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„Ce pays enchanté dont la Mignon de Goethe, frileuse, se souvient…“ Mignon und das Phantasma der Sängerin in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Von Julia Effertz, Oxford

Sie ist ein liebes und frommes Kind, und was kann sie denn dafür, dass sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muss? , Die Sängerin

Der vorliegende Artikel versteht sich als Beitrag zur Motivgeschichte einer bisher erst wenig beachteten Thematik der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft: Die Sängerin stellt nicht nur ein soziokulturelles und literarisches Phänomen, ja ein Phantasma des späten 18. sowie des 19. Jahr- hunderts dar, sondern es handelt sich bei ihr auch um ein komplexes Motiv, welches eine Vielzahl an Blickwinkeln und Lesarten erlaubt und als themati- sches Desiderat der aktuellen Literaturwissenschaft gelten kann. Anhand der Goetheschen Mignon-Figur werde ich im Folgenden eine mögliche Rezepti- onsgeschichte des Motivs der Sängerin, sowie des Phantasmas des weiblichen Gesangs in seiner Entwicklung von Deutschland nach Frankreich diskutieren. Es erscheint mir jedoch angebracht, einleitend zunächst das Forschungsgebiet und seine Desiderata aufzuzeigen. Fragt man in der Germanistik nach der (früh-)romantischen Sängerin, so muss man sich zunächst mit der Musikphilosophie der Jahre vor und nach 1800 auseinandersetzen, sowie mit dem Konzept von Musik und Gesang als einer Form poetisch erhöhter Sprache und sublimierten menschlichen Aus- drucks, welches sich im deutschen Sprachraum nachdrücklich in der Folge von Rousseaus Essai sur l’origine des langues1 und seinen Ausführungen zur Verwandtschaft zwischen Musik und Sprache entwickelte. Zeitgleich lässt sich außerdem eine zunehmende Konnotierung von Vokalmusik und Weib- lichkeit, sowie eine vermehrte Präsenz von Sängerinnen in der Erzählliteratur feststellen. Das neue Ideal bürgerlichen Musizierens, ein vermehrter Bedarf an Opernsängerinnen und schließlich das zeitgenössische Ideal der Muse und des weiblichen Gesanges als Teil des Verständnisses von Poesie definieren die

1 Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l’origine des langues. Où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale. In: Œuvres complètes, tome V. Écrits sur la musique, la langue et le théâtre. 1995.

105 Musikerin im realen Leben wie in der Literatur als einen spezifischen Typus weiblicher Musikalität, durch den sich vielfältige motivgeschichtliche Linien über die Grenzen der deutschsprachigen Literatur hinaus ergeben.

Man wird früher oder später auf E. T. A. Hoffmanns Musikliteratur mit seinen Sängerinnen stoßen, sowie auf all diejenigen Mädchen und jungen Frauen, die, exotisch anzusehen, mit Gitarre, Zither oder Harfe durch deutsche Texte ziehen und sehnsüchtige Lieder singen. Im deutschen Sprachraum fin- det man den wenig schmeichelhaften Begriff des „Harfen-Mädchens“2, der im frankophonen Raum in dieser Form nicht geprägt wurde. In Frankreich hinge- gen wurde der Begriff der „Fille d’Opéra“3 mit seiner abwertenden Konnota- tion sowie das allgemeine Stigma der actrice geläufig. Vor und nach 1800 sind sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland die beiden Berufsgruppen der Sängerin und der Schauspielerin nicht immer trennscharf. Von Künstlerinnen wurde oft verlangt, beides zu sein, zumal die populären Stücke, etwa das deutsche Singspiel oder in Frankreich die Opéra comique, oftmals Mischun- gen verschiedener Gattungen (Gesang, Theater, Tanz) darstellten. Hinzu kam, dass Frauen beider Berufe höchst suspekt waren, da sie sowohl als Schauspie- lerinnen wie auch als Sängerinnen arbeitende Künstlerinnen waren, die ihren Körper auf der Bühne einem zahlenden Publikum zur Schau stellten. Als Künstlerinnen verletzten sie nicht nur gängige Kreativitäts- und Geniekonzep- te (die ausnahmslos männlich konnotiert waren), sondern auch bürgerliche Normen und Wertvorstellungen, nach denen eine Frau, ihrer biologischen Bestimmung gemäß, ausschließlich Ehefrau und Mutter sein konnte.4 In bei- den Ländern existiert natürlich auch der Begriff der „Dilettantin“, der in dieser Zeit geprägt wurde und stellvertretend für die intensive Musikpraxis, vor allem aber für die dezidiert weibliche (und häusliche) Prägung der bürger- lichen Musikkultur steht. In der Literatur der französischen Romantik muss ohne Zweifel Con- suelo (1843) erwähnt werden, die als Epitom der Musikerin und Künstlerin der Juli-Monarchie inszeniert wurde und durch die der Sängerin ein Denkmal setzte. (Consuelo, 2 Bde., Paris 2004) Aber auch schon lange vor George Sand findet in Frankreich, änlich wie in Deutschland, eine rege Beschäftigung mit Musik als Teil eines poetisch-literarischen Konzep- tes statt: Rousseaus Schriften zur Musik finden nicht nur im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts Anklang, sondern beeinflussen die metaphysische

2 Vgl.: Freia Hoffmann: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt 1992. 3 Siehe: Tili Boon: „Women Performing Music: Staging a Social Protest“. In: Women in French Studies 8 (2000), S. 40–54. 4 Die Problematik der Sängerin, die gegen ihre „weibliche Natur“ handelt, ist offenkundig in fast allen Bereichen des sozio-kulturellen Diskurses präsent: Pädagogikschriften, Briefe, Medizinische Abhandlungen, Literatur.

106 Musikauffassung der Frühromantiker um Madame de Staël und Chateaubriand ebenso wie die Musikfaszination späterer Autoren wie Musset, und Hugo. Auch im regen Musikjournalismus und in der Musikliteratur der Juli- monarchie, welche die Sängerin definitiv als sozialen Typus etabliert, werden noch Spuren des Gesangsideals der Jahrhundertwende sichtbar. In der feministischen Literaturkritik, bzw. in der aktuellen Gender-For- schung werden anhand des weiblichen Gesangs Geschlechterkonstruktionen und romantische Paradigma untersucht: Inwiefern spiegelt die Sängerin be- stimmte dichotome Stereotype der Romantik wider, inwiefern kann die Sing- stimme als eine spezifisch weibliche Stimme festgelegt werden, und wie werden Geschlechterrollen und Machtstrukturen über die Wechselwirkung von Gesang, Musik und Text inszeniert? Hier fällt vor allem das Motiv der Diva Assoluta auf, aber auch das der Sirene, jener Wassernixe, die einen klassischen Typus des doppelt Anderen darstellt: Anders, da sie eine Frau ist, und auch anders, da sie eine Sängerin ist, deren Gesang sowohl betörend und verzaubernd, wie auch zutiefst verstörend, unheimlich, ja oftmals tödlich sein kann. Heines Schlussworte, „Und das hat mit ihrem Singen die Lore-Ley getan“, entbehren dabei nicht einer gewissen Ironie. Im Bereich der Opernfor- schung5, aber auch zum Motiv der Wasserfrau6 liegen interessante Ansätze vor, jedoch fehlt es nach wie vor an einer umfassenden Betrachtung der Sängerin und ihres Gesangs in der Literatur an sich, die das eingangs erwähnte Phantasma der weiblichen Singstimme in seiner Komplexität untersucht und vielleicht auch unter Berücksichtigung nicht-kanonischer Autoren das motivgeschichtliche Potenzial der Sängerin – und mit ihr auch den Entwurf einer weiblichen künstlerischen Identität – kritisch evaluiert. Hier dürfte ein Blick auf bisher übergangene Autorinnen wie Caroline Auguste Fischer7 und Luise Mühlbach8 in Deutschland, oder auf Sophie Ulliac-Trémadeure9 und Marceline Desbordes-Valmore10 in Frankreich lohnend sein. Auch die Musikwissenschaft muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, da sich bereits seit längerer Zeit feministische Musikwissenschaftler wie Ruth Solie oder Eva Rieger mit dem historischen und soziokulturellen Kontext von Musikerinnen, darunter auch Sängerinnen, auseinandersetzen und den Beitrag dieser Frauen zur Musik allgemein wie auch ihren Platz in der

5 Siehe z. B.: Rubert Christiansen: Prima Donna. A History. London 1995. 6 Helena Malzew: Menschenmann und Wasserfrau: ihre Beziehung in der Literatur der deutschen Romantik. Berlin 2004. 7 Caroline Auguste Fischers Gesamtwerk, soweit auffindbar, wurde durch Anita Runge wieder neu herausgegeben. Caroline Auguste Fischer: Gesammelte Werke. 6 Bände (= Frühe Frauenliteratur in Deutschland, Band 1–6). Herausgegeben von Anita Runge.

Hildesheim 1987 ff. 8 Luise Mühlbach: Frauenschicksal. Altona 1839. 9 Sophie Ulliac-Trémadeure: Emmeline ou la jeune musicienne. Paris 1836. 10 Marceline Desbordes-Valmore [1843]: Domenica. Genève 1992.

107 Musikgeschichte neu einzuordnen suchen.11 Durch die historische und sozio- kulturelle Evaluierung eines Künstler-Motivs wie der Sängerin oder Pianistin eröffnet die Musikwissenschaft auch neue Betrachtungsweisen in der Litera- tur; vor dem Hintergrund der damaligen Musikkultur, beispielsweise vor dem Gegensatz zwischen Musik-Dilettantismus und professionellem weiblichen Künstlertum, zwischen Musik-Idealismus und Pragmatik. Wie aufgrund die- ses kurzen Überblicks ersichtlich wurde, können die Blickwinkel auf das Sängerinnen-Motiv sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Aspekt der jedoch bei allen Betrachtungen immer wieder in den Vordergrund tritt, und der somit gut in den Kontext „Deutsch-Französische Literaturbeziehungen“ und zu dem in ihm implizierten Thema der Grenzüber- schreitungen passt, ist die ausnahmlos hybride, Grenzen überschreitende, ja oftmals Normen verletzende Natur der Sängerin. Viele reale und fiktive Sän- gerinnen sind exotisch und fremd, sozial, aber auch politisch, denn die meisten sind entweder selbst Ausländerinnen, oder aber ein Elternteil kommt aus dem Ausland, wobei je nach Sprache und Land in dem der Text erscheint die Wahl meist auf Deutschland, Frankreich oder Italien fällt – hier findet ein interes- santes Wechselspiel zwischen Mythos und Realität statt: zum einen die de facto zur damaligen Zeit bestehende Vorherrschaft des italienischen Gesangs- stils und italienischer Künstler, zum anderen – wie auch im Motiv der Wasser- frau – eine inszenierte Fremdheit und Exotik vieler Sängerinnen in ihrem

Status als Frau und Künstlerin, und schließlich als fremdes, d. h. musikalisch- weibliches Medium im Erzähltext.12 Als Frau wie als Künstlerin überschreitet die Sängerin Grenzen sprach- licher, politischer und sozio-kultureller Art und agiert als Mittlerin zwischen den Medien Musik und Text. Im Musikjournalismus sowie in der zeitgenössi- schen Literatur fallen dabei bestimmte, wiederkehrende Paradigma auf: So der Gegensatz zwischen der Idealisierung des Gesangs und der weiblichen Sing- stimme einerseits sowie dem realem Leben von Musikerinnen mit all seinen Härten andererseits. Durch ihre relative Freiheit außerhalb gesellschaftlicher Normen besitzt die Sängerin einen höchst ambivalenten statut à part: Ihr Image geriert sich aus einem konstanten Balanceakt zwischen einem Beruf, der sie per se als unmoralisch und unweiblich abqualifiziert und der Bewunderung und

11 Ruth A. Solie: Musicology and difference: Gender and Sexuality in Music scholarship. With an Introduction by Ruth Solie. Berkeley 1993. Eva Rieger: Frau, Musik und Männer- herrschaft. 1988. 12 Das Gros der heute erschließbaren Texte, kanonisch und nicht-kanonisch, inszeniert die Sängerin als fremde, exotische Figur. Anna-Maria Stuby hat bereits in den 80er Jahren auf die Fremdheits-Thematik des weiblichen Gesanges im Zusammenhang mit dem Sirenen- motiv hingewiesen. Anna-Maria Stuby: Sirenen und ihre Gesänge. Variationen über das Motiv des Textraubs. In: Frauen: Erfahrungen, Mythen, Projekte. Frauenstudien 2. Heraus- gegeben von Anna-Maria Stuby (= Gulliver Deutsch-englische Jahrbücher Band 18). Berlin 1985.

108 Glorifizierung, und oftmals poetischen Hochstilisierung seitens der Zuhörer, Kritiker und Schriftsteller die sie, vor dem Hintergrund der damaligen Musik- philosophie und ihres Gesangs-Ideals, zu einem sublimen Wesen verklären.Wie so viele Texte der Zeit zeigt das folgende, in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung publizierte Gedicht beispielhaft die Faszination, die die Sängerin auf ihr Publikum ausübt, welches zwischen Nachtigallen-Verzückung und zyni- schem Hinweis auf die begrenzte Karriere der angebeteten Frau schwankt. Bei ihrer Heirat beendeten die meisten Künstlerinnen, oft auf Drängen des Ehe- manns hin, ihre Laufbahn um nunmehr in der respektablen Rolle der Ehefrau und zukünftigen Mutter ihre natürliche Bestimmung zu finden.

Du singst – und Deine Zauberkehle Haucht süße Lust in jedes Herz. So singt im Haine Philomele Der Liebe Glück und ihren Schmerz. Doch hat sie unter dichten Zweigen Sich nett ihr Nestchen erst gebaut, Fängt sie allmählich an zu schweigen – Das Weibchen singt dann keinen Laut. Nun fiat applicatio! Du singst wie sie; bald schweig auch so.13

Der Balanceakt im Spannungsverhältnis zwischen Musik, Sprache und Weib- lichkeit, zwischen Ideal und Realität, und besonders im deutschen Sprach- raum die Diskrepanz zwischen einem frühromantischen Gesangsideal (d. h. Gesang als poetisch erhöhte Rede) und der de facto stattfindenden, körper- lichen Darbietung der zunehmend professionellen Künstlerinnen wird am Beispiel der Sängerin deutlich. Aber auch die relative Freiheit dieser Figur sowie ihr Potenzial, bestimmte Geschlechter- und Musik-Ideale, schließlich sogar Möglichkeiten weiblicher Selbstbestimmung und künstlerischer Identi- tät zu verhandeln, werden in der Literatur der Zeit spürbar. Die Sängerin ist eine hybride Kreatur, wie auch die Musik- und Künstler- Literatur der Epoche ein hybrides, ein Mischgenre darstellt, bei dem sich nicht zuletzt interessante Querverbindungen zwischen deutscher und französischer Kultur und Literatur ergeben. Im folgenden soll exemplarisch auf eine dieser Querverbindungen eingegangen, und anhand der Figur der Mignon aus Goe- thes Wilhelm Meisters Lehrjahre eine mögliche Rezeptionsgeschichte von weiblichem Gesang skizziert werden. Mignon ist ein Gesangsideal des ausgehenden 18. Jahrhunderts, welches zum einen intensiv auf Gesangs- und Poesiekonzepte späterer Autoren gewirkt

13 Anonym: Gedicht ins Stammbuch einer Sängerin. In: Allgemeine Musikalische Zeitung, Vol. 2, Nr. 32, (7. Mai 1800).

109 hat, und zum anderen aufgrund seiner Komplexität und Faszination ausführ- lich in der Forschungsliteratur diskutiert wurde und wird, wobei die Lesarten recht unterschiedlich ausfallen. Ein Großteil der Sekundärliteratur behandelt sie primär als poetisches Geschöpf: d. h. ihre Lieder sind lyrische Impulse, wobei man die Figur selber in den Bereich des Gott-Kindes und Genius rückt, welcher in direktem Zusammenhang mit dem Autor selbst, Goethe steht.14 Trotz aller Poetik und Pathologie entspricht Mignon jedoch ebenso sehr einem bestimmten Typ Musikerin, ja einem Ideal von Gesang und von der weiblichen Künstlerin in der Goethe-Zeit, welches in späteren Texten oft kopiert wurde. Zwar begeisterte sich Goethe für Musik, Gesang und Oper allgemein und für deutsche Opernsängerinnen von internationalem Format wie Wilhelmine Schroeder-Devrient oder Henriette Sontag im besonderen. In jungen Jahren bevorzugte er jedoch Künstlerinnen wie Corona Schröter. Letztere war keine Ausnahme-Sängerin und eignete sich stimmlich auch nicht für anspruchsvolle Opernproduktionen – allerdings verkörperte sie als begabte Liedkomponistin und Interpretin, als Schauspielerin und Malerin, sowie durch ihr einnehmen- des Äußeres das Ideal eines natürlichen, ernsthaften und ästhetisch-edlen Gesanges. In einem gewissen Sinne war Schröter ein des Weimarer Musenhofes, in dem, um Goethes Wortwahl wiederzugeben, „die Natur die Kunst erfand.“15 In Goethes Präferenz für diesen Typ Sängerin sowie für die Gattung des der Poesie verpflichteten Liedes wird die Ästhetik des Rousseauschen Ideals von Gesang als einer natürlichen menschlichen Ausdrucksweise und zugleich als einer edlen, höher potenzierten menschli- chen Sprache sehr deutlich. (Briefwechsel Goethe – Zelter.) Mignon ihrerseits verkörpert diesen Widerspruch aus Natürlichkeit, scheinbarer Einfachheit und der poetischen Komplexität ihrer Lieder, sowie ihrer eigenen Androgynität und Ambivalenz als weibliche Figur und als Künst- lerin. Sie ist ein wichtiger Sängerinnen-Protoyp, dessen Grundproblematik man auch in den Figuren nachfolgender Autoren immer wieder antrifft, und es ist daher interessant zu sehen, wie sich die Mignon-Substanz in Frankreich entwickelt, wo sie zeitlich mit der Rezeption E. T. A. Hoffmanns, zu Beginn der 1830er Jahre zusammenfällt. Das Sängerinnen-Motiv in der Literatur der Juli-Monarchie entwickelt sich zwischen diesen beiden Polen, d.h. dem frü- hen Ideal von Gesang und Poesie sowie der später einsetzende Thematik der

14 Ich verweise exemplarisch auf folgende Studien: Wilhelm Emrich: Die Symbolik von II: Sinn und Vorformen. Vierte Auflage. Wiesbaden: 1978; Monika Fick: Das Schei- tern des Genius: Mignon und die Symbolik der Liebesgeschichten in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Würzburg: 1987. Sowie: Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit: Goethes Künstler-Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre: Struktur, Symbolik, Poeto- logie. Würzburg 2003. 15 Johann Wolfgang von Goethe [1782]: Auf Miedings Tod. In: Werke. Weimarer Ausgabe I.16, 131–140.

110 professionellen Künstlerin, welche das Genre der Künstlernovelle geprägt hat. Und ob man nun eine poetisch-natürliche Sängerin wie Mignon oder aber eine ausgereifte Berufssängerin und Bühnenkünstlerin wie Consuelo betrach- tet, trifft man so immer wieder auf die problematische Beziehung zwischen stilisierter Kunst, dem Ideal der Singstimme, und ihrer Inszenierung durch den weiblichen Körper. Noch vor Xavier Marmiers Wilhelm Meister-Übersetzung von 183316 wurde Mignon durch Germaine de Staël in Frankreich bekannt, die sie in ihrem Buch De l’Allemagne17 mit viel Enthusiasmus bespricht, sowie ein- zelnen Facetten dieses italienischen Mädchens in ihrer eigenen Künstlerin Corinne eine neue Gestalt gibt.

Le personnage de Mignon […] est mystérieux comme un rêve […] il y a je ne sais quelle simplicité magique en elle qui suppose des abîmes de pensées et de sentiments; l’on croit entendre gronder l’orage au fond de son âme, lors même que l’on ne saurait citer ni une parole ni une circonstance qui motive l’inquiétude inexprimable qu’elle fait éprouver.18

Corinne, auf die später noch zurückzukommen ist, stellt, wie auch ihre Auto- rin, eine zentrale Figur der kulturellen und literarischen Grenzüberschreitung dar und ist als einer der ersten richtungsweisenden Entwürfe einer Künstlerin eine Schlüsselfigur in der beginnenden französischen Romantik. In der Nachfolge Madame de Staëls entwickelt sich die französische Mignon-Rezeption vor allem in zwei Hauptströmungen, und zwar einerseits als eher zurückgenommene, intertextuelle Bezugnahme auf den Poetik-Topos Mignons und des Wilhelm Meister-Romans allgemein, sowie andererseits als Weiterentwicklung der Mignon-Figur in Form verkitschter Pastiches. Balzac, der in seinen Contes musicaux Sarrasine (1830), Gambara (1837) und Massimila Doni (1838) unterschiedliche Facetten des weiblichen Ge- sangs und der Sängerin als soziokulturellem Typus behandelt, nimmt in sei- nem Roman Modeste Mignon (1844), trotz des recht deutlichen Titels, eher subtil auf Wilhelm Meister und auf die Mignon-Thematik Bezug: „Née musi- cienne, [Modeste] jouait pour égayer sa mère. Elle chantait naturellement, et répétait les airs allemands que sa mère lui apprenait. […] sans le savoir, Modeste composait, comme on peut composer sans connaître l’harmonie, des cantilènes purement mélodiques.“19

16 Eine erste Wilhelm Meister-Übersetzung wurde bereits 1802 von Charles Louis de Seve- linges unter dem Titel Alfred, ou les Annees d’apprentissage de Wilhelm Meister. Wie der Titel des Werkes vermuten lässt, handelt es sich hierbei um eine vom Original stark abgewandelte Version, die rezeptionsgeschichtlich belanglos ist. 17 Anne-Louise Germaine de Staël [1813]: De l’Allemagne. Paris: Hachette 1958–60. 18 Madame de Staël: De l’Allemagne, DA III, S. 257. 19 Honoré de Balzac: Modeste Mignon. Paris 1982, S. 74.

111 Die obligatorische lyrische Einlage der „geborenen Musikerin“ Modeste fehlt in dem Roman ebensowenig wie die Hervorhebung ihres naturgegebenen Talentes als Sängerin und Komponistin. Und dennoch, Modeste nimmt kon- trär zum Mignon-Typus in diesem Fall den Platz von Wilhelm Meister ein. Sie widersteht der Fatalität des lyrischen Impulses und der romantischen Träume- rei und entspricht gerade nicht dem romantischen Stereotyp des poetischen Mädchens, welches durch seine Lieder seine eigene Isolation und seine Unfä- higkeit, sich in bildungsbürgerliche Strukturen einzufügen, betont.20 Die ar- chetypische „Mignon de Goethe“ und ihre als poetische Weltfremdheit und Lebensuntauglichkeit empfundene Natur finden auf französischer Seite vor allem in der romantischen Lyrik fruchtbaren Boden, welche dem Thema Gesang und Sängerin gegenüber allgemein aufgeschlossen ist und dieses mit eigenen poetischen Konzepten verbindet. Auf „La Mignon de Goethe“ wird teils sehr direkt zurückgegriffen wie in Theophile Gautiers Albertus (1833) und La chanson de Mignon (1833), teils wird subtiler die Utopie- und Sehn- suchts-Thematik weiterentwickelt, für die Mignon mit ihrem Italien-Lied in Frankreich vor allem Bekanntheit erlangt, und dessen Spuren auch noch in Gedichten wie Baudelaires Invitation au voyage (1855) erkennbar werden. Die bekannteste französische Mignon-Variante ist jedoch die gleich- namige Oper von Ambroise Thomas, die 1866 in der Opéra Comique uraufge- führt wurde und Thomas’ erster und größter Erfolg war. Bis 1894 wurde sie über 1000 Mal aufgeführt und Mignons Arie „Connais-tu le pays“ gehörte zu den beliebtesten Opernkompositionen ihrer Zeit. Diese zweite Welle der Mig- non-Rezeption favorisiert, wie bereits angedeutet, wortwörtlich den aspect mignon, und greift bestimmte, vereinfachte Aspekte der ursprünglichen Figur auf: nämlich ihre exotische Herkunft und sehnsuchtsvollen Gesänge, sowie die notwendige Einbettung der Handlung in einen bürgerlichen Kontext, welcher ein glückliches Ende mit Eingliederung der jungen Frau in die Gesell- schaft, inklusive Heirat mit Wilhelm, verheißt. Hierzu passen die beliebten bildlichen Darstellungen des Mädchens, die eine betont christliche Konnotie- rung zeigen, wie die Mignon-Serie von Ary Scheffer, welche ihrerseits Am- broise Thomas inspirierte, oder aber die Verkitschung des Motivs voran- treiben, wie in den Mignon-Postkarten aus dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Diese Tendenz der französischen Mignon-Rezeption markiert in Form der durch Thomas und Scheffer geprägten Figur den genauen Gegen- pol zur ursprünglichen Figur bei Goethe:

20 Siehe auch Terrence Cave: Modeste and Mignon. Balzac rewrites Goethe. In: French Studies 59 (3/2005), S. 311–325.

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Abb.1: Ary Scheffer: Mignon. Abb.2 Mignon-Postkarte, ohne Datum, 1836. Öl auf Leinwand. Vermutlich frühes 20. Jahrhundert. Dordrechts Mueum. Quelle: Goethezeitportal.21

Goethe selbst wäre vermutlich mit keinem dieser Mignon-Pastiches glücklich geworden. Den Versuch, die Figur ikonographisch festzulegen, wehrte er bereits in Wilhelm Meisters Wanderjahren ab (was auch als Reaktion auf die bereits damals im deutschen und englischen Sprachraum stattfindende Trivia- lisierung und Kommerzialisierung der Figur gelesen werden kann), und legte

Mignon außerdem als Liedsängerin, d. h. als Vertreterin einer Natur-Musik und Poesie, und nicht als Opernsängerin an. Es bleibt die Frage, ob Goethe nicht bereits mit seiner Darstellung der Mignon, durch die Exklusivität ihrer poetischen Natur und Gefühlswelt sowie durch den Charakter und die Faszi- nation ihrer Lieder die Basis für eine romantische Verkitschung der Figur gelegt hat.

21 Die Postkarte ist der Studie von Jutta Assel und Georg Jäger entnommen. Assel / Jäger: Goethe-Motive auf Postkarten. Eine Dokumentation. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Mignon und der Harfner, Goethezeit-Portal, Februar 2004. [Zugriff 4. Juni 2008].

113 Es ist jedoch auffällig, dass, während man in der deutschen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte zahlreiche sehr komplexe, metaphysische, auf gewis- se Art und Weise beunruhigende und gebrochene Mignon-Figuren und Sänger- innen antrifft – Eichendorff wäre hier zu nennen, aber auch Zulima aus ’ Heinrich von Ofterdingen, Antonie aus Hoffmanns Rat Krespel oder Bettinas Mignon-Aneignung – die eng mit der Musikästhetik und dem Kon- zept von Poesie verzahnt sind, die Tendenz im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte in Richtung Kommerz und Pastiche geht. Man kann in diesen Kontext des Süßlichen und der kitschartigen Reduzierung auf Exotik, Sehnsucht und Rührung zahlreiche triviale Texte einordnen, wie etwa La légende de Mignon von Saint-Germain (1861), oder die Novelle Emma, ou la petite musicienne (1842) von Madame Césarie Gensollen Farenc, von der schriftstellerisch nichts weiter bekannt ist, aber die mit Sicherheit nicht die einzige Autorin war, die das Motiv des Harfen-Mädchens à la Mignon benutz- te, um eine rührende, kurzweilige Geschichte zu erzählen – oder vielleicht auch um mit der Anspielung auf ein beliebtes Motiv einen schnellen Publi- kumserfolg zu erzielen.

Emma, d’une voix à peine intelligible chanta: «C’est la petite mendiante / Qui

vous demande un peu de pain / Donnez à la pauvre innocente / Donnez, donnez, car elle a faim, etc.» Ces tristes paroles qu’accompagnaient des sanglots, at- tirèrent l’attention et la pitié de tous les auditeurs. Emma reçut quantité de monnaie, qu’on se pressait à l’envie de lui jeter.22

Das frierende, sehnsuchtsvolle und fromme Mädchen in Zigeunerkleidung kann ohne Zweifel als Publikumsrenner der sentimental-bürgerlichen Kultur im Frankreich der Jahrhundertmitte angesehen werden und steht im scharfen

Gegensatz zu durchaus ironischen Betrachtungen, wie E. T. A. Hoffmanns Persiflage von Mignon und vom Typus des herumziehenden Musik-Mädchens, das sich in den Serapionsbrüdern als eine gerissene Diebin erweist. Weit weg vom Ursprungsideal der Naturpoesie und der musikalischen Exklusivität Mig- nons, auf welcher künstlerische und kulturell-gesellschaftliche Tabus (Inzest der Eltern, Androgynität und Verweigerung bildungsbürgerlicher Normen) lasten, begegnen wir im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte einem christlich-reinen, engelsgleichen Geschöpf, welches unter dem Namen „Mig- non“ in der gleichnamigen Legende von St. Germain zu einer Heiligen hochsti- lisiert wird und durch seine guten Taten über seinen Mitmenschen steht.

Pardonnez donc à ma Mignon bien-aimée sa beauté, sa grâce, son charme infini, son prestige irrésistible; laissez-la descendre les degrés du perron comme l’ange aux ailes blanches descendait l’échelle de Jacob; laissez cette douce vision se

22 Madame Césarie Gensollen Farrenc: Emma, ou la petite musicienne. Paris 1842, S. 105/194.

114 mêler aux groupes des vivants et faire vibrer tous ces jeunes cœurs qui subissent déjà l’influence magnétique de son regard; laissez ce rayon du ciel traverser la sombre ramée des platanes, au milieu de la vapeur éthérée du matin.23

Aber was steht zwischen diesen zwei Extremen? Was steht zwischen dem hoch komplexen, quasi unergründlichen Mädchen in Goethes Roman und seiner bis ins Extreme kommerzialisierten Form in Frankreich, mehr als ein halbes Jahrhundert später? Consuelo ist hier sicherlich zu nennen. Ich möchte aber an dieser Stelle auf Consuelos Vorgängerin zurückkommen, auf Co- rinne,24 diese nicht minder komplexe und exotische Genius-Figur und abso- lute Künstlerin der Madame de Staël, die ihrerseits die Künstler-Ästhetik des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Corinne ist trotz der seit den 70er Jahren wieder populär gewordenen Etudes Staëliennes immer noch ein Stiefkind der Literaturwissenschaft, zumal Staëls literarische Qualitäten, und ihre Deutschland- und Goethe-Vernarrtheit vor allem in der deutschsprachigen Forschung gerne belächelt werden. Corinne ist in diesem Zusammenhang ein spannender Fall, denn die sehr präsente Musik- und Gesangsthematik des Romans, sowie die vielfältigen Inspirationen für diese Künstlerinnen-Figur sind bisher entweder kaum, oder nicht ausreichend beachtet worden – dabei ist vor allem der Aspekt des Gesanges und der Künstlerinnen-Existenz im und durch den Gesang, den Madame de Staël auf verschiedenen Ebenen inszeniert, eine ausführlichere Betrachtung wert. Durch ihre Beschäftigung mit Deutschland und ihre Reise nach Weimar kannte die Autorin den Mythos der Wassernixe. Isabelle de Charrières Ca- liste25, sowie die italienische Dichterin und Improvisatorin Corilla Olimpica, zwei Frauen die sich im Konflikt mit einer öffentlichen Rolle als actrice oder déclamatrice befinden, und deren Stimmen schließlich verstummen, haben Madame de Staël ebenfalls nachweislich inspiriert. Und schließlich findet man auch in Corinne einen nicht unerheblichen Anteil an „Mignon-Substanz“, was von der Literaturforschung bisher übersehen wurde.26 Wichtige Aspekte von Goethes Figur kommen jedoch auch in Corinne zum Ausdruck. Die Einflüsse weiblicher Gesangs-Paradigma sind also vielfältig und entwickeln sich um das Motiv der weiblichen Künstlerin als Grenzgängerin, deren Ge- sang ein Zeichen des Fremden, des Unübersetzbaren und zutiefst Beunruhi- genden ist. Corinnes Gesang ist, ähnlich wie bei der Goetheschen Figur,

23 J.T de Saint-Germain: Mignon. Légende. Paris 1861, S. 42. 24 Anne-Louise Germaine de Staël [1807]: Corinne ou l’Italie. Paris 2000. 25 Isabelle de Charrière [1787]: Caliste, ou Lettres écrites de Lausanne. Paris 1979. 26 Einen ersten Beitrag zu diesem Thema leistete Julia Effertz: Mignon et Corinne. Le personnage poétique dans Wilhelm Meisters Lehrjahre de Johann Wolfgang Goethe et Corinne ou l’Italie de Germaine de Staël. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Uni. Marc Bloch, Strasbourg 2004.

115 Ausdruck einer höheren Poetik, einer absoluten Existenz, die mit ihrem narra- tiven Kontext in Dialog tritt und dabei kompromittiert wird. Corinne ist zwar in ihrer Identität als Frau und Künstlerin expressiver als Mignon, aber auch sie findet nur in ihrer Heimat und in ihrer Kunst eine Identität und Lebens-Möglichkeit. Das utopische Land, welches Mignon nur kurz in ihrem Italien-Lied evozieren kann, wird in Corinne ou l’Italie zum Hauptschauplatz der weiblichen Künstleridentität. Diese entwickelt Madame de Staël dezidiert anders als Goethe: Mignons Defizite, d.h. Gesang, wo keine Sprache möglich ist, sowie ihre nicht zu überwindende künstlerische und soziale Isolation im Exil, werden bei Corinne Teil eines bis ins Genie verklär- ten absoluten Künstlertums. Corinnes Gesang ist extrem facettenreich, von der Melodie ihrer Sprechstimme hin zur Deklamation und Improvisation – in Corinnes erster Improvisation finden wir Mignons Italienlied in transponierter Form wieder – zu Tanz und Theater, bis hin zur Oper, in der sie als Sängerin wie auch als Schauspielerin absolute Perfektion verkörpert. Textlich trennt Madame de Staël die lyrische Seite ihrer Künstlerin weniger scharf von ihrem narrativen Kontext als Goethe dies mit seinen Verseinlagen für Mignon tut. Anders als in Wilhelm Meisters Lehrjahren ist die Prosa in Corinne ou l’Italie noch stärker hybridisiert, wobei Corinnes Improvisationen, ähnlich wie Mig- nons Lieder, übersetzt und in den narrativen Kontext eingearbeitet werden müssen – Corinnes Improvisationen werden in diesem Sinne noch mehr als Mignons Lieder verfremdet, denn in der französischen Prosa-Form verlieren sich vollends Melodie und künstlerische Qualität des italienischen Originals. Musik und Gesang begleiten Corinnes Leben und Sterben wie eine ständige Hintergrundharmonie, so dass die führende Staël-Forscherin des 20. Jahrhunderts, Simone Balayé, den Roman zu recht als durch und durch musikalisch bezeichnet hat.27 Corinne verkörpert, zunächst erfolgreich, ein Ideal romantischer Kunst-Synästhesie. Und dennoch: Auch sie teilt das Schick- sal Mignons als absolute Künstlerin, die zwar im Moment der Darbietung ihre eigene Wirklichkeit erschaffen, diese aber, sobald sie schweigt, nicht aufrecht- erhalten kann. Trotz aller Möglichkeiten, die Corinne in einem wenn auch utopischen Italien aufgrund ihrer Stimme und ihres Genies als Künstlerin hat – ihr Dilemma ist das der meisten Künstlerinnen ihrer Zeit, die gesellschaftliche Konventionen mit dem eigenen Anspruch auf Kunst, sowie mit der eigenen Gabe des Genies nicht vereinen können. Damit befindet sich Corinne durch ihre Kunst und ihr Genie, noch bevor sie ihre Heimat Italien verlässt, im Exil. Zwar ist sie nicht wie Mignon ausschließlich Sängerin, doch besteht bei ihr die gleiche Problematik eines exklusiven, genialen Künstlertums, welches sich Gehör verschaffen muss. Mignon und Corinne gehen beide an der Unmöglich-

27 Simone Balayé: La fonction romanesque de la musique et des sons dans Corinne. In: Romantisme 3 (1972), S. 16–32.

116 keit, dies zu verwirklichen, zugrunde – in beiden Fällen spielt außerdem die unglückliche Beziehung (bzw. der unerfüllte Wunsch nach einer Beziehung) mit den männlichen Protagonisten der Romane, Wilhelm und Oswald eine Schlüsselrolle und steht zeitgleich für die problematischen sozio-kulturellen Implikationen weiblichen Künstlertums in einem bürgerlichen Kontext. Corinne ist in jeder Hinsicht ein Schlüsselroman in der Entwicklung des Sängerinnen-Motivs, von Deutschland nach Frankreich, vom abstrakten Ideal des Gesangs hin zu einem dezidiert weiblichen Genie und Künstlertum – zwar steht Corinne dem frühromantischen Ideal der poetisch sublimierten Rede noch sehr nahe, und sie ist auch noch keine wirkliche Berufssängerin, die mit ihrer Kunst den Lebensunterhalt bestreiten müsste. Aber sie inspiriert nachfol- gende Figuren wie die Opernsängerin Lucile in Madame de Thellussons Roman Lucile, ou la Cantatrice28, der nicht nur vom Titel her eine auffallende Ähnlichkeit mit dem berühmten Original aufweist. Die Welle von Romanen und Novellen, in welchen die Figur der Sängerin als sozialer Typus und Chiffre weiblicher Kunstpraxis inszeniert wird – bei Balzac und Stendhal, aber vor allem bei Autorinnen wie Sophie Ulliac, Madame de Taunay29, Marceline Desbordes und George Sand – wäre undenkbar ohne das große Vorbild der Madame de Staël, und den Fragen, ja den Tabus, die sie in ihrem Roman in Hinblick auf weibliche Künstlerschaft anspricht. Corinnes Musikalität, ihre Stimme, die gleichzeitig Gesang ist, sowie der deutlich hervortretende und tödlich endende Konflikt zwischen künstlerischer Identität und sozialer Rolle zeigen, dass sich Madame de Staël durchaus der symbolischen Gewichtung bewusst war, als sie Corinne eben nicht nur als Dichterin, als poétesse anlegte – was sicherlich prestigeträchtiger, bzw. poeti- scher und edler erschienen wäre – sondern den musikalischen Aspekt der Figur sowie das Paradigma der weiblichen Stimme als Gesang so stark ausarbei- tete. Damit regte sie indirekt auch eine weitere Entwicklung der Mignon- Substanz an, alternativ zu den bisher besprochenen Tendenzen der Verkitschung, sowie der abstrakt-lyrischen Weiterverarbeitung Mignons in verschiedenen Poetik-Konzepten. Corinne weist den Weg in die Diskussion um die weibliche Stimme und die mit ihr verbundene Problematik von Künstlerinnen und der Viabilität ihrer Lebensentwürfe im 19. Jahrhundert. Von allen künstlerischen Berufen in der Romantik ist die Sängerin somit vielleicht die Figur, die am deutlichsten die widersprüchlichen Sichtweisen auf Weiblichkeit und auf die weibliche Stimme in ihrer Verquickung mit Musik- und Poesiekonzepten widerspiegelt und in diesem Sinne als literari- sches Motiv sowohl Potenzial als Musen-Figur wie auch als Chiffre für weibliche Emanzipation besitzt.

28 Madame de Thellusson: Lucile, ou la cantatrice. Paris 1833. 29 Madame Hippolyte de Taunay: Une cantatrice. Paris 1841.

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