staatsverschuldung schnellte Niederländer Willem F. Duisenberg (1998 – 2003), der Fran- von 25 Prozent des BIP vor der Krise auf gegenwärtig ca. zose Jean-Claude Trichet (2003 – 2011) sowie der Italiener 120 Prozent hoch)35, schlug von Beginn an einen rigiden Mario Draghi (seit 2011). Nach dem Vertrag von Maastricht Sparkurs mit Ausgabenkürzungen von mehr als 15 Prozent hat sie vorrangig die Aufgabe, die Preisstabilität in der Euro- ein.36 Demgegenüber wuchs das Misstrauen in Bezug auf zone zu gewährleisten und – nachrangig – die Wirtschaftspoli- Grie chenlands Zahlungsfähigkeit, was Anleger beflügelte, tik in der EU zu unterstützen. 2010 geriet die Geldpolitik der mit Hilfe sog. „Leerverkäufe“ gegen Griechenland zu wet- EZB in die Kritik, da sie – gegen ihre strenge Verpflichtung, ten. Wenn Anleger beispielsweise die Anleihen des griechi- das Inflationsrisiko so niedrig wie möglich zu halten – schen Staates für überbewertet halten, werden sie vereinba- Staatsanleihen mit schlechter Bonität aus hoch verschuldeten ren, solche Anleihen, die sie noch gar nicht besitzen, zu EU-Ländern ankaufte, um die unter Druck stehenden Märkte einem bestimmten Termin zu liefern. Dazu müssen die in diesen Ländern zu entlasten. Staatsanleihen also zu einem späteren Zeitpunkt erst einmal erworben werden. Anleger gewinnen, wenn der Preis der Anleihen zwischenzeitlich gefallen ist; Fehlspekulationen mit Verlusten sind aber nicht ausgeschlossen. Ein anderes Die Sparpolitik und die Krise der EU Instrument, dessen sich Anleger bedienten, sind Ausfallver- Um die überschuldeten Länder der Eurozone zu stützen, ei- sicherungen auf Anleihen, die umso wertvoller werden, je nigten sich die europäischen Regierungen Anfang Mai 2010 wahrscheinlicher die Insolvenz eines Staates wird. zudem auf Hilfen und Bürgschaften in Höhe von 500 Mrd. Bedrohlich wurde jetzt die Gefahr, dass sich bald Euro, hinzu kamen Hilfen in Höhe von 250 Mrd. Euro vom für Staatsanleihen der hoch verschuldeten europäischen IWF. Unter Aufsicht von IWF, EU und EZB musste Grie- Länder nicht mehr genügend Käufer finden würden oder chenland nun aber zu sparen beginnen, schon bald folgten diese Länder sich nur noch zu sehr hohen Zinsen neue Kre- Ausgabenkürzungen in Spanien, Portugal und Italien, die dite hätten beschaffen können, was den deflationären Druck sich ebenfalls in der Schuldenfalle befinden. Seit Anfang zunächst in Europa erhöht hätte. Deshalb beging die EZB 2013 gehört zu den akut gefährdeten Staaten nunmehr auch in dieser Situation einen „Tabubruch“: Sie begann, Staats- Zypern. Das Problem, das Europa seither regelmäßig in anleihen der südeuropäischen Länder aufzukaufen, sie vor Atem hält, ist die weiterhin drohende Zahlungsunfähigkeit der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren und zugleich die der überschuldeten Länder, deren Ökonomien in die De- Währungsunion zu verteidigen. Damit begab sie sich „prak- pression abstürzten, was Einnahmen sinken ließ und deren tisch unter die Spekulanten, um sie mit eigenen Mitteln zu Defizite trotz der Ausgabenkürzungen erhöhte. Zeitgleich schlagen. Wenn diese [zum Zweck der Spekulation nämlich wechseln sich anhaltend Schlagzeilen ab über unter Druck – d. Verf.] Papiere auf den Markt werfen, kauft die Zentral- geratene französische und spanische Banken, über höhere bank sie auf und verhindert damit eine Abwärtsspirale.“37 Zinsen, die inzwischen auch von Frankreich für dessen Zudem wurden nun mit Hilfe der Notenbanken der USA Staatsanleihen aufgebracht werden müssen, aber auch über und Kanadas, Japans, Großbritanniens und der Schweiz er- die immense öffentliche Verschuldung in den USA, die hö- neut die Märkte mit Liquidität geflutet. her ist als jene Europas (2012 ca. 107 Prozent in Relation

34 Vgl. Schuldenabbau um jeden Preis: Europa läuft in die Spar-Falle; und: Schweizer Schuldenbremse birgt Risiken, beides in: Böcklerimpuls, 2/2012, S. 3 bzw. 7. 35 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/167462/umfrage/staatsverschuldung-von-irland-in-relation-zum-bruttoinlandsprodukt- bip/ [Stand: 8. September 2013]. 36 Vgl. http://www.tagesschau.de/wirtschaft/irland182.html [Stand: 8. September 2013]. 37 Haltet die Herde, in: Die Zeit, Nr. 20 vom 12. Mai 2010.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 171 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 zum BIP im Gegensatz zu knapp 94 Prozent in der Euro- nahmen anhaltend bei Weitem, so dass eine hohe staatliche zone)38. Zu allem treten Bilder von bürgerkriegsähnlichen Kreditnachfrage besteht. Zur Finanzierung ihres „Zwil- Zuständen vorwiegend aus Athen, aber auch von Gewalt- lingsdefizits“ (Leistungsbilanzdefizit und Haushaltsdefizit) exzessen während Demonstrationen in Madrid, Barcelona, sind die USA also auf den Import von Kapital angewiesen. Rom oder Lissabon. Die US-Hypothekenkrise hat gerade gezeigt, dass solche Die aus der US-amerikanischen Immobilienkrise Ungleichgewichte in dem Land, das die Kapitalströme auf- erwachsene Finanz- und Wirtschaftskrise droht sich in ei- nimmt, fast immer „zu einer spekulativen Blase [führen], die nigen Fällen (Griechenland, Italien, Portugal) auch immer dann spektakulär platzt“.42 Es gibt aber noch verschiedene wie der zu einer Krise des politischen Systems, zu einer weitere Szenarien, die ernsthafte Folgen für die Weltwirt- Staats krise, zu entwickeln, beispielsweise wenn sich nach schaft nach sich ziehen könnten.43 Deshalb wurde die unge- Wahlen keine regierungsfähige Mehrheit finden lässt. Der wisse Entwicklung der US-Leistungsbilanz bereits vor Be- aus unterschiedlichen nationalstaatlichen und nationalwirt- ginn der gegenwärtigen Krise als die „derzeit bedrohlichste schaftlichen Interessen resultierende Streit über eine ein- Erscheinung in der Weltwirtschaft“ beurteilt.44 Umgekehrt heitliche europäische Wirtschaftspolitik ließ Altbundes- verhält es sich im Fall Chinas, das den Wechselkurs seiner kanzler darüber hinaus schon vor längerer Währung an einen Währungskorb45 bindet. Damit handelt Zeit von einer Krise der Europäischen Union sprechen.39 es sich um einen festen, derzeit aber erheblich unterbewer- Vor allem aber hat die aus finanzieller Solidarität einerseits teten Wechselkurs, was dem Land Kostenvorteile ver- und verordnetem Sparen andererseits bestehende Politik es schafft, so dass aus dem internationalen Handel in großem gegenwärtig immer noch nicht vermocht, die Probleme des Umfang Devisen in das Land gespült werden. Da sich die europäischen Bankensystems grundlegend zu lösen. Gefan- Effekte bei Chinas Handelspartnern gegenteilig auswirken, gen in einem Netz gegenseitiger Abhängigkeiten – bei Aus- scheint ein „Währungskrieg“ wie in den 1930er-Jahren trotz bruch der Bankenkrise bestanden 40 Prozent der Verbind- Einschaltung des IWF nicht ausgeschlossen, zumal auch die lichkeiten bei Banken aus Interbankenverbindlichkeiten40 – japanische Zentralbank seit ein paar Monaten offensiv ge- und geprägt von gegenseitigem Misstrauen, leihen sich die gen den hohen Wechselkurs des Yen vorgeht. Banken seit einigen Jahren gegenseitig kein Geld mehr. Und auch die Eurozone bereitet insofern Sorge, Dabei ist laut Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke die als die gegenwärtige Staatsschuldenkrise einiger Mitglieds- „wichtigste Erkenntnis aus dem Jahr 1931 […], dass jede be- länder die strukturellen Mängel des europäischen Wäh- ginnende Erholung gleich wieder von Bankenkrisen getötet rungsraums offenlegt. Denn für die am Euro teilnehmenden wurde“.41 Länder bedeutet die Teilnahme an der Währungsunion nicht nur den Verlust der nationalen Währung, sondern da- Die chronische Krise des gegenwärtigen mit verbunden auch den Verlust des nationalen Wechsel- Weltwährungssystems kurses als wirtschaftspolitisches Anpassungsinstrument. In Anbetracht all der akuten Symptome gerät leicht aus dem Man kann sich die Eurozone also als einen Währungsraum Blick, dass sich das gegenwärtige Weltwährungssystem in mit festen Wechselkursen vorstellen. Abwertungen, um da- einem chronischen Ungleichgewicht befindet, das im Zu- mit beispielsweise griechische Waren gegenüber europäi- sammenhang mit dem internationalen Waren- und Kapital- schen Konkurrenzprodukten billiger anbieten zu können, verkehr steht. Im Zentrum dieser Schieflage steht das US- sind in diesem System nicht möglich. Innerhalb der Euro- amerikanische Leistungsbilanzdefizit: Der Wert der Impor- zone können Kostenvorteile nur noch durch „flexible Löh- te übersteigt den Wert der Exporte der USA seit Langem. ne und Preise“ oder ein „leistungsfähiges Transfersystem“ Zugleich übersteigen die öffentlichen Ausgaben die Ein- erzielt werden; geschieht dies – wie im vergangenen Jahr-

38 Vgl. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/165786/umfrage/staatsverschuldung-der-usa-in-relation-zum-bruttoinlandsprodukt-bip/ sowie: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/247033/umfrage/staatsverschuldung-in-eu-und-euro-zone-in-relation-zum- bruttoinlandsprodukt-bip/ [Stand: 8. September 2013]. 39 Vgl. Helmut Schmidt: … aber die Währung ist gut, in: Die Zeit, Nr. 19 vom 5. Mai 2011. 40 Vgl. Reiner Brüggestraat: Zurück zur Realwirtschaft, in: Die Zeit, Nr. 33 vom 8. August 2013. 41 Thomas Fischermann: Die unterschätzte Gefahr, in: Die Zeit, Nr. 34 vom 13. August 2009. 42 Marc Brost / Mark Schieritz: Schuld sind sie alle, in: Die Zeit, Nr. 47 vom 13. November 2008. 43 Vgl. hierzu insgesamt: Eckart Koch: Internationale Wirtschaftsbeziehungen, 3München 2006, S. 282–299. 44 Karl H. Pitz: USA vs. Europa – sind die USA ein Modell?, Frankfurt am Main 2005, S. 55. Abrufbar unter: http://www.macroanalyst.de/ ez-04-us-vs-eu.pdf [Stand: 8. September 2013]. 45 Hierbei handelt es sich um eine gewichtete Zusammenfassung der Währungen von Chinas zehn wichtigsten Handelspartnern. Zu Chinas Währungspolitik vgl. insgesamt Martina Franke: Chinas Währungspolitik in der Kritik des US-amerikanischen und des internationalen Wirtschaftsrechts, Halle 2008 (= Beiträge zum transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 77).

172 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 zehnt – nicht, kommt es über Zahlungsbilanzungleichge- wichte fast unweigerlich zu Schuldenkrisen.46 Der Dawes-Plan Der nach dem amerikanischen Bankier Charles Dawes (als Die „Große Krise“ der Weltwirtschaft Leiter eines amerikanisch-britischen Sachverständigenrates) 1924–1941 benannte Plan ging davon aus, dass das Deutsche Reich die im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen nur Nicht selten wird in der gegenwärtigen Krise der Weltwirt- unter der Voraussetzung seiner wirtschaftlichen Erholung und schaft vergleichend auf das Jahr 1929 rekurriert. Damit wird einer aktiven Handelsbilanz leisten könne. Auf dieser Grund- ein Bezug zum 24. Oktober 1929 suggeriert, der den Zu- lage wurde am 16. August 1924 auf der Londoner Reparati- sammenbruch der New Yorker Börse einleitete. Das Ende onskonferenz eine neue Regelung der Reparationszahlungen der sich anschließenden Wirtschaftskrise wird dann nicht beschlossen. Neben weiteren Bestimmungen sollte das Reich selten mit dem Jahr 1933 gleichgesetzt. Das ist eine stark ver- demnach pro Jahr zunächst eine Milliarde, nach fünf Jahren kürzte Perspektive, denn selbst als im Deutschen Reich 2,5 Milliarden Goldmark zahlen – vorbehaltlich einer Ab- – nicht zuletzt infolge von verdeckten Rüstungsmaßnah- schlusszahlung, deren Höhe und Zeitpunkt nicht genau fest- men – 1936 wieder Vollbeschäftigung erreicht worden war, gesetzt wurden. Gleichzeitig erhielt das Reich eine Anschubfi- befand sich die Wirtschaft wichtiger Industrieländer wie der nanzierung in Form eines 800-Millionen-Goldmark-Kredits. USA noch immer nicht in einem stabilen Zustand. Im Ge- Die Kredite übertrafen in den Jahren 1924 bis 1931 die Höhe genteil kann die Große Depression erst mit dem Eintritt der der Reparationen um fast das Doppelte. Dieser Modus eröff- USA in den Zweiten Weltkrieg, der damit verbundenen nete den demokratischen Politikern der Weimarer Republik massiv erhöhten Rüstungsproduktion 1941 und dem hier- – verknüpft mit alliierten Zusagen, die im Januar 1923 er- aus folgenden starken Rückgang der Arbeitslosigkeit als folgte Besetzung von Gebieten (insbesondere des Ruhrgebie- überwunden gelten. Wenn aber erst das Jahr 1941 den End- tes) zurückzunehmen – zunächst eine gewisse Erleichterung punkt der Großen Depression markiert, so lassen sich auch gegenüber den radikalen politischen Kräften, die von links gute Gründe dafür finden, ihre Vorgeschichte bereits mit wie rechts gegen die Republik agitierten. dem Jahr 1924, dem Jahr des Inkrafttretens des Dawes- Plans, beginnen zu lassen, mit dem Schritte zur Lösung der Reparationsfrage eingeschlagen wurden. dienenden Krediten der Alliierten ein kompliziertes System gegenseitiger Forderungen und Schulden bildeten. Die Staatsschuldenkrise der 1920er-Jahre Um die Reparationszahlungen tatsächlich erwirtschaften Die chronische Krise des Weltwährungssystems und die hieraus resultierenden Devisen an die Gläubiger Zu der Staatsschuldenkrise kam in den 1920er-Jahren eine transferieren zu können, hätten besonders die Siegermäch- chronische Währungskrise, die zu großen Teilen aus den te des Ersten Weltkrieges verstärkt deutsche Exporte auf- massiven Ungleichgewichten im internationalen Handel re- nehmen und in ihrer eigenen Währung zahlen müssen. Der sultierte. Das seinerzeitige Weltwährungssystem beruhte Schutz der eigenen Märkte, vor allem der Protektionismus auf dem Golddevisenstandard, in dem eine Golddeckungs- der USA, verhinderte dies aber, so dass das Deutsche Reich pflicht für die ausgegebenen Banknoten bestand und sich seine Reparationszahlungen nur mit Hilfe von Kreditauf- der Wert einer Währungseinheit in Feingold ausdrückte. nahmen leisten konnte. Entgegen der Intention des Dawes- Auf dieser Basis wurden wiederum die Wechselkurse aller Plans stammten die transferierten Devisen deshalb aus aus- am Goldstandard teilnehmenden Währungen ermittelt, die ländischen, vorwiegend US-amerikanischen Krediten, mit damit dauerhaft und fest waren. Dennoch kann es in einem denen sich das Deutsche Reich bis zur Zahlungsunfähigkeit System mit festen Wechselkursen vorkommen, dass der verschuldete. Die insgesamt 28 Empfängerstaaten der Re- festgesetzte Wechselkurs einer Währung nicht dem Wech- parationen, unter ihnen Großbritannien und Frankreich, selkurs entspricht, der sich auf einem freien Markt bilden waren wiederum auf die deutschen Zahlungen angewiesen, würde, was Eingriffe der Zentralbank nach sich zieht.47 Sol- da sie sich ihrerseits zum Zwecke der Kriegsführung be- ches geschah tatsächlich, beispielsweise entsprach das briti- sonders in den USA verschuldet hatten. Außerdem waren sche Pfund mit 7,18 g Gold nicht mehr dem Wert, den die von Großbritannien selbst wiederum Kredite vergeben Wirtschaftsakteure ihm beimaßen. Weil Besitzer der briti- worden, so dass die Reparationen zusammen mit den zu be- schen Währung ihr Geld deshalb in Gold eintauschten, es in

46 Die hier aufgezeigten Probleme tangieren die Frage des optimalen Währungsraumes. Einen guten Einblick in die Theorie des optimalen Währungsraumes liefern: Ulrich Baßeler / Jürgen Heinrich / Burkhard Utecht: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, 19Stuttgart 2010, S. 622 f.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 173 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 die USA transferierten, dort in Dollar umtauschten und die- örtlichen Industrien ab. Jeder Kundenansturm konnte eine se dort zinsbringend anlegten, kämpfte Großbritannien ge- Bank wegen des fehlenden finanziellen Rückhalts so schnell gen die daraus resultierende Verringerung der Geldmenge. in große Schwierigkeiten bringen, und Bankenzusammen- Abweichend von den Regeln des internationalen Goldstan- brüche waren im amerikanischen Wirtschaftsleben tatsäch- dards, betrieben die USA zudem eine Politik der „Goldste- lich keine Seltenheit: Bereits zwischen 1921 und 1929 hatte rilisierung“: Anstatt also für einen Ausgleich der Goldbe- es mehr als 5000 solcher Pleiten gegeben. Auch im Deut- stände zwischen den am Goldstandard teilnehmenden Län- schen Reich sollte die Instabilität des Bankensektors dern zu sorgen, erfolgte eine Hortung des Goldes bei der schließlich maßgeblich zur internationalen Finanzkrise bei- amerikanischen Federal Reserve Bank, was über den ver- tragen. Die Inflation zu Beginn der 1920er-Jahre hatte hier ringerten Notenumlauf in anderen Ländern deflationäre zu großen Teilen Kapital vernichtet und damit auch das Tendenzen förderte, bis das Weltwährungssystem 1936 end- Bankensystem geschwächt: Das Eigenkapital der deutschen gültig zerbrach.48 Banken, das im Fall vermehrter Abhebungen die Zahlungs- fähigkeit einer Bank bewahren hilft, war im Vergleich zum Die Börsenkrise zu großen Teilen aus dem Ausland stammenden Fremdka- Auslöser der akuten Krise aber war der Börsenkrach an der pital zu gering. Zudem vergaben die deutschen Kreditinsti- New Yorker Aktienbörse. In den USA hatten infolge hoher tute kurzfristige ausländische Kredite ohne Rücksicht auf Liquidität und niedriger Zinsen bereits 1924 die Aktien- Fälligkeiten langfristig. Schon aus geringstem Anlass droh- kurse stark zu steigen begonnen. Ein kaum regulierter Fi- te unter diesen Bedingungen eine Bankenkrise, die sich nanzmarkt ermöglichte es, Aktien beim Kauf nur zum Teil schnell zu einer Krise des gesamten Finanzsystems auswei- bar bezahlen zu müssen; auch war es zu einer einzigartigen ten konnte. Ausweitung des hochspekulativen Termingeschäfts gekom- Trotz aller Probleme konnten die massenhaften men. Die Erträge aus diesen den heutigen Leerverkäufen Abzüge US-amerikanischen Kapitals aus dem Deutschen ähnlichen Geschäften lagen weit unter den zu zahlenden Reich infolge des Börsenkrachs noch einigermaßen verkraf- Kreditzinsen. Es lockte somit einzig der Gewinn aus jeder- tet werden. Zum Auslöser der Bankenkrise wurde hier, aber zeit veräußerbaren Papieren, die zunächst im Wert stiegen, auch in Ungarn, der Tschechoslowakei, in Rumänien und bis die New Yorker Börse zwischen dem 21. und 29. Okto- Polen die Zahlungsunfähigkeit der größten Geschäftsbank ber 1929 unter der „platzenden Spekulationsblase“ völlig Österreichs im Mai 1931. Obwohl diese später mit Hilfe der zusammenbrach. Bei rapide fallenden Kursen bescherten Bank of England gerettet werden konnte, befürchteten die die nun einsetzenden Aktienverkäufe und der Rückruf von internationalen Kapitalanleger für das Deutsche Reich eine Krediten privaten Anlegern und Firmen hohe Verluste. In ähnliche Entwicklung und begannen umgehend, auch hier der Folge kürzten Unternehmen ihre Ausgaben, wodurch die fälligen Kredite zurückzurufen, anstatt sie zu verlän- die Industrieproduktion zurückging. Anfang Juli 1932 wa- gern. Der Prozess der seit geraumer Zeit schrumpfenden ren beispielsweise die Kapazitäten der Stahlunternehmen Geldmenge beschleunigte sich nun auch noch deshalb, weil nur noch zu zwölf Prozent ausgelastet. Als immer öfter deutsche Banken versuchten, ihre Reserven aufzustocken, auch Hypothekenkredite gekündigt wurden, kam es zu um ihre Zahlungsfähigkeit zu wahren. Indem die Banken massenweisen Zwangsvollstreckungen, weil Hausbesitzer zum Schutz ihrer Liquidität den Geldmarktzins erhöhten keine neuen Darlehen erhielten. Dadurch sanken wiederum und ihre Kreditvergabe reduzierten, gerieten – zur schnel- die Immobilienpreise, und die Bautätigkeit ging zurück. len Kreditrückzahlung gezwungen – selbst als stabil zu Weil der Börsenkrach einen Wettlauf um Liquidität ausge- bezeichnende Firmen in Schwierigkeiten, darunter der löst hatte, konnte sich vor allem auch die daraus folgende Warenhauskonzern Karstadt, der Versicherungskonzern Krise der Realwirtschaft weltweit fortpflanzen. Nord stern, aber auch der seinerzeit größte europäische Tex- tilkonzern Nordwolle. Da die Darmstädter und National- Die Finanzkrise bank (Danat-Bank) ebenso wie die Dresdner Bank der Zu den strukturellen Problemen der 1920er-Jahre zählte Nordwolle große Summen geliehen hatten, Anleger nach auch der Bankensektor in den USA. Dieser Sektor kann in- der Insolvenz dieses Konzerns also auch die Zahlungsunfä- folge einer Vielzahl selbstständiger Institute traditionell als higkeit der beiden Banken befürchteten, brach eine weitere labil gelten. Streng genommen gab es kein Filial banken sys - Lawine von Kreditabzügen los. Der Abzug ausländischer tem, jede Bank agierte lokal und hing deshalb von wenigen Gelder beschleunigte sich mit der Krise der Realwirtschaft

47 Einen kurzen Überblick zur Funktionsweise des Goldstandards bieten Pressler (wie Anm. 6), S. 39-48, sowie: Knortz (wie Anm. 13), S. 55 f. und S. 228–231. 48 Vgl. hierzu das gesamte Kapitel „Das Scheitern des neuen Goldstandards“ bei: Aldcroft (wie Anm. 13), S. 181-215.

174 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Kanzler Heinrich Brüning im Reichstag bei der Regierungserklärung und Vorstellung seines Kabinetts. Auf der Regierungsbank v. l. n. r.: Reichsfinanzminister (DVP), Reichsarbeitsminister (Zentrum), Reichsverkehrsminister Theodor von Guérard (Zentrum), Reichslandwirtschaftsminister Martin Schiele (DNVP), Reichspostminister Georg Schätzel (BVP), Reichsinnenminister (Zentrum), Reichsaußenminister Julius Curtius (DVP), Reichswehrminister (parteilos), Reichswirtschaftsminister und Vizekanzler Hermann R. Dietrich (DDP). Foto: Süddeutsche Zeitung Photo

sowie nach einem ersten hohen Wahlsieg der NSDAP im deutschen Reichshaushalts zu seinem Ziel erklärt hatte. September 1931, weil den ausländischen Geldgebern nun- Brünings parallel zu den deflatorischen Marktprozessen an- mehr auch noch die politische Stabilität der Weimarer Re- gelegte Politik wirkte unzweifelhaft krisenverschärfend. publik fraglich erschien. Brüning wollte jedoch nicht etwa nur die laufenden Staats- ausgaben mit den Staatseinnahmen zur Deckung bringen, Die Sparpolitik sein Ziel war darüber hinausgehend das Tilgen außeror- Die internationale Finanzkrise bewirkte in Verbindung mit dentlicher Schulden während der Wirtschaftskrise. Nach der Krise der Realwirtschaft eine weltweite Deflation, eine seiner Amtsübernahme forcierte er deshalb umgehend eine „Große Kontraktion“ der Geldmenge.49 Neben dem Zu- Senkung des Lohn- und Preisniveaus, um über die Senkung sammenbruch des Finanzsystems war es dann aber die mit der Produktionskosten die Wettbewerbsfähigkeit deutscher wenigen Ausnahmen weltweite deflatorische Wirtschafts- Exporteure zu verbessern. Die infolge der weltweiten Kri- und Finanzpolitik, die die Depression maßgeblich ver- se rasch und stark fallenden Preise auf den internationalen schärfte. Mit der rigidesten Sparpolitik ist untrennbar der Märkten mussten Brünings Deflationspolitik jedoch unter- Name Heinrich Brünings verbunden, der als Reichskanzler graben. Auch setzte Brüning seine deflationäre Parallelpo- während der Krise der Weltwirtschaft die Sanierung des litik strikt fort, indem er mehrfach die unterschiedlichsten

49 Vgl. Pressler (wie Anm. 6), S. 73.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 175 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Ein „Hooverville“-Elendsviertel im Hafenviertel von Seattle, 1933 Foto: ullstein bild – Heritage Images

Steuern, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sowie stützte. Infolge sinkender Einnahmen und gestiegener So- verschiedene Zolltarife erhöhte oder sogar neue Steuern zialausgaben gerieten neben der Arbeitslosenversicherung und Abgaben einführte. Gleichzeitig wurden öffentliche auch viele Städte und Gemeinden in finanzielle Schwierig- Ausgaben sowie Löhne, Gehälter und Pensionen von keiten, neben Sachsen, Hessen sowie kleineren Ländern Staats bediensteten kontinuierlich gekürzt, die Leistungen drohte im Sommer 1931 die Zahlungseinstellung Ham- der Arbeitslosenversicherung und der gesetzlichen Renten- burgs, Ende desselben Jahres die Zahlungsunfähigkeit Preu- versicherung beschnitten. Davon abgesehen waren Länder ßens. Unter Brünings Kanzlerschaft hatte dennoch eine und Gemeinden infolge der Finanzverfassung gezwungen, Diskussion um Arbeitsbeschaffungsprogramme eingesetzt, die Parallelpolitik des Reiches auf ihre Haushaltspolitik zu deren Umsetzung allerdings an der Frage der Finanzierung übertragen. scheiterte. Eine französische Kredithilfe wurde aus politi- Da die Lohn- und Gehaltssenkungen einen massi- schen Gründen abgelehnt, und die Finanzierung von Ar- ven Ausfall kaufkräftiger Nachfrage bedeuteten, führte das beitsbeschaffungsmaßnahmen durch Kreditaufnahme bei in der Konsumgüterindustrie zu weiteren Produktionsein- der Reichsbank, also durch den Ankauf von Staatsanleihen schränkungen mit zusätzlichen Entlassungen. Über die Ein- durch die deutsche Zentralbank, scheiterte unter anderem schränkung der Investitionen schlug diese Entwicklung an der allgemein verbreiteten Inflationsfurcht. Überhaupt auch auf die Investitionsgüterindustrie durch. Abnehmen- scheint die Reichsbank sehr einseitig auf die Stabilität der der Konsum und zunehmende Arbeitslosigkeit führten Währung geachtet zu haben, so dass den durch Kreditaus- schließlich trotz Erhöhung der Steuertarife zu rückläufigen fälle notleidenden Banken auch von dieser Seite keine Kre- Einnahmen des Reiches, das gleichzeitig illiquide Banken dithilfen gewährt wurden.50

50 Vgl. Wixforth (wie Anm. 14), Abschnitt 5.

176 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

Nach der Wahl gratuliert der scheidende US-Präsident Her- bert Hoover (l.) seinem desi- gnierten Nachfolger Franklin D. Roosevelt. Foto: picture alliance/dpa/ap

Da die Wirtschaftswissenschaft in den 1920er-Jahren noch villes bezeichnete. Die Zeitungen, in denen sich die Ob- keine wirtschaftspolitisch verwertbaren Krisenstrategien dachlosen einrollten, wenn sie sich am Straßenrand zum anzubieten hatte, durfte es nicht verwundern, dass auch US- Schlafen legten, nannte man im Volksmund ‚Hoover-Bett- Präsident das Haushaltsdefizit durch Steu- decken‘. […] Liegengebliebene Autos, vor die man Pferde ererhöhung und Ausgabenkürzungen möglichst gering zu gespannt hatte, nannte man ‚Hoover-Wagen‘ und die mage- halten versuchte. Ganz allgemein waren Geld- und Fiskal- ren Wildhasen, die sich die Obdachlosen fingen, wurden als politik weltweit wenig expansiv,51 verschärften die deflatio- ‚Hoover-Schweine‘ bezeichnet. Hoover stand nun für näre Krise also noch. Während Hoover der schnell zuneh- Elend, Armut und Verzweiflung.“52 menden Zahl der Arbeitslosen die Hilfe der amerikanischen Bundesregierung aus prinzipiellen, in der US-amerikani- Konjunkturprogramme und Finanzmarkt- schen Tradition liegenden Gründen verweigerte, zeigten stabilisierung sich die Bundesstaaten und Städte mit deren Versorgung fi- Selbst Hoovers Nachfolger, der auf dem Höhepunkt der nanziell überfordert, zumal die Gesetzeslage sie zu einem Krise in das Präsidentenamt gelangte Franklin D. Roosevelt, ausgeglichenen Haushalt verpflichtete. In vielen Teilen des blieb der zeitgenössischen Vorstellung von der Notwendig- Landes, das sich bis zuletzt als jenes mit dem weltweit keit eines ausgeglichenen Staatshaushalts verhaftet. Den- höchsten Lebensstandard selbst gefeiert hatte, zu dessen noch startete Roosevelt mit seinem New Deal (deutsch American Way of Life mit höchster Güterversorgung es etwa „Neuverteilung der Karten“) umgehend mit einer ra- scheinbar keine Alternative gab, herrschte nun – trotz land- dikalen Politik tiefgreifender Wirtschafts- und Sozialre for- wirtschaftlicher Überproduktion – Hungersnot. „Überall men.53 Im Folgenden soll aber weniger auf solche länger - in Amerika schossen Elendssiedlungen aus Holzabfällen, fris tigen Reformen oder jene Maßnahmen des New Deal Pappe und Wellblech aus dem Boden, die man als Hoover- eingegangen werden, die die soziale Notlage der Menschen

51 Vgl. hierzu auch Ritschl (wie Anm. 12), S. 30. 52 Pressler (wie Anm. 6), S. 67. 53 Eine neuere, englischsprachige Erscheinung zum New Deal liegt vor mit Ronald Edsforth: The New Deal. America’s Response to the Great Depression, Malden 2000; daneben ist auch immer noch zu empfehlen William E. Leuchtenberger: Franklin D. Roosevelt and the New Deal 1932–1940, New York 1963. An deutschsprachiger Literatur kann angeführt werden Pressler (wie Anm. 6); daneben nimmt das Thema breiteren Raum ein bei Erich Angermann: Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9München 1995, S. 123–194 (= dtv-Weltgeschich- te des 20. Jahrhunderts, 7). Einen kurzen Überblick bietet dagegen: Detlef Junker: Weltwirtschaftskrise, New Deal, Zweiter Weltkrieg, 1929–1945, in: Peter Lösche (Hg.): Länderbericht USA, 4Bonn 2004, S. 129–138.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 177 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007 kurzfristig lindern halfen,54 als auf die Initiativen, die auf ei- in den Zweiten Weltkrieg erzielt werden, wofür sich der ne wirtschaftliche Erholung zielten. Hierzu zählte zunächst Staat in großem Umfang Geld lieh und sich damit hoch ver- die Abkehr von der restriktiven, Depression und Deflation schuldete. verstärkenden Geldpolitik der US-Notenbank. Durch Auf- kauf von privaten Goldbeständen zu weit über dem Markt- Krisenängste in der Krise preis liegenden Preisen wurde nun die Geldmenge ausge- Die deutsche Angst vor Inflation und die Angst der weitet, was einer Abwertung des Dollar gleichkam und den Amerikaner vor einer neuen „Great Depression“ Export beflügeln sollte. Daneben versuchte die Roosevelt- Die Arbeitslosenquote ging in den USA also nur langsam Administration, den Rückgang von Preisen und Löhnen zurück, obwohl die Vereinigten Staaten schon ab 1933 wie- in der Industrie und der Landwirtschaft, damit die Deflati- der ein vergleichsweise hohes wirtschaftliches Wachstum onsspirale, durch mehr oder weniger freiwillige Selbstver- verbuchen konnten. Während die Wirtschafts- und Finanz- pflichtungen der Unternehmen bzw. Produktionsein- politik unter Brüning im Deutschen Reich einhellig als kri- schränkungen der Farmer zu unterbinden. senverschärfend beurteilt wird, fällt die Beurteilung des Mit Blick auf die gegenwärtige Krise ist erwäh- New Deal durch Historiker und Ökonomen gespalten aus. nenswert, dass Roosevelt unmittelbar nach seinem Amts - Für das Verständnis gegenwärtiger US-Krisenpolitik ist in antritt das labile US-amerikanische Finanzsystem refor- jedem Fall aber bedeutsam, dass auch unter Roosevelt kaum mierte: Neben der Einführung einer Bankenaufsicht, eines antizyklische Fiskalpolitik betrieben wurde. Die Ausgaben Einlagensicherungsfonds und des (in den 1990er-Jahren für die Arbeitsbeschaffungsprogramme wurden nämlich aufgehobenen) Glass-Steagall Act, der den Banken die Tren- weitestgehend durch Erhöhung von Einkommens- und nung von Kredit- und Einlagengeschäft von den risikorei- Unternehmenssteuern sowie Ausgabenkürzungen in ande- cheren Wertpapiergeschäften vorschrieb, wurde der Groß- ren Bereichen aufgebracht, damit keine zusätzliche Kauf- teil der notleidenden Banken mit Hilfe staatlicher Kredite kraft geschaffen. Die Haushaltsdefizite blieben mit durch- vor der Insolvenz gerettet, rund ein Viertel vorwiegend klei- schnittlich drei Prozent des Bruttosozialprodukts pro Jahr nerer Banken musste nach Bilanzprüfungen mit größeren moderat, 1937 war der Haushalt sogar ausgeglichen. Erst Instituten fusionieren oder blieb für immer geschlossen. Mit nach 1940 konnten so auch die Hoovervilles aus den Stadt- Vorschriften zu mehr Transparenz und der Schaffung der bildern verschwinden. Im Vergleich zum Deutschen Reich Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) ließ die „herbeigesehnte Erholung […] in den Vereinigten wurde nunmehr auch der Wertpapierhandel reguliert. Alle Staaten [demnach] deutlich länger auf sich warten, so dass diese Maßnahmen stärkten das Vertrauen der Sparer und sich die Depression dort wesentlich stärker als in anderen Anleger, die ihr Geld wieder zur Bank brachten oder in Ak- Staaten als das traumatische Ereignis der Wirtschaftsge- tien anlegten, dieses damit wieder Unternehmen zur Verfü- schichte des 20. Jahrhunderts in das kollektive Gedächtnis gung stellten und so verhinderten, dass der Kreditmangel eingebrannt hat“.55 Um eine Deflation wie in den 1930er- die Realwirtschaft weiter schrumpfen ließ. Jahren, eine zweite „Große Kontraktion“, zu verhindern, Am augenfälligsten drückte sich der Bruch mit der vor der Kenneth Rogoff bereits vor zwei Jahren warnte,56 vorangegangenen Politik sowie traditionellen amerikani- liegt der Leitzins in den USA seit Ende des Jahres 2008 bei schen Vorstellungen sicherlich in den Arbeitsbeschaffungs- höchstens 0,25 Prozent, und die Notenbank kauft immer programmen aus: Durch sie wurden insgesamt nicht nur wieder, gegenwärtig sogar massiv Staatsanleihen auf. „In knapp drei Miollionen vorwiegend jüngere Männer mit akademischen Kreisen und in der Obama-Administration Baumaßnahmen an öffentlicher Infrastruktur (Straßen, dominiert die Angst vor Deflation […] und die Notwen- Schulen, Staudämme etc.) beschäftigt, gerade mit den er- digkeit, Wachstum [und Arbeitsplätze – d. Verf.] zu gene- richteten Staudämmen konnten vielmehr bis dahin unter- rieren, wird stärker betont, als die Notwendigkeit zu spa- entwickelte Regionen mit Elektrizität versorgt werden. ren.“57 Trotzdem sanken die Arbeitslosenzahlen nur langsam; Voll- Dagegen war bereits die zeitgenössische Diskussi- beschäftigung konnte erst wieder durch die 1941 verstärkt on um Brünings Sparpolitik im Deutschen Reich von der einsetzende Rüs tungs pro duk tion und den Eintritt der USA Angst vor einer Inflation beherrscht. Seit der Hyperinflati-

54 Diese sind zuletzt ausführlich beschrieben worden von Pressler (wie Anm. 6), S. 81–109, finden sich aber auch in allen anderen Werken über die USA in den 1920er-Jahren. Auch der Wikipedia-Artikel zum New Deal gibt hierüber einen guten Überblick (vgl. https://de. wikipedia.org/wiki/New_Deal [Stand: 8. September 2013]). 55 Markus Baltzer: Rezension zu: Parker, Randall E.: Reflections on the Great Depression. Cheltenham 2002, in: H-Soz-u-Kult, 07.01.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-006 [Stand: 8. September 2013] (Hervorhebung durch die Verfasserin). 56 Vgl. http://www.project-syndicate.org/commentary/the-second-great-contraction/german [Stand: 8. September 2013]. 57 Pressler (wie Anm. 6), S. 240.

178 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Krisen und Krisenängste. Die Erfahrung der „Großen Depression“ und die Krise der Weltwirtschaft seit 2007

vor allem das nationalsozialistische Regime zunutze mach- te. Da dessen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unmittelbar mit der zunächst noch verdeckten Aufrüstung verknüpft waren, legte das NS-Regime damit bereits den Grundstein für die nächste starke Geldentwertung, die Inflation nach 1945.59 Innerhalb eines Vierteljahrhunderts erlebten die Deutschen damit zum zweiten Mal eine Inflation, obschon sich die Hyperinflation von 1922/23 bis heute stärker in der Erinnerungskultur verankert und tiefere Spuren im kollek- tiven Gedächtnis der Deutschen hinterlassen zu haben scheint. Wahrscheinlich gibt es keine andere postindustriel- le Gesellschaft, die so von der Angst vor einer Inflation ge- plagt wird wie die deutsche.60 Diese Angst ist der Grund, weshalb die Deutsche Mark nach 1948 zu einer der wertbe- ständigsten Währungen der Welt wurde. Die Wahrung der Geldwertstabilität, jahrzehntelang erstrangige Aufgabe der Deutschen Bundesbank, fand nicht zuletzt deshalb auch Aufnahme in die Artikel des EG-Vertrages über Ziele und Aufgaben der Europäischen Zentralbank. Dennoch nährt sich aus jenem zentralen Ereignis „auch im Jahr 2013 noch die Angst vor einer ‚weichen‘ Währung“.61 Die zentralen Ursachen der Großen Depression führten allesamt zu einer nachhaltigen Dämpfung der ge- samtwirtschaftlichen Aktivitäten,62 die eingangs skizzierten Kinder bauen Türme aus wertlos gewordenen Geldscheinen, strukturellen Problemlagen der gegenwärtig anhaltenden Deutschland 1923. Foto: ullstein bild Krise haben das Potenzial, vergleichbare Folgen hervorzu- rufen. Analoges lässt sich in Bezug auf die Politik der Kri- on waren noch keine zehn Jahre vergangen, wodurch die senbekämpfung in beiden Fällen feststellen. Es bleibt zu Angst vor einer erneuten Geldentwertung mitten in der De- hoffen, dass die mit der Großen Depression, mit der Gro- flation den Handlungsspielraum der politisch Handelnden ßen Krise der Weltwirtschaft in den 1930er-Jahren zusam- maßgeblich einschränkte. Bei kleinsten Anzeichen wurde menhängenden konträren Krisenängste nicht den Blick auf eine Panik des inflationserfahrenen Publikums für wahr- die eigentlichen Probleme der gegenwärtigen Weltwirt- scheinlich gehalten.58 Erst kurz vor Brünings Absetzung la- schaft verstellen, zu denen ganz sicher ein anhaltend labiler, gen dann legale, dem Geist des Reichsbankgesetzes streng zu großen Teilen immer noch deregulierter Finanzmarkt ge- genommen aber zuwiderlaufende Konstruktionen zur Ver- hört.63 ❚ größerung der umlaufenden Geldmenge vor, die sich dann

58 Vgl. hierzu insgesamt: Knut Borchardt: Das Gewicht der Inflationsangst in den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozessen während der Weltwirtschaftskrise, in: Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924–1933, hg. von Gerald D. Feldman, Mün- chen 1985, S. 233–260 (= Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 6). 59 Vgl. Bernd Sprenger: Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn/Mün- chen/Wien/Zürich 1991, S. 234–246. 60 Sehr ausführlich und differenziert hierzu: Toni Pierenkemper: Die Angst der Deutschen vor der Inflation oder: Kann man aus der Ge- schichte lernen?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1998/1, S. 59–84, besonders S. 82 ff. 61 Pressler (wie Anm. 6), S. 34. 62 Vgl. Grömling/Hüther/Jäger/Kroker (wie Anm. 8), S. 16. 63 Vgl. Roubini/Mihm (wie Anm. 9), S. 363–367.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 179 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013 Von der Westintegration zur Vereinigung des Kon- tinents: die Rationalität der Etappen europäischer

Serie: Integration 1939–2013 Europa vor der Wahl 2014 Von Michael Gehler

Ankündigung von Bauvorhaben, die mit Mitteln aus dem Marshall-Plan finanziert werden Foto: ullstein bild – Archiv Gerstenberg

180 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Voraussetzungen des europäischen terung“ deutlich. Die viel zitierten „Gründerväter“ Konrad Einigungsprozesses Adenauer, Alcide De Gasperi, Robert Schuman und Jean Monnet hatten trotz aller christlich-abendländischen Rhe- Exil in London, Niederlage, Besetzung und Kontrolle torik die Teilung Europas als Preis ihrer Westintegrations- Deutschlands 1939–1947 politik in Kauf genommen. Zunächst stand also Europas Während des Zweiten Weltkriegs war London der Flucht- Desintegration und Teilung vor der Einigung des Konti- punkt der kontinentaleuropäischen Emigration, dort wur- nents. Das geteilte Deutschland und Europa waren für Ade- den Pläne entwickelt und Verträge geschlossen, die zur nauer, De Gasperi und Schuman stillschweigend akzeptier- Überwindung der Diktaturen der Achsenmächte in Europa te Voraussetzung für das Gelingen der westeuropäischen und zur Neuordnung der europäischen Staatenwelt beitra- Integration. Das Scheitern der Münchner Ministerpräsiden- gen sollten. Die bekannteste Vereinbarung war der Vertrag tenkonferenz im Juni 1947 markierte bereits den Weg zur vom 5. September 1944 zwischen den Benelux-Staaten, der innerdeutschen Teilung. Bayerns Ministerpräsident Hans 1948 in eine Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunion mün- Ehard sagte zutreffend: „Dieser Vorgang bedeutet die Spal- dete. Auf Initiative des Chefs der polnischen Exilregierung, tung Deutschlands.“ Die Spaltung Deutschlands ging der General Wladysław Sikorski (1881–1943), trafen sich polni- Teilung Europas voraus, wie später die Einigung Deutsch- sche, tschechoslowakische, norwegische, belgische, nieder- lands Voraussetzung für die politische Vereinigung des ländische, luxemburgische, griechische und jugoslawische Kontinents wurde. Exilregierungen sowie das Komitee des „Freien Frank- reich“ zu Beratungen. 1942 bestand zwischen ihnen Kon- Die Formationsphase der westeuropäi- sens hinsichtlich der Einsicht in die Überholtheit des natio- schen Integration 1947–1957 nalstaatlichen Prinzips, der Bereitschaft zur partiellen Souveränitätsabgabe, der Schaffung innerer Souveränität Europäisches Wiederaufbauprogramm als Renatio- durch demokratische Verfassungen, der Unmöglichkeit der nalisierungschance 1947/48 Neustrukturierung eines föderierten Europa ohne Einbe- Von 1948 bis 1958 konstituierten sich die ersten für die wei- ziehung der Sowjetunion und USA sowie der Erkenntnis, tere Entwicklung maßgeblichen westeuropäischen Institu- dass Friedenssicherung kein rein europäisches, sondern ein tionen. Nach Ankündigung des European Recovery Pro- weltpolitisches Problem sei. gram (ERP) durch US-Außenminister George C. Marshall Während 1919/20 die europäischen Mächte in den am 5. Juni 1947, welches im Zeichen der containment-Stra- Vororten von Paris die Friedensverträge festgelegt hatten, tegie von Präsident Harry S. Truman gegenüber dem So- entschieden in Jalta und Potsdam 1945 bereits zwei außer- wjetkommunismus stand, bildete sich am 16. April 1948 in europäische Mächte, die USA und die UdSSR – Europa war Paris die rein intergouvernementale Organization for Euro- nun definitiv zum Objekt geworden. Großbritannien war pean Economic Cooperation (OEEC), um Koordination, nur mehr Juniorpartner der Vereinigten Staaten und sein Organisation, Verteilung und Kontrolle des ERP sowie die weltpolitischer Abstieg durch Niedergang und Zerfall des Liberalisierung des Handels und Zahlungsverkehrs unter Empire vorprogrammiert. Die USA lösten das Vereinigte 17 westeuropäischen Staaten in Angriff zu nehmen: Die Königreich als globale Kolonialmacht ab. Die Absage an na- OEEC sah weder nationale Souveränitätsabgabe vor, noch tionalistische Weltmachtphantasien war die Basis für ein war sie eine gesamteuropäische Organisation: Sie bildete ein schrittweise neu errichtetes institutionelles Einigungswerk entscheidendes Präjudiz für die fortgesetzte Dominanz der in Westeuropa. Angesichts der Präsenz der Roten Armee in nationalen Regierungen in der europäischen Integration der Mitte und im Osten Europas schien rational betrachtet und für die ökonomische Teilung Europas. Mit der Embar- nur ein Zusammenschluss westeuropäischer Staaten mög- gopolitik gegenüber der Sowjetunion war die OEEC auch lich. Der Weg zurück zu einer Art westeuropäischen Selbst- Akteur des Kalten Krieges und Förderer der gesamteuro- findung war zunächst nur mit der wirtschaftlichen und dann päischen Desintegration. Belgien, Dänemark, Frankreich, militärischen Assistenz der USA möglich. Dass dies mit der Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, die Hypothek der Teilung des Kontinents und der über ein hal- Niederlande, Norwegen, Luxemburg, Österreich, Portugal, bes Jahrhundert währenden gesellschaftlichen, ökonomi- die Türkei, Schweden, die Schweiz und die drei deutschen schen und politischen Abkoppelung Mittel- und Osteuro- Westzonen, die spätere Bundesrepublik, waren ihre Mit- pas vom Kernraum der Integration verbunden war, wurde streiter, lediglich assoziiert waren Jugoslawien, Kanada und in allen Dimensionen erst mit Blick auf die „EU-Osterwei- die USA. Häretisch hat der britische Wirtschaftshistoriker

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 181 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Der britische Premierminister Winston Churchill malt den Hafen von Camara de Lobos. Foto: ullstein bild, Fotograf: Roger-Viollet

Alan S. Milward die Anfänge der westeuropäischen Inte- Als es an die Wiederaufbauarbeit ging, war Churchill in der gration auch als „European Rescue of the Nation State“1 be- Opposition und agierte als Kalter Krieger. Er erkannte we- zeichnet. In diesem Sinne kann die OEEC auch als Hilfe für der rechtzeitig, dass Großbritannien nur mehr ein Objekt die Realisierung westeuropäischer Renationalisierungsam- US-amerikanischer Europapolitik war, noch, dass es sich bitionen verstanden werden. nicht weiter von Europa ausschließen konnte, ohne gegen- über der Integration Westeuropas ins Hintertreffen zu ge- Der Europarat als beratendes Gremium 1949 raten. Die Züricher Rede war für viele Europäer jedoch ein Zwei Jahre vor der OEEC-Gründung, am 19. September Hoffnungsschimmer sowie Geste und Impuls zur Annähe- 1946, hatte der viel gepriesene britische Staatsmann Winston rung zwischen Frankreich und Deutschland, was psycholo- Churchill in seiner Züricher Rede im Münsterhof der Uni- gisch bedeutsam war. Diese für die weitere Entwicklung (im versität „die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa“ Unterschied zur „Achse“ Berlin–Rom) so notwendige vorgeschlagen – allerdings ohne Großbritannien. „Vereint „Achse“ –Paris wäre aber auch ohne Churchills Rede Euch“, nicht aber „Vereinigen wir uns“, lautete die Parole zustande gekommen, weil sie alternativlos war und beider- Churchills, der kein großer Europäer war; seine historische seits des Rheins angesichts angloamerikanischer „Bevor- Bedeutung für die Einigung des Kontinents muss ambiva- mundung“ und Dominanz auch aus rationalen Überlegun- lent bewertet werden.2 gen als zielführend empfunden wurde.

1 Alan Milward: The European Rescue of the Nation State, London 1993. 2 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das berüchtigte Prozentabkommen mit Stalin zur Aufteilung der Interessensphären in Südosteu- ropa vom Oktober 1944 (Rumänien zu 90 Prozent und Bulgarien zu 75 Prozent sollten sowjetisch, Griechenland zu 90 Prozent britisch sowie Jugoslawien und Ungarn 50 zu 50 Prozent zwischen London und Moskau aufgeteilt werden!) – ohne Kenntnis und Zustimmung des US-Präsidenten Roosevelt.

182 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Die Unterschriften der zehn Gründerstaaten des Europarates Abbildung: ullstein bild

Der am 5. Mai 1949 gegründete Europarat blieb weit hinter tor sichern sollte. Nach längeren Verhandlungen zwischen den Erwartungen der europäischen Idealisten und Konsti- Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Italien, den Nie- tutionalisten zurück, die wie Coudenhove-Kalergi mit sei- derlanden und Luxemburg wurde am 18. April 1951 der ner schon in der Zwischenkriegszeit aktiven „Paneuropa- Vertrag unterzeichnet, der am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Das Union“ auf eine verfassunggebende Versammlung gehofft war zwar psychologisch ein weiterer wichtiger Schritt, vor hatten. Der in Straßburg angesiedelte „Conseil d’Europe“ allem mit Blick auf die Verständigung zwischen der Bun- hatte mit seiner Beratenden Versammlung nur konsultative, desrepublik und Frankreich, aber die überstaatliche Hohe keine Entscheidungsgewalt. Die Unterzeichnung der Euro- Behörde der Montanunion brachte nur wenig praktischen päischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und integrationspolitischen Erfolg. Kohle und Stahl waren zu Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 wurde wenig. Ihre Leistung lag in der organspezifischen Grundle- für alle Mitglieder verpflichtend und wegweisend für weite- gung und institutionellen Vorarbeit für die spätere EWG re Vereinbarungen wie die „Europäische Sozialcharta“ von und EU. Aus dem Montanparlament ging 1958 das Euro- 1961 (1965 in Kraft getreten). päische Parlament hervor. Die Hohe Behörde verschmolz 1967 mit der EWG- zur EG-Kommission. Die Relevanz der Die Montanunion als supranationales EGKS nahm ab, was durch die Erschließung neuer Ener- Novum 1951/52 gieträger neben der Kohle und durch die Stahlkrise bedingt Die auf Ideen von Jean Monnet zurückgehende, am 9. Mai war. Der Gerichtshof der EGKS wurde mit Sitz in Luxem- 1950 veröffentlichte und auf sektoriale Integration abzie- burg der spätere EuGH der EU. lende Initiative von Frankreichs Außenminister Robert Schuman, die Kohle- und Stahlproduktion Westeuropas zu- Das Scheitern einer Europaarmee, die Festschrei- sammenzulegen, diente vornehmlich der Einbindung und bung der US-Militärpräsenz in Europa und die Kontrolle des westdeutschen Wirtschaftspotenzials. Daraus NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik 1954/55 erwuchs die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Auf sicherheitspolitischer Ebene wurde der am 17. März (EGKS), die unter partieller Souveränitätsabgabe der Mit- 1948 begründete Brüsseler oder Fünf-Mächte-Pakt (Frank- gliedsstaaten Zölle und mengenmäßige Beschränkungen be- reich, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Luxemburg) seitigen und den Wettbewerb auf dem Kohle- und Stahlsek- am 23. Oktober 1954 um Italien und die Bundesrepublik

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 183 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Funktionsweise und Organe der geplanten Montanunion Abbildung: ullstein bild

zur Westeuropäischen Union (WEU) erweitert, die unter und „Kanzler der Alliierten“ (so der SPD-Vorsitzende Kurt anderem für Rüstungskontrolle zuständig sein sollte. Be- Schumacher), der auch zur deutschen Selbsteindämmung reits am 4. April 1949 war in Washington das militärisch bereit war. Die Gründung der „Allianz“ bildete die Ouver- weit bedeutsamere Atlantische Bündnis, die North Atlantic türe für das Scheitern der Europaarmee in den fünfziger Jah- Treaty Organization (NATO), geschaffen worden, der die ren. Schon während der Aushandlung des EGKS-Vertrages USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien, die Be- ging es um den deutschen Verteidigungsbeitrag. Der Vor- nelux-Länder, Dänemark, Norwegen, Island und Portugal schlag des französischen Verteidigungsministers und Minis- als Gründungsmitglieder angehörten. Nach der Türkei und terpräsidenten René Pleven zur Bildung einer integrierten Griechenland (1952) wurde 1955 die Bundesrepublik in die Sicherheitsstruktur sollte allerdings am 30. August 1954 NATO aufgenommen. Deren Hauptzweck in Europa be- abgelehnt werden: Die Absetzung des Themas von der stand in einem „triple containment“, nämlich „to keep the Tagungsordnung durch die Assemblée Nationale bedeutete Americans in, keep the Russians out and keep the Germans das Fehlen und das Ende einer genuin europäischen Sicher- down“, wie es NATO-Generalsekretär (1952–1957) heits- und Verteidigungspolitik sowie die Festschreibung Hastings Lionel Lord Ismay vertraulich intern festhielt. Mit der US-Militärpräsenz auf dem Kontinent bis heute. Euro- Adenauer fand sich der entscheidende deutsche Politiker pa begab sich unter den Schutzschirm der USA, aber damit

184 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Der Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft Abbildung: ullstein bild

auch in amerikanische Abhängigkeit. Mit der Europaarmee chem Gebiet zu bauen“ und ein Komitee unter Vorsitz des verkoppelt war auch das Projekt einer europäischen politi- belgischen Sozialisten Paul Henri Spaak mit der Aufgabe schen Gemeinschaft. Auch diese war damit gescheitert. zu beauftragen, „über die Möglichkeiten einer allgemeinen Nach dem Schock des 30. August – Adenauer dachte schon Wirtschaftsunion sowie über eine Union im Bereich der an Rücktritt – galt unter Integrationsbefürwortern der vom Kernenergie“ zu berichten. Frankreich und die Bundesre- rationalen Kalkül geleitete Grundsatz, kein Thema von der- publik waren die Hauptakteure. Während Paris die Atom- artiger Relevanz mehr von der Tagungsordnung abzusetzen gemeinschaft forciert sehen wollte, stand die Bundesrepu- (siehe zuletzt den erfolgreichen Versuch zur Rettung des blik hinter dem Konzept eines „gemeinsamen Markts“, wel- „Verfassungsvertrags“, s. u.). ches intern freilich nicht unumstritten war. Es gelang schließlich, beide Vorhaben miteinander zu verkoppeln und Der Weg zu den Römischen Verträgen als „Grund- zu realisieren. Am 19. Mai 1956 genehmigten die EGKS- gesetz der Gemeinschaft“ 1955–1957 Außenminister in Venedig den „Spaak-Bericht“ mit dem Nach dem politischen Scheitern beschlossen die EGKS-Au- Beschluss der Aufnahme zwischenstaatlicher Verhandlun- ßenminister am 2. Juni 1955 in Messina, neue Anstrengun- gen. Die Verhandlungen der EGKS-Staaten zur Gründung gen zu unternehmen, „Europa zunächst auf wirtschaftli- der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 185 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Atomgemeinschaft (EURATOM) zielten auf horizontale Schweden und der Schweiz – Finnland wurde später asso- Integration, die in den Römischen Verträgen vom 25. März ziiert – gebildet, der nach Unterzeichnung am 4. Januar am 1957 ihren Ausdruck fand, die am 1. Januar 1958 in Kraft 3. Mai 1960 in Kraft trat. Die EFTA war mangels Alterna- traten. Die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und die Be- tive nur ein Ersatz für die exklusive EWG, der die neutra- nelux-Staaten hatten sich Wirtschaftswachstum, Steigerung len Staaten nicht beitreten konnten oder wollten. Sie war des Lebensstandards und einen immer engeren politischen nach der französischen Ablehnung des britischen Vor- Zusammenschluss als Fernziele, den Abbau der Binnenzöl- schlags über eine Große Freihandelszone in Europa eine le, die Schaffung einer Zollunion, freien Warenverkehr und rein intergouvernementale Organisation unter Beibehal- Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen als Nahziele tung der verschiedenen nationalen Außenzölle und der Sou- gesteckt. Daneben waren gemeinsame Landwirtschafts-, veränität der Mitgliedstaaten, während die EWG-Staaten Verkehrs- und Wettbewerbspolitik beabsichtigt sowie die ihren „festen Willen“ kundtaten, einen „immer engeren po- Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften. Die Be- litischen Zusammenschluss der europäischen Völker zu seitigung der Binnenzölle, Grenzkontrollen und Wettbe- schaffen“. werbsverzerrungen für einen „gemeinsamen Markt“ wie die Koordinierung der Außenhandels-, Finanz- und Wäh- Die Europäischen Gemeinschaften: ein Fusions- rungspolitik sollten den Produktivitätsrückstand Europas produkt der Organe verringern, zu einer aktiveren Industriepolitik führen und Bei der EWG kam es zu ökonomischen Fortschritten und die Anpassung an den sozialen Wandel ermöglichen. Die politischen Rückschlägen. Am 1. Januar 1959 wurden die weitreichenden Ziele konnten nur schrittweise erreicht, die Zölle erstmals um zehn Prozent gesenkt, um dann schritt- zentralen Anliegen (Abbau aller Binnenzölle und Grenz- weise gänzlich beseitigt zu werden. Parallel dazu konnte ein kontrollen sowie der Aufbau einer eigenen Währung) sogar gemeinsamer Außenzoll aufgebaut werden. In den multila- erst in den neunziger Jahren realisiert werden. teralen GATT-Zollverhandlungen im Rahmen der „Kenne- Die Jahre 1947–1957 bildeten jedenfalls ein Jahr- dy-Runde“ senkte die EWG ihren Außenzoll je nach Er- zehnt der integrationspolitischen Formation mit französi- zeugnissen (mit Ausnahme der Agrarprodukte) um 35 bis schen Hindernissen. Ohne das kolonialpolitische Debakel 40 Prozent. Diese Verhandlungen fanden ihren Abschluss am Suezkanal 1956 wäre Frankreich nicht so rasch über sei- am 30. Juni 1967. Die Krise der Politik des „leeren Stuhles“, nen eigenen Schatten gesprungen und hätte seine Einwilli- praktiziert von Charles de Gaulle – der ein halbes Jahr un- gung zur engeren Kooperation mit dem „Erzfeind“ und ter anderem wegen der strittigen Frage der Agrarfinanzie- Hauptkriegsverlierer Deutschland kaum gegeben. Dessen rung Entscheidungen im Ministerrat (MR) blockiert hatte –, Teilung blieb politisch bestehen, während die Bundesrepu- endete mit der Festschreibung der Vetomöglichkeit bei blik handels- und zollpolitisch dem EWG-Markt angehör- wichtigen nationalen Interessen im „Luxemburger Kom- te. Während die Integration von Handel und Wirtschaft promiss“ 1966 und mit der Aufschiebung und Infragestel- voranschritt, blieb die der Atomenergie im Schatten der lung der Einführung von Mehrheitsentscheidungen. Am EWG. Rationalität herrschte in dieser ersten Dekade euro- 1. Juli 1967 trat der „Fusionsvertrag“ von 1965 in Kraft, der päischer Integration in der beabsichtigten Teilung, Kon- die Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemein- trolle und Einbindung Deutschlands und der Etablierung samen Kommission vorsah. Die Teilgemeinschaften EGKS, der sozialen Marktwirtschaft auf westeuropäischer Ebene. EWG und EURATOM bildeten auf Basis der existierenden Verträge fortan die EG. Am 1. Juli 1968, 18 Monate früher Konsolidierung und Norderweiterung: Inte- als in den Römischen Verträgen vorgesehen, trat die Zoll- grationsdissens in Westeuropa 1958–1973 union in Kraft. Die Binnenzölle waren damit abgeschafft und ein gemeinsamer Außenzolltarif für den Handel mit Die Entstehung der EFTA als Stiefschwester der Drittstaaten eingeführt. Die Regelung der Landwirtschafts- EWG 1958–1960 politik blieb aber ein gravierendes Problem: Sie verschlang Der „gemeinsame Markt“ der Sechsergemeinschaft entwik- über die Hälfte des gemeinsamen Haushalts. kelte sich alsbald zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschich- Die EWG der sechziger Jahre bewegte sich im te, präjudizierte aber auch die handelspolitische Teilung Schatten der nationalen Politik de Gaulles, der mit ihrer Westeuropas. Die „non six“ mussten reagieren: Am 20. No- Hilfe die französische Hegemonie auf dem Kontinent und vember 1959 erfolgte die Paraphierung der Stockholmer den Ausschluss Großbritanniens aus der EG zu perpetuie- Konvention der European Free Trade Association (EFTA). ren versuchte. Es war ein Jahrzehnt der handels- und zoll- Damit hatte sich ein zweiter Wirtschaftsraum mit Däne- politischen Integrationsfortschritte und der supranationali- mark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, tätspolitischen Stagnation.

186 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Die „Norderweiterung“ mit Großbritannien als litischen Kontroversen eng verknüpft. Die Frage des Anteils widerspenstiges „Opting-out“-Mitglied am EG-Haushalt und des Mitgliedsbeitrags, aber auch die Die EG-Staats- und -Regierungschefs waren sich der Not- Fischereipolitik schufen Konfliktpotenzial. 1974/75 muss- wendigkeit neuer Initiativen bewusst, hatte doch Kommis- ten die Beitrittsbedingungen neu verhandelt werden, was sionspräsident Walter Hallstein die Integration mit einem die wiedergewählte Labour Party gefordert hatte. Im Juni Fahrrad verglichen, das stehen bleiben und umfallen werde, 1975 stimmte die britische Bevölkerung in einer Volksbe- wenn man nicht ständig strampele. Nach einer durchwach- fragung für den Verbleib in der EG. Großbritannien blieb senen Phase (1958-1968) bedeutete der Haager Gipfel vom allerdings bis zuletzt ein schwieriger Partner (Rabattierung 1. und 2. Dezember 1969 eine Zäsur, verbunden mit einem der Beiträge, Fernstehen von der Sozialpolitik, Festhalten neuen integrationspolitischen Aufbruch. Beschlossen wur- an der nationalen Währung, Freistellung von der Grund- de der vertragsmäßige Übergang zur Finalisierung der Rö- rechte-Charta, Euroskeptizismus, verknüpft mit einer eige- mischen Verträge (Schaffung einer Wirtschafts- und Wäh- nen proamerikanischen Sicherheitspolitik), was in leicht ab- rungsunion, Stärkung der Gemeinschaftsorgane). Vor dem gewandelter Form auch auf Dänemark zutraf. Die norwe- Hintergrund der an Kaufkraft gewinnenden Deutschen gischen Verhandlungen zeigten, dass ein Beitritt nicht Mark und der steigenden Wirtschaftsmacht der Bundesre- möglich ist, wenn er auf einem fragilen und schwachen in- publik sah sich das Frankreich nach de Gaulle gezwungen, nenpolitischen Konsens aufbaut. Das Beispiel Norwegen eine zweite Kontrollmacht für Deutschland einzuschalten. zeigt aber auch, dass ein wirtschaftlich wohlhabendes und Das war einmal mehr eine politisch-rationale Entscheidung. exportstarkes Land die EU-Vollmitgliedschaft gar nicht nö- Aufgrund dessen wurde vor allem ein Durchbruch für tig hat, was auch für die ökonomisch unabhängige Schweiz die „Norderweiterung“ erzielt, auch mit Blick auf eine effi- zutrifft. zientere Koordinierung der politischen Zusammenarbeit. Konsens konnte auch über die Finanzierung der gemeinsa- Verrechtlichung, Direktwahlen,Währungs- men Agrarpolitik und die Stärkung der Befugnisse des Par- system und „Süderweiterung“ 1975–1985 laments erzielt werden. Die Beitrittsverhandlungen mit Dä- nemark, Irland, Großbritannien und Norwegen wurden Eurosklerose? 1970 aufgenommen, was nach dem Rücktritt des erweite- Mitte der siebziger Jahre war die Situation in Europa durch rungspolitisch widersetzlichen de Gaulle (28. April 1969) zunehmende Arbeitslosigkeit, Verlangsamung des Wachs- unter der Regierung von Georges Pompidou möglich ge- tums und Krisen in diversen Branchen, etwa in der Textil-, worden war. Die Beitrittsakte konnte am 22. Januar 1972 vor allem aber in der Eisen- und Stahlindustrie, gekenn- unterzeichnet werden. Die Aufnahme Norwegens scheiter- zeichnet. Die in der EG aufgrund von Währungs-, Energie- te an einer ablehnenden Volksabstimmung (53 Prozent). Ab und Wirtschaftskrisen in den siebziger Jahren vorherr- 1. Januar 1973 erhielten die Beitritte der drei neuen Länder schende Gefühlslage der integrationspolitischen Stagnation Rechtskraft. Die EG wurde damit zur Neuner-Gemein- wird immer wieder vereinfachend mit „Eurosklerose“ be- schaft und verstärkt als internationaler Akteur wahrgenom- zeichnet, was aber dieses Jahrzehnt gemeinschaftspolitisch men. und -rechtlich nicht zutreffend charakterisiert. In der tur- Mit den neutralen (Österreich, Schweden, Schweiz bulentesten Nachkriegsphase mit dem Zusammenbruch des und später Finnland) und den übrigen EFTA-Staaten (Por- internationalen Währungssystems, dem eskalierenden Viet- tugal, Island, Norwegen) schloss die EG bilaterale Freihan- nam-Krieg und dem virulenter gewordenen internationalen delsabkommen. Damit wurde der gemeinsame EG-Außen- Terrorismus konnte in Europa mit der KSZE-Schlussakte zolltarif für gewerblich-industrielle Produkte für diese Län- (1975) der Entspannungsprozess zwischen Ost und West der nicht mehr angewendet und eine Freihandelszone für eingeleitet werden und die EG-Staaten ihren Zusammenhalt diese Warengruppen möglich. Die westeuropäische Han- unter Beweis stellen. Es war ein Jahrzehnt der Bewährung delsspaltung fand damit ein Ende. Nunmehr sah die EG und der Kräftekonzentration für einen integrationspoliti- auch ihre weltpolitische Funktion. schen Neuanlauf. Der „Werner-Ausschuss“, benannt nach Die Beitrittsverhandlungen der ersten Erweite- dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner, rungsrunde (1961–1972) waren die langwierigsten und im arbeitete bereits einen Stufenplan für eine Währungsunion Falle Großbritanniens bisher auch die problematischsten. aus, der dann zehn Jahre später wieder aufgegriffen und De Gaulles Vorbehalte und Obstruktionen taten ein Übri- ein weiteres Jahrzehnt später realisiert werden sollte. Der ges, zumal die Briten fortlaufend Schwierigkeiten machten Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte gerade von den – dies auch später hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft und Bei- sechziger bis zu den achtziger Jahren in einer Zeit des ver- trittszahlungen. Diese Schwierigkeiten waren mit innenpo- meintlichen Integrationsstillstands durch eine Vielzahl von

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 187 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Europawahlen in Deutschland 1979–2009 Abbildung: Bergmoser + Höller

Urteilen eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des ge- Vorjahr bereits vorgedachte Europäische Währungssystem meinsamen Rechtsbestandes („acquis communautaire“) ge- (EWS) in Kraft. Es basierte auf vier Grundelementen: einer spielt. europäischen Währungseinheit, der European Currency Am 1. Dezember 1975 beschloss der zwei- bis drei- Unit (ECU), einem Wechselkurs- und Interventionsmecha- mal jährlich außerverfassungsmäßige, das heißt „oberhalb“ nismus sowie Kredit- und Transfermechanismen. Großbri- der EG informell tagende und aus den Staats- und Regie- tannien beteiligte sich nicht vollständig am EWS, welches rungschefs bestehende Europäische Rat (ER) in Rom die di- von einer entsprechenden Konvergenz der Wirtschaftspoli- rekte und unmittelbare Wahl der Abgeordneten zum Euro- tik der Mitgliedsstaaten getragen sein musste und ferner die päischen Parlament. Nun rang sich die Gemeinschaft durch, Stützung des wirtschaftlichen Potenzials weniger wohlha- die bereits in den Römischen Verträgen in Aussicht gestell- bender Länder der EG voraussetzte. Das EWS war ein Werk te Entscheidung zu treffen, womit eine partielle Demokra- von Deutschlands Bundeskanzler Helmut Schmidt und tisierung einsetzte. Vom 7. bis 10. Juni 1979 wählten die Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, der Bürger der neun EG-Mitgliedsstaaten zum ersten Mal die Achse Bonn–Paris, und eine höchst politische wie rationale Abgeordneten in allgemeiner und direkter Wahl. Die Sozi- Entscheidung nach der Aufgabe des Goldstandards zur bis- aldemokratische Partei Europas (SPE) und die christlich- herigen Deckung des Dollars und vor dem Hintergrund des demokratische Europäischen Volkspartei (EVP) waren die vom Verfall der US-Leitwährung erschütterten internatio- hauptsächlichen Gewinner. Die bescheidenen Befugnisse nalen Währungssystems. des Parlaments fanden zunächst ihren Ausdruck in den li- Nachdem Griechenland (1975), Portugal und Spa- mitierten Beeinflussungsmöglichkeiten in den zentralen nien (1977) Anträge auf EG-Vollmitgliedschaft gestellt hat- EG-Entscheidungsbereichen (Agrar- und Handelspolitik). ten, war die EG angesichts der noch nicht realisierten Ver- Die Mandatare scheuten in Haushaltsfragen und beim Ge- tiefungsabsichten mit neuen Erweiterungswünschen kon- setzgebungsverfahren aber nicht vor Auseinandersetzun- frontiert. Alle drei Länder hatten sich erst seit Kurzem mit gen mit dem Rat zurück und befassten den EuGH mit ih- demokratischen Verhältnissen angefreundet, sollten aber ren Anliegen. wegen ihrer Entwicklungsunterschiede die EG vor eine Reihe neuer Probleme stellen, nicht nur finanzieller Natur, Europäisches Währungssystem (EWS) sondern auch hinsichtlich des reibungslosen Funktionie- und „Süderweiterung“ rens der EG-Organe. Aber auch innergemeinschaftlicher Die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen von Anfang der Demokratiebedarf blieb gegeben. Nachdem die Verhand- 1970er-Jahre blieben aktuell. Vom 9. bis 10. März 1979 tag- lungen im Juli 1976 offiziell begonnen hatten, konnten am te der Europäische Rat in Paris und setzte das in Bremen im 28. Mai 1979 Griechenland und die EG in Athen den Bei-

188 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Karikatur: Peter Leger, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

trittsvertrag unterzeichnen, der eine fünfjährige Über- Binnenmarkt, deutsche Einheit,Vertrag von gangsfrist vorsah, in deren Verlauf die griechische Wirt- Maastricht und die „EFTA-Erweiterung“ schaft sukzessive an das Niveau der EG angepasst werden 1985–1995 sollte. Die EG sagte zu diesem Zweck beträchtliche finan- zielle Mittel zu. Der Vertrag trat ab 1. Januar 1981 in Kraft. Einheitliche Europäische Akte und Binnenmarkt Mit dem 1. Januar 1986 folgten auch Spanien und Portugal Seit Anfang der achtziger Jahre setzte eine konzertierte als weitere Mitglieder. Die Zwölfergemeinschaft schuf neue deutsch-französische Integrationspolitik ein, die sehr von Herausforderungen für die EG. Setzte die befürchtete Bin- rationalen und politischen Überlegungen inspiriert war. Die nenwanderung „billiger“ südeuropäischer Arbeiter in die Hauptakteure waren Frankreichs Staatspräsident François Kernregionen Europas nicht ein, so waren die befürchteten Mitterrand, EG-Kommissionspräsident Jacques Delors Strukturunterschiede in der Wirtschaft und das enorme und Deutschlands Bundeskanzler Helmut Kohl. Am 19. Ju- Wohlstandsgefälle zwischen Gründerstaaten und Nachzüg- ni 1983 hatte der Europäische Rat in Stuttgart die „Feierli- lern nicht rasch auszugleichen und von langfristiger struk- che Deklaration zur Europäischen Union“ unterzeichnet, tureller Problematik, weil die Wettbewerbsfähigkeit der und am 14. Februar 1984 war der Vertragsentwurf zur Ökonomien Griechenlands und Portugals beschränkt blieb. Gründung der „Europäischen Union“ vom Europäischen Politische Motive sehr vernunftgeleiteter Natur, nämlich Parlament angenommen worden, was Aufbruchstimmung zur Konsolidierung und Stabilisierung der südeuropäischen signalisierte. Am 7. Januar 1985 hatte Delors die Präsident- Demokratien beizutragen, waren letztlich entscheidend, schaft der EG-Kommission übernommen. Am 3. Dezem- obwohl es Bedenken wegen der wirtschaftlichen Rückstän- ber 1985 einigte sich der Europäische Rat im Grundsatz digkeit dieser Länder gab. Der Finanzierungsbedarf war über die „Einheitliche Europäische Akte“ (EEA) zum Aus- enorm, das demokratie- und ordnungspolitische Argument bau der vertraglichen Grundlagen der EG im Sinne der sollte aber nicht nur die Oberhand behalten, sondern sich Stuttgarter Deklaration. Das von der EG-Kommission seit für die achtziger und neunziger Jahre auch als richtig er- 1985 lancierte Binnenmarktkonzept „EG 92“, die am 1. Ju- weisen. li 1987 in Kraft getretene EEA vom 17./18. Februar 1986,

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 189 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Das Gipfeltreffen von Maas- tricht vom 9. bis 11. Dezem- ber 1991 aufSchloss Neer- canne in den Niederlanden Foto: ullstein bild – dpa

Karikatur: Burkhard Mohr

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Die Erweiterung der Europäischen Union Abbildung: Bergmoser + Höller der 1988 vorgelegte Cecchini-Bericht („The Cost ofNon- einen festeren Rahmen für die Kontrolle des vergrößerten Europe“), in dem sehr rational die Kosten beim Nichtzu- Deutschlands bilden. Das alte, sehr von politischer Vernunft standekommen des Binnenmarktes vorgerechnet wurden, geleitete deutschlandpolitische Motiv für die Entstehung das „Delors-Paket“, welches eine Reform des Finanzie- von EGKS und EWG war einmal mehr treibend. rungssystems, der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und Die Erfüllung der Konvergenzkriterien zur Ge- die Aufstockung des Strukturfonds der EG vorsah, sowie währleistung der Bedingungen für die „Wirtschafts- und der „Drei-Stufen-Delors-Plan“ zur Schaffung einer Wirt- Währungsunion“ (WWU) machte Budgetsanierungen, schafts- und Währungsunion (WWU) machten die neue Ra- Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen erforderlich. Der tionalität der Integrationsabsichten deutlich. Ratifizierungsprozess war umstritten (trotz fehlender Ab- stimmungsmöglichkeit in der Bundesrepublik, vor allem Deutschlands Einigung, Maastricht und die aber in Dänemark und Frankreich, wo es Referenden geben Erweiterung um drei Neutrale sollte), zog sich hin und drohte den Beitrittswunsch der Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der deutsche Eini- Neutralen und Norwegens zu verzögern, bis der Europäi- gungsprozess, der am 3. Oktober 1990 zur staatlichen Ein- sche Rat in Lissabon am 26./27. Juni 1992 die Wende für die heit Deutschlands führte, hatten die übrigen EG-Partner Befürworter einer Erweiterung um die EFTA-Staaten alarmiert und beunruhigt. Am 9. und 10. Dezember 1991 brachte. Am 1. November 1993 trat der Maastrichter Ver- stimmten die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel trag in Kraft, nachdem auch das deutsche Bundesverfas- von Maastricht der Schaffung einer Wirtschafts-, Wäh- sungsgericht in Karlsruhe grünes Licht gegeben hatte. rungs- und politischen Union mit Aufwertung der Westeu- Mit der weitgehenden Realisierung des Binnen- ropäischen Union (WEU) und einer Gemeinsamen Außen- markts (1. Januar 1993) war ein Haupterfordernis der Ver- und Sicherheitspolitik (GASP) zu. Am 7. Februar 1992 wur- tiefung erfüllt worden und der Weg für Verhandlungen mit de der Vertrag unterzeichnet, der ein Erfolg war, obwohl die den Beitrittsbewerbern (1993–1994) frei: Am 1. Januar 1995 Wirtschaftsunion nicht realisiert wurde. Er sollte jedenfalls traten Schweden, Österreich und Finnland nach den kür-

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 191 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013 zesten und unkompliziertesten Beitrittsverhandlungen in Vergemeinschaftungstendenzen erfuhren (beispielweise ein der Geschichte der Gemeinschaft der EU bei, während die europaweiter Haftbefehl und Koordination in Bezug auf die norwegische Bevölkerung erneut ablehnte. Terrorismusbekämpfung).

Einführung des Euro, sicherheitspolitische Die größte Erweiterung in der Einigungsgeschichte Agonie,Vertrag von Nizza, „Osterweite- 1998–2004/07 rung“,„Verfassungsvertrag“ und „Südost- Der Vertrag von Amsterdam 1997 (1999 in Kraft getreten) erweiterung“ 1997–2007 wies bereits den Weg für die Erweiterung. Am 12. Dezem- ber 1997 leitete der Europäische Rat in Luxemburg den Bei- Die Einführung des „Euro“ 1999–2002 trittsprozess mit den mittel-osteuropäischen (MOE-)Staa- Maastricht gab einen Fahrplan für die Integration bis zum ten und Zypern ein, der am 30. März 1998 zu Verhandlun- Ende des 20. Jahrhunderts vor, während der am 2. Oktober gen mit einer ersten Gruppe von Beitrittsbewerbern (Polen, 1997 unterzeichnete Amsterdamer Vertrag konkrete Schrit- Ungarn, Tschechien, Estland und Slowenien) führte. Der te einzuleiten versuchte, um die EU „bürgernäher“ zu ge- Europäische Rat in Helsinki beschloss am 10. Dezember stalten und die „europäische Identität“ nach innen wie nach 1999, die Verhandlungen um eine zweite Gruppe (Bulga- außen zu stärken. Er setzte dort an, wo mit der Weiterent- rien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und die Slowakei) wicklung der vertraglichen Grundlagen der EG (EEA, in zu erweitern, die mit dem 15. Februar 2000 begannen. Mit Kraft 1987, und Maastricht, in Kraft 1993) begonnen wor- Blick auf die bevorstehende Erweiterung stellten die Aus- den war, und schrieb sie weiter fort. Der Amsterdamer führungen des Amsterdamer Vertrages über die „verstärkte Vertrag bezog die Schengen-Vereinbarungen (Wegfall der Zusammenarbeit“ („Flexibilität“) ein Novum dar: Das „op- Binnen-Grenzkontrollen bei Verstärkung der EU-Außen- ting out“ (das Sich-Ausschließen), welches bisher als inte- grenzen) in das EU-Rechtssystem mit ein und änderte be- grationspolitische Sünde galt, wurde nun zu einer zulässi- ziehungsweise ergänzte die beiden europäischen Hauptver- gen alternativen Option – ein integrationspolitischer Para- träge (EGKS, EWG) sowie den Unionsvertrag von Maas- digmenwechsel setzte ein. Damit war ein traditionelles tricht, auf denen die Gemeinschaftskonstruktion fußte. europapolitisches Ziel Großbritanniens erreicht: Die Er- Daneben wurde der „Stabilitätspakt“ für die Wahrung der weiterung bekam klare Priorität vor der Vertiefung – oder Haushaltsdisziplin in der „WWU“ verabschiedet. Dadurch anders formuliert: Die Erweiterung ging immer stärker zu konnte der Euro fristgerecht mit 1. Januar 1999 eingeführt Lasten der Vertiefung, die damit auf Eis gelegt werden soll- werden. Zwölf Staaten gehörten fortan der Eurozone an te. Größere qualitative Integrationssprünge waren nach (Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Ita- Einführung des Euro auch kaum mehr zu erwarten. lien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien führten den Euro als offizielle Buchgeld-Wäh- Ohnmächtige Sicherheitspolitik rung ein – Griechenland folgte trotz fehlender ökonomi- Auf dem Europäischen Rat in Köln wurden im Juni 1999 scher Grundlage im Jahr 2000, was sich zehn Jahre später als Beschlüsse zur Stärkung der GASP sowie zu einer Gemein- folgenschwerer, ja verhängnisvoller Fehler erweisen sollte). samen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 2002 wurde der Euro als reale Währung in Umlauf gebracht. (GESVP) gefasst, die Voraussetzungen für die Übernahme Der Ausbau der Sozial- und Beschäftigungspolitik und die sicherheits- und verteidigungspolitischer Aufgaben durch Schaffung neuer Arbeitsplätze blieben ein nur wenig reali- die EU komplementär zur NATO schuf, was durch Über- siertes Anliegen. Durch ergänzende Beschlüsse der folgen- nahme der Aufgaben der WEU und die Quasi-Verschmel- den Ratstreffen wurden kleinere Teilerfolge erzielt. Von der zung von EU und WEU bewirkt werden sollte. Die sicher- Struktur blieb es bei dem in Maastricht festgelegten Drei- heitspolitische Agonie der EU blieb jedoch bestehen, was Säulen-Modell: Die erste Säule umfasste die supranationale im „Kosovokrieg“ 1999, im Zuge des 11. September 2001 Dimension mit dem EU-Vertrag und den erweiterten Be- und der Afghanistan-Invasion sowie in der Irakkrise reichen (WWU, Sozialpolitik, Beschäftigung, berufliche 2002–03 und im Libyen-Konflikt 2011 deutlich wurde. EU- Ausbildung und dergleichen), die zweite Säule betraf die in- Europa war zwar im Begriff, eine Verteidigungsagentur auf- tergouvernementale GASP, ausgestattet mit einem Hohen zubauen, von dem von den USA geforderten „burden Repräsentanten (Ex-NATO-Generalsekretär Javier Solana) sharing“ ist es jedoch noch sehr weit entfernt. Die EU ist und der Übernahme der „Petersberg-Aufgaben“ der WEU, willens zur Verteidigung, jedoch nicht zum Angriff bereit, welche neben friedenschaffenden Maßnahmen auch „mili- wie sie auch strukturell nicht angriffsfähig ist, was ihren tärische Kampfeinsätze“ vorsahen; die dritte Säule beinhal- Wert als Friedensprojekt und ihre Bedeutung als Aus- tete die seinerzeit noch intergouvernementalen Bereiche der gleichs- und Stabilitätsfaktor sowie als Rechtsexporteur un- Justiz und des Inneren, die im Zuge des 11. September 2001 terstreicht.

192 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

sowie ausbleibende Erfolge in der Arbeitsplatzsicherungs- Knapp am Scheitern vorbei: der Gipfel von und Beschäftigungspolitik sowie Konkurrenzkämpfe im Nizza 2000 Zeichen steigenden Globalisierungsdrucks, der sich in einer Vom französischen Ratspräsidenten Chirac als „histori- Reaktion von neoliberaler Politik äußerte, beherrschten das scher Gipfel“ bezeichnet, fand in Nizza vom 6. bis 11. De- Bild in den europäischen Staaten im ersten Jahrzehnt des zember 2000 nach Monaten der Ungewissheit über den Wil- 21. Jahrhunderts. Der sich selbst so benennende „Verfas- len der Mitgliedsstaaten zur EU-Institutionenreform die sungskonvent“ tagte bezeichnenderweise unter einem von für die „EU-Osterweiterung“ wichtige Regierungskonfe- Elder Statesmen zusammengesetzten Präsidium (Valéry renz statt. Unstimmigkeiten und Rivalitäten in den krisen- Giscard d’Estaing, Giuliano Amato und Jean-Luc Dehaene) geplagten deutsch-französischen Beziehungen und auch in den Jahren 2002–2003 und erzielte immerhin einen sehr zwischen den größeren und den kleinen Staaten spielten ei- respektablen Kompromiss. Der Einbeziehung besagter ne Rolle. Sie waren Teil des Gipfels, der das Instrumentari- Grundrechtscharta in den Vertrag, einer Vereinfachung und um für eine Neustrukturierung der EU schaffen sollte. Ob- Zusammenfassung der bisherigen Verträge, der Anerken- wohl dieser vieles schuldig blieb, entstand – so weit reichte nung der EU als eigener Rechtspersönlichkeit, mehr Mitbe- das rationale Handeln noch aus – ein neuer Vertrag, der den stimmung für das Europäische Parlament sowie der Mög- Grundstein für Neuaufnahmen legte. Eine größere Krise lichkeit eines europaweiten Referendums standen das durch politisches Auseinanderdriften der Staaten wurde ge- Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik, eine zweiein- rade noch verhindert, indem Kompromisse gefunden wer- halbjährige Ratspräsidentschaft und keine wesentlichen den konnten, zumal es zur fortgesetzten Integration keine Vergemeinschaftungsfortschritte in der Sozial- und Wirt- Alternative zu geben schien. Der EU-Vertrag von Nizza schaftspolitik gegenüber. Anhänger einer europäischen So- trat am 1. Februar 2003 in Kraft. Er regelte bis 2009 die zialcharta empfanden dies als enttäuschend. Die EU-Staats- Machtverteilung, vor allem die alles entscheidenden Stim- und -Regierungschefs rangen sich am 18. und 19. Juni 2004 mengewichtungen der EU-Staaten, und die Kompetenzen schließlich doch dazu durch, den „Verfassungsvertrag“ zu der EU, wobei bereits die künftigen Mitglieder berücksich- beschließen, was im Kontext des 1. Mai gleichen Jahres ge- tigt wurden. Ein Ausbau der Mehrheitsentscheidungen war schah, als die Aufnahme von zehn neuen EU-Mitgliedern vorgesehen, wie auch die Sitze im Europaparlament neu ver- (Estland, Polen, Lettland, Litauen, Malta, Tschechien, Slo- teilt wurden. Mit Nizza fand jedoch nicht die für die Auf- wakei, Slowenien, Ungarn und Zypern) erfolgte. Das In- nahme von zehn neuen Mitgliedern notwendige durchgrei- krafttreten des Vertrages setzte die Zustimmung aller 25 fende Institutionenreform statt. Die alte Struktur mit Ge- Mitgliedsstaaten voraus. Die Debatte über den „Verfas- richtshof, Kommission, Rat, Parlament, Rechnungshof und sungsvertrag“ wurde jedoch überschattet von der Frage der Wirtschafts- und Sozialausschuss blieb unangetastet. Ledig- hohen Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern (25 Millionen), lich am Rande wurde eine Grundrechtscharta, ausgehend der Diskussion über die Zuwanderung angeblich billiger vom „Herzog-Konvent“ (benannt nach dessen Vorsitzen- Arbeitskräfte aus dem Osten Europas sowie von dem in der dem, dem vormaligen deutschen Bundespräsidenten Ro- öffentlichen und veröffentlichten Meinung höchst strittigen man Herzog), feierlich verabschiedet, die allerdings noch Beitrittskandidaten Türkei, mit dem offiziell am 1. Oktober keine Rechtsgültigkeit besaß. 2005 Verhandlungen aufgenommen wurden. Der Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrages Die „EU-Verfassung“ und ihr Scheitern – verzögerte sich angesichts negativer Volksabstimmungen in der Lissabon-Vertrag als rationaler Ausweg Frankreich am 29. Mai (54,87 Prozent votierten dagegen) Durch Einsetzung eines neuerlichen Konvents, der im We- und den Niederlanden am 1. Juni 2005 (61,6 Prozent), so ge eines Konsensverfahrens zur Ausarbeitung einer „EU- dass dieser rein völkerrechtliche Vertrag, der gar keine Ver- Verfassung“ führen sollte, war daran gedacht, die bestehen- fassung im staatsrechtlichen Sinne darstellte, auf Eis gelegt den Defizite der Institutionenreform zu beheben. Das war war. Die österreichischen und finnischen Ratspräsident- gleichzeitig ein indirektes Eingeständnis für das Scheitern schaften im Jahre 2006 konnten aus dem Stimmungstief her- der Methode der Regierungskonferenzen. Der Ära Kohl, ausführen und ein Fallenlassen des Verfassungsvertrages Delors und Mitterrand folgten keine starken europäischen verhindern. Die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 ver- Führungspersönlichkeiten mehr in der nachfolgenden De- mochte die Substanz des „Verfassungsvertrages“ in einen kade. Fehlender Rückhalt in den eigenen Bevölkerungen, „Grund-“ und „Reformvertrag“ hinüberzuretten, der als knappe innenpolitische Mehrheitsverhältnisse, schwerwie- neuer Unionsvertrag von Lissabon im Dezember 2009 in gende Korruptionsfälle, erstarkende Renationalisierungs- Kraft treten sollte. Trotz des Rückschlags mit dem „Verfas- tendenzen, erhebliche Wirtschafts- und Wachstumskrisen sungsvertrag“ bahnte sich mit Lissabon eine Lösung an, die

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 193 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

raum mit verschiedenen Geschwindigkeiten und konzen- trischen Kreisen, das heißt mit abnehmendem Integrations- gefälle an den Rändern, aber von nach wie vor anhaltender Attraktivität für die Außenwelt. Von 1995 bis 2004/07 hat sich die Mitgliederzahl der EU fast verdoppelt (von 15 auf 27). Mit seinen gut 500 Millionen Einwohnern ist EU- Europa heute einer der größten Wirtschaftsräume mit sehr hoher Produktivität und starker Exportleistung. Doch kann der Markt nicht alles sein, wie auch die Integration nicht un- begrenzt voranschreiten wird. Nach wie vor ist nationaler Eigensinn dominanter und wichtiger als europäischer Bür- gersinn. Mit Blick auf neue Aspiranten ist die Aufnahmefä- higkeit der EU auch an Grenzen angelangt. Abgesehen von ökonomischer Rückständigkeit und kultureller Überforde- rung durch neue Beitrittsbewerber, sind es demokratiepoli- Der Präsident des Europäischen Konvents, Giscard D’Estaing, tische, grund- und menschenrechtliche sowie rechtsstaatli- mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder che Inkompatibilitäten, die sich schon in der unmittelbaren Foto: ullstein bild – BPA Nachbarschaft der Union in dramatischer Weise auftun. Von der Montanunion bis zum Lissabon-Vertrag im Zeichen der Erweiterung eine rational zwingende Ent- ist Europas Einigung ein Produkt von Krisen gewesen. scheidung war. Am 1. Januar 2007 wurden Bulgarien und „Gründervater“ Jean Monnet nannte sie „die großen Eini- Rumänien als neue Mitglieder der nunmehrigen EU-27 auf- ger“. Entgegen der landläufigen Vorstellung handelt es sich genommen – an der euroskeptischen und ablehnenden hier um ein anderes Verständnis von Krisen, wonach deren Grundstimmung seitens der Bevölkerungen gegen weitere Bewältigung produktives Potenzial entfaltet. Europäische Neuaufnahmen vorbei. Das war Ausdruck eines Auflebens Krisen gab es im Kalten Krieg (wie die Berlin-Blockade der pragmatisch-rationalistischen Methode Monnets aus 1948/49) oder durch gescheiterte Rekolonisierung (bei- den fünfziger Jahren: Elitenkonsens, Verhandlungen hinter spielsweise in der Suezkrise 1956). Innergemeinschaftliche den Kulissen, deutsch-französisches Einvernehmen und Krisen entstanden durch das Scheitern der Europaarmee Entscheidungen von oben – ohne Einbeziehung der Bevöl- 1954, den „leeren Stuhl“ de Gaulles im EWG-Ministerrat kerungen. Wie lange aber wird diese Methode noch durch- 1965 oder mit den Ratifikationsproblemen der Verträge von führbar sein? Maastricht 1993 bis Lissabon 2009. Die externen Krisen wa- Die Zeitspanne von Mitte der neunziger Jahre bis ren dabei förderlicher als die innergemeinschaftlichen, doch 2007 war eine Zeit der Ernte und Erträge der eingeleiteten konnte Europa beide stets als Chance nutzen: Schulter- Politik der Vordekade (Euro-Einführung, „Osterweite- schluss mit dem Westen, Konzentration auf die Formierung rung“ und ein immerhin beschlossener „Verfassungsver- der Kräfte auf dem Kontinent, Fortschreiten der ökonomi- trag“ mit dem Versuch einer EU-Institutionenreform), aber schen anstatt der politisch-militärischen Integration, Ein- durch die Negativ-Referenden in Frankreich und den Nie- führung von Mehrheitsentscheidungen im Rat, Konver- derlanden erhielt die Integrationspolitik einen schweren genzsteigerung von Gemeinschaftsrecht, Einbeziehung der Dämpfer. Ausgerechnet in zwei Gründungsstaaten schlug Grundrechte in die Verträge und Schaffung des Binnen- der EU fundamentale Ablehnung entgegen, was aber im markts mit Einheitswährung. Doch hat die Entwicklung der Lichte des 30. August 1954 und der Politik de Gaulles letzten Jahre Zweifel an der Auffassung Monnets genährt. 1965/66 keine Neuigkeit war. Rückschläge und Krisen hat Waren die historischen Erweiterungen stets mit Vertiefung es in der Geschichte der europäischen Integration immer ge- verbunden, so kann seit der „Big Bang“-Erweiterung geben. Davon lebte auch der Fortschritt der Gemeinschaf- 2004/07 von 15 auf 27 neue EU-Mitglieder davon nicht ten wie der Union. mehr die Rede sein. Die EU setzte damit ihre innere Balan- ce aufs Spiel und verlor an Handlungsfähigkeit. Europas Krise – eine Krise der National- Es bereiten nun vor allem Krisen Sorge, deren Be- staaten: Zusammenfassung und Ausblick wältigung über die Kompetenzen und Mittel der EU hin- auf die jüngste Entwicklung 2008–2013 auszugehen drohen. Die Weltwirtschaftskrise wirkte ab 1929 mit der „Großen Depression“ negativ auf alle euro- EU-Europa bleibt trotz oder gerade wegen der Rationalität päischen Integrationsversuche, wie auf den politischen Ei- und Synergetik seiner Einigungsdynamik ein Integrations- nigungsplan des französischen Ministerpräsidenten Briand

194 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013 oder die „Paneuropa“-Idee des Privatmanns Coudenhove- nur mehr eine europäische Konföderation denkbar. Kohls Kalergi. Berater Horst Teltschik räumt rückblickend ein, dass man So stellt sich inzwischen die Frage, ob die Banken- und Fi- es bei Begründung der Währungsunion versäumt habe, auch nanzmarktkrise 2008/09 oder die Schuldenkrise 2010/11 eine Wirtschaftsunion zu schaffen – mit „man“ ist nicht die ähnliche Folgen wie in den dreißiger Jahren, eine Gefähr- EU gemeint. Es sind nach wie vor die Staats- und Regie- dung des demokratischen Systems und einen Zusammen- rungschefs, die als „Herren der Verträge“ nicht über den ei- bruch der internationalen Ordnung also, nach sich ziehen gentlichen Endzweck der Union, also über die Finalität des könnten. Längst hat eine Renationalisierung eingesetzt, mit Integrationsprozesses, sprechen wollen. Die Einstimmig- der sich Populisten – gleich welcher Couleur und unabhän- keit des Irrtums wirkt fatal. Monnet nannte nur den Weg als gig von Regierung oder Opposition – „gegen Brüssel“ pro- Ziel aus Sorge, dass eine Debatte darüber Unfrieden stiften filieren. Dabei sind die Ursachen der Krisen gar nicht bei der würde. Eine Debatte über die Zukunft der Gemeinschaft EU zu suchen. Die Finanzkrise haben risikofreudige Ban- war damit ausgeklammert. Tatsächlich hatten wir es 2011/12 ker und ihre Aufsichtsräte zu verantworten. Die sogenann- nicht mit einer Krise der EU oder des Euro zu tun, sondern te „Eurokrise“ ist Ergebnis einer staatlichen Leistungsbi- mit einer Krise der europäischen Staaten, verbunden mit lanzdefizit- und Verschuldungskrise. Demokratiemüdigkeit, Parteienverdrossenheit und Wäh- Konnte aus heilsamen Schocks der historischen lerrückgang. Die Verantwortung dafür wurde irrigerweise Krisen der Integrationsprozess profitieren, so ist dies nach der Union zugeschoben. Tatsächlich haben die Staaten bis dem misslungenen Ringen um eine durchgreifende Reform zuletzt der EU Mittel und Möglichkeiten vorenthalten, um der EU-Institutionen nicht der Fall. Man ist versucht zu be- ein effizienteres Krisenmanagement zu entfalten. So ist auch haupten, dass die Banken-, Finanz- und Schuldenkrise gar eine Troika in Kombination aus EU-Kommission, Euro- nicht so massiv ausgefallen sind, um die Bereitschaft der päischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds EU-Mitgliedsstaaten zu einem wirklich neuen Integrati- für die Kontrolle der Bürgschaften, Garantien und Kredit- onsschub zu fördern. Es handelte sich auch nicht um eine gewährungen in Athen zuständig. Das griechische Problem Depression wie in den dreißiger Jahren, sondern „nur“ um ist freilich auch ein europäisches Problem der Nationalstaa- eine Rezession. Dennoch gibt es ein Problemausmaß, das ten, die weit über ihre Verhältnisse gelebt haben und nach das Krisenmanagement der EU übersteigt. Das gilt ebenso wie vor an ihren traditionellen Souveränitätsrechten fest- für die Staaten, die ja deshalb auch den EU-Verbund ge- halten. Es bedarf für supranationale Europapolitik der Exis- schaffen haben. Was die Schuldenkrise aber so dramatisch tenz von Krisen und viel politischer Überzeugungskraft. werden ließ, ist nicht Griechenland, welches 2,5 Prozent der Politiker mit dieser Qualität waren Mangelware. Nur noch Eurozone ausmacht, sondern die Gefährdung des gesamten die „Alten“ wie Helmut Schmidt, Jacques Delors und Valé- Währungsverbundes und die daraus erwachsende Vertrau- ry Giscard d’Estaing erheben ihre Stimme in diesem Sinne. enskrise, zumal Portugal, Spanien und Italien auch sehr ho- Ihr Erbe droht verspielt zu werden, da die neue Politiker- he Schuldenstände haben. Finanzausgleich, Kreditgewäh- generation kaum mehr aus leidenschaftlichen Europäern rung und Schuldenerlass sind dagegen nicht neu. besteht. Bereits im Rahmen des Marshall-Plans war die seit In den Jahren 2010–2012 erfuhr die Staatsschul- 1947 schon vor der Bundesrepublik bestehende angloame- denkrise in Europa eine Zuspitzung. Es folgten „Rettungs- rikanische Bizone Deutschlands Nettogläubiger im westeu- pakete“ für die fast zahlungsunfähigen Eurostaaten Grie- ropäischen Staatenverbund. Die zuletzt häufig als Notwen- chenland (Mai 2010), Irland (November 2010) und Portu- digkeit benannte „Transferunion“ ist von Anfang an fester gal (Mai 2011). Die European Financial Stability Facility Bestandteil der Integrationsgeschichte. Konnte den EU- (EFSF) fungierte als eine Zweckgemeinschaft, die im Rah- Bürgern von Nettozahlern noch vermittelt werden, dass rei- men des geplanten Europäischen Stabilitätsmechanismus chere Volkswirtschaften mehr an ärmere zu geben haben, so (ESM) als Euro-Rettungsschirm im Juni 2010 gegründet ist die Notwendigkeit, für bankrotte Euroländer zu bürgen wurde. Die EFSF unterstützte finanziell in Not geratene und zu haften, eine neue Dimension, die Kommunikations- Mitgliedsstaaten der Eurozone. Die Notwendigkeit ergab defizite und Strukturmängel der Solidargemeinschaft deut- sich als Folge aus der Finanzkrise und den Mängeln des lich machte. Vom Wohl und Wehe Deutschlands und ande- Euro-Stabilitätspakts. Beteiligte der EFSF waren die Mit- rer Zahler hängen der Fortbestand des Euro und die Wei- gliedsländer der Eurozone. Ab Juli 2011 setzte die Planung terexistenz der EU ab. War Helmut Kohl in früherer Zeit eines dauerhaften Euro-Stabilisierungsfonds (ESF) für 2013 noch Verfechter eines europäischen Bundesstaates, so folg- ein, nachdem sich ab Juni bis November 2011 die Staats- te in den neunziger Jahren die Einsicht in das Faktische: Mit schuldenlage verschärfte und sich zu einer Eurosystem-Kri- Blick auf die anstehende Großerweiterung von gerade erst se auswuchs. Auf dem EU-Krisengipfel in Brüssel vom souverän gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas war 9. Dezember 2011 folgte der Grundsatzbeschluss zur Bil-

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 195 Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013

Gipfeltreffen in Berlin am 28. April 2010 anlässlich der Schuldenkrise Griechenlands Foto: ullstein bild – Schicke

dung einer Fiskalpakt-Union, was jedoch mit einem briti- terhin ein Notfall ist. Die EU blieb trotz aller Krisen wei- schen Veto und dem sich daran anschließenden Versuch der terhin attraktiv, was der Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 übrigen Eurostaaten verbunden war, außerhalb des Uni- unterstrich, wodurch die Staatengemeinschaft auf 28 Mit- onsvertrages von Lissabon durch intergouvernementale glieder anwuchs. und zwischenstaatliche Staatsverträge eine Lösung herbei- Die Attraktivität der Union und die Beitrittsbe- zuführen. Ab Februar 2012 begannen die Arbeiten am Fis- gehren seitens neuer Kandidaten werden aller Voraussicht kalpakt unter Leitung des Chefkoordinators Thomas Wie- nach weiter bestehen bleiben, ist doch die EU der einzige ser. Die politischen Entwicklungen in Italien mit der rigiden Integrationsraum auf der Welt, der Demokratie und Mo- Sparpolitik der Regierung Mario Monti führten zu dessen dernität bisher in erfolgreicher Weise miteinander zu ver- Ablösung, in Griechenland folgten ebenfalls Neuwahlen, binden verstanden hat. Das war Ausdruck ausgesprochen und in Spanien eskalierte die Bankenkrise. In Deutschland rationalen Denkens und vernunftgemäßen Handelns. setzte eine stärkere innen- und parteipolitische Kontrover- Die Kombination von Demokratisierung und Eu- se um die Ratifikation des Fiskalpakts im Bundestag und ropäisierung war und ist das Erfolgsrezept der europäischen Bundesrat ein. 2013 konstituierte sich eine eigene EU-kriti- Integration mit Blick auf die durch sie auch mitprovozier- sche Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Der Eu- ten Freiheitsrevolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa, ropäische Stabilitätsmechanismus (ESM), eine internationa- den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und die le Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg, sollte zusam- notwendige Pazifizierung des Balkans. EU-Europa wird al- men mindestens 90 Prozent des anfänglich geplanten ler Wahrscheinlichkeit nach das Erfolgsmodell des 21. Jahr- Stammkapitals von 700 Milliarden Euro bereitstellen und ab hunderts bleiben – auch und gerade mit Blick auf das mit Mitte 2012 die Zahlungsfähigkeit der Staaten in der Euro- enormen inneren Problemen und gesellschaftlichen Ver- zone sichern. Sie war Teil der politisch als „Euro-Rettungs- werfungen kämpfende China, die hoch militarisierten, sozi- schirm“ bezeichneten Maßnahmenpakete. Die deutsche alpolitisch defizitären, demokratieärmer gewordenen und Bundeskanzlerin Angela Merkel agierte nach anfänglichem hoch verschuldeten USA sowie die demografisch ange- Zögern und einiger Verunsicherung im ersten Halbjahr schlagene, remilitarisierte und autoritär geführte Russische 2010 in den Folgejahren als ruhender Pol und gemeinsam Föderation. Nicht nur in Asien wird das Erfolgsmodell EU mit den starken Eurostaaten als Managerin der Krise. Ho- mit Interesse studiert, sondern auch anderswo als Vorbild hes Ansehen und großer Respekt in den übrigen EU-Staa- begriffen und entsprechend – mit mehr oder weniger Er- ten wurden ihr zuteil. Inzwischen konnte die Lage in Irland folg – zu kopieren versucht. ❚ stabilisiert und saniert werden, während Griechenland wei-

196 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Neue Publikationen

Neue Publikationen der Landeszentrale

Entlarvung einer nur scheinbaren Gleichheit aller „Volks- genossinnen und -genossen“ – allen ideologischen Be- schwörungen zum Trotz. Das Recht im Orwell’schen Sin- ne, diese Defizite zu benennen und Missstände zu kritisie- ren, verweigerte der SED-Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern mit den Mitteln des Staatsterrorismus – die Folge war die nachhaltige Erosion des „SED-Staates“ und sein Ende im denkwürdigen Jahr 1990. ❚

„Der SED-Staat“ Geschichte und Strukturen der DDR (A 104)

„Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Dieses Zitat von George Orwell, mehr Bonmot als Defini- tion des Begriffs, umreißt eine der vielen Aporien des Frei- heitsbegriffs und bietet eine Folie, vor der sich der Entste- hungskontext wie das thematische Profil dieses nunmehr „Deutschland in dritter Auflage vorliegenden und inzwischen auf monu- mentale 1200 Seiten angewachsenen Standardwerks ab- Einwanderungsland“ zeichnen. Begriffe – Fakten – Kontroversen Der Titel „Der SED-Staat“ ist Programm: Er rückt den Diktaturcharakter der als „sowjetisierter deutscher Teilstaat“ und „(spät-)totalitär“ charakterisierten DDR in den Mittelpunkt und erläutert Geschichte und Strukturen Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Aus welchen der DDR primär in der Perspektive ihrer Ursprünge als Be- Herkunftsländern kommen die Migrantinnen und Migran- satzungszone und Satellitenstaat der sowjetischen Sieger- ten, die in Deutschland eine neue Heimat finden? Welche macht, der damit verbundenen Implantierung der marxis- Möglichkeiten der politischen Teilhabe stehen ihnen offen? tisch-leninistischen Ideologie und der Übernahme rigider Auf welchen Ebenen der deutschen Politik werden die sie Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen durch betreffenden Entscheidungen getroffen? Was macht eigent- einen von der UdSSR gesteuerten Regierungsapparat. De- lich die Islamkonferenz? tailliert und auf der Grundlage der Forschungsergebnisse Die Themen Migration und Integration stehen im mehrerer Jahrzehnte entsteht ein Porträt des „Arbeiter- Mittelpunkt des politischen Diskurses in Deutschland. und-Bauern-Staates“, das zum einen die materiellen Koor- Dabei besteht großer Bedarf an Information. In dem enzy- dinaten der DDR in den Blick nimmt, etwa die krisenhafte klopädisch aufgebauten Titel „Deutschland Einwande- Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhält- rungsland. Begriffe – Fakten – Kontroversen“ werden die nisse, die fortschreitende Zerstörung der Umwelt u. v. m. wichtigsten Fragen von Experten verständlich und knapp Zum anderen aber geht es vor allem um ideologische Grun- beantwortet. Dieser Band dient nicht nur zur Vorbereitung dierungen des SED-Staates: um den Mangel an Demokratie des Themas in allen Schularten, sondern ist auch für in- und rechtsstaatlichen Verhältnissen, um das Scheitern einer teressierte „Normal“-Bürgerinnen und -Bürger von Inter- eigenen glaubwürdigen „sozialistischen“ Identität und die esse. ❚

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 197 Die vergessenen Frauen von Aichach Die vergessenen Frauen von Aichach

1943 wurden über 350 weibliche Gefangene aus der Haftanstalt nach Auschwitz deportiert

Von Rudolf Stumberger

Zuchthausflure in der Strafan- stalt Aichach im Jahr 1931 Foto: ullstein bild, Wolfgang Weber

198 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die vergessenen Frauen von Aichach

Der hektografierte vergilbte Zettel verrät nicht, was er bedeutet. „Die Obengenannte wurde am 26. 3. 1943 der Polizei übergeben. Die Strafunterbrechung wurde vom Reichsjustizministerium angeordnet“, ist da zu lesen. Die „Obengenannte“ war die 48-jährige Münchnerin Walburga W., die im Frauengefängnis Aichach wegen kleiner Diebstähle einsaß. Wie 361 andere Frauen auch, die sich in sogenannter „Sicherheits- verwahrung“ befanden, wurde sie in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und starb dort – wie die meisten – innerhalb weniger Wochen an den furchtbaren Lebens- bedingungen. Die Geschichte dieser Gruppe von NS-Opfern ist eine vergessene Ge- schichte, die auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ nicht erzählt wurde.

Es ist das Staatsarchiv in der Münchner Schönfeldstraße, in Gerichtsprotokoll. Zum Diebstahl kam es zwar gar nicht, dem die Akten des Frauengefängnisses Aichach aus der Zeit was den Richter aber nicht von seinem Urteil abhielt, hatte des Nationalsozialismus und davor aufbewahrt werden. In Walburga W. doch auch noch einen Damenhut im Wert von blauem Karton eingebunden, auf der Vorderseite versehen zehn Mark versucht zu entwenden und war außerdem mit diversen handschriftlichen Bemerkungen aus Tinte, schon zweimal wegen Taschendiebstahl vorbestraft. liegt ein Stapel dieser alten, abgenutzten Akten auf dem Tisch im Lesesaal des Archivs. Öffnet man sie, wird aus Ge- Lebenslange „Ausschaltung“ richtsurteilen, ärztlichen Berichten, konfiszierten Briefen, „kriminalbiologischen“ Untersuchungen und Meldungen Das alles wäre für das Schicksal von Walburga W. nicht so über Arbeitsfleiß und Betragen ein Frauenschicksal leben- bedeutend gewesen, hätte Amtsrichter Pollner nicht im Ok- dig, das zugleich auch die Geschichte von zunehmender tober 1927 gegen einen gewissen Adolf Hitler wegen eines Ausgrenzung und Repression bereits in der Weimarer Re- Aufrufs zu einer Spendenaktion für die NSDAP verhandelt. publik und im späteren Nationalsozialismus erzählt – bis Und wäre nicht ein gewisser , der mit sei- hin zur Ermordung. ner Frau eine Hühnchenzucht in Waldtrudering bei Mün- Es ist Freitag, der 16. März 1928, als am Strafgericht chen betrieb, von Hitler zwei Jahre später zum „Reichsfüh- München in der Au der Amtsrichter Pollner das Urteil ver- rer SS“ berufen worden. kündet: vier Monate Haft, schuldig wegen einfachen Dieb- Noch aber gibt es mildernde Umstände für die stahls im Rückfall. Das Urteil gilt Walburga W., einer 32- Münchnerin Walburga W., eine zierliche Frau mit eher her- jährigen Frau, „hellblond, 1,56 Meter groß, 51,3 kg schwer“, ben Gesichtszügen. Das Gericht billigt ihr „eine ungünsti- wird später in der Akte des Frauengefängnisses Aichach ge wirtschaftliche Lage“ und eine „psychopathische Veran- über den „Häftling 851“ zu lesen sein. Der Anstaltsarzt lagung“ zum Taschendiebstahl zu, ihr „Hemmungsvermö- wird in seinem Befund zudem festhalten: „Oben falsches gen“ sei wesentlich beeinträchtigt. Gebiß, chronische Mittelohreiterung, schwerhörig, zu allen Ihre wirtschaftliche Lage sieht so aus, dass Wal- Arbeiten geeignet.“ burga W. seit 1926 von ihrem Mann geschieden ist, der ein Warum Walburga W. einen Monat nach dem Urteil Trinker sei, wie sie sagt. Aus der Ehe sind zwei Töchter her- um 17.45 Uhr in der Haftanstalt Aichach, dem größten vorgegangen, zur Zeit der Verurteilung sieben und zwei Jah- Frauengefängnis in Bayern, gut 60 Kilometer nordwestlich re alt. Sie wachsen bei den Großeltern auf, dorthin ist auch von München, ihre Haftstrafe antritt, hat etwas mit der Walburga W. nach ihrer Scheidung wieder gezogen. Die „Kriminalsekretärsfrau Luise Oberleitner“ zu tun. Die will Wohnung liegt im Münchner Arbeiterviertel Giesing, zwei nämlich gesehen haben, wie sich Walburga W. am 12. Ok- von vier Zimmern in einer aufgeteilten Wohnung, ein Koh- tober des vorangegangenen Jahres im Münchner Kaufhaus leofen, ein Ausguss am Flur, insgesamt vier Hinterhöfe. Tietz „an eine Frau herandrängte, in deren äußeren Mantel- Hier lebten die Arbeiter der Brauereien, der Münchner tasche sie wahrscheinlich Geld vermutete, und wie sie mit Trambahn, der Metallbetriebe. Giesing, das war eines der der rechten Hand in Richtung gegen die Tasche griff, um Viertel, um die in der Münchner Räterepublik heftig ge- daraus die dort vermutete Geldtasche zu stehlen“, so das kämpft wurde und in denen die siegenden weißen Truppen

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 199 Die vergessenen Frauen von Aichach

Frauenzuchthaus Aichach, Gefangene auf dem täglichen Spaziergang Foto: ullstein bild, Wolfgang Weber

nicht viel Federlesens bei der Erschießung von Arbeitern bert Heindl, einem der einflussreichsten Kriminalpolitiker machten. Danach war Bayern Sammelpunkt und Auf- seiner Zeit, helfe hier nur ein völlig neuer Ansatz: die Aus- marschgebiet für reaktionäre Monarchisten, völkische Na- schaltung dieser Gruppe durch vorbeugende und möglichst tionalisten und erklärte Gegner der Weimarer Republik. lebenslange Internierung. Daraus werden dann unter den Der Mehrheit unter den Richtern im Deutschen Reich galt Nationalsozialisten die Vorbeugehaft und die Sicherungs- die Novemberrevolution sowieso als „Hochverrat“, was in verwahrung.1 politischen Strafverfolgungen immer wieder deutlich wur- Mit Walburga W. meint es das Leben derweil nicht de: Rechtsradikale Straftäter konnten auf Milde rechnen, gut. Am 14. September 1928 wird sie nach vier Monaten um während Sozialdemokraten und Kommunisten scharf ver- 8.10 Uhr aus der Haft in Aichach entlassen, ein Zugbillet folgt wurden. nach München in der Tasche. Nur acht Tage später drängt Daneben war in der Richterschaft und Polizei in sie sich am Münchner Viktualienmarkt „vor dem Wurst- den 1920er-Jahren die Ansicht weit verbreitet, dass es ein stand an die Hilfsarbeiterfrau Margaret Humpelmeier“ und „Gewohnheitsverbrechertum“ oder ein „Berufsverbrecher- entwendet ihr, so die Anklage, die Geldbörse. Warum die tum“ gebe. Diese Personengruppe galt als im Grunde nicht Mutter zweier kleiner Töchter mit Diebstählen immer wie- resozialisierbar und würde sich auch durch harte Haftstra- der straffällig wird, bleibt unklar. Bei Vernehmungen ver- fen nicht von weiteren Straftaten abhalten lassen. Nach Ro- neint sie eine materielle Not, spricht von einem „inneren

1 Vgl. Thomas Roth: Von den „Antisozialen“ zu den „Asozialen“. Ideologie und Struktur kriminalpolizeilicher „Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus, in: Dietmar Sedlaczek u. a.: „minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, Zürich 2005, S. 65–88, hier: S. 67.

200 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die vergessenen Frauen von Aichach

Drang“. Noch einmal billigt ihr Amtsrichter Pollner mil- Der Terminkalender von Himmler sieht an diesem Freitag, dernde Umstände zu, diesmal wegen „geistiger Minderwer- dem 18. September, unter anderem vor: tigkeit“ und „Willensschwäche“. Das Urteil lautet ein Jahr Haft. Doch es folgen immer weitere Verurteilungen, immer 9.00 Herr Kersten schärfere Haftstrafen – und immer wegen des gleichen De- 10.00 Frühstück mit SS-Obergruppenführer Wolff likts; des Taschendiebstahls, oft handelt es sich dabei nur um 12.00 SS-Gruppenführer Jüttner ein paar wenige Mark. 14.00 Essen mit SS-Obergruppenführer Wolff, Reichs- 1938 ist es wieder so weit, Walburga W.steht erneut justizminister Dr. Thierack, Staatssekretär Ro- vor Gericht, unter anderem wegen zweier Diebstähle in thenberger, weitere SS-Gruppenführer, SS-Briga- einem Käseladen. Schaden dabei: 7,80 Reichsmark, vier deführer und SS-Obersturmbannführer Reichsmark. In der Urteilsbegründung wird der inzwischen 16.00 Reichsjustizminister Dr. Thierack, Staatssekretär herrschende nationalsozialistische Geist deutlich: Jetzt ist Rothenberger, SS-Gruppenführer Streckenbach, die Rede von der „gefährlichen Gewohnheitsverbrecherin“ SS-Obersturmbannführer Bender und von der „in der Persönlichkeit des Täters wurzelnden 20.00 Abendessen inneren verbrecherischen Einstellung“. Doch so neu ist die- 21.30 Reichsjustizminister Dr. Thierack, Staatssekretär ser Geist gar nicht, er setzt nur die Vorstellungen aus den Rothenberger, SS-Gruppenführer Streckenbach, 1920er-Jahren über die „Gewohnheitsverbrecher“ um – das SS-Obersturmbannführer Bender2 allerdings radikal und tödlich. Bereits im November 1933 wurde unter Hitler das „Gesetz gegen Gewohnheitsverbre- Die Besprechung zwischen dem „Reichsführer SS“, dem cher“ in Kraft gesetzt, es sah die Sicherungsverwahrung Reichsjustizminister und seinem Staatssekretär ist eine jener – also lebenslange Inhaftierung – von Personen vor, die Besprechungen von Himmler, in denen es regelmäßig und mehrfach verurteilt waren. routinemäßig um Massenmorde und andere Verbrechen Am 30. November 1938 tritt Walburga W. in Aich- geht. So war es zwei Tage zuvor, am Mittwoch, dem 16. Sep- ach ihre fünfjährige Haftstrafe an, anschließend ist sie zu Si- tember 1942, in einer Besprechung mit SS-Brigadeführer cherheitsverwahrung verurteilt. Diese letzte Verurteilung Gebhardt um dessen Menschenversuche an Häftlingen in ist verhängnisvoll. den KZ Ravensbrück und Dachau gegangen,3 zwei Tage später um die gegen Partisanen gerichtete Operation Mordbefehl ausder Ukraine „Sumpffieber“ in Weißrussland, bei der mehr als 10000 Per- sonen getötet wurden.4 Ihr Schicksal wird am 18. September 1942 im ukrainischen Diesmal ging es um den Massenmord an Häftlin- Schitomir, 1700 Kilometer von Aichach entfernt, entschie- gen der deutschen Justizvollzugsanstalten. den. In der fünfstündigen Besprechung einigen sich der Dort befindet sich zu dieser Zeit das Führerhaupt- SS-Führer und Reichsjustizminister Otto-Georg Thierack quartier und auch das Feldquartier von Reichsführer SS darauf, alle im Gewahrsam der deutschen Justiz befindli- Heinrich Himmler. Diese „Feldkommandostelle Hege- chen Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer sowie alle Po- wald“ wurde 50 Kilometer nördlich von Hitlers Führer- len mit mehr als dreijährigen und alle Tschechen und Deut- hauptquartier „Werwolf“ in Winnizia auf einem ehemaligen sche mit über achtjährigen Haftstrafen der SS zu übergeben. sowjetischen Flugplatz errichtet und war im Sommer 1942 Gleiches gilt auch für die rund 15000 Deutschen, die sich bezugsfertig. Himmlers Hauptquartier umfasste neben Mitte 1942 in Sicherheitsverwahrung befinden. „Ausliefe- Bunkern und einem Soldatenfriedhof mehrere Kasernen, in rung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den denen 100 SS-Offiziere und 1000 Soldaten stationiert wa- Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit“, schreibt ren. Himmler residierte mit seinem Stab in einer Villa. Thierak später in seinem Protokoll unter Punkt 2.5

2 Vgl. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 555. 3 Vgl. ebd., S. 552. 4 Vgl. ebd., S. 559. 5 Bundesarchiv Bestand Reichsjustizministerium Akte R 3001/24062.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 201 Die vergessenen Frauen von Aichach

Die Konstituierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft nach der Machtübernahme 1933 definierte sich vor allem durch das Instrument der Exklusion, den Ausschluss all jener, die nicht Teil dieser „Volksgemeinschaft“ sein sollten: politische Gegner, Homo- sexuelle, sogenannte Asoziale, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Zeugen Jehovas und andere.

Solcher Ausschluss bedeutete nicht bloßes chensbekämpfung wurden bereits vor 1933 disku- Nicht-Dazugehören, sondern wurde mit unter- tiert, das nationalsozialistische Regime machte in schiedlichen Maßnahmen aktiv vollzogen. Zu die- fortschreitender Radikalität nun möglich, was zuvor sen Maßnahmen gehörten die Stigmatisierung, nur diskutiert worden war. Bereits am 13. Novem- die Einweisung in Konzentrationslager – als Mittel ber 1933, vor nunmehr 80 Jahren, unterschrieb zur Erziehung durch Zucht, Ordnung und Arbeit, Göring einen Erlass des Preußischen Innenministe- wie propagiert wurde, und ebenso als Mittel der riums betreffend die „Anwendung der vorbeugen- Ausschaltung und Absonderung, die Zwangs- den Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“.Die übri- sterilisation, die Ermordung in unterschiedlichen gen Länder wurden aufgefordert, gleichermaßen Formen, im Rahmen der Euthanasieprogramme, solche Regelungen zu treffen, eine Aufforderung, als Vernichtung durch Arbeit, als genozidaler Akt. der diese nachkamen.1 Als Rechtsgrundlage nannte der Erlass Hindenburgs „Verordnung zum Zu den aus der Volksgemeinschaft Ausgeschlos- Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933. senen gehörte auch die Gruppe der sogenannten Der Kreis derer, die als „Berufsverbrecher“ nach „Gewohnheitsverbrecher“ oder „Berufsverbre- der Festnahme in Konzentrationslager überstellt cher“.Ihr Ausschluss wurde sowohl als Mittel einer werden sollten, wurde folgendermaßen definiert: Generalprävention im Rahmen der Verbrechens- bekämpfung begründet wie auch aus dem biologis- Berufsverbrecher seien diejenigen, „welche der tischen Gesellschaftsverständnis der Nationalsozia- Kriminalpolizei als Berufsverbrecher bekannt sind, listen heraus, dass asoziales und kriminelles Verhal- die ausschließlich oder zum größten Teil vom ten in der Regel Veranlagung sei und dass so Erlöse aus Straftaten leben. Als äußere Vorausset- veranlagte Personen in ihrer Mehrheit deshalb auf zung für die Anwendung der Vorbeugungshaft gilt Dauer ausgesondert, ihrer Fortpflanzungsfähigkeit dabei, dass der Betroffene dreimal wegen eines beraubt, letztlich „ausgemerzt“ werden müssten. aus Gewinnsucht begangenen vorsätzlichen Ver- brechens oder Vergehens zu Zuchthaus oder Ge- Die Möglichkeiten einer Inhaftierung als Präven- fängnis von mindestens sechs Monaten verurteilt tivmaßnahme im Rahmen vorbeugender Verbre- worden ist und zwischen den einzelnen Straftaten

1 Siehe: Karl-Leo Terhorst: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte vorbeugender Verbrechensbekämpfung, Studien und Quellen zur Geschichte des Deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 13, 1985, S. 75 ff. sowie: Julia Hörath: Terrorinstrument der „Volksgemeinschaft“? KZ-Haft für „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ 1933 bis 1937/38, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 60, H. 6, 2012, S. 513–532.

202 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die vergessenen Frauen von Aichach

ein Zeitraum von weniger als fünf Jahren liegt. Die wecken versuche, die Insassen der Konzentrations- Untersuchungshaft und Strafverbüßung hemmen lager seien allesamt Kriminelle. Die SS in den Kon- den Lauf der Frist.“2 zentrationslagern versuchte, die Gruppe der politi- schen, mit dem roten Winkel markierten Häftlinge Über die so Definierten hinaus konnten – aus- gegen die Gruppe der „Grünen“ auszuspielen. nahmsweise, wie es hieß – auch Personen inhaf- In den Erinnerungen der politischen Häftlinge und tiert werden, die zwar noch nicht vorbestraft wa- zum Teil auch in der frühen Literatur zu den Kon- ren, aber einen verbrecherischen Willen zu solchen zentrationslagern finden sich Darstellungen, in de- Handlungen offenbarten. nen „grüne“ Häftlinge vor allem als Helfershelfer der SS gezeichnet werden, ein Bild, das der diffe- Dem Erlass vom 13. 11. 1933 folgten am 24. No- renzierten Situation dieser so heterogenen Gruppe vember 1933 das „Gesetz zur Bekämpfung gefähr- von Häftlingen nicht gerecht wird; auch unter ihnen licher Gewohnheitsverbrecher“,zahlreiche weitere gab es Helden, gab es Solidarität, gab es Resis- Anordnungen sowie Verhaftungsmaßnahmen, tenz, gab es Anpassung. Auch sie waren dem Ter- in denen die verbliebenen Reste rechtsstaatlicher ror der SS und den mörderischen Bedingungen der Garantien beseitigt wurden. Haft in den Konzentrationslagern ausgeliefert.

In den Konzentrationslagern wurde die Gruppe Wie manche anderen Häftlingsgruppen, etwa die dieser sogenannten Berufsverbrecher mit dem der sogenannten Asozialen oder die der homose- grünen Winkel markiert. Sie bildeten eine der sehr xuellen Häftlinge, blieb die Gruppe der als Berufs- heterogenen Gruppen in den Lagern, als Gruppe verbrecher verfolgten Menschen nach 1945 lange teilweise auch diskriminiert von den anderen vergessen; die Kontinuität gesellschaftlicher Vorur- Häftlingen. Die politischen Häftlinge waren häufig teile marginalisierte Wissen und Erinnerung an sie, der Überzeugung, dass die Inhaftierung der „Krimi- diejenigen, die überlebt hatten, blieben stumm. nellen“ in den Lagern vor allem deshalb erfolge, um sie, die politischen Häftlinge, zu diskreditieren, indem man in der Öffentlichkeit den Eindruck zu er- Robert Sigel

2 Terhorst (wie Anm. 1), S. 79.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 203 Die vergessenen Frauen von Aichach

Blick auf das Frauenlager in Auschwitz-Birkenau, Aufnahme aus den ersten Jahren nach der Befreiung Foto: ullstein bild

In Punkt 1 ging es um die „Korrektur bei nicht genügenden portiert. Innerhalb von drei Tagen werden 92 Frauen in Si- Justizurteilen durch polizeiliche Sonderbehandlung“, also cherheitsverwahrung auf den Transport geschickt. In einem um die Ermordung von Verurteilten, die nach Meinung der Schreiben beschwert sich am 7. April der Gendarmeriepos- Nazis mit einem zu milden Urteil davongekommen waren. ten Aichach über das „primitive Waggonmaterial“, das da- „Das ist unwertes Leben in höchster Potenz“, äu- bei zum Einsatz kommt: „Beide Waggon waren für diesen ßert sich Thierack zur „Abgabe asozialer Gefangener“. langen Transport (dreieinhalb Tage und drei Nächte) man- gels Kabine zum Ausruhen des abgelösten Begleitpersonals Vernichtung durch Arbeit sowie verschließbaren Türen ungeeignet.“6 Die Anstaltslei- tung schließt sich diesen Bedenken „voll an“, da „mit wei- Bereits im Oktober 1942 wird mit einem Geheimerlass des teren Transporten unter Umständen zu rechnen ist“. Justizministeriums die Auslieferung „asozialer Elemente“ Wussten die Gefängnisleitung und die Vollzugs- aus dem Strafvollzug an die SS zur „Vernichtung durch Ar- beamten, was die Deportierten erwartete? Der Historiker beit“ angeordnet, ab 1. November 1942 beginnt die Selekti- Nikolaus Wachsmann konstatiert jedenfalls eine „breite on in den Haftanstalten. Rechtlich bedeutete diese Auslie- Zustimmung der örtlichen Gefängnisbeamten zur ‚Vernich- ferung den totalen Rückzug der Justiz, die Betroffenen er- tung durch Arbeit‘“.7 Den ideologischen Hintergrund wartete kein Gerichtsverfahren mehr, sondern nur noch die macht Hitlers Sportpalastrede vom 30. September 1942, nur Willkür von SS, Gestapo und Polizei. Bis zum 30. April 1943 wenige Tage nach der Billigung der Mordaktion durch Thie- waren 14700 Personen aus den Haftanstalten in die Kon- rack und Himmler, deutlich: „In einer Zeit, in der die Bes- zentrationslager deportiert worden, davon waren bereits am ten unseres Volkes an der Front eingesetzt werden müssen 1. April über 5900 verstorben. und dort mit ihrem Leben einstehen, in dieser Zeit ist kein In Aichach beginnen Anfang 1943 die Transporte Platz für Verbrecher und Taugenichtse [...] Wir werden die- nach Auschwitz, am 26. März wird auch Walburga W. de- se Verbrecher ausrotten, und wir haben sie ausgerottet.“8

6 100 Jahre – JVA Aichach, Interne Festschrift der JVA Aichach 2009, S. 101. 7 Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006, S. 336. 8 Zitiert nach Wachsmann, ebd.

204 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die vergessenen Frauen von Aichach

Ankunft in Auschwitz um 1944 Foto: ullstein bild

Manche Gefängnisdirektoren sahen in der Überstellung war von einem Sondergericht im Juli 1940 wegen „staats- auch ein willkommenes Mittel, die Überfüllung ihrer An- feindlicher Äußerungen“ zu einem Jahr und vier Monaten stalt zu verringern. In Aichach hatte Anstaltsdirektor von Haft verurteilt worden. Danach war sie in „Schutzhaft“ ge- Reitzenstein bereits 1937 geklagt, dass die jetzige Belegung nommen und über das KZ Ravensbrück nach Auschwitz mit 850 Insassen kaum mehr überschritten werden könne. deportiert worden. Dort stirbt sie im Winter 1943. Im Juni 1943 lag der Gefangenenstand – nach den Trans- Die Wienerin Ella Lingens, die als Ärztin und porten – bei 1900!9 „Arierin“ durch ihre Tätigkeit im Krankentrakt überlebte, Die Frauen von Aichach wurden in das Frauenla- beschrieb die Zustände im Frauenlager so: „Das Gros der ger Auschwitz-Birkenau eingeliefert. Anders als die nicht Frauen glich hässlichen, alten Skeletten, die sich wie durch zur Arbeit „verwendungsfähigen“ Juden, die sofort in den ein Wunder auf den Beinen hielten.“10 Wer sich nicht ir- Gaskammern getötet wurden, wurden sie im Standesamt gendwie zusätzliche Nahrung verschaffen konnte, „starb in von Auschwitz registriert, von hier wurden später auch die Auschwitz in der Regel zwischen dem vierten und dem Totenscheine versandt. Diese Registratur des Todes war ei- zehnten Lagermonat“.11 Im März 1943, als die Frauen aus ne der bizarren Facetten dieses Ortes, neben dem KZ-Bor- Aichach ins Lager kommen, wütet dort das Fleckfieber. dell, dem Mädchenorchester und dem biederen Familienle- „Die Mortalität lag bei etwa 80 Prozent“, so Lingens in ih- ben der SS-Mitglieder. Das Frauenlager beherbergte zu die- ren Erinnerungen, „Tote, Tote, wohin man blickte“.12 ser Zeit 20.000 Frauen, die dort unter infernalischen Walburga W. überlebt nicht einmal fünf Wochen in Bedingungen in Baracken auf faulen Strohsäcken dahinve- Auschwitz, sie stirbt am 8. Mai 1943. Die meisten Frauen getierten. Zu ihnen gehörte zum Beispiel die 1903 am Te- aus Aichach teilen ihr Schicksal. gernsee geborene Anna Blumauer, wohnhaft in der Wen- Vier Jahre nach Kriegsende wurde Walburga W. delsteinstraße Nr. 7 in München. Sie hatte als Hilfsarbeite- noch einmal aktenkundig – bei der Staatsanwaltschaft rin bei der Filmfirma „Arnold und Richter“ gearbeitet und München I. Die gab am 6. Dezember 1949 der Familie

9 100 Jahre – JVA Aichach (wie Anm. 6), S. 100. 10 Ella Lingens: Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes, Wien 2003, S. 125. 11 Ebd., S. 134. 12 Ebd., S. 150.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 205 Die vergessenen Frauen von Aichach

sprochen. Denn die Richter nahmen die Lügen der Ange- klagten, nichts von der Mordaktion gewusst zu haben, an- standslos hin und äußerten sogar Verständnis für die NS- Politik, immerhin habe der deutsche Staat im Krieg in einem Kampf um die nackte Existenz gestanden, die Überstellung der Gefangenen in die KZ sei rechtmäßig gewesen. Angesichts derartiger Urteile verwundert es wenig, dass es örtlichen Gefängnisbeamten leichtfiel, ihre berufli- che Laufbahn fortzusetzen. In Aichach zum Beispiel wur- de nach der Befreiung durch die Amerikaner nahezu das ge- samte Leitungspersonal entlassen, darunter Direktor von Reitzenstein, der Gefängnisarzt Ludwig Schemmel, die Ge- fängnislehrerin Anni Dimpfl und der evangelische Gefäng- nisgeistliche Ernst Stark. Dieser war Ortsgruppenleiter der NSDAP und huldigte Hitler in seinen Predigten als „Of- Auf dem Weg zur Arbeit; Zeichnung eines Auschwitz-Häftlings fenbarung eines neuen Schöpferwillens“, der „selbstver- (Name unbekannt) Anfang der 1940er-Jahre ständlich nicht an den Mauern der Strafanstalt Halt ma- Quelle: ullstein bild, Michaelis chen“ konnte.16 Dies war aber kein Hindernis, ihn 1949 wie- der in den Staatsdienst zu übernehmen. Gleiches galt für die fälschlicherweise bekannt, 1943 sei die „Überstellung in das Beteiligung von Gefängnisarzt Schemmel an Zwangssterili- Konz.L. Mauthausen“ erfolgt. Und: „Die Akten sind durch sationen. Wenige Jahre nach Ende des „Dritten Reiches“ Fremdeinwirkung vernichtet.“13 war die Führungsriege von Aichach wieder fast komplett an Bord, nur der Direktor war in den Ruhestand versetzt wor- Vergessen den. Angesichts dieser Nachkriegssituation wurden die Das Schicksal der Frauen von Aichach bleibt lange Zeit nach Frauen von Aichach gleichsam in vielfacher Weise verges- Ende des „Dritten Reiches“ vergessen, verzerrt und ver- sen, zum Beispiel von der Forschung zur NS-Zeit, die sich drängt. Denn in Westdeutschland blieb die Aufarbeitung erst sehr spät dem Thema der Verfolgung von „Asozialen“ der NS-Justiz eine Farce, so der Historiker Nikolaus und „Gewohnheitsverbrechern“ annahm. Das hat vielleicht Wachsmann: „Die Kontinuität im Justizwesen war mehr als damit zu tun, dass diese Gruppen in der Rangfolge der Kon- auffällig: Rund 80 Prozent der früheren Beamten wurden zentrationslager ganz unten standen. So zeichneten die po- wieder eingestellt.“14 Zwar wurden 1947 von den Amerika- litischen Gefangenen in ihren Berichten aus den Konzen- nern in einem Nürnberger Prozess einige hohe Beamte des trationslagern von ihnen ein wenig schmeichelhaftes Bild, Reichsjustizministeriums zu Haftstrafen verurteilt, kein sie standen am Rande der „KZ-Gesellschaft“. „Bei den Kri- einziger Richter oder Staatsanwalt der NS-Zeit aber wurde minellen, die man nach Auschwitz brachte, herrschte wohl von seinen Kollegen in Westdeutschland verurteilt. Die Jus- die Absicht vor, sie zu vernichten. Ein großer Teil dieser tiz müsse ihr Versagen bei der Bewältigung ihrer eigenen Menschen war so, dass man die Umwelt tatsächlich vor ih- Vergangenheit eingestehen, wurde schließlich in den nen schützen musste: Gewohnheitsverbrecher, [...] Betrü- 1980er-Jahren vom Bundesjustizministerium konstatiert. gerinnen, Mörderinnen und anderes mehr“, diese Frauen Kontinuität war auch bei den Gefängnisbeamten „starben mit wenigen Ausnahmen wie die Fliegen“,17 angesagt. Als das „dunkelste Kapitel in der Geschichte der schrieb dazu Ella Lingens. westdeutschen Prozesse gegen NS-Gefängnisbeamte“15 be- Eine Wahrnehmung, die sich freilich wenig mit der zeichnete Wachsmann das Verfahren im Jahre 1951 gegen Realität der Frauen von Aichach deckt. Weibliche Krimina- jene Männer, die für die „Vernichtung durch Arbeit“ von lität war und ist vor allem Kleinkriminalität von Eigen- Strafgefangenen verantwortlich waren. Die daran beteilig- tumsdelikten, es ging vor Gericht in der Regel um Taschen- ten Beamten des Reichsjustizministeriums wurden freige- diebstahl, um den Diebstahl von Bettwäsche, um „Un-

13 Staatsarchiv, Staatsanwaltschaften, 18043. 14 Wachsmann (wie Anm. 7), S. 388. 15 Ebd. S. 392. 16 100 Jahre – JVA Aichach (wie Anm. 6), S. 84. 17 Lingens (wie Anm. 10), S. 219.

206 Einsichten und Perspektiven 3 | 13 Die vergessenen Frauen von Aichach zucht“ und nicht um Gewalttaten. 86 Prozent der Männer brechers“ war ein Begriff der Klassenjustiz, der zur Diszi- und Frauen, die 1937 in Sicherheitsverwahrung saßen, wa- plinierung der unteren sozialen Schichten diente. ren wegen Diebstahl oder Betrug verurteilt worden, nur Die Ausgrenzung dieser Frauen erfolgte in der 7,7 Prozent waren Gewalt- oder Sexualverbrecher.18 Die Nachkriegszeit sowohl in Hinsicht auf die Würdigung als meisten Frauen hatten versucht, sich mit kleinen Eigen- NS-Opfer als auch bei Entschädigungen durch das Bundes- tumsdelikten über Wasser zu halten, und sammelten so ein entschädigungsgesetz von 1956: Diese fanden – anders als Vorstrafenregister an. Der Begriff des „Gewohnheitsver- bei anderen Opfergruppen – nicht statt. ❚ Auszug aus der Deliktstruktur in der JVA Aichach 1943–1944:19

Deliktart Anzahl Delikte Prozent Strafdauer/ Durchschnitt

Abhören feindlicher oder ausländischer Sender 9 1,27 2 Jahre

Abtreibung, auch berufsmäßige 10 1,41 7 Jahre

Anstiftung zur Beraubung von Kriegspaketen 1 0,14 6 Jahre

Beiseiteschaffung von Lebensmitteln und 4 0,56 1,3 Jahre Lebensmittelkarten, z. B. Weizenmehl

Beiseiteschaffung von Mangelware, z. B. von 4 0,56 5 Jahre Spinnstoffresten

Betrug, u. a. Milchverwässerung 8 1,13 4 Jahre

Diebstahl von Mangelware, z. B. Zuckerrüben 30 4,23 3,6 Jahre

Kriegswirtschaftliche Verbrechen 23 3,24 4 Jahre

Rundfunkverbrechen und Vorbereitung des 52 7,32 5 Jahre R.F.Verbrechens

Schleichhandel mit Fleischmarken 4 0,56 3,6 Jahre

Schwarzschlachten undTauschgeschäfte mit 10 1,41 4 Jahre Schwarzgeschlachtetem und Geschlachtetem

Unbefugter Verkauf von Strümpfen 1 0,14 1,8 Jahre

Unterschlagung einer Pelzjacke 1 0,14 1,9 Jahre

Unterschlagung von Lebensmittelkarten 3 0,42 4 Jahre

Unterstützung reichsfeindlicher Handlungen 6 0,85 5 Jahre

Verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen 40 5,63 2 Jahre

18 Wachsmann (wie Anm. 7), S. 128. 19 100 Jahre – JVA Aichach (wie Anm. 6), S. 105–108.

Einsichten und Perspektiven 3 | 13 207 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Weitere Publikationen der Landeszentrale zu den Themen dieses Heftes

Vor dem dritten Europa Staatsbankrott? Ideen Der deutsche Schulden- Institutionen staat in historischer und Vereinigung internationaler Perspektive 750 Seiten, München 2010 116 Seiten, München 2012

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