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Die Göttinnen Der Anmut in Wielands Werk: Ein Beitrag Zur Rhetorik Der Aufklärung

Die Göttinnen Der Anmut in Wielands Werk: Ein Beitrag Zur Rhetorik Der Aufklärung

Die Göttinnen der Anmut in Wielands Werk: Ein Beitrag zur Rhetorik der Aufklärung

Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich 11 Literatur- und Sprachwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Vorgelegt von

Ilse-Jutta Sandstede, Rastede

September 1999 Erstreferent: Prof. Dr. phil. Joachim Dyck Datum der Disputation: 1. Dezember 2000 Für meine ganz besondere FAMILIE Inhaltsverzeichnis

1 WIELANDS GÖTTINNEN DER ANMUT – EIN FORSCHUNGSBERICHT.... 1

1.1 ALLGEMEINER ÜBERBLICK ÜBER DIE WIELANDSFORSCHUNG...... 2 1.2 WIELAND-REZEPTION NACH 1945 (THEMEN, METHODEN, TENDENZEN...... 7 1.3 KONSEQUENZEN FÜR DIE WIELANDFORSCHUNG...... 17 1.4 NEUERE FORSCHUNGEN IM ZUSAMMENHANG MIT DEM THEMA DER ARBEIT...... 18 1.4.1 Wielands „große“ Wandlung – Vom Platoniker zum Vertreter der „Philosophie der Grazien“...... 18 1.4.2 Neuere Untersuchungen zu den Graziendichtungen...... 24 1.4.2.1 Wielands „Musarion“ – ein Text, über den es nichts mehr zu sagen gibt?...... 24 1.4.2.2 „Die Grazien“...... 33 1.4.3 Die emanzipierte Frau in Wielands Weltbild...... 36 1.4.4 Wieland und die Antike...... 43 1.4.5 Wieland und seine Zeitgenossen in Leben und Werk (Beziehungen zu Shaftesbury, Goethe, Lessing)...... 48 1.4.6 „Anmutige Beredsamkeit“ – Wieland und die Rhetorik...... 52 1.4.7 Der Formkünstler Wieland – Wirkungsabsichten und ästhetische Gestaltungsmittel...... 54 1.4.7.1 Wieland und die Verserzählungen...... 54 1.4.7.2 Wielands Graziendichtungen und das literarische Rokoko...... 57 1.4.7.3 Ästhetische Gestaltungsprinzipien und dichterische Ausdrucksmöglichkeiten.. 66 1.4.7.4 Wielands Erzählkunst – Sprache und Stil...... 68 1.4.7.5 Wieland und der fiktive Leser – Leserrollen, Leserfiguren)...... 72 1.4.7.6 Wielands Stilideale: Die Kunst der Grazien – Poesie des Stils...... 74 1.4.7.7 Die Figur der Ironie als ein Beispiel für Wielands Stilmittel...... 76 1.4.8 Forschungen zu Wielands Natur- und Landschaftsmotivik...... 77 1.4.9 Abschließende Bemerkungen...... 79

2 EINLEITUNG...... 81

3 DIE CHARITEN IN DER ANTIKE...... 89

3.1 ALLGEMEINES...... 89 3.2 GENEALOGIE UND NAMEN DER CHARITEN...... 92 3.3 KULTE UND VEREHRUNG...... 95 3.4 AUSBREITUNG DER CHARITENVEREHRUNG UND DAS VERHÄLTNIS ZU ANDEREN GOTTHEITEN...... 100 3.5 DIE CHARITEN IN DER DICHTUNG UND IHRE VERBINDUNG ZU DEN MUSEN...... 103 3.6 DIE CHARITEN IN DER BILDENDEN KUNST...... 112 3.7 „CHARIS“ IN DER ANTIKE...... 115 3.8 DIE CHARITEN IN DER LITERATUR BIS ZUM ENDE DES 17. JAHRHUNDERTS...... 121

4 DER ANMUTSBEGRIFF IM 18. JAHRHUNDERT...... 123

4.1 VORAUSSETZUNGEN IN DER DEUTSCHEN ANAKREONTIK...... 123 4.2 „ANMUT“. „GRAZIE“ und „REIZ“ BEI DEN ÄSTHETIKERN DES 18. JAHRHUNDERTS...... 130 4.3 „DIE „SCHÖNE SEELE“ BEI WIELAND...... 139 5 DIE GÖTTINNEN DER ANMUT – Entwicklung des Grazienbildes...... 149

5.1 „THEAGES ODER UNTERREDUNGEN VON SCHÖNHEIT UND LIEBE“ - EIN FRAGMENT...... 149 5.1.1 Entstehung des Werkes und Verbindung zu anderen Dichtungen...... 149 5.1.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Theages“...... 152 5.1.3 Namen und Herkunft der weiblichen Figuren...... 160 5.1.4 Äußere Erscheinung und Lebensweise...... 165 5.1.5 Charakter und Temperamente...... 166 5.1.6 Anmut in Natur und Landschaft...... 176 5.1.7 Ästhetische Gestaltungsmittel des Fragments...... 183 5.1.7.1 Dichtungstheoretische Aspekte...... 183 5.1.7.2 Formale Aspekte...... 186 5.1.7.3 Stilelemente...... 191

5.2 „MUSARION ODER DIE PHILOSOPHIE DER GRAZIEN“ EIN GEDICHT IN DREI BÜCHERN...... 196 5.2.1 Entstehung des Werkes und gleichzeitige Arbeiten an anderen Dichtungen...... 196 5.2.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Musarion“...... 202 5.2.3 Name und Herkunft der Titelfigur...... 213 5.2.4 Äußere Erscheinung und Lebensweise...... 217 5.2.5 Charakter und Temperament von Musarion...... 236 5.2.6 Schauplätze und Naturschilderungen...... 247 5.2.7 Wirkungen auf Zeitgenossen...... 252 5.2.8 Ästhetische Gestaltungsmittel...... 257 5.2.9 „Grazie“ als sprachliches Ausdrucksmittel...... 265

5.3. „DIE GRAZIEN“. EIN GEDICHT IN SECHS BÜCHERN...... 280 5.3.1 Entstehung des Werkes und gleichzeitige Arbeit an anderen Dichtungen...... 280 5.3.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Die Grazien“...... 281 5.3.3 Name und Herkunft der weiblichen Figuren...... 286 5.3.4 Äußere Erscheinung der Grazien...... 289 5.3.5 Wesen und Einfluß der Grazien...... 292 5.3.6 Schauplätze und Naturschilderungen...... 299 5.3.7 Wirkungen auf Zeitgenossen...... 301 5.3.8 Ästhetische Gestaltungsmittel...... 304 5.3.8.1 Dichtungstheoretische Aspekte...... 304 5.3.8.2 Formale Aspekte...... 306 5.3.8.3 Wielands Stilideal...... 308

6 EXKURS: WIELAND UND DIE GRIECHISCHEN HETÄREN...... 313

ANMERKUNGEN...... 323

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS...... 324

LITERATURVERZEICHNIS...... 327

VERSICHERUNG...... 365

LEBENSLAUF

SUMMARY 1

1 Wielands Göttinnen der Anmut - ein Forschungsbericht

Der „negative Klassiker“1 - die Rezeptionsgeschichte von Wielands Werk „Einen Dichter haben die Deutschen, auf welchen sie mit Recht stolz sind. Als Jüngling sang er aus dem Himmel ätherische Lieder herab, in welchen auch seine strengsten Kunstrichter das große Genie immer erkannt haben; als Mann stieg er zur Erde hernieder und spottete in komischen Gedichten attischer Feinheit und ächter sokraticher Laune“2.

„Fast jeder, der in den letzten 75 Jahren über C. M. Wieland schrieb, begann mit der Feststellung: Er wird nicht mehr gelesen. Daß 1984 ein preiswerter Nachdruck der Ausgabe letzter Hand von Wielands Sämmtlichen Werken erschien, daß drei Jahre später der amerikanische Germanist Thomas C. Starnes seine verdienstvolle 3bändige Chronik von Leben und Werk des Dichters vorlegte, hat wenig daran geändert: die „Sämmtlichen Werke“ wurden zunächst rasch, dann langsam verkauft und schließlich verramscht, die Chronik erwies sich als unverzichtbare Hilfe für Interessierte, aber gelesen wird der deutsche – wie Napoleon ihn nannte – nach wie vor nur von einer Minderheit“3.

Zwischen diesen beiden Zitaten liegen über zweihundert Jahre, in deren Verlauf Wieland vom Nationalautor zum „negativen Klassiker“, zu einer Randfigur der Literaturgeschichte wurde.

Der Forschungsbericht gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil wird in knapper Form die Rezeptionsgeschichte Wielands im 18. Jahrhundert, nach der Verdammung durch die Romantiker und in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts nachgezeichnet, um die Forschungsergebnisse im zweiten Teil besser einordnen zu können. Der Schwerpunkt des Berichtes liegt auf der Auswertung wissenschaftlicher Beiträge, die nach 1945 im Zusammenhang mit dem Thema dieser Studie erschienen sind . Sie sollen einen Überblick über die Wielandforschung geben. Dabei läßt es sich nicht vermeiden, auf Beiträge zurückzugreifen, die zum Teil in der Dissertation aufgearbeitet werden4.

1 Friedrich Schlegel erhebt in einem Brief an Caroline Schlegel vom 20. 10. 1798 gegen Wieland den Vorwurf, er sei ein „negative(r) Classiker“; Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz verm. hg. Erich Schmidt, 2 Bde., Leipzig 1913, Bd. 1, S. 488; vgl. auch Herbert Jaumann: Vom ‚klassischen Nationalautor‘ zum ‚negativen Classiker‘. Wandel literaturgesellschaftlicher Institutionen und Wirkungsgeschichten am Beispiel Wielands, in: Klassik und Moderne. Festschrift für Walter Müller-Seidel, hg. K. Richter/J. Schönert, Stuttgart 1983, S. 3-26 2 Friedrich Justus Riedel: Briefe über das Publikum (1768), Wien 1974, S. 100. 3 So in der Monographie von Irmela Brender: in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek 1990, S. 7; vgl. zu der Begegnung Wielands mit Napoleon u. a. Hans Blumenberg: „Das Erschrecken des Aufklärers vor dem Vollstrecker der Revolution: Zum 250. Geburtstag von Christoph Martin Wieland (5. September), in: Neue Züricher Zeitung 3./4. 9. 1983. Blumenberg vergleicht diese Begegnung mit der zwischen Goethe und Napoleon. 4 Ein aktueller zusammenfassender Forschungsbericht zu Christoph Martin Wieland, auf den im Rahmen dieses Berichts verzichtet wird, findet sich bei Erhart, Selbstaufklärung, S. 1-22. 2

1.1 Allgemeiner Überblick über die Wielandforschung

Wieland und sein umfangreiches Werk waren zu seinen Lebzeiten sehr populär. Nach seinem Tode sind sie bis auf wenige Ausnahmen für ein Jahrhundert aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verdrängt worden. Über die Gründe und Ursachen für dieses offensichtliche Mißverständnis gibt es zahlreiche wissenschaftliche Deutungsversuche. Für diesen in der deutschen Literaturgeschichte bei einem Autor seiner Bedeutung wohl einmaligen Vorgang gibt es bis heute keine überzeugende Erklärung5. Noch 1813 formuliert Goethe in seiner berühmten Logenrede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“, daß die Nachwelt dem Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren werde, denn noch war Wieland ein bedeutender und einflußreicher Autor von großer Popularität. „Die Wirkungen Wielands auf das Publikum waren ununterbrochen und dauernd. Er hat sein Zeitalter sich zugebildet, dem Geschmack seiner Zeitgenossen sowie ihrem Urteil eine entschiedene Richtung gegeben, dergestalt, daß seine Verdienste schon genugsam erkannt, geschätzt ja geschildert sind“6. Doch Goethes Wunsch, die Zeugnisse von Wielands Lebens und Wirken sollten nun mit Sorgfalt gesammelt und die Nachkommen auf diese Weise in die Lage versetzt werden, „mit standhafter Neigung ein so würdiges Andenken immerfort zu beschützen, zu erhalten und zu verklären“7, ist nicht in Erfüllung gegangen. Wieland verliert mit seinem Publikum zugleich seinen Ruf als Autor. Er ist im öffentlichen Bewußtsein bald kaum noch gegenwärtig. Noch im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, in dem die deutsche Dichtung die Periode der Klassik erreicht, ist Wielands allgemeine Geltung „als einer der größten Schriftsteller Deutschlands so gut wie unbestritten“8, obwohl er bereits zur Zeit der Französischen Revolution spürt, daß das Interesse des Lesepublikums nachzulassen beginnt.

5 Die Frage nach der Unbekanntheit von Wieland und seinem Werk blieb auch am Ende des Kolloquiums in Halberstadt 1983 offen; vgl. Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 2. 6 Johann Wolfgang Goethe: Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 16, Berlin/ 1964, S. 482. 7 Johann Wolfgang Goethe, Werke, Bd. 16, S. 500. Vgl. hier Goethe in zahlreichen Äußerungen, so in den „Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan“: Dieser vorzügliche Mann darf als Repräsentant seiner Zeit angesehen werden; er hat außerordentlich gewirkt, indem gerade das, was ihn anmuthete, wie er sich’s zueignete und wieder mittheilte, auch seinen Zeitgenossen angenehm und genießbar begegnete“; Johann Wolfgang Goethe: Werke, Kommentare und Register (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden). Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 12. neubearb. Aufl., München 1981, Bd. 2, S. 256. Wieland war der meist übersetzte deutsche Schriftsteller seiner Zeit; die Audienz bei Napoleon in 1800 demonstriert die Höhe seines europäischen Ansehens. 8 Vgl. dazu Schelle, Forschungsbeiträge, S. XXVIII. 3

Im 19. Jahrhundert9 wird in der Wieland-Forschung immer wieder von dem undeutschen, „unsittlichen“10, oberflächlichen Dichter gesprochen. Der von den Romantikern und deren ästhetischer Neuorientierung verhängte „Belagerungszustand“11 ist nie ganz aufgehoben worden. Nach Schelle12 ist die von den Gebrüdern Schlegel und den ihnen Nahestehenden geplante, mit beleidigenden Äußerungen im „Athenäum“ (1799) begonnene, dann aber nicht weiter zur Ausführung gekommene öffentliche „Hinrichtung“13 Wielands einer der berühmtesten, wohl eher berüchtigsten Vorfälle der neueren deutschen Literaturgeschichte14.

9 Vgl. dazu besonders Allan M. Cress: The Decline of a Classic. The Critical Reception of Wieland in Nineteenth-Century Germany, Diss. Urbana, III. 1952. 10 Sengle, S. 9f. 11 Brief Friedrich Schlegels an Caroline Schlegel vom 20. 10. 1798 (Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz verm. hg. Erich Schmidt, 2 Bde., Leipzig 1913, Bd. 1, S. 487). 12 Schelle, Forschungsbeiträge, S. XXIX.. 13 Um die Handlungsweise der Gebrüder Schlegel zu verstehen und den Vorfall eher als eine Episode einzugrenzen, hat u. a. Ernst Behler das Verhältnis zwischen Wieland und den Brüdern Schlegel von ihren literarischen Anfängen bis in die späteren Jahre verfolgt (Das Wieland-Bild der Brüder Schlegel, in: Schelle, Forschungsbeiträge, S. 349-393). Nach Schelle ist Wieland – von den persönlichen Motiven gegen den Menschen abgesehen – für die Brüder Schlegel gleich dem Gegenspieler Klopstock die „Verkörperung eines vergangenen Zeitalters, das es abzulösen galt“. Wieland und seine Zeitgenossen genügen den neuen Maßstäben nicht mehr, die die Brüder Schlegel im Bereich der Literatur aufgestellt haben. Dennoch erkennen sie später Wielands Verdienste um die deutsche Literatur an, zumal auf dem Gebiet der Verskunst, soweit diese mit dem romantischen Literaturkanon in Einklang zu bringen war; vgl. Schelle, Forschungsbeiträge, S. XXIX. Zum Wieland-Bild der Brüder Schlegel sind neben der materialreichen Arbeit von Ludwig Hirzel: Wielands Beziehungen zu den deutschen Romantikern, 1904, vor allem zu nennen: - Albert R. Schmitt: Wielands Urteil über die Brüder Schlegel. Mit ungedruckten Briefen des Dichters an Carl August Böttiger, in: Journal of English and Germanic Philology 65 (1966), S. 637-661. - Ernst-August Meier: Die Ironie in Wielands Versepen, Hamburg 1970; er hat sich ausführlich mit der Kritik der Romantiker an Wieland auseinandergesetzt, S. 6-15. - Ruppel, S. 37-55. - Hans-Jürgen Gaycken: Christoph Martin Wieland. Kritik seiner Werke in Aufklärung, Romantik und Moderne, Bern/Frankfurt/Main 1982. - Heinz Härtl: ‚Athenaeum-Polemiken, in: Hans-Dietrich Dahmke/Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen, 2 Bde., Berlin/Weimar 1989, zu Wieland: Bd. 2, S. 261-274 14Vgl. zur neueren Diskussion über die Abwertung Wielands durch die Romantik und den literarischen „Rufmord“ Sommer, S. 53; er spricht von einer „systematischen Zerstörung der Wielandschen Reputation durch die Schlegels“. Diese These, daß die Kritik der Frühromantiker ausreicht, um „Wieland aus dem zentralen literarischen Gesichtskreis fast eines ganzen Jahrhunderts zu verdrängen“ (S. 53) ist bedenklich; sie muß auch auf den Dichter zurückfallen und wirft die Frage auf, wie hoch ein Autor einzuschätzen ist, den einige kritische Aphorismen dauerhaft aus dem öffentlichen Bewußtsein einer Nation verbannen konnten. Der Mangel dieser These liegt darin, daß sie auf breiter Materialgrundlage nicht überprüft worden ist; auch Oettinger, der sie durch den Nachweis zu erhärten versucht, daß sich die „kritischen Formulierungen der Romantiker... wie rote Fäden durch die großen Literaturgeschichten“ ziehen (Oettinger, S. 15), begnügt sich mit wenigen Zitaten, die den fortwirkenden Einfluß der frühromantischen Kritik belegen sollen. Sie belegen diesen noch nicht einmal in allen Fällen, sondern enthalten auch Argumente und Wertungen, die keineswegs romantischen Ursprungs sind. Es ist unbestritten, daß die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sich wiederholt der Polemik der Romantiker bediente, es wäre aber voreilig, den Verlauf der Wieland-Rezeption in Deutschland darauf zu beschränken. Nur bei selektiver Kenntnisnahme des rezeptionsgeschichtlichen Materials ist die Auffassung zu vertreten, „daß der wirkungsmächtige Literaturkanon der Romantik die Rezeption Wielands im ganzen 19. und noch im 20. Jahrhundert in besonderer Weise bestimmt“ habe; so Fritz Martini und Sengle. Die Aufarbeitung der einschlägigen rezeptionsgeschichtlichen Dokumente ergibt ein anderes, differenzierteres Bild; vgl. dazu Thomas Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit: C. M. Wielands „Comische Erzählungen“ und die Gattungsgeschichte der europäischen Verserzählung im 17. und 18. Jahrhundert, Freiburg/Br. 1994, S. 4ff. 4

Die sich etablierende Germanistik des frühen 19. Jahrhunderts15 mit ihrer Verpflichtung auf die Romantik schreibt die negativen Urteile über die Aufklärung im allgemeinen und über Wieland im besonderen fort und trägt so auch zur teilweisen Verdrängung seines literarischen Werkes aus dem Bewußtsein des Lesepublikums bei. Der „Mangel an Tiefe“, seine „Mittelmäßigkeit“16, die Wieland ebenso wie seine zu elegante, zu ironische und geistreiche Schreibart vorgeworfen werden, haben dazu beigetragen, ihn aus dem Kanon der klassischen Werke und Autoren zu verbannen17 und ihn nur noch zum Gegenstand von Festreden, Kolloquien und germanistischen Seminaren, weniger jedoch zum Lesestoff oder gar zur Schullektüre zu befördern. Wieland gerät fast in Vergessenheit. Die Literaturgeschichts- schreibung des 19. Jahrhunderts zeigt wenig Verständnis. Ein unsachlicher, teilweise polemischer Ton setzt sich in der Behandlung des Autors durch. „Wieland hat noch immer eine ansehnliche Partei gegen sich“, beklagt Gruber in der Vorrede zu seiner für damalige Zeit verdienstvollen, aber kaum beachteten, heute aber dokumentarisch ergiebigen Lebensbeschreibung18. Die Literaturwissenschaft präsentiert den Vermittler der Ideen der Aufklärung, den Dichter der „Philosophie der Grazien“ nur als Vielschreiber, tändelnden Rokoko-Autor und Nachahmer, dem man zwar eine gewisse Wirkungsabsicht bei seinen Lesern apostrophiert, von dessen Werken man aber nicht annimmt, daß sie bei späteren Generationen noch ein besonderes Interesse finden werden19.

15 Zur Geschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, Stuttgart 1989. 16 Vgl. dazu Joseph Freiherr von Eichendorff. Er beurteilt Wielands Denken und Schaffen im zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext: „Ratlos, wie er war und beständig blieb, schwankte er lange unschlüssig zwischen den Extremen, die einander wechselseitig neutralisieren und ihn eigentlich alle inhaltlich abstießen, zwischen Altertum und Christentum, zwischen forcierter Andacht und systematischer Zweifelsucht, bis er endlich in der Mitte sein rechtes Maß, den exklusiven Beruf der Mittelmäßigkeit gefunden, und den konfusen Entschluß gefaßt hatte, ‚dem Kopfe nach ein Freidenker und im Herzen der tugendhafteste Mann zu werden‘. Ein temperierter Grundsatz, den er insofern auch praktisch ausfüllte, als er im Buche stets der ausgemachteste Libertin, und zu Hause der korrekteste Spießbürger war“, in: ders.: Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum“ (1851), in: Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 4 Bde., hg. Gerhart Baumann, in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart 1957f., Bd. 4, Stuttgart 1958, S. 645-864, S. 760; vgl. auch ders.: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1846/47), in: ebd., S. 9-424, S. 187. 17 Zum Funktionswandel der Literaturgeschichtsschreibung und den damit einhergehenden Wandel des Klassikerbegriffs vgl. Herbert Jaumann: Vom „klassischen Nationalautor“ zum „negativen Classiker“, in: Klassik und Moderne. Festschrift für W. Müller-Seidel, hg. K. Richter/J. Schönert, Stuttgart 1983, S. 3-25; vgl. auch Joergensen/Jaumann/McCarthy/Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, S. 185-207. 18 Wielands Leben mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. 4 Theile, hg. J. G. Gruber (= C. M. Wielands Werke, Bd. 50-53); Leipzig 1827/28, Teil I, S. IXf. (Nachdruck Hamburg 1984 = Anhang zur Hamburger Reprint-Ausgabe) 19 In der Schule durfte man seine Werke nicht übersehen, mußte aber mit Vorsicht die Gefahren darin unterstreichen. Moralstrenge Lehrer hielten es für nötig, über die sinnlichen Perioden hastig hinwegzueilen: „Die Herren Professoren schütteln sich und die Herren Sekundaner bekommen lüsterne Augen. Rasch, rasch vorbei!“ (Leo Colze: Die romantische Erotik bei Wieland, in: Der Merker 5 (1914), T. 2, S. 253-256, S. 253; als besonders ironisch ist dieser schon mit der ‚Blut- und Boden-Terminologie‘ angefüllte Aufsatz aus heutiger Sicht einzustufen, wenn Colze 1914 Wielands Liebeskonzept ausgerechnet mit dem Terminus „romantisch“ zu 5

Die einflußreichsten Literaturhistoriker verweigern Wieland den Titel eines deutschen Dichters. In diesem Zusammenhang wird von ihm als einem plagiierend-imitierenden Schriftsteller gesprochen. Man wirft ihm vor allem vor, er preise in seinen „Comischen Erzählungen“ und in „Musarion“ die Freuden der Sinnlichkeit und widme sich dem frivolen heiteren Lebensgenuß20. Die Verleumdung als Geschmacks- und Sittenverderber werden von Gervinus21, Cholevius22, Vilmar23 und Bartels24 fortgeschrieben und wiederholt. Wieland scheint zu einem Ärgernis für die Literaturgeschichtsschreibung geworden zu sein.

erfassen sucht. Gegenüber solchen Bestandsaufnahmen und Bewertungen können die 1979 von Tenzler gemachten Ausführungen hervorgehoben werden, der im Nachwort zu seiner Anthologie erotischer Poesie und Prosa Wielands diesem eine „höhere Absicht einer anmutigen und kritischen Philosophie der Liebe“ zuschreibt: Die Kunst zu lieben. Erotische Dichtung und Prosa von Christoph Martin Wieland, hg. Wolfgang Tenzler, Berlin 1979, S. 383-394, S. 389). Das gleiche pädagogische Problem läßt sich im Untertitel des 1876 von F. Siegfried bearbeiteten und in Leipzig erschienenen Buches Wielands „Erzählungen. Erwachsenen Mädchen zu eigen gemacht“ erkennen. Auch heute gibt es kaum literarische Lesebücher, in denen Wieland mit einem seiner kleineren Werke vertreten ist; seine großen Romane sind als Schullektüre nicht gefragt. Auch am Ende des 20. Jahrhunderts gibt es kaum Hinweise, daß Wieland wieder „gelesen“ wird. Das geht u. a. aus einer von Literatursoziologen 1970 und 1978 durchgeführten und für Halle und Leipzig repräsentativen Befragung nach Lektüre und bevorzugten Schriftstellern hervor, in der der Name Wieland bzw. eines seiner Werke nicht auftaucht (Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst, Berlin/Weimar 1978 (Tabellen 22 und 23, S. 254f.); Leseerfahrungen – Lebenserfahrungen. Literatursoziologische Untersuchungen. Herausgeberkollektiv unter der Leitung von D. Sommer, Berlin/Weimar 1983 (Tabellen 19 und 20, S. 136 und 141). Ganz abgesehen davon, was auf dem Lehrplan der Gymnasien steht, scheint die mediale Zersetzung der alten „Allgemeinbildung“ bereits den rein sprachlichen Zugang zu Wieland erschwert zu haben. Selbst Germanisten empfinden heute den an geschulten Periodenbau von Wielands Prosa als umständlich und langatmig. Die sprachliche Form seines Werkes gilt nicht nur nicht klassisch-vorbildlich, sondern als nahezu unüberwindliche Barriere, die den Zugang versperrt. „Ein Teil der von Wieland behandelten Probleme sowie seine Gestaltungsweise gehören einer literarischen Periode an, deren Leistung fast vollständig in den Werken der Klassik im engeren Sinne aufgegangen sind. Die von Wieland bevorzugte intellektuelle Diskussion..., die zahlreichen mythologischen Verhüllungen und Anspielungen auf die antike Geschichte, ohne deren Kenntnis manche Anliegen Wielands unverständlich bleiben müssen; ... sowie ein Stil, dem oft mehr die ausmalende Breite als Straffheit und klare Durchsichtigkeit eigen ist – das sind Faktoren, die der Wirkung von Wielands Werken über seine Epoche hinaus abträglich waren und sind. Der größte Teil seines Schaffens ist nur noch historisch interessant – da allerdings als Wert erster Größenordnung“ – so urteilt eine Literaturgeschichte der ehemaligen DDR (Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur, 6. Aufl., Berlin-Ost 1977, S. 603). 20 Nach Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. Christoph Martin Wieland und die Rhetorik, Stuttgart 1990, S. 1f. 21 Es ist die erste deutsche Literaturgeschichte großen Stils, die zwischen 1835 und 1842 erscheint und gegen Wielands „Principienlosigkeit, diese Passivität, dieses Gehenlassen der Welt“ wettert; Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Teil IV, Leipzig 1840. Bei Gervinus heißt es in der „Geschichte der Deutschen Dichtung“, 5. Aufl., hg. K. Bartels, Leipzig 1873, Bd. 4, S. 319: „falsche Muster haben seinen (Wielands, d. Verf.) Geschmack und Vortrag verdorben“; an anderer Stelle sogar: „Vielleicht war nie ein Mann so wenig zum Dichter geschaffen wie Wieland“ (S. 331). 22 Carl Leo Cholevius: Geschichte der deutsche Poesie nach ihren antiken Elementen, Teil I, Leipzig 1854; Cholevius versucht zwar, Wieland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn er betont, daß das alte „Lob, das Wieland unser erster gesellschaftlicher Schriftsteller war, darf nicht zu niedrig angeschlagen werden“ darf (S. 609), er stellt aber an anderer Stelle fest, doch „darf in Betracht kommen, daß Wieland seine Verirrungen zu Grundsätzen stempelte und dadurch die Kritik herausforderte; denn seine lüsternen Schilderungen sind hauptsächlich deswegen verwerflich, weil sie auf eine ganz faule Moral hinweisen“ (S. 592). 23 Für die Mitte des 19. Jahrhunderts dürfte hinsichtlich des vorherrschenden deutschen Literaturgeschmacks kaum eine Literaturdarstellung repräsentativer sein als die seit 1848 in immer neuen und erweiterten Auflagen erscheinende „Geschichte der deutschen National-Literatur“ von August Friedrich Christian Vilmar. Bis 1883 (bevor eine Neubearbeitung folgte) erreichte diese Literaturgeschichte 21 Auflagen. Alles, was Wieland geschrieben habe, so behauptet Vilmar in der 11. Auflage seiner „Geschichte“, Marburg/Leipzig 1866, sei „üppige Näscherei, wenn nicht geradezu Gift, durch welches die edelsten Organe zerstört und die kommenden 6

Ihren Tiefpunkt erreicht die Rezeption Wielands Anfang des 20. Jahrhunderts25, wie u. a. die Äußerungen anläßlich seines 200. Geburtstags 1933 von Walter Benjamin26 und Ewald Reinhard27 belegen. Die zu Beginn dieses Jahrhunderts einsetzende philologisch-orientierte Forschung bleibt von dem negativ tradierten Wieland-Bildes nicht unberührt28. Unter dieser Prämisse werden in einer Reihe von Detailstudien, Dissertationen und Schulprogrammen viele Einzelprobleme in Angriff genommen29. In den Untersuchungen werden hauptsächlich biographische Details und Motivanalysen30 erörtert. In der Zeit des Positivismus interessieren sich die Germanisten vor allem für die Quellenforschung31. Sie fördern zu Wieland und seinem Werk manches Wissenswerte zutage, verlieren sich teilweise aber in Kleinigkeiten. Die Grenzen des positivistischen Ansatzes verdeutlicht Hans Sittenbergers Studie über die

Geschlechter geschwächt, gelähmt, verkrüppelt werden“; vgl. auch A. Koberstein: Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 5. Aufl., Dresden 1872, Teil I, S. 460f. 24 Vgl. Adolf Bartels: Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. I, Leipzig 1924, S. 412ff.; ders.: Einführung in die Weltliteratur im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes, Bd. I, Leipzig 1913, S. 441. 25 Zum negativen Wieland-Bild in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung und der literarischen Öffentlichkeit im 19., beginnenden 20. Jahrhundert vgl. die Einleitung bei Schelle, S. 1ff. 26 Benjamin versucht zwar, Wieland historisch einzuordnen und ihm gerecht zu werden, dennoch bemerkt er, „Wieland wird nicht mehr gelesen. Es hieße ihm und seinem Jubiläum wenig Ehre machen, an dieser Tatsache vorbeizugehen oder Hinweise von zweifelhaftem Wert auf die ‚Stellen‘ zu geben, die heute noch lesbar sind“; Walter Benjamin: Christoph Martin Wieland. Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt (1933), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. II/1, Frankfurt/Main 1980, S. 395-406, S. 399. Nach Schelle ist nach „dem damaligen Stand des Wissens um Wieland (...) dieser Beitrag eher positiv zu nennen“ (Brief vom 16. 10. 1999 an Prof. Dr. Joachim Dyck) 27 „Unter den sogenannten Klassikern unseres deutschen Schrifttums (ist Wieland) seinem Werte nach am schwersten einzuschätzen. Ein schönes Talent, aber vielfach an Stoffe verschwendet, die ein wahrer Dichter meiden sollte; denn der echte Poet ist fromm, in dem ‚höheren‘ Sinne der inneren Ergriffenheit, der Bezogenheit auf Irrationales, Höheres, Göttliches. Von diesem höheren Dichtertum besaß der Schwabe Wieland nichts; selbst in seinen besten Poesien lauert Satire, diese wuchernde Krebskrankheit (...). Die Nachwelt hat die Pflicht, diesen Befund festzustellen und einem Lobpreise Wielands den entsprechenden Dämpfer aufzusetzen“; Ewald Reinhard: Christoph Martin Wieland. Zum 200jährigen Geburtstage des Dichters am 5. September 1933, in: Der Gral. Monatsschrift für die schöne Literatur, 27 (1933), H. 11, S. 858. 28 Für Meier ist das nicht überraschend, wenn man sich darüber im klaren ist, „daß die vorgenommene Trennung zwischen Wielandbild und Wielandforschung künstlicher Art ist und nur operativen Wert haben kann. Beide Größen stehen in Korrelation zueinander"“ Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 21. 29 Vgl. dazu die ausführliche Bibliographie im Anhang zur Teilbiographie von Victor Michel: Christoph Martin Wieland. La formation et l’Evolution de son Esprit jusqu’en 1772, Paris 1939. 30 Daß diese Materialaufbereitung für die Erstellung eines neuen wissenschaftlich-kritischen Gesamtbildes Wieland nicht fruchtbar werden konnte, wird deutlich an dem Zusammenbruch des Vorhabens einer groß angelegten Biographie, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg – nach dem Vorbild von Erich Schmidts „Lessing“ und Rudolf Hayms „Herder“ – plante. Dieses Scheitern eines gründlichen und geistvollen Forschers scheint symptomatisch zu sein. Verdienstvolle spätere, allerdings bescheidene Arbeiten von Emil Ermatinger (Die Weltanschauung des jungen Wieland, Frauenfeld 1907) und Karl Hoppe (Der junge Wieland. Wesensbestimmung seines Geistes, Leipzig 1930) spiegeln noch die gleiche Unsicherheit wider, indem sie sich in der Deutung Wielands an die inzwischen erstarkte Goethe-Philologie und an die Leitlinien der Goethedeutung anlehnen. Ermatinger bezieht sich auf den zentralen Deutungsbegriff der Wielandschen „Anempfindung“. Diese negative Grundauffassung kehrt wieder in seinem Aufsatz von 1948. Das von Wieland selbst stammende, in einem Brief an Zimmermann vom 27. 3. 1757 geprägte Bild vom „Chamäleon“ metaphorisch umwandelnd, schreibt er: „Diese Beweglichkeit ist der Grund seiner Persönlichkeit. (...) Sein Geist ist eine Wasserfläche, die Himmel und Erde in sich spiegelt und jeden Augenblick Gestalt und Farbe wechselt“; Emil Ermatinger: Wieland und die Ironie, in: ders.: Deutsche Dichter 1700-1900, Bonn 1948, S. 124-150, S. 134. 31 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. J. R. Asmus: Die Quellen zu Wielands „Musarion“, in: Euphorion 5 (1898), S. 267-290. 7

„Komischen Erzählungen“, der sich in Aufzählungen von Stilmitteln und Versmaßen erschöpft, ohne zu einer Gesamtinterpretation der Texte zu gelangen32. Daß die Negativprägung und Standardisierung des Wielandbildes, wie sie für das 19. Jahrhundert stichwortartig sichtbar wurden, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weiterwirken, kann durch Äußerungen Sengles von 1948 belegt werden: „Wenn der Verfasser gefragt wurde, woran er arbeite, und er auf Wieland hinwies, so war beim durchschnittlich Gebildeten ein schlecht verhehlter Abscheu zu bemerken, obwohl in den wenigsten Fällen irgendeine Kenntnis des Dichters bestand. Man achtet höher als Wieland, nicht weil er ein größerer Dichter ist, sondern weil er vom jungen Goethe bis Richard Wagner zum Symbol eines echt deutschen Dichtertums erhoben wurde. Auch Wieland war ein Symbol, aber ein negatives“33

1.2 Wieland-Rezeption nach 1945 (Themen, Methoden, Tendenzen)

Erste Rezeptionsphase (bis etwa 1955) Größeren Einfluß als die Gedenktage von 1913 und 1933 hat der historische Einschnitt von 1945 auf die Wieland-Rezeption. Die Werke und Übersetzungen werden unbelastet von kulturpolitischen Querelen betrachtet34. Es wird neben dem Bemühen, Anschluß an die Wieland-Forschung zu gewinnen, die sich inzwischen im Ausland entwickelt hat35, das Bedürfnis der Literaturwissenschaft nach einer neuen und soliden Basis für die Beschäftigung mit dem Werk Wielands deutlich. Die deutsche Wielandforschung36 versucht, eine

32 Hans Sittenberger: Untersuchungen über Wielands Komische Erzählungen, in: Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte IV (1891), S. 281-317, 406-439; V (1892), S. 201-223. 33 Sengle, S. 10. Die Macht dieses Vorurteils wird auch indirekt noch spürbar in der Beteuerung Seifferts 1953: „Wieland erscheint uns heute nicht mehr undeutsch, unchristlich, unsittlich“; Seiffert, Wielandbild , S. 80-102, hier S. 101. 34 Seit der Jahrhundertwende hat sich Wieland mit den vorherrschenden nationalen und irrationalen Tendenzen in der deutschen Literaturwissenschaft kaum in Einklang bringen lassen 35 Vgl. dazu Sommer, S. 55f; Genaueres auch bei Martini, Wieland-Forschung, S. 269-280. 36 Siehe hierzu u. a. die Forschungsberichte von - Martini, Wieland-Forschung, 1950. - Seiffert, Wielandbild, 1953. - Anger, Rokoko-Dichtung, 1963. - Hanna Brigitte Schumann: Zur Literatur über Wielands Sprache und Stil, in: Studien zur neueren deutschen Literatur, hg. Hans Werner Seiffert, Berlin 1964, S. 7-31. - Dieter Kimpel: Bericht über neuere Forschungsergebnisse 1955-1964, in: E. A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775, Stuttgart 1966, S. 509-511. - Müller-Solger, Publikationen, 1972. - Karl S. Guthke: Alptraum der Vernunft? Auf der Suche nach einem neuen Wielandbild (1977), in: - Schweizer Monatshefte 56 (1976/77), S. 1109-1113; WA in: ders. Erkundungen. Essays zur Literatur von Milton bis Traven, New York/Frankfurt/Main 1983, S. 141-155. - Thomé, Wielandforschung 1974-1978, 1979. 8

„Ehrenrettung“37 bzw. „Restauration“38 einzuleiten. Eine Bestandsaufnahme der Versäumnisse und Irrwege der deutschen Wielandforschung hat Martini 1948 vorgelegt39. Zwei Jahre später läßt er einen Forschungsbericht folgen, in dem er zeigt, daß die deutsche Literaturwissenschaft im Begriff ist, Anschluß an die ausländische Forschung zu finden40. Dabei nimmt er Bezug auf die inzwischen erschienenen Wielandbücher von Wolffheim und Sengle41. Wenn man heute von einer bescheidenen „Wieland-Renaissance“ sprechen kann, so ist das besonders den bahnbrechenden Arbeiten einiger Germanisten nach dem Zweiten Weltkrieg zu danken. Eingeleitet wird sie mit der bereits während des Krieges begonnenen Monographie von Sengle42. Er geht von den geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen aus und hat eine Fülle nur schwer zugänglichen Materials verarbeitet43. „Das heterogene Werk und der wandlungsfähige Autor sollen damit in einer Gesamtschau dargestellt werden, die die Einheit der Person und des Stils erkennen läßt“44. Im übrigen ist Wieland im wesentlichen der Vorbereiter und Partizipant der Weimarer Klassik45. Bei Sengle

37 Zum Topos der „Ehrenrettung“ vgl. Müller-Solger, Dichtertraum, S. 93f.; Oettinger, S. 20. 38 Wolffheim, S. 9. Bei der ‚Revision‘ des Wielandbildes fällt dem verdienstvollen Buch eine wichtige Rolle zu; kritisch muß jedoch angemerkt werden, daß sich seine Untersuchung auf das Romanwerk beschränkt, das eine perspektivische Einengung darstellt. Er berücksichtigt zu wenig das vielschichtige Oeuvre und die Eigenart der Persönlichkeit Wielands. Die Studie ist eine Art Plädoyer für eine kritische Beschäftigung mit dem „Geist des 18. Jahrhunderts“ (Wolffheim, S. 16). Wielands Biographie, sein Gesamtwerk und der zeitgeschichtliche Hintergrund, in den er eingebettet ist, treten nur eingeschränkt ins Blickfeld. Nach Ruppel ist damit keine ausreichende „Basis für ein neues Wieland-Bild gegeben“, eher werden die bisherigen „Vorbehalte und Schwächen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Autor überkompensiert“ (Ruppel, S. 165). 39 Fritz Martini: Christoph Martin Wieland und das 18. Jahrhundert, in: Festschrift für Paul Kluckhorn/Fritz Schneider, Tübingen 1948, S. 243-265 40 Martini: Wieland-Forschung, S. 269-280; er gibt einen instruktiven Überblick über das bis 1950 erschienene Schrifttum. 41 Wolffheim; Sengle. 42 Sengle. Diese Biographie wird als die erste mit modernen Methoden erarbeitete umfassende Darstellung von Wielands Leben und Werk für dessen Neuentdeckung entscheidend; sie hat über den Kreis der Germanistik hinaus weite Verbreitung und Beachtung gefunden. In vielen inhaltlichen und methodischen Belangen ist Sengles Biographie Wolffheims Studie überlegen. 43 Vgl. dazu Sengles eigene Äußerungen in seinem Buch, S. 573-576; die große Resonanz auf Sengles Monographie ist allein aus den recht umfangreichen Rezensionen ersichtlich; vgl. dazu u. a. - Hermann Schneider: Friedrich Sengle, Wieland, in: The Germanic Review 27 (1952), H. 2, S. 139-141. - Fritz Martini: Wieland-Forschung, S. 278. - Kurt May: Friedrich Sengle, Wieland. Leben, Werk, Welt, Stuttgart 1949, in: Anzeiger für deutsches Altertum 65 (1951/52), S. 162-169. - Max Rychner: Eine Rettung Wielands, in: ders.: Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur, Zürich 1952, S. 68-76; WA in: Neue literarische Welt 3 vom 10. 2. 1952, S. 10. - Emil Staiger: Friedrich Sengle: Wieland, in: Trivium 8 (1950), S. 73-76. - Hans Werner Seiffert: Friedrich Sengle, Wieland, in: Deutsche Literaturzeitung 72 (1951), H. 19, S. 444- 449. - Zu einer kritischen Würdigung kommt Ruppel, S. 168; dort weitere Literatur. 44 Ruppel, S. 166. 45 Vgl. zu diesem Problem den Vortrag von Sengle: Wieland und Goethe, in: Wieland. Vier Biberacher Vorträge 1953, Wiesbaden 1954, S. 55-79. Zur Periodenbezeichnung der Weimarer Klassik und Wieland vgl. u. a. John A. McCarthy: Klassisch lesen. Weimarer Klassik, Wirkungsästhetik und Wieland, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 414-432; dort weiterführende Literatur; vgl. dazu die Replik von Dieter Borchmeyer: Wie aufgeklärt ist die Weimarer Klassik?, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 9 kommt das Rokoko wieder zu Ehren, als dessen wichtigster deutscher Vertreter Wieland wieder entdeckt wird. „Grazie“, „Anmut“, „Reiz“, „Ironie“ und „Formkunst“ sind die Stichworte, die das Wielandbild nun bestimmen – nicht etwa „Aufklärung“. Das Rokoko, in das sich Sengle und seine Nachfolger zurückversetzen, trägt Züge einer kompensatorischen Wunschphantasie, die der Not der Zeit die tröstende Vision eines galanten Arkadiens entgegensetzt46.

Während bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, und teilweise noch danach, vornehmlich das Romanwerk Wielands untersucht wird47, treten um 1950 auch die Versdichtungen in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Zwar fragen Kayser und Preisendanz inzwischen nach dem „modernen Gehalt“ von Wielands Romanschaffen48, aber Staiger, Beißner und Mayer regen zur Beschäftigung mit dem „Verskünstler“ Wieland an49.

Die damalige DDR-Germanistik steuert in den sechziger Jahren wichtige Grundlagen zur Wielandforschung bei, vor allem auf editorischem Gebiet. Diese Bemühungen sind mit dem

(1992), S. 433ff. ; Gottfried Willems: Goethe – ein „Überwinder der Aufklärung“? Thesen zur Revision des Klassik-Bildes, in: GRM NF 40 (1990), H. 1, S. 22-40 und Sven Aage Joergensen fragt 1984: „Ist eine Weimarer Klassik ohne Wieland denkbar?“, in: Unser Commercium. Goethe und Schillers Literaturpolitik, hg. Wilfried Barner/Eberhard Lämmert/Norbert Oellers, Stuttgart 1984, S. 187-192. 46 „Es gehört vielleicht zur Sache selbst, festzustellen, daß meine Wieland-Darstellung nicht erst in der französischen Zone, sondern schon im Krieg unter den trübseligen Verhältnissen beschlossen und begonnen wurde. Man stellte sich damals die Frage, warum man in großer Not Mozart besser hören können als Wagner oder selbst Beethoven und fand die Antwort, daß der Schrei, den die Expressionisten noch so sehr liebten, uns ganz fremd und töricht geworden sei, während eine große bis an den Tod unbesiegbare Heiterkeit uns wohl verständlich und mehr als alles verehrungswürdig erschien“, Sengle, S. 11. 47 Der Versdichter Wieland schien geistesgeschichtlicher Forschung keine lohnende Aufgabe zu sein; vgl. Martini, Wieland-Forschung, S. 268. Das Hauptinteresse galt bis dahin eher dem „Agathon“; siehe dazu die Arbeiten von - Erich Groß: Wielands „Geschichte des Agathon“. Entstehungsgeschichte, Berlin 1930. - Leo Stettner: Das philosophische System Shaftesburys und Wielands Agathon, Halle 1929. - Barbara Schlagenhaft: Wielands „Agathon“ als Spiegelung aufklärerischer Vernunfts- und Gefühlsproblematik, Erlangen 1935. - Georg Raederscheidt: Entstehungsgeschichte, Analyse und Nachwirkung von Wielands Agathon, Diss. Frankfurt 1931. - Marga Barthel: Das ‚Gespräch‘ bei Wieland. Untersuchungen über Wesen und Form seiner Dichtung, Diss. Frankfurt 1939. - Wolfram Buddecke: Wielands Entwicklungsbegriff und die „Geschichte des Agathon“, Göttingen 1966. 48 Wolfgang Kayser: Entstehung und Krise des modernen Romans, Stuttgart 1955 (Sonderdruck aus: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte); Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane von Wieland (Don Sylvio, Agathon), in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, hg. H. R. Jauß, 2. Aufl., München 1969, S. 72-95. 49- Staiger, Musarion, S. 97-114. - Friedrich Beißner: Poesie des Stils. Eine Hinführung zu Wieland, in: Wieland. Vier Biberacher Vorträge 1953, Wiesbaden 1954, S. 5-34. - Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt/Main 1974. 10

Namen Seiffert verbunden50. In der DDR wird Wieland zunächst als „klassisches“ bzw. „historisches“ Erbe“ vereinnahmt und als Vorläufer Goethes geführt51. Systembedingt, aber nicht zu Unrecht, betont die DDR-Germanistik später das gesellschaftskritische Anliegen in Wielands Werk, während der politische Schriftsteller im Westen (noch) nicht wahrgenommen wird52.

Zweite Rezeptionsphase (bis etwa 1980) Die Phase der Rehabilitierung und Revision in der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren Grundtendenz es war, die Aktualität des „humanen Wieland“ zu propagieren (Wolffheim, Sengle, Martini)53, wird durch das Aufkommen neuer Gesichtspunkte und damit verbundenen anderen Fragestellungen abgelöst, die einem aus anderen Gründen „aktuellen“ Wieland gelten. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser „zweiten“ Rezeptionsgeschichte, daß er zunächst als Aufklärer geächtet wird54, dann fast problemlos, von allseitiger Zustimmung begleitet, sich die Umwertung des „Klassikers“ innerhalb der Literaturwissenschaft zum Aufklärer vollzieht55. Es bleibt die Frage, ob diese fast schon kanonische Wieland- „Rehabilitation“56 nicht einem ebenso zweifelhaften Wielandbild Vorschub leistet, wie die bedauerten Fehlleistungen des 19. Jahrhunderts57. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß sich ein Höhepunkt germanistischer Wielandrezeption in den fünfziger Jahren abzeichnet, der

50 So wurde u. a. die seit 1954 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (vorher Preußischen Akademie der Wissenschaften) in Berlin (DDR) herausgegebene Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ von Hans Werner Seiffert betreut; außerdem wurden die Studien zur neueren deutschen Literatur, in denen auch Beiträge zu Wieland erschienen (z. B. Hanna Brigitte Schumann: Zur Literatur über Wielands Sprache und Stil, S. 7-31), von Seiffert herausgegeben; vgl. auch Seiffert, Wielandbild, 1953 51 Vgl. dazu u. a. die romanhafte Biographie von Jutta Hecker: Wieland. Die Geschichte eines Menschen in der Zeit, Weimar 1958, 3. Aufl., Berlin 1984. „Ihm (Goethe) voranzuschreiten, ihm den Weg ebnen wird, zu Bescheidenheit und Mittelmaß auserkoren, C. M. Wieland“, S. 25. Hecker zeichnet ein mehrdimensionales Bild Wielands, der immer wieder mit Goethe und Schiller verglichen bzw. an ihnen gemessen wird. Vgl. zum Wieland-Roman die kritische Auseinandersetzung von Heidi Beutin: Jutta Heckers „Wieland“. Problematik des „Dichter“-Helden, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 282-288; sie kritisiert u. a. das geglättete Bild des Dichters; WA des Beitrages von Heidi Beutin in: diess.: „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt“, Hamburg 1990, S. 108-113. 52 Über neuere DDR- Literatur zu Wieland informiert Horst Thomè in seinem Bericht: Wieland-Forschung 1974-1978, S. 492-513. 53 Vgl. dazu Ruppel, S. 169. 54 Nach Wolffheim, S. 17ff. 55 Nach Erhart, Selbstaufklärung, S. 1. Er stellt fest, daß die in den fünfziger Jahren angemahnte „Rehabilitierung“ Wielands sich keinen nennenswerten Widerständen mehr ausgesetzt sah. Die Beschäftigung mit dem „Aufklärer“ Wieland setzt sich in den folgenden Jahrzehnten weiter fort. Vgl. dazu u. a. den Beitrag von Wolfgang Albrecht: Wielands Vorstellungen von Aufklärung und seine Beiträge zur Aufklärungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Impulse 11 (1988), S. 25-60; Höhle, Kolloquium Halberstadt 1987 über das Spätwerk Wielands. 56 Vgl. etwa das bezeichnende Vorwort der Dissertation von William H. Clark: Christoph Martin Wieland and the legacy of Greece. Aspects of his relation to Greek culture, Diss. Columbia University New York 1954. 11 sich im Kern um Wielands Verhältnis zu den beiden geistigen Strömungen seiner Zeit (Aufklärung und Romantik) dreht58, zu einer Zeit also, in der sich die „Aufklärung“ als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft noch nicht allzu großer Beliebtheit und Aktualität erfreut.

In dieser Rezeptionsphase, die etwa bis zum Ende der siebziger Jahre reicht, stehen methodisch die werkimmanente Vorgehensweise (Interpretation, Erschließung des Kunstwerks)59 und damit die Strukturanalyse im Vordergrund60. Die „Einbürgerung“ Wielands in den literaturwissenschaftlichen Kanon vollzieht sich in der Regel nach einem Verfahren, das Seiffert treffend formuliert: „.... man lernt allmählich, Wieland goethisch zu sehen“61. Da dieser „goethische“ Blick sich als Bild der Goethezeit über die ihr vorangegangene Aufklärung reproduziert, wird Wieland nur als „Vorläufer“, „Wegbereiter der deutschen Klassik“ wahrgenommen. Wesentliche Bestandteile des seither gültigen Wielandbildes gehen auf die Interpretationen jener Jahre zurück62. Charakteristisch für diese Rezeptionsphase und für die späteren Arbeiten bleibt der Versuch der „Umdeutung“: „Aus dem undeutschen und französisierenden Dichter wird der ‚Vermittler‘ französischer und höfischer Kultur an die deutsche Klassik“63, aus dem frivolen Schriftsteller der geistreiche Dichter der „schönen Gesellschaft“64. Für Wieland bedeutet diese Fixierung auf Goethe eine Reduzierung zum Vorläufer und Wegbereiter oder Voranschreitenden: „Schätzte man Wieland kanonisch, las ihn gar zuweilen, so gab oder nahm man zur Kenntnis, was man an ihm meinte als Goethe-Vorlauf schätzen zu müssen. Der „Agathon“ ist Vorläufer des

57 Der „Niedergang des Klassikers“ im 19. Jahrhundert wird schon in den fünfziger Jahren – zum Zwecke einer „Rehabilitation“ – beschrieben; vgl. Allan M. Cress: The Decline of a Classic. The Critical Reception of Wieland in Nineteenth-Century Germany, Diss. Urbana/Illinois 1952. 58 Vgl. dazu Müller-Solger, Publikationen, und Thomè, Wieland-Forschung, S. 493ff. 59 Vgl. zur werkimmanenten Textinterpretation u. a. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948; 17. Aufl. 1976; ders.: Entstehung und Krise des modernen deutschen Romans, Stuttgart 1955; Staiger, Musarion. 60 Vgl. Oettinger, S. 21 und Müller-Solger, Publikationen, S. 108. 61 Seiffert, Wielandbild, S. 80-102, hier S. 99. 62 Die innerhalb der Forschung noch lange übliche Bezugnahme auf die in der Regel maschinenschriftlichen Untersuchungen der fünfziger Jahre belegt nicht nur den Kenntnisstand dieser Arbeiten, sondern ebenso die Fortdauer der dadurch etablierten Wieland-Interpretationen. Zwei der wichtigsten Wieland-Publikationen aus den sechziger Jahren gehen ebenfalls auf Dissertationen von 1957 und 1959 zurück: - Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff. - Wolfgang Monecke: Wieland und Horaz, Köln/Graz 1964. Noch 1990 orientiert sich Irmela Brender in ihrer Wieland-Monographie (Christoph Martin Wieland in Selbstzeugnissen) bei der „Musarion“-Interpretation (S. 54ff.) unübersehbar an Email Staigers bekannter „Musarion“-Interpretation von 1953, obwohl diese Verserzählung für heutige Leser wesentlich interessanter und aktueller ist (z. B. Wieland und die Frauenfrage). 63 Erhart, Selbstaufklärung, S. 3; vgl. dazu Walter Hinderer: Wielands Beiträge zur deutschen Klassik, in: Karl Otto Conradi (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, Stuttgart 1977, S. 44-64. 64 Vgl. Jürgen Jacobs: Wielands Romane, Bern/München 1969. 12

„Wilhelm Meister“, weil er, wie man sagt, ebenfalls ein Entwicklungs- beziehungsweise Bildungsroman sei: das Singspiel „“ las man, denn angeblich hat es ... Goethe ermutigt, die „Iphigenie“ in Verse zu setzen; den „“ druckte man wieder, denn Goethe hatte Wieland nach der Lektüre einen Lorbeerkranz von Haus zu Haus reichen lassen“65. Und die Verserzählung „Musarion“ verdanke ihre relative Popularität wohl nur der Huldigung Goethes in „Dichtung und Wahrheit“. Damit ist die Interpretation von Wielands literarischem Werk festgelegt; das von Sengle gezeichnete und von Goethe inspirierte „Bild eines bescheidenen, versöhnlichen und immer heiteren Geistes“66 bleibt in dieser Rezeptionsphase richtungsweisend in der Tendenz, Wielands Widersprüchlichkeit allenfalls in den ästhetischen Gestaltungsmitteln seines Werkes zu suchen: „Grazie“67, „Harmonie“68 und „Versöhnung“69 – mit diesen Interpretationsmustern münzt man die früher kritisierte „Oberflächlichkeit“ Wielands in die „Ästhetik des Multiperspektivismus“70 um. Man bescheinigt ihm die „Kunst der Perspektive“71 als ästhetische „Virtuosität“72.

Wie schnell aber die Reputation des skeptisch-heiteren Wieland in ihr Gegenteil und den alten Vorwurf „unzuverlässiger“ Standpunktlosigkeit73 umschlagen kann, belegen die Studien der siebziger Jahren, in denen sich die Interpretation der historischen Aufklärung wieder gewandelt hat: „Perspektivismus“ und „Unparteilichkeit“ als Qualitäten des „rehabilitierten“ Wielands zuvor noch positiv gerühmt, geraten durch eine inzwischen politische Lesart zu Rückzugsgefechten eines „konservativen Fortschrittspessimismus“74. Trotz unterschiedlicher Versuche einer Gesamtdarstellung Wielands75 in den siebziger und achtziger Jahren, kann

65 Jan Philipp Reemtsma: Zeitgenosse C. M. Wieland, in: Die Zeit, 6. 1. 1989, S. 32. In „Das Buch vom Ich“ (Zürich 1993) analysiert Reemtsma Goethes folgenreiche Gedenkrede von 1813. 66 Sengle, S. 12. 67 Vgl. Karl-Heinz Kausch: Die Kunst der Grazie. Ein Beitrag zum Verständnis Wielands, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 2 (1958), S. 12-42. 68 Vgl. Wolfgang Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 125: „Grazie sei das eigentliche Medium, durch das die ideale Synthese von Geist und Sinnlichkeit und das heißt schöne menschliche Harmonie möglich werde“; vgl. auch Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 38ff (skeptische Kulturkritik und Streben nach Harmonie). 69 Vgl. Peter Michelsen: Lawrence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts, Göttingen 1962: „Freilich auszuhalten vermochte Wieland diesen Kampf nur dadurch, daß er ihn wenigstens in der Darstellung zur Versöhnung brachte“, S. 190. 70 Vgl. Lieselotte E. Kurth-Voigt: Perspectives and Points of View. The Early Works of Wieland and their Backround, Baltimore/London 1974. Zusammenfassend dazu: James W. Marchand: Wieland’s Style and Narratology, in: Schelle, Forschungsbeiträge, S. 1-32. 71 Karl Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei Wieland. Untersuchungen über den Zusammenhang von Problemstellung und Formgebung, Diss. Göttingen 1954, S. 197. 72 Erhart, Selbstaufklärung, S. 4. 73 Erhart, Selbstaufklärung, S. 4. 74 Bernd Weyergraf: Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur Französischen Revolution, Stuttgart 1972, S. 37. 75 Vgl. dazu u. a. - Sommer. 13 diese Rezeptionsphase nur mit Erhart kommentiert werden: So viele ‚Aufklärungen‘, so viele Wieland-Bilder76, auch wenn Thomè 1979 in seinem Forschungsbericht einleitend meint, es dürfte innerhalb der Wielandforschung „vieles zum Abschluß gekommen sein“77.

Ein „neues“ Wieland-Verständnis? Es ist das Verdienst Hansjörg Schelles, für den immer noch verkannten Autor einzutreten. So gibt er u. a. 1981 einen Sammelband mit Forschungsarbeiten heraus, in dem er Aufsätze vereinigt, die zwischen 1945 und 1974 erschienen sind – als Zeugnisse für eine Neubesinnung78. Obwohl Martini und Seiffert die Chancen für eine „Wieland-Renaissance79 in späteren Beiträgen nüchterner einschätzen als in den unmittelbar nach dem Kriege entstandenen80, sieht Manger 1990 wieder eine „Wieland-Renaissance“81 und begründet sie damit, daß sich „die Auseinandersetzung mit Wielands Beitrag zur Weltliteratur im Verhältnis zu früher erstaunlich vermehrt hat“. Auslösendes Moment seien die Aktivitäten aus Anlaß seines 250. Geburtstages82. Die wissenschaftlichen Jubiläumssymposien von Biberach83,

- Wolfgang Paulsen: Christoph Martin Wieland. Der Mensch und sein Werk in psychologischer Perspektive, Bern/München 1975. - Peter Pütz: Christoph Martin Wieland, in: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hg. Benno von Wiese, Berlin 1977, S. 340-380. - John A. McCarthy: Christoph Martin Wieland, Boston 1979. 76 Erhart, Selbstaufklärung, S. 5. 77 Thomè, Wielandforschung, S. 492-513, S. 492. Jaumann charakterisiert vier Jahre später die Resultate dieses „Abschlusses“ treffend: „Wieland, der Autor und sein Werk“ seien „auf eine entmutigende Weise unumstritten“; Herbert Jaumann: Vom „klassischen Nationalautor“ zum „negativen Classiker“. Wandel literaturgeschichtlicher Institutionen und Wirkungsgeschichte, am Beispiel Wieland, in: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Festschrift für Walter Müller- Seidel, hg. K. Richter/ J. Schönert, Stuttgart 1983, S. 3-26, S. 3. 78 Schelle; in der Einleitung gibt er einen Überblick über Themen, Methoden und Tendenzen der Wielandforschung nach 1945; S. 1-31. 79 Das Verdienst einer „Wieland-Renaissance“ gebührt nicht so sehr der deutschen, sondern der nordamerikanischen Germanistik, in der die Wieland-Forschung viel länger fest verankert ist als in Deutschland; vgl. dazu neben dem bereits erwähnten Sammelband von Schelle, die Aufsatzsammlungen anläßlich der 250. Wiederkehr des Geburtstags von Wieland: - MLN 99.3 (1984). - Schelle, Forschungsbeiträge. - Starnes hat aus zeitgenössischen Quellen eine voluminöse Chronologie vorgelegt (Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, 3 Bde., Sigmaringen 1987). 80Vgl. dazu auch Hans Werner Seiffert: Zu einigen Fragen der Wieland-Rezeption und Wieland-Forschung, in: MLN 99.3 (1984), S. 425-436. „Als wir vor 30 Jahren (1953, d. Verf.) in Biberach erstes Zeugnis vom neuen Bemühen um Wieland ablegten und uns zugleich die Fragen stellten, die nach (...) Neuorientierung und Akzenten verlangten, (...) mußte uns Wielands Urbanität, sein Streben nach umfassender Humanität und sein literatur- und kulturvermittelndes Wirken ... für diesen neuen Anfang ein ermutigendes Signal sein. Wir hofften damals zuversichtlich, daß Wielands horazisches ‚Ideal der Mitte“, das Verstehen des menschlichen Seins, menschlicher Torheiten, die er lächelnd ironisierte, weite Aufnahmebereitschaft finden würde. Wir glaubten an das, was wir damals eine ‚Wieland-Renaissance‘ nannten. Sollten wir uns getäuscht haben?“, S. 425. 81 Klaus Manger: Wieland-Renaissance. Zur bemerkenswerten jüngsten Wirkungsgeschichte des Dichters, in: Neue Züricher Zeitung Nr. 28 vom 3./4. 2. 1990, S. 69-70 82 Klaus Manger, Wieland-Renaissance, S. 69. Kritisch ist hier allerdings anzumerken, daß es ebenfalls Manger war, der 1983 ein „Bild allgemeiner Lustlosigkeit“ beklagt, mit der sich die Literaturwissenschaft Wieland zuneigt – ausgerechnet im Gedenkjahr zum 250. Geburtstag des Aufklärers, in dem drei Symposia stattfanden, 14

Erfurt84, Halberstadt85 und in den USA86 haben dafür Akzente gesetzt und das Verständnis für Wielands Leben und Werk auf eine breitere Basis gestellt. Nachdem Schelle 1951 eine Auswahl-Bibliographie vorgelegt hat87, erscheint im Jubiläumsjahr 1983 die über 4000 Titel umfassende „Wieland-Bibliographie“88, die trotz kritischer Vorbehalte ein Hilfsmittel für die Forschung ist und „als solche die unentbehrliche Grundlage für eine nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten“ zu erstellende Bibliographie legt89. Diese Bibliographien werden in den 1991 gegründeten und jetzt im 3. Band (1996) erschienenen „Wieland-Studien“90 fortgeführt.

ein Sammelband zu Wieland und eine Bibliographie erschienen sind; Klaus Manger: Universitat Abderitica. Zu Wielands Romankomposition, in: Euphorion 77 (1983), S. 395ff. 83 MLN 99.3 ( 1984), S. 421-705. Der Akzent der Forschungsinteressen liegt weniger auf der Poetik der Dichtung, als vielmehr auf Wielands Position als Essayist und journalistischer Schriftsteller und die Beziehungen zu seinen Zeitgenossen; auch Wielands Position im zeitgenössischen literarischen Leben und seiner Wirkungsgeschichte gelten einige Beiträge. 84Dieses Kolloquium stand unter dem Motto „Christoph Martin Wieland und die Antike“. Die überarbeiteten Beiträge im Auftrage der Winckelmann-Gesellschaft wurden in einer Aufsatzsammlung eines Kolloquiums in Erfurt 1983 von Max Kunze herausgegeben, Stendal 1986. Zentrales Anliegen dieses Symposions war, Wieland aus seinem Schattendasein neben Goethe und Schiller hervortreten zu lassen, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Die Themen erstrecken sich von Untersuchungen zu Wielands Reaktion auf die Französische Revolution, über Beiträge zur politischen Standortbildung im TM, seine ästhetischen und poetologischen Auffassungen bis hin zur Wirkung auf seine Zeitgenossen und internationale Ausstrahlung. Das Kolloquium wurde als ein Versuch betrachtet, durch die Beiträge zur Belebung der Wieland- und Aufklärungsforschung beizutragen und zur Diskussion über Werk und Wirkung des großen deutschen Aufklärers anzuregen (Vorwort, S. 3). 85 Zum Höhepunkt der Ehrungen in der damaligen DDR fand auch in Halberstadt ein Symposion statt: „Christoph Martin Wielands Bedeutung und Wirkung“; Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983; vgl. dazu die ausführliche Dokumentation dieser Konferenz von Wolfgang Albrecht: Wieland-Konferenz Halberstadt 1983, in: Weimarer Beiträge 30 (1984), H. 5, S. 851-855. 86 Schelle, Forschungsbeiträge; er weist auf das „eigene Gepräge“ hin, das die nordamerikanische Wielandforschung hat; dieses kommt u. a. in der Vielfalt der Themen und Methoden zum Ausdruck (S. XXI); der Sammelband soll einen repräsentativen Querschnitt durch die nordamerikanische Literatur- und Sprachwissenschaft Wielands darstellen. Von den 25 Beiträgen befassen sich 13 Aufsätze mit Wielands Beziehungen zu einzelnen Zeitgenossen. Nach Schelle kündigt sich darin eine Verlagerung des Forschungsinteresse an, so wie u. a. von Literatursoziologen die Frage aufgeworfen wird, wie die nach der Emanzipation des bürgerlichen Schriftstellers (S. XXIf.). 87 Wieland-Bibliographie in Auswahl. Editionen und Literatur seit 1945–(1980), in: Schelle, S. 445-482; die Bibliographie dokumentiert in ihrer chronologischen Anordnung die Wege der Wieland-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab 1984 veröffentlicht Schelle im Lessing Yearbook regelmäßig „Nachträge und Ergänzungen“ zur genannten Auswahlbibliographie; Lessing Yearbook 16ff (1985ff.). In diesem Zusammenhang sei auf vor 1945 erschienene bibliographische Studien hingewiesen: - Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe I-IX. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.hist. Klasse, Berlin 1904-1941, Reprint Hildesheim 1989. - Julius Steinberger: Bibliographie der Wieland-Übersetzungen, Göttingen 1930. 88 Gottfried Günther/Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Bibliographien, Kataloge und Bestandsverzeichnisse, hg. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Berlin/ Weimar 1983; vgl. dazu Heidi Zeilinger: Zur internationalen „Wieland-Bibliographie“, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt, 1983, S. 129-134. 89 Hansjörg Schelle, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 104 (1985), S. 296-300, hier S. 300; weitere kritische Anmerkungen von Jürgen Werker in: Weimarer Beiträge 30 (1984), H. 5, S. 855-857. 90 Viia Ottenbacher: Wieland-Bibliographie in: Wieland-Studien 1 (1991), S. 185-240; 2 (1994), S. 285-332; 3 (1996), S. 299-346. Die „Wieland-Studien“ sind ein Periodikum, das Leben, Werk, Wirkungsgeschichte und Umwelt von Christoph Martin Wieland thematisiert. Es wird mit verschiedenen Redakteuren (Hans Radspieler, Klaus Manger) vom Wieland-Archiv in Biberach herausgegeben; es ist ein wichtiges Forum der Wieland- Forschung und umfaßt Aufsätze zu einzelnen Werken und ihrer Wirkung, unveröffentlichte Texte und 15

Aber diese Versuche sind nur ein Ersatz für eine noch ausstehende umfassende Personalbibliographie.

Nachdem Sengle 1949 den Beginn eines Aufschwungs hinsichtlich der Forschungen zu Wieland einleitete, sei als letztes Quellenwerk die 1987 erschienene Dokumentation von Thomas C. Starnes91 hervorgehoben, der Wielands Leben und Werk aus zeitgenössischen Quellen darstellt92. Damit hat jede Beschäftigung mit Wieland ein sicheres Fundament bekommen, weil der amerikanische Germanist etwa 20 Jahre lang einen reichen Quellenfund erschlossen hat. Diese verdienstvolle, gut zu benutzende Chronik ist eine unverzichtbare Hilfe für alle literatur-, kultur- und geistesgeschichtlichen Forschungen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts und die weitere wissenschaftliche Wielandforschung. Hauptziel ist die Übermittlung von Informationen. Die Chronik verzichtet auf Interpretationen und Wertungen; sie überläßt es den wissenschaftlichen Forschungen, weiterführende Folgerungen aus den Materialien zu ziehen. Ein Lichtblick ist auch das Handbuch von Jörgensen/Jaumann/ McCarthy/Thome93. In der Bundesrepublik zeichnet sich die erfreuliche Tendenz ab, nachdem man Wieland als Wegbereiter und Vorläufer Goethes apostrophierte, ihn als Lessings ebenbürtigen Vertreter der deutschen Aufklärung zu würdigen94.

Dokumente, Berichte zur Edition von Wielands Briefwechsel und ergänzt – wie bereits erwähnt – die Wieland- Bibliographie laufend in Zusammenarbeit mit der Herzog-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. 91 Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt, 3 Bde., Sigmaringen 1987. Vgl. dazu die sehr positiven Wertungen von - Gert Ueding: Ein Mann von zweifelhaftem Ruf. Die dreibändige Chronik zu Leben und Werk des verfemten Schriftstellers Christoph Martin Wieland, in: FAZ Nr. 128 vom 4. 6. 1988; Jan Philipp Reemtsma: Zeitgenosse Christoph Martin Wieland, in: Die Zeit Nr. 2 vom 6. 1. 1989, S. 32f.; Walthari. Zeitschrift für Literatur. Texte, Medien, Märkte, Porträts. 2. Jubiläumsheft. Lachen und Weinen 10 (1993), H. 20, S. 93f.; Klaus Manger: Christoph Martin Wieland (1933-1813), neue Wieland-Forschungen (seit 1983), in: Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Mitteilungen 11 (1996), S. 114-118, hier S. 116. 92 Diese teilweise unbekannten bzw. unbeachteten Informationen können dazu beitragen, die Beurteilung der Biographie und Wirkungsgeschichte zu ergänzen und zu berichtigen. Aber auch diese Chronik Starnes kann nur ein weiterer Baustein sein, ein „Versuch“, wie es Schäfer ausdrückt, denn die Rezeptionsgeschichte von Wielands Werk bis heute auch nur annähernd in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit nachzeichnen zu wollen, muß an den noch unzureichenden wissenschaftlichen Vorarbeiten scheitern (Christoph Martin Wieland, Stuttgart 1996, S. 3). 93 Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994. 94 So bei Silvio Vietta: Literarische Phantasie, Stuttgart 1986, S. 149-209; Erhart, Selbstaufklärung. Bereits im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit geht Goethe auf Wieland und Lessing ein (Bd. 10, S. 297); vgl. auch Bruce Kieffer: Wieland and Lessing. „Musarion“ and „Minna von Barnhelm“, in: Lessing Yearbook XIV (1982), S. 187-208; vgl. auch Gottfried Willems: Von der ewigen Wahrheit zum ewigen Frieden. „Aufklärung“ in der Literatur des 18. Jahrhunderts, insbesondere in Lessings „Nathan“ und Wielands „Musarion“, in: Wieland- Studien III (1996), S. 10-46; siehe dazu im folgenden das Kapitel 2.5. dieses Forschungsberichtes „Wieland und seine Zeitgenossen in Leben und Werk“. Vgl. dagegen Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, 5. Aufl., Braunschweig 1909, Bd. II, S. 422. 16

Aber 15 Jahre nach den Gedenkfeiern, Symposien und Gedenkartikeln in deutschsprachigen Tageszeitungen muß die Situation skeptisch beurteilt werden95, ist es nur ansatzweise gelungen, das „neue“ Wieland-Bild an die literarische Öffentlichkeit weiterzugeben mit dem Ziel, den Kreis der Leser, Liebhaber und Kenner Wielands zu erweitern. Bis heute ist z. B. Wieland aus dem Kanon der Schulbücher für den Deutschunterricht mehr oder weniger ausgeschlossen96.

In diesem Zusammenhang ist die Monographie von Irmela Brender zu begrüßen97, die Wielands Texte an der Frage ihrer heutigen Lesbarkeit, ihres gegenwärtigen Interesses, d. h. am Kriterium der Aktualität und Modernität mißt. Unter diesen Beurteilungsperspektiven schneidet der Romancier und Verserzähler schlechter ab als der Journalist und Übersetzer. Aus dem literarischen Oeuvre gibt Brender dem heutigen Leser u. a. folgende Lektüreempfehlungen: „Don Sylvio“, „Musarion, oder die Philosophie der Grazien“, das „wunderbar entspannte Buch ‚Sokrates Mainomenos‘“, die immer noch „Vergnügen“ bereitende „Geschichte der Abderiten“ sowie die „ganz neue, ... verblüffend leichte und wunderbar lesbare Art“ des Altersromans „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Der „Geschichte des Agathon“ wird eher literaturgeschichtliche Bedeutung als aktuelles Interesse beigemessen98. Positiv zu bewerten ist das Bemühen der Autorin, durch ihre informative und solide Darstellung von Wielands Leben und Werk ein größeres Publikum auf diesen bedeutenden, aber wenig beachteten Schriftsteller aufmerksam zu machen. Damit sollte diese Biographie Anlaß sein, künftig neben der literaturhistorischen Forschungsarbeit auch der

95 „Die in letzter Zeit bis in viele Verästelungen hinein erforschte Stellung Wielands als Instanz und Institution innerhalb der aufklärerischen res publica litterarum vermochte sein Werk nicht aus der bis heute unfruchtbaren Gegenüberstellung von aufklärerischen Botschaften und ästhetischem Spiel zu befreien, und er verweist dabei auf die bereits erwähnten Sammelbände anläßlich des 250. Geburtstages 1983, die nur alten Forschungsdesideraten nach der Darstellung des Journalisten, Publizisten und Literaturkritikers Wieland nachzukommen versuchen, Erhart, Selbstaufklärung, S. 4f. 96 Hansjörg Schelle: Wieland-Gedenkjahr. Ein kritischer Rückblick, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 8.2 (1984), S. 141-145. Er weist daraufhin, Wieland könne und müsse kein „volkstümlicher“ Autor werden, da sein Bildungshorizont nicht mehr der unsrige ist, d. h. sein Werk erfordert vom Leser gleich anderen Werken der Weltliteratur historisches Verständnis. 97 Irmela Brender, Christoph Martin Wieland in Selbstzeugnissen. Die durchgängige Einbeziehung der Forschungslage zu den einzelnen Werken belegt eine insgesamt beachtliche Aufarbeitung der Fachliteratur; vgl. u. a. die ausführlichen Anmerkungen, S. 130-141, und die umfangreiche Bibliographie am Ende des Bandes, S. 147-154, zumal auch wissenschaftliche Kontroversen und gewandelte Positionen der Wielandforschung registriert werden, z. B. S. 47, 111, 128. Da sich Brender aber auf die Wiedergabe vorliegender Forschungsergebnisse beschränkt, wird eine eigene Betrachtungsweise und Beurteilungsperspektive von Wielands Werk nur darin deutlich, daß die Texte an der Frage ihrer heutigen Lesbarkeit gemessen werden. 98 Zu „Don Sylvio“, vgl. S. 47-49; zu „Musarion“ vgl. S. 54-56; zu „Sokrates“ vgl. S. 65; zu den „Abderiten“ vgl. S. 109; zu „Aristipp“ vgl. S. 127f.; zu „Agathon“ vgl. S. 43-47. 17

„Verdeutlichung der spezifischen Modernität des Schriftstellers verstärktes Augenmerk zu schenken“99.

1.3 Konsequenzen für die Wielandforschung

Mit diesem Überblick über die Rezeption Wielands muß festgestellt werden, daß es noch vieler Einzeluntersuchungen bedarf, ehe das Gesamtbild von Wielands Wirkung und Nachwirkung erforscht ist. Sein Werk und seine Persönlichkeit werden nach 1945 von Klischees und Verzeichnungen zum Teil befreit und erstmals ohne nationale, vor allem aber moralische Vorurteile gewürdigt. Erst die stärkere Einbeziehung realhistorischer Prozesse in die literaturhistorische Diskussion verspricht neue Ergebnisse, und eine angemessene Berücksichtigung der historischen Funktion und Aussage des Gesamtwerkes könnte ein neues Wieland-Bild entstehen lassen, das über Sengle entscheidend hinausginge und das dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Theoriebildung angemessen wäre100. Die unübersehbar gewordene Wielandforschung kann das Image des verkannten Dichters in den letzten Jahren nicht nennenswert verbessern, denn nur wenige kennen Wieland aus eigener Lektüre. Die Tradition der Vorurteile und abwertenden Klischees ist zwar gebrochen, nicht aber das verbreitete Desinteresse an ihm. Außerhalb der akademischer Forschungen findet dieser Schriftsteller kaum Beachtung. Da auch die wiederholten Anstrengungen, dem Autor ein größeres Lesepublikum zurückzugewinnen, bisher ohne Erfolg geblieben sind, müssen die Ursachen und Gründe auf anderen Ebenen gesucht werden. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist nicht nur eine vollständige historisch-kritische Werkausgabe101 und Edition seines

99 Rickes fragt z. B.: „Die vor Witz, Ironie, sprachlicher Eleganz und psychologischem Scharfblick funkelnde Verserzählung ‚Musarion‘ langweilig?“; Joachim Rickes: Wieland – ein langweiliger Dichter? Gedanken zu einer neueren Monographie, in: Wirkendes Wort 42 (1992), S. 507-513, hier S. 512. Rickes hat darin kritische Anmerkungen zu Irmela Brenders Biographie gemacht. 100 Ruppel, S. 172. 101 Zur Editionsproblematik und Forschungslage vgl. Helmut Nobis: Phantasie und Moralität, Kronsberg/Ts 1976, S. 1ff. Die 1909 begonnene kritische Gesamtausgabe der Werke Wielands liegt bis heute nicht vor. Einige ältere, aus dem 19. Jahrhundert stammende Ausgaben entsprechen kaum den Mindestvorstellungen an die editorische Gewissenhaftigkeit; dieser Mangel fiele nicht so ins Gewicht, wenn man diesen Editionen eine mit modernen Methoden erarbeitete historisch-kritische Gesamt- oder Briefausgabe Wielands entgegenhalten könnte, die es bis heute jedoch auch nicht gibt. Die Editionslage ist nach wie vor mißlich, denn von der 1909 begonnenen Gesamtausgabe, der sog. „Akademieausgabe“ in drei Abteilungen (Werke, Übersetzungen, Briefe) darf nicht erwartet werden, daß sie in diesem Jahrtausend abgeschlossen wird. Alle bisher erschienenen Ausgaben genügen nicht den höheren, an eine Klassikeredition zu stellenden Ansprüchen; vgl. C. M. Wieland: Sämmtliche Werke (Leipzig, bei Göschen 1794-1811). Reprint hg. von der ‚Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur‘, Nördlingen 1984. Auch der deutsche Klassikerverlag wird schließlich nur eine, wenn auch fundierte und materialreich kommentierte Auswahl der Schriften in zwölf Bänden vorlegen (bisher erschienen: Band 3: Agathon, hg. Klaus Manger; Band 4: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, hg. Klaus 18

Briefwechsels, deren erster Band zwar 1963 erschienen, aber bis heute nicht abgeschlossen ist, sondern auch eine umfassende Bestandsaufnahme des Materials, eine Forschungsaufgabe, die noch aussteht. Wielands Wandelbarkeit, seine Lust an Ironie und Satire, seine Entdeckungs- und Veränderungslust machen es schwierig. Es ist die zukünftige Aufgabe der Germanistik, viele neue Bilder des Aufklärers Wieland wieder zu entdecken.

1.4 Neuere Forschungen im Zusammenhang mit dem Thema der Arbeit

1.4.1 Wielands „große“ Wandlung - Vom Platoniker zum Vertreter der „Philosophie der Grazien“

Wielands Entwicklung vom „Seraph zum Sittenverderber“102 wird in der Forschung als „Metamorphose“, als „große Wandlung“ beschrieben. Tatsächlich liegen zwischen seinem Erstlingswerk, dem seraphischen Lehrgedicht „Die Natur der Dinge“ (1752)103 und dem Roman „Don Sylvio“ (1764) Welten104. Man nennt es die „anthropologische Wende“ und datiert die „Metamorphose“ auf das Jahr 1757, in die Zeit also, in der das untersuchte Fragment „Theages“ entstand. Seit dieser Zeit schreibe Wieland in „Gestalt von Schwärmern wie Araspes, Don Sylvio oder Agathon nicht nur gegen alle seinem aufklärerischen Ideal

Manger; Band 9: Übersetzungen I: Übersetzung des Horaz, hg. Manfred Fuhrmann); Vgl. zu der Kritik an den nach 1980 erschienenen Wieland-Ausgaben Hansjörg Schelle: Neue Wieland-Ausgaben I: 1981-1985, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 10.1 (1986), S. 35-43; Ingo Elsner: Ein paar Goldkörner aus Makulatur. Anmerkungen zu den Hamburger Wieland-Ausgaben in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte XIV (1989), S. 118-130. 102 So der Untertitel des 1. Bandes von Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk in 3 Bde., Sigmaringen 1987; dieser Band 1 umfaßt die Jahre 1733 bis 1783. 103 Zur älteren Literatur über Wielands „Die Natur der Dinge“ vgl. die Einzelinterpretationen von - Emil Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland. - Karl Hoppe, Der junge Wieland. - Julius Steinberger: Wielands Jugendjahre, Göttingen 1935. - Hans Werner Seiffert: Der vorweimarerische Wieland. Leben und Werk 1733-1772, Diss. Greifswald 1950. - Lieselotte E. Kurth-Voigt, Perspectives and Points of View. Diese Ansätze versäumen es größtenteils, einen Bezug zum weiteren Werk Wielands herzustellen. Erst die neueren Forschungen interessieren sich zunehmend für die Stellung des Lehrgedichts „Die Natur der Dinge“ zum Wielandschen Gesamtwerk; vgl. dazu u. a. - Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt/Main 1978, S. 74-124. - Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Bernhard Fabian u. a. (Hg.): Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 2/3, München 1980, S. 247-275. - Vgl. auch Uwe Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, Frankfurt/M. 1989; er korrigiert mit Hilfe der biographischen, literarischen und epistolographischen Quellen das allzu klischeehafte Bild des jungen ‚schwärmerischen‘ Wieland und bezieht u. a. „Die Natur der Dinge“ in die Untersuchung mit ein. 104Der biographische Bruch im Leben Wielands ist von der Forschung verschieden bewertet worden. Die unterschiedlichen Positionen und deren Konsequenzen für die Interpretation von Wielands Werken referiert Thomé, Wielandforschung, S. 492-513, 494ff. 19 widersprechenden Mißstände, sondern ... auch gegen seine eigene seraphische, von der platonischen Philosophie geprägten Phase an“105. Hacker sieht in diesem Zusammenhang die „Natur der Dinge“ als „negative Gegenfolie für die späteren Schriften“ und weist darauf hin, daß Wielands „Wende“ auch einen „Gattungswechsel nach sich“ zieht106.

1905 veröffentlicht Steinberger einen Aufsatz über die geistige Wandlung Wielands und vertritt die Auffassung, daß bei ihm zwischen einer ersten platonisch-pietistisch bestimmten Schaffensperiode und einer folgenden weltoffenen Phase unterschieden werden könne und nennt diese Metamorphose einen „Abfall von den Idealen der Jugend“107. Diese Darstellung, die durch eine Reihe von Briefstellen belegt wird, hat zum Teil zu der Ansicht beigetragen, bei Wieland habe sich zwischen 1750 und 1774 eine große Wandlung vollzogen. Nach 1945 wird die These von der „großen Wandlung“ mit teilweise radikalen Formulierungen fortgesetzt. Martini sieht in dem Unterschied zwischen den „Komischen Erzählungen“ und den Jugenddichtungen einen „schroffen Widerspruch“108, und Ermatinger konstatiert „eine völlige Änderung seines Wesens“109; Kluckhorn stellt eine „Entwicklung von mytischer Schwärmerei zu nüchterner epikuräischer Auffassung“ fest110. Die größte Resonanz findet Sengle mit seiner Formulierung von der „großen Wandlung“, die er in seinem Wieland-Buch erläutert. Er deutet die Metamorphose als den „Zusammenbruch seines Spiritualismus“ und als „eine Abkehr nicht nur vom christlichen Mystizismus, sondern auch vom platonischen Idealismus“111. In der Wielandforschung wird überwiegend die Auffassung vertreten, daß der Übergang die Preisgabe der Transzendenz und die Hinwendung zur diesseitigen Sinnlichkeit bedeute. McCarthy hat in seiner Studie112 die persönlichen und literarischen Umstände untersucht und dabei die „Größe“ der Wandlung in Frage gestellt. Zu ähnlichen Ergebnissen

105 Margit Hacker: Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands „Natur der Dinge“, Würzburg 1989, S. II 106 Margit Hacker, Ordnungsutopien, S. III. Sie meint, daß das geschlossene metaphysische System des Lehrgedichts unter dem Druck der Anthropologie gesprengt werde. Ein erstes Dokument sieht sie dafür in dem Dialogroman „Araspes und Panthea“ (1760), der nicht nur hinsichtlich der Gattung eine Zwischenstufe darstelle. 107 Julius Steinberger: Wielands ‚Metamorphose‘ in seiner eigenen Beurteilung, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 59, Jg. 115 (NF 15) (1905), S. 290-297, S. 291. 108 Fritz Martini: Von der Aufklärung zum : 1700-1775, in: Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. Heinz Otto Burger, 2. Aufl., Stuttgart 1962, S 443. 109 Emil Ermatinger: Wieland und die Schweiz, 1924, S. 103. 110 Paul Kluckhorn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle 1922 (Nachdruck 1966), S. 175. 111 Sengle, S. 389 und 90. Vgl. auch die Kapitelüberschrift, S. 89. Sengle meint, daß diese Wandlung „ziemlich rasch vor sich gegangen ist“ (S. 75). Indem Sengle diesen Übergang als schnell vollzogen darstellt, übersieht er die Feststellung Steinbergers, daß die Metamorphose ein allmählicher Vorgang war; Julius Steinberger, Wielands Metamorphose, S. 292-294. 20 kommt Müller-Solger113. Er vertritt die Auffassung, daß die Wandlung nicht den dramatischen Akzent hatte, den ihr Sengle gibt114. Die Auffassung einer „großen Wandlung“ impliziert den Weg Wielands vom platonischen Liebhaber in dem ersten Lebensabschnitt zum erotischen Liebhaber in der späteren Phase. McCarthy weist anhand verschiedener Zeugnisse nach, daß es eine gewisse Kontinuität im Denken Wielands von der ersten „seraphischen“ Zeit zur folgenden „epikuräischen“ Phase gibt115. Wieland erahnt schon vor der „Wandlung“ dunkel, „und gewann in den 50er und 60er Jahren gedankliche Klarheit – nämlich, daß der Mensch zugleich seraphisch und sinnlich ist“. McCarthy gesteht zu, hier von „großer Wandlung“ zu sprechen, aber platonische Seraphik und sinnlicher Epikuräismus stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Das Ergebnis ist die Läuterung des platonischen Idealismus durch den epikuräischen Realismus, kein Todesstoß für den Enthusiasmus116. Der „Schwärmer“ Wieland formuliert 1760 in der Einleitung zu „Araspes und Panthea“ als Ergebnis der „Wandlung“ die Selbsterkenntnis, „daß es leichter sey, uns selbst zu verbessern als andere“117. Über diese biographisch erworbene Lebensmaxime hinaus kommt Wieland zu der Einsicht, daß die Wirkung der Literatur in ihrer moralischen Funktion der „Verbesserung“ anderer zweifelhaft sei, in seinen „Schwärmer“-Geschichten soll der Leser den „mißtrauischen“ Umgang mit den eigenen Affekten einüben können.

„Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken müßten sich die Anti-Platoniker und Luciane halten, um nützlich zu

112 John A. McCarthy: Wielands Metamorphose, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), Sonderheft, S. 149-167. 113 bei seiner Analyse des Traummotivs bei Wieland; Müller-Solger, Dichtertraum, S. 77. 114Müller-Solger, Dichtertraum, S. 77f. 115 Unter Hinweis auf die „Bruchstücke von Psyche“ (1767), wo Wieland zwei Arten von Amorn unterscheidet, die die zwei Extreme der platonischen und erotischen Liebe symbolisieren, versucht McCarthy anhand mehrerer Jugenddichtungen Wielands nachzuweisen, daß er bereits 1752 „die Sinnlichkeit wie auch die Geistigkeit des Menschen“ erkennt und deshalb die erste „Phase seines dichterischen Schaffens ... weniger platonisch gestimmt gewesen“ sei, als gewöhnlich angenommen wird. Das Thema der zweifachen Art des Eros prägte die gesamten Biberacher Dichtungen; z. B. die „Komischen Erzählungen“, „Aspasia“, „Neuer Amadis“. McCarthy schlußfolgert, daß Wielands Metamorphose also keine totale Absage an den platonischen Spiritualismus und keine absolute Hinwendung zur Sinnlichkeit beutet, sondern eine deutlich geschaute Unterscheidung zwischen beiden Lebensprinzipien“, McCarthy, Wielands Metamorphose, S. 167. Zu diesem Ergebnis ist auch die Verfasserin dieser Arbeit gekommen; vgl. das Kapitel „Entstehung von ‚Theages‘ und die Verbindung zu anderen Dichtungen“ (5.1.1); nur zeitweise postulierte Wieland in seinen Dichtungen die totale Unterwerfung der Sinnlichkeit. 116 John A. McCarthy, Wielands Metamorphose, S. 166; er weist in diesem Zusammenhang auf Alfred Anger (Literarisches Rokoko, 1962, S. 27) hin; Anger behauptet hinsichtlich der Wechselbeziehung z. B., daß Wielands ‚Philosophie der Grazien‘ Platonismus und Hedonismus verbindet. McCarthy kritisiert allerdings, daß Anger nur die Dichtungen aus den sechziger und nicht schon die Werke der fünfziger Jahre im Sinn hatte, in der diese Verbindung bereits zu erkennen war. 117 AA I/3, S. 2. 21 seyn?“118– so lautet die Frage, mit der sich Wieland 1776 an das Publikum wendet und damit eine für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung aufschlußreiche Debatte über das „Schwärmertum“ auslöst119. Er hat sich mit dieser Problematik sowohl in seiner schwärmerischen Jugendphase120 als auch in seinen literarischen Werken, in denen von Anfang an die Helden Schwärmer sind, befaßt121. Die Auseinandersetzung mit der Schwärmerei in Wielands Romanen findet nicht nur auf thematisch-inhaltlicher Ebene statt, sondern entwickelt und beeinflußt auch die Erzählformen Wielands vom Frühwerk bis zur Spätphase. Anhand der Figur des Schwärmers zeigt Heinz exemplarisch122, „wie in Wielands Romanwerk philosophische Reflexion, poetologische Innovation und humanistisches Menschenbild einander durchdringen und zusammen die besondere Qualität seiner Texte ausmachen“123. Heinz kritisiert die einschlägigen Untersuchungen zu diesem Thema, die auch für die späteren Romane Wielands vom früheren „Schwärmerkur-Konzept“ ausgehen und die veränderte Erzählform nicht in ihre Analyse mit einbeziehen. Damit wird Wieland vorgeworfen, er sei zu keiner befriedigenden Lösung des Problems gekommen, habe keine Synthese von Kopf und Herz erreicht124.

118 TM 1776 I; Januar, S. 82. 119 Vgl. dazu Jutta Heinz: Die Figur des Schwärmers in den späten Romanen Christoph Martin Wielands, Magisterarbeit Erlangen 1991, die einen größeren Teil des Quellenmaterials dazu ausgewertet hat. Vgl. dazu Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethe-Zeit (mit ausführlicher Bibliographie), in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. 120 Mit den schwärmerischen Aspekten in Wielands Leben befassen sich u. a. die verschiedenen Biographien: - Sengle, S. 481; er bezeichnet die Schwärmerei als „Urerlebnis“. - McCarthy sieht die Schwärmerei als Leitmotiv Wielandschen Lebens und Dichtens, dem jedoch von Anfang an auch die epikuräische Philosophie zur Seite steht; vgl. John McCarthy: Christoph Martin Wieland, Boston 1979. - Paulsen interpretiert Wielands Schwärmertum als jugendliche Übergangsphase, die nach dem Schweizer Aufenthalt abgeschlossen ist; Wolfgang Paulsen, Der Mensch und sein Werk in philosophischen Perspektiven. - Kurze Abrisse von Wielands Schwärmersozialisation und –kur geben außerdem die Dissertationen: a) Gerda Geyer: Wieland und das Schwärmertum, Graz 1967 b) Gerhard Johann Reimer: The „Schwärmerei“ in the Novelistic Writings of C. M. Wieland, Diss. East Lansing Michigan 1968. 121 Vgl. Jutta Heinz: Von der Schwärmerkur zur Gesprächstheraphie – Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands „Don Sylvio“ und „Peregrinus Proteus“, in: Wieland-Studien 2 (1994), S. 33-53, S. 34, Anm. 3. 122 anhand der Texte „Don Sylvio“ (1764) und „Peregrinus Proteus“ (1791); vgl. dazu Dagmar Tigges: Das Problem des Schwärmertums am Beispiel von Wielands Romanen „Don Sylvio“ und „Peregrinus Proteus“, Wuppertal 1993; leider konnte diese Arbeit nicht zum Vergleich herangezogen werden, da es sich um eine maschinenschriftliche Magisterarbeit an der Gesamthochschule Wuppertal handelt, die dem Leihverkehr innerhalb der Universitätsbibliotheken nicht zugänglich ist. 123 Jutta Heinz, Von der Schwärmerkur, S. 34. 124 Jutta Heinz, Von der Schwärmerkur, S. 52, Anm. 25. 22

Im Zusammenhang mit der Lukian-Rezeption125 in Wielands „Peregrinus Proteus“ hat sich Braunsperger auch mit der Schwärmerei und Wielands Wandlung auseinandergesetzt. Danach verfolgen die Aufklärer wie Wieland den Weg der Toleranz und versuchen, die „anders gearteten Naturen“ zu verstehen126. Der Verfasser betont, daß die Heilung dieser Gebrechen eines der Hauptanliegen Wielands war, der sich auch als guter und verständnisvoller Arzt erweise, weil er die ‚Krankheit‘ selbst durchlebt hatte127.

Unter dem Aspekt „Schwärmerei und ars vivendi: ‚Die Natur der Dinge‘, ‚Musarion‘ und ‚Agathon‘“ geht Kimmich auf Spurensuche nach epikuräischem Denken in Wielands Werk128. Anhand der genannten Werke versucht sie zu beweisen, daß Wieland „die gesamte antike Tradition des Epikureismus aufbietet, nicht nur sie in seinem Jahrhundert zur Sprache zu bringen, sondern um ihre gerade im Zeitalter der ‚Aufklärung‘ evidenten Funktionen darzustellen und zu propagieren“. Wielands Bedeutung für das 18. Jahrhundert liege nicht zuletzt darin, dieser literarischen Tradition Ausdruck verliehen zu haben129. Obwohl auch McCarthy glaubt, daß die erste Phase von Wielands dichterischem Schaffen weniger platonisch gestimmt gewesen sein dürfte, als gewöhnlich angenommen130 und dabei auf das erste metaphysische Lehrgedicht „Die Natur der Dinge“ verweist, findet zwar auch Kimmich „Spuren der Wielandschen Epikur-Rezeption“ in dem genannten Gedicht, kommt aber zu dem Ergebnis, daß es sich hier um den „Versuch einer ausführlichen Widerlegung des antiken Dichters mit Hilfe von christlich-religiösen und platonisch-idealistischen Gegenthesen“

125 Vgl. zu Wieland und Lukian zu Beginn des 20. Jahrhundert, in der vor allem quellenkundliche Forschungen im Vordergrund des Interesses standen: Julius Steinberger: Lukians Einfluß auf Wieland, Diss. Göttingen 1902, der akribisch-chronologisch die Stoffquellen von Lukian bei Wieland belegt. Ausführliches zu den Stoffquellen auch bei Franz Kersten: Wielands Verhältnis zu . Wissenschaftliche Beilage zum Bericht über das Schuljahr 1899/1900. Progr. der Höheren Staatsschule Cuxhaven 1900; Paul Geigenmüller: Lucian und Wieland, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 3 (1927), S. 35-47. Neue Forschungen stammen von Irmtraut Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990, und Herbert Jaumann: Der deutsche Lukian. Kontinuitätsbruch und Dialogizität, am Beispiel von Wielands „Neuen Göttergesprächen“ (1791), in: Der deutsche Roman der Spätaufklärung, hg. Harro Zimmermann, Heidelberg 1990, S. 61-90; hier sei angemerkt, daß grundsätzlich die Schreibweise „Lukian“ benutzt wird. Nur in dem Fall, in dem es sich um Zitate oder Literaturangaben handelt, wird originalgetreu die entsprechende Schreibweise „Lucian“ bzw. „Lukian“ verwendet. 126 Gerhard Braunsperger: Aufklärung aus der Antike. Wielands Lukianrezeption in seinem Roman „Die geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus“, Frankfurt/Main 1993, S. 63. 127 Braunsperger zeichnet den Weg Wielands vom jungen Schwärmer zum aufgeklärten Weltmann, der in den späten achtziger Jahren seine Lukianübersetzung beginnt und das Thema in dem Roman über den Schwärmer Peregrinus verarbeitet. 128 Dorothee Kimmich: Christoph Martin Wielands Epikureismus, in: Wieland-Studien 3 (1996), S. 47-74. 129 Dorothee Kimmich: Epikureismus, S. 60f. 130 „Die Gegensätze von Platonismus und Epikureismus werden in der Einheit der Gottheit“ (die zwei Arten von Amorn seien Halbbrüder) ... synthetisiert. „In diesem Sinne läßt sich schon in seiner Jugenddichtung der Versuch einer Synthese der polaren Gegensätze erkennen“; John A. McCarthy, Wielands Metamorphose, S.157. 23 handelt131. Wieland kommentiert dieses enthusiastische lehrhafte Jugendwerk als „Visionen eines poetisierenden Platonikers“ und kritisiert daran den „dogmatischen Ton“132. Nach Paulsen sieht sich „der Adoleszent“ mit der neu gewonnenen Freiheit und dem sichergestellten „Sinnengenuß“ plötzlich von allen guten Geistern verlassen und muß versuchen, das aufgegebene System durch ein neues zu ersetzen: an die Stelle der Religion tritt die Philosophie, in Wielands Fall schließlich, nach langem Experimentieren, die der Grazien133.

Die „Mäßigung“ als Angelpunkt und damit zentrales Element in Wielands Leben und Werk ist der Forschung seit langem bekannt, erfährt aber bisher kaum Beachtung. Dabei ist gerade sie ein Schlüssel zum Verständnis des Dichters. Viele Wieland-Forscher berufen sich auf sein „Mäßigungsprinzip“, widmen diesem Punkt aber kaum eingehende Untersuchungen134. So erwähnt z. B. Monecke, „daß das Prinzip des Maßes und der Mitte, das die Grazien- Philosophie lehrt, wie kein anderes Wielands gesamte Existenz bestimmt hat... für Wieland aber ist es, ..., schlechthin d i e Kraft, die all seinen Bemühungen Konsistenz verleiht“135. Nolting untersucht erstmals die Grundhaltung der Mäßigung in Werk und Leben. Für die Darstellung des Aufkommens und der Wirkung von Wielands Mäßigungshaltung setzt der Verfasser die Untrennbarkeit von Leben und Werk des Schriftstellers voraus und wählt ein

131 Dorothee Kimmich: Epikureismus, S. 49. 132 Vorbericht zur dritten Ausgabe des Gedichts „Die Natur der Dinge“, HRA XIII/S1, S. 6. 133 Wolfgang Paulsen: Die emanzipierte Frau in Wielands Weltbild (1979), in: Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur, hg. Wolfgang Paulsen, Bern/München 1979, S. 153-174, S. 153. Nach Schelle stellte sich dem Erzieher Wieland die Aufgabe, die Schwärmerei als eine idealistische Verblendung zu heilen, so wie er sich selbst, indem er eine „Metamorphose“ durchmachte, vom Schwärmer zum welterfahrenen Skeptiker entwickelte; Schelle, S. 11ff.; vgl. dazu auch Günter Hartung: Wielands Beitrag zur philosophischen Kultur in Deutschland, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 20ff. 134 Vgl. u. a. - Karl Hoppe, Der junge Wieland. Er hat mit seiner Charakterisierung der Seelenlage des jungen Wieland den Anknüpfungspunkt für die Darstellung des Wielandschen Mäßigungsbegriffs gegeben, S. 56. - Marga Barthel, Das „Gespräch“ bei Wieland. Sie weist nur nebenbei auf die Mäßigkeit des von Sinope und den überlegenen und maßvollen Grundcharakter des Aristipp hin, S. 54 und 62. - Hildegund Berger: Christoph Martin Wielands Romane unter besonderer Berücksichtigung des „Aristipp“, Diss. München 1944; sie bezeichnet die Einhaltung kluger Mäßigung als ein Hauptmerkmal der Philosophie Wielands, erläutert sie aber nicht näher, S. 121. - Ebenso erwähnt nur Sengle, S. 205, kurz das Mäßigungsprinzip. - Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff. Er hebt das schon für den jungen Wieland gültige Prinzip der Mäßigung hervor. Der noch jugendliche Wieland „plädiert schon hier für das harmonistische Prinzip vernünftiger Mäßigung, das ihm später so viel bedeuten wird“ (S. 98), wobei sich nach Buddecke beim älteren Wieland das harmonistische Prinzip mit dem des wahren Liebesbegriffs verbindet. Die Kunst, wahrhaft zu lieben, so daß jede sinnliche Lust zugleich eine geistige bedeute, seien Aspekte der reizenden Philosophie und recht verstanden eine Harmonielehre des Lebens (S. 101). Kritisch muß angemerkt werden, daß Buddeckes Charakterisierung der Mäßigung als rein formales Prinzip jedoch nur ungenügend ist; das Tiefgreifende bekommt der Verfasser nur ansatzweise in den Blick; vgl. dazu u. a. Klaus Nolting: Die Kunst zu leben oder die Natur weiß nichts von Idealen. Eine Untersuchung zur Grundhaltung der Mäßigung in Werk und Leben C. M. Wielands, Frankfurt/M. 1995, S. 14f. 24 chronologisches Verfahren. Er geht von der Annahme aus, daß sich die Mäßigung linear aus einer Reihe „innerer und äußerer Kollisionen“ entwickelt und nur durch die „Beobachtung von den Anfängen in der Jugend an bis zum Alter bedeutend und verständlich“ wird. Er beleuchtet einzelne Werke Wielands nur aus dem Blickwinkel der Mäßigung. Ihm kann zugestimmt werden, wenn er meint, „überall gegenwärtig, aber oft nur noch an den Auswirkungen ihres Einflusses erkennbar, bestimmt die Mäßigung Inhalt, Form und Ton des Gesagten“136. Kritisch muß aber angemerkt werden, daß er die Wirkungsart der Mäßigung vornehmlich an den Romanen demonstriert und dabei die Verserzählungen und –epen abqualifiziert. Sie seien nicht unbedingt als Höhepunkte künstlerischen Schaffens anzusehen und halten „einem Qualitätsvergleich mit den Romanen“ nicht stand137. Dennoch nennt Nolting im weiteren Verlauf seiner Arbeit „Musarion“ ein „kleines Meisterwerk“ und betont, daß die Grazien als bildliche Darstellungen des Leichten und Gefälligen den „entscheidenden Einfluß auf seine Person und seine Arbeit gewähren“ Sie seien mit Wielands Mäßigungsbegriff untrennbar verbunden, weswegen er ihnen ein parallel zur „Musarion“ verfaßtes Werk namens „Die Grazien“ widmet“138.

1.4.2 Neuere Untersuchungen zu den Graziendichtungen

1.4.2.1 Wielands „Musarion“ – ein Text, über den es nichts mehr zu sagen gibt?139

„Es dürfte schwerfallen, über Wielands ‚Musarion‘ noch etwas Neues zu sagen, denn einmal ist diese reizende Verserzählung so kompliziert ja nicht, während sie andererseits schon immer mehr Aufmerksamkeit erregt und gefunden hat, als das ganze übrige Werk Wielands, mit Ausnahme vielleicht des ‚Agathon‘“140. Paulsens Rezension zu „Musarion“ läßt den

135 Klaus Monecke, Wieland und Horaz, S. 35f. 136 Klaus Nolting: Die Kunst zu leben, S. 18 f. 137 Klaus Nolting: Die Kunst zu leben, S. 19. So nennt er „Der neue Amadis“ und „Oberon“ beispielsweise „doch eher Produkte der Laune, phantastische Träumereien eines innerlich Flüchtenden, den die zwangvolle Eintönigkeit des Alltagslebens zu Ausbruch und Ausgleich drängt. In diesem Sinne könnten die Versepen auch als Gegenstücke zu dem der Rationalität verpflichtenden Prosawerk verstanden werden“ und meint, Prosa sei allgemeiner, nüchterner und deshalb dem von Wieland beabsichtigten Zweck unterhaltsamer Belehrung weit dienlicher, S. 19f. Im Hinblick auf die Studien zu „Musarion“ kann diesen Ausführungen nicht zugestimmt werden, wie die Untersuchungen zu der Verserzählung in dieser Arbeit belegen. 138 Klaus Nolting, Die Kunst zu leben, S. 112 und 115. Zum Begriff der „Mäßigung“ in „Theages“ vgl. S. 65-67; „Musarion“ und „Die Grazien“, S. 112-117. 139 Joachim Rickes: Führerin und Geführter. Zur Ausgestaltung eines literarischen Motivs in Christoph Martin Wielands „Musarion oder Die Philosophie der Grazien“, Frankfurt/Main/Bern u. s. 1989, S. 1 140 Wolfgang Paulsen: Rez. zu Herbert Rowland: „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre, Göppingen 1975, in: Monatshefte. A journal devoted to the study of and literature 69 (1977), S. 208f. 25

Versuch, noch Neues über die Versdichtung141 auszusagen, als wenig aussichtsreich erscheinen. Dies gilt wegen der von ihm angedeuteten Forschungslage zu dem Text, der in bezug auf die Intensität der bisherigen literaturwissenschaftlichen Beachtung über Wielands andere Werke gestellt und sogar mit dem Hauptgegenstand der Wielandforschung, der „Geschichte des Agathon“ verglichen wird142. Auch Erhart erwähnt den „fast immer zugestandenen zentralen Stellenwert, den das Versepos von Wielands Werk innehat“143, kommt aber auch zu dem Ergebnis, daß methodisch und inhaltlich die „Musarion“-Forschung ein dürftig zu nennendes Bild zeigt: als Wielands „Credo“ gefeiert, „scheint über das Programm dieser verklärt-utopischen Aufklärungsidylle längst das Wichtigste gesagt“144. Paulsens Feststellung, daß „diese reizende Verserzählung so kompliziert ja nicht“ sei, deutet andererseits darauf hin, daß das angeblich bereits erforschte Werk auch von seinem Gehalt und seiner Struktur her kaum noch Forschungsdefizite aufweise bzw. keine Möglichkeiten für weitere Erkenntnisse biete. Seine Hinweise auf die Forschungslage zu „Musarion“ bedarf der Korrektur – auch 20 Jahre nach seinen Hinweisen gehört diese Verserzählung nicht zu den

141 Paulsen spricht – wie viele andere Autoren – von der „Verserzählung“ Musarion. Gegen diese gängige Bezeichnung hat sich Rowland mit einleuchtenden Argumenten gewandt: „Nowadays, „Musarion“ is generally called a Verserzählung. Yet, the designation is misleading insofar as it suggests that the work corresponds directly to the verse narratives so favoured by the earlier eighteenth century... The term is also misleading insofar as it suggests that narrative is the only generic element in the work. We have already seen that the didactic poem and comedy are basic to the form and content of the piece“; Herbert Rowland: „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre, Göppingen 1975, S. 82. Rowland nennt allerdings keine Alternative zu diesem Terminus. Rickes verwendet die neutralere Bezeichnung ‚Versdichtung‘, die schon Sengle verwandte; vgl. Sengle, S. 203- 205. 142 Paulsens Vergleich mit dem Forschungsinteresse an der „Geschichte des Agathon“ hinkt bzw. ist sogar falsch; zum „Agathon“ erschienen allein zwischen 1970 und 1980 wesentlich mehr Untersuchungen als der Versdichtung bisher insgesamt gewidmet worden sind (vgl. Hansjörg Schelle: Wieland-Bibliographie in Auswahl, in: Schelle, S. 467–482); auch die Behauptung Paulsens, „Musarion“ habe schon immer mehr Aufmerksamkeit gefunden, als das ganze übrige Werk Wielands, geht an der Forschungslage vorbei; so wurde z. B. die „Geschichte der Abderiten“ allein zwischen 1946 und 1980 mehr als doppelt so häufig behandelt wie „Musarion“ im ganzen 20. Jahrhundert (vgl. Schelle, S. 451-482). 143 Walter Erhart: Beziehungsexperimente: Goethes „Werther“ und Wielands „Musarion“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), H. 2, S. 333–360, S. 334; Erhart gibt Hinweise auf die Literaturgeschichtsschreibung, in der „Musarion“ als Höhepunkt in Wielands Werk und Leben gewertet werde: „sein bestes und schönstes Kind“ (Hermann Schneider: Geschichte der deutschen Dichtung nach ihren Epochen dargestellt, 2 Bde., Bonn 1949/59, Bd. 2, S. 375), „zeitlebens Wielands sittliches Ideal“ (Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 15. Aufl., Stuttgart 1968, S. 211); Wielands geistesgeschichtliche Stellung vor „Sturm und Drang“ und Weimarer Klassik wird mit dem Hinweis auf „Musarion“ geradezu demonstriert. „Doch da er, als ein deutscher Dichter, auf der Schwelle zur Goethezeit steht, ... nimmt sein Werk sich seltsam und fast unglaubwürdig aus. Es ragt in eine Zeit hinein, die Dichtung nach anderen Maßen mißt, die Größe und Natürlichkeit und eine unmittelbar im persönlichen Erlebnis gründende Wahrheit verlangt“ (Staiger, „Musarion“, in: Schelle, S. 108). 144 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 334. Weithin kanonische Geltung erlangten die „Musarion“- Interpretationen von Sengle, S. 203ff. und Staiger, „Musarion“. Spätere Arbeiten fügen dem in der Regel nur ergänzende Details hinzu. Vgl. u. a. Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre; Elisabeth Boa: Sex and Sensibility – Wielands Portrayal of Relationships Between the Sexes in the „Comischen Erzählungen“, „Agathon“ and „Musarion“, in: Lessing Yearbook 12 (1980), S. 189-218; Bruce Kieffer, Wieland and Lessing: Musarion and Minna von Barnhelm“. 26 meist untersuchten Werken145. „Musarion“, die von Wieland als eine seiner bedeutendsten poetischen Leistungen betrachtet wurde146 und in der Wielandforschung von Sengle als seine „vollendetste“ Dichtung147 bezeichnet worden ist, wurde zwar in Übersichtsdarstellungen und Gesamtstudien zu Wieland behandelt oder in jüngerer Zeit mit anderen zeitgenössischen Autoren und Werken verglichen, ist aber bis heute nur in drei Dissertationen und vier Aufsätzen analysiert und interpretiert148 worden. In Übereinstimmung mit Erhart149 und Paulsen scheint die neuere Wielandforschung eine intensive Auseinandersetzung mit „Musarion“ nicht für erforderlich zu halten. Ein Blick auf die Forschungsberichte nach 1945150 zeigt, daß in keiner dieser Publikationen die Notwendigkeit weiterer Studien zu „Musarion“ erwähnt oder eine Auseinandersetzung mit diesem Werk gefordert wird.

Eine der bekanntesten Studien zu der Versdichtung stammt von Staiger151. Trotz einer „gewissen Wieland-Fremdheit“, auf die Hans Wolffheim in seiner Rezension zu Staigers

145 Rickes hat in seiner Dissertation einige Forschungsdefizite aufgezeigt. Danach sind u. a. folgende Interpretationsprobleme von „Musarion“ noch nicht überzeugend geklärt: - Handlungsstruktur und Figurengestaltung des Textes. - Für die philologische Grundlagenforschung und die interpretatorische Auseinandersetzung fehlt eine historisch-kritische Ausgabe von „Musarion“ – wie für viele andere Werke Wielands. - Darstellung und Auswertung heterogener zeitgenössischer Rezeption der Verserzählung (Rezensionen, Übersetzungen, literarische Wirkung u. a.) und Untersuchungen der kontroversen literaturgeschichtlichen Beurteilungen im 19. und 20. Jahrhundert (für letzteres leistet die Dissertation Ruppel wichtige Vorarbeiten); Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 3f. 146 Im Gespräch mit Böttiger bemerkt Wieland: „... wo hat irgend eine Nation ein so erfundenes und componirtes Gedicht, wie meine Musarion ist, aufzuweisen?“; Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen, Leipzig 1838, Bd. 1, S. 255. 147 „... man darf sagen, daß die Dichtung „Musarion“ gerade in der Begrenzung ihres Anspruchs, die vollendetste von Wieland geworden ist. Es gibt inhaltlich tiefere und formal virtuosere Werke des Dichters, hier aber fügen sich Inhalt und Form zu einem makellosen Gebilde“; Sengle, S. 203. 148 - J. R. Asmus: Die Quellen von Wielands „Musarion“, in: Euphorion 5 (1898), S. 267-290. - Emil Staiger, Wielands Musarion. - Elisabeth Boa: Wieland’s Musarion and the Rococo Verse Narrative, in: Periods in , ed. J. M. Ritchie, Vol. II, London 1969, S. 23-41; Boa diskutiert die Beziehung von „Musarion“ zum Rokoko. - Herbert Rowland, „Musarion“ and Wielands Concepts of Genre. - David William Head: Wieland’s Development to Fulfilment in „Musarion“. A study in Transition with Particular Attention to the Earlier Comic Verse Narrative Works and the Influence of Matthew Prior (M. Phil. Thesis, unpublished), Reading 1977. - Charlotte Köppe: Christoph Martin Wielands Beziehungen zur Antike in der Verserzählung „Musarion“ (1768), in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 143-153. - Joachim Rickes: Führerin und Geführter. 149 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 334. 150 - Fritz Martini, Wieland-Forschung, S. 269-280. - Sommer, S. 56-60. - Thomè, Wielandforschung, S. 492-513. - Hans-Werner Seiffert, Zu einigen Fragen der Wieland-Rezeption, S. 425-436. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist die Wielandforschung insgesamt gekennzeichnet durch ein auffälliges Desinteresse an einem Text, dessen zentrale Stellung im Werk des Autors herausgestellt wird. 151 Emil Staiger, Musarion, S. 35-54. 27

Aufsatz hingewiesen hat152, verteidigt Rickes den Aufsatz gegen die vehemente Kritik, die in der germanistischen Literaturwissenschaft seit über zwei Jahrzehnten generell an dem Hauptvertreter der werkimmanenten Interpretation geübt wird. „Häufig genug wird dabei diese Methode pauschal abgelehnt und nicht nach ihren Stärken und Schwächen differenziert, für die gerade Staigers ‚Musarion‘-Studie einen interessanten Beleg bildet“153.

In der Forschungsliteratur fällt das geringe Interesse am Inhaltlichen des Textes auf. Das scheint kein Zufall. Es spiegelt eine in der Wielandforschung seit langem vertretene Einschätzung des Stellenwertes von Form und Inhalt, vor allem in den Versdichtungen wider, die u. a. Rowland gut zusammenfaßt: „Many scholars regard the content and thematic substance of Wieland’s verse narratives in general as insignificant and see the author’s success in his cultivation of form“154. Diese Abwertung der Bedeutung des Inhalts von „Musarion“ läßt sich durch eine Reihe weiterer Einzelaussagen belegen155. Die Bewertung von „Musarion“ in der Wielandforschung ist auf die literaturwissenschaftliche Einschätzung der Verserzählung nicht ohne Einfluß geblieben und hat dadurch teilweise zur Unterschätzung des Inhalts geführt. Kennzeichnend für die Forschungslage ist, daß ausgerechnet der formale Aspekt kontinuierlich und intensiv untersucht worden ist, der der Verserzählung kaum angemessen ist. Die „Musarion“-Forschung des 19. Jahrhundert, aber auch neuere Interpreten haben versucht, die Quellen und literarischen Vorbilder für die Gestaltung der Versdichtung ausfindig zu machen156; es wird u.a. auf Aristainetos, Alkiphron, Horaz, Lukian, Shakespeare157 und Matthew Prior158 hingewiesen, ohne dadurch für das Verständnis und die

152 Hans Wolffheim: Rez. Zu: Wieland – Vier Biberacher Vorträge 1953, Wiesbaden 1954, in: Euphorion 49 (1955), S. 245-247, S. 245. 153 Rickes hat Staigers Studie zu „Musarion“ ausführlich im Zusammenhang mit dem Thema seiner Dissertation analysiert; vgl. Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 201-214, S. 210; vgl. zu Staigers „Musarion“-Studie die Kritik von Lautwein: „Auf die Spitze getrieben wird die rein werkimmanente Betrachtungsweise...., der diese Erzählung als völlig zweckfreies, realitätsenthobenes Rokoko-Spielwerk feiert“; Thomas Lautwein, Erotik und Empfindsamkeit, S. 20. 154 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concepts of Genre, S. 49. 155 Oskar Walzel kontrastiert Wielands „ernsthafte“ Romane mit den „verspielten“ Versdichtungen; vgl. Oskar Walzel, Wielands Versepik, in: Jahrbuch für Philologie 2 (1927), S. 8-34, S. 9. In anderem Zusammenhang betont Kausch den relativ geringen Stellenwert des Inhaltlichen bei Wieland; Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 28f. Zwar läßt der einflußreiche Aufsatz von Preisendanz teilweise auch Ansätze einer differenzierteren Betrachtungsweise erkennen, stellt aber beim Vergleich mit anderen Autoren für Wielands Versdichtungen die „eigentümliche Struktur des scherzhaften Erzählens“ fest. Als besonderes Charakteristikum der Versdichtungen betont Preisendanz die geringe Bedeutsamkeit des erzählten Geschehens und hebt demgegenüber die Bedeutung der diesen „Inhalt“ vermittelnden „Form“ hervor; Wolfgang Preisendanz: Wieland und die Verserzählung des 18. Jahrhunderts, in: GRM 43, NF 12 (1962), S. 17-31, S. 23ff. 156 Vgl. u. a. J. R. Asmus: Die Quellen von Wielands „Musarion“; zur Kritik an Asmus im Zusammenhang mit dem Hetärenstatus von Musarion; vgl. Joachim Rickes: Führerin und Geführter, S. 177ff. 157- August Minor: Quellenstudien zur Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts I: Zu Wieland, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 19 (1887), S. 230-232. - Spiridion Wukadinovic: Prior in Deutschland, Graz 1895, S. 50-58. 28

Interpretation von „Musarion“ bedeutende Erkenntnisse zu erzielen. Die Resultate dieser Quellenforschung belegen, daß aus einer solchen Analyseperspektive nur begrenzt Forschungsergebnisse zu erwarten sind. Eine Bestätigung dafür liefert Köppe159, die versucht, in „Musarion“ nachzuweisen, daß das Antikebild durch seine „emanzipatorisch gesellschaftliche Orientierung bestimmt sei“. Sie legt das Gewicht auf Fragen der Gegenwart und sieht in der antiken Literatur für Wieland nur ein „Stoffreservoir“160. Dabei wiederholt sie bereits Bekanntes und kommt über bekannte Forschungsergebnisse nicht hinaus, vermag keine Erkenntnis zu erzielen, die die erneute Thematisierung einer in bezug auf „Musarion“ beantworteten Fragestellung rechtfertigen würden161.

Auch bei Rowland geht es um gattungspoetische Probleme des Textes162, aber er hat durch das Aufzeigen der verschiedenen Elemente des Lehrgedichts des 18. Jahrhunderts in

- Julius Steinberger: Lucians Einfluß auf Wieland, Diss. Göttingen 1902, S. 64-66. - Vgl. auch Victor Michel: C. M. Wieland. La formation et l’evolution de son esprit jusqu’en 1772, Paris 1938, S. 375f. 158 Auch Head geht es in seiner Studie primär um Quellennachweise und das Aufzeigen von literarischen Einflüssen und Bezügen (David William Head: Wieland’s Development to Fulfilment in „Musarion“. A study in Transition with Particular Attention to the Earlier Comic Verse Narrative Works and the Influence of Matthew Prior, M. Phil. Theses, unpublished, Reading 1977); vgl. dazu die Anmerkungen als Anhang von Joachim Rickes Dissertation: Führerin und Geführter, S. 303-305; alle inhaltlichen Bemerkungen zu Head’s Studie sind der genannten Quelle bei Rickes entnommen. Danach muß Head’s Manuskript bis auf weiteres als wissenschaftlich nicht verwertbar betrachtet werden. Head habe seine Studie 1976 als „Ph. D. Theses“ an der University of Reading eingereicht, jedoch wurde sie für die Verleihung des Titels als nicht ausreichend beurteilt; dafür wurde Head der akademisch niedrigere Grad des M. Phil. verliehen. Rickes vermutet, daß als Reaktion auf diese Entscheidung Head seine Studie nicht publizierte und sie zusätzlich von jeder Form des Leihverkehrs ausschloß. Rickes hat das Manuskript eingesehen und in seiner Dissertation eine kurze Inhaltsangabe gegeben, da aufgrund des Urheberrechts ohne Einwilligung des Autors die Arbeit weder zitiert noch auszugsweise publiziert werden darf. Nach Rickes vertritt Head in seiner Studie zwei zentrale Thesen, die er versucht, zu begründen: Er will durch den Vergleich mit einschlägigen Werken anderer Autoren und unter Verweis auf ein Entwicklungsmoment innerhalb von Wielands Verserzählungen (von „Nadine“ über die „Comischen Erzählungen“ und „Musarion“) nachweisen, daß letztere innerhalb der Gattung „Comic Verse Narrative“ einen Höhepunkt darstellt. Nach Rickes hätte diese These nicht des aufwendigen Nachweises bedurft, da die gattungsmäßige Einschätzung von „Musarion“ als „Comic Verse Narrative“ im wesentlichen unstrittig sei und nicht im Gegensatz zur gängigen Forschungsauffassung stehe. In der zweiten zentralen These versucht Head zu belegen, daß die Wieland- Forschung den Einfluß von Matthew Prior insbesondere auf „Musarion“ unterschätzt habe. Nach Rickes liefert Head dafür keine ausreichenden Belege – ja, der Versuch müsse als „gescheitert“ angesehen werden; er beweise nur, wie abwegig und literaturwissenschaftlich unergiebig detaillierte Quellen- und Abhängigkeitsversuche seien und wie dadurch gerade die Eigenständigkeit und besondere Qualität von „Musarion“ verkannt werde; Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 305. 159 Charlotte Köppe, Wielands Beziehungen zur Antike in der Verserzählung „Musarion“, S. 143-153. 160 Evelyn Radczun: Christoph Martin Wielands Bedeutung und Wirkung im 18. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Konferenz in Halberstadt am 28./29. 9. 1983; Rez. in: Zeitschrift für Germanistik 6 (1985), S. 91-94, S. 93; vgl. dazu auch Wolfgang Albrecht: Wieland-Konferenz Halberstadt 1983. Ausführliche Dokumentation, in: Weimarer Beiträge 30 (1984), H. 5, S. 851-855. 161 Mit dieser Feststellung soll nicht bestritten werden, daß die Untersuchung von Wielands Verhältnis zur Antike insgesamt, die nach 1945 vor allem von der ehemaligen DDR-Germanistik betrieben wurde, sinnvoll und wichtig ist (vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in dem Wieland-Kolloquium Halberstadt 1983, hg. Thomas Höhle, Halle/Saale 1985); für „Musarion“ erscheint diese Problemstellung allerdings inzwischen ausdiskutiert. 162 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concepts of Genre. Gattungstypologisch hat er für „Musarion“ die Stilmischung dreier traditioneller Formen nachgewiesen: die Komödie, Verserzählung und das Lehrgedicht. 29

„Musarion“ den von Soerensen behaupteten „inneren Ernst“ des Textes163 als Strukturelement nachweisen können. Rowland betont, „the didacticism and serious intent of Musarion“ ebenso wie „the instruction basic to the work“164 und verweist dabei vor allem auf die Ernsthaftigkeit der von Musarion gelehrten „Philosophie der Grazien“ hin165. Rowlands Studie ist nicht nur in diesem Aspekt aufschlußreich. Sie stellt innerhalb der „Musarion“-Sekundärliteratur einen wesentlichen Erkenntnisforschritt dar, der nicht immer richtig eingeschätzt worden ist166.

Durch mangelnde Genauigkeit der Betrachtung der Handlungsvorgänge kommt es zu Fehleinschätzungen von Handlungsaspekten und Figurenaussagen. So fehlt es zu „Musarion“ nicht an explizierten Interpretationsaussagen über den relativ geringen Stellenwert des Inhalts. Boa erkennt in „Musarion“ (a) „predominance of form“167, die sie u.a. aus der Offensichtlichkeit der Handlungsführung im Text ableitet: „A plot is necessary, but we are not absorbed by it, we are mode aware by its very obviousness that it is a formal divice“168. Schecker beruft sich bei seiner Einschätzung des Stellenwerts des Inhaltlichen in „Musarion“ auf Preisendanz‘ Formulierung vom „Mangel jeder tieferen Sinndimension“169 und vertritt die Ansicht, „... der Vorgang des Erzählens selbst stellt den Gegenstand der Dichtung dar, nicht aber die erzählte Wirklichkeit“170. Eindeutig äußert sich Schindler-Hürlimann, die im Vergleich zur „Geschichte des Agathon“ ausdrücklich für „Musarion“ auf das „harmlos tändelnde... Spiel“ und die „ironisch

Lautwein bemerkt allerdings, daß Wieland diese Stilmischung schon in den „Comischen Erzählungen“ praktizierte und belegt es am Beispiel von „Aurora und Cephalus“ (Thomas Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit, S. 165-204). 163 Bengt Algot Soerensen Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jahrhunderts, in: Euphorion 48 (1954), S. 125-152, S. 148f. 164 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concepts of Genre, S. 29-51, S. 50f. 165 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concepts of Genre, S. 42; an anderer Stelle bezeichnet Rowland Musarions Lehre als „a serious view of life“, S. 97. 166 Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 277, Anm. 61; er verweist dafür auf die nach seiner Einschätzung wenig sachkundige, überwiegend negative Rezension von Wolfgang Paulsen, die den vielen Vorzügen dieser Studie in keiner Weise gerecht werden (Wolfgang Paulsen: Rez. von Herbert Rowlands „Musarion“, in: Monatshefte 69 (1977), S. 208f.). 167 Elizabeth Boa, Wielands „Musarion“, S. 33f; vgl. allerdings auch S. 39. 168 Elizabeth Boa, Wielands „Musarion“, S. 34. 169 Michael Schecker: Ästhetische Semantik – Versuche zu einer theoretischen Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main/Bern u. a. 1977, S. 232. Die Berechtigung dieser Berufung auf Preisendanz muß bezweifelt werden; eine genaue Lektüre von Preisendanz‘ Studie belegt, daß mit der von Schecker zitierten Bemerkung kaum auch Wielands Versdichtung gemeint sein dürfte; siehe insbesondere Preisendanz‘ Bemerkung zu Wielands Wahrheitsbegriff; vgl. Wolfgang Preisendanz, Wieland und die Verserzählung, S. 27. 170 Michael Schecker, Ästhetische Semantik, S. 233. 30 kostümierte Inhaltlosigkeit“171 hinweist. Zutreffend registriert deshalb Rowland „a reluctance on the part of critics to accept the ... serious intent... fundamental to Musarion“ 172.

Im Hinblick auf die Forschungsliteratur zu „Musarion“ läßt sich immer wieder eine auffallende Diskrepanz zwischen der längst anerkannten literaturgeschichtlichen Bedeutung und dem offensichtlichen Desinteresse der Wielandforschung an dieser Verserzählung feststellen. Rickes weist in seiner Untersuchung173 die dafür stets geltend gemachte Ursache, die angebliche inhaltliche, aber auch formale Simplizität von „Musarion“ zurück und korrigiert mit seiner Studie – die letzte größere Arbeit zu „Musarion“ - die in der Wielandforschung verbreitete Fehleinschätzung. Er unternimmt erstmals den Versuch, „Musarion“ unter einer motivgeschichtlichen Perspektive zu untersuchen. Durch diese Betrachtung, den Text im Hinblick auf die Ausgestaltung des Motivs „Führerin und Geführter“ zu analysieren, versucht Rickes zwar einseitig, aber mit vielen Belegen, der Versdichtung eine neue Deutung zu geben. Der Gewinn der hauptsächlich werkimmanenten Interpretation des Motivs von der „führenden“ Frau und dem „geführten“ Mann liegt in der genauen Aufmerksamkeit, mit der erstmals Zeitraum, Psychologie und Dramaturgie der Wielandschen Verserzählung betrachtet werden174. Dabei entgeht Rickes allerdings nicht der Gefahr, die er bei anderen „Musarion“-Interpretationen diagnostiziert. Der vorausgesetzten Prämisse, Phanias sei „führungsbedürftig“175, entspricht das von Beginn an konstruierte Schema einer psychologisch versierten „Führerin“ Musarion, deren Souveränität die Fäden der Handlung zum guten Ende führt. Alle Dialoge dieses Werkes werden in diesem Sinne psychologisiert. Zu diesem Ergebnis kommt auch Erhart, der meint, Rickes müsse in der Interpretation dem Text „schon Gewalt antun, um die eigene These der vollen Souveränität Musarions zu stützen“176. Insgesamt bleiben die Ergebnisse dieser Motivanalyse ebenso konventionell wie das zusammengefaßte Resultat der Interpretation: die „Führung des Mannes aus der Verblendung der Schwärmerei zur Erkenntnis der Realität“177. Rickes kommt

171 Regina Schindler-Hürlimann: Wielands Menschenbild. Eine Interpretation des „Agathon“, Zürich 1964, S. 30f. 172 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre, S. 51. 173 Joachim Rickes, Führerin und Geführter; vgl. dazu die Rez. von Ellis Shookman in: Lessing Yearbook 23 (1991), S. 239-241. 174 Vgl.Walter Erhart: Rez. zu Joachim Rickes, Führerin und Geführter, in: Germanistik 31 (1990), H. 3, S. 656f. 175 Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 102. 176 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 354, Anm. 57. Alle sich dem Schema nicht fügenden Wendungen werden zu rhetorischen Strategien der Musarion erklärt; jede Diskursverschiebung „stellt ein von der Frau kalkuliert eingesetztes Mittel der Gesprächsführung dar, um die jetzige Einstellung des Helden gegenüber seiner früheren Begeisterung für die Philosophie zu ergründen“; Joachim Rickes, Führerin und Geführte, S. 129. 177 Joachim Rickes: Führerin und Geführte, S. 132. 31 kaum über die Ergebnisse der von ihm im Detail kritisierten Forschungsarbeiten hinaus; er kehrt teilweise sogar zu Emil Staiger zurück178.

Einen anderen Ansatz zum Thema „Verführerin“ und „Verführte“ hat Bailet179. Im Kapitel „Verführer, Verführerin und Verführter aus Eitelkeit“ geht die Verfasserin auf Danae ein und bedient sich dabei der komparatistischen Methode, um zu veranschaulichen, wie sich die literarische Gestalt der Verführten bzw. Verführerin unter soziologischen und materialistisch begründeten Auffassungen vom Menschen grundlegend ändern und wie sich ursprünglich Sündhaftes in einen positiven Faktor verwandeln kann. Nach Bailet versucht Wieland, mit der Gestalt seiner Verführerin die Monotonie der in der Literatur des 18. Jahrhunderts des öfteren auftretenden Charakterisierung der weiblichen Heldin als „Hure“ (Lenz) oder „Heilige“ (Richardson) zu durchbrechen. Zwischen diesen beiden Extremen finde Wieland den „goldenen Mittelweg“. Geläutert erreiche Danae die Harmonie von Geist und Körper, allerdings nicht in der Wirklichkeit, sondern in einer utopischen Welt, in der deutsche Tugendstrenge und französische „Geselligkeit“ eine Synthese bilden180.

Zum Abschluß sei auf einige Zusammenhänge hingewiesen, in denen „Musarion“ auch analysiert und interpretiert wird, so u. a. mit der „erotischen Dichtung“ und der „scherzhaften Literatur“, „Körper und Sprache“ bzw. der „Rhetorik des Körpers“. Schlaffers181 Interpretation von „Musarion“ steht im Zusammenhang mit seiner Analyse der Gattungspoetik und -geschichte der erotischen Literatur in Deutschland und dementsprechend wird die Verserzählung durchgängig unter Bezugnahme auf das Konzept der erotischen Gattung untersucht182. Ehrich Haefeli183 untersucht anhand von Wielands „Musarion“ und

178 Vgl. dazu Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 201ff. Nach Erhart dürfte die von Rickes aufgebotene Hauptthese, die Heldin sei „ein durchweg positiv zu beurteilender Charakter“ und repräsentiere eine „eindeutig positive Führerfigur“ (Rickes, S. 172), der Forschung kaum neue Impulse geben; Rez. von Walter Erhart in: Germanistik 31 (1990), S. 656. 179 Dietlinde S. Bailet: Die Frau als Verführte und als Verführerin in der deutschen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bern/Frankfurt/M. 1981. 180 Nach Dietlinde S. Bailet, Die Frau als Verführte und als Verführerin, S. 204. 181 Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971; kritische Anmerkungen zu Schlaffer generell vgl. Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 11f., und in scharfer Absetzung gegen Schlaffers Vorgehen formuliert Verwegen einige Forderungen; vgl. Theodor Verwegen. Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetisch-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik, in: GRM NF 25 (1975), S. 276-306, S. 282f. 182 Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Rickes; für ihn ist Schlaffers Versuch, die Verserzählung als einen „antizipierten Bildungsroman“ zu deuten, wenig einleuchtend und unverständlich, da die von Schlaffer selbst angeführten Charakteristika des Bildungsromans beweisen, wie wenig „Musarion“ den Strukturmerkmalen dieses Romantyps entspricht. Für Rickes ist „Musarion“ als Beleg eines „Übergangs der erotischen Gattung in den Roman das untaugliche Objekt“; Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 191-200, S. 200. 32

Maler Müllers „Der Satyr Mopsus“, wie der Körper in ihnen präsent ist, und zwar in einer doppelten Fragestellung: wie sich in ihnen das Verhältnis des Erzählers und der Figuren zum Körper darstellt, und wie dieses Verhältnis die Sprache dieser Texte“184 prägt. Ohne auf den Aufsatz in seiner Komplexität näher einzugehen, bleibt die Begründung für die Auswahl der beiden Werke fragwürdig185. Auch für Mauser186 ist die Beredsamkeit der weiblichen Erscheinung mehr als ein poetisches Verfahren. In seinem Versuch dokumentiert er, daß, wenn Wieland die „Philosophie der Grazien“ durch eine Frau vorstellt und vertreten läßt, sie damit keineswegs die Einschätzung der Philosophie, seit der Antike eine Sache der Männer, kompromittiert. Nach Mauser verbindet Wieland die Idee der Weltweisheit vielmehr mit einer Vorstellung von körperlicher Evidenz, die niemand überzeugender erbringen konnte als eine Frau. „Musarions Erscheinung sollte augenfällig machen, daß Eros und Vernunft eine Einheit bilden“, danach sei die körperlich-sinnliche Ausstrahlung der Titelheldin die eine Seite ihrer Erscheinung, die geistig-sinnliche, die moralisch-sinnliche die andere. „Die Sprache ihres Körpers... war Ausdruck ihrer ‚Philosophie‘...“. Wieland bestätigt mit seinem Werk das Diktum: Männer setzen Taten, Frauen treten auf. Musarions Auftritt sollte Beredsamkeit sein... Der Begriff ‚Poesie des Stils‘ (müßte) um den Begriff der ‚Poesie der Erscheinung‘187 ergänzt werden188. Bleibt abschließend zu bemerken, daß bisher noch nicht über die Möglichkeiten der Aktualisierung Wielands im heutigen Schulunterricht geforscht worden ist – „Musarion“ wäre dafür ein guter Einstieg.

183 Verena Ehrich-Haefeli: Körper und Sprache bei Wieland und Maler Müller, in: Autorität und Sinnlichkeit. Studien zur Literatur und Geistesgeschichte zwischen Nietzsche und Freud. Eine internationale Tagung, hg. Karol Sauerland, Bern/Frankfurt/M. 1986, S. 237-280. 184 Verena Ehrich-Haefeli, Körper und Sprache, S. 237. 185 Die Verfasserin habe die zwei Dichtungen so gewählt, „daß sie in ihrer Verschiedenheit jene Epochenschwelle markieren, mit der die Entstehung der modernen Individualität verbunden wird und die Entstehung jener Sprache, die bis vor kurzem noch die unsrige war“; Verena Ehrich-Haefeli, Körper und Sprache, S. 237. 186 Poesie der Erscheinung: Zur Rhetorik des ‚glücklichen Körpers‘ in der Aufklärungsliteratur. Ein Versuch, in: Sara Friedrichsmeyer/Barbara Becker-Cantarino (Hg.): The Enlightenment and Its Legacy. Studies in German Literature in Honor of Helga Slessarev, Bonn 1991, S. 73-84. 187 Wolfram Mauser, Poesie der Erscheinung, S. 80. 188 In diesem Zusammenhang sei auf die „Lebenslehre der ‚Musarion‘“ verwiesen, die Meier in der Handlung des dritten Buches zwischen Phanias und Musarion über Lebenssinn und Lebensgestaltung sieht: danach wird in diesem Buch der bisherigen Erziehung zur Sinnlichkeit ein Gegenprinzip gegenübergestellt. Der „Versinnlichung“ in den Verserzählungen vor „Musarion“ trete hier eine „Vergeistigung“, eine Ethisierung des Sinnlichen gegenüber; Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 100–110. „Seit den Tagen des hohen Mittelalters wäre eine solche Szene in deutscher Literatur undenkbar gewesen. Sie bleibt auch in der nachfolgenden deutschen Literaturgeschichte völlig isoliert. Es ist der geglückte Ansatz einer deutschen Salonkunst, die aber keine Nachfolger findet. Inhaltlich handelt es sich um eine philosophische Diskussion, ist es jedoch auch wieder nicht. Denn der Führer in diesem Gespräch ist kein Gelehrter und Weiser, sondern eine Frau, die gleichzeitig anziehend und klug ist“, S. 103. 33

1.4.2.2 „Die Grazien“

Während „Musarion“ (1768) neben „Don Sylvio“ (1764), den „Comischen Erzählungen“ (1765) und dem „Agathon“ (1767) zu den „literarischen Meisterwerke(n) der Biberacher Zeit“189 gezählt werden und des öfteren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen waren, ist das 1770 veröffentlichte Gedicht „Die Grazien“ in der Wieland-Forschung kaum beachtet worden. Nur im Zusammenhang mit ästhetischen Gestaltungsmitteln und poetischen Konzeptionen findet es Erwähnung. Sommer weist auf die „Leichtigkeit des Stils“, die „Freude an der Stilform der Vermischung von Versen und Prosa“ hin, vor allem „Mannigfaltigkeit“ und die „Musik“ der Sprachen seien evident190. Für Sommer ist der Gegenstand des Gedichts so leicht, daß die Prosa sich wie von selbst in die Musikalität der Versrede zu erheben scheine. Ob allerdings die zum Teil bewußt zwanglosen Übergänge „etwas von der aufhöhenden, lyrisierenden oder entdramatisierenden Wirkung des Arieneinsatzes in der Oper“ haben und die „gesangartigen Einschübe tatsächlich schon den Stil der lyrischen Partien in den späteren Wielandschen Singspielen erkennen“ lassen191, bleibt offen – Belege dafür gibt Sommer nicht.

Anhand mehrerer Werke, die zwischen 1770 und 1772 entstanden, nimmt Schäfer zu Wielands poetischer Konzeption Stellung und versucht eine Annäherung des Dichters an den Sturm und Drang. Nach Schäfer erprobt Wieland mit „Die Grazien“ ein neues distanziertes Verhältnis zwischen Dichtung und Leben und setzt „die entschiedenste Alternative zur literarischen Funktionsauffassung“ des Sturm und Drang, gleichzeitig seien Tendenzen der späteren Klassik vorweggenommen. Während der Sturm und Drang „die gesellschaftlichen Widersprüche poetisch aufzureißen und den Rezipienten für ihre Bewältigung zu aktivieren sucht“, übertrage Wieland der Poesie die Aufgabe, seinem „natürlichen Ideal“ verfeinerter Geselligkeit zu dienen. Schäfer folgert, daß die Orientierung auf das „Schöne“, das „Idealische“ und auf die dialogische Werkstruktur für Wieland zukunftsweisend waren; ihre „Einbeziehung in seine poetische Konzeption erlaubte ihm das Aufspüren neuer künstlerischer Wege“192.

189 Klaus Schäfer: Zwischen Höhepunkt und Krise – Zu Wielands poetischer Konzeption um 1770, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 29-39, S. 29. 190 Cornelius Sommer: Europäische Tradition und individuelles Stilideal, in: Arcadia 4 (1969), S. 247-273; WA in: Schelle, S.344-378, S. 367. 191 Cornelius Sommer, Europäische Tradition, S. 368. 192 Klaus Schäfer: Zwischen Höhepunkt und Krise, S. 38. 34

Einem bisher nicht erforschten Aspekt in „Die Grazien“ geht Sträßner nach. Er verweist darauf, daß Wieland ein bisher kaum beachteter Ballett-Librettist sei. Unter dem Titel, der eher auf eine Biographie oder Anekdotensammlung verweist, „Tanzmeister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Lessing, Wieland, Goethe, Schiller“193 ist die Studie ein Beitrag zur Erforschung der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Im Schnittpunkt von Theater-, Tanz- und Literatur-Geschichte argumentierend, skizziert Sträßner die Entstehung einer „Poetik des stummen Spiels“ zwischen 1765 und 1775194. In dem Abschnitt „Grazie und Grazien. Christoph Martin Wieland und die Pantomime“ versucht der Autor anhand mehrerer Textbelege nachzuweisen, daß der Dichter sich zuerst im „Agathon“ darum bemühte, die Kunst der Pantomime literarisch wieder auferstehen zu lassen. Sträßner verweist auf bereits Bekanntes, wenn er formuliert, daß es berechtigt sei, im 18. Jahrhundert von einer „End-Krise der klassischen Rhetorik“ zu sprechen, eine Krise, die auch die Künste befiel, die von der klassischen Rhetorik geprägt waren – und so wären Ballett und Schauspielkunst eine neue Partnerschaft eingegangen, die in dieser Zeit in der pantomimischen Debatte ihren Höhepunkt erreichte. Sträßner zeichnet die Entwicklungslinien Wielands nach, wie er sich im Laufe der Zeit in seinen Werken mit Tanz und Pantomime auseinandergesetzt habe195. Beides finde bei ihm endgültig zu einer neuen Dimension, als er sich mit der antiken Tanzkunst und Lukian beschäftigte196. Einen Höhepunkt in der Beschäftigung mit Pantomimen sieht Sträßner um 1769, in dem u. a. „Koxkox“ und „Die Grazien“ entstanden. Von der Literatur- und Tanzgeschichte bisher fast unbeachtet ist das gleichnamige Ballett „Die Grazien“, das 1769 Noverre in Wien nach dem Libretto Wielands aufgeführte197. Sträßner weist detailliert nach, warum Noverre gerade auf dieses Werk Wielands zurückgriff. Es sei die „Kongenialität des Librettos und die Übereinstimmung mit vielen Elementen der Noverreschen Poetik“ gewesen. Um seine Ergebnisse zu verifizieren, untersucht Sträßner mehrere Werke auf ihren pantomimischen Inhalt198. Interessant - aber nicht unumstritten und kaum nachvollziehbar - ist im Zusammenhang mit „Die Grazien“ die

193 Berlin 1994. 194 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 9. 195 nach Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 113. 196 Für eine Wiedererweckung der Tanzkunst der Griechen bei Wieland spreche nach Sträßner u. a. das Zitat aus Lukians Tanztraktat in „Musarion“ (1768); HRA III 9,76; Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 115; dort weitere Belege. 197 Sträßner zeigt detailliert die Veränderungen, die Noverre an den „Grazien“ von Wieland vorgenommen hat, damit es ein Ballett-Szenar wird; der Verfasser kann aber nicht belegen, daß Noverres Bearbeitung mit Wieland abgesprochen war. 198 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 120. Auf die „Grazien“ folgen weitere Ballette Wielands: 1772 bearbeitet er seine fragmentarische Erzählung „Idris und Zenide“ von 1768 als „heroisch-komisches“(!) Ballett; vgl. Sengle, S.285, und Starnes, Bd. I, S. 434. Wieland schickte das beendete „Programme du Ballet Idris et 35

Feststellung Sträßners, daß die Idylle als poetischer Ort „geradezu dafür prädestiniert (sei), einen Autor wie Wieland, der sich in seiner poetischen Rhetorik ausschließlich im genus medium bewegte, und einem Ballettreformator wie Noverre, der ansonsten das ‚pathos‘ predigte, ... zusammentreffen zu lassen“199. Der Verfasser weist auf ein philosophisches Problem hin, das mit dem Phänomen „Grazie“ verbunden ist und das „Die Grazien“ und die Darstellung im Ballett-Szenar bestimmt200: die Mittel, diesen Begriff zu veranschaulichen, sind karg. Damit steht die „Grazie“ der ursprünglichen „Konzeption von Pantomime als Entwicklung, Nachahmung, Metamorphose durchaus entgegen“201. Wenig überzeugend stellt Sträßner das in den „Grazien“ wirksame „Kultur-Soziogramm zwischen Wieland – Noverre – Geßner – Diderot - Winckelmann“ dar, das in „ihrem Eklektizismus eine raffinierte Verbindung von Winckelmanns Antike, Noverres Ballettreform und Geßners Idyllen- Divertissiments“ zeigt. Auch die Hinweise, Wieland zeige sich als beachtlicher Theater- Prosaiker und „Die Grazien“ erwecken den Eindruck, als spekuliere Wieland auf eine bühnenmäßige Verwirklichung, nicht zuletzt der Tänze wegen, können nicht überzeugen202. Ebenso kritisch zu sehen sind die Thesen, Wielands „Grazien“ seien der „Höhepunkt seiner grundlegenden Beschäftigung mit Tanz, dessen Poetik er von Sokrates über Lukian, die Erziehungsideale der Renaissance (Cortegiano) bis hin zu Winckelmann zu bestimmen sucht“, und das Thema des Tanzes und der Pantomime sei für Wieland „eines der beruflichen Enttäuschungen geworden“203. Obwohl Sträßner dafür keine überzeugenden Belege liefert, sind seine Bemerkungen schlüssig, wenn er zeigt, warum Wieland und Noverre keine längere Wegstrecke gemeinsam gehen konnten: bei Wieland stehen Grazie und Anmut – ethos – im Mittelpunkt, während Noverre Affekte und Leidenschaften – pathos - propagierte204.

Insgesamt bringen die Forschungen zu diesem Werk Wielands – wenn es überhaupt einer Untersuchung im Rahmen anderer Studien wert ist – zwar interessante Nuancen, tragen aber

Zenide“ am 16. 7. 1772 über den Grafen von Goertz an die Herzogin Anna Amalia; vgl. Wieland Briefwechsel 4, 570. 199 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 148f. „Die Idylle war neuer Treffpunkt von Ethos und Pathos, jenem entscheidenden und unvereinbaren Gegensatzpaar der sich auflösenden konventionellen Rhetorik. Mithin ist es keineswegs inkonsequent, daß ein Ballettmeister, der Anspruch auf die heroische Pantomime erhoben hat, ihn in der zeitgenössischen Praxis mit der Idylle einlöst“. 200 der Bestimmung des Begriffs „Grazie“ - das eigentlich Unsagbare - sind auch den Darstellungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt: „Denn der Inhalt der Erzählung kann nichts anderes sein, als die Erklärung des Begriffs mit den Mitteln einer Handlung: die Grazien lernen sich selbst erkennen“, Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 151. 201 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 152. 202 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 153. 203 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 153. 204 Matthias Sträßner, Literatur-Geschichte(n), S. 164. 36 kaum dazu bei, „Die Grazien“ in ihrer Bedeutung zum Gesamtwerk Wielands einzuordnen und zu würdigen.

1.4.3 Die emanzipierte Frau in Wielands Weltbild205

Heutige Fragestellungen in bezug auf die Frauenfrage wären dafür geschaffen, Wieland vom Vorwurf der Frivolität reinzuwaschen. Bevorzugtes Instrument dazu könnten u. a. sein emanzipiertes Frauenbild und sein aufgeklärtes, tolerantes Verhältnis zur Sexualität sein. Im Gegensatz zur kleinbürgerlichen Enge, in der die meisten Frauen des 18. Jahrhunderts lebten, hat Wieland in seinen Romanen und Verserzählungen emanzipierte Frauengestalten geschaffen, die in der Regel die Funktion hatten, die idealisch verstiegenen Helden in die Realität zurückzuführen und einen ganzen Menschen aus ihnen zu machen206. Es war das fiktive Griechenland der Antike, dem Wielands sexuell befreite, unverheiratete Frauen – die gebildeten Hetären – entstammten, die ihm die Möglichkeit gaben, diesen Frauengestalten einen positiven sozialen Status zu geben: Aspasia, Danae, Musarion, Lais u. a. entsprachen als Hetären Wielands weiblichem Ideal207. Obwohl diese Hetärengestalten den heutigen Emanzipationsbestrebungen entgegenkommen208, werden sie in der Forschung kaum oder nur im Zusammenhang mit Wielands großen Romanen beachtet209. Köpke macht darauf

205 Vgl. dazu den gleichlautenden Aufsatz von Wolfgang Paulsen, in: Die Frau als Heldin und Autorin, hg. Wolfgang Paulsen, Bern/München 1979, S. 153-174. 206 Joachim Rickes, Führerin und Geführter; vgl. das Kapitel „Musarion – Hetäre, Kurtisane, erotische Verführerin oder positive Führerfigur des Mannes“, S. 171-183. 207 Rickes warnt in seiner Dissertation vor dem unkritischen, undifferenzierten und unreflektierten Gebrauch des Begriffs der Hetäre und ihres Status‘ bei Wieland – wie zahlreiche Untersuchungen belegen; S. 175, dort zahlreiche Belege für seine These; vgl. auch Emil Staiger in seinem „Musarion-Aufsatz“; er übernimmt nicht das tradierte Hetären-Klischee anderer Autoren, das er für „Musarion“ kritisch reflektiert und zu der Auffassung gelangt, daß die Etikettierung „Hetäre“ dem komplexen Charakter der Heldin in der Versdichtung nicht gerecht werden kann. Staiger erläutert ausführlich seine einleuchtenden Bedenken und Einwände gegen die unkritische Übernahme dieses Klischees, Emil Staiger, Musarion, S. 104 208 in der Bibliographie von Günther/Zeilinger wurde extra eine Rubrik „Frauenfragen“ eingerichtet – was für eine Klassiker-Bibliographie wohl eher eine Ausnahme sein dürfte -. Vgl. G. Günther/Heidi Zeilinger: Wieland- Bibliographie 1983, S. 448f.; seit Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen mehrere Arbeiten, die sich mit Wielands Einstellung zur Frau bzw. der Frauenfrage auseinandersetzen. Aufschlußreich sind die Epochen, in denen diese Fragen thematisiert werden: im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, dann erst wieder in den siebziger Jahren. Zwischen 1930 und den ersten Nachkriegsjahren sind keine diesbezüglichen Studien verzeichnet. 209 Im Zusammenhang mit Wielands berühmten Romanen „Agathon“ und „Aristipp“ werden auch die Hetären Lais, Aspasia, Danae und Musarion in die Untersuchungen einbezogen; vgl. u. a. a) zu „Agathon“ - Kurt Wölfel: Daphnes Verwandlungen. Zu einem Kapitel in Wielands Agathon, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 41-56. - Ursula Frieß: Buhlerin und Zauberin. Eine Untersuchung zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, München 1970, S. 121-132. - Gerd Hemmerich: Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“. Eine kritische Werkinterpretation, Nürnberg 1979, Kap. 6: „Die schöne Danae“, S. 58-69. 37 aufmerksam, daß Wieland sein Lesepublikum gut genug kannte und den Status der Hetäre in seinen Werken behutsam erklärte und außerdem als „Vorsichtsmaßnahme“ diese Frauen zu Ausnahmen erklärte: „sie sind nicht nur außergewöhnlich schön und reizend, sondern auch hoch intelligent“210. Köpke betont, daß das freie Leben dieser Hetären auf Reichtum, Vernunft und Heiterkeit, auf geistiger, seelischer und materieller Unabhängigkeit beruhe; jede ausschließliche Liebe führe zu einem tragischen Konflikt. „Wielands freie Frauen (bleiben)... am Rande der Gesellschaft“211 – eine These, die der Verfasser nicht belegt. Diese Frauen waren sicher eine Ausnahme, und ihre Existenz war reizend und zugleich prekär, aber

- Heidi Glockhamer: The Apprenticeship of a Hetaera: Gender and Socialization in Wieland’s „Geschichte des Agathon“, in: The German Quarterly 61 (1988), Nr. 3, S. 371-386. - Thomas Kahlcke: Lebensgeschichte als Körpergeschichte. Studien zum Bildungsroman im 18. Jahrhundert, Würzburg 1997 („Die Geschichte Danaes“, S. 187-200). Alle haben eingehende Untersuchungen zur Danae-Episode geliefert, die nicht alle an das „Bildungsroman- Konzept“ gebunden sind. Obwohl sich einige Arbeiten gegenseitig befruchten (z. B. hat Hemmerich an Wölfels „Daphne“ partizipiert), kommen sie aus übereinstimmend festgestellten Befunden zu anderen Schlußfolgerungen b) zum „Aristipp“ Die Gedenkfeiern zu Wielands 250. Geburtstag haben auch eine neue Beschäftigung mit dem Werk gefördert. Es erschienen innerhalb der letzten Jahre mehrere Arbeiten, die sich mit dem Altersroman beschäftigen oder ihn mit Kommentaren herausbrachten. In diesem Zusammenhang schenkt man auch der Hetäre besondere Aufmerksamkeit, als deren Inbegriff Lais erscheint: - Klaus Manger: Wielands klassizistische Poetik als die Kunst des Mischens, in: Literarische Klassik, hg. Hans-Joachim Simm, Frankfurt/Main 1988, S. 327-353. - Klaus Manger (Hg.): Christoph Martin Wielands „Aristipp“ und einige seiner Zeitgenossen. (Bibliothek Deutscher Klassiker 28). Christoph Martin Wielands: Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, Frankfurt/Main 1988. In einem Exkurs „Aristipp und Lais im europäischen Kontext“, S. 1050-1966, vereinigt Manger nicht nur die Quellen, aus denen Wieland nachweislich schöpfte, sondern führt auch einschlägige gelehrte und dichterische Zeugnisse an; vgl. dazu die Rez. von Hansjörg Schelle: Wielands Aristipp und seine Neuausgaben, in: Lessing Yearbook XXVII (1996), S. 169f., der weitere Zeugnisse beibringt, die in Mangers Dokumentation fehlen, S. 173f. Nach Schelle dienen in den Erzählwerken der Biberacher und Erfurter Versdichtungen die Namen Lais und Aristipp als Topoi, „die bestimmte an die Tradition gebundene Vorstellungen wachrufen. So steht der Name Lais als Appellativ für die Hetäre, die sich allen hingibt. Es fehlt die psychologische Differenzierung und Vermenschlichung, welche die Lais-Gestalt im Roman erhält“, S. 173.; vgl. auch die Rez. von Jan Philipp Reemtsma, in: „Die Zeit“ Nr. 2 vom 6.1. 1989, S. 32f. - Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt/Main 1991 - Jan Philipp Reemtsma: Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Zürich 1993; er widmet der Hetäre Lais ein ausführliches Kapitel, S. 179-253. Reemtsma sieht die Lebensentwürfe der beiden zentralen Figuren Lais und Aristipp in einem polaren Spannungsfeld: „Das Laidische Prinzip“ der bindungslosen Individualisierung und das „Aristippische Prinzip“ des flexiblen Sich-Integrierens ins Gegebene liefern zusammen erst ein angemessenes Modell personaler Identität, S. 246 - Jan Philipp Reemtsma/Hans und Johanna Radspieler (Hg.): Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Christoph Martin Wieland: Werke in Einzelbänden, Zürich 1993; vgl. dazu die Rez. von Hansjörg Schelle in: Lessing Yearbook XXVII (1996), S. 170f. - Klaus Manger: Zum Bild der Frau um 1800 – in Klassizismus und Romantik, in: Propter fructus gratior. Festgabe aus Anlaß des 65. Geburtstags von Werner Köhler, hg. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt e. V., red. Leitung Horst Heinecke, Erfurt 1994, S. 41-51. - Jan Philipp Reemtsma: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, in: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 302-322. - Jan Cölln: Philologie und Roman. Zu Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im „Aristipp“, Göttingen 1998. 210Wulf Köpke: Die emanzipierte Frau in der Goethezeit, in: Die Frau als Heldin und Autorin, hg. Wolfgang Paulsen, Bern/München 1979, S. 96-110, S. 105; für Wielands „emanzipierte Frauen“ bringt Köpke keine neuen Erkenntnisse, sondern beruft sich u. a. auf ältere Untersuchungen, wie Wolfgang Paulsen, Der Mensch und sein Werk in psychologischen Perspektiven. 38

Wieland war realistisch genug, die Widersprüche dieser Hetären nicht zu verschleiern. Ein Versuch, diese Widersprüche auflösen zu wollen, mußte fehlschlagen, wie ältere Arbeiten zu diesem Thema belegen212.

Das feminine Element in Wielands Natur begabte den Dichter mit Einfühlung in die weibliche Psyche und befähigte ihn, überzeugende Frauengestalten in seinen Werken zu schaffen. In Wielands eigenem Leben entsprachen diesem Typ jene Frauen, denen er von seinen Jugendjahren bis ins hohe Alter immer wieder begegnete und mit denen er den geistigen Umgang pflegte; doch im persönlichen Lebenskreis sei Wieland in seinem Verhältnis zu Frauen innerhalb der eng gezogenen und bis ins 20. Jahrhundert hinein verbindlichen Grenzen der gesellschaftlichen Klasse, des bürgerlichen Mittelstandes, geblieben. Aufschlußreich ist für Schelle, und für die gesamte Wielandforschung, daß der Dichter den Widerspruch zwischen den Frauen in seinen Werken, den Frauen in seinem Umgang und seiner eigenen Ehefrau213 in seiner Haltung nicht durchschaute oder, „wie er es tat, mit dem leben konnte oder vielleicht mußte, um sich als Dichter verwirklichen zu können“214. Insgesamt bleibt Wieland zwar in der Frauenfrage hinter heutigen Erwartungen zurück, aber mit seinen Werken verbindet man den weiblichen Typ einer emanzipierten Frau.

Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind einige Publikationen entstanden, die die Zusammenhänge der dichterischen Imagination von Weiblichkeit und der realen gesellschaftlichen Lage der Frau aufzuarbeiten versucht haben. Es hat sich fast ein eigener Forschungszweig etabliert215. Rickes ist der Frauenfrage in Verbindung mit „Musarion“

211 Wulf Köpke, Die emanzipierte Frau, S. 106. 212 Vgl. u. a. Matthew G. Bach: Wieland’s Attitude toward Woman and her Cultural and Social Relations, New York 1922 (Nachdruck 1966); Bach bemüht sich vergebens um eine Bewertung von Wielands Hetären. 213 Schelle, Forschungsbeiträge, S. XXX. 214 vgl. dazu Uwe Hentschel: Seraph und/oder Sittenverderber? Erotik, Sexualität und Moral im Selbstverständnis Christoph Martin Wielands, in: Lessing Yearbook 27 (1995), S. 131-162, S. 140, der darauf hinweist, daß Wielands dargestellte Rollenzuweisung in der Ehe in eklatanter Weise der in seinen Werken postulierten Auffassung von gegenseitiger und achtungsvoller Liebe widerspricht, wie Wieland die emanzipierten Frauen u. a. in den Werken „Menander und Glycerion“ und „Krates und Hipparchia“ darstellt. 215 Hier seien exemplarisch nur einige der bekannteren und bedeutenden Studien genannt. Unter den älteren Arbeiten sind erwähnenswert: - Hilde Herlemann: Die Frau als Erzieherin in der Sicht des 18. Jahrhunderts, Diss. Frankfurt/Main 1934. - S. Etta Schreiber: The German Woman in the , New York 1948. - Elisabeth Blochmann: Das „Frauenzimmer“ und die „Gelehrsamkeit“, Heidelberg 1966. Zu den neueren Publikationen gehören u. a. : - Silvia Bovenschen: Imaginierte Weiblichkeit, Frankfurt/Main 1979. - Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Die Frau von der Reformation bis zur Romantik, Bonn 1980. - Susan L. Cocalis/Kay Goodmann (Hg.): Beyond the Eternal Feminine, Stuttgart 1982. - Lilian R. Fürst: The Man of Sensibility and the Woman of Sense, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 14 (1982), H. 1, S. 13-26. 39 nachgegangen. Dabei fällt ihm auf, daß innerhalb der Diskussion um die Rolle der Frau in Dichtung und Gesellschaft dieses Jahrhunderts Wielands Versdichtung „kaum eine Rolle spielt und von dem Forschungsbereich offensichtlich weitgehend übersehen worden ist“216. Nach seinen Untersuchungsergebnissen ist das überraschend, denn im Hinblick auf die weiblichen Emanzipationsbestrebungen und –diskussionen im 18. Jahrhundert erscheint das Frauenbild in Wielands Versdichtung keinesfalls weniger relevant und untersuchenswert als die Darstellung emanzipierter oder emanzipierender Frauen bei anderen Dichtern217. Rickes kritisiert die Frauenforschung, die zu Recht die Bedeutung anderer Frauengestalten hervorhebt218 und fragt, warum ein literaturgeschichtlich gleichrangiger Text wie „Musarion“ bisher unbeachtet geblieben ist, dessen „Frauengestalten kaum weniger interessant und provokant sind als Lessings Frauengestalten219. Während die Frauenforschung Wielands Texte offenbar bisher kaum zur Kenntnis genommen hat, ist in der Wieland-Forschung die Bedeutung der Frauengestalten seit langem bekannt und die Darstellung emanzipierter Frauen intensiv untersucht worden220.

- Bengt Algot Soerensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, München 1984. - Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit – Frauen und Literatur 1500-1800, Stuttgart 1987. 216Joachim Rickes, Führerin und Geführter. Wielands Darstellung emanzipierter Frauen, die u. a. in den von Brender nicht behandelten späten Romanen „Menander und Glycerion“ und „Krates und Hipparchia“ eine wichtige Rolle spielen, ist aus heutiger Sicht progressiver und provokativer, als die aus der auffällig beiläufigen Behandlung dieses besonders aktuellen Aspekts (Irmela Brender, Christoph Martin Wieland in Selbstzeugnissen, S. 31f.) hervorgeht. Unter diesem Gesichtspunkt erscheine insbesondere „Musarion“ für heutige Leser und Leserinnen interessanter und aktueller, als dies Brender erkennen lasse; Joachim Rickes: Wieland – ein langweiliger Dichter? Gedanken zu einer neuen Monographie, S. 511. 217 Für Rickes ist es ein interessanter Ansatz künftiger Forschungen, der Frage nachzugehen, wie eine solch provozierende Frauengestalt wie „Musarion“ zu deuten ist, die nicht nur der sozialen Realität des 18. Jahrhunderts, sondern auch gesellschaftlich gängigen Klischeevorstellungen über das Verhältnis von Mann und Frau nicht nur in diesem Jahrhundert entgegengesetzt ist; Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 214 218 Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 236; vgl. auch Albert M. Reh: Wunschbild und Wirklichkeit: Die Frau als Leserin und Heldin des Romans und Dramas der Aufklärung, in: Die Frau als Heldin und Autorin, hg. Wolfgang Paulsen, Bern/München 1979, S. 92-110, S. 92f.; Wulf Köpcke, Die emanzipierte Frau in der Goethezeit, S. 103f. 219 Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 236. Wolfgang Paulsen bemerkt in diesem Zusammenhang: „Mir scheint, daß niemand so notwendig in die Geschichte der deutschen Frauenbewegung gehört wie Wieland“; Wolfgang Paulsen (Hg.): Die Frau als Heldin und Autorin, Bern/München 1979, Vorwort S. 9. Inzwischen sind mehrere Studien zu diesem Thema erschienen; vgl. u. a. - Bruce Kieffer, Wieland and Lessing – Musarion and Minna von Barnhelm. - Walter Erhart, Beziehungsexperimente. - Gottfried Willems: Von der ewigen Wahrheit zum ewigen Frieden. 220Hier sei exemplarisch auf einige bekannte ältere und neuere Untersuchungen hingewiesen: - Matthew G. Bach: Wieland’s Attitude toward Woman and her Cultural and Social Relations, New York 1922 - Wolfgang Paulsen, Die emanzipierte Frau. - Elizabeth Boa, Sex and Sensibility. Boa untersucht darin die Schriften der ersten Lebenshälfte, nicht ohne des Dichters „understanding of sexual relations and of woman“ (S. 214) zu betonen. Joachim Rickes, Führerin und Geführter, S. 236, weist insgesamt darauf hin, daß bei näherer Analyse dieser Studien sich erweist, daß zwar Danae, Aspasia, Lais, Glycerion und Hipparchia, die „Comischen Erzählungen“, „Die Geschichte des Agathon“ und „Aristipp“ unter dieser Perspektive untersucht worden sind, aber auch hier habe „Musarion“ kaum größere Aufmerksamkeit gefunden; vgl. dazu u. a. in der bereits genannten interessanten 40

Paulsen hat in dem bereits genannten Aufsatzband die emanzipierten Frauen in Wielands Leben und vor allem in seinen Werken untersucht und ist dabei zu keinen neuen Erkenntnissen gelangt. Der Verfasser sucht eine Antwort auf die Frage, wie die emanzipierte Frau ihren Platz in der Gesellschaft finden kann, wenn sie nicht dazu da ist, geheiratet zu werden221. Pualsen stellt fest, daß „auch schon in Wielands Sicht das Problem der Gesellschaft mit zu einem Problem des Mannes geworden ist; woran sich in den folgenden zwei Jahrhunderten wenig geändert haben dürfte“222. Im Zusammenhang mit dem Gesamtproblem der Frauenbewegung finden politisch engagierte Literaturhistoriker in der „Frauenfrage“ ergiebige Untersuchungsthemen und entdecken, daß einige Dichter früherer Epochen in ihren Werken Ziele von Frauenrechtlerinnen nicht nur vorweggenommen, sondern ihrem Streben Impulse gegeben haben. Wieland hat wiederholt in seinen Schriften Verständnis für Frauen gezeigt, die sich von Männern tyrannisiert fühlten223. Seine Weitsichtigkeit und sein Einfluß auf zunehmend liberalere Denkweisen wurden von Germanisten untersucht und anerkannt224. Einen interessanten Beitrag zur Frauenfrage liefert Starnes, der damit die „Wielandfrage“ verknüpft. Er zählt Wieland zu den „progessivsten und sensibelsten aller Vorkämpfer der Frauenrechte“225. Der Verfasser thematisiert das in der Forschung bestehende Problem, das

Untersuchung, die die Verserzählung „Musarion“ nur am Rande behandelt, während der Auseinandersetzung mit den „Comischen Erzählungen“ und dem „Agathon“ ungleich breiterer Raum eingeräumt wird. 221 Wolfgang Paulsen: Die emanzipierte Frau: „Geheiratet hat Wieland jedenfalls eine Frau ohne alle intellektuellen Ansprüche“, S. 163. 222 Wolfgang Paulsen, Die emanzipierte Frau, S. 174. 223 Man denke etwa an die Romane „Die Geschichte des Agathon“, „Aristipp“ sowie an die Verserzählung „Musarion“. Im ersten Roman beschwert sich Aspasia über ungerechte und unregelmäßige, unedelmütige und anmaßende Ausbeutung der Frauen; im „Aristipp“ kommt der Hetäre Lais der Ehestand wie ein Grab der weiblichen Persönlichkeit vor; in der Darstellung der zwei Liebenden Musarion und Phanias ist die schöne, geistreiche und geduldige Frau in jeder Hinsicht ihrem Freund überlegen. 224 So u. a. von Oskar Walzel um die Jahrhundertwende; er erblickt in Wielands Werken die Vorläuferinnen der emanzipierten Frauen in späteren Romanen der Romantik. Walzel empfiehlt z. B. in einer Rezension von Alfred Kerrs (eigentlich Kempner) „Godwi". Ein Capitel deutscher Romantik“, Berlin 1898, einen Vergleich der „Lucinde“ Friedrich Schlegels mit Wielands Aufsätzen über Pythagorische Frauen; Wieland breche eine Lanze für Aspasia, ja sogar für Xanthippe; endlich plädiere er in romantischem Sinne für höhere weibliche Bildung (Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 25 (1899), S. 310). Eingehende, aus etwa der gleichen Zeit stammende Untersuchungen der Rolle Wielands zur durch Bildung zu bewirkende Frauenbefreiung bieten u. a. - Adalbert von Hanstein: Die Frauen in der Geschichte des deutschen Geisteslebens des 18. und 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Leipzig 1899-1900. - Gustav Wilhelm: Wieland über weibliche Bildung, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 52 (1901), S. 289-301. - Maria Rassow: Wieland und die Frauen, in: Die Frau 20 (1913), S. 238-245 und 286-298. - Die bereits erwähnte Dissertation von Matthew G. Bach: Wielands Attitude toward Woman. - Adolf Teutenberg: Wieland und die Frauenfrage, in: Die Frau 34 (1926), S. 553-555. 225Thomas C. Starnes: Wieland und die Frauenfrage – Frauen und die Wielandfrage, in: Wieland-Studien 2 (1994), S. 222-248, S. 221; Starnes zitiert Wielands Gedanken von 1785 aus dem Vorwort zum ersten Band der „Allgemeinen Damenbibliothek“, 1786, S. III-XXI. „Es giebt im Grunde keine... Linie, über welche einer Dame 41 dadurch entstanden ist, daß einerseits bei der „tugendhafteren Hälfte des menschlichen Geschlechts, den Frauen, die Werke Wielands geradezu „enthusiastisch aufgenommen“226 und in der Literatur „des Feminismus gelobt und gepriesen“ werden227, und andererseits zeitgenössische „scham- und tugendhafte Männer“ Wieland als „Sittenverderber“ verwerfen228. Noch nach über 200 Jahren gilt er als unsittlich, unfortschrittlich und undeutsch. Diese unterschiedliche Aufnahme wirft für Starnes eine Reihe interessanter Fragen zur Untersuchung der kritischen und populären Rezeption Wielands auf. Dadurch entsteht für ihn neben der „anziehenden und aufregenden Frauenfrage gleichzeitig eine verwirrende und ungelegene ‚Wielandfrage‘“229. In bezug auf die Frauenfrage untersucht Starnes eine Reihe von „Meinungen des schönen Geschlechts in den Jahren 1770–1775“230 und stellt dabei fest, daß die Frauen des 18. Jahrhunderts aus allen Ständen weit weniger Anstoß an Wielands Schriften nahmen als die männlichen Zeitgenossen. Auf der Suche nach Erklärungen fällt Starnes auf, daß Wielands Stellungnahme zu der damals noch nur vage empfundenen Frauenfrage fast radikal zu sein schien, denn er würdigt die „geistige Ebenbürtigkeit der Frau und betont ihre Rechte in jedem Gesellschaftsvertrag“231. Zu einer Zeit, so folgert Starnes, wo andere Zeitgenossen sich noch um die Frage nach weiblicher Erziehung bemühten, betont Wieland schon die Funktion der Frau als Erzieherin erwachsener Männer. Besonders deutlich wird diese Rolle der Frau in „Musarion“: „in jeder Hinsicht ist diese liebenswürdige Hetäre ihrem Geliebten Phanias überlegen – nur durch sie lernt er endlich die Philosophie der Grazien kennen, die schöne Philosophie, welche das Leben nützlich und angenehm macht“232. Nach Starnes erklärt sich vielleicht Wielands Anerkennung der unleugbaren Würde der Frau und ihre unveräußerlichen Rechte, d. h. Wielands Stellungnahme zur Frauenfrage, seine

nicht erlaubt wäre, sich hinauszuwagen, wenn sie sich von innen dazu berufen fühlt und von außen durch keine dringenden Pflichten oder andere Hindernisse zurückgezogen wird“. 226 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 243. 227 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 222, wofür der Verfasser allerdings die Belege schuldig bleibt 228 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 243. 229 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 223. Auch wenn die Kritik Wielandscher Schriften seitens der männlichen Zeitgenossen nur teilweise der Verwirrung vor einer verfrühten „Frauenfrage“ zuzuschreiben ist und ungeachtet der Tatsache, ob diese Damen damals sich der Verwicklungen in der Frauenfrage, die Wieland erhob, bewußt waren, verstanden sie wohl das Wesentliche in dem gegen ihn gerichteten Tadel und auch, daß ihr Interesse an seinem Werk eine gewisse Auseinandersetzung mit der „Wielandfrage“ nach sich zog. 230 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 227; in einem Zeitraum also, als die Wielandkritik einen ersten Höhepunkt (Stichwort: Sturm und Drang) erreichte. 231 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 244. 232 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 245; aber auch er weist auf Wielands Inkonsequenz hin: „Obgleich seine Voreingenommenheit für schöne und ihm geistig ebenbürtige Frauen als Gesellschafterinnen bekannt war, so waren es auch seine häufigen Behauptungen, wie widrig er den Gedanken finde, eine schöne Frau zu heiraten“; Starnes, S. 246, Anm. 74 – mit entsprechenden Belegen. 42

Beliebtheit bei den Leserinnen233. Sie trug erheblich zu Wielands Popularität in gewissen Kreisen bei, d. h. die „Wielandfrage“ sei teilweise als eine Folge der Vorliebe der Frauen für die Werke des Dichters anzusehen. Daß der Dichter von Männern als Feind der Sittlichkeit und Unschuld gescholten wird und gleichzeitig bei vielen tugendhaften Frauen als Urheber vortrefflicher Schriften gilt, ist es für Starnes die Paradoxie, die das Problem der Wielandrezeption im 18. Jahrhundert mit der Frauenfrage gleichsam verkette234.

Kritisch ist eine theoriewissenschaftlich orientierte Untersuchung zu sehen, die das Verhältnis von Feminismus und Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und auch Wieland ein Kapitel widmet235. Beutin stellt die These auf, daß Wielands „Sittengemälde“ das vorrangige Thema habe, das menschliche Zusammenleben zu regulieren. Dazu gehöre u. a. als Bestandteil die Auffassung von der Rolle der Frau sowie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. In bezug auf die Frauenfrage kommt Beutin zu dem Ergebnis, daß Wieland nicht eine Vielfalt weiblicher Individuen, sondern einige Typen von Frauen schildert. In seinen Romanen gibt es nicht verschiedene Antworten auf die Frauenfrage, sondern stets dieselbe236. In dem Abschnitt „Amouren und ‚unzählige Amorn‘ – Ansätze einer Theorie der Erotik“ geht die Verfasserin davon aus, daß Wieland in seinem Werk eine besondere Affinität zu erotischen Motiven hatte, was nach ihrer Ansicht zu keinem Zeitpunkt strittig war - was wechselte, sei die Bewertung gewesen237. Als Fazit ihrer Studie kommt Beutin zu dem Schluß, daß Wielands Überlegungen zur Frauenfrage und die Ansätze einer Theorie der Erotik auf die Konstruktion der „kleinen idealischen Republik“ zielen. Es gehe um den

233 Nach Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 246. Er verweist darauf, daß sich mit dem Ausbruch der romantischen Wielandpolemik auch weibliche Stimmen mehren, die sich gegen den alten Dichter erheben. „Wie die Männer fanden ihn auch einige Frauen als ein Symbol der zu überwindenden Vergangenheit“, S. 241. 234 Thomas C. Starnes, Frauenfrage, S. 246f. 235 Heidi Beutin: „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt“. Fünf Beiträge zum Verhältnis von Feminismus und Literatur anhand von Schriften Maries von Ebner-Eschenbach, Lily Brauns, Gertraud Bäumers, Christoph Martin Wielands und Jutta Heckers, Hamburg 1990; darin das Kapitel zu Wieland mit dem Titel „Frauenemanzipation und Erotik in den drei spätesten Romamen Wielands“, S. 65-107, in dem sie sich mit der Frauenfrage und den Ansätzen einer Theorie der Erotik bei Wieland auseinandersetzt – eine Zusammenstellung, die falsche Schlüsse nicht ausschließen kann. Beutin stellt sich in dem Kapitel die Frage, ob es für die literaturwissenschaftliche Forschung legitim sei, Kunstwerke danach zu hinterfragen, ob sie zur Lösung von Problemen beitrügen, die außerhalb der künstlerischen Sphäre lägen und ob es denkbar sei, daß ein Autor im Werk Handlungsweisen vermitteln oder kraft der Dichtung die Theoriebildung auf seinem Gebiet außerhalb des Kunstwerks vorantreiben könne. 236 Heidi Beutin, Als eine Frau lesen lernte, S. 106. 237 Heidi Beutin, Als eine Frau lesen lernte, S. 90ff. Für sie stehen – ähnlich wie bei der Frauenfragen – die erotischen Schriften einerseits in der Tradition dichterischer Befassung mit der Liebe, in die sie gehörten, zum anderen bilden sie zugleich einen Moment der Entwicklung einer Theorie der Erotik, die zurückgeht bis in die Antike und bis heute zu einer Wissenschaft der Liebe führt, zur heutigen Sexualpsychologie. Unter dem Aspekt der Erotik komme so dem Werk Wielands ein Doppelcharakter zu: er verbinde die dichterische Darstellung erotischer Motive mit Elementen einer Theorie der Erotik. Wieland habe diesen Doppelcharakter intendiert, wie Beutin anhand ihrer Untersuchungen zu belegen versucht, S. 91. 43

Versuch, vermittels einer Vereinigung freier Menschen das geglückte Leben für alle zu verwirklichen238. Auch nach Beutins Studie bleibt der Literaturwissenschaft in bezug auf Wielands Einstellung zur Frauenfrage und den Ansätzen zu einer Theorie der Erotik die Aufgabe, die noch vorhandenen Forschungsdefizite zu beseitigen. Bei einem Überblick über den Stand der Untersuchungen zum Thema „Frauenfrage“ bleibt es weiteren Forschungen vorbehalten, auch Wielands Gedanken über weibliche Bildung239 systematisch zu untersuchen – unter Einbeziehung der Vorbehalte und Inkonsequenen in seinen Äußerungen – und dabei eventuell sogar den Standpunkt zielbewußter Feministen in Betracht zu ziehen.

1.4.4 Wieland und die Antike

Antikes Denken und Dichten stellt einen elementaren Bestandteil in Wielands Leben und Werk dar240. Fuhrmann weist in seinem kenntnisreichen Kommentar nach, daß Wieland seit frühester Jugend mit der Antike vertraut war, und er auf diesem Fundament Zeit seines Lebens weitergebaut hat – nicht nur für seine Übersetzungen und die Kommentare dazu, sondern auch für seine im antiken Milieu spielenden Romane, Verserzählungen usw.241.

238 Heidi Beutin, Als eine Frau lesen lernte, S. 107. Nach Beutin bekommen aus dieser Perspektive die Überlegungen zur Frauenfrage und zur Erotik ihre „Funktion“: Wieland habe herauszufinden versucht, welche Frau und welche Art von Liebe sich am besten eignen, wenn die Konstruktion der kleinen Republik auf der Tagesordnung stehe – ob diese allerdings wirklich zur Debatte steht, läßt die Verfasserin unbeantwortet. Außerdem scheint es problematisch, die sensible Frauenfrage gerade im Zusammenhang mit der Erotik zu untersuchen; das führt zu eventuell nicht gewollten Überschneidungen und unklaren Aussagen – gerade in bezug auf Wieland. 239 Interessant ist, daß eine der neuesten Untersuchungen dazu aus der Türkei stammt: Gürsel Aytac: Wieland und das Ideal der gebildeten Frau (türkisch), in: Ankara Üniversitesi Di ve Tarih-Cografya Fakültesi Dergisi 24 (1966), S. 239-243. 240 Über Wielands „Verhältnis zur Antike“ vgl. die Wieland-Bibliographie von G. Günther/Heidi Zeilinger, Berlin/Weimar 1983, die dafür eine eigene Rubrik aufbereitet hat (4.3.), S. 438-442; bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang folgende Dissertationen bis heute geblieben: - Joseph Scheidl: Persönliche Verhältnisse und Beziehungen zu den antiken Quellen in Wielands „Agathon“, Diss. Berlin 1904; abgedruckt in: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 4 (1904), S. 389-439. - Hans Böhm: Die Traditionswahl der Antike und ihre gesellschaftliche Funktion im Werk des jungen Wieland, Diss. Halle/Saale 1962 (Autorref. in: Das Altertum 17 (1971), H. 4, S. 237-244). - Hermann Funke: Arno Schmidt: Wieland und die Antike in: Max Kunze (Hg.): Christoph Martin Wieland und die Antike. Eine Aufsatzsammlung, Stendal 1986, S. 23-30. 241Vgl. die Neuausgabe von Wielands Horaz durch Manfred Fuhrmann: Christoph Martin Wieland. Übersetzung des Horaz, hg. Manfred Fuhrmann, Frankfurt/Main 1986, Nachwort S. 1061-1095, S. 1086; hier auch weitere Literatur zu Wieland und Horaz. Fuhrmann würdigt in dem genannten Nachwort Wielands Antikebildung, dessen eigenständige Auseinandersetzung mit dem Römer Horaz und dessen Maximen bei der Übersetzung der Satiren und Briefe; vgl. zu Fuhrmanns Ausgabe die Rez. von Egidius Schmalzriedt: Daß wir sind, was wir sein wollen. Übersetzung als Aufklärung. Christoph Martin Wielands Horaz, in: FAZ vom 30. 9. 1986, S. 13 44

Henning ist Wielands Kenntnis antiker Welten und seinem Verhältnis zur antiken Geschichte, Philosophie und Literatur anhand seiner Briefe – leider nur bis 1772 – nachgegangen, weil er diesen „originären Zeugnissen“ neben den Aussagen in den Werken, die in poetischer und damit indirekter Gestalt von der Antike reden, besondere Bedeutung beimißt242. Interessant sind die Belege Hennings, daß schon 1759 die Antike für Wieland zum „Programm“ wird. In einem Brief formuliert der Dichter Vorüberlegungen zu einem Journal bzw. einer Wochenzeitschrift. Sie münden in dem „Begriff der ‚Education‘, womit Antike, Antike- Vorstellungen und Antikes als Vorbildung in den Erziehungsgedanken einbegriffen sind“243´.

Sengle verweist im Zusammenhang mit „Musarion“ auf die Antike244, aber es sei vor allem das griechische Altertum, das ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts der überzeitliche Bezugspunkt Wielands werde. „Symptomatisch für die Wendung Wielands zur Diesseitigkeit und Lebenskunst ist die ... wachsende Neigung zum Griechentum der Antike“ – mit dieser „Wendung“ meint Nolting die Zeit nach der überwundenen schwärmerischen Befangenheit und sieht in der Wahl der griechischen Antike in Wielands Werken und seiner Lebens- und Erziehungsphilosophie einen unmittelbaren Zusammenhang. Es sind „Die Grazien“, in denen Wieland das Jahrhundert von Perikles bis zu Alexander als „eine unvergeßliche Zeit“ begrüßt245.

Daß Wielands Antike-Darstellungen von der idealistischen Griechenverehrung seiner Zeit erheblich abweichen, stellen in den fünfziger Jahren Bantel246 und Clark247 ausführlich dar. Cölln weist darauf hin, daß Wieland im 18. Jahrhundert der einzige deutsche Dichter war, der

242 Hans Henning: Wielands Verhältnis zur Antike, dargestellt nach seinen Briefen bis 1772, in: Max Kunze (Hg.): Wieland und die Antike, Stendal 1986, S. 7-22; für die Begrenzung auf die Jahre bis 1772 nennt Henning „innere Gründe“ (S. 8). „Bis in die 60er Jahre sind im wesentlichen die Gedankenwelt Wielands und die Antike- Vorstellungen ausgeprägt. Auch bleibt die Antike im Hinblick auf eine neue deutsche Literatur noch verhältnismäßig deutlich in der Diskussion, was danach weniger der Fall ist“ (S. 8). Diese und weitere Gründe für die Begrenzung auf das Jahr 1772 können nicht überzeugen und mindern den ansonsten positiven Eindruck dieser Studie, die sich auf eine reiche Materialgrundlage stützt. 243 Beleg bei Hans Henning, Wielands Verhältnis zur Antike, S. 13. 244 Sengle, S. 205. 245 Klaus Nolting, Die Kunst zu leben, S. 117f. 246 Otto Bantel: Christoph Martin Wieland und die griechische Antike, Diss. Tübingen 1953. 247 William C. Clark: Christoph Martin Wieland and the legacy of Greece, Aspects of his relation to Greek culture, Diss. New York 1954 (masch.). Wielands Antikebild erarbeiteten im Zusammenhang mit den Horaz-Übersetzungen u. a. - Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz. - Manfred Fuhrmann: Wielands Antikebild, in: Wieland. Übersetzung des Horaz, hg. Manfred Fuhrmann, Frankfurt/Main 1986, S. 1073-1082. Bei diesen Untersuchungen steht das Antikebild zu sehr unter der Perspektive ihrer Horazarbeiten, so daß die große Bedeutung gerade der sokratischen Epoche Athens für Wieland nicht heraus gearbeitet wird und damit ein 45 in seinen Romanen antike Stoffe verarbeitet, obwohl die Verehrung der Antike und seit Winckelmann248 insbesondere der griechischen Antike in Deutschland geradezu religiöse Züge annimmt249. Obwohl Wieland bereits in seinen Jugenddichtungen die moderne Form für die schöpferische Aneignung antiker Stoffe wählt – so im „Cyrus“, „Musarion“ u. a. -, sind es die antiken Romane seines „Spätwerk“250, die Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind. Die neueste Studie zu diesem Thema ist die bereits erwähnte von Cölln. Er untersucht Wielands Antike-Verständnis hinsichtlich des Zustandekommens, der Bedeutung und Wirkungsabsichten seiner philologischen, publizistischen und poetischen Werke über antike und zeitgenössische Themen und belegt anhand gut aufgearbeiteter Quellen, daß die Wahl und die spezifische Form der Darstellung der griechischen Antike in einem notwendigen Zusammenhang mit den zeitkritischen Wirkungsabsichten stehen251. Winckelmann contra Wieland?252 In dem bereits erwähnten Aufsatz weist Henning anhand von Briefbelegen darauf hin, daß sich bei Wieland um 1770 neue Akzente im Umgang mit der Antike ergeben und sich ein Verständnis bemerkbar macht, „das unter den Einfluß Winckelmanns gerät und das ... auf modern-deutsche Fragestellungen einwirkt253. Dagegen ist

schiefes Gesamtbild entsteht.; vgl. auch Manfred Fuhrmann: „Nichts Neues unter der Sonne“. Das Verdikt über Wieland und sein Bild der Antike – von der Goethezeit bis heute, in: FAZ vom 3. 9. 1986, S. 34. 248 Zu Johann Joachim Winckelmann vgl. u. a. die neueren Publikationen von - T. W. Gaethgens (Hg.): J. J. Winckelmann 1717–1768, Hamburg 1986. - Wolfgang Lange: Watteau und Winckelmann oder Klassizismus als antikdrapiertes Rokoko, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), Heft 3; vgl. dazu die Rez. von Thomas Wirth: Leer ist was gefällt. Rokoko als Versuchung: Winckelmanns Klassizismus, gelesen als Krankengeschichte, in: FAZ Nr. 286 vom 9. 12. 1998. - Zur „Edlen Einfalt und Stillen Größe“ bei Winckelmann vgl. Claudia Henn: Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und Deutschland 1674-1771, Zürich 1974, S. 190-226 249 Jan Cölln: Philologie und Roman, S. 8. Nach Cölln kulminiert die Griechenbegeisterung in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zwar im Klassizismus, in Weimarer Klassik, Neu-Humanismus und Schlegelscher Gräkomanie, aber sie wirkt sich schöpferisch nicht im Roman, sondern auf dem Theater, in der Lyrik und in vielen Bereichen der Kunst aus. 250 Es umfaßt die überarbeiteten Neufassungen der „Abderiten“ (1789), die des „Agathon“ (1794) sowie die Romane „Peregrinus Proteus“ (1791, 2. Aufl. 1797), „Agathodämon“ (1799) und vor allem „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1800/1802). Seit Jan-Dirk Müllers fundierter Dissertation (Wielands späte Romane, München 1971) ist es üblich, vor allem in den genannten Antike-Romanen Wielands Spätwerk zu sehen und die Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind; vgl. dazu Susanne Wipperfürth, die in ihrer Arbeit über „Christoph Martin Wielands geschichtsphilosophische(n) Reflexionen, Frankfurt/Main 1995“ die neuere Forschungen zu Wieland und seinem Spätwerk zusammenfaßt, S. 9-13. Jan Cölln hat die Grundzüge der neueren „Aristipp“-Interpretationen erläutert; Jan Cölln, Philologie und Roman, S. 13ff. 251 Jan Cölln: Philologie und Roman, S. 23; vgl. dazu u. a. Gerhard Braunsperger: Aufklärung aus der Antike; der Verfasser interpretiert Wielands Roman als kritischen Zeitraum in bewußt antikem Gewand. In einem schematischen Dreischritt werden die Phänomene Schwärmerei, Freimaurertum und Aberglaube als aktuelle Probleme der Zeit untersucht. Braunsperger weist nach, daß neben den dezidiert didaktischen Intentionen Wielands auch dessen persönliche philosophische Grundhaltungen als konstitutive Elemente des „Peregrinus Proteus“ heraus gearbeitet werden, die dann zu einem positiveren Bild des Protagonisten führen als in der antiken Vorlage. 252 Vgl. dazu William H. Clark: Wieland contra Winckelmann?, in: The Germanic Review 34 (1959), Nr. 1, S. 4- 13. 253 Hans Henning, Wieland Verhältnis zur Antike, S. 17; anhand einiger weniger Beispiele aus dem Briefwechsel belegt er, wie sehr die Vermittlung der Antike durch Winckelmann sich in den Briefen Wielands niederschlägt. 46

Kunze der Ansicht, daß den bisherigen Forschungen „nur wenig Konkretes zu entnehmen“ ist, welcher Stellenwert dem durch Winckelmann vermittelten Antike-Bild zukommt. Außerdem fehlen noch umfassende Forschungen zu der Vermutung, daß Wieland die von Winckelmann vertretene Stilhaltung und das Ethos in die Dichtkunst übertragen habe254.

Hatfield charakterisiert Wieland als einen niemals unkritischen Gläubiger von Winckelmanns Idealen255 und Clark gesteht, unglücklicherweise haben wir nur wenige Beweise für den direkten Einfluß Winckelmanns, sondern nur indirekte Schlußfolgerungen: „Mein eigener Eindruck ist, daß er (Wieland) Winckelmann früh gelesen hat, sorgfältig und enthusiastisch“256, doch sei das hellenistische Ideal nur ein vorübergehendes Moment. Dem frühen Enthusiasmus für das Altertum stehe der gereifte Wieland mit seiner Skepsis und Distanziertheit gegenüber.

Ein ähnlicher Überblick, wie ihn Bantel257 für die griechische Antike erarbeitet hat, steht für die römische noch aus. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß Monecke258 mit seiner fundierten Darstellung des Horaz-Übersetzers Wieland ein Standardwerk hinterlassen hat, eine der wenigen Spezialuntersuchungen zu Horaz259. Es ist das Verdienst der Rokokodichter, der sogenannten Anakreontiker, daß sich Mitte des 18. Jahrhunderts „horazische Eleganz und

254 Max Kunze: „In Deiner Mine diese stille Größe und Seelenruh‘ zu sehn!“ – Winckelmann bei Wieland, in: ders. (Hg.): Wieland und die Antike, Stendal 1986, S. 65-75, S. 66. 255 Henry Caraway Hatfields Bemerkungen in: Aesthetic Paganism in German Literature. From Winckelmann to the Death of Goethe, Cambridge 1964, S. 33-44, S. 33; vgl. auch Henry Caraway Hatfield: Winckelmann and his German Critics 1755–1781. A Prelude to the Classical Age, New York 1943, S. 118-121; es ist eine verdienstvolle Publikation zu Winckelmann und seinen deutschen Kritikern, in der Hatfield u. a. Wieland mehrere Seiten widmet. 256 „Unfortunately we have very little direct evidence and must rely upon inferences. My own impression is that he must have read Winckelmann early, carefully, and enthusiastically“; William H. Clark: Wieland and Winckelmann: Saul and the Prophet, in: Modern Language Quarterly 17 (1956), S. 1-16, S. 2. Vgl. William H. Clark, Wieland contra Winckelmann?, S. 4-13. Kunze resümiert ausführlich, was Clark aus der Biographie, dem Werk und den Briefen zu Wielands Verhältnis zu Winckelmann zusammengetragen hat, Max Kunze, „In Deiner Mine diese Stille Größe, S. 67-70. 257 Otto Bantel, Christoph Martin Wieland und die griechische Antike. 258 Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz; er zeichnet die Entwicklung des Dichters im Hinblick auf dessen Horaz-Übersetzung nach, gibt ein Bild von Wieland als Theoretiker des Übersetzens und beschäftigt sich mit Wielands Kommentaren und Übersetzungen der Satiren und Episteln. Als besonderes Charakteristikum erscheint dabei die idealisierende Darstellung des Landlebens, der Lobpreis der römischen Republik und ein „Horaz im Spannungsfeld von Retraite und Urbanität“, S. 170-185. Vgl. dazu Hans-Heinrich Reuter: Die Philologie der Grazien. Wielands Selbstbildnis in seinen Kommentaren der Episteln und Satiren des Horaz, in: Schelle, S. 289. Vgl. zu Antike, Moral und Lebenskunst in Wielands Kommentaren zu Horaz Walter Erhart, Selbstaufklärung, S. 275-303. Vgl. zu Wielands Stilideal und seiner Schulung an Horaz Wolfgang Albrecht: Die milde Humanität des Priesters der Musen. Zu Wielands Dichtungsverständnis nach 1780, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 228-240; dieser Beitrag basiert auf einer Studie gleichen Titels, die 1984 in den „Weimarer Beiträgen“ erschienen ist. 259 Eine umfassende, den heutigen Ansprüchen genügende Darstellung zu Horaz in der deutschen Literatur steht noch aus. 47 horazische Lebensweisheit auf die deutschsprachige Literatur ausgewirkt haben“260. Fuhrmann geht ausführlich auf die „Verhältnisse“ ein, aus denen Wielands Horaz‘ hervorgegangen ist und belegt anhand reichhaltigen Quellenmaterials, was Wieland an Horaz schätzte und bewunderte, und daß er „den römischen Dichter geradezu als alter ego“261 betrachtet hat, vor allem das Streben nach Maß und Mitte262. Allerdings schränkt Fuhrmann ein, daß nur der Satiren- und Epistel-Dichter Horaz die Anerkennung bei Wieland finde, der Lyriker Horaz hingegen nicht; es gäbe dafür bereits in der in Zürich 1757 durch eine Diktatnachschrift eines Schülers erhaltene „Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht- Kunst“ Hinweise, daß sich hier „eine durch die Person Wielands bedingte Einengung des Blicks bemerkbar“ mache263. Nach Henning ist Wieland „die Verbreitung und Umsetzung der Antike im 18. Jahrhundert zu danken“; der Dichter wandelte griechische und lateinische Stoffe und Themen um und formte sie so, daß antikes und zeitgenössisches Leben und Denken in seinen Dichtungen sich miteinander verschmolzen264.

Insgesamt läßt sich zu Wieland und der Antike festhalten, daß, „obwohl Wielands Rezeption römischer und griechischer Antike sowie seine Auseinandersetzung mit Winckelmann und Lavater wichtige Etappen in der damaligen Debatte um den Vorrang der Moderne bzw. der Alten darstellen“, sie außerhalb der speziellen Wieland-Forschung nicht zur Kenntnis genommen worden sind265. McCarthy kommt zu dieser Feststellung, nachdem er die Studien von Borchmeyer266, Fuhrmann267, Berghahn268, Ueding269 und Wittkowski270 überprüft hat:

260 Manfred Fuhrmann: Wielands Horaz: ein philologischer Weg zu einer philosophischen Betrachtung des Lebens, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 9 (1988), Beiheft, S. 193- 210, S. 195. Vor allem habe sich Friedrich Hagedorn Horaz zu seinem Lehrer, Freund und Begleiter auserkoren; vgl. dazu u. a. Wolfgang Josef Pietsch: Friedrich Hagedorn und Horaz. Untersuchungen zur Horaz-Rezeption in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich 1988, S. 2. 261 Manfred Fuhrmann, Wielands Horaz, S. 197. 262 Zu Wielands Antikebild insgesamt vgl. die bereits erwähnte Übersetzung des Horaz durch Christoph Martin Wieland, hg. Manfred Fuhrmann (Christoph Martin Wieland Werke in 12 Bände, hg. Fink/Fuhrmann u. a.), Bd. 9, Frankfurt/Main 1986, S. 1073-1982. 263 Manfred Fuhrmann, Wielands Horaz, S. 198. Nach Fuhrmann ist es bei dieser Einschätzung geblieben: „Wieland, der selber kein Lyriker war, wußte offenbar mit dem Meisterwerk des Horaz bei weitem nicht so viel anzufangen, wie mit den diskursiven, dialogischen, auf einer schlichteren Eben der Sprache und des Stils sich bewegenden Satiren und Episteln“. Dennoch habe sich Wieland nicht nur im allgemeinen zu Horazens philosophischen Maximen bekannt, er sah in ihm auch konkrete Situationen und Probleme seiner selbst (Wielands) präfiguriert, S. 207. 264 Hans Henning, Wielands Verhältnis zur Antike, S. 22. 265 John C. McCarthy, Klassisch lesen, S. 414, 432, S. 417. Für McCarthy bieten die „Gedanken über die Ideale“ die Summe der kunst- und kulturtheoretischen Ansichten Wielands, die er seit Anfang der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts der unkritischen „Nachahmungsschwärmerei der Zeit entgegenhielt“, S. 421. 266 Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik. Eine Einführung, 2 Bde., Königsstein/Ts. 1980, Bd. 1, S. 1-25. 267 Manfred Fuhrmann: Die Querelle des Anciens et des Moderne, der Nationalismus und die Deutsche Klassik, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, hg. Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt Brüggemann/Rudolf Vierhaus, München 1980, S. 49-62. 48 sie werten die Stellungnahme Wielands zum Kunstverständnis der Griechen und dessen Bedeutung für die deutsche Situation Ende des 18. Jahrhunderts nicht aus. Aber auch innerhalb der Wielandforschung sei man nicht immer konsequent271.

1.4.5 Wieland und seine Zeitgenossen in Leben und Werk (Beziehungen zu Shaftesbury, Goethe, Lessing)

Wieland - Shaftesbury Zwischen 1730 und dem Ende des 18. Jahrhunderts haben nachweislich fast alle bedeutenden deutschen Schriftsteller, Philosophen etc. die Schriften Shaftesburys gekannt und ihn „zu den großen Denkern und Anregern gerechnet“272. Jordan skizziert die Linie der Rezeption des englischen Moralphilosophen als Einführung zu einer umfassenden Untersuchung seiner Wirkung in der deutschen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, dabei wertet er auch ältere Arbeiten kritisch aus273. In bezug auf Wieland weist der Verfasser darauf hin, daß der Dichter den Engländer noch als Gewährsmann für die Primate der Tugend und Vernunft rezipiert und adaptiert, als Shaftesbury für Goethe, Herder u. a. schon „... als Gewährsmann der Genieästhetik diente". Aber da ein differenzierteres Bild der umfassenden und wichtigen Rezeption Shaftesburys in Deutschland noch aussteht, kann auch Jordan keinen neueren Beitrag zur Wirkung dieses Moralphilosophen auf Wielands Leben und Werk geben274.

268 Klaus Berghahn: „From Classicist to Classical Literary Criticism 1730–1806, in: A History of German Literary Criticism 1730–1980, hg. Peter Uwe Hohendahl, Lincoln (NE) 1988, S. 13-98. 269 Gert Ueding: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789– 1815. Erster bis Vierter Teil (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 4, hg. Rolf Grimmiger), München 1988. 270 Wolfgang Wittkowski (Hg.): Verlorene Klassik? Ein Symposion, Tübingen 1986. 271 Nach McCarthy untersucht zwar Klaus Manger u. a. „Aristipp“ (1800/1802), in dem dieselbe Zeitspanne griechischer Kultur wie in den „Gedanken“ behandelt wird, als poetologisches Dokument, ohne die früheren theoretischen Studien Wielands zu berücksichtigen. Statt dessen mache Manger auf Wielands „Versuch über das Xenofonische Gastmahl“ (1802) als die dem Roman gewissermaßen nachgelieferte Poetik aufmerksam (Klaus Manger, Wielands klassizistische Poetik als die Kunst des Mischens, S. 341). Dabei enthalten die „Gedanken über die Ideale der Alten“ die poetologische Voraussetzung für die „Kunst des Mischens“ (S. 332) und das „kaleidoskopische Erzählen“ (‚S. 340), die Manger in Wielands Alterswerk „Aristipp“ besonders rühmt; John Aloysius McCarthy, Klassik lesen, S. 421. 272 Lothar Jordan: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched – Wieland, in: GRM NF 44 (1994), H. 4, S. 410-424, S. 410. 273 u. a. die Studie von Oskar Walzel: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben des 18. Jahrhunderts, in: GRM 1 (1909), S. 416-437. 274 Lothar Jordan, Shaftesbury, S. 420 und 422. In diesem Zusammenhang sei auf den Beitrag von Karl-Heinz Schwabe verwiesen: Bemerkungen zur Wirkung Shaftesburys auf Christoph Martin Wieland, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 185-189, der versucht, die Bedeutung des englischen Moralphilosophen für Wieland herzustellen. Unter Berufung auf Grudzinskis Studie von 1913 (Herbert Grudzinski: Shaftesburys Einfluß auf Wieland, in: Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte NF 34 (1913), Teil 3) betont Schwabe, daß sich der Dichter mit Hilfe Shaftesburys „aus religiöser Schwärmerei und von asketischen Lebensvorstellungen befreit“ habe ( S. 188), was in der Forschung bereits gut belegt ist. 49

Wieland – Lessing Wie bereits erwähnt, war Wieland in der Rezeptionsphase nach 1945 „im Unterschied zu Lessing kein ästhetischer Denker, sondern ein ziemlich unbekümmert schaffender Künstler“ und von „ganz anderer Veranlagung“275. Auch Staiger sah keinen Zusammenhang zwischen Wieland und Lessing und ging in zwei separaten Interpretationen auf Lessings „Minna von Barnhelm“ und Wielands „Musarion“ ein, placierte sie allerdings direkt hintereinander276. Erst in den neueren Forschungen findet Wieland neben Lessing als ebenbürtiger Vertreter der deutschen Aufklärung Anerkennung. Die Aktualität dieses Ansatzes unterstreicht die Studie von Willems277. Er untersucht das bekannteste der literarischen Aufklärung zugeschriebene Werk in deutscher Sprache – Lessings „Nathan der Weise“ – in Verbindung mit Wielands „Musarion“, das von der Literaturhistorie bisher in mehr oder weniger großer Distanz zu Lessing angesiedelt worden ist. Willems macht deutlich, daß es durchaus berechtigt sei, Parallelen zwischen beiden Werken zu sehen. Für ihn steht im Mittelpunkt bei beiden Dichtern die „Problematisierung der aufs Ganze gehenden Vernunft, jenes Griffs nach der Totalität, der zu ... einer Pluralität von einander widerstreitenden Systemen führen kann, die, weil sie als absolute Wahrheit anerkannt werden wollen, die Menschen in unauflösliche Konflikte stürzen“278. Sind es im „Nathan“ die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam, fungieren bei Wieland dafür die verschiedenen antiken Philosophenschulen, vor allem vertreten durch die Stoa und den Pythagoräismus. Nach Willems – und hier zitiert er Friedrich II. von Preußen279 - mache es für das Glück der Menschheit wenig aus, wie sie über spekulative Fragen denken, entscheidend sei, daß „philosophische und religiöse Meinungsverschiedenheiten“, wie sie die Philosophen in Wielands „Musarion“ und Juden, Christen und Muslime in Lessings“Nathan“ austragen, „niemals die Bande der Freundschaft und Menschlichkeit bei den Menschen lockern“280.

275 Sengle, S. 325 und 157. 276 Email Staiger: Die Kunst der Interpretation, München 1955; Lessing, S. 63-82; Wieland, S. 82-98. 277 Gottfried Willems, Von der ewigen Wahrheit zum ewigen Frieden, S. 10-46. Willems kritisiert den bis heute vielfach verwendeten Aufklärungsbegriff, von dem aus die Literaturgeschichte geschrieben wird und mit dessen Hilfe literaturhistorische Einzelanalysen konzeptionell konstruiert werden, S. 34. 278 Gottfried Willems, Von der ewigen Wahrheit, S. 23. 279 Friedrich II. von Preußen: Über die Unschädlichkeit des Irrtums des Geistes (1738), in: Friedrich der Große und die Philosophie, hg. B. Taureck, Stuttgart 1986, S. 61ff. 280 Gottfried Willems, Von der ewigen Wahrheit, S. 29. 1778 hat es Wieland in „Was ist Wahrheit“ so formuliert: „In metafysischen ... Dingen wäre das billigste, einen jeden im Besitz und Genuß dessen, was er für Wahrheit hält, ruhig und ungekränkt zu lassen, so lange er andre in Ruhe läßt“, TM 1778 II, S. 9-30 (HRA VIII/24, 48). 50

Auch Kieffer sieht Wieland als Lessings ebenbürtigen Vertreter. „Although it is now common to place Wieland and Lessing together as a pair ...at the forefront of German literature prece- ding Sturm und Drang, they are rarely compared with one another“281. In der verdienstvollen Untersuchung arbeitet der Verfasser die generelle Entsprechung der Handlungsstrukturen beider Texte heraus, sieht in Minna und Musarion souveräne Frauen und versucht – wie die meisten Musarion-Interpreten – eine psychologisierende Deutung. Kieffer vergleicht Wielands „best verse tale with Lessings best comedy“ und stellt eine Anzahl struktureller Ähnlichkeiten fest. Auch die Betrachtung der Umstände, unter denen sie geschrieben wurden, führe zu einigen interessanten neueren Fragen über die Beziehungen zwischen Wieland und Lessing. Aber er schränkt ein, „indeed, at first glance they would appear better suited to typify the fundamental differences between Wieland and Lessing“282. Beim Vergleich der beiden Werke merkt er an, „the parallels seem to indicate that Wieland and Lessing were in basic agreement about certain structures of human experience". Er bestreitet nicht, daß es trotz der gefundenen Ähnlichkeiten Differenzen und Besonderheiten zwischen „Minna“ und „Musarion“ gibt, die Gemeinsamkeiten seien für ihn aber die interessanteren. „The parallels between the texts mostly concern the ways in which their central problems are identified, ramified, and resolved“ und schlußfolgert, daß mit „Musarion“ und „Minna“ zu belegen ist, „that in their middle thirties, at the outset of their mature creative periods, Wieland and Lessing corresponded in a substantial and suggestive way in their poetic efforts. However we interpret this circumstance in itself, it should encourage us to search for other points of interesection between them. We stand to improve our understanding of them not only as individuals but also as the two most outstanding representatives of the German literary Enlightenment“283.

Wieland – Goethe Auch hier sind es neuere Ansätze, die in Wieland nicht nur den Wegbereiter und Vorläufer Goethes sehen. Bereits Schelle verweist darauf, daß „Musarion“ als Frau die Erzieherin des Mannes sei und darin das Werk Parallelen zu Lessings „Minna von Barnhelm“ habe, daneben aber weise die Verserzählung auf die Humanitätsdichtung der Klassik, auf Frauengestalten des klassischen Goethe hin, während der Grazienbegriff auf die klassische Ästhetik Schillers

281 Bruce Kieffer, Wieland and Lessing: „Musarion“ and „Minna von Barnhelm“, S. 187. 282 Bruce Kieffer, Wieland and Lessing, S. 188. 283 Bruce Kieffer, Wieland and Lessing, S. 204 und 205. 51 voraus deute284. Neuere Studien versuchen sich in "Beziehungsexperimente(n)“ zwischen Wieland und Goethe285. Eine interessante Untersuchung, die neue Wege in der Wieland- Forschung geht, ist Erharts „Beziehungsexperiment“, der den Standpunkt vertritt, daß die beiden Texte vielleicht näher miteinander verwandt seien als man bisher vermutet hat, und beide unterscheiden sich vielleicht dort, wo es niemand erwarte. Für ihn stellen beide Texte „zeitgenössische Codierungen von Intimität und Identität in Frage – mit unterschiedlichen Ergebnissen. „‘Werther‘ enthüllt die Topographie eines leeren Ich, das von den Zeichensystemen der Empfindsamkeit verdeckt worden war. ‚Musarion‘ überführt den Funktionsverlust des empfindsamen Diskurses in ein ironisches Rollenspiel mit wechselnden Ich-Zuschreibungen“. Nach Erhart beschreibe „Werther“ die Initiationsgeschichte des modernen Subjekts, den Auftakt einer Literatur- und Zivilisationserfahrung, die seither nicht aufgehört habe zu funktionieren, „Musarion“ dokumentiere dagegen jene Ungleichzeitigkeit, die zwischen Wielands scheinbar heiterer antiker Liebesgeschichte und Goethes Manifest der frühen Moderne deutlich sichtbare Gräben ziehe286. Erhart verweist darauf, daß über das Verhältnis der beiden Texte zueinander in seltener Einmütigkeit meist ein eklatanter Fall der Nicht-Beziehung beschrieben werde287. Nach Erhart trügt der Eindruck einer realistischen deutschen Werther-Tragödie hier und der zeitlosen Idylle dort ebenso, wie die scheinbar klar verteilten Rollen des Sturm-und-Drang-Dichters Goethe einerseits und des sich in eine unverbindliche Antike zurücksehnenden Rokoko-Dichters Wieland andererseits. Für den Verfasser gelangen beide Texte – als Tragödie und als Happy-End – augenscheinlich zu entgegengesetzten Ergebnissen ihrer Versuchsanordnungen. So „operieren beide doch mit Modellen und Mustern einer zeitgenössischen empfindsamen Literatur“. Der Verfasser unternimmt den Versuch, die scheinbar polarisierten Texte in einer "Funktionsgeschichte des empfindsamen Diskurses zu verorten“. Dabei würden sich überraschende Ausblicke

284 Schelle, S. 22f. 285 Walter Erhart, Beziehungsexperimente. Zur Beziehung zwischen Goethe und Wieland aus traditioneller Sicht: Friedrich Sengle, Wieland und Goethe, S. 55-79; vgl die neueste Studie zu Wieland, Goethe, Gellert von Thomas Kahlcke, Lebensgeschichte als Körpergeschichte, (Wielands „Agathon“ und Goethes „Werther“ und „Wilhelm Meister“). Die Studie deckt das Verhältnis von „Unreinheit“ und „Reinigungsprozeß aus einer psychoanalytischen und zugleich einer historischen Perspektive auf. 286 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 333f. 287 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 334f. „Beide Texte experimentieren zunächst mit den literarisch vielfach vorgeprägten Beziehungen ihrer Figuren. Goethes „Werther“, eine Dreiecksgeschichte mit tödlichem Ausgang, erprobt das in der zeitgenössischen Literatur vorbereitete Motiv einer Frau zwischen zwei Männern, ...Wielands „Musarion“ beschreibt die Wandlung des Atheners Phanias, der, von ... Musarion verlassen, ein stoischer Philosoph zu werden beschließt, durch die Initiative derselben Musarion jedoch von einem philosophischen Menschenfeind in einen epikureischen Liebhaber zurückverwandelt wird“, S. 335. 52 ergeben288. Er formuliert eine Reihe von Gemeinsamkeiten: beide Texte beschreiben Erfahrungen mit Subjektivität, die in Relation zueinander stehen. Beide Texte experimentieren mit brüchig werdenden Definitionen von Individualität, indem sie die dafür vorgesehenen Zeichensysteme erschüttern, umgruppieren und in widersprüchliche Konstellationen überführen. Erhart kommt zu dem Ergebnis, daß dort, wo Werther einen Schlußpunkt setze, Musarion bereits einen Hinweis gebe, wie man reagieren sollte, ohne dem Wiederholungszwang der Werther-Rolle zu verfallen. Beide Dichter erzählen ihrerseits Krisengeschichten moderner Subjektivität289. Für Erhart sind beide Texte Teil einer literarisch-experimentellen Zwischenphase, in der „Krisen und Spielräume immer neuer Subjektkonstruktionen ausgelotet werden“ – Goethes „Werther“ und Wielands „Musarion“ haben jenseits aller etablierten Epochengrenzen ihren gemeinsamen Ort290. Gerade die Offenheit dieser fiktiven Experimente mit Individualität ist nach Erhart durch die Klassik und Romantik oft in Vergessenheit geraten. Zum Abschluß geht er auf einige „spekulative“ Aspekte ein, um zu zeigen, daß sich darin auch die verschiedenen Funktionen beider Textmodelle unterscheiden291. Nur am Rande sei auf die wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügende Studie von Wolter verwiesen292. Weiteren Vergleichen mit Zeitgenossen ist Volker Klotz nachgegangen293.

1.4.6 „Anmutige Beredsamkeit“ – Wieland und die Rhetorik

Seit 1752 lebt Wieland als persönlicher Sekretär im Hause Bodmer. Das Einwirken der zu dieser Zeit ungebrochenen rhetorischen Tradition auf die Poesie und Dichtungstheorie der

288 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 336. Goethes „Werther“ und Wielands „Musarion“ können nicht nur in eine Beziehung zueinander gesetzt werden, sonder auch das bestehende Oppositionsverhältnis zwischen ihnen löse sich auf. 289 Nach Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 356f.. 290 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 360 291 Walter Erhart, Beziehungsexperimente, S. 359. „Werther“ und „Musarion“ setzen Funktionen der literarischen Empfindsamkeit außer Kraft. Goethe zeigt im „Werther“ eine Figur, die eine kopierte Existenz bis in den Tod hinein führt. Die Wirkungs- und Funktionsgeschichte des „Werther“ ließe sich als Modellfall der „kopierten Existenz“ rekonstruieren. Wielands Werke hingegen lassen ihre Figuren in verschiedene Rollen eintreten, ohne ihnen eine feste Existenz zuzuschreiben. Sie bleiben – und darin sieht Erhart die noch immer wirksame Kritik an Wielands Oberflächlichkeit begründet – abstrakt, allenfalls typologisch geordnete Figuren, die sich über bestimmte Dispositionen und Denkungsarten definieren. 292 Manfred Wolter: Verkappt oder offen? Heinse, Petron, Wieland und das „schöne“ Nackende“, in: Neue Deutsche Literatur 37 (1989), H. 7, S. 86-117; er belegt z. B. kaum eines seiner vielen Zitate; vgl. z. B. S. 96f. 293 Volker Klotz: Dahergelaufen und Davongekommen. Ironische Abenteuer in Märchen von Musäus, Wieland und Goethe, in: Euphorion 79 (1985), S. 322-334. 53

Schweizer hat Möller detailliert nachgewiesen294. Obwohl Wieland mit 24 Jahren als Hofmeister eine rhetorische Schrift diktiert295, stand eine fundierte Untersuchung über sein Verhältnis zur rhetorischen Tradition bisher aus. Ebenso wurden die rhetorischen Grundlagen seines Werkes außer acht gelassen296. Auch seine Wirkungsabsichten, das Rhetorische an seiner Sprache, seine ästhetischen Gestaltungsmittel überhaupt, wurden in diesem Zusammenhang von der Forschung nicht wahrgenommen. 1990 holt Tschapke297 diese längst fälligen Studien mit seiner Dissertation am Institut für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen nach und schließt damit eine besonders schmerzliche Lücke in der Wieland- Forschung . Auf breiter Materialgrundlage belegt der Verfasser, daß Wieland die Rhetorik als grundlegend begreift und „sie für seine schriftstellerische Arbeit bis an sein Lebensende heranzieht“, denn der Einfluß der rhetorischen Theorie auf die Form von Wielands Texten und seine Schreibpraxis können kaum überschätzt werden. Besonders deutlich wird, daß der Schriftsteller die Rhetorik in seine ästhetischen Anschauungen vor dem Hintergrund der Wirkungsbezogenheit einarbeitet und die mittlere Stillart bevorzugt. „So lebt die Rhetorik bei Wieland (...) ganz bewußt und umfassend weiter, wie es schließlich auch seine 'Philosophie der Grazien'‘ vor Augen führt, die völlig aus dem rhetorischen ethos-Ideal abgeleitet wird“298. Tschapke spannt den Bogen seiner Untersuchungen zur Rhetorik bei Wieland von der bereits genannten Züricher Gelegenheitsarbeit, in der vieles vorformuliert ist, was später in der dichterischen Praxis wieder zur Anwendung gelangte, „bis hin zum Faible für ein bestimmtes mittleres Stilideal“ und den späteren Äußerungen im Teutschen Merkur und Attischen Museum und belegt damit eindrucksvoll, daß Wieland immer wieder auf die „Begriffssprache der ars oratoria“ zurückgreift, und zwar in „bewußter Erbschaft der humanistisch-rhetorischen Tradition“. Für Tschapke erweist sich das bereits skizzierte negative Wieland-Bild „als ein besonders prominenter Fall in der Geschichte der Rhetorik-Verachtung in Deutschland“299.

294 Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und Georg Friedrich Meier, München 1983 295 „Geschichte und Theorie der Red-Kunst und Dicht-Kunst“, in: AA I/4, S. 335ff. 296 Gelegentliche Hinweise darauf haben diesem Mangel an einer solchen Untersuchung der rhetorischen Grundlagen nicht abgeholfen, sondern eher noch verstärkt; vgl. u. a. Steven R. Miller: Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970, S. 74 und 87; Schelle, Wieland, S. 15. Lediglich die amerikanischen Germanisten Jeffrey B. Gardiner/Albert R. Schmitt haben sich Anfang der siebziger Jahre in einem Aufsatz des Problems angenommen, allerdings nur unter dem Gesichtspunkt der Shakespeare-Verteidigung: „Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst. Anno 1757“. An Early Defense of Shakespeare, in Lessing Yearbook 5 (1973), S. 219-241. 297 Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. Christoph Martin Wieland und die Rhetorik, Stuttgart 1990. 298 Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 4 und 5. 299 Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 250. 54

Weniger überzeugen kann in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von Meuthen, der in der empfindsamen Literatur eine „Rhetorisierung des Subjekts“ erkennt300. Er beschreibt die Sprachstrukturen der „internalisierten Rhetorik“ und den Prozeß ihres Entstehens in einer Interpretationsreihe, die auf „Schlüsselromane des späten 18. Jahrhunderts zurückgreift“. Meuthen eröffnet mit Wielands „Agathon“ die Beispielreihe, „weil er noch aus dem ‚Geist‘ der alten Rhetorik, gegen den Rousseau rebelliert, geschrieben ist. Er (Wieland, d. Verf.) kritisiert die neuen ästhetischen Konzepte aus der Perspektive des traditionellen Literaturbegriffs als ‚schwärmerisch‘ (...) Wieland stellt das rhetorische Fundament der ästhetischen Reflexion und die in ihr weiterwirkenden rhetorischen Strategien deutlich heraus – und warnt vor den Gefahren einer verselbständigten (...) Rhetorik“301. Die Studie leidet unter dem unterschiedlichen Gebrauch ihres Zentralbegriffs. Einerseits versteht Meuthen unter „rhetorisch“ die Künste der traditionellen Schulrhetorik, andererseits betrachtet er mit Paul de Man Sprache überhaupt als rhetorisch302. Darunter leidet auch das Kapitel „Zur Rhetorik Danaes: Die Kunst als ‚Verführung‘“303.

1.4.7 Der Formkünstler Wieland - Wirkungsabsichten und ästhetische Gestaltungsmittel

1.4.7.1 Wieland und die Verserzählungen

Während bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Einzeldarstellungen vornehmlich das Romanwerk Wielands im Vordergrund steht, treten nach 1945 auch Versdichtungen in den Mittelpunkt des Interesses.Gattungsgeschichtlich gehört die Mehrzahl von Wielands Texten in gebundener Rede zum Genre der Verserzählungen, deren Eigenständigkeit und Eigenart bisher weitgehend verkannt wurden304. Das Stichwort „Verserzählung“ fehlt in den

300 Erich Meuthen: Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg/Br. 1994, S. 11 301 Erich Meuthen, Selbstüberredung, S. 12 und 13; vgl. dazu Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 250, der darauf hinweist, daß Wielands Affinität zur Rhetorik keineswegs in einer regelhaften und starren Anwendung der alten Begriffe und Theorien der Beredsamkeit, sondern in einer behutsamen, je nach Bedarf vorgenommenen Aneignung für die eigenen neuen Bedürfnisse und Ziele besteht. 302 Vgl. z. B. Erich Meuthen, Selbstüberredung, S. 20: Ihr „rhetorisch figurales Potential“ behaupte sich als „sprachlicher ‚Eigensinn‘ gegen alle Versuche der Aufdeckung des ‚eigentlichen‘ gemeinten‘ (eines identifizierbaren Sinnes)“. Hier überlagern sich historischer und ontologischer Wortgebrauch. 303 Erich Meuthen, Selbstüberredung, S. 68-78. 304 Thomas Lautwein, Erotik und Empfindsamkeit, S. 26; vgl. dazu die Rez. von Jürgen Jabobs, in: Germanistik 38 (1997), S. 940. 55 poetologischen Handbüchern305. So fällt es schwer, diese Gattung zu definieren und die Übergänge zu anderen Formen sind fließend306. Wieland hat zwischen 1750 und 1795 insgesamt 32 versepische Texte verfaßt, die rein quantitativ betrachtet nahezu die Hälfte seines dichterischen Gesamtwerkes ausmachen. Darunter sind so reizvolle Texte wie die Verserzählungen „Musarion“, „Idris“, „Der neue Amadis“. In seiner Studie geht Lautwein von dem Befund aus, daß die Literaturwissenschaft Wielands Verserzählungen gegenüber seinen anderen Werken bisher vernachlässigt habe. Die Reduzierung seines versepischen Werkes auf „Musarion“ und „Oberon“ bilde eine Tradition der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, die bis heute ungebrochen ist307. So führen die gängigen einbändigen Literaturgeschichten die Verserzählungen nur als die „Essenz des Rokoko“308 oder als das „letzte suggestive dichterische Zeugnis einer verfeinerten ästhetischen Kultur des Rokoko“309 an oder ignorieren sie völlig310. Die allgemeine Tendenz in der Wielandforschung hat auch die Situation auf dem Gebiet der Verserzählungen Wielands geprägt. Die Blockierung der allgemeinen Rezeption hat sich verstärkt ausgewirkt, weil die Verserzählungen „in besonderem Maße unter dem Vorwurf der Frivolität und oberflächlichen Tändelei“ geständen haben311.

Aus den geschilderten Umständen ist zu erklären, daß eine übergreifende Forschung erst relativ spät einsetzt und nur stockend entwickelt. Es sind vor allem die Arbeiten von Walzel312, Sengle313, Kausch314, Teesing315, Preisendanz316 und Sommer317, die die Entwicklung der modernen Wielandforschung auf dem Gebiet der Verserzählung bestimmen.

305 Vgl. dagegen Hansjörg Schelle: Verserzählung, neuhochdeutsche, in: Merker-Stammler, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin, Bd. 2, Berlin 1984, S. 699ff. 306 vgl. Thomas Lautwein, Erotik und Empfindsamkeit, S. 20. Hier sei ausdrücklich auf den interessanten Essay von Arno Schmidt verwiesen. Für ihn hat Wieland als „Berechner der äußeren Form Vorbildliches und bisher noch längst nicht Gewürdigtes geleistet“, Arno Schmidt: Wieland oder die Prosaformen, in: ders.: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek, Karlsruhe 1958 (Nachdruck Frankfurt/Main 1989), S. 275. 307 Thomas Lautwein, Erotik und Empfindsamkeit, S. 18f.; diesem Mißstand will Lautwein mit einer detaillierten Analyse der „Comischen Erzählungen“ und einer bis ins Mittelalter zurückgreifenden Untersuchung der gattungsgeschichtlichen Zusammenhänge entgegenwirken, S. 18. 308 Wolf Wucherpfenning: Geschichte der deutschen Literatur, Stuttgart 1986, S. 87. 309 V. Zmegac/Z. Skreb/L. Sekulic: Kleine Geschichte der deutschen Literatur, 4. Aufl., Frankfurt/Main 1993, S. 92; ähnlich Glaser/Lehmann/Lubos: Wege der deutschen Literatur, Frankfurt/Main und Berlin 1986, S. 141f.. 310 So u. a. Wolfgang Beutin: Deutsche Literaturgeschichte, Stuttgart 1979. 311 Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 28. 312 Oskar Walzel, Wielands Versepik, S. 8-34. Mit dem Aufsatz wird das Signal zur Erforschung dieser Literaturgattung bei Wieland gegeben. Mit Einschränkungen gibt er einen umfassenden Einblick in das Panorama von Wielands Verserzählungen, indem er besonders die Aspekte der Relation zum Prosawerk, der Einflußfaktoren (Walzel gibt den interessanten Hinweis auf Lawrence Sterne), der Versform, des Bezuges zum Mittelalter, der Rokokofrage sowie der Nachfolgeschaft Wielands anspricht. Walzel hebt scharf die Trennung hervor, die nach seiner Auffassung zwischen den Bereichen der Verspoesie und dem Prosawerk liege, S. 9. Von hieraus deutet sich eine Auffassung des Rokoko an, die negativ bestimmt ist: „Rokoko ist der Stil eines Zeitalters, das übersättigt ist...“, S. 10, wenngleich Walzel die „Übertragung französischer Art und Kunst ins 56

Maler würdigt Wielands Versepen als „variantenreichstes versepisches Oeuvre im 18. Jahrhundert“318,. Unterscheidet ber nicht zwischen (komischem) Versepos319 und Verserzählung320. Jacobs ordnet Wielands Versepen historisch als Endpunkt der Gattungsgeschichte des Epos ein, als „launisches Zerspielen der epischen Form“321. Rowland präzisiert das durch den Nachweis, daß Wieland spätestens seit „Musarion“ die bewußte Kombination und Vermischung mehrerer Gattungen (wie Lehrgedicht, Komödie,

Deutsche“ als Leistung anerkennt, S. 10. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der besondere Wert wie auch die Begrenzung von Walzels Aufsatz in einer Vielzahl von Fragerichtungen auseinandertreibender, aphoristischer Äußerungen liegt. Er begründet mit seinen Ausführungen ein Repertoire von Fragen und Beobachtungen gegenüber der Wielandschen Verserzählung, das noch in den neueren Forschungen zu finden ist. 313 Sengle sieht in den auf die Untersuchung der Verserzählung gerichteten Abschnitten seines Wieland-Buches vier größere, unterscheidbare Phasen, die er als „Bemühung um das reine Rokoko“ (Komische Erzählungen, S. 169ff.), „Graziendichtung“ (besonders Musarion, S. 203), „Märchen-Epyllion“ (Idris und Zenide, Der neue Amadis, S. 209ff.) und als „Versdichtung der Jahre 1770-1783“ (S. 341ff.) anspricht. Behutsam, aber unverkennbar arbeitet Sengle die Rokokoepoche Wielands als eine solche des Durchgangs und des Überwundenwerdens heraus, wobei er zwischen einer Phase des „späten Rokoko“, repräsentiert im „Neuen Amadis“ und einer „klassizistischen bzw. romantizistischen Überformung des Rokoko „(„Musarion“ und „Idris“) unterscheidet und beides absetzt von dem frühen, französisch stilisierten Rokoko, S. 216ff.. 314Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 12-42; ders.: Das Kulturproblem bei Wieland, Diss. Köln 1954. Der Aufsatz von 1958 entwickelt Ansätze der Dissertation von 1954 weiter und präzisiert sie auf dem Gebiet der Versepik Wielands. Kausch geht von einer Abgrenzung des Schönheitsbegriffs gegenüber einem statuenhaft- gegenständlichen Konzept der Schönheit aus und gelangt dabei zum Begriff des Reizes als „Grazie der Form“; vgl. dazu Alfred Anger: „Reiz“ und Reiz-Begriff bei C. M. Wieland, Diss. Köln 1954, der dieses Problem ausführlich und aufschlußreich untersucht. Kausch geht der Frage nach einer „Grazie der Sprachform“ nach und kommt dabei zur „Anspielung“. Er schlußfolgert, die „Erzählung Wielands ist bei weitem vielgestaltiger als die erzählte Handlung“, S. 25. Der Aufsatz eröffnet mit den Begriffen „Anspielung“ und „Leserbezug“ wertvolle Ausblicke für eine weitere Untersuchung der Wielandschen Versepik. Zu einigen Kritikpunkten dazu vgl. Ernst- August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 33f. 315 Hubert Paul Hans Teesing: Ironie als dichterisches Spiel. Ein stilistischer Versuch an Hand von Wielands „Schach Lolo“, in: Stil- und Formprobleme in der Literatur, hg. Paul Böckmann, Heidelberg 1959, S. 258-266; der Aufsatz wurde 1973 in den Sammelband: Ironie als literarisches Phänomen, hg. Hans-Egon Hass/Gustav- Adolf Morlüder, Köln 1973, S. 121-129, aufgenommen; er basiert auf einem in holländischer Sprache erschienenen Vortrag: Ironie als literair epepl., Groningen 1956. 316Wolfgang Preisendanz, Wieland und die Verserzählung. Ausgehend von der Erörterung dichtungstheoretischer Grundsätze des 18. Jahrhunderts - und unter Aufnahme einiger bereits bei Kausch entwickelter Gedankengänge – glaubt Preisendanz, den Formtyp der Verserzählung als „ausschließlichen Spielraum des Scherzhaften“ – im Gegensatz zu der Satire und Travestie – zu erkennen; Vgl. hier die Kritik von Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 36. 317 Cornelius Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen. Form und dichtungstheoretischer Hintergrund, Diss. Tübingen 1966. Sommer untersucht die „dichterische Grundhaltung“, das „dichterische Selbstverständnis Wielands“. Der Verfasser strebt unter Zuhilfenahme der dichtungstheoretischen Äußerungen Wielands eine systematische Interpretation der Verserzählungen seit „Musarion“ an; gleichzeitig verfolgt er die bei Kausch und Preisendanz bereits angesprochene Frage der erzählerischen Haltung weiter. 318 Anselm Maler: Versepos, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, hg. Rolf Grimminger, Bd. 3,) München 1980, S. 365-423, S. 405. 319 Vgl. dazu die neueste Arbeit von Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie, Berlin 1993. Gegenstand der Untersuchung ist die Versepik „hohen Stils“, die im 18. Jahrhundert eine wechselhafte, nicht uninteressante Geschichte durchlaufen hat. Martin nennt u. a. „Die Grazien“, „Musarion“, „Der verklagte Amor“ u. a. Werke Wielands als „Texte verwandter Gattungen“, die zwar in seiner Bibliographie aufgenommen, in der Studie selbst aber nicht berücksichtigt sind. 320 Dieses beanstandet Schelle: „Insofern die Autoren beiläufig auf V(erserzählung) zu sprechen kommen, neigen sie dazu, die letzteren am Epos zu messen und dabei die Eigengesetze der V(erserzählung) zu übersehen“; Hansjörg Schelle: Verserzählung, in: Merker-Stammler: Reallexikon der deutschen Literatur, Band 4, Berlin 1984, S. 699. 57

Verserzählung) in einem Text betreibt322. Joergensen differenziert sorgfältig zwischen komischem Epos, Epyllion und Verserzählung, kann sich aber nicht von dem problematischen Begriff „Rokoko“ lösen.323.

Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts dominiert, wie erwähnt, die stilgeschichtliche Betrachtungsweise, die die kunstgeschichtliche Epochenbezeichnung auf die Literatur überträgt. Wieland wird auf den Begriff „Rokoko“ festgelegt, eine Etikettierung, die in den folgenden Jahrzehnten zum Klischee verkommt.

1.4.7.2 Wielands Graziendichtungen und das literarische Rokoko324

In den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts wird Kritik an der undifferenzierten Verwendung der Epochenbezeichnung ‚Rokoko‘ laut. In der Absicht, eine typisch rokokohafte Form zu finden, arbeitet Soerensen erstmals die Eigenständigkeit der Gattung Verserzählung heraus und stellt ihre Geschichte dar325. Wenn nach dem heutigen Stand der Forschung im Zusammenhang mit Wieland von Rokoko die Rede ist, sind, abgesehen von der Prosa des „Don Sylvio“, vor allem die Versdichtungen der Biberacher und Erfurter Jahre und des ersten Weimarer Jahrzehnts gemeint326. Obwohl man bei Wieland versucht hat, bei der Deutung seiner Werke auf solche Epochenbegriffe zu verzichten, hat Anger nach umfangreichen

321 Jürgen Jacobs: Das Verstummen der Muse. Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im XVIII. Jahrhundert, in: Arcadia 10 (1975), S. 129-146. 322 Herbert Rowland: „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre. 323 Sven-Aage Joergensen: Wieland, in: Joergensen/Bohnen/Öhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik 1740-1789, München 1990, S. 147-151 (Band 6 der Literaturgeschichte von de Boor/Newald). 1994 bemerkt Joergensen, das „zögernde und unsichere Verständnis hängt zweifelsohne damit zusammen, daß der moderne Leser die Rezeptionsvorgaben dieser Werke nicht mehr versteht, weil die Gattungen Verserzählung, Märchenepyllion und Lehrgedicht aus dem heutigen literarischen System verschwunden sind“; Joergensen/Jaumann/McCarthy/Thomé, Christoph Martin Wieland, S. 54. 324 Zum Begriff allgemein vgl. R. H. Samuel: Rococo, in: Periods in German Literature, ed. by J. M. Ritchie, London 1966, S. 43-64. Zum Epochenbegriff „Rokoko“ und seiner Diskussion vgl. Matti Schüsseler: Unbeschwert aufgeklärt. Scherzhafte Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 1ff.; er verweist auf die Unschärfe der von der Epoche selbst angebotenen Begrifflichkeit. Schüsseler stellt – wie andere Autoren bereits vor ihm – fest, daß „Rokoko“ eine Entlehnung aus der Kunstgeschichte ist, deren Übernahme durch die Literaturtheorie vielfach als problematisch angesehen wird. Schüsseler macht u. a. das Scherzhafte zum Gegenstand einer „stilfunktions-geschichtlichen Betrachtung“, um von hier aus zu Erkenntnissen über die sogenannte Epoche des ‚Rokoko‘ zu gelangen“, S. 2f.; vgl. auch die Übersicht über die Forschungsliteratur von Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 40-50. 325 B. A. Soerensen, Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jahrhundert, S. 125-152. Bereits 1927 sieht Walzel in Wielands Verserzählungen „die wohl reinste Verwirklichung des Rokokos auf deutschem Boden“; Oskar Walzel: Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart, Bd. 1, Potsdam 1927, S. 120. 326 Die anderen Prosaromane dieser Schaffensperiode („Agathon“, „Diogenes“, „Der Goldene Spiegel“, „Danischmed“ und „Abderiten“) enthalten zwar unverkennbare Rokoko-Elemente, können aber in ihrer Gesamtheit wohl kaum als Werke des Rokoko gelten. 58

Forschungsarbeiten und Quellenstudien in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts abschließend das Wesen des literarischen Rokoko bestimmt und Wieland zu recht dieser Stilepoche zugeordnet327. Auf die Problematik der Begriffs- und Wesensbestimmung kann im Rahmen dieses Forschungsberichts nicht eingegangen werden328.

„Anmut und Grazie“ sind die beiden Kennzeichen des Rokoko329, und das Kunstwollen des Rokoko findet seine „reinste Ausprägung in den Graziendichtungen Wielands“330. Markwardt

327 Vgl. die gründliche Studie von Anger, Rokoko-Dichtung, S. 430-479; 614-645. Es ist der erste Forschungsbericht über das literarische Rokoko in Deutschland, der versucht, Vorgeschichte, Geschichte und Probleme der Rokokoforschung kritisch darzustellen. Anger muß sich aber eingestehen, daß Wielands Rokoko „thematisch wie stilistisch... die verwirrendsten Verbindungen und Verschmelzungen mit dem Pietismus und der Empfindsamkeit, der Anakreontik, der Aufklärung, der Klassik und Romantik eingegangen ist“, S. 432. Der Bericht stellt außerdem vollständig die bis zu diesem Zeitpunkt erschienene Literatur zusammen und reflektiert kritisch die einzelnen Forschungsansätze. Anger will mit der literaturgeschichtlichen Unordnung aufräumen und das Rokoko als Stilepoche endgültig inthronisieren. Er behält dabei den substantialistischen Begriff früherer Jahrzehnte bei und ordnet ihm eine Vielzahl formalstilistischer Merkmale zu, anhand derer er Gattungsdifferenzierungen vornimmt. vgl. auch ders.: Literarisches Rokoko, Stuttgart 1962, und ders.: „Reiz“ und Reizbegriff bei Wieland. Es wird grundsätzlich auf die Forschungsarbeiten Angers verwiesen. 328 Neben den genannten Abhandlungen sind noch folgende erwähnenswert: - Herbert Cysarz: Literarisches Rokoko, in: ders.: Welträtsel im Wort. Studien zur europäischen Dichtung und Philosophie, Wien ( 1948), S. 125-167. Er hat als erster den Versuch unternommen, zu einer systematischen Erfassung der deutschen Rokokodichtung zu kommen. Der Wert der Arbeit liegt in brillantem Durchblicken und weit vordringenden Entwürfen. Kritisch ist anzumerken, daß es an konturierender Schärfe und diskursiver Geschlossenheit der Darstellung fehlt. Es entsteht kein umrissenes Bild, die Verbindlichkeit der Aussage zerbröckelt an kettenartig weiter gleitenden Vergleichen, die der Autor anstelle präziser Beschreibungen bevorzugt. Nach dem Cyzarschen Aufsatz von 1948 unternimmt Israel S. Stamm 1961 erstmals wieder den Versuch einer allgemeinen Begriffsklärung in seiner Untersuchung: German literary Rococo, in: The Germanic Review 36 (1961), S. 230-241. Vgl. dazu Anger, der in seinem Forschungsbericht diesen Versuch, der kaum befriedigende Ergebnisse zeitigt, mit Recht als problematische Deduktion einstuft; Anger, Rokoko-Dichtung, S. 478. Dennoch scheint hinter dem Vorgehen Stamms ein berechtigtes Bedürfnis zu stehen, das die deutsche Rokoko-Forschung künftig beachten sollte: es ist der Wunsch, auch das literarische Merkmal in einem stilistischen Gesamtzusammenhang zu sehen. - Emil Ermatinger: Barock und Rokoko in der deutschen Dichtung, Leipzig/Berlin 1926. Im Gegensatz zu Heckel behandelt Ermatinger den gesamten Zeitraum vom ausgehenden Barock bis zum Sturm und Drang analog zur Kunstgeschichte unter dem Begriff Rokoko. - Hans Heckel: Zu Begriff und Wesen des literarischen Rokoko. Festschrift für Theodor Siebs, hg. Walther Steller, Breslau 1933, S. 213-250. Bei Heckel wird in stellenweise vorbildlicher Klarheit ein erster Grund- und Aufriß des deutschen Literatur-Rokokos gegeben; er wehrt die Hoffnung ab, daß es möglich sei, den Erweis eines „Zeitalters des Rokoko in der deutschen Literatur“ zu geben, S. 213. Ihm geht es um die Herauslösung einer dichterischen Entwicklung von unverkennbarem Rokoko-Charakter aus der geistigen deutschen Wirklichkeit im 18. Jahrhundert.; vgl. S. 213. Er sieht das deutsche Rokoko im Sinne des 19. Jahrhunderts. als bloßes Mitmachen der französischen Mode und kommt deshalb zu ähnlich negativen Bewertungen. Wolle man den gesamten Zeitraum zwischen Barock und Sturm und Drang auf einen gemeinsamen Nenner bringen, bliebe als Notbehelf „Aufklärung“ übrig. Innerhalb dieses Zeitraums gebe es mehrere Stilrichtungen und Strömungen, von denen das literarische Rokoko nur eine und zu keiner Zeit die allein beherrschende und maßgebende sei. Die Forschung habe die Aufgabe, die stilbestimmenden Tendenzen dieses Rokoko eindeutig zu charakterisieren, es dadurch gegen zeitlich parallellaufende anders gerichtete Strömungen abzuheben. - Heinz Kindermann (Hg.): Der Rokoko-Goethe. (Deutsche Literatur; Reihe Irrationalismus in 14 Bde.), Bd. 2, Leipzig 1932, S. 10ff. - Heinrich August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe, Bd. 1, Heidelberg 1917, S. 476-494; bei ihm taucht der Begriff des literarischen Rokoko zum ersten Mal auf. - B. A. Soerensen, Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jahrhundert, S. 148. 329 Oskar Walzel, Wielands Versepik, S. 8. 59 nennt in diesem Zusammenhang die „Komischen Erzählungen“, „Musarion“ und „Die Grazien“. Dagegen schreibt Beißner, der die Teilhabe Wielands am Rokoko als Epochenbegriff leugnet, „es ist heute zuviel von Wielands ‘Rokoko’ die Rede, und es scheint, als sollten derlei Hinweise dem allmählich wieder erwachenden Nachruhm des Dichters aufhelfen. Eine solche stilgeschichtliche Zuordnung und Etikettierung ist aber einigermaßen problematisch. Sie birgt die Gefahr abermaliger Entfernung und Entfremdung in sich. Wieland als Protagonist einer deutschen Rokoko-Dichtung - dieser Vorstellung widerstritte mindestens das Selbstverständnis des Dichters“331. Andererseits wäre es unzulässig, Wielands Gesamtwerk auf diesen Stilbegriff einzugrenzen. Auf diese unterschiedlichen Standpunkte beziehen sich die folgenden Anmerkungen zum literarischen Rokoko in Verbindung mit Wielands Graziendichtungen. Beeken weist auf die Probleme des literarischen Rokoko hin. „Sich auf das Feld des literarischen Rokoko wagen, heißt heute noch, schwankenden Boden betreten. Es liegt ... in der Natur dieses vielschichtigen, schillernden Phänomens, sich einer klaren Begriffsbestimmung zu entziehen. Noch nicht einmal der Begriff ‘Rokoko’ als solcher hat sich in der literaturhistorischen Forschung einen festen Platz erobert“332. Die deutsche Forschung hat das Rokokoproblem spät und zaghaft aufgegriffen. Der erste, der das Schlagwort „Rococo“ in die deutsche Literaturgeschichte einführte, ist Menzel, der 1859 die Literaturepoche zwischen 1700 und 1740 als „Rococozeit“ bezeichnet333. Bis zum Ersten Weltkrieg bleibt das Interesse mäßig. Zwar fehlt es nicht an Einzeluntersuchungen, denn seit dem Ende des Ersten Weltkrieges versäumt es kaum eine Literaturgeschichte, dem deutschen Rokoko ein kleines Kapitel zu widmen. Das Interesse bleibt aber gering, und die Ergebnisse solcher Beschäftigungen sind eher entmutigend als anregend. Während die Forschungssituation auf dem Gebiet des literarischen Rokoko als unbefriedigend empfunden und wiederholt eine weitere Klärung des Rokokobegriffs verlangt wird, beklagt Teesing die widersprüchlichen Begriffsbestimmungen, Unschärfen und zeitlichen Abgrenzungen des literarischen Rokoko bei den verschiedenen Forschern334. Martini weist in seinem Forschungsbericht auf die Notwendigkeit einer zuverlässigen Klärung des Rokoko-Begriffs hin335. In dem Abschnitt über die Frage der Zugehörigkeit Wielands zum literarischen Rokoko

330 Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik, Bd. II: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, Berlin 1956, S. 574. 331 WA I, 915 (Nachwort des Herausgebers im Zusammenhang mit „Musarion“). 332 Lüder Beeken: Das Prinzip der Desillusionierung im komischen Epos des 18. Jahrhunderts. Zur Wesensbestimmung des deutschen Rokoko, Diss. Hamburg 1954, S. 1. 333 Wolfgang Menzel: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit, 1859, Bd. 2, S. 452f. 334 Hubert Paul Hans Teesing: Wieland als Dichter van het Rococo, in: Neophilologus 30 (1946), S. 166-121, S. 171. 335 Martini, Wieland-Forschung, S. 269-280. 60 in Deutschland begibt sich Sommer, wie er es formuliert, in „Widerspruch zu Tendenzen der neueren Forschung, in Wieland ... den Gipfelpunkt der Rokoko-Literatur Deutschlands zu sehen“, wobei er aber auf der Linie etwa des vorangehenden Aufsatzes von Preisendanz liegt, den er nicht kennt336.

Eine Erklärung für die von der Rokokoforschung beklagte Vernachlässigung ist jedoch nicht nur im mangelnden Interesse an einer literarischen Erscheinung zu suchen. Die wahre Ursache ist, daß sich hinter dieser Vernachlässigung auch Geringschätzung, hinter der Nichtbeachtung unverhohlene Verachtung verbirgt. Dafür gibt Kösters Literaturgeschichte ein Beispiel. Bereits der Wortschatz, mit dem die deutsche Rokokodichtung beschrieben wird, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „seicht, läppisch, unwahr, erkünstelter Leichtsinn, gewissenlos, obszön, fade Tändelei, gewissenlos langweilig wie geil, impotente Sinnlichkeit, unerträglich“. Köster kennzeichnet die Epoche als „sittliche Zerrüttung“ und „erschreckenden Tiefstand“337. Diese negative Haltung ist kein Einzelfall. Sie gilt repräsentativ für die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gegenüber einigen Dichtern und Werken, die man heute mit dem Begriff Rokoko zu bezeichnen pflegt. Vilmar übertrifft in der bereits erwähnten „Geschichte der deutschen National-Literatur“ Köster an Verachtung der Rokokodichtung. Besonders scharf kritisiert er Wieland, der nur Materialismus und fadeste Tagesphilosophie predige. Seine „Musarion“ enthalte nichts als eine „Doctrin des Sinnenkitzels“. Der Dichter habe mit Vorliebe Stoffe gewählt, denen „sich nur das versunkenste Individuum, nur eine in Kraftlosigkeit, Ohnmacht und Fäulnis verkommene Gesellschaft, nur eine der völligen Auflösung aller sittlichen, religiösen und politischen Bande entgegengehende Nation wenden kann“338. Anger meint, eine solche Verdammung der Rokokodichtung und Wielands aus sittlichen, nationalen und religiösen Gründen gäbe es nur Anfang des 19. Jahrhunderts von Tieck und den Brüdern Schlegel. Zwar verweist der Verfasser auf einige maßvollere Beurteilungen, aber er bemerkt, „Rokokodichtung war und blieb ein Mahnmal des trostlosesten Tiefstandes in der Geschichte

336 Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 167. Der genannte Aufsatz von Wolfgang Preisendanz ist: Wieland und die Verserzählung des 18. Jahrhunderts. 337 Albert Köster: Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit, hg. J. Petersen, Heidelberg 1925, S. 20-42 und 244-253. Er betont, während in Frankreich das Rokoko wenigstens ein „folgerichtig erwachsenes Erbe“ sei, fehle für die Übertragung nach Deutschland „jede Vorbedingung“. Daß es dennoch als „etwas Fremdartiges fertig übernommen“ wurde, mache den Widersinn und die innere Verlogenheit aus, S. 35. 338 August Vilmar, Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Anger hat darauf hingewiesen, daß gerade solche Urteile mit Vorliebe von anderen Literaturgeschichten wörtlich übernommen wurden, z. B. J. Howald: Geschichte der deutschen Literatur, 1903, S. 400; Anger, Rokoko-Dichtung, S. 433, Anm. 11. 61 der deutschen Literatur“339. Nach dem Ersten Weltkrieg gibt es Ansätze, die je nach positiver oder negativer Bewertung des literarischen Rokoko auch Wielands Graziendichtungen be- bzw. verurteilen, was zu einer Verharmlosung oder falschen Einschätzung seiner Werke führt340. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Rokokoforschung zunimmt, führt das zu keiner Abgrenzung oder Festlegung des Begriffs. Die unterschiedlichen Ansätze und Positionen hat Anger in seinem Forschungsbericht zusammengestellt und erläutert341.

Ebenso bereitet die zeitliche Einordnung des Rokoko als literarische Erscheinung Schwierigkeiten. Ein „paar Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, die Spanne etwa zwischen 1730 und 1760 pflegt man unter ‘Rokoko’ zusammenzufassen... Es haftet ihm eine Leichtigkeit an, etwa von Spiel und Scherz... Rokoko konnte sich nur in leichten Stoffen, in leichten Inhalten verwirklichen. Es konnte nicht in großen Abmessungen und nicht in große Leidenschaften eingehen“342. Er stimmt zwar mit Beeken343 und Vietor344 überein, daß das Rokoko keine ganze Epoche beherrschte, jedoch bringen solche Definitionen die Frage nach einer deutschen Rokokodichtung nicht weiter. Andere bezeichnen das Rokoko als „einen besonderen, dem Geiste der Zeit entsprechenden Lebensstil mit seiner Moral..., der dem größten Teil des 18. Jahrhunderts eigen ist“. Aus dieser Sicht kommt man in bezug auf „Musarion“ zu folgender Bewertung. Auch die „Schöpfungen Wielands sind für die Lebensstimmung des Rokoko charakteristisch. In ihnen pulsiert seine Aristokratenkultur; kein anderer bürgerlicher Dichter in Deutschland hat so trefflich den aus antiken Elementen und französischen Anklängen gemischten Stil des höfischen Rokoko wiedergegeben. Sinnenlust, die ein verlockend schönes, aber verweichlichtes Dasein begehrt und ausmalt, Frivolitäten, mit Lebensgenuß

339Anger, Rokoko-Dichtung, S. 433f.; er verweist dabei auf Eichendorffs literaturhistorische Abhandlungen; Joseph Freiherr von Eichendorff: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 4 Bde., hg. Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Bd. 4, Stuttgart 1958, S. 178ff. 340 Vgl. Peter Michelsen, Lawrence Sterne, S. 204, Anm. 57; er betont, im Zusammenhang mit „Don Sylvio“, W. Hallomore (Das Bild Lawrence Sternes in Deutschland von der Aufklärung bis zur Romantik, Berlin 1936) verharmlose unzulässigerweise die in Frage kommenden Werke Wielands als „Rokokodichtung“. Es gehe in diesen Dichtungen nicht um die „Übermalung der Problematik des Lebens“ (S. 25), sondern um Auseinandersetzung mit ihr. 341 Anger, Rokoko-Dichtung, S. 452-479. Der Forschungsbericht zeigt, in welchem Dilemma die Forschung trotz vieler Bemühungen und einiger Erfolge dem Rokoko gegenüber bis heute steckt. Von der Prüderie der Bewertung habe man sich zwar im 20. Jahrhundert befreit, Grenzen und Begriff dessen jedoch, was man als literarisches Rokoko bezeichne, seien in den letzten 100 Jahren kaum klarer geworden. Von der Alexandrinerpoesie um 1700 bis zu den Gedichten eines Matthisson, von Gottsched bis Hippel wurde nichts in Deutschland produziert, was nicht gelegentlich als Rokoko verstanden wurde. 342 Albert von Reitzenstein: Deutsches Rokoko, Berlin 1937, S. 1. 343 Lüder Beeken, Desillusionierung. 344 Karl Vietor: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: ders., Geist und Form, Bern 1952, S. 234- 266, S. 257. Er ist der Meinung, daß es um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland nebeneinander drei literarische Richtungen gab: das Rokoko, das den Gottschedschen Pseudo-Klassizismus abgelöst habe und auf 62 einer sich in antike Gewänder hüllenden französischen Gegenwart, eine Philosophie der Grazien fand der vornehme Leser jener Tage in Wielands Dichtungen, wie etwa in der Verserzählung „Musarion“ (1768). Die ersten Anregungen zu solcher Dichtweise empfing Wieland durch seinen Verkehr im Kreise des ... Grafen Stadion auf dem Gute Warthausen..., der das am Hofe der Bourbonen herrschende geistreiche und frivol-galante Wesen getreulich abspiegelte“345.

Obwohl man sich in der Literaturwissenschaft inzwischen darüber im klaren ist, daß es sich beim Rokoko um keine Weltanschauung, sondern um eine Kunstform handelt346, wird die Frage gestellt, inwiefern man mit Recht in der deutschen Literatur von einer Zeit des Rokoko sprechen kann und kommt zu dem Ergebnis, daß dies erst im Zusammenhang mit dem „Formprinzip des Witzes“ möglich erscheint347. Damit wird der Rokokobegriff auf ein Stil- Phänomen eingeschränkt. Das Rokoko kann, soweit ist man sich in der neueren Forschung einig, nur als eine sich aus bestimmten geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ergebende Möglichkeit des 18. Jahrhunderts angesehen werden, als „eine geistige Strömung neben gleichwertigen, ja stärkeren anderen“348. Das literarische Rokoko ist also nicht Epochen-, sondern ein Stilbegriff, dessen Anwendbarkeit von Fall zu Fall neu geprüft werden muß. In diesem Sinne heißt es bei Martini unreflektiert, „gerade das Jahr 1768 brachte, in schroffem Widerspruch zu Herders Fragmenten, nochmals eine reiche Blüte des Rokoko. Wielands ‘Musarion’, dieses halb lehrhafte, halb humoristische Kleinepos in zierlich- bewegten Versen, entwickelt an einem idyllisch-verfeinerten Griechentum das Ideal friedsamer Glückseligkeit in goldener Mitte zwischen Sinnenlust und Entsagung“349. Wenn Martini hier von „Blüte des Rokoko“ spricht, muß angenommen werden, „die wissenschaftliche Erforschung der entsprechenden Erscheinungen unserer deutschen Dichtung (des Rokoko)... ist über ... vereinzelte Ansätze zu einer tieferen Erfassung des Rokoko als literarisches Stilphänomen nicht hinausgekommen“350.

Anmut, Grazie und kultivierte Lebensfreude gerichtet war; die unter der Idee des Erhabenen stehende pathetisch- enthusiastische Dichtung Klopstocks und seiner Anhänger und die deutsche Aufklärung. 345 Curt Gebauer: Lebensstil und Moral des Rokoko, in: ders., Geistige Strömungen und Sittlichkeit im 18. Jahrhundert, Berlin 1931, S. 37. 346 Lüder Beeken, Desillusionierung, S. 29. 347 Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Literatur, Hamburg 1949, Bd. 1, S. 528f. 348 Hans Heckel: Zu Begriff und Wesen des literarischen Rokoko in Deutschland. Festschrift für Theodor Siebs, hg. von Walther Steller, Breslau 1933, S. 216. Innerhalb der Rokokogattungen teilt Heckel dem Typus der Verserzählung einen besonderen Platz zu, S. 242ff.; den Höhepunkt dieser Gattung – wie auch das Rokoko überhaupt – sieht er bei Wieland erreicht. Vgl. H. Hatzfeld: Rokoko als literarischer Epochenstil, in: Studies in Philology 33 (1938), S. 532ff. 349 Fritz Martini, Von der Aufklärung zum Sturm und Drang, S. 446. 350 Lüder Beeken, Desillusionierung, S. 1. 63

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß „Theages“ von den Ausführungen ausgenommen werden muß. In Wielands Jugenddichtungen lassen sich keine rokokohaften Züge nachweisen. Darüber ist sich die Forschung einig351.

Es ist unbestritten, daß Wieland sich in „Musarion“ und „Die Grazien“ auch des Rokokostils bedient. Reuter meint, er leiste Beträchtliches für die Erhellung einer Reihe von „Oberflächenproblemen, Problemen der Form, des äußeren Stils“352. Auch Beißner betont, daß Wieland oft mit Anmut sich der „Requisiten und der Personagen und Staffagen dieses ihm gegenständlich gewordenen Lebens- und Dichtungsstils nur bedient(e), um daran seine witzige Ironie funkeln zu lassen“353. Wenn Wieland die ‘Grazie’ als sprachliches Ausdrucksmittel gebraucht, so malt er dennoch „nicht mit dem weichen Pinsel eines ... Rokoko-Künstlers, sondern gestochen und geätzt mit der scharfen Nadel eines umsichtig- kritischen Aufklärers“354. Wie verworren die neuere Forschungslage ist, belegen einige Beispiele. Beeken betont, man könne nur von einem Rokokostil sprechen, auf keinen Fall sei das Rokoko eine geistige Bewegung, denn diese Dichtung gestalte weder neue Inhalte, noch geistige Erlebnisse oder Programme355. Dagegen macht Soerensen nicht stil-, sondern geistesgeschichtliche Kriterien geltend. Ihm bedeutet „Musarion“ die „Krönung des deutschen Rokoko. Musarion als die Verkörperung eines Lebensideals, das Schönheit, Sinnlichkeit, Vernunft, Mäßigung und eine ästhetisch gefärbte Tugend in sich schließt, ist eine direkte Weiterführung der Synthese-Ideale des vorhergehenden deutschen Rokoko“356. Brugger kommt zu dem Ergebnis, daß der „Stil der graziösen Gebärde ziemlich genau das Schaffen.... von der Arbeit am Don Sylvio und den Komischen Erzählungen bis zur Veröffentlichung der Neuesten Gedichte 1777“ beherrsche. Er meint, im Grunde sei Wieland nach wie vor Journalist, Satiriker und Verfasser lehrhafter Märchen, der skeptische Aufklärer, er gleiche nur den Modus und Ort seiner witzigen Beweglichkeit ein wenig der Mode an. „Die große schöpferische Leistung Wielands liegt in seiner Rokokodichtung. Sie liegt im Stil... Dabei macht es keinen Unterschied, ob sich diese Gebärde in freier oder in gebundener Rede niederschlägt; Don Sylvio, die erste Fassung des Agathon, Der Nachlaß des Diogenes,

351 Vgl. B. A. Soerensen, Das deutsche Rokoko, S. 142f.; vgl. Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 163. 352 Hans Heinrich Reuter, Die Philologie der Grazien, S. 72. 353 WA 1, 929 (Nachwort des Herausgebers). 354 Hans Heinrich Reuter, Die Philologie der Grazien, S. 72. 355 Lüder Beeken, Desillusionierung. S. 12. 356 Bengt Algot Soerensen, Das deutsche Rokoko, S. 148; vgl. auch S. 130f. 64

Koxkox und Kikequetzel gehören nicht weniger zur Rokokodichtung wie die Versepen und - epyllien“357. Dagegen kommt Schindler-Hürlimann bei der Frage „Ist Wieland ein Rokokodichter?“ zu einer anderen Aussage. Sie rechnet die Biberacher Jahre als „eigentliche(n) Rokokozeit“ und will die „rokokohafte, kleine Form der Verserzählung oder des Gedichts“, wie z. B. die „Komischen Erzählungen“ und „Musarion“ als Rokokodichtung verstanden wissen. Damit ist für sie eher die Form als der Stil maßgebend bei der Zuordnung zum Rokoko. „In der kleinen Form kann die Nichtigkeit der Welt.... überspielt werden; als Dichter kleiner Gebilde gehört Wieland sicher dem Rokoko an“. Deshalb zählt Schindler- Hürlimann nicht, wie Brugger, den „Agathon“ zum Rokoko. „Wieland wird durch sein viel intensiveres Fragen nach dem Dasein des Menschen und durch seinen Skeptizimus... auf den Roman und aufs größere Versepos geführt. Darin geht er weiter als das übrige Rokoko“. Und da „Agathon“ in der ersten Fassung zudem noch Fragment blieb, meint Schindler-Hürlimann, darin gäbe „es keine ironisch kostümierte Inhaltslosigkeit mehr. Es ist die Wahrheit des Fragments’, die Wieland vom reinen Rokoko abhebt“358.

Auch die Wieland-Monographie von Sengle359 kann als ein Beitrag zur Rokokokunst im allgemeinen und zu Wieland im besonderen angesehen werden. Der Verfasser läßt „seinen Blick durch die Provinzen der deutschen Rokokodichtung schweifen, um die Meisterschaft des schwäbischen Dichters besser verstehen und auch in ihrer Eigenart deutlicher abheben zu können“360. Sengles Anmerkungen zur Graziendichtung und -philosophie und zum Verhältnis von Rokoko und Aufklärung sowie Rokoko und Empfindsamkeit haben zum besseren Verständnis des Rokokobegriffs beigetragen. Zwar weist Soerensen darauf hin, daß Wielands Rokokostil „viel aus der empfindsamen Dichtung gewonnen und beibehalten hat“361, aber Brückl hält es für abwegig, „den Stil Wielands in irgendwelche starren Kategorien hineinzwängen zu wollen“362.

Nachdem bei Merker-Stammler in der Auflage von 1927 der Rokokobegriff fehlt, hat Anger in der zweiten Auflage 1977 eine Grundlage zur Bestimmung des literarischen Rokoko gegeben, von der die neuere Forschung ausgeht und auch Wielands Graziendichtungen untersucht werden können. „Die Blütezeit der deutsche Rokoko-Dichtung beginnt um 1740

357 Peter Brugger: Graziöse Gebärde. Studien zum Rokokostil C. M. Wielands, Diss. München 1972, S. 153f. 358 Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S. 30. 359 Sengle, S. 223ff. 360 Anger, Rokoko-Dichtung, S. 467. 361 B. A. Soerensen, Das deutsche Rokoko, S. 147. 362 Otto Brückl, Wielands „Erzählungen“, S. 232. 65 und neigt sich 1780 ihrem Ende zu. Während dieser 40 Jahre erweist sich der Rokokostil für eine Vielzahl von Gattungen und eine Unzahl von Werken als integrierende Kraft; kein zeitgenössischer Dichter vermag sich ihm völlig zu entziehen. Niemals jedoch dominiert der Rokokostil; er teilt die Herrschaft mit anderen literarischen Strömungen, so vor allem mit der empfindsamen Dichtung und der Dichtung des Aufklärungsklassizismus. Beim literarischen Rokoko handelt es sich also nicht um eine Epoche, wir haben es vielmehr mit einer bestimmten und begrenzten Stilerscheinung innerhalb der umfassenden geistesgeschichtlichen Epoche der Aufklärung zu tun. Das bedeutet, daß das Rokoko als Zeitstil grundsätzlich an die sprachlichen, stilistischen und weltanschaulich-philosophischen Voraussetzungen der Aufklärungsepoche gebunden ist. Wie für die empfindsame so bleibt für die rokokohafte Dichtung des Aufklärungszeitalters die Vernunft oberste Richterin“363. Solange aber in der Forschung keine Einigung darüber besteht, was unter dem literarischen Rokoko zu verstehen ist, kann es dazu führen, daß Wielands Graziendichtungen in Verbindung mit einem übernommenen Rokokobegriff interpretiert und dabei negativ oder positiv gedeutet werden, ohne das Werk in seiner Eigenart zu sehen. „Die gegenseitigen Widersprüche der verschiedenen Forschungsbeiträge, die sich mit Wielands Zugehörigkeit zum Rokoko befassen, indizieren größte Vorsicht auf diesem Gebiet“364. Möglicherweise ist der von der Rokoko-Forschung gesteckte Rahmen auch für Wielands Graziendichtungen zu eng, und daß „dieser Stil nur ein Element unter wichtigen anderen ist und daß Wieland ihn.... (auch) gebrauchte(e)“365 und in seinen Dichtungen mehr oder weniger stark zum Ausdruck brachte.

Nach dem derzeitigen Stand der Rokoko-Forschung läßt sich in Verbindung mit Wieland formulieren, daß unter der Hand des großen Dichters Aufklärungsproblematik, Empfindsamkeit und Rokokostil zu einem unauflöslichen homogenen Ganzen verschmelzen, „wobei diese Elemente von Werk zu Werk, von Episode zu Episode und je nach der Thematik in einem immer wieder verschiedenen Mischungsverhältnis zueinander stehen“366.

363 Alfred Anger: Rokokodichtung, in: Merker-Stammler: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. Paul Merker, 2. Aufl., Berlin/New York 1977, Bd. 3, S. 481. 364 Cornelius Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, S. 163. Er macht darauf aufmerksam, daß sich die meisten Äußerungen mehr oder weniger mit Wielands Bezug zu der als Rokoko bezeichneten Stilrichtung befassen, ohne Wieland selbst näher ins Auge zu fassen; man würde in diesem Zusammenhang vergeblich nach „einläßlichen Stilanalysen“ suchen, S. 172. 365 Hans Mayer: Wielands „Oberon“, in: ders.: Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963, S. 47. 366 Schelle, S. 18. 66

1.4.7.3 Ästhetische Gestaltungsprinzipien und dichterische Ausdrucksmöglichkeiten

„Literatur ist für Wieland in erster Linie Sprachkunst; er will belehren, aber mit leichter Hand“ formuliert Schirmacher in einem Gedenkartikel367. In den fünfziger und sechziger Jahren, in der eine gewisse Rehabilitation Wielands stattfindet und er als wichtigster Vertreter des Rokoko wieder entdeckt wird, sind es die Stichworte „Grazie“, „Anmut“, „Reiz“, „Ironie“ und „Formkunst“, die das Wielandbild bestimmen. Für die ästhetischen poetologischen Gestaltungsprinzipien unternehmen es Preisendanz368, Oettinger369, Müller-Solger370 und McCarthy371, die theoretischen Anschauungen, die dem künstlerischen Schaffen Wielands zugrunde liegen, zu verdeutlichen, in ihnen den Einfluß von Philosophie, Poetik und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts nachzuweisen und davon ausgehend die besondere Struktur von Wielands Einbildungskraft nachzuzeichnen. Wieland legte großen Wert auf die äußere Form, auf sein Spiel mit Sprache und Inhalt und auf die ironisch-heitere Darstellung menschlicher Schwächen. „Wer Wielands Sprache liest, weiss, dass sie weder eitel und geschwätzig noch langatmig und ausufernd, sondern allein noch auch in den letzten Winkel einer Periode hinein differenziert und genau ist“. Es ist „diese Sprache“, die Wielands Werk „adelt“372.

Die in der mittleren Periode Wielands zur vollen Entfaltung gelangte Virtuosität des Formkünstlers hat er in den vorhergehenden Bildungsjahren entwickelt, doch verraten schon seine frühen Arbeiten in ihrer „formalen Vielfalt und Gekonntheit die elementare Formbegabung des Autors“373. Das stete Bemühen des Autors um die schöne Form offenbart sich jedem, der Wieland bei der Arbeit an einem Text gleichsam über die Schulter blickt. Sommer bemerkt, daß Wieland „seine Leser gern Einblick nehmen“ ließ in die Mühen bei der „Erschaffung formal korrekter Versdichtung“374, er kläre sein Publikum über die besonderen Schwierigkeiten des dichterischen Rohmaterials, d. h. über die poetischen Techniken auf.

367 Wolfgang Schirmacher: Märchen für Erwachsene. Christoph Martin Wieland zum 250. Geburtstag, in: Nordwest-Zeitung Nr. 205 vom 3. 9. 1983. 368 Wolfgang Preisendanz, Wieland und die Verserzählung, S. 17-31; ders., Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland, S. 72-95 und 196-203. 369 Oettinger. 370 Müller-Solger, Dichtertraum. 371 John A. McCarthy: Fantasy and Reality: An Epistemological Approach to Wieland, Bern/Frankfurt/ Main 1974. 372 Klaus Manger, Wieland-Renaissance, S. 69f. 373 Schelle, S. 19. 374 Cornelius Sommer: Europäische Tradition und individuelles Stilideal, in: Schelle, S. 344-378, S. 344; Sommer geht der Frage nach, worin Wieland die besonderen Schwierigkeiten der Versdichtung sah, die Schwierigkeiten, die für das lesende Publikum so schwer zu erkennen waren, S. 345. 67

Ebenso behutsam pflegt Wieland abzuwägen, was in Prosa, was in Versen gesagt werden soll375. „Die Grazien“, in denen Wieland Vers und Prosa abwechseln läßt und mit den Unterschieden spielt, bilden dafür ein aufschlußreiches Experiment. Der Wechsel vom Vers zur Prosa entspricht bei der von Wieland vollzogenen Ablösung des Epos durch den Roman „den Erfordernissen einer veränderten geistesgeschichtliche Situation“– und damit könnten „Die Grazien“ diesen Übergang verdeutlichen. Wieland entwickelt einen bemerkenswerten Instinkt dafür, was in Fragen der Gattungspoetik „der geschichtlichen Stunde entsprach“376.

Neben Müller377 haben Anger378 und Seiffert379 die Mannigfaltigkeit von Wielands Versepik zwischen den sechziger und achtziger Jahren untersucht, und dabei Kategorien der Gattung und des Stoffes (z. B. antike, mythologische, pastorale, ritterliche, orientalische oder märchenhafte) zugrunde gelegt. In Wielands Verserzählungen und –epen ist ein wichtiger stilistischer Faktor alles, was mit der metrischen Gestaltung zusammenhängt. Dazu bemerkt Monecke im Zusammenhang mit Wielands sprachlicher Meisterschaft, daß er den „Silbentanz“ brauchte, den anschmiegsamen, doch metrisch nicht ungebundenen Vers, dessen sanfte Widerstandskraft seinen Ausdruck straffte, um dem mimischen Vorgang rhythmische Intensität und damit gesteigertes physiognomisches Leben zu geben380. Sommer verweist auf die in der poetischen Praxis „interpretatorisch kaum auflösbare Einheit von Metrik, Reim und Syntax; aber gerade in dieser Einheit gründet sich die oft bewunderte und inzwischen zum Topos gewordenen „Anmut seines Sprachstils“ bei Wieland381.

375 Vgl. dazu die neuere Publikation von Burkhard Moenninghoff (Intertextualität im scherzhaften Epos des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1991, S. 63-86), der im Zusammenhang mit Wielands Biberacher Dichtungen auf „die in der deutschen Literaturgeschichte bis dahin nicht gekannte Leichtigkeit der Verssprache, das Kapriziöse der Erzählweise“ hinweist, S. 64. 376 Schelle, S. 20. Er erläutert, daß, wann immer der Dichter auf den Reichtum überlieferter Gattungen zurückgriff, die der Epoche noch selbstverständlicher Besitz waren und vielfach über die Renaissance in die Antike reichten, Wieland sich jeweils schöpferisch mit denen auseinandersetzte. Sollten diese aus früheren Epochen stammenden Formen nochmals überzeugen, so mußte der beweglich experimentierende Meister sie zerbrechen und etwas Neues aus ihnen erschaffen – wie er mit „Musarion“ eine gattungsmäßige Neuschöpfung vorlegte, auf die neben Elizabeth Boa („Musarion“ and the Rococo Verse Narrative), David William Head (Wieland’s Development to Fultilment in „Musarion“), Emil Staiger (Musarion,) u. a., namentlich Herbert Rowland („Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre) eingegangen sind. 377 Joachim Müller: Wielands Versepen, in: Jahrbuch des Wiener Goethevereins NF 69 (1965), S. 5-47. 378 Anger, Rokoko-Dichtung; ders.: „Reiz“ und Reizbegriff; ders., Literarisches Rokoko. 379 Hans Werner Seiffert, Der vorweimarerische Wieland. 380 Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 129. 381 Cornelius Sommer, Europäische Tradition und individuelles Stilideal, S. 355. 68

1.4.7.4 Wielands Erzählkunst – Sprache und Stil

Unter Berufung auf Goethe382 werden Wielands Verdienste um die Schaffung einer modernen Hochsprache hervorgehoben, doch gerade, wenn es um Sprache und Stil geht, bleibt die Forschung viele Antworten schuldig383. Einen ersten Schritt zur Darstellung der Wielandschen Prosa gehen Stenzel384 und Schrader385 mit ihren Studien zu Wielands Stil386, im engeren traditionellen Sinne verstanden. Nach Ruppel bringt Wielands Art zu dichten für die deutsche Sprache „größere Flexibilität und eine Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit, die stilbildende Funktion seiner Verse und Prosa hilft, die Klassik vorzubereiten387. Auch Brender betont, daß Wielands literarische Vorzüge die spielerische Laune, Urbanität, die geschmeidige Sprachkunst, Klarheit und sein scharfer Verstand seien, meint aber, daß diese Eigenschaften dem Wunsche des deutschen Publikums nach Tiefe nicht entgegenkamen388.

In den sechziger Jahren beginnt ein verstärktes Forschungsinteresse an Wielands Erzähltechnik. Wieder ist es Sommer389, der eine erste differenzierte Analyse der Erzählerrolle vorlegt, deren Schein-Dialog mit dem Leser seiner Ansicht nach der Erzeugung

382 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. H. H. Houben, 25. Aufl., Wiesbaden 1959, S. 109. 383 E. A. Blackall hat zwar im Rahmen seines aufschlußreichen Buches (Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775, Stuttgart 1966) den Blick auf Wielands Anteil an der Entwicklung des Deutschen zu einer Literatursprache gelenkt, aber von einigen Beiträgen zur Wortforschung abgesehen, wird Wieland von der neueren historischen Sprachwissenschaft weitgehend ignoriert. 384 Jürgen Stenzel: Zeichensetzung, Stiluntersuchungen in deutscher Prosadichtung, Göttingen 1966, 2. Aufl. Göttingen 1970. 385 Rebecca Elizabeth Schrader: A Method of Stylistic Analysis Exemplified on C. M. Wielands „Geschichte des Agathon“, Bern 1980. 386 An dieser Stelle sei auf den Literaturüberblick von Hanna Brigitte Schumann hingewiesen (Zur Literatur über Wielands Sprache und Stil, S. 7-31). Dieser geht auf allgemeine Aspekte von Wielands Sprache und Stil und auf seine Bedeutung für die sprachliche Entwicklung Deutschlands ein. Sie gibt einen kurzgefaßten Gesamtüberblick, indem die wesentlichen Arbeiten zusammenfassend betrachtet werden. Am Schluß plädiert Schumann für eine stärkere Beachtung der Gebiete „Grazie“ und „Ironie“; Vgl. in diesem Zusammenhang die Bibliographie von James W. Marchand: Wieland’s Style and Narratology, S. 1-32, der die Werke zu Wielands Stil ab 1964 kommentiert. 387 Ruppel, S. 15. 388 Irmela Brender, Christoph Martin Wieland in Selbstzeugnissen, S. 7; obwohl die Verfasserin diese Bemerkung auf die Generation der Stürmer und Dränger bezieht, muß angemerkt werden, daß Wieland zu dieser Zeit noch zu den meistgelesensten deutschen Autoren gehörte. 389 Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 179; er vertritt in bezug auf Wielands komplexe „Vielseitigkeit“ den Standpunkt, daß diese als seine „historische Leistung zu verstehen“ sei und sieht seine Eigenart in dieser Vielfalt; Sommer, S. 57. Preisendanz (Wieland und die Verserzählung des 18. Jahrhunderts) spricht vom „erzählerischen Perspektivismus“ und „ironischer Beweglichkeit“, S. 27. Vgl. dazu die Untersuchung von Lieselotte E. Kurth-Voigt (Perspectives and Points of View); sie setzt die Dialogform mit den Möglichkeiten mehrperspektivischer Betrachtungsweise, dem Wielandschen Gestaltungsprinzip der Polyperspektive, in Beziehung. Mit dieser Methode könne ein und derselbe Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet werden. 1971 spricht Sommer von der komplexen „Vielseitigkeit“ Wielands. 69 vielfacher Perspektiven und eines hohen Grades an ästhetischer Geschlossenheit und Autonomie diene. Schüsseler nennt es „die Schaffung einer geselligen Erzählatmosphäre“. Die Kommunikation zwischen Erzähler und Leser ermöglicht eine Indirektheit der Darstellung, eine „perspektivische Brechung“390. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Dittrich391 bezüglich der Funktion des Erzählers als Vermittler. Er halte zwischen Identifikation und Distanz die Waage, damit die Funktionalität des Textes bewußt werde, und so das Stilideal der Grazie verwirkliche, auf das im folgenden Kapitel eingegangen wird. Auch Schelle verweist darauf, daß die Literaturwissenschaft seit einigen Jahrzehnten das besondere Augenmerk auf Wielands Erzählkunst richtet und damit erst den Blick für die Eigenart des Erzählens in Vers und Prosa geöffnet habe392. Wielands Vorliebe gilt den rhetorisch-didaktischen Formen Brief und Dialog. Barthel hebt in ihrer bahnbrechenden Studie das „immanent dialogische Stilprinzip“ hervor und weist auf die vielseitige und kunstvolle Handhabung des ‚Gesprächs‘ hin, dessen sich Wieland von den Jugendschriften bis zum Spätwerk als charakterisches Ausdrucksmittel bedient393. Auch Jacobs bringt die Gesprächsform als das zentrale Strukturelement des Wielandschen Erzählwerks in den Blick394 und erhebt die Laune, den Witz und die Ironie zu zentralen Analysekriterien. Die Fiktion des ‚Gesprächs‘, die der Erzähler mit seinen Figuren und Lesern führt395, ist nach Meuthen nicht dekoratives Beiwerk, dessen Zweck sich „in der didaktischen Aufbereitung eines schwer verdaulichen Inhalts erschöpft“, sondern eine wesentliche Funktion des Erzählprozesses, ohne die sein „Sinn“ unverständlich bleibt396. Schüsseler hat den scherzhaften Stil Wielands untersucht. „An Wielands Verserzählungen und an seinem Roman „Don Sylvio“ offenbart sich die wichtigste Leistung des Scherzhaften für die Epik: die Ermöglichung einer selbstreflektierten, perspektivisch gebrochenen, unterhaltsam-

390 Matti Schüsseler, Unbeschwert aufgeklärt, S. 156. 391 Wolfgang Dittrich: Erzähler und Leser in Wielands Versepik, Berlin 1974. 392 Schelle, Forschungsbeiträge, S. XXVI; neben der Shakespeare-Übersetzung seien es vor allem die Biberacher Dichtungen, die Wielands Ruhm auf dem Gebiet der Versepik und des Prosaromans begründet hätten; daneben sei der Epiker Wieland um 1770 ebenbürtig neben seine beiden älteren Zeitgenossen Klopstock und Lessing getreten, S. XXVI. 393 Marga Barthel, Das ‚Gespräch‘ bei Wieland, S. 18f; diese Arbeit hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Hier sei nochmals auf die Untersuchung Blackalls zur stilgeschichtlichen Entwicklung hingewiesen, besonders das Kapitel „Die Kultur von Witz und Empfindungen“, in: Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 293-322. 394 Jürgen Jacobs, Wielands Romane, S. 25-69, S. 25. 395 Vgl. dazu u. a. M. H. Würzner: Die Figur des Lesers in Wielands „Geschichte des Agathon“, in: Schelle, S. 399-406. Nach Meier bezieht der Erzähler sich in seinen Kommentaren und Stellungnahmen nicht auf eigentliche Probleme seines Gegenstandes, sondern auf die Selbstdarstellung seiner Gestalt „innerhalb der gesellschaftlichen Fiktion dieser Erzählvorgänge“; Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 140. 396 Erich Meuthen, Selbstüberredung, S. 39. 70 belehrenden Erzählweise“397. Ausgehend von der Grundannahme, daß literarische Stile bestimmte geistesgeschichtlich erklärbare Funktionen haben, untersucht Schüsseler die „Epoche“ der scherzhaften Literatur in Deutschland. Ansatzpunkt ist die Frage, welche Funktion das Scherzhafte in dem genannten Zeitrum hat, wie es formal beschrieben und anderen Stilen gegenüber abgegrenzt werden kann. Im Mittelpunkt steht der „unbeschwert- plauderhafte, oft von Witz und Frivolität geprägte Stil“398, den man um die Mitte des 18. Jahrhunderts in zahllosen Texten der deutschen Literatur antrifft. Nach Schüsseler erfährt der scherzhafte Stil durch Wielands Dichtungen seit den frühen sechziger Jahren seine vollkommenste Ausprägung. Alle „konkurrierenden Geisteshaltungen ordnen sich in Wielands Verserzählungen der scherzhaften unter“, die scherzhafte Erzählweise werde bei diesem Dichter selbst zum Gegenstand des Erzählens. Es gehe ihm um die Vermittlung ästhetischen ‚Reizes‘, um den zweckfreien Genuß vergnüglichen Erzählens. Wielands scherzhafte Erzählungen diskreditieren nicht das Ernsthafte, wohl aber führen sie eine poetische Alternative „zu Belehrung und Erbauung“399 vor.

Es fehlt nicht an Hinweisen auf Wielands an Sterne und Fielding geschulter Erzählhaltung in den Versepen und Romanen400. Darin wird auf die verborgene Ernsthaftigkeit hingewiesen, die mit dem vorherrschenden Urteil von der frivolen Rokokohaftigkeit dieses Autors nur schwer in Übereinstimmung zu bringen ist401. Weitere Forschungsansätze gehen auf Einzelaspekte ein: auf das „spöttische Erzählen“402, Wielands Erzähltechniken, speziell im

397 Matti Schüsseler, Unbeschwert aufgeklärt, S. 164. Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Zeitraum zwischen 1740 und 1780. Der Verfasser versucht einmal, durch Analyse und begriffliche Abgrenzung den Status des Scherzens als ästhetische Kategorie theoretisch zu bestimmen, zum anderen werden Strukturen und Funktionen des scherzhaften Stils an literarischen und außerliterarischen Texten verschiedener Gattungen vorgeführt und interpretiert. 398 Matti Schüsseler, Unbeschwert aufgeklärt, S. 1f. Wichtige Autoren sind für den Verfasser neben den Anakreontikern u. a. Gellert, Batteux, Shaftesbury, Meier, Knigge und Wieland – diese Auswahl müßte einer kritischen Prüfung unterzogen werden, was im Rahmen dieses Forschungsberichtes nicht leistbar ist. 399 Matti Schüsseler, Unbeschwert aufgeklärt, S. 155f. Auf Wielands Wirkungsästhetik, die in den Verserzählungen unter dem Mantel des Scherzes verborgen sind, geht Schüsseler nicht ein. Etwas überzogen scheint auch die Schlußfolgerung, dem scherzhaften Stil komme „im wissenschaftsgläubigen 18. Jahrhundert die herausragende Bedeutung zu, die Eigengesetzlichkeit von Literatur sowie ihren Eigenwert und ihre Notwendigkeit gegenüber den erstarkenden Naturwissenschaften bewußt zu machen“, S. 161 400 Vgl. dazu u. a. - Friedrich Beißner, Poesie des Stils, S. 5-34 - Wolfgang Preisendanz, Wieland und die Verserzählung des 18. Jahrhunderts, S. 17-31. - Jan-Dirk Müller, Wielands späte Romane. - Steven R. Miller, Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen. 401John A. McCarthy, Wielands Metamorphose, S. 149-167. 402 Vgl. zum spöttischen Erzählen in „Musarion“ u. a. Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts von Gottsched bis Goethe, hg. und kommentiert von Heide Hollmer, München 1988, S. 243-248. 71

„Don Sylvio“403, verdeutlichen rhetorische Strukturen der Erzählform am Beispiel der Stilfigur ‚digresso‘404 oder gehen auf Wielands Erzählstruktur ein405. Neuere Forschungen zu Wielands Erzählkunst haben auch Gemeinsamkeiten zu aufgedeckt, die bisher kaum erforscht sind. Fiene nennt es das „humoristische Spiel des Erzählens“406, das die beiden Schriftsteller verbindet; für Schelle ist es der „Prosastil im engeren Sinne, die von ihnen geübte Kunst der Periode“407, die sie verbindet, die ihre erzählende und essayistische Prosa kennzeichne. Drude geht dem formalen Prinzip des „Geist(es) der Erzählung“ nach, den Wielands bereits 1755 in „Theages“ bemühte, um den Leser um etwas Geduld zu bitten und den Thomas Mann in mehreren Werken aufgreift408. Für den Verfasser bleibt es eine kaum zu lösende Frage, ob die frühe Erwähnung im „Zauberberg“ eine mögliche „Reminiszenz“ an Wielands „Theages“ gewesen sei und ob „eine Verbindung zu Wieland überhaupt in Erwägung gezogen werden darf“. Drude versucht, nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Bezüge zwischen den Werken Wielands und Manns herzustellen, u. a. zwischen dem „Zauberberg“ und „Musarion“409.

403 Toshiomi Baba: Christoph Martin Wielands Erzähltechnik in seinem Roman Don Sylvio von Rosalva, 3 Teile, in: Tokushima Daigaku Kyoyobu kiyo 14 (1979), S. 1-27; 15 (1980), S. 223-242; 16 (1981), S. 147-173; japan.; jeweils mit deutschen Zusammenfassungen. 404 Michael von Poser: Der abschweifende Erzähler. Rhetorische Tradition und deutscher Roman im 18. Jahrhundert, Bern/Zürich 1969. 405 Vgl. dazu u. a. die finnische Dissertation von Liisa Saariluomo: Die Erzählstruktur des frühen deutschen Bildungsromans. Wieland’s „Geschichte des Agathon“, Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Helsinki 1985; kritische Anmerkungen dazu in den Rezensionen von Werner Frick in: Germanistik 32 (1991), H. 2, S. 479; Lieselotte E. Kurth-Voigt in: Lessing Yearbook 20 (1988), S. 359f. 406 Otto Fiene: Das humoristisch-ironische Spiel des Erzählens bei Wieland und Thomas Mann. Studien zur fiktiven Erzähler-Leser-Beziehung, Diss. Basel 1967, Aachen 1974. Fiene untersucht Thomas Manns „Erwählten“ und Wielands „Agathon“ und die „Abderiten“. 407 Hansjörg Schelle: Neue Quellen: Ein Brief Thomas Manns, in: Schelle, Forschungsbeiträge, S. 628-632, S. 623. Er will damit nicht behaupten, daß der Prosaiker Mann von dem Stilisten Wieland gelernt habe, denn dieser stehe noch in der bis Nietzsche reichenden Überlieferung der klassischen Rhetorik 408 Otto Drude: Thomas Mann und C. M. Wieland, in: Wieland-Studien 2 (1994), S. 156-193, S. 172: Drude weist den „Geist der Erzählung“ u. a. im „Zauberberg“, in „Der Erwählte“ und in „Joseph in Ägypten“ nach. 409 Otto Drude, Thomas Mann und C. M. Wieland, S. 187. Nach Drude handelt es sich in „Musarion“ – und hier zitiert er Emil Staiger – „um die Heilung eines dem schicklichen Dasein entfremdeten Menschen“ (Staiger: Musarion, S. 94); das sei auch die Geschichte des „Sorgenkind(es) des Lebens“ Hans Castorp, Drude, S. 172. Andere Parallelen sieht Drude in den Streitgesprächen in „Musarion“ zwischen dem Pythagoreer Theophron und dem Stoiker Cleanth einerseits und im „Zauberberg“ in den Disputen zwischen Leo Naphta und Herrn Settembrini. Auch Musarions Verhältnis zu Phanias ist für Drude eine Spiegelung der Geschehnisse in der Walpurgisnacht zwischen Madame Chauchat und Hans Castorp, S. 172. Diese inhaltlichen Parallelen machen eher den Eindruck eines künstlichen Konstrukts – überzeugen können sie anhand der Belege nicht. Vgl. weitere Untersuchungen zu Parallelen zwischen Wieland und Autoren des 20. Jahrhunderts: Wolfgang Albrecht: Angenähert, anempfohlen, angewandelt. Wieland in Arno Schmidts Frühwerk (bis „Schwarze Spiegel“), in: Wieland-Studien 2 (1994), S. 194-220; vgl. dazu auch den bereits erwähnten Essay von Arno Schmidt: Wieland oder die Prosaformen, in: ders.: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bde., Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze, Bd. 1, Zürich 1988, S. 121-149. 72

1.4.7.5 Wieland und der fiktive Leser (Leserrollen, Leserfiguren)

„Wieland ist der erste deutsche Romancier, der einen fiktiven (...) Erzähler in den Roman einführt“410. Der Leser wird zum Teilhaber zweier Sphären: der des fiktiven Geschehens und der tatsächlich faktischen Erzählvorgänge. Das sei typisch für Wielands Erzähler, der nie nur aus einer Perspektive, wie bereits Kurth-Voigt u. a. untersucht haben, und nicht allein eine Geschichte linear erzählen lasse, sondern immer auch das Erzählen selbst zum Gegenstand des Berichtes mache, oder man einen Tatbestand gleichzeitig auf verschiedenen, mindestens aber auf zwei Ebenen erfahre411. Kausch bemerkt in bezug auf den fiktiven Leser über das Besondere an der Wirkung von Wielands Sprache und Stil, die Sprache sei alles, in der Wirkung, nicht im Gegenstand liege der Gehalt verborgen, er liege außerhalb des Textes im lebendigen Menschen. „Der Leser wird zur Wendigkeit des Geistes und zur Beweglichkeit der Empfindungen gezwungen.. Die Anspielung ist ein Zeichen, ein Fingerzeig. Der Leser muß diesen ... bemerken und ihm... mit den Augen folgen; er weist nämlich auf etwas, das nicht im Text steht, das es außerhalb dieses Textes gibt, das aber nun dank der Aufmerksamkeit des Lesers mit hinein geholt wird ins Ganze des künstlerischen Vorgangs“412. Wieland geht es also nicht um eine Werkästhetik, sondern um eine Wirkungsästhetik413.

Einen Schwerpunkt in der Forschung in bezug auf den fiktiven Leser bildet neben den „Comischen Erzählungen“414 und dem „Agathon“ auch „Don Sylvio von Rosalva“415. Anhand zahlreicher Textbelege in diesem Werk versucht Seiler herauszufinden, wie der Erzähler das Vertrauen des ‚Lesers‘ erwerben kann und wie sich Erzähler und Leser zueinander

410 Christiane Seiler: Die Rolle des Lesers in Wielands „Don Sylvio von Rosalva“ und „Agathon“, in: Lessing Yearbook 9 (1977), S. 152; vgl. auch Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler, München 1968; er kommt zu dem gleichen Schluß, läßt aber dabei die Tatsache außer acht, daß es sich bei Wieland nicht um einen „persönlichen“ Erzähler handelt, S. 88. 411 Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 130. 412 Klaus-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 22f. Vgl. dazu auch Klaus Manger, der darauf aufmerksam macht, daß im „Aristipp“ der schon in Wielands Frühwerk sichtbare Praxisbezug wieder durchdringt. „Als Empfänger aller Briefe bleibt ihr Leser der einzig wirklich Handelnde, da Wielands Lebendigkeitsästhetik transitorisch auf die Leserbeteiligung zielt“; Klaus Manger: Wieland, in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke in deutscher Sprache in 14 Bde., hg. Walther Killy, Bd. 12, München 1992, S. 297-304, 309-315, S. 314. 413 John A. McCarthy: Klassisch lesen, S. 421f. 414 Wilson untersucht die im Werk mit geschaffenen fiktiven Leser, „eine in diesen Erzählungen auffällige Konstellation“; Daniel W. Wilson: Die Fächer vors Gesicht!“ Leser und Erotik in Wielands „Comischen Erzählungen“, in: Lessing Yearbook 11 (1979), S. 199-226, S. 199. 415 Vgl. Matthias Bickenbach: „Leserpoetologie“. Zu C. M. Wielands „Don Sylvio von Rosalva“. Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des MA, Köln 1991 (masch.schriftl.); vgl. auch Edgar Bracht: Der Leser im Roman des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1987, der den Leser im komischen Roman anhand von Wielands „Don Sylvio“ untersucht, S. 43-70. 73 verhalten416. Wilson vermutet, daß Wieland von der gesellschaftlichen Realität der „Lesertypen“ abstrahiert, die als „Fiktion seinen künstlerischen und pädagogischen Zwecken entsprechen“417. Für Oettinger ist von Interesse, daß Wieland bereits in seinen Jugendwerken eine enge, übereinstimmungssuchende Beziehung zu seinen Lesern pflegte. Diese mußten kritisch und wandlungsfähig sein, um den witziggelehrten Anspielungen und Bezügen auf die Antike folgen zu können – eine mögliche Schwierigkeit, warum heutige Leser Wielandscher Werke aufgrund fehlender humanistischer Bildung seinen Gedanken nicht mehr folgen können- . „...er war ein im Romangeschehen immanenter Leser“418. Ob Schüsseler diesen Leser meint, wenn er von einer Art sekundärer „Verständigung“ des Erzählers mit den „handelnden Personen“ spricht, bleibt unklar, denn er fährt fort, die Leser(innen) werden persönlich angesprochen, auch mal „ermahnt oder nach ihrer Ansicht gefragt“419.

In der Forschung ist in bezug auf die Eigenart von Wielands Erzählkunst in Vers und Prosa, Leserfiguren und Leserrollen besonders die mittlere Schaffensperiode in den Mittelpunkt gerückt420. Die von Wieland geschaffenen Erzählerfiguren sind notwendige Bauelemente. Das gilt auch für die Gestaltung der Leserfiguren, wobei weder der fiktive Erzähler, noch der fiktive Leser mit dem Autor oder dessen tatsächlicher Leserschaft gleichgesetzt werden dürfen. Neben Schindler-Hürlimann421 ist es Würzner, der über die Figur des Lesers auf Wielands Wirkungsästhetik aufmerksam macht422. Auf diesem Gebiet sind ihm Dittrich423, Rogan424 und Seiler425 gefolgt. Wilson postuliert, daß man bei Wieland nicht zwischen Struktur und Inhalt unterscheiden könne, denn die „Struktur“, d. h. die Entwicklung und

416 Christiane Seiler, Die Rolle des Lesers, S. 152-165. 417 W. Daniel Wilson: „Die Fächer vors Gesicht!“, S. 199; Wilsons Ergebnisse unterstützen die Vermutung, daß das komplizierte Spiel mit fiktiven Lesern ein bezeichnendes Formenmerkmal des Rokoko ist; S. 221. 418 Oettinger, S. 117. 419 Matti Schüsseler, Unbeschwert aufgeklärt, S. 156. 420 Vgl. dazu die Untersuchungen von Wolfgang Kayser (Entstehung und Krise des modernen Romans, Stuttgart 1955), Jürgen Jacobs (Der Roman der schönen Gesellschaft. Untersuchungen zu Wielands Erzählkunst, Diss. Köln 1965), Fritz Martini (C. M. Wieland. Zu seiner Stellung in der deutschen Dichtungsgeschichte im 18. Jahrhundert, in: Der Deutschunterricht 8 (1956), H. 5, S. 87-112), Norbert Miller (Der empfindsame Erzähler, München 1968) und Steven R. Miller (Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970); er weist in seiner Studie auf Wielands belehrende Absicht hin, verbunden mit dem Bestreben, seine Leser zu unterhalten, S. 82. Alle diese Autoren vermitteln die Einsicht, daß die von Wieland geschaffenen Erzählerfiguren ein notwendiges Bauelement der jeweiligen Werke sind. 421 Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild; sie betont im Hinblick auf den „Agathon“, daß es Wieland in seinem Wunsch, das Publikum zu bilden, besonders um den Appell an einen großen Leserkreis zu tun war, also um eine generelle Wirkung auf das lesende Publikum überhaupt, S. 50. 422 M. H. Würzner, Die Figur des Lesers, S. 399-406. 423 Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser; vgl. dazu die Kritik von W. Daniel Wilson, „Die Fächer vors Gesicht!“, S.199-226, Anm. 38. 424 Richard R. Rogan: The reader in the novels of C. M. Wieland, Las Vegas 1981. 425 Christiane Seiler, Die Rolle des Lesers, S. 152-165. 74

Erziehung des Lesers, „wird zum verborgenen Hauptinhalt der Erzählung“426 . Für die aktive Leserrolle wird geltend gemacht427, daß Wieland lange vor Schlegel und detaillierter als Goethe und Schiller wichtige Überlegungen über die vorhandenen und erwünschten Lesehaltungen sowie über deren Zusammenhang mit der Erzeugung klassischer Werke angestellt hat, die ihn als keinen nachahmenden „Klassizisten“428 erscheinen lassen. McCarthy erinnert in diesem Zusammenhang an die Abhandlungen Wielands im Teutschen Merkur, die das geeignete Lese- bzw. Rezeptionsverhalten thematisieren. Für Wieland rücke „die produktive Rezeption des Empfängers in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen“429

1.4.7.6 Wielands Stilideale: Die Kunst der Grazie - Poesie des Stils

Wie bereits erwähnt, ist die Wieland-Forschung bis in die Mitte der siebziger Jahre auf formale und stilistische Fragestellungen fixiert. Blackall formuliert, in Wieland sei „die Neigung zu einem übermäßigen Gebrauch der Vernunft oder zu einem übermäßigen Schwelgen in Gefühlen durch die Zusammenfassung der Kultur des Witzes und Gefühls in dem allen beherrschenden „Ideal der Grazie“ auf gekonnte Weise gebändigt430. Auch Sommer geht auf Wielands individuelles Stilideal ein und betont, daß er es als erster deutscher Dichter entwickelte431. Albrecht verweist in diesem Zusammenhang auf die Schulung an Horaz und meint, Wielands Stilideal gründe sich von Anfang an auf seinem Verhältnis von Humor, Ironie und Satire – und war an Horaz geschult432. Im Mittelpunkt von Wielands Formkunst stehen Schlüsselbegriffe wie Laune433, Reiz434, Witz435, aber vor allem Grazie, die Gegenstand der Forschung sind. Darin sind weltanschauliche und stilistische Faktoren zu einer Einheit verschmolzen. Vom Grazienbegriff ausgehend versucht Kausch436 eine Gesamtdeutung Wielands, während Hinderer Rezeption und Weiterentwicklung des

426 W. Daniel Wilson, „Die Fächer vors Gesicht!“ S. 222. 427 Vgl. John A. McCarthy, Klassisch lesen. S. 418; vgl. dazu die Replik von Dieter Borchmeyer, Wie aufgeklärt ist die Weimarer Klassik?, S. 433ff. 428 Paradoxerweise charakterisiert Manger Wieland noch als Klassizisten, obwohl er sonst bemüht ist, aufgrund der Interpretation vom „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ Wieland in das Lager der Klassiker hinüber zu retten; Klaus Manger: Wielands klassizistische Poetik als die Kunst des Mischens, S. 327-353. 429 John A. McCarthy, Klassisch lesen, S. 419 .430 Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 414. 431 Vgl. Cornelius Sommer: Europäische Tradition, S. 355. 432 Wolfgang Albrecht, Die milde Humanität des Priesters der Musen, S. 228-240. 433 Vgl. u. a. Kurt Wölfel: Laune. Studien zur deutschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Diss. Würzburg 1962 (unveröffentlicht). 434 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff. 435 vgl. u. a. Otto F. Best: Der Witz als Erkenntniskraft und Formprinzip, Darmstadt 1989, (EdF 264), S. 52ff. 436 Klaus-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 12-42. 75

Wielandschen Grazienbegriffs bei Schiller verfolgt437. Nach Manger entfaltet „Wielands Kunst des Mischens“ die „Grazie der Neuheit“438; dabei werde allzu oft übersehen, daß diese vorromantische Kunst sich zugleich als „antiromantische Poetik“ entpuppte439.

Wo über Wieland geforscht wird, werden auch die ästhetischen Mittel erwähnt, die er beherrschte440. Beißner und Sommer haben sich darum verdient gemacht, den Zugang zu Eigenart und Meisterschaft von Wielands Versdichtung zu erschließen und dabei ein neues Licht auf den Schlüsselbegriff der „Poesie des Stils“ geworfen441. Sie verweisen auf die Mehrdeutigkeit dieser Formel, mit der der Dichter den besonderen Zauber seiner Verskunst umschrieben hat, und er vielleicht einen Hinweis geben wollte, daß man zum Verständnis seiner Dichtungen, zumal seiner Versdichtungen, auf die virtuose Gestaltung des jeweiligen Stoffes oder Gegenstandes zu achten habe, statt philosophische Aufschlüsse von ihnen zu fordern. Es sei darauf verwiesen, daß die Poesie des Stils nicht vom Inhaltlichen und Wielands Wirkungsästhetik zu trennen ist, sie meint immer zugleich den Umgang mit dem Material, ist inhaltsbezogen, so daß die Form entweder die Wirkung des Inhalts verstärkt oder erst angemessen repräsentiert. Die „Poesie des Stils“ zielt vor der Folie des klassischen rhetorischen Wirkungsschemas auf das delectare. „Der schöne Zierrat ist nicht funktionslos, denn nach rhetorischer Auffassung sind Tropen und Figuren stets wirkungsbezogen“ – wie er u. a. für „Musarion“ belegt442. Man müßte wohl noch weitere, einander wechselseitig sich beleuchtende dichterische Begriffe untersuchen, wie z. B. das Spielerische, um die unverwechselbare Konstellation zu erkennen, zu der sie in Wielands Welt geordnet sind. Zwar hatte der Dichter diese Begriffe mit anderen Zeitgenossen gemein, aber der

437 Walter Hinderer: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 348-387. 438 Klaus Manger, Klassizismus und Aufklärung, S. 93ff.; vgl. dazu Tschapkes Hinweis im Zusammenhang mit der mittleren Stillage, daß Wieland eine krasse Mischung der Stile ablehnte; er suchte dabei stets die Mittellage, das leicht Ironische und das plauderhaft Causierende, ein Gleichgewicht also, Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 56. 439 Klaus Manger, Klassizismus und Aufklärung, S. 97. 440 Irmela Brender nennt dafür u. a. die Vielfalt der Perspektiven, das Durchbrechen der Illusion, die Ironie, Dialogkunst, die Einbeziehung des Lesers, die erlebte Rede und Reflexion über das Erzählen im Erzählen; Christoph Martin Wieland, S. 7. 441 Friedrich Beißner, Poesie des Stils, S. 5-34; Cornelius Sommer, Europäische Tradition und individuelles Stilideal, S. 344-378. Ergänzend hat Otto Brückl (Poesie des Stils bei C. M. Wieland. Herkunft und Bedeutung, in: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, hg. Adolf Haslinger, Salzburg/München 1966, S. 27-48) dafür Belegstellen ermittelt. 442 Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft, Kap. Die Poesie des Stils, S. 64-76, hier S. 73. Der Stil stelle sich nicht mehr nur als ein Forminstrument dar, sondern repräsentiere den Vollzug und das Ideal einer erwünschten Lebenshaltung; auch die heitre, sanfte Freude in Wesen, Form und Wirkungsabsicht von Musarion rühre daher. Wielands Stil zeichnet sich in diesem Falle durch zahlreiche erläuternde Digressionen aus und ist dadurch von der erhaben-affektiösen wie von der pedantischen Stilvariante deutlich zu unterscheiden, S. 61. 76 künstlerischen Begabung Wielands war es gegeben, die ihnen „innewohnende Bedeutung voll zur Entfaltung zu bringen443.

1.4.7.7 Die Figur der Ironie als ein Beispiel für Wielands Stilmittel

Ein wesentliches Gestaltungsprinzip bei Wieland ist die Figur der Ironie. Stilanalysen zur Ironie im modernen Sinne liegen in der Wielandforschung noch nicht oder nur in begrenzten Ansätzen vor444. Kausch weist auf den grundlegenden Charakter der Ironie bei Wieland hin, schränkt aber diese Auffassung dahingehend ein, daß diese Stilfigur „nur eine Teilerscheinung in einem großen Bedeutungszusammenhang“ sei445. Teesing hat als erster die Untersuchung des ironischen Elements bei Wieland gefordert446. Andere Wieland-Forscher erwähnen die Ironie nur beiläufig447. Bedeutsam sind dagegen die Ausführungen Sommers über den Begriff der Ironie im Zusammenhang mit dem Rokoko als Stilbegriff. Allerdings kommt auch diese Studie zu keiner präzisen Erfassung des Begriffs448. Eine über Weissenborn verdienstvolle Belegsammlung449 hinausgehende und das gesamte Oeuvre einbeziehende Darstellung der Ironie als einem Stilprinzip Wielands ist bis heute ein Desiderat. Dieser Begriff ist bis heute wissenschaftlich nicht befriedigend geklärt450.

443 Schelle, S. 14. 444 Vgl. Forschungsbericht von Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 111. Er hat die Figur der Ironie in „Idris und Zenide“ und „Der neue Amadis“ anhand „Die ironische Rolle des Kostüms“, „Ironischer Vers- und Reimgebrauch“, „Ironischer Wortgebrauch“ und „Die ironische Rolle des Erzählers“ untersucht, S. 133ff. 445 Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 23; er eröffnet mit den Begriffen der „Anspielung“ und des Leserbezugs wertvolle Perspektiven für eine weitere Untersuchung der Strukturbezüge Wielandscher Versepik. Leider fehlen diesen Ausführungen genaue systematische Abrundungen. Das führt auch zu Unschärfen bei der Erörterung des Ironiebegriffs. Die von Kausch genannten „weiteren Untersuchungen“ stehen bis heute aus. 446 H. P. H. Teesing, Ironie als dichterisches Spiel, S. 258-266. Der Wert der Arbeit liegt vornehmlich in dem selten zu nennenden Versuch, in einer dem Zugriff so leicht entschlüpfenden Materie wie der Ironie von konkreten Detailuntersuchungen aus die Aspekte dieser Stilform zu beleuchten. Meier kritisiert den Mangel an systematischer Geschlossenheit und begrifflicher Zuspitzung; Ernst-August Meier, Die Ironie in Wielands Verserzählungen, S. 34f. 447 Vgl. u. a. Fritz Martini: Wielands „Geschichte der Abderiten“, in: Schelle, S. 152-188; Vgl. auch Papior, der nur erwähnt, daß Wieland zum ersten Mal eine „hohe“ Ironie im deutschen Sprachraum entwickelte, die wesentliches Kennzeichen seiner Texte sei; Jan Papior: Die Ironie im Spätwerk Wielands, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1987, S. 77-90, S. 86. 448 Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen. Der Mangel von Sommers Ansatz liegt darin, daß der Begriff unkritisch vorausgesetzt wird und es zu keiner genaueren Erfassung oder Fundierung seines Sinns und seiner Funktion kommt. 449 Georg Kurz Weissenborn: Wielands Ironie, Diss. British Columbia 1970. 450 Zur Klärung des Wandels des Ironiebegriffs von der klassischen Bedeutung der rhetorischen Verstellung zur romantischen Auffassung der „Freiheit des Künstlers“, vgl. Ernst Behler: Klassische Ironie. Romantische Ironie. Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe, Darmstadt 1981, S. 11ff.; zu Wieland und die Ironie vgl. S. 43, 58. 77

Tschapke setzt sich mit den Grenzen des ironischen Sprachgebrauchs auseinander. Wieland versuche sich nicht an einer Systematik des Ironischen, sondern lasse Begriffe wie Humor oder Witz ineinander übergehen oder behelfe sich mit dem Ausdruck „Laune“. Interessant ist dabei der Hinweis, daß Wieland mit einer solchen Vorgehensweise, die Überschneidungen von ironischen, humoristischen und satirischen Darstellungsmitteln in Kauf nehme, in einer rhetorischen Tradition stehe, derzufolge man aus verschiedenen Gründen darauf verzichte, eine Theorie der Ironie zu entwerfen451.

1.4.8 Forschungen zu Wielands Natur- und Landschaftsmotivik

Natur- und Landschaftsschilderungen sowie Gartenmotivik spielen in der Literatur des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Es fällt aber auf, daß es dazu kaum neuere Untersuchungen gibt452. Wieland wird in der Forschungsliteratur zur Natur- und Landschaftsmotivik abqualifiziert oder nicht beachtet453. Perez bemerk, daß die „Befähigung zur Landschaftsschilderung oder zur Darstellung von Räumlichkeiten... bei ihm in viel geringerem Maße ausgebildet“ sei. Für die Verfasserin ist es daher konsequent, wenn Wieland sich solche Beschreibungen erspare: „Andernorts (wo der Erzähler auf Beschreibungen explizit verzichtet) macht er es sich nämlich noch leichter und überläßt es dem Leser, sich den Schauplatz vorzustellen“454. Perez fragt nicht nach der erzählerischen Funktion dieser „Bequemlichkeit“, sondern erklärt sie psychologisierend aus Wielands Fähigkeit oder Charakter: er ist eben unfähig oder „bequem“. Dabei wäre die Beobachtung, daß Wieland es sich offensichtlich manchmal „bequem“455 und manchmal „unbequem“ macht, Anlaß genug, zu einem differenzierteren Urteil zu gelangen.

451 Nach Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, Kap. „Die urbane Grazie des Ironischen“, S. 189-201, S. 189. 452 Für das 18. Jahrhundert. liegen in der Regel nur Untersuchungen vor, die sich mit einzelnen Dichtungen (z. B. von Brockes, Haller, Geßner u. a.) oder einer Epoche (z. B. Sturm und Drang) in bezug auf Natur- und Landschaftsbeschreibungen beschäftigen – oder die Literatur ist veraltet bzw. unbrauchbar; vgl. u. a. Friedrich Kammerer: Zur Geschichte des Landschaftsgefühls im frühen 18. Jahrhundert, Berlin 1909; Andreas Müller: Landschaftserlebnis und Landschaftsbild, Stuttgart 1955. 453 Wie Voß in seiner Dissertation anhand aktueller Forschungsergebnisse belegt; Jens Voß: „...das Bißchen Gärtnerey“. Untersuchungen zur Garten- und Naturmotivik bei Christoph Martin Wieland, Frankfurt/Main 1993, S. 13f. 454 Hertha Perez: Personengestaltung bei Christoph Martin Wieland, in: Etudes Germaniques 40 (1985), S. 161ff, S. 161; bei Wieland stehe vielmehr „der Mensch und nicht die Natur oder der Raum... im Zentrum des Interesses“, S. 161. 455 Hertha Perez, Personengestaltung, S. 163; sie bezieht sich hier auf das Landgut der Danae 78

Da theoretische Äußerungen Wielands in diesen Zusammenhang fehlen, sei auf eine Studie von Anger hingewiesen, die als eine wichtige neuere Vorarbeit angesehen werden kann456. Die erste grundlegende Untersuchung zur Garten- und Naturmotivik bei Wieland hat Voß vorgelegt. Darin erbringt er in einer kenntnisreich durchgeführten Analyse den Nachweis, daß Wieland zu unrecht im Ruf steht, dichterisch nicht an Garten und Natur interessiert gewesen zu sein457. Schwerpunkt sind die Untersuchungen zum „Garten des Menschlichen“458. Mit detaillierten Einzelinterpretationen zu Werken aus allen Schaffensperioden Wielands belegt Voß, daß der Dichter zwar die beschreibenden Elemente ein Leben lang kaum variiert, aus denen er seine literarischen Landschaften und Gärten komponiert, daß er aber dieses Material flexibel für seine erzählerischen Zwecke umfunktioniert. Die Gartenmotivik gehorche einer inneren Systematik, die sich bereits in Wielands Frühwerk abzeichnet, auf die er sein ganzes Leben zurückgreift459. Anhand von „Theages“ und dem „Don Sylvio“ weist Voß speziell die Verbundenheit von Gartenlandschaft und Kunstgarten nach. In „Theages“ werde deutlich, wie Wieland sich entschieden dem Garten der Kunst zuwende, dabei aber nicht alles Frühere hinter sich lasse, sondern es mit Konsequenz aufgreife und weiterführe460. In bezug auf Landschaft und Garten greife Wieland in „Theages“ auf bestimmte Momente der idyllischen Gartenlandschaft zurück, läßt aber zu recht Zweifel daran, daß die idyllischen Momente in die Tiefenstruktur des Kunstgartens, eines künstlich arrangierten Kontextes, eingebettet seien. Danach vollziehe Wieland erzählerisch präzise jene „Zangenbewegung“, die in seinem Werk von Anfang an mit der fundamentalen Unterscheidung von Gartenlandschaft und Kunstgarten implizit gegeben sei461. Mit Blick auf den Unterschied faßt Voß zusammen, daß Wieland mit „Theages“ seine früheren Schriften nicht revidiere oder gar negiere. Die Strukturen, die im Fragment erzählerisch aufgegriffen werden, „sind vielmehr bereits in den Wielandschen Jugendschriften mit der erläuterten Unterscheidung von idyllischer Gartenlandschaft und Gartenkunst manifestiert“462. Nach Voß konzentriert sich Wieland in „Theages“ allerdings erstmals auf das Problem, wie die Natur im Garten der Kultur zur Geltung gebracht werden

456 Alfred Anger: Landschaftsstil des Rokoko, in: Euphorion 51 (1957), 3. Folge, S. 151-191 457 Jens Voß, Gärtnerey, Klappentext. Das Desinteresse am motivischen Material in Wielands Werken beschränkt sich nicht nur auf die Natur- und Gartenmotivik, wie Voß bemängelt, sondern insgesamt auf literarische Motive in Wielands Werk; vgl. dazu die Arbeit von Joachim Rickes, Führerin und Geführter. 458 Jens Voß, Gärtnerey, S. 11. 459 Nach Jens Voß, Gärtnerey, S. 201. 460 Vgl. Jens Voß, Gärtnerey, S. 76. Hier sei auf seine Analysen mit weiterführenden Untersuchungen über die literaturwissenschaftliche Forschung zu Natur und Landschaft sowie auf den Zusammenhang von Literatur und Gartenkunst im 18. Jahrhundert hingewiesen, die sehr aufschlußreich sind. 461 Jens Voß, Gärtnerey, S. 81. Der Bezug auf die Natur sei, wie Voß richtig feststellt, nur im Medium der Kultur möglich; der Landschaftsgärtner Theages beschwöre ein Bild der Natur unter den Bedingungen der Kultur. Wieland ändere dabei sein motivisches Material kaum und gehe keine neuen Wege in der Naturdarstellung, S. 81. 79 kann. Die Akzentverschiebung schlägt sich u. a. darin nieder, daß zwei Gärten weitgehend gleichwertig nebeneinander bestehen können, ohne in Konflikte der Figuren eingebaut zu sein. Sie bestimme vielmehr die gesamte Anlage der Erzählung. Voß beschließt seinen Bericht mit weiterführenden Untersuchungen über die literaturwissenschaftliche Forschung zu Natur und Landschaft sowie Hinweise auf den Zusammenhang von Literatur und Gartenkunst im 18. Jahrhundert. Er würdigt damit Wielands spezifische Aneignung dieser Tradition.

„Die Sehnsucht nach der Natur, nicht der freien, unberührten, sondern der zum Nutzen und Ergötzen des Menschen kunstvoll gestalteten, zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein ganzes Leben und Werk“ betonen die Bearbeiter einer dokumentarischen Ausstellung, die 1986 in Biberach/Riß stattfand. Die „Gärten in Wielands Welt“463 und das Begleitmaterial „Marbacher Magazin“ unternehmen den Versuch, jene Gärten und Parkanlagen dem Besucher vor Augen zu führen, die in Wielands Leben eine bestimmende Rolle spielten und deren Reflexe in seinen Werken immer wieder spürbar sind.

1.4.9 Abschließende Bemerkungen

Überblickt man die Forschungen und Forschungsschwerpunkte nach dem Zweiten Weltkrieg, so bleibt festzuhalten, daß viele Themen von der Wielandforschung aufgearbeitet worden sind. Ein besonders produktiver Schwerpunkt dieser Forschungen liegt in den sechziger bis achtziger Jahren mit beachtenswerten und bis heute gültigen Ergebnissen. Trotz vieler Forschungsbeiträge deutscher, aber vor allem auch amerikanischer Germanisten und einer Vielzahl selbständiger und unselbständiger Beiträge Schelles ist es kaum gelungen, daß Wieland außerhalb der Literaturwissenschaft zur Kenntnis genommen wird. Daran haben auch die verschiedenen Symposien in Deutschland und USA sowie die Gedenkartikel in renommierten Zeitungen anläßlich des 250. Geburtstags Wielands 1983 wenig geändert. Selbst der Klassiker-Verlag konnte sich nur zu einer Auswahl aus Wielands Werken entschließen.

In den letzten zwanzig Jahren sind zwar eine Reihe von Dissertationen erschienen und die Forschungsartikel in der Wielandforschung werden in renommierten wissenschaftlichen

462 Jens Voß, Gärtnerey, S. 82. 80

Organen publiziert, dennoch sind kaum neue Erkenntnisse zutage gefördert worden, ist wenig Neues zu Wieland bekannt geworden. Die Forschungen konnten nicht erreichen, das Bild dieses klassischen Autors der deutschen Literatur mehr in das allgemeine öffentliche Interesse zu bringen. Das gelang auch der Arbeit des Wieland-Archivs in Biberach/Riß nicht mit der Herausgabe der „Wieland-Studien“, die hier besonders erwähnt seien..

Zum Schluß sei auf eine Studie hingewiesen, die Neues zu Wieland erforschte. Die Studie von Tschapke über Wielands Verhältnis zur Rhetorik war längst überfällig. Der Verfasser hat mit seiner präzisen Aufarbeitung und auf umfassender Materialgrundlage den Nachweis erbracht, daß der Einfluß der rhetorischen Theorie auf Wielands Schreibpraxis und die Form seiner Texte sich kaum überschätzen läßt. Er hat damit vor allem Wielands Wirkungsästhetik auf eine wissenschaftlich fundierte Grundlage gestellt.

Abschließend muß konstatiert werden, daß sich Wielands Hoffnung auf künftige Wirkung nicht erfüllt hat464. Er ist mehr oder weniger aus dem Bewußtsein des größeren Teils der lesenden Bevölkerung getilgt. Das haben die bisherigen Forschungen ergeben. Dies mag auch damit zusammenhängen, daß er nie Schulautor geworden ist, was bedauerlich ist. Das relative Desinteresse der Germanistik hat bis heute das Bild des „guten alten Wieland“ nicht abgelegt – und daran hat auch die Wielandforschung in den letzten 50 Jahren wenig geändert

463 „Gärten in Wielands Welt, bearb. Heinrich Brock/Hans Radspieler. Wieland-Ausstellung in Biberach/Riß, Marbach/Neckar 1986 (Marbacher Magazin 40), S. 1. 464 Gerhard Braunsperger, Aufklärung aus der Antike: Wielands Lukianrezeption, S. 245f. Braunsperger vermutet, daß dem heutigen Leser die Werke Wielands nicht ohne weiteres zugänglich seien, daß der Wissens- und Erwartungshorizont des Publikums des 18. Jahrhunderts bekanntermaßen ein anderer war als der des 20. Jahrhunderts. So nützen im Falle Wielands wohlgestalteter Neuausgaben oder bloße Nachdrucke seiner Werke relativ wenig, wenn sie nicht angemessen und auch für Nichtfachleute lesbar und überschaubare Kommentare besitzen. 81

2 Einleitung

Christoph Martin Wieland gehört zu den bedeutenden deutschsprachigen Autoren des 18. Jahrhunderts. Er war Romancier, Versepiker, Journalist, Kritiker und Übersetzer. Die Literatur verdankt ihm u. a. den ersten modernen Entwicklungsroman („Geschichte des Agathon“, 1766), das erste deutsche Drama in Blankversen („Lady Johanna Gray“, 1758), den ersten deutschen Operntext („Alceste“, 1773), mehrere Brief- und Dialogromane, von denen das Alterswerk „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, (1800/1802), heute wieder in verschiedenen kommentierten Auflagen vorliegt, aber vor allem Verserzählungen. Die Werke waren weit verbreitet und bestimmend für den literarische Geschmack des Zeitalters. Seine erste Übersetzung von 22 Shakespeare-Dramen in deutscher Sprache (1762-1766) wurde für die Zeitgenossen wegweisend1. Die von Wieland herausgegebenen Zeitschriften zwischen 1773 und 1810 erschlossen dem überwiegend bürgerlichen Lesepublikum die aufklärerische Welt. Er prägte aus seinem Weltbürgerverständnis heraus als erster den Begriff der „Weltlitteratur“ (um 1790)2. Zwischen 1794 und 1802 wurden Wielands „Sämmtliche Werke“, die Ausgabe „von der letzten Hand“ bei Göschen in Leipzig verlegt. Diese Werkausgabe in 42 Bänden erschien parallel in vier Formaten. Es ist das größte Monument, das je einem deutschen Schriftsteller zu Lebzeiten errichtet worden ist3. Dennoch wird bis heute ein überwiegend negatives Bild des „Musarion“-Autors, des Dichters der Grazienphilosophie vermittelt.

Wieland hat sich während seines dichterischen Schaffens immer wieder mit den Grazien beschäftigt. Nach ihnen wurde eine poetische Richtung dieser Zeit als „Graziendichtung“4 bezeichnet. Im Laufe seines Lebens wandelte sich jeodch seine ästhetische Auffassung. Lag der Schwerpunkt in der Jugenddichtung „Theages“ (1757) auf seelisch-sittlichen Werten, die die Göttinnen verkörperten, so entwickeln sie sich in der mittleren Phase zu Vertreterinnen der Sinnlichkeit, bevor sie sich in „Musarion“ (1768) und „Die Grazien“ (1770) für einen Ausgleich zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, für die Idee des Maßes und der Harmonie entscheiden: Wielands „Philosophie der Grazien“ entsteht. In der deutschen Literatur wird

1 Kaum bekannt ist auch, daß Wieland die das deutsche Feenmärchen auch in der deutschen Literatur beheimatete Sammlung „Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen“ (1786-1789) herausgab, worin Schikander die Quelle zu Mozarts „Zauberflöte“ (1791) fand. 2 Vgl. Hans-J. Weitz: „Weltliteratur“ zuerst bei Wieland, in: Arcadia 22 (1987), S. 206-208. 3 Vgl. Klaus Manger: Wieland, in: Literatur Lexikon, hg. Walther Killy, München 1992, Bd. 12, S. 312 4 Vgl. Merker-Stammler: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin 1958ff., Bd. 1, S. 604f. 82

Wielands besondere Bedeutung für die Entwicklung des Grazienmotivs betont5. Aus diesem Grund erscheint es lohnenswert, das Grazienbild in den Werken Wielands zu betrachten. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, anhand dreier Werke aus verschiedenen Schaffensperioden zu untersuchen, ob und in welcher Weise sich das Grazienbild bei Wieland im Laufe seines Lebens gewandelt hat. Wenn man die aktuellen Wieland-Forschung überblickt, war es bisher symptomatisch, daß man sich vor allem mit rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Fragen beschäftigte6; die konkrete Arbeit an den Texten trat in den Hintergrund, die rhetorischen Grundlagen seines Werkes blieben lange unbemerkt, ebenso das Rhetorische seiner Sprache. Diese Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, daß die Textanalyse in Verbindung mit Wielands Wirkungsintentionen in den Blickpunkt rückt.

Im 18. Jahrhundert wandte man sich mehr und mehr vom barocken, starren Schönheitsideal ab und ging zu leichteren, bewegteren Formen über. Man wurde empfänglich für die Schönheit in Bewegung, die Anmut. Dabei rückten auch die Gestalten der antiken Grazien ins Bewußtsein. Aus diesem Grunde wird zunächst das Wesen dieser Göttinnen in der Antike untersucht, um Anhaltspunkte für ihre Bedeutung im 18. Jahrhundert und bei Wieland zu gewinnen.

Waren die Chariten, wie sie in der Mythologie genannt wurden, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nicht viel mehr als Requisiten, so wurden diese Göttinnen die poetische Verkörperung des neuen Anmutsbegriffes. Da die Gedichte des Anakreon neben der griechischen Anthologie die Hauptquelle für den Grazienkult sind, wird dieser im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vor allem durch die Anakreontiker lebendig, weshalb man diese Richtung auch Grazienpoesie nennt. Es erscheint also gerechtfertigt, den Beitrag der deutschen Anakreontik zur Entwicklung des Grazienbildes aufzuzeigen. Da der Anmutsbegriff erst am Ende des 18. Jahrhunderts durch Schiller seine endgültige philosophische Begründung erhält, werden die Begriffe Reiz, Anmut und Grazie bis dahin unterschiedlich, zum Teil synonym, gebraucht. Der Schwerpunkt liegt einmal auf dem seelischen, zum Teil sittlichen Element, der seelischen Anmut, zum anderen auf der sinnlichen Erscheinung. Deshalb ist es angebracht, den Anmutsbegriff im 18. Jahrhundert zu

5 Auf die Arbeit von Pomezny wird ausdrücklich verwiesen. Diese wurde zwar schon 1900 geschrieben, hat aber durch keine neuere Publikation an grundsätzlicher Bedeutung verloren. 6 Vgl. Klaus Manger: Universitas Abderitica. Zu Wielands Romankomposition, in: Euphorion 77 (1983), S. 395f. 83 erläutern. Allerdings können in diesem Rahmen nur einige definitorische Abgrenzungen vorgenommen werden.

In drei großen Bereichen ist die Anmut7 im 18. Jahrhundert zur Entfaltung gekommen: in der Ethik, der Ästhetik und in der Rhetorik. Im System der Rhetorik begegnet uns die Anmut einerseits als virtus der Rede, andererseits als Charakter des Sprechenden8. Als virtus der Rede ist sie besonders dem genus medium verbunden, sie wird auch allgemein von der Rede gefordert. In der Ästhetik bezeichnet die Anmut den natürlichen Ausdruck im Gegensatz zum übertriebenen künstlichen. Die antike Rhetorik war allen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts geläufig. Literarische Bildung wurde an Gymnasien und Universitäten vermittelt. Wielands spezielle pietistische Bildung begann im Elternhaus und wurde im Internat Klosterbergen fortgesetzt, in dem das Rhetorische bewußt in das Erziehungskonzept integriert war9. Das betrifft sowohl die Grundlagen seiner humanistischen Bildung als auch die generelle Form der Ausbildung im schriftlichen und mündlichen Ausdruck. Als persönlicher Sekretär Bodmers übernahm Wieland die poetologischen Anschauungen der Schweizer10, die für ihren Geschmacksbegriff die Rhetorik direkt in Anspruch nahmen. Als Beweis für Wielands umfangreiche Kenntnisse antiker Rhetorik dient seine „Theorie und Geschichte der Red=Kunst und Dicht=Kunst (Anno 1757)“, die erst um 1914 entdeckt und publiziert wurde. Wieland definiert die Redekunst klassisch, d. h. im Zentrum steht die Wirkungsintention: „...durch seine Reden die Zuhörer zu überzeugen, sich ihrer Affecten zu bemeistern und sie zu dem Zweck zu lenken, den man sich vorgesetzt hat“ (§ 1 Red=Kunst)11. Bereits in dieser frühen rhetorischen Schrift vertritt er Thesen, die er erst später umsetzt. Damit ist schon das schwebende Gleichgewicht der graziösen „Musarion“ zwischen belehrender und unterhaltender Tendenz, zwischen docere und delectare, vorgezeichnet12.

7 Vgl. Karl-Heinz Göttert: Art. Anmut, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Tübingen 1992, Bd. 1, Sp. 610f. 8 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., 1973, §§ 1244f; vgl. H. Abeler: Art. Grazie, Anmut, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. Joachim Ritter, Bd. 3,, S. 866-871. 9 Zum ausgeprägten pietistischen Rhetorikunterricht vgl. Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratorie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 9 (1984), S. 22-43 10 Das Einwirken der zu dieser Zeit ungebrochenen rhetorischen Tradition auf die Poesie und Dichtungstheorie der Schweizer hat u.a. Uwe Möller (Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und Meier, München 1983) detailliert nachgewiesen. 11 AA III (4) Prosaische Jugendwerke, hg. Fritz Homeyer/Huoge Bieber, Berlin 1916, S. 303 12 Zu Wielands rhetorischer Bildung sowie seine pädagogisch-rhetorischen Schriften vgl. Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. Wieland und die Rhetorik, Stuttgart 1990, S. 7-28; vgl. auch Peter Philipp Riedl: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen 1997, S. 54ff. 84

Unter dem Einfluß von Shaftesburys „moral grace“ und in Anlehnung an das griechische Ideal der Kalokagathie bekommen der Anmutsbegriff und damit die Göttinnen der Anmut eine ethische Komponente. Vor allem Wieland versucht, körperliche und seelische Schönheit zu vereinigen und stellt die Grazien in den Dienst der ästhetischen Erziehung. Er will die vernünftige und sinnliche Natur des Menschen, Geist und Herz, vereinigen, damit keine Seite unterdrückt bzw. vernachlässigt wird. Bei dem Versuch, die Prinzipien des Schönen auf moralische Qualitäten zurückzuführen, wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Begriff „schöne Seele“ verwandt, obwohl auch dafür die geistigen Grundlagen und gestaltbildenden Elemente in der Antike liegen. Erst bei Wieland erlangt dieser Ausdruck weite Verbreitung. Er verbindet damit die Frage nach dem wirklichen Lebensgehalt dieses Idealbildes. „Indem Wieland den Existenzmaßstab an den Begriff der ‘schönen Seele’ in seinem Zeitalter legt, ... deckt (er) ... die Problematik auf, die hinter der ästhetischen Formel der Spätaufklärung sich verbirgt“13. Aus diesem Grunde werden die wesentlichen Aspekte zur „schönen Seele“ untersucht, um zu zeigen, welche Bedeutung sie bei Wieland hat.

Bei den Untersuchungen zur Entwicklung des Grazienbildes ist es notwendig, Kriterien zu entwickeln, die es ermöglichen, die drei in Frage kommenden Werke Wielands zu vergleichen. Damit kann der Nachweis geführt werden, ob und in welchem Umfang sich die Göttinnen der Anmut gewandelt haben. Dabei wird auf Kriterien der antiken Rhetorik zurückgegriffen. Obwohl es bei dieser Fragestellung vorrangig um inhaltliche Probleme geht, dürfen diese wirkungsästhetischen Aspekte nicht außer acht gelassen werden. In der Werkgestalt lassen sich bestimmte Haltungen und Absichten des Autors im Hinblick auf seinen Gegenstand erkennen. Es ist deshalb zu fragen, wie Wieland seine Inhalte zu gestalten versucht, wie es ihm gelingt, ihnen in bestimmten Phasen seiner Entwicklung eine angemessene Gestalt zu geben. Der formale Aspekt ist also nicht zufällig, sondern erweist sich bei den Wirkungsabsichten des Dichters in bestimmten Entwicklungsstadien als wesentlich. Deshalb ist es wichtig, die Studie auf die ästhetischen Gestaltungsmittel, d. h. auf formale und stilistische Aspekte, auszudehnen,14 um so einen Beitrag zur Rhetorik der Aufklärung leisten zu können.

13 H. Pohlmeier: Untersuchungen zum Begriff der „schönen Seele“ im 18. Jahrhundert und in der Goethezeit. Diss. Münster 1954, S. 75. 14 Auch Dilthey macht auf die Wichtigkeit des Formalen bei Wieland aufmerksam. Vgl. Wilhelm Dilthey: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. In: Gesammelte Schriften, Stuttgart 1969, Bd. III, S. 174f. 85

Wieland nahm im Zeitalter der Aufklärung viele in- und ausländische Impulse auf und verarbeitete sie in seinen Werken. Man darf nicht übersehen, daß diese verschiedenen Einflüsse ihn in den einzelnen Lebensabschnitten zu ganz eigenen Formen der Aussage und Mitteilung greifen ließen. Auch aus dieser Art der Einflüsse und Vorbilder sind eventuell Rückschlüsse auf die Entwicklung des Grazienbildes möglich. Die Verfasserin wird zu belegen versuchen daß sich im Schaffen Wielands bestimmte Phasen und Stadien geistiger Entwicklung erkennen lassen, die, unabhängig vom Reifegrad bestimmter Denkurteile, besondere Ausdrucksformen seines Denkens hervorgebracht haben. Die biographischen Hintergründe sollen daher die persönlichen und geistigen Bedingungen durchleuchten, d. h. die äußeren Einflüsse und innere Motivation klären, die den Dichter in den verschiedenen Stadien seines Lebens bestimmten. Der Rückgriff auf einige, durch die Biographie zu erschließende Lebensumstände erscheint deshalb geboten. Statt einer Zusammenfassung wird die griechische Hetäre bei Wieland in einem Exkurs skizziert, denn die Göttinnen der Anmut tragen in den ersten beiden Werken griechische Hetärennamen. Für Wieland war dieser Frauentyp unter bestimmten Aspekten ein weibliches Vorbild an Schönheit, Anmut und geistiger Bildung. Mit der Hetäre in der Antike verbinden sich in der Vorstellung Wielands Vernunft und Sinnlichkeit, Anmut und Bildung in idealer Weise15.

Wie bereits im Forschungsbericht erwähnt, wird Wieland von früheren Literaturgeschichten als Aufklärer bezeichnet. Forschungen nach dem Zweiten Weltkrieg nennen ihn den Wegbereiter der Klassik, den Vorläufer Goethes u. a. Daß solche Zuordnungen etikettenhaft und fragwürdig sind und der Begriff „Aufklärung“ in den letzten Jahrzehnten differenzierter betrachtet wird, daß er für eine bloße Periodisierung unbrauchbar geworden sei16, ist ebenfalls bereits erwähnt. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß Wieland seiner geistigen Grundhaltung und historischen Position nach ein Aufklärer ist. Im Rahmen dieser Arbeit ist es weniger bedeutsam, ob Wieland als Aufklärer, Vorklassiker, Klassiker oder Vorläufer der Romantik bezeichnet wird17 Von Belang ist, daß er in seinen Graziendichtungen Ziele der deutschen

15 Vgl. dazu den Exkurs am Schluß dieser Arbeit. 16 nach Joachim Müller: Wielands Versepen. In: Jahrbuch des Wiener Goethevereins 69 (1965), S. 5. 17 Die Schwierigkeit der Zuordnung Wielands zu einer bestimmten Epoche bzw. seine Einordnung überhaupt hängen nicht zuletzt mit dem vielschichtigen, ein halbes Jahrhundert umspannenden Oeuvre zusammen. In der neueren Literatur wird Wieland trotz verschiedener Argumentation nicht als Aufklärer, ja nicht einmal als Rokokodichter, sondern als Vorläufer der Romantik gesehen bzw. zu Beginn dieses Jahrhunderts seine Verwandtschaft mit der Romantik betont; vgl. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands. In: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen, hg. H. R. Jauß, 2. durchges. Aufl., München 1969; vgl. Emil Ermatinger: Das Romantische bei Wieland, in: Neue Jahrbücher für Philosophie und Pädagogik 1908 I, S. 209-227 und 264-288; außerdem Ludwig Hirzel: Wielands Beziehungen zu den Romantikern, Bonn 1904; vgl. Hermann Müller-Solger: 86

Aufklärung vertritt. Es ist die Ethik der Aufklärung mit ihrem Bekenntnis zu irdischem Glück, zum heiter-geselligen Leben. Das 18. Jahrhundert ist die Zeit des Auf- und Umbruchs. Der Dualismus von heiterer Lebensfreude und asketischer Weltabkehr, der sich durch das 17. Jahrhundert hindurch zieht, macht zu Beginn des 18. Jahrhunderts neuen Geistesströmungen Platz. Die Vernunft wird zur beherrschenden Form des Lebens. Ausgangsbasis zur Entfaltung der Persönlichkeit ist die Aufklärung. Vorbereitet durch den Philosophen Descartes, ergänzt durch die Engländer Locke und Hume und wesentlich bestimmt durch Leibniz und Thomasius, ist die Aufklärung in Deutschland die geistige Bewegung des 18. Jahrhunderts und eine der geistigen Quellen der modernen Zivilisation, dessen Grundcharakter vorwiegend rationalistisch bestimmt ist. Die menschliche Vernunft ist grundsätzlich befähigt, die Zusammenhänge der Wirklichkeit zu durchschauen und zu erklären. Diese Positionen sind als Herausforderung zur „immer wieder neuen Selbstverständigung über unser Menschsein unerläßlich“; zu ihnen zählen u. a. die Bemühungen von Christoph Martin Wieland18. Der Mensch als Träger der Vernunft rückt in den Mittelpunkt allen Geschehens. Daraus entspricht ein heiterer Optimismus, der auch einen neuen Lebensstil prägt und der grundverschieden vom Pessimismus des Barock ist. Gleichzeitig wird der Natur eine neue Stellung im menschlichen Dasein eingeräumt. Dabei konnte die Unterdrückung aller natürlichen menschlichen Triebe nicht länger gefordert werden. Der harmonische Mensch, der Körper und Seele im Gleichgewicht hält, ist das Ideal der neuen Sittlichkeit. Zu Beginn der Aufklärung herrschte noch die protestantische Ethik. Man ist von der Triebgebundenheit des Menschen und der Unfreiheit des Willens überzeugt. Die Möglichkeit zum Guten liegt für sie einzig in der Gewöhnung an rechtschaffenes Tun. Im Laufe der Zeit gehen u. a. Gottsched und die Popularphilosophen von der Annahme aus, daß der Mensch ursprünglich gut sei. Breitinger z. B. sagt, die Natur habe „anfänglich den Menschen zu dem Guten aufgelegt“19. Hauptbegriffe der Dichtung werden Vernunft, Tugend, Weisheit und Glück. Im Laufe der Zeit werden auch Zweifel an der Vollkommenheit menschlichen Tuns stärker, und während der Rationalismus weiter lebt, entstehen als geistige Strömungen der Pietismus und die Empfindsamkeit. Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, daß sie das Gefühl statt die Vernunft

Zu neueren Publikationen über C. M. Wieland. Ein Forschungsbericht. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur 209 (1972), S. 98-112; bes. S. 102. Vgl. Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik C. M. Wielands, München 1971. Neuere Beiträge betonen wieder seine Nähe zur Klassik; vgl. Walter Hinderer: Wielands Beiträge zur deutschen Klassik, in: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hg. Karl Otto Conradi, Stuttgart 1977, S. 44-64. 18 Klaus Schäfer: Christoph Martin Wieland, Stuttgart 1996, S. VII. 19 J. J. Breitinger: Kritische Dichtkunst, worinnen die poetische Malerei in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersucht und mit Beispielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird, Zürich 1740, S. 283f. 87 in den Mittelpunkt stellen; dennoch dürfen diese Strömungen nicht als Gegensätze zur Aufklärung, sondern als innere Erscheinungen gesehen werden.

Wieland nahm sowohl aus der Empfindsamkeit, dem Pietismus und Rationalismus vielfältige Anregungen auf und verarbeitet sie dichterisch. Gleichzeitig findet die Ästhetik als Wissenschaft, als Lehre von dem natürlichen Sinn für das Schöne, neben der Ethik und Religion ihren Platz. Die ästhetischen Theorien führen zu einer neuen Bewertung des sinnlichen Erkenntnisvermögens, des Gefühls, und zu einer neuen Anerkennung der Individualität. So erwächst um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Zusammenspiel von Empfindsamkeit, Aufklärung und Barocküberlieferung eine neue Lebens- und Kunstform. In dieser Zeit gewinnen die Göttinnen der Anmut, aber auch andere mythologische Gestalten, an Bedeutung. Der Mensch dieser Zeit ist aber nicht naiv. Er täuscht sich nicht über das wahre Glück der Welt, sondern versucht, dem Leben im Spiel und Genießen mit Hilfe der Philosophie die schönen Seiten abzugewinnen. Es ist keine ernste Wissenschaft, sondern die liebenswürdige, heitere Lehre vom behaglichen Lebensgenuß, die Grazienphilosophie.

Unter Wielands Graziendichtungen nehmen „Musarion“ und „Die Grazien“ eine besondere Stellung ein als Vertreter jener Dichtung, die für die Ausgestaltung der ästhetischen und ethischen Anschauungen der Zeit bedeutsam wird. Wieland, der zwischen schwärmerischer Empfindsamkeit und nüchternem Rationalismus schwankt, findet in der heiteren und harmonischen Philosophie der Grazien den Ausgleich der Extreme. „Epikur, Horaz, Cicero und immer wieder Sokrates und Shaftesbury sind die Schutzheiligen seiner neuen Philosophie“20. Alle diese geistigen Strömungen sind auf Wielands Graziendichtungen nicht ohne Einfluß geblieben, aber als seine bedeutendsten erscheinen, als er diese Philosophie noch einmal dichterisch umsetzt, gibt es erste Widerstände21, sind seine Graziendichtungen fast schon veraltet. Die Generation der Stürmer und Dränger kündigt sich an, bei denen nur das „Originalgenie“ und das Selbsthelfertum gelten. Hans Sachs, Shakespeare u. a. bekommen Vorbildcharakter. Zwar sind die Motive der Dichter des Göttinger Hains22 anderer Art, aber auch sie erheben sich gegen Wieland. Obwohl er als erster Deutscher Shakespeare übersetzt hat, kann er der neuen Dichtergeneration nicht folgen, die das Mittelmaß und das

20 Hildegund Berger: C. M. Wielands philosophische Romane mit besonderer Berücksichtigung des Aristipp. Diss. München 1944, S. 15. 21 Vgl. Hansjörg Schelle (Hg.): Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstag 1983, Tübingen 1984, S. XXVII 22 Hans-Jürgen Schrader: Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland, in: Euphorion 78.4 (1984), S. 325-367. 88 irdische Glück verachtet und nur Freiheit und Größe schätzt. Auch mit Kants philosophisch vorgetragenem kategorischen Imperativ und der reinen „Gesinnungsmoral“23 der Deutschen kann Wieland die Philosophie der Grazien nicht in Einklang bringen. Von diesen Schlägen haben sich seine Lebensphilosophie und der Ruhm des Dichters nicht erholt24. Obwohl die Polemik seitens dieser Dichter dem Ansehen Wielands, seiner Beliebtheit und dem Einfluß auf seine Zeitgenossen25 zunächst kaum Abbruch hat tun können, beginnt sich bald jenes negative Wielandbild abzuzeichnen, das die deutsche Germanistik seit ihren Anfängen begleitet hat26. Man zieht das „romantische Ahnen und Hoffen einer anmutigen Gegenwart vor. Man überliefert sich dem Weltschmerz und später dem Rausch des Willens zur Macht und hält sogar das Scheitern, die Katastrophe, das Nichts für würdiger als die schlichte Freude. Um so vernichtender trifft den Schöpfer des ‘Agathon’ und der ‘Musarion’ das Urteil der jüngeren Generation, als er sein Ideal nicht mehr als selbstverständliches Dogma voraussetzt, sondern andere Möglichkeiten kennt und mit Bewußtsein verwirft“27.

Mit dieser Arbeit soll ein Beitrag zum Verständnis des Aufklärers und Dichters der Grazien Wieland und zur Rhetorik der Aufklärung geleistet werden.

23 Emil Staiger: Wieland: Musarion. In: ders. Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955, S. 98. 24 Die literarischen Streitigkeiten und Fehden Wielands mit den Zeitgenossen sind von der Forschung bereits mehrfach aufgearbeitet und dokumentiert; abgesehen von Sengles, mit wenigen Ausnahmen ausführlicher Behandlung dieser Thematik, und den Darstellungen in der älteren Forschung (Gruber, Loebell u. a.) seien speziell folgende neuere Arbeiten zu nennen: Käthe Kluth: Wieland im Urteil der vorklassischen Zeit, Diss. Greifswald 1927; Richard Daunicht: Jakob Michael Reinhold Lenz und Wieland, Dresden 1942; Franz Oexle: Wielands Begegnungen mit dem Sturm und Drang, Diss. Freiburg 1950; Heinz Schubert: Schiller und Wieland, Diss. Tübingen 1958; Herbert Dinkel: Herder und Wieland, Diss. München 1959; Richard A. Frank: Lenz contra Wieland, Diss. Univ. Rice 1972. 25 Zu Wielands vielfältigem Einfluß auf seine Zeitgenossen vgl. u. a. Klaus Schäfer: Christoph Martin Wieland, Stuttgart 1996, S. 1ff. 26 Vgl. dazu den Forschungsbericht zu dieser Arbeit; vgl. auch Harry Ruppel: Wieland in der Kritik. Die Rezeptionsgeschichte eines klassischen Autors in Deutschland, Diss. Frankfurt/Main 1980, S. 55ff. Obwohl bis heute komplexe historische Untersuchungen über die Wieland-Rezeption fehlen, in denen die tradierten Klischees und verschiedenen Ursachen und Gründe aufgearbeitet worden wären, hat Ruppel einen ersten Versuch auf diesem Wege mit seiner Dissertation unternommen. Er hat die Geschichte der Vorurteile und Verdammungen in der Kritik vom 18. Jahrhundert bis in die Neuzeit referiert. Die Studie versucht anschaulich, den Gang der (Ver-)Urteilsgeschichte Wielands nachzuzeichnen und zu werten. Das Hauptgewicht liegt auf der Rezeption durch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung seit Beginn des 19. Jahrhunderts; die Arbeit darf als ein Beitrag zur historisch fundierten Beantwortung der Frage gewertet werden, warum Wieland für die deutsche Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert ein so unbequemer Autor war. 27 Staiger, Musarion, S. 98f. 89

3 Die Chariten in der Antike

3.1 Allgemeines

Lexikalisch werden die Chariten in der Antike wie folgt beschrieben: „Grazien oder Charitinnen, die Göttinnen der Anmuth. Sie versinnbildlichen die Anmuth des durch Sitte und Schönheitssinn geregelten, durch Schmuck und Freude gehobenen geselligen Beisammenseins...“28 oder „Chariten, drei Töchter des Zeus und der Eurynome. Ihre Namen sind Aglaia (Glanz), Euphrosyne (Frohsinn) und Thaleia (Blüte). Die C. treten im Gefolge der Aphrodite, des Hermes und des Apollon auf und bringen Göttern und Menschen Anmut, Schönheit und Festesfreude. Sie stehen den Horen und Nymphen nahe. Bei den Römern entsprachen den Chariten die Grazien ....“29. Betrachtet man die Allegorie dieser Göttinnen, die Schiller30 davon ableitet, so wird klar, daß diese Erklärungen nur Versuche sind, das Wesen und Wirken der Chariten zu erfassen und daß alle Erklärungsversuche oder philosophischen Deutungen nur Teilaspekte ansprechen und die ursprüngliche Bedeutung dabei unberücksichtigt bleibt.

Gegenstand der folgenden Ausführungen ist es, das vielschichtige Phänomen dieser Göttinnen aufzuzeigen. Eines jedoch haben die Chariten mit andern Göttern, Halbgöttern, Heroen usw. gemeinsam: ihr Bild hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. „Es war ihr Weg aus dem dunkeln Urgrund des Elementaren in das lichtere Reich der homerischen Götterwelt, aus dem unbewußten Waltender... Naturkräfte in den Machtbereich des vom Schicksal bedrohten, aber nach eigenem Willen handelnden Menschengeistes hinein“31 Wer sich über den Wandel, die Veränderungen des Charitenbildes informieren will, muß auf die ältesten und die jüngsten mythischen Sagen zurückgreifen, sie nebeneinander stellen und vergleichen. Nur so ist es möglich, zu erfahren, was diese Göttinnen waren und später bei Dichtern, Künstlern und

28 H. Vollmer: Wörterbuch der Mythologie aller Völker, neu bearb. von W. Binder, 3. Aufl., Leipzig 1978 (Nachdruck der Originalausgabe Stuttgart 1874), S. 221f. 29 Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1959, S. 89. 30 „Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmut zu verleihen und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet. Die Griechen unterschieden also die Anmut und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmut ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigentum der Göttin Gnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmut, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist“ (, Sämtliche Werke in 5 Bde., hg. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert, 5. durchges. Aufl., 1975, Bd. 5, S. 433). 90

Philosophen wurden; denn auch den Chariten übertrug man, wie z. B. den Horen, Ämter und Aufgaben und machte sie den Göttern und Sterblichen unentbehrlich32.

Bevor die Bedeutung der Chariten in der Antike erläutert wird, sind die Wortpaare Charis - Chariten und Grazie - Grazien zu klären. Das griechische Wortpaar Charis - Chariten ist im Deutschen geläufiger durch die lateinische Bezeichnung Grazie und Grazien33. Es muß aber bedacht werden, daß bei Übertragung in eine andere Sprache jede Bezeichnung einiges von ihrer ursprünglichen Bedeutung verliert. Das gilt besonders für Charis. Gebraucht man synonym Charis für Grazie und Chariten für Grazien, so könnte man bei Übertragung ins Deutsche „Anmut“ für Charis und Grazie, „Göttinnen der Anmut“ für Chariten und Grazien setzen. Zunächst wird auf die Chariten bzw. Grazien eingegangen, während der Bedeutung Charis - Grazie ein besonderer Abschnitt gewidmet ist. Die lateinische und die deutsche Übersetzung bleiben nur Annäherungen an die griechische Bedeutung und können nur Teilaspekte des Wesens der Chariten ansprechen. Der Sinngehalt kann also in anderen Sprachen nie ganz wiedergegeben werden, auch nicht durch Umschreibung. Selbst die Griechen erkannten die Schwierigkeit, das Wesen der Chariten genau zu formulieren34. Auch die antiken Schriftsteller hatten zunächst kein scharfes Bild von den Chariten. Dennoch ist sich die Literatur darüber einig, daß diese Göttinnen griechischen Ursprungs sind35. Sie waren bereits in Griechenland bekannt, als die Olympier die Herrschaft übernahmen. Deshalb wird bei dem Versuch, die Göttinnen der Anmut in der Antike vorzustellen, die ursprüngliche Benennung „Chariten“ benutzt. Wenn es jedoch um die Entwicklung des Grazienbildes bei Wieland geht, wird die im 18. Jahrhundert geläufige Bezeichnung „Grazien“ verwandt. Damit

31 Marie Luise Kaschnitz: Griechische Mythen, 5. Aufl., München 1979, S. 7. 32 „Ist es ein Wunder, wenn man sie in ganz eigenen Gestalten und Verhältnissen findet und die Nebenidee nicht immer sogleich aus der Uridee herleiten kann?“ J. C. F. Manso: Versuche über einige Gegenstände aus der Mythologie der Griechen und Römer, Leipzig 1794, S. 426. 33 „Daß der Deutsche heute Grazie sagt, nicht mit den Franzosen gràce und... die Engländer grace, geht auf... (J. J. Winckelmann) zurück, der die Bezeichnung in dieser Form in unserer Sprache heimisch gemacht hat“, Karl Deichgräber: Charis und Chariten. Grazie und Grazien, München 1971, S. 62. 34 So galt z.B. der attische Redner Lysias als Vertreter rhetorischer Charis. Das einzelne Wort zeichnet sich bei ihm durch Charis aus, äußerst schwierig sei dagegen „die über das einzelne Wort hinausgehende, allgemeine Charis in Sprache und Begriff befriedigend zu explizieren“, Karl Deichgräber, Charis, S. 8. 35 Bereits Herodot hält ihre Namen für urgriechisch und meint, ihr Name sei pelasgisch. Sie waren den Ägyptern nicht bekannt, die sonst den Griechen ihre Götternamen geschenkt haben sollen; vgl. Erkander Schwarzenberg: Die Grazien, Diss. Bonn 1966, S. 1. Auch Krause beruft sich auf Herodot und ist der Meinung, daß die Chariten zu denjenigen Gottheiten gehörten, die nicht aus Ägypten, überhaupt nicht aus dem Orient nach Hellas gelangten. „Allein selbst dann, wenn der Orient eine ähnliche Gruppe weiblicher Wesen aufzuweisen hätte, würde es nicht wahrscheinlich sein, daß die Griechen von dort her zu ihren Chariten gekommen wären. Die ächt hellenische Originalität derselben lässt einen Gedanken dieser Art nicht aufkommen“. J. H. Krause: Die Musen, Grazien, Horen und Nymphen, Halle 1871, S. 82f. 91 wird der Entwicklung Rechnung getragen, der sich auch Wieland verpflichtet fühlte, wenn er die Anmutsgöttinnen in seinen Werken meistens als Grazien bezeichnet.

Will man eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Chariten, so führt dieses Vorhaben zunächst zur Behandlung althellenistischer Religion - zum Charitenkult, der zuerst bei den Minyern ausgeübt wurde, einem Volk, das aus vordorischer Zeit stammt. Doch wären diese Kultstätten der Chariten längst verschwunden, wenn nicht die Götter des Olymp sie in ihren Dienst aufgenommen hätten. So findet man in späterer Zeit bei den übrigen hellenischen Stämmen die Charitenverehrung verbreitet, die besonders in der griechischen Poesie nachwirkt. Die Chariten gelten neben Apollon und den Musen als Schutzgötter der Dichtkunst. In dieser Eigenschaft werden sie vor allem bei Pindar erwähnt. Auch in Verbindung mit anderen Gottheiten erscheinen die Chariten, deren Gestalt und Wesen sich eindeutig beschreiben läßt. Sie bilden das Gefolge des Zeus, des Dionysos, der Hera, des Hermes, der Aphrodite usw. und führen die Befehle dieser Götter aus, ohne dabei ihren eigenen Charme zu verlieren. So drücken sie auf ihre Art z. B. die Huld des Apollon oder den Zauber der Aphrodite aus, bleiben aber bei ihren Diensten anonym und treten nie einzeln auf. Die bildende Kunst hat die Chariten in klaren Umrissen dargestellt. Besonders aber waren es die Dichter und Philosophen, die Zeugnisse über die Chariten hinterlassen haben, so daß vor allem ihre Aussagen nützlich sind und zum Verständnis der Chariten in der Antike beitragen.

Die Nebeneinanderstellung von Charis und Chariten soll nicht ausdrücken, daß diese Göttinnen nachträgliche Personifikationen des Begriffs Charis sind. Personifikation und Begriff stehen sich nahe, und deshalb halten viele Philologen die Chariten für die Verkörperung der Charis. Es sind jedoch keine sekundär entstandenen Wesen36. Letztlich bleibt das Phänomen dieser Göttinnen unausschöpfbar. Die „ehemalige Bedeutung der Chariten des fruchtbaren Bodens von Orchomenos und ihre Verwandlung in die von Pindar, welche vermutlich die neueren Statuen des Tempels, nicht mehr die unbehauenen Steine, ausdrücken“, hat Ulrichs in seinem Bericht ‘Reisen und Forschungen in Griechenland’ eingehend erläutert. Er nennt sie alte Naturgöttinnen, die das spätere Griechenland als

36 Siehe dazu Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 2, Anm. 7, der W. Otto: „Theophania“ (1956) zitiert: „Man nennt solche Göttergestalten wie Aidos und Charis ‘Personifikationen’, weil ihre Namen als abstrakte Begriffe in der Sprache vorkommen. Und doch läßt sich manchmal nachweisen..., daß der Göttername das Ursprüngliche, der abstrakte Begriff also erst von ihm ausgegangen ist“. 92

Huldgöttinnen in die Umgebung der olympischen Götter versetzte37. Diesen Wandel gilt es darzustellen.

3.2 Genealogie und Namen der Chariten

Herkunft und Namen der Chariten sind verschieden überliefert. Sie werden bei Homer anders genannt als bei Hesiod, in Sparta anders als in Athen. Als Vater nennt Hesiod Zeus. Dieser Angabe sind viele Dichter und Mythographen gefolgt. Wenn hierbei auch eine gewisse Übereinstimmung festzustellen ist, so gehen die Angaben über die mütterliche Abstammung weit auseinander. Der vielseitigen Erwähnung und Bedeutung des Namens entsprechend38 wird am meisten Eurynome genannt. Auch bei Hesiod wird sie als Mutter der Chariten genannt. Dieser Angabe folgen viele Schriftsteller39, nur daß der Name mehrfach verstümmelt oder - der späteren Bedeutung der Chariten angepaßt - verändert wird. Diesem Bestreben entspringen wahrscheinlich auch die anderen Genealogien. Hier ist der Dichter Antimachus erwähnenswert, der diese Göttinnen zu Töchtern des Helios und der Aegle macht. Offenbar meint er, daß Göttinnen, die über alles hervor strahlen und durch ihren Reiz selbst die Schönheit verdunkeln, es wert seien, Kinder des Sonnengottes und einer Nymphe zu sein, „denn Licht und Glanz gebühren der Anmuth und Freude, wie Nacht und Finsternis der Trauer“40. Vereinzelt wird auch Dionysos oder Bacchus als Vater der Chariten in Verbindung mit Aphrodite oder Koronis, einer Böotierin, genannt, da eigentlich „keine Abstammung der Natur und dem Charakter dieser Göttinnen besser entspreche“41. Daneben gibt es vor allem in bezug auf die mütterliche Abstammung noch weitere Deutungen42.

Wie über die Abstammung der Chariten, so gibt es auch über deren Anzahl und Namen verschiedene Überlieferungen. Nach diesen ist es unsicher, ob es ursprünglich nur eine Charis

37 F. G. Welcker: Griechische Götterlehre I, 1857, S. 697. Vgl. H. N. Ulrich: Reisen und Forschungen in Griechenland. Erster Theil: Reise über Delphi durch Phocis und Boeotien bis Theben, Bremen 1840. 38 Vgl. dazu Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie, 2 Bde., Reinbek 1960, , Bd. 1, S. 22f. 39 z. B. Pindar, Apollodor, Hygien und Phurnut. 40 Conrad Schwenck, Mythologie, S. 447. 41 Johann Friedrich H. Krause, Musen, S. 84. Auch Erkander Schwarzenberg verweist auf diese Genealogie bei der Erläuterung des Kultes der Chariten auf den Inseln Paros und Naxos. „Aus... Indizien läßt sich auch einiges über die naxischen Chariten ermitteln. Die lokale Genealogie macht auch ihnen die Töchter der Nymphe Koronis und des Dionysos“, S. 5. 42 Siehe dazu Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen, Bd. I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, 3. Aufl., München 1977, S. 81: „... die Chariten seien Töchter der Nacht und des Erebos oder Töchter der Lethe, des Flusses ‘Vergessenheit’ in der Unterwelt“. Schwenck kommentiert diese Verbindung mit folgenden Worten: 93 gab43, oder ob sie bei Einzeldarstellung oder Erwähnung als Repräsentantin der Gattung galt. Meist aber erscheinen sie in der Dreizahl. Sicher ist lediglich, daß unter dem Einfluß der Kulte die Reduktion auf eine bestimmte Zahl stattfand44. Als erster soll der Dichter Pamphos die Chariten besungen haben, nannte aber weder Zahl noch Namen45. Zum ersten Mal scheint der König der Minyer, Eteokles, die Chariten in ihrer Freiheit verehrt zu haben. Auch Pausanias meint, daß die Dreiheit erstmals in Orchomenos vorkomme46. Diese Angaben könnten durch die Tatsache bestätigt werden, daß Hesiod, ein böotischer Dichter, als erster die Dreizahl der Chariten in seiner Theogonie nennt und den Göttinnen Namen gibt. Diese findet man in späteren Überlieferungen, und Hesiod ist es auch, der die Dreizahl maßgeblich bestimmt47. Pindar, der wie Hesiod aus Böotien stammt, nennt ebenfalls in seiner berühmten 14. olympischen Ode drei Chariten. Diese Dreizahl wird in späterer Zeit selten angetastet48.

Abweichend in Zahl und Namen werden in Athen und Sparta die Chariten verehrt. Diese Lokalkulte erkennen nur zwei Chariten an, jedoch sind die Namen, unter denen sie verehrt werden, sehr verschieden. Diese Göttinnen treten also fast immer in der Mehrzahl auf, vorwiegend als Dreiheit. Nach Hamdorff lassen die Namen auf alte Gottheiten schließen. Damit ist zwar nicht das Alter der Chariten bewiesen, es ist aber denkbar, daß vorhandene

„... denn wer nicht des Herben im Leben zu vergessen mag, wird der Freude nicht theilhaft“ (Conrad Schwenck, Mythologie, S. 446). 43 Vgl. RE 3, Sp. 2151. 44 Wahrtscheinlich erscheinen bei den Griechen die Chariten von Anfang an in Zwei- oder Dreizahl namenlos als Göttinnen des himmlischen Lichts, welche den Fluren Gedeihen bringen; Hermann Usener: Götternamen, Bonn 1896, S. 132. 45 Nach Ersch-Gruber: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1. Section, 88. Theil, Leipzig 1868, Sp. 424. 46 Vgl. dazu Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen, Bd. I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, 3. Aufl. München 1977, S. 80f: „Es wurde erzählt: Dreifaltig waren die Chariten, ob man nun eine Blume oder die Göttinnen oder Mädchen darunter verstehen wollte. Eteokles hatte drei Töchter. Sie hießen Trittai, ‘die Dreifaltigen’. Indem sie den Chariten einen Tanz aufführten, fielen sie in einen Brunnen, den sie nicht bemerkt hatten. Die Erde erbarmte sich ihrer und ließ eine Blume entsprießen, die ebenso heißt - Trittai - und dreigeteilt ist, wie ihr Tanz. Die Geschichte von den drei Steinen, die vom Himmel gefallen waren, hielt den himmlischen Ursprung der Chariten fest, die zweite hingegen, vom Verschwinden im Brunnen, ihre Verbundenheit mit den Wassertiefen und der Unterwelt“. 47 Daß auch später hauptsächlich drei Chariten verehrt wurden, mag aus der Vorliebe der griechischen Mythologie für Gruppen von drei weiblichen Gottheiten zu erklären sein. Es gab z. B. drei Horen, Hesperiden, Moiren, Gorgonen, Erinnyen; auch drei Musen wurden an manchen Orten verehrt (nach Ferdinand Eichinger: Die Chariten von Orchomenos. Progr. des kgl. humanistischen Gymnasiums St. Stephan in Augsburg zum Schluß des Schuljahres 1891/92, Augsburg 1892, S. 15). Vgl. auch Pausanias: Beschreibung Griechenlands, 2 Bde., 3. Aufl., München 1979, IX, 29, S. 463. 48 Nach Eckart Peterich: Die Göttinnen im Spiegel der Kunst, Olten/Freiburg 1954, S. 17, geht die Vorstellung von den drei Chariten aus dem uralten indoeuropäischen Glauben an die Dreivereine der Schicksalsfrauen, an Moiren, Parzen und Nornen, hervor, „... auch die Grazien bedeuten Schicksal: Anmut, Schönheit, die Macht zu gewinnen und zu bezaubern, werden als ein Geschick empfunden, das je nach der Laune der Götter dem einen zuteil wird und dem andern nicht. ‘Was schön ist, das ist lieb! was aber nicht schön ist, das ist nicht lieb’, so singen die Chariten bei dem griechischen Dichter Theognis, und ihr Lied verbirgt die Schicksalhaftigkeit ihres 94

Lokalgottheiten als Chariten gedeutet wurden. Die Vielzahl der überlieferten Namen scheint in diese Richtung zu weisen49. Es ist ziemlich sicher, daß die Chariten von Orchomenos noch keine eigenen Namen hatten, zumindest sind keine überliefert, unter denen diese Gottheiten von Orchomenos verehrt werden. Die späteren Namen dieser Göttinnen sind eine Erfindung des Dichters Hesiod. Die Benennung „Chariten“ ist ein allgemeiner Name für die Kultsteine.

Ursprünglich wurden die Chariten in ihrem Tempel in Orchomenos ohne Namen verehrt. Auch Homer und der Dichter Antimachos lassen die Chariten meistens noch in der Anonymität. In der „Ilias“ nennt Homer lediglich ‘Charis’ als Gemahlin des Hephaistos und in der „Odyssee“ ist es Aphrodite. Beide Frauen, Charis und Aphrodite, gleichen sich darin, daß sie jene Eigenschaft besitzen, die dem Gott der Schmiede seit der Geburt fehlte50. Hesiod nennt die Gattin des Hephaistos Aglaia51, wie er überhaupt den drei Chariten ‘sprechende’ Namen gibt, die im gesamten Altertum bekannt sind. Ihre Namen bezeichnen das Schöne im Reize der vollen Blüte: Aglaia (Glanz/Würde), Euphrosyne (Freude/Frohsinn oder ‘die Erfreuende, Wohlgesinnte’) und Thalia oder Thaleia (Blüte/Fülle oder ‘die Blühende’)52. Pindar übernimmt die Namen in seine 14. Ode, die er den orchomenischen Chariten widmet.

In Lacedonien/Sparta werden die Chariten Kleta (die Gerufene oder Schall) und Phaenna (die Glänzende oder Schimmer) verehrt. In Athen kennt man Auxo (die Wachsende oder Mehrerin) und Hegemone (die Voranschreitende oder Führerin)53. Überhaupt erscheinen Einzelnamen der Chariten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander, und zwar

Wesens nicht. Später verblaßte dieser Wesenszug und bei Pindar wurden sie die ‘Erfreuenden’, ‘die Quelle alles Süßen, Schönen, Anmutigen’“. 49 Vgl. Friedrich Wilhelm Hamdorff, Griechische Kulturpersonifikationen der Vorhellenistischen Zeit, Mainz 1964, S. 45. 50 Diese Verbindung wird dahingehend gedeutet, daß man dem Verfertiger reizvoller Kunstwerke den personifizierten Liebreiz (=Charis) zugesellte (vgl. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen, Bd. 1, Berlin 1931, S. 192; Herbert Hunger, Mythologie, S. 89. 51 Theog. 945f. Er dachte wohl, daß Homer weniger „Charis“ als eine der Chariten meinte, Homer hätte sie aber mit Namen genannt, wie er als Gattin des Hypnos, Gott des Schlafes, die Charitin Pasithea nennt. Charis ist bei Homer also als Eigenname aufzufassen (nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 1). 52 Nach RE, S.2150, wurden diese drei Namen schon früh nicht im ursprünglichen Sinne, sondern als ‘der festliche Glanz’, ‘die feierliche Freude’, ‘die blühende Lust des Mahles’ aufgefaßt; wohl infolge des glänzenden Charitenfestes. 53 Manso meint, die athenischen und spartanischen Grazien stammen aus vorhomerischer Zeit. Auxo und Hegemone sollen die Notwendigkeit und den wohltätigen Einfluß und die spartanischen Grazien die äußeren in die Sinne fallenden Wirkungen der Grazie anzeigen, wobei er Phaenna mit „die Schimmernde“ und Kletha „die Ruhmvolle“ deutet (J. C. F. Manso, Mythologie, S. 434f.). Eine andere Deutung gibt Kerenyi. Er bringt die Namen der lacedomänischen und attischen Grazien mit den Mondphasen in Verbindung, eine Variation, auf die nicht näher eingegangen werden kann. „Das waren Namen für Göttinnen, die in den Phasen des Mondes erscheinen, denn der Mond wurde während der finsteren Nächte, bei den Neumondfesten mit Lärm gerufen und der Glänzende wurde mit Lärm begrüßt“ (Karl Kerenyi, Mythologie, S. 81). Diese ungewöhnliche Deutung wird 95 verhältnismäßig spät und kommen nur in der Dichtung, nicht im Kult vor. Ihre Sammelnamen Chariten oder Grazien kündigen sie als „Besitzerinnen allen Reizes, aller Anmuth und Lieblichkeit an“54. Dieselbe Bedeutung spricht aus ihrer Einzelbenennung: Göttinnen alles Erfreuenden, Reizenden, Anmutigen.

3.3 Kulte und Verehrung

Obwohl in der Literatur die Auffassung über die Chariten vorherrscht, daß sie dem Körper und Geist Reiz und Anmut, der Geselligkeit und den Festen Heiterkeit und Glanz verleihen, so fehlt es dennoch bei diesen Göttinnen nicht an Hinweisen, daß sie Naturgottheiten waren, besonders dort, wo religiöse Vorstellungen vorherrschen. Charitenkulte lassen sich an vielen Orten bereits in vorklassischer Zeit nachweisen, vor allem in Verbindung mit anderen Gottheiten, z. B. in Athen, Orchomenos, Olympia, Paros, Thasos usw. Da im Rahmen dieser Arbeit die Chariten als Naturgottheiten keine Rolle spielen, sollen nur zwei bedeutende Kultstätten und die Verehrung der Chariten erläutert werden. Zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Chariten und ihrem Wirken in alter Zeit bieten sich als Ausgangspunkt der Charitenkult bei den Minyern in Orchomenos an, die in vordorischer Zeit eine beherrschende Stellung in Griechenland einnahmen. Anschließend wird auf die Charitenverehrung in Athen eingegangen, denn den Hintergrund eines alten Naturkultes, den die Formen der orchomenischen Verehrung zwar andeuten, aber noch unbestimmt lassen, erschließen die altattischen Namen dieser Chariten. Die beiden Kultstätten wurden ausgewählt, da sie der griechischen Dichtung später eine reiche Stoff-Fülle boten.

Im alten böotischen Orchomenos, nordwestlich von Theben, sind die Chariten Hauptgottheiten und werden in Gestalt dreier vom Himmel gefallener Steine kultisch verehrt55. Die Landschaft Böotien, speziell Orchomenos, gilt allgemein als die eigentliche

in der Forschungsliteratur nicht gestützt. Wahrscheinlich ist diese Auslegung nur aus der Genealogie Helioas und aigla abgeleitet worden. Dabei bleibt zu bedenken, daß Helios der Gott des Lichts, nicht nur des Mondlichts ist. 54 Ersch-Gruber, Encyklopädie, S. 424. 55 Die abgöttische Verehrung der Steine im Tempel erklärt unter Umständen das hohe Alter des Charitendienstes, da die Griechen in frühester Zeit keine kunstvoll gearbeiteten Bilder kannten, sondern sich durch fetisch-artige Symbole die Gottheiten zu vergegenwärtigen suchten; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 18. Auch auf der Insel Paros besaßen die Chariten einen sonderbaren Kult, der auf ein hohes Alter schließen läßt. Denn die Chariten waren auf der Insel nicht dem einen oder anderen Gott angeschlossen; der Kult galt ihnen allein. Nach antiker Überlieferung opferte König Minos gerade den Chariten, als ihm die Nachricht vom Tode seines Sohnes Androgeus gebracht wurde. Da warf er den aufgesetzten Blumenreif weg, befahl den Flötenspielerinnen inne zu halten und vollendete sein Opfer in Trauerstimmung. Seit dieser Zeit sollen die Parier das Fest der Chariten in 96

„Geburtsstätte des Charitendienstes“56. Für den Minyerstamm, die frühen Bewohner Orchomenos’, war das älteste Heiligtum den Chariten geweiht, und der Charitentempel war ein Nationalheiligtum. Nach der Sage war es König Eteokles57, der zuerst den Charitendienst in Orchomenos einführt. Er gilt als Begründer des Kultes58. Er baute den Göttinnen einen Tempel und bewahrte darin zur Verehrung die vom Himmel gefallenen Steine, vermutlich Meteorsteine, auf. Diese galten als echte Symbole der Chariten und verliehen dem Tempel hohes Ansehen und höchste Verehrung59. Erst in der römischen Kaiserzeit wurden diese Symbole durch eine kunstvolle, in Marmor gearbeitete Gruppe der Chariten verdrängt. Und obwohl es in Orchomenos noch andere Tempel gab, z. B. für Zeus und Dionysos, behielt der Tempel der Chariten den Vorrang. Trotz des engen Zusammenhangs zwischen dem Wesen der Landschaft und des Volkes, welches die Chariten am meisten verehrten, und dem Wesen der Chariten, kann an dieser Stelle nicht auf die Beschaffenheit des orchomenischen Landes und seiner ältesten Bewohner eingegangen werden60. Fest steht, daß die Landschaft um Orchomenos im Vergleich zu anderen Gegenden Griechenlands von der Natur begünstigt war. Die Minyer merkten, wie sehr ihr Leben von dem landschaftlich bedingten Reichtum abhing, und verehrten aus Dankbarkeit dafür die Gottheiten des Dankes und der Huld, die Chariten. Eichinger61 weist auf den in der Antike bestehenden engen Zusammenhang zwischen den religiösen Vorstellungen der Völker und der Natur des heimatlichen Bodens hin. Da die Minyer landschaftlich begünstigt waren, wird verständlich, daß sie Gottheiten verehrten, die als Segenspenderinnen für Feld und Flur galten, denn das Volk war auf den Ackerbau angewiesen. Schwarzenberg weist darauf hin, daß die Chariten von Orchomenos ursprünglich

Trauerstimmung gefeiert haben. Dieser parische Kult stellt einen einzigartigen Fall dar und scheint dem zu widersprechen, was man von den Göttinnen erwartete, und ließ sich nicht mit ihrem Wesen in Einklang bringen, das ihnen befahl, fröhlich zu sein und die Menschen mit ihrem Tanz zu erfreuen; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 4. 56 Dorthin weisen die vielen übereinstimmenden Angaben, welche die griechischen Schriftsteller über Alter, Entstehung und Ansehen des Charitenkultes machen; vgl. dazu Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 2. Vgl. auch Ersch-Gruber, Encyklopädie,, S. 429. Vgl. auch W. H. Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 1. Bd., 1. Abt., Leipzig 1884/86, S. 877. Im RE wird neben Paros als erster Kultort Orchomenos erwähnt (Bd. 3, Sp. 2153). Manso nimmt an, daß der Kult „Von den Cretern... zunächst auf die Spartaner und Athenienser, am spätesten auf die Orchomenier über(ging)“, S. 456. 57 Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Sohn des Oedipus, dem viel späteren König von Theben. 58 Dieses ist zwar eine Legende, aber an dem Steinkult und dem Namen der Steine ist nicht zu zweifeln; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 5. 59 Auch hier ist Manso anderer Ansicht. Er behauptet, der Spartanische König Lacedämon hat als erster in seinem Gebiet, am Fluß Tiasa, einen Tempel für die Chariten erbaut, Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 430f. Vgl. auch Pausanias, Griechenland, IX, 38, S. 469. 60 Ein anschauliches Bild von den religiösen Vorstellungen und politischen Schicksalen dieses Stammes bietet der philologische Forscher Otfried Müller. Orchomenos und die Minyer, auf das Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 3, Bezug nimmt. 61 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 12. 97

Quellgöttinnen, Nymphen gewesen sein können und bezieht sich dabei auf Hesiod62. Als Quellgöttinnen teilen sie das Geheimnis der chtonischen Mächte, d. h. der Erdgottheiten, die Fruchtbarkeit und Leben spenden, deren Kult aber meist düster und unheimlich ist. Allerdings verkörpern sie ausschließlich die freundliche Seite der chtonischen Mächte, die, „wenn sie grollten, Erinnyen heißen“63. Auch Herakles von Hyettos in Böotien war ein unbearbeiteter Stein und der Name „Hyettos“ deutet ebenfalls auf einen Fruchtbarkeitskult, der darauf zielte, Regen zu erzeugen. Es liegt die Vermutung nahe, daß der Kult der Chariten mit ähnlichen Absichten ausgeübt wurde. Weitere Belege für diese Annahme liefert Schwarzenberg64. Bis in die frühesten Anfänge des Minyer-Reiches kann die Entstehung dieses Kultes verfolgt werden. Die Kultsteine sollten das Reich mit segnender Kraft beschützen und Familie und Volk Gedeihen schenken.

Bei den Minyern war also eine Naturreligion heimisch, die den Dienst derjenigen Gottheiten oben anstellte, denen man Einfluß auf das Gedeihen der Feldfrüchte zuschrieb und deren Gunst man sich versichern wollte, indem man ihnen einen Teil der Feldfrüchte opferte. Als eine drückende Last sah das Volk diese Opfer nicht an. Es war Dankbarkeit gegenüber der Gottheit. Daher ist zu verstehen, daß die Minyer die Chariten sowohl als Urheberinnen der Fruchtbarkeit des Bodens als auch als Göttinnen der Dankbarkeit verehrten. Diesem dankbaren Gefühl gaben sie außerdem dadurch Ausdruck, daß sie die Chariten zu ihren Stadtgöttinnen machten, d.h. sie an die Spitze ihres Staates stellten65. Sie waren auch Schutzgottheiten der staatlichen Ordnung. In einigen Teilen Griechenlands huldigte man der naturgemäßen Anschauung, daß jeder Staat auf dem Ackerbau und auf einer festen staatlichen Grundlage ruhen müsse. So war es von alters her in Orchomenos, wo die Chariten als Beschützer der Stadt galten, denen die Fürsorge für Staat und Volk anvertraut war. Und, indem sie Huldigung und Gaben von den Bürgern empfingen, herrschten sie wie „Königinnen“66. Pindar nennt sie auch „Aufseherinnen der alten Minyer“. Daß sie die

62 Vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 8 und Anm. 11 zu S. 8: „Die Quelle der Chariten nannte sich auch Akidalia. Ihr Bad scheint ein ... Wasserstrom gewesen zu sein...“. 63 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 12. 64 S. 12. Die Verbindung mit dem Wasser hat sich in späterer Zeit dahingehend erhalten, daß die Drei-Grazien- Gruppe, wie zahlreiche Epigramme, Inschriften und Ausgrabungen belegen, zur gewöhnlichen Ausstattung eines römischen Bades gehörten; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 41. 65 Es gibt auch in anderen Stadtgemeinden Chariten, deren Namen sie im Sinne von stadtsegnenden Gottheiten beschreiben, z.B. Auxesia und Damia, d.h. die eine als „Mehrerin“, die andere wohl eine Art Demeter, die noch in späterer Zeit ihr Wesen als Göttin der Erde und der Saat beibehielt; vgl. Karl Deichgräber, Charis, S. 11f. 66 So wurden sie später von Pindar in der 14. olympischen Ode angeredet, die er ihnen zu Ehren verfaßte und zum Vortrag in ihrem Tempel bestimmt war. 98

Aufsicht über das Volk, speziell über die Jugend ausübten, kommt ebenfalls in der Ode zum Ausdruck, auf die noch eingegangen wird.

Über die Kultformen ist wenig bekannt. Es wird angenommen, daß man den Charitenkult in Orchomenos „wie jede andere gottesdienstliche Feier der Griechen in Gebeten, Festliedern, Festzügen, Weihgeschenken und Opfern... (feierte); allerdings fehlte bei diesen Naturreligionen (niemals)... eine geheimnisvolle, düstere Seite des Gottesdienstes, sie drückt sich bei bestimmten Anlässen und Zeitabschnitten des Jahres aus in Trauergebräuchen, nächtlichen Festfeiern, mythischen Weihungen, und kam in dieser Form auch bei der Verehrung der Chariten zur Geltung“67. Dennoch überwog beim Charitenkult der fröhliche Charakter. Alljährlich wurden Charisien mit Tänzen und Gesängen gefeiert, verbunden mit Wettspielen. Es scheint, daß hier musische Agone im Vordergrund standen. In diesem alten Kult waren die Chariten Naturgottheiten, Göttinnen der Fruchtbarkeit, Spenderinnen erfreulicher Gaben der Natur. Erst allmählich ist die Chariten-Vorstellung die beherrschende geworden, die bei Pindar zu finden ist, ohne daß man die alte Naturbeziehung vergessen hätte.

Die Athener hatten einen eigenen Charitendienst, der verschieden war von dem der Orchomenier durch Zahl und Namen, aber ihm ähnlich durch Alter und Bedeutung für den Anbau des Bodens und die bürgerliche Ordnung. Die attischen Chariten hießen Auxo68 und Hegemone und galten als „Förderin des Wachstums“ und „Führerin der wachsenden Pflanze zum Licht, zu Blüte und Frucht“69. Sie wurden mit Helios, den athenischen Horen Thallo und Karpo (Blüte und Frucht) und der Taugöttin Pandrasos angerufen. In Athen gibt es mehrere Kultstätten für die Verehrung der Chariten. Die bekannteste und wichtigste befand sich an der Eingangspforte zur Burg70. „Pausanias sah am Eingang zur Akropolis ein Relief, das die Göttinnen Karpo, Auxo und Hegemone darstellte. Er wußte nicht, ob es sich um Chariten oder Horen handelte“71. Auf jeden Fall sprechen die Namen der Göttinnen auf der Akropolis für einen Vegetationskult72.

67 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 18. Er weist darauf hin, daß wie bei eleusinischen Mysterien besonders zubereitete Speisen an die Teilnehmer ausgegeben wurden. 68 Auxo ist die Kurzform von Auxesia; vgl. Hermann Usener: Götternamen, S. 133. 69 Wilhelm H. Roscher, Mythologie, Sp. 878. 70 Vgl. die Abhandlung von A. Furtwängler: Die Chariten der Akropolis. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung, Bd. III (1878), S. 181-202. 71 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 15. In der Literatur findet man häufig die Einteilung, daß Auxo und Hegemone Chariten und Thallo und Karpo Horen waren, jedoch belegt Schwarzenberg, daß diese Zuordnung schon in der Antike umstritten war; vgl. bes. Anm. 18 auf S. 15 und Anm. 20f. auf S. 16. Verständlich wird diese Unklarheit auch dadurch, daß sich Horen und Chariten glichen und beide zum Gefolge des Dionysos gehörten, 99

In ihrer Eigenschaft als Schutzgottheiten der staatlichen Ordnung waren die Chariten besonders über die junge Generation gesetzt. So mußten die Epheben beim Austritt aus dem Jünglingsalter auch auf den Namen der Chariten Auxo und Hegemone den Bürgereid schwören73, indem sich die jungen Männer zum Schutz der Polis verpflichteten. Auch hier ist unverkennbar, daß die Chariten als Göttinnen gedacht waren, die die Jugend zur Reife brachten und auf ihrem Weg begleiteten. Die enge Zusammengehörigkeit zwischen den Chariten und dem Volk von Athen wird auch aus der Tatsache deutlich, daß sich auf dem Marktplatz eine eigene Kultstätte für die Chariten befand. Diese war zwar nicht so alt wie die auf der Akropolis, aber dennoch seit den Anfängen der Stadt Athen vorhanden. Der Tempel der Chariten war ihnen gemeinschaftlich mit dem Staat geweiht. Das Heiligtum der Aphrodite Pandemos befand sich ebenfalls auf dem Marktplatz. Die Chariten waren in der Gesellschaft der Aphrodite am Gedeihen des Friedens beteiligt, für die Schließung erfolgreicher Ehen verantwortlich74 und genossen großes Ansehen. Von ihrer Kultstätte auf dem alten Marktplatz übten sie in der Antike einen wohltätigen Einfluß aus und förderten überall Eintracht und Frieden75. Noch in hellenistischer Zeit hatten „Aphrodite Hegemone des Demos“ und die Chariten auf der Agora, dem Versammlungsplatz der Bürger, ihren heiligen Bezirk76. Zunächst offenbaren sich also die Chariten im Leben der Natur „als die eigentl. segenspendende Macht“, ähnlich wie die Horen und Nymphen. Wo sich alte Kultstätten oder Charitentempel befanden, ist diese Seite ihres Wesens erkennbar oder mit Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen. Analog dazu ist ihre Wirksamkeit im Leben der Menschen, das nach den Anschauungen der Antike das Abbild und Vorbild des Lebens der Natur war77.

die im Frühling verehrt wurden. Im Rahmen dieser Arbeit kann die Frage unbeantwortet bleiben, da es weniger um die Namen als um die Bedeutung der Chariten für die Stadt Athen geht. 72 Nach Pausanias, Griechenland, I, 22; VIII und IX, 35, 1-3, hatten die Athener an dieser Stelle einen Geheimkult, einen mythischen Kultus. 73 Daneben waren als Zeugen des Schwurs von der jungen Mannschaft Zeus, Agraulos, die Göttin des Feldlagers, Ares, der Kriegsgott, und Thallo, Göttin des Blühens und der vollen Reife, angerufen; vgl. Karl Deichgräber, Charis, S. 17. 74 Selbst die Götter luden zu ihren Hochzeiten die Chariten ein, z. B. wäre die Hochzeit des Peleus und der Thetis ohne die Anwesenheit der Anmutsgöttinnen nicht die gleiche gewesen, und sie trugen zum Erfolg der Hochzeit des Kadmos und der Harmonia bei. Später erwähnt auch Euripides sie als Göttinnen der Ehe; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 21. 75 nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 21f. 76 nach Karl Deichgräber, Charis, S. 15. 77 Friedrich Wilhelm Hamdorff, Kulturpersonifikationen, S. 21. 100

3.4 Ausbreitung der Charitenverehrung und das Verhältnis zu anderen Gottheiten

Die Verehrung der Chariten blieb nicht auf Orchomenos und Athen beschränkt. In allen Teilen Griechenlands wurden sie in Kultstätten durch das Volk verehrt. Allerdings darf nicht verkannt werden, daß sich die Auffassung vom Wesen der Chariten durch die Verbreitung ihres Kultes veränderte. Die große Ausbreitung des Charitenkultes erhellen die zahlreichen Tempel und Altäre, die ihnen teils allein, teils zusammen mit anderen Gottheiten in vielen Orten geweiht wurden78. Dennoch ist zu bedenken, daß trotz des Ansehens dieser Göttinnen und der Wohltätigkeit ihres Einflusses ihnen in der Antike kein eigener Wirkungsbereich, keine besondere Verrichtung zugewiesen war. Die Chariten haben es nicht zu eigener Selbständigkeit gebracht. Sie erscheinen nie handelnd oder tätig eingreifend, sondern schließen sich dienend anderen göttlichen Wesen an, denen sie durch ihre Dienste nützen. Gerade dadurch haben die Chariten in der Dichtung und bildenden Kunst Gestalt gewonnen. Nach Manso ist es die Unterwürfigkeit, liebevolle Herablassung, die man den Chariten beilegt und deren Charakter bestimmt. „Grazie ist keine Grazie mehr, wenn sie nach Herrschaft strebt oder auf die Gegenstände um sich her Schatten zu werfen sucht. Ihr Sieg ist... desto gewisser, ihr Zauber... unwiderstehlicher, je weniger sie fordert, und je ein mildres Licht sie verbreitet“79. Vielerorts traten die Chariten mit olympischen Göttern in Verbindung, z.B. mit Hera, Athene, Artemis und Hermes80. Homer sagt: „Aller Götter Genossinnen sind die Chariten“81. Im folgenden wird das Verhältnis der Chariten zu anderen Gottheiten beleuchtet Dabei werden nur solche Verbindungen erläutert, die dazu beitragen, das Wesen der Chariten und ihr Wirken zu erhellen.

Die Chariten bildeten zusammen mit anderen gleichartigen Wesen das Gefolge der Aphrodite. Auch mit den Horen waren die Chariten eng verbunden. So bekränzten sie gemeinsam Aphrodite, webten ihr schöne Kleider und schmückten die Pandora. Besonders liebten Horen und Chariten den festlichen Reigentanz, ein Aspekt, auf den noch eingegangen wird. „Bei dieser Übereinstimmung können die Grazien... als ‘nur provinziell verschieden von den Horen’ genannt und als ‘Spenderinnen erfreulicher Naturgaben im Umlauf des Jahres’, als

78 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 32ff hat diese Kultstätten näher erläutert. 79 J. C. F. Manso, Mythologie, S. 440. 80 In manchen Überlieferungen erscheint Hermes als Führer der Chariten, deren Bilder neben die seinigen gesetzt wurden. Er stand ihnen zwar als Freudengeber im allgemeinen nahe, doch wird vermutet, daß dieser Verein spezieller auf die der Rede nöthige Anmut bezogen wird; vgl. Ersch-Gruber, Encyklopädie, S. 28. 101

‘Reize der Jahreszeiten’ aufgefaßt werden“82. Die Chariten waren auch Begleiterinnen der Aphrodite. Diese Verbindung ist im Kult nur für Athen bezeugt. Hier befand sich ein Heiligtum der Chariten und der Aphrodite Hegemone83. Aphrodite war ursprünglich nur die große weibliche Natur-Gottheit aller vorderasiatischer Völker. Mit Beinamen hieß sie Urania. Diesen Namen brachte Aphrodite schon aus Asien nach Griechenland mit. Philosophen wie Platon deuteten diesen Namen später um als Bezeichnung einer Göttin der himmlischen, reinen, unsinnlichen Liebe. In der griechischen Volksreligion ist Aphrodite die Göttin der Liebe, Schönheit und Anmut. Als solche ist sie die schönste der Göttinnen, der Paris deshalb auf Ida den Preis der Schönheit mit Recht erteilte84. Aphrodite85 soll einen magischen Gürtel besessen haben, der jeden mit Liebe zu seiner Trägerin erfüllte. Schiller nennt ihn „Gürtel des Reizes“. Aphrodite wurde hauptsächlich als Göttin der Liebe aufgefaßt. Ihre versöhnende Eigenschaft wurde als Peitho, Göttin der Überredung, gewürdigt. Die Chariten wurden in der Gesellschaft der Aphrodite und Peitho verehrt86. Peitho galt sogar als eine der Charitinnen und stand in so enger Verbindung zu Aphrodite, daß diese selbst Charis genannt wurde. Eichinger weist darauf hin, daß die Chariten im Zusammenhang mit Aphrodite auch zu Liebesgottheiten wurden, eine Auffassung, die besonders im späten Altertum geläufig war87. Danach verliehen auch die Chariten Schönheit und Liebreiz. Das Wesen und Wirken der Chariten kommt am besten zum Ausdruck durch die Verbindung mit Aphrodite. Die Chariten schimmern nicht selbst, aber Venus schimmert durch sie, d. h. Aphrodite erhält ihre Reize erst durch die Huldgöttinnen. Sie gehen nie auf Eroberung, aber die Liebesgöttin fesselt durch die Chariten die Herzen. Sie selbst suchen keine Vergnügungen, aber schließen sich den Festlichkeiten ihrer Göttin an. „Ein so liebenswürdiger Umgang mit Sitten und Empfindungen macht mild und giebt Worten und Handlungen jene Anmuth, vor deren

81 zitiert nach RE Bd. 3, Sp. 2158. 82 Ersch-Gruber, Encyklopädie, S. 425. 83 Vgl. Friedrich Wilhelm Hamdorff, Kulturpersonifikationen, S. 18. 84 „Wenn Venus sich dem schönen Hirten auf Ida in die Arme zu werfen denkt, so dient Ihr im Bade der Chor der Charitinnen, so salben diese mit köstlichem Oehle, mit süßen ambrosischem Oehle, Das der Unsterblichen Jugend verschönert, die Glieder Cytherens“ (Homerische Hymne 3, V. 61-63; nach Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 440. 85 Zum Namen erklärt Kerenyi, das Wort Aphrodite nahm in unserer Sprache die Bedeutung von „Liebesgenuß“ an. Auf dieses Geschenk der Göttin bezieht sich bei älteren Dichtern das Beiwort Chryse, die „Güldene“. Man darf es jedoch nicht zu eng fassen, denn es drückt zugleich die ganze Atmosphäre der Urania aus. Es wäre eine Verengung der Atmosphäre, wenn die Hetären die Göttin als eine von ihnen, die Aphrodite Hetaira oder Porne, verehrten; Karl Kerenyi, Mythologie, S. 65. 86 Pausanias, Griechenland, IX, 35,6. Vgl. dazu auch Eichinger: „Die Chariten sind die Begleiterinnen der Ehegöttin (Hera), ... hier sind sie der Ausdruck der gewährenden Huld des Weibes, der man später in der Peitho eine Personifikation des... Liebreizes gegenüberstellte“, Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 33. 87 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 54. 102

Eindrücken nichts bewahrt“88. Diesen Aspekt hat Wieland in den „Grazien“ ausführlich dargestellt.

Es lag im Grundwesen dieser Göttinnen, daß man vorzugsweise das als ihre Gabe erkannte, was erfreulich, anmutend, reizend war. Je mehr Aphrodite zu der Göttin wurde, „in welcher die gewinnende Schönheit, der bezaubernde und fesselnde Reiz der weiblichen Natur ihren vollendeten Ausdruck fand, desto mehr stellten die Chariten als ihrem eigentlichen Wesen entsprechend Anmut, Liebreiz, Feinheit dar, alle Züge, die für Sinne, Geist und Gemüt, der Schönheit ihre wahre Macht gaben“89. Deutlicher kann diese Wandlung in den Darstellungen der bildenden Kunst festgestellt werden, auf die noch eingegangen wird. Später wurde auch der Sohn der Aphrodite, Amor oder Eros, mit den Chariten in Verbindung gebracht. Er wohnte in den Tempeln der Grazien, tanzte mit ihnen und wenn Amor mit einem Pfeil aus dem Köcher der Chariten traf, blieb „sein Leben lang im Liebreiz“90. Auf Bildwerken findet man des öfteren die Chariten um Eros, wie sie seinen Köcher handhaben. Dennoch würde man von diesen Göttinnen nur ein schwaches, unvollkommenes Bild entwerfen, wenn man ihre Tätigkeit auf das Gebiet der Liebe und der gesellschaftlichen Vergnügungen, d. h. auf die sinnlichen Reize, beschränkte; denn ihr Einfluß auf unsichtbare Schönheit, geistige Freuden, Musik, Künste, Poesie und sogar Rhetorik ist ebenso groß91. Nicht minder bedeutsam ist die Verbindung zu Dionysos, als dessen Töchter sie auch galten. Die Chariten erschienen schon bei seiner Geburt, später als seine Gefährtinnen und in seinem Gefolge. Mit ihnen tanzte Dionysos und feierte Orgien auf dem Olymp. In Olympia und Elis errichtete man gemeinsame Altäre, und zusammen mit Musen und Nymphen wurden sie auch in Athen verehrt. In Orchomenos war der Dienst des Dionysos mit dem der Chariten und Musen eng verbunden92. Der erste Trunk beim Mahle gehörte den Chariten, Horen und Dionysos. Mit Aphrodite brachten die Chariten Dionysos den Wein. Hier tritt zwar die Auffassung hervor, daß die Chariten der ausgelassenen Lust des Dionysos Mäßigung und dadurch anmutige Heiterkeit brachten, aber im ursprünglichen Sinne war Dionysos ein befruchtender Naturgott, der im Frühling in Stiergestalt mit den Chariten erschien93. In Smyrna wurden die Chariten zusammen mit der Nemesis verehrt. Auch in den orphischen Hymnen, deren Verfasser den

88 Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 440-442. 89 Otto Jahn: Die Entführung der Europa auf antiken Kunstwerken. In: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 19 (1870), S. 33. 90 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 58. 91 nach Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 442. 92 Der Kult des Dionysos in Orchomenos, der sich mit den späteren Chariten wohl vertrug, kann sich auch schon zu den Ältesten gesellt haben; nach F. G. Welcker, Götterlehre, S. 697. 93 nach Otto Jahn, Die Entführung der Europa, S. 40. 103

Mysterienkult im Auge hatten, wurden die Chariten mit den Moiren, den Schicksalsgöttinnen, in Verbindung gebracht, mit jenen Gottheiten, die Recht und Gerechtigkeit überwachten, das Unrecht verfolgten und bestraften. Erwähnenswert ist noch die Verbindung der Chariten zu den Musen. Da diese Göttinnen gemeinsam den Dichtern und Künstlern zur Seite standen, wird auf dieses Verhältnis im nächsten Kapitel eingegangen. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Chariten außerhalb Böotiens in der Rangfolge der olympischen Götter einen untergeordneten Rang einnahmen und auch mit Gottheiten erwähnt wurden, z. B. Dionysos, durch deren Gesellschaft ihr Bild etwas getrübt wurde.

3.5 Die Chariten in der Dichtung und ihre Verbindung zu den Musen

Unter dem Einfluß der Dichtung sind „die unbestimmten Gestalten des Volksglaubens (die Chariten) zu göttinnen des liebreizes umgeschaffen, die bald zum gefolge der Hera als ehegöttin gerechnet, bald - und die anschauung erhielt das übergewicht - in die umgebung der aphrodite versetzt wurden“94. Die homerischen Dichter behandelten den Begriff mit sichtlicher Willkür. „Keineswegs ... fasste man das Wesen der Chariten ausschließlich als sinnlichen Liebreiz auf, vielmehr bezeichneten sie auch wo es sich zunächst um körperliche Schönheit handelte, das was nicht unmittelbar durch die Form gegeben ist“95. Diese anziehende und wohl auch fesselnde Macht bewahrten sie auf geistigem Gebiet, in der bildenden Kunst und in der Dichtung. Und diese Göttinnen sind es, die Pindar in seiner berühmten Ode auf die Chariten schildert, die „jeder Lebensäußerung durch Anmuth und Feinheit für edle und gebildete Menschen Werth und Glanz geben“96.

Die Dichter ließen sich den reichen Schatz von Poesie nicht entgehen, der in der Idee von den Göttinnen der Anmut lag. Ohne Unterschied der Stämme und Zeiten, denen sie angehörten, benutzten die Dichter die Namen der Charitinnen. Schon Homer und Hesiod erwähnten sie und rühmten das „jungfräulich holdselige Wesen, den lieblichen Reigentanz, den sie zusammen mit Musen und Horen aufführen“. In ihren Schilderungen bekommen Jünglinge und Mädchen das Lob höchster Schönheit, „wenn sie ihnen die wallenden Locken und die

94 Hermann Usener, Götternamen, S. 132f. 95 Otto Jahn, Die Entführung der Europa, S. 35. Aber auch Aphrodite erscheint nicht allein als Beförderin sinnlicher Freuden, sondern zugleich als göttliches Urbild reiner Anmut. 96 Otto Jahn, Die Entführung der Europa, S. 36. 104 hellen Augen der Chariten leihen“97. Für Homer und alle älteren Dichter waren die Chariten nicht drei Schwestern, sondern ein zahlreiches Gefolge anderer Gottheiten (Hera, Aphrodite, Dionysos usw.). Damit nahmen sie bei den olympischen Göttern einen untergeordneten Stand ein. Außerdem waren sie nicht alle gleich jung und blühend, sondern verschiedenen Alters. Homer hat diese Göttinnen umgewandelt. Das menschlich Reizende tritt in den Vordergrund. „Nicht zur ewigen Jungfrauenschaft und Keuschheit bestimmt,, sondern ausersehen, die Tage der Götter als Gesellschafterinnen zu verschönern“98. Einige Beispiele aus der „Ilias“ und der „Odyssee“ sollen das belegen und zeigen, wie Homer sich die Chariten vorstellt. In der „Ilias“ weben die Chariten der Aphrodite den ambrosischen Pelos, sie erscheinen als Dienerinnen der Hera, die über jüngere und ältere Grazien gebietet99, und Hephaistos bekommt eine Charitin zur Frau, da Kunst ohne Anmut keine Wirkung hat. In der „Odyssee“ baden, salben und kleiden sie Aphrodite, die sich mit ambrosischer Schönheit das Gesicht salbt, wenn sie zum Chortanz der Chariten geht; zwei Dienerinnen der Nausikaa haben Schönheit von den Chariten, und von Schönheit und Chariten (Reizen) glänzt Odysseus.

Homer hat in der „Ilias“ eine mögliche Erklärung für die Auffassung vom Wesen der Chariten hinterlassen, die spätere Dichter und Philosophen aufnehmen: „Als Thetis den Götterschmied aufsucht, damit er für Achill einen neuen Schild anfertige, ein Kunstwerk, das ihres Sohnes würdig sei, öffnet ihr das Haus die Gemahlin des Hephaistos, Charis. Homer drücke damit aus, daß zur Fertigkeit des Kunstschmiedens auch der Zauber des Kunstwerks gehöre“100. Diese Deutung ist sehr weitgehend, was den Schild des Achill betrifft; dennoch könnte die Gemahlin des Hephaistos dahingehend interpretiert werden, daß die Goldgeschmeide, die dieser Gott auch herstellte, so reizend sein sollten, wie die Gewänder, die die Chariten der Aphrodite webten101. Fest steht, daß Homer die Chariten als göttliche Wesen entwickelt und sie in sinnvoller Allegorie darstellt bzw. für sich reflektierend umgestaltet hat102 .

Der Dichtung Homers nahe kommt Hesiod. Sein erstes Werk, die Theogonie, stellt die Götter in den Zusammenhang ihrer Abstammung und Verwandtschaft. Hesiod nennt darin nur

97 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 33. 98 Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 433. 99 Hera verspricht dem Gott des Schlafes, eine der jüngeren, reizendsten Chariten, Pasithea, zum Weibe zu geben, wenn er ihr hilft, Zeus zu umgarnen und abzulenken. Über die Chariten kann die Gemahlin des Zeus also verfügen, ja, sie sogar verschenken; vgl. dazu Karl Deichgräber, Charis, S. 23. 100 Karl Deichgräber, Charis, S. 23. 101 Hier trifft dasselbe zu, was Konrad Schwenck für Aphrodite erläutert: Ares gilt als ihr Geliebter. Als Gemahlin des Hephaistos ist diese Verbindung nur allegorisch für die Schönheit der Kunst zu deuten; nach Conrad Schwenck: Etymologisch-mythologische Andeutungen, Elberfeld 1823, S. 243. 105 wenige Chariten, und ihr Wirkungskreis scheint zudem noch beschränkter, aber hier sind sie als echte Göttinnen vorhanden, nicht nur als Dienerinnen anderer Gottheiten. Durch Anmut und Wahrheit wird das Bild reichlich ersetzt. „Wer, mit der Anlage zu gefallen, die Beförderung des gesellschaftlichen Vergnügens zu seinem Endzweck macht, und überall Heiterkeit und Wohlwollen des Herzens zu zeigen sich bemühet, der kann ja wohl mit Recht der Liebling der Grazien... heißen“103. Es ist möglich, daß Hesiod deshalb Jupiter zum Vater der Grazien machte, weil er als Geber des Besten und Vollkommensten galt, und zur Mutter die Nymphe Eurynome. Der Dichter glaubte, „durch keinen bedeutendern Nahmen die höchste Eigenschaft und gleichsam die Grundlage aller Grazie, die Gabe gefälliger Mittheilung, auszudrücken... Auch diejenigen, welche Eurynome mit Eurydomene und Eurymedusa vertauschten, hatten dasselbe (zur Absicht), ... die, den Grazien,,, mit ihrer Geburt verliehene, ihnen immer eigenthümliche Allgewalt über die Sinnen und Gefühle der Menschen, allegorisch zu bezeichnen“104.

In der Theogonie berichtet Hesiod, wie Pandora geschmückt wurde, die Jupiter geschaffen hat, um das Unrecht auf der Erde zu bestrafen. Hephaistos schmiedet ihr einen goldenen Kranz und Aglaia wird ihr Gefährte. Das Furchtbare war, daß Pandora für die Menschen „ein schönes Übel“ ist. Auch in den „Werken“ erzählt Hesiod von der Erschaffung der Pandora. Hier hat Aphrodite von Zeus den Auftrag, ihr Charis über das Haupt zu gießen. Pandora wird von allen Göttern mit Gaben versehen, bringt aber den Menschen Unglück. Dennoch stehen die Chariten bei Hesiod nicht im Dienst des Bösen, sie bleiben ihrem Wesen treu. Wie Hesiod das Wirken der Chariten sieht, zeigen nicht nur die Namen, die er ihnen gibt, sondern mag auch der Auszug aus der „Theogonie“ verdeutlichen:

„Aber des Oceans Tochter, Eurynome, reizend vor allen Nymphen, wurde der drey schön wangigsten Grazien Mutter. Thalien gab sie dem Gott, Euphrosyne ihm und Aglajen. Aus den lieblichen Augen der Mädchen quillet der Anmuth Süße Fülle hervor und der Liebe zartes Entzücken“ 105.

„Freundinnen des Gesangs“ nennt Pindar106 die Chariten in der 14. olympischen Ode. Mit Gesang und Tanz erschien dieser Dichter mit seinem Chor beim Charitentempel. Auch die

102 nach Karl Deichgräber, Charis, S. 23. 103 nach Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 435f. 104 Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 437. 105 Theogonie V 907-911; nach Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 430f. 106 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 41ff. 106

Namen, unter denen er die Göttinnen in Anlehnung an Hesiod anrief107, zeigen, daß sie Gönnerinnen des fröhlichen Lebens und Treibens waren, wohlwollend Anteil an den geselligen Freuden der Menschen nahmen und als Beschützerinnen über den Festen walteten. Aber auf diese Tätigkeit allein beschränkt Pindar das Wirken der Grazien nicht. Obwohl viele antike Poeten die Chariten anriefen und besangen, wird Pindar, ähnlich wie Wieland im 18. Jahrhundert, als Graziendichter bezeichnet. Charis erscheint bei ihm in vielerlei Gestalt. Für die Darstellung der Chariten in der griechischen Poesie ist es deshalb sinnvoll, anhand einiger Werke Pindars Deutungen zu erläutern. Er war der Meinung, daß die Poesie nur dann ihre volle Wirkung erzielen kann, wenn zu einem erhabenen Stoff auch die Kunst lieblich gewinnender Darstellung hinzukommt. Er nennt die Dichtkunst den Garten der Grazien108, das Gefilde der Venus und der Grazien und gibt seine Lieder für ihre Geschenke aus. Diesen Göttinnen legt er alles bei, was Dichter sonst von den Musen, Grazien und Horen zusammen rühmen. Pindars Äußerungen lassen sich in drei Klassen einteilen109: In einigen Dichtungen nehmen die Chariten einen besonderen Platz ein. Gleich zu Beginn wird der Zuhörer auf die Charitenpoesie aufmerksam gemacht. Damit soll zum Ausdruck kommen, daß nicht Regeln für verständige Lebensweisheit oder Grundsätze der Staatskunst erörtert werden, sondern das Lied die Regungen des Gemüts, der Dankbarkeit, Freundschaft und Liebe usw. anspricht. Ohne wesentlichen Einfluß auf die Dichtungen Pindars sind die Chariten, wenn sie als Göttinnen geselliger Fröhlichkeit auftreten. Das freudige, fröhliche Leben, das sie beim Festzug entwickeln, ist ihr Werk. Bei ihrem Gesang befreunden sich Götter und Menschen und diese auch unter sich. Und wo die Chariten mit den Menschen verkehren, ist blühendes Leben und Gedeihen. In diesem Zusammenhang walten die Chariten vor dem Fest ihres Amtes, indem sie dem Dichter beim Entwurf des Festliedes mit Anmut beistehen, sind während des Festes tätig und tragen zum fröhlichen Verlauf der Feier bei. Für Pindar sind Musen und Charis110 Geschenke des Himmels. Charis, die einen guten Ruf bringt, ist die schönste Gabe, die einem zufallen konnte. Diese Gabe des Wohlgefallens darf man nicht verschmähen; man muß sie da aufsuchen, wo sie ihre vornehmste Stätte hat - in der Poesie. Sie zeigt den Sterblichen jedes Ding in einem schöneren Lichte.

107 Vgl. dazu Hermann Usener, Götternamen., S. 133. 108 Pindar gedenkt in der IX. Ode des Gartens der Chariten, die ihm Blumen und Kränze zu seinen Siegesliedern darbringen. Sie gewähren alles, was schön, lieblich, erquickend war; nach Johann Friedrich H. Krause, Musen, S. 88. 109 Vgl. Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 56ff, der für diese drei Klassen reichliche Belege liefert. 110 Auf die Bedeutung des griechischen Wortes charis, das Dankbarkeit, Freude oder Anmut ausdrückt, wird an anderer Stelle eingegangen. Bei Pindar wird charis als die Gottheit angenommen, die denselben Charakter trägt wie die Chariten, nur daß sie hier in der Einzahl genannt wird; vgl. Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 58. 107

Am besten lassen sich die liebenswürdigen Eigenschaften der Chariten, die inzwischen auch Huldgöttinnen genannt werden, aus Pindars 14. olympischen Ode ablesen, die der Dichter für den Jüngling Asopichos schrieb, als dieser beim Wettlauf gesiegt hatte111. Daraus wird deutlich, mit wieviel Ernst und Würde zu Pindars Zeiten der Charitenkult in Orchomenos begangen wurde. Außerdem erfährt man einiges über das Wesen der Chariten. Dadurch wird die Wandlung deutlich, die die Chariten durchgemacht haben. Es ist nicht möglich, in diesem Rahmen die Ode zu interpretieren. Sie soll nur insoweit erläutert werden, als sie die Veränderung des Begriffs in der Poesie verdeutlicht112. Das Besondere des Liedes113 besteht darin, daß erst in der zweiten Strophe der Sieger Asopichos genannt wird, und auch dort nicht zu Beginn. „Das Charakteristische des... Liedes liegt... darin, daß der Anruf der Chariten zu einem Hymnus auf sie erweitert ist“114. In den ersten Versen nimmt Pindar Bezug auf die Chariten als „Obrigkeit der Minyer“. Sie haben in Orchomenos den Rang von Königinnen und Beschützerinnen der Stadt. Aber dieser Herrschaftsbereich auf der Erde macht nur einen Teil ihres Wirkens aus. „Mit euch kommt alles das Liebe ja / Und das Süße herab zu den Sterblichen, / Wo ein weiser untadliger, edler Mann sich findet“115.

Die Macht über die Menschen, vor allem über die Dichter, kommt aus dem Bereich der Götter. Alle Gaben verdanken die Menschen diesen Göttinnen. Bereits in diesen Versen ist die Idee angelegt, die mit dem Wort Grazie bis heute verbunden ist. Während bei der Übersetzung ins Lateinische nichts übergegangen ist von der geheimnisvollen Seite ihres Wirkens, indem die Chariten als Natur- und Stadtgottheiten verehrt wurden, so sind dagegen die Gedanken Pindars zu den Chariten auf die Grazien übergegangen. Diese Vorstellungen machen den eigentlichen klassischen Begriff aus, der schon im Altertum das Wort „Charis“ umfaßte und der in späterer Zeit geblieben ist. Wenn ein weiser Mann bei einer olympischen Feier den Sieg davonträgt und er den Erfolg mit seinen Landsleuten teilt, ist für die Chariten der Zeitpunkt gekommen, ihr menschenfreundliches Wesen zu äußern. Großherzigkeit und Rücksicht auf andere ist etwas, wofür die Menschen empfänglich sind und sich fröhlich stimmen lassen, „es ist eine Gabe und ein Geschenk der Chariten, die vollendete Anmut, das

111 Dieser Held, gebürtig in Orchomenos, veranlaßte Pindar, einen Hymnus auf die Chariten zu dichten, sich an die Schutzgottheiten der Stadt zu wenden. Eichinger vertritt die These, daß es sich hierbei um ein Bruchstück handeln kann und versucht, diese Ansicht zu belegen; vgl. Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 24. 112 Für eine Interpretation wird auf Deichgräber, S. 31ff. und Eichinger, S. 24ff. verwiesen. 113 Diese berühmte Ode ist mehrfach übersetzt worden. Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in 2 Bde., hg. von Günter Mieth, 2. Aufl., München 1978, Bd. 2., S. 270f. 114 Karl Deichgräber, Charis, S. 31f. An anderer Stelle nennt er diese Ode ein Preislied auf die Göttinnen von Orchomenos, „.. ein Gebet in kultisch gesetzter Form“, S. 33. 115 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 23 108

Wesen dessen, was wir jetzt noch unter Grazie verstehen. Dabei wirkt diese... gewinnende Eigenschaft... auf den zurück, der reich und edel genug ist, mit den Seinigen andern Freude zu machen...“. Aber nicht nur die Menschen, auch die Unsterblichen im Olymp wollen nur mit den Chariten ihr Festmahl, ihren Tanz abhalten. „Über alles Thun im Himmel walten sie“116. In der zweiten Strophe ruft Pindar die Chariten einzeln mit Namen. Wichtig erscheint dabei, daß die in der ersten Strophe genannten drei Gaben, die sie den Menschen verleihen, jetzt jeweils einer Göttin zugeordnet werden. Glanz gehört zu Aglaia, der Göttin des Glanzes, Weisheit zu Euphrosyne, der Göttin des Frohsinns117. Als Göttin der Weisen ist sie die Göttin des Dichters selbst. Zu Thalia gehört das Schöne. Außerdem erhalten sie schmückende Beinamen. Aglaia, die Herrin, Euphrosyne, die Sangesfreundin, und Thalia wird auch als „gesangliebend“ bezeichnet. Anschließend richtet Pindar die Bitte an die Chariten: „Möget ihr jetzt hören!“ Darin ist der Wunsch eingeschlossen, dem Festchor Glück und Erfolg zu schenken, nachdem sie diesen schon im Wettkampf gewährt hatten. Die Chariten schenken also Freude und gutes Gelingen.

Es bleibt festzuhalten, daß sich die Vorstellung von den Chariten gewandelt hat, sie haben, wie andere hellenische Gottheiten, eine Umwandlung erfahren. Es sind nicht mehr Naturgottheiten, die in Gestalt von Symbolen vom Himmel gefallener Steine verehrt werden und als solche Segen spenden. Sie werden im Laufe der Zeit in der Dichtung des Altertums den Menschen nähergebracht und anschaulich gestaltet. Die Poeten haben sie ihrem ursprünglichen Verständnis als Naturgottheiten entrückt und zu Bewohnern des Olymps gemacht. Dort haben sie die Aufgabe, den Unsterblichen Freude und Frohsinn zu bringen. Diese Gedanken, mit denen die griechischen Dichter die Vorstellung von den Chariten bereicherten, sichern ihnen ein Fortleben in der griechischen Religion und darüber hinaus. Bei Pindar sind es personifizierte Stadtgottheiten. Das zeigen ihre Namen und ihr Vermögen, Freudiges zu bewirken. Sie haben Freude an Gesang und Tanz und wirken zur Freude der Götter und Menschen. Die Charitentempel zerfielen und der Name „charis“ lebte nur in der lateinischen Überlieferung, im Wort „Grazie“, weiter, aber dennoch ist der Inhalt des Begriffs derselbe geblieben, den Pindar in seiner Ode dargestellt hat. „Die Grazie ist eine gesellige Tugend, welche andern zu Gefallen die Vorzüge der Wirklichkeit ins beste Licht zu rücken

116 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 27ff. 117 Euphrosynes Name ist für den Dichter auch mit „phren“ = Verstand verbunden; vgl. Karl Deichgräber, Charis, S.33. 109 weiß und durch diese zarte Rücksichtnahme einen erfreuenden und gewinnenden Einfluß auf die Umgebung ausübt“118.

Als Schutzgöttinnen der Dichtkunst stehen die Chariten den Musen nahe und werden gemeinsam verehrt. Diese Verbindung ist lange vor Platon bezeugt, obwohl er den Kult der Chariten demjenigen der Musen unterordnete und die Chariten als Helferinnen der Musen verehrte119. Auch Hesiod erwähnt die enge Verbindung zwischen Musen und Chariten, die gemeinsam auf dem Olymp wohnten. In der „Theogonie“ sind es die Musen, „welche die Gesetze aller Dinge und die Naturen der Unsterblichen besingen; nicht weit vom obersten Gipfel des schneeigen Olympus liegen ihre glänzenden Spielplätze und schönen Behausungen; und neben ihnen haben die Chariten und der Liebreiz ihre Wohnungen in der Fülle der Freude“120. Obwohl die Dichter unter dem Schutz der Musen und des Apollo standen, konnten ihre Werke bei aller Begabung nur dann eine große Wirkung erzielen, wenn „Anmuth und Reiz sich über dieselben verbreiteten“121. Plutarch meint, man könne nur mit Musen und Chariten gemeinsam etwas Schönes in Künsten und Wissenschaften hervorbringen. Bei Theogenis singen Musen und Chariten zur Hochzeit des Kadmos die Worte „Was da schön ist, ist lieb, und das nicht Schöne ist nicht lieb“122. Deshalb gestanden die Poeten diesen Göttinnen einen großen Einfluß auf die schönen Künste zu und versicherten sich der Teilhabe ihres Schutzes, den die Chariten gern gewährten123. Man glaubte, die Chariten inspirierten die Dichter; nur mit ihrer Hilfe gefielen sie und ihre Werke. Deshalb wurden sie bei der Arbeit angerufen. Andererseits liebten diese Göttinnen ihre Verehrer und hegten sie. Dichter ohne Geschmack dagegen sollten die Chariten vernachlässigt haben, ihnen keine Opfer gebracht haben. Diese Poeten wurden dann aufgefordert, unverzüglich das Versäumte nachzuholen.

Von den weiblichen Gottheiten stehen bei Pindar die Chariten den Musen am nächsten. Er gesteht, daß er ohne ihre Hilfe nicht hätte dichten können. Sie bilden die Quelle seiner

118 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 31. 119 Platon empfahl seinem Schüler Xenokrates, der ein nüchterner Anhänger der pythagoreischen Musen war, auch den Chariten zu opfern; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 44f. 120 Theog. 62-68; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 41. 121 Nach Ersch-Gruber, Encyklopädie, S. 427. Nach RE 3, Sp. 2160, ist zwar die enge Verbindung von Musen und Chariten eine der allerhäufigsten, wurde aber schon früh zur leeren Form; es wird dabei auf Belege von Sappho, Euripides, Theokrit und Platon verwiesen. 122 Johann Friedrich H. Krause, Musen, S. 79, Anm. 3. 123 Äußerlich sichtbar wurde der Einfluß der Chariten auf die Künste vor allem in bildlichen Darstellungen. Speusippos stellte auf Platons Wunsch die Statuen der Chariten im Museum auf; diese Geste setzt einen Kult der 110 schöpferischen Phantasie und bestimmen die Wahl seiner Worte124. Ihnen zu huldigen, war ein sicherer Weg zum Erfolg. Er betete sie an, damit sie den Musen Beistand leisteten und ihm hülfen, das Ziel zu erreichen, das die Musen für den Dichter aufgestellt hatten125. Alles, was schön, ansehnlich und geistreich ist, hat von ihnen den Glanz bekommen126. In vielen metaphorischen Bildern malte er die Unterstützung und Anregung aus, in denen Musen und Chariten dem Dichter beistanden, damit etwas Vollkommenes geschaffen werde. Pindar hatte allen Grund, den Gottheiten für seine glänzenden Erfolge zu danken, womit sie „ihren Liebling“ auszeichneten, denn er fand bei den Zeitgenossen große Anerkennung. Pindar war sich dessen bewußt und führte die Vorzüge seiner Dichtungen größtenteils auf den Beistand der Chariten zurück. Die griechischen Dichter legten bei ihrem poetischen Schaffen also großen Wert auf die Unterstützung der Chariten.

Da aber die Musen zu jenen Göttinnen gehören, die der Dichtkunst nahestehen, ist es erforderlich, die Wirkungskreise gegeneinander abzugrenzen, um Wesen und Wirken der Chariten zu verdeutlichen. Am Beispiel von Pindars Oden läßt sich diese Abgrenzung zeigen, da der Dichter sowohl ein Vertreter der Musen als auch der Chariten genannt wird127. Unter Berufung auf Pindar hat man zunächst den Unterschied darin gesehen, daß die Musen den Dichter zu seinen Werken inspirieren, und die Chariten bei Festen das poetische Werk der Musen in anmutiger Weise an die Öffentlichkeit bringen128. Die Chariten waren zwar bei der Hauptfestlichkeit, beim Kosmos, vorzugsweise beteiligt. Da aber auch die Musen daran teilnahmen, führte das nicht zur Unterscheidung dieser beiden Gottheiten. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß die Musen dem Dichter zur Seite stehen im Bestreben, Wahrheit und Weisheit zu pflegen. Sie galten in der Dichtkunst als Hüterinnen der Wahrheit. Bei Pindar findet man solche Hinweise. „Eröffne die Wahrheit, Muse; ich werde sie verkünden“129. Den Dichtern oblag demnach die Pflicht, die Wahrheit über die Götter und deren Werke zu verkünden. Platon spricht der schöpferischen Phantasie des Dichters einen göttlichen

Chariten in der Akademie voraus, über dessen Form wir aber nicht unterrichtet sind und Apelles malte die Charis im Odeion von Smyrna; Paus. IX, 35; nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 45. 124 nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 44. 125 Vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 44. Auf derselben Seite, Anm. 15, gibt er Belegstellen dafür an, wo Pindar die Musen und Chariten um Beistand angerufen hat. 126 Vgl. Pindar, Olymp. Ode 14, 3ff. 127 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 60ff. 128 Vgl. dazu Otfried Müller: Orchomenos und die Minyer, S. 176: „Die Chariten sind es, welche den Festzug mit fröhlichen Gesängen geleiten, und insofern sind sie Göttinnen der lyrischen Dichtkunst, wie sie Pindar sooft anruft... Nicht als wenn sie die Musen als Liederhorte beeinträchtigen, sondern diesen ist die... eigentliche Dichtkunst vorbehalten, aber die laute Festfeier, den prachtvollen Chortanz ordnen die Chariten an“; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 61. 129 Pindar, zit. nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 65. 111

Ursprung zwar nicht ab, hält aber die Ansprüche, allwissend zu sein, für übertrieben. „Es war die Muse, die Homer mit ihrer Weisheit erfüllt hatte, und Dank der Chariten und Musen gelang es ihm, manche Wahrheit zu ahnen“130. Die Chariten dagegen verhalten sich gegen die Wahrheit gleichgültig, sogar abgeneigt. Es liegt nicht in ihrem Wesen, die Wahrheit zu pflegen, die auch abschreckend wirken kann. Diese wird nur von den Musen ertragen und geschätzt. Die Chariten befassen sich eher mit Fabeln und Märchen, die sie mit Reizen eingekleidet den Menschen unterschieben131. Deshalb schenken die Chariten auch den Dichtern ihre Gunst, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen132.

Musen und Chariten wurden also gleichermaßen von griechischen Dichtern um Beistand angerufen. Daß aber beide Schutzgottheiten der Poesie waren, wird damit begründet, daß man in der Dichtkunst ebenso der Weisheit als auch der Anmut huldigen müsse und nach beidem streben solle. Wenn also die griechische Poesie Göttinnen der Weisheit und der Anmut verehrte, so hat dazu das Bewußtsein beigetragen, daß diese Werke nicht Erzeugnisse der menschlichen Natur sind, sondern einer göttlichen Macht entstammen, d. h. die griechischen Dichter hielten sich für Diener der Göttinnen der Poesie und stellten ihre Werke unter den Schutz der Musen und Chariten133. Obwohl weder Homer noch Hesiod die Chariten für Sinnbilder der Dankbarkeit hielten, wurde den Anmutsgöttinnen dennoch diese Eigenschaft zugeschrieben. Es war von jeher ihre Tätigkeit, Sterbliche und Unsterbliche zu erfreuen und Handlungen und Worte zu verschönern. Daher hat man ihnen eine Tugend zugeschrieben, die den größten Wert dadurch erhielt, daß sie unter den Augen der Chariten ausgeübt wurde: die Wohltätigkeit. Manche Dichter und Philosophen sehen in diesen Göttinnen nichts anderes als Symbole der Wohltätigkeit. Ein Beispiel für viele liefert Chrysipp, dessen Deutung Seneca überliefert hat134. Durch diese Auslegung gerät man in Versuchung, anzunehmen, die

130 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 45. 131 „Die Charis“, die allen Zauber den Sterblichen wirkt, Bringt zu Ehren auch Unglaubwürdiges Und weiß es glaublich zu machen“; Pindar, Olymp. Ode I, 30; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 66. 132 Pindar urteilt von Homer, er sei der größte Liebling der Chariten gewesen, mit der Wahrheit aber habe er es am wenigsten genau genommen; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 66. 133 „Was ohne die Gottheit zustandegebracht ist, darf ohne Schaden verschwiegen werden“; Pindar, Olymp. Ode IX, 111; nach Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 62. 134 „Warum sind der Grazien drei, warum sind sie Schwestern, warum haben sie sich an den Händen gefaßt, warum lächeln sie? Weshalb ihr zartes Alter, warum hängen ihre Kleider so locker um ihren Körper und lassen ihn durchscheinen? - Warum sind ihre Hände fest ineinander gedrückt, warum kehrt ihr kunstvoller Reigen immer wieder in sich zurück? Die Kette der Wohltaten muß auf ihren Urheber zurückzuführen sein. Wird sie unterbrochen, so ist es aus mit der Schönheit des Ganzen. Bleiben die Glieder aber beisammen und wird die Reihenfolge beachtet, so gibt es keinen anmutigeren Anblick. Die älteste schaut würdiger aus, wie es den Gebenden ansteht; das Gesicht aller ist aber heiter, wie es sich für die Geber oder Empfänger von Geschenken ziemt. Sie sind jung, denn Wohltaten dürfen niemals vergessen werden. - Sie sind jungfräulich, denn sie dürfen nicht verdorben sein; sie sollen vielmehr rein und heilig sein. Es soll in ihnen nichts Gehemmtes und Bedingter aufkommen: ihre Kleider sind auch nicht gegürtet und lassen den Körper durchscheinen, denn man verlangt von 112

Chariten seien nur Sinnbilder der Dankbarkeit und Wohltätigkeit gewesen. Vergegenwärtigt man sich jedoch ihre Entstehung, ihre Verbindung zu anderen Göttern, ihre Beschäftigungen und ihren Dienst, so war ihre Bestimmung doch eher „die Verfeinerung der sinnlichen und geistigen Freuden“135. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, gibt es jedoch Deutungen, die die Chariten zu Göttinnen der Dankbarkeit, der Wohltaten und des Schenkens machen.

3.6 Die Chariten in der bildenden Kunst

Auch die Künstler versuchten, die Chariten ihrem Wesen gemäß körperlich mit Reiz und Anmut darzustellen, nachdem sie nicht mehr nur in symbolischer Weise als rohe Steine verehrt wurden. Es werden jedoch nicht einzelne Bilder oder Statuen beschrieben, sondern Phasen der Entwicklung erläutert, die die Darstellung dieser Göttinnen im Laufe der Jahrhunderte genommen hat, um auch auf diese Weise dem Wesen der Chariten näherzukommen. Schon früh werden die Chariten in der Kunst als Dreiverein bekleidet dargestellt. Es sind „archaische weibliche Gestalten“136. Sie haben lange Gewänder an und stehen nicht als verbundene Gruppe zusammen, sondern einzeln neben- oder hintereinander gereiht. In den Händen halten sie je nach Darstellung verschiedene Gegenstände, z. B. eine Leier, Flöte, Rose etc. In der ersten Phase sind die Chariten ausnahmslos bekleidet und mit unterschiedlichen Attributen dargestellt137. Dieser Stil, streng und gebunden, bleibt lange erhalten. Zwar werden Gewand und Haartracht einfacher, doch sind die Motive im wesentlichen geblieben. Die Göttinnen schreiten nach links und fassen sich an den Händen. Die vorderste und die letzte fassen mit der leeren Hand das Gewand. In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gibt es in Athen erstmals bildliche Darstellungen, auf denen die Attribute der Chariten fehlen und wo versucht wird, das Wesen und die Vereinigung dieser Göttinnen durch Handlung zum Ausdruck zu bringen. Sie fassen sich bei den Händen, bewegen sich in feierlichem Tanzschritt nach links und tragen Gewänder aus durchsichtigem Stoff. Die Göttinnen werden aber nach wie vor reich dargestellt, ihre Haare fallen teilweise in langen Locken auf die Schultern. Später begegnet man bildlichen Darstellungen, die teilweise

Wohltaten, daß man sie durchschauen kann“; Seneca, De Beneficiis I, 3, 2-10; nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 68. 135 Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 447. 136 W. H. Roscher, Mythologie, S. 879. 137 Im allgemeinen waren ihre Attribute Rosen, Myrthen, Würfel, musikalische Instrumente, Äpfel, Ähren oder Mohnbüschel, je nachdem, ob sie in der Umgebung der Aphrodite, des Apollon, der Musen oder des Dionysos und der Fruchtgöttinnen gedacht wurden; vgl. W. H. Roscher, Mythologie, S. 879. 113 nur literarisch übermittelt sind, die den „reizenden Körper der jugendlichen schönen Grazien unverhüllter... zeigen, und (man) lüftet ihre Gewänder, wenn ...(man) ihnen dieselben auch nicht ganz entzog“138. Sie haben z. B. den Gürtel des langen Chitons gelöst und die Gewänder sind aus durchsichtigem Stoff. Allerdings ist diese leichte Gewandung nur ein Schritt auf dem Wege zur völligen Enthüllung der Chariten. Die spätere Kunst begnügt sich nicht, die schweren Gewänder mit den steifen Falten gegen feinere zu vertauschen, deren reicher und zierlicher Faltenwurf die Formen des sich leicht bewegenden Körpers durchschimmern läßt. Seitdem man es gewagt hat, Aphrodite nackt darzustellen, entkleidet man auch ihre Begleiterinnen139. Ein unbekannter Künstler erfindet die Gruppe der drei nackten Chariten. Die Musen werden dagegen immer bekleidet dargestellt. Die Nacktheit der Chariten in der Kunst widerspricht durchaus ihrem Wesen. Dieses ist auf den Einfluß der Malerei zurückzuführen. Damit wird das Streben nach sinnlichem Reiz zwar unverkennbar, aber diese Art der Darstellung steht der alten Vorstellung von den Chariten fern140. Als Attribute halten die Chariten in der freien Hand Blumen, Früchte oder Zweige, die der in römischer Zeit wieder lebendigen Naturbedeutung entsprechen.

Fast alle Darstellungen der nackten Chariten sind Wiederholungen eines einzigen Typus, dessen Elemente bis ins Detail so ausgewogen sind, daß Äußerungen ihn nur verderben konnten. Jahn nennt es eine gefällige, abgerundete Komposition von anmutigem Reiz141. Diese Art der Darstellung, die die drei unbekleideten Mädchen mit verschlungenen Armen in leichter, aber fester Verbindung zeigt, hatte im Altertum eine ungewöhnliche Popularität, wie die noch erhaltenen zahlreichen Nachbildungen in Statuengruppen, Reliefs, Wandgemälden, Gemmen, Münzen u.a. zeigen142. Auch jüngere Künstler wie Raphael, Thorwalden. Canova u. a. sind nicht von dieser Darstellung abgewichen143. Das Charakteristische der Abbildungsart

138 Ersch-Gruber, Encyklopädie, 432; vgl. dazu Winckelmann. Er mag an diese Graziengruppe gedacht haben, als er in seiner Abhandlung „Von der Grazie in den Werken der Kunst“ schreibt: „Man würde sie (die Grazien) nicht in Galakleidern, sondern wie eine Schönheit, die man liebte, im leichten Überwurf kürzlich aus dem Bette erhoben, zu sehen wünschen“; in: Ausgewählte Schriften, eingel. von Hermann Uhde-Bernays, Leipzig o.J., S. 79. Anschließend macht er Raphael u.a. den Vorwurf, daß er für die Grazien statt der leichten, die schweren Gewänder gewählt hat, die gleichsam wie Verhüllungen der Unfähigkeit das Schöne zu bilden, anzusehen sind. 139Nach RE 3, Sp. 2167, wird diese völlige Nacktheit der Chariten bereits im 3. Jahrhundert durch Kallimachos und Euphorion bezeugt; vgl. auch „...die hellenistische Zeit in ihrem Streben nach sinnlichem Reiz schuf... den nackten Charitentypus; doch fand derselbe solchen Anklang, daß wir in römischer Zeit... gar keine bekleideten Chariten mehr nachweisen können“; W. H. Roscher, Mythologie., S. 883. 140 nach RE 3, Sp. 2165ff. 141 Otto Jahn, Die Entführung der Europa, S. 35. 142 Vgl. Lipperts „Daktyliothek“. Sammlung antiker Gemmenabdrücke, Aufl. von 1767 (deutsche Übersetzung), S. 271ff., Nr. 763-767. Vgl. auch Christian Adolf Klotz: Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrucke, Altenburg 1768. Vgl. auch ders. Beytrag zur Geschichte des Geschmacks und der Kunst aus Münzen, Altenburg 1767, S. 153 und 53. 143 Vgl. dazu Emil Braun: Griechische Götterlehre, 2 Bde., Hamburg/Gotha 1854, Bd. 1, S. 284f. 114 ist folgendes: die drei Figuren stehen vereinigt so nebeneinander, daß die mittlere von hinten gesehen wird, die beiden äußeren legen ihre inneren Arme je auf eine Schulter der mittleren. Letztere legt den linken Arm auf die Schulter der links stehenden, mit der Rechten hält sie ihr Attribut nach rechts hinaus, wohin sie auch ihren Kopf wendet. So erscheint er im Profil. Die anderen beiden neigen ihre Köpfe etwas nach außen und stehen je auf dem äußeren Bein fest, so daß die entlasteten, etwas zurückgezogenen Beine in das Innere der Gruppe fallen, die mittlere wird auf dem rechten Standbein dargestellt144. „Indem so die streng symmetrische Anordnung durch die Bewegung der Arme und des Kopfes der mittleren rhythmisch gemildert wird, ... entsteht, namentlich... durch die Abwechslung von Rück- und Vorderansicht eine überaus reizvolle Komposition“145.

Trotz der zwanglosen Freiheit, mit der sich die drei Göttinnen nach allen Seiten zu bewegen scheinen, sind sie doch eng miteinander verbunden, d. h. sie „scheinen“ miteinander verwachsen zu sein. „Die schöne Gruppe von drei nackten Jungfrauen, welche sich wechselseitig umschlungen halten, muß als der höchste Ausdruck des Begriffs zwangloser Freiheit, welche sich in der Anmuth uns zum sinnlichen und geistigen Genuß darbietet, betrachtet werden, nach dessen Verkörperung sich die griechische Kunst während der ganzen Dauer ihrer Entwicklung gesehnt, von dem sie... besessen gewesen ist. Es hat lange gedauert, bevor sie sich eines ebenso einfachen als allseitigen Ausdrucks bemächtigt hat, und jene Gruppe darf in Wahrheit als das Symbol eines solchen Strebens nach echter Anmuth betrachtet werden“. An anderer Stelle erklärt Braun, warum gerade von dieser Gruppe eine solche „Zauberwirkung“ ausgeht. Diese verdanken die drei Chariten „der vollendeten Bildung, welche die Natur aufzuweisen hat, zu einem in sich selbst beschlossenen Ganzen. Alle Anmuth beruht wesentlich auf dem Zusammentreffen zarter Entfaltung und unbewußter Selbständigkeit. Der Mittelpunkt, welcher der letzteren einen gemeinsamen Halt gibt, darf nicht absichtlich hervorgehoben werden und muß doch augenfällig sein. Ohne eine solche gleichmäßige Abrundung vermag weder die feinste Gliederung, noch die angemessenste Bewegung jenen eigentümlichen Reiz zu erzeugen, welcher dem Erhabenen das Gegengewicht hält... Beide Eigenschaften treten in der Gruppe der drei Grazien auf die

144 nach W. H. Roscher, Mythologie, S. 883.Vgl. hierzu die Abhandlung von Johann Joachim Winckelmann, Von der Grazie in den Werken der Kunst, S. 74f.: „Stand und Gebärden an den alten Figuren sind wie an einem Menschen, welcher Achtung erweckt und fordern kann... . Im ruhigen Stand, wo ein Bein das tragende ist und das andere das spielende, tritt dieses nur so weit zurück, als nötig war, die Figur aus der senkrechten Linie zu setzen...“ 145 W. H. Roscher, Mythologie, S. 883. 115 edelste Weise in Spannung....“146. Es hat lange gedauert, bis die bildende Kunst zu einem so konkreten Ausdruck dieses mythisch gefaßten Gedankens kam. Sie hat sich teilweise mit ungenügenden Darstellungen begnügen müssen. Sogar von der Poesie hat sie sich dafür Hilfe entlehnt und durch Namensinschriften, Embleme usw., die den Sinn erläutern sollten, den bildlichen Vortrag ergänzt. Die bildende Kunst bleibt zunächst hinter der Dichtkunst zurück, die es versteht, mit wenigen Worten die unlösbare Verbindung und das Wesen jeder dieser drei Göttinnen hervorzuheben. Dabei bleibt, im Gegensatz zu Braun, die Frage offen, ob eine leichte Gewandung nicht ähnliche Aussagekraft gehabt hätte. Mit der im Altertum zu so ungewöhnlicher Popularität gelangten Gruppe war es der Kunst möglich, mit der Poesie zu wetteifern. Diese Statue führt die „hohe Bedeutung jener wahren, gesteigerten Einheit vor Augen, welche auf Eintracht und nicht auf selbstsicherer Zurückgezogenheit beruht, und ohne welche jene göttlichste aller Erscheinungen, echte und dauernde Harmonie, nicht denkbar ist“147. Diese Harmonie veranschaulicht auch die Gruppe, die Pausanias in den Propylaen in Athen sah und dem Philosophen Sokrates zuschrieb148. Ob die Gruppe tatsächlich auf Sokrates zurückgeht, ist fraglich, aber von untergeordneter Bedeutung, „daß aber gerade von ihm eine Gruppe von Chariten erwähnt wird, ist bedeutsam. Ohne die Mitwirkung eines philosophischen Genies...(der) die sittliche Veredelung des Menschengeschlechts vor Augen hatte, wäre diese Idee vielleicht nie zu einer so allseitig vollendeten Entwicklung gelangt... Nichts vermag den auf das Prinzip wahrer sittlicher Freiheit begründeten Götterhaushalt treffender zu veranschaulichen, als jenes von der... Phantasie ausgetragene und unter Einfluß der Weisheit zustandekommene Kunstwerk“149.

3.7 „Charis“ in der Antike

Obwohl die Chariten allgemein bekannt waren, bereitet es Schwierigkeiten, den Inhalt von „Charis“ zu erklären bzw. begrifflich zu fassen. Das lateinische „gratia“ ist dafür im Deutschen verbreiteter. Die Worte Freude, Reiz, Anmut, aber auch Dankbarkeit, Wohlwollen sind nur Annäherungen. „Charis könnte ein Urwort hellenischen Geistes heißen“150.

146 Emil Braun, Götterlehre, Bd. 1, S. 283, § 376. 147 Emil Braun, Götterlehre, Bd. 1, S. 285f. 148 Es handelt sich um das Bild Nr. 3 (Tafel 4 von Schwarzenberg). Diese Huldgöttinnen waren noch bekleidet, ein Umstand, der zeigt, wie langsam und allmählich die letzte Entfaltung der lange vorbereiteten Blüte zustande gekommen ist; nach Emil Braun, Götterlehre, Bd. 1, S. 286. Vgl. dazu Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 16, der mehrere überzeugende Belege dafür liefert, daß die Annahme Pausanias falsch sein muß. 149 Emil Braun, Götterlehre, Bd. 1, S. 286. 150 Karl Deichgräber, Charis, S. 7. 116

Wahrscheinlich gibt es keine moderne Sprache, die imstande ist, das Verhältnis zwischen Reiz und Dankbarkeit mit einem Wort auszudrücken. Die Griechen waren sich dieses Verhältnisses bewußt. Was Schwarzenberg151 mit „Reiz“, „Dankbarkeit“ umschreibt, ist in der Literatur dahingehend gedeutet worden, daß es für „charis“ zwei Auslegungen gibt. Schon bei Homer kommt das Wort in beiden entwickelten Bedeutungen vor152.

Bevor diese Richtungen erläutert werden, seien einige ethymologische Erklärungsversuche vorangestellt153. „Wort und Name charis beruhen auf der Wurzel char, dadurch sind Charis als Wertbegriff und Chariten als Göttinnen wesentlich mit Freude verbunden“154. Die Wurzel charis wird aus dem Sanskrit „har“ abgeleitet, was „erglänzen“ bedeutet155. Andere Erklärungen gehen davon aus, daß die alte Wertung der Wurzel „char“ im Griechischen nicht untergegangen ist, wofür das Adjektiv charopos = mit feurigen Augen, das Verb „chairein“ und der Appellativ „Charis“ sprechen. Bei den beiden letzteren sei die Bedeutung „aufstrahlen, erglänzen“ auf den freudigen Ausdruck der Augen übertragen worden156.

Obwohl Kerenyi „charis“ als Grund von „charein“ = sich freuen deutet, sieht er in „charis“ den Gegensatz zu „erinys“157, ein Aspekt, auf den nicht weiter eingegangen werden kann. Interessant ist jedoch seine Feststellung, daß die Lateiner zwei Wörter brauchen, um „charis“ zu übersetzen: venus, die Schönheit, womit sie die Liebesgöttin Venus benannten, und gratia, Gunst und Dank158. Immer wieder begegnet man diesen beiden Richtungen159. Für andere hat

151 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 2; vgl. dazu Anm. 8: „Die Welt der Chariten zeigt aber ihr Wesen erst ganz, wenn man versteht, daß die Huld, die hier eine göttliche Gestalt ist, nicht bloß das Anmutig-Reizende, Schenkend-Beglückende bedeutet, sondern auch die Freude und Erkenntlichkeit des Beglücktseins, des Beschenktseins. Es ist... das wunderbare Reich des Schenkens und Dankens in Einem des liebevollen Gebens und liebevollen Nehmens, wo Recht und Gerechtigkeit eine ganze Welt, in der das Subjekt und das Objekt beide eines sind, aufgehoben in dem göttlichen Glanz eines höheren Seins“. 152 „Charis“ als Anmut = Odessee II, 12; als Wohltaten = Odyssee IV, 695; Homer: Odyssee, übertr. Johann Heinrich Voß, München o. .J., S. 23 und 59. 153 Vgl. Latein und Griechisch im deutschen Wortschatz. Lehn- und Fremdwörter altsprachlicher Herkunft, Berlin 1979, S.1-69, bes. S. 21 Stichwort „chairein“ = sich freuen; „charis“ (Gen. charitos) = Anmut, Dank; „Chariten“ = Göttinnen der Anmut; „Charisma“ = Gnadengabe. 154 Karl Deichgräber, Charis, S. 11.Vgl. dazu Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 1, Anm 1: „Die Ausdrücke der Freude können mannigfaltig sein, doch wurzeln sie alle im Drang der Menschen, ihre Kräfte auszugeben, etwas von sich zu geben. Charis bedeutet sowohl die Freude der Liebe, als auch die Freude, die das Schenken begleitet. In sekundärer Bedeutung bezeichnet sie die Freude der Rückgabe, der Dankbarkeit“. 155 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 1. 156 Hermann Usener, Götternamen, S. 132. 157 Karl Kerenyi, Mythologie, S. 81. Er ist der Meinung, daß beide Aspekte: charis auf der einen Seite, erinys, Zorn und Rache auf der anderen zwei Erscheinungsformen einer und derselben großen Göttin seien. Daraus leitet er eine Dreiheit von Göttinnen ab, „der drei Grazien, die bei Mondschein ihren Reigen tanzten“. Mit Deichgräber soll dazu kritisch angemerkt werden, daß Kerenyi diese Göttinnen „in einer gewagten Hypothese sogar zu dem zu- und abnehmenden Mond in Parallele setzt“, S. 73. 158 Karl Deichgräber, Charis, S. 73. 117

„charis“, das Dankbarkeit, Freude, Anmut bedeutet, einen doppelten Sinn160. Einmal erhält es die Bedeutung von „den Drang, zu geben“, „Dankbarkeit“ oder von „Wohltätigkeit“161. Das scheint die ursprüngliche Bedeutung von „charis“162 zu sein, andere Deutungen gehen davon aus, daß es das Griechische gewesen sei, „das mit feinem Gefühl die Grazie als eine hervorragende Eigenschaft des menschlichen Denkens und Thuns zuerst beobachtete und wie eine Gottheit mit Tempeln und Altären ehrte“163. Später bekam „charis“ eine andere Bedeutung, nachdem der Begriff „Anmut“ im Griechischen auch auf die persönliche Grazie überging. Während in der ersten Bedeutung „charis“ nur auf das menschliche Leben Bezug nimmt, wird es bald auch Personen beigelegt. So sind bei Homer die Chariten die Begleiterinnen der Aphrodite, denn Schönheit ohne Anmut fesselt nicht. Die Deutung „charis“ im Sinne von Dankbarkeit haben sich zwar auch Dichter, im 18. Jahrhundert auch Herder und Goethe164, zugewandt, aber in der Antike sind es die Philosophen, die versuchen, in allegorisch-symbolischer Weise Wohlwollen, Wohltaten und deren denkbare Wiedervergeltung zu deuten. Aristoteles hat den Begriff noch mehr eingeengt165. Er definiert charis als „die Eigenschaft, die den Menschen bewegt, sich um einen anderen zu kümmern, nicht als für eine vergangene Wohltat, auch nicht mit der Absicht, einen Vorteil

159 Auch wenn Johann C. F. Manso, Mythologie, S. 436, Anm. X, meint, „charis“ bezeichnete ursprünglich alles, was angenehm ist und angenehm macht und das meiste, was man von den Grazien sagt, sich in diesem Begriff auflöse, so steht diese Definition den zwei Richtungen nicht im Wege. 160 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 12. Einerseits bedeutet es Huld, Reiz, Anmut, ein herzerfreuendes Wesen, zu dem man sich hingezogen fühlt, weil man freundliche Aufnahme und wohltätiges Begegnen erwartet; andererseits drückt es auch Dankbarkeit aus, die der Mensch solchem entgegenbringt. 161 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 120. Die Theorie dieser Art von „charis“ findet man bei Demokrit, die Schwarzenberg näher erläutert. Danach war „charis“ für das Weiterleben des Staates unentbehrlich. Man meinte, alle seine Mitglieder sollten geben, restlos geben, aus eigenem Wollen und ohne Vergeltung zu erwarten. Andererseits wurde aus der Entschlossenheit, mehr zurückzugeben, eine Bedingung der Annahme. Es soll darauf geachtet werden, daß die Geschenke auf fruchtbaren Boden fallen und größte Dankbarkeit erzeugen. Zur Zeit, als die Menschen auf den Ackerbau angewiesen waren, um sich zu ernähren, waren sie sich dessen bewußt, wie sehr sie von den Kräften der Natur abhängig waren. Sie vermuteten in diesen Mächten der Natur Gefühle und Leidenschaften, die den seinen entsprachen. Zu diesem Gefühl gehörte auch charis, die wirkliche Ursache sowohl der Geschenke der Götter als auch der Gegengabe der Menschen: die Götter nahmen die Opfer der Menschen entgegen, dafür empfingen die Menschen dankbar die Gaben der Götter. Man opferte nicht aus Pflicht, Furcht und Erwartung, sondern aus Dankbarkeit, aus dem Drang, etwas von sich zu schenken; S. 26f. 162 J. Nickel: Studien zum Wortgebrauch Goethes: Anmut, anmutig, Diss. Berlin 1955, S. 7. 163 Ferdinand Eichinger, Chariten, S. 12. 164 Herder nennt die drei „Grazien des Lebens“ Wohlwollen, Dankbarkeit und Freude; vgl. Johann Gottfried Herders sämmtliche Werke. Zur schönen Literatur und Kunst, Tübingen 1806, Bd. 6 „Das Fest der Grazien“, S. 193ff.; im „Faust“ II bringen die drei Grazien zum Ausdruck: „Aglaia: Anmut bringen wir ins Leben; Leget Anmut in das Leben! Hegemone: Leget Anmut ins Empfangen! Lieblich ist‘s, den Wunsch erlangen. Euphrosyne: Und in stiller Tage Schranken Höchst anmutig sei das Danken!“; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bde., München 1977. Unveränderter Nachdruck der Bände 1-17 der Artemis- Gedenkausgabe, hg. Ernst Beutler, 2. Aufl., Bd. 5, Zürich 1977, S. 311. Zum Vergleich zwischen Herder und Goethe vgl. J. Nickel, Wortgebrauch, S. 26. 165 Vgl. Karl Deichgräber, Charis, S. 53f., der meint, daß sich weder in Aristoteles Poetik, Rhetorik, noch in seiner Philosophie Gedanken über „charis“ finden, die an die ursprüngliche Fülle des Begriffs erinnern. 118 daraus zu gewinnen, sondern nur um der Person willen, um die man besorgt ist“166. Damit schränkte er „charis“ auf den Bereich des Schenkens ein, und die Chariten waren Göttinnen des freundlichen Gefälligseins. Nach Deichgräber gehört Aristoteles’ „charis“ damit nur in den Bereich der Ethik.167. Für Platon liegt das Charakteristische von charis in der ihr eigentümlichen Gegenseitigkeit und Wechselwirkung. „Charis“ ist ein hellenischer Begriff, „Schönheit und Anmut, gewählte, angenommene und vergoldete Gunst“168. Deichgräber weist darauf hin, daß bei Platon das Schöne und Gute identisch sind169. Diese Deutung Platons weist schon auf den anderen Bedeutungsinhalt hin, der mit „Freude, Reiz, Anmut“ umschrieben werden kann und der im 18. Jahrhundert große Verbreitung fand. In diesem Zusammenhang sei noch ein anderer Aspekt angesprochen, den schon Platon erwähnt, den aber auch spätere Philosophen berücksichtigen und der ebenfalls der zweiten Deutung von charis nahekommt: der des Tanzes170. Die Chariten waren leidenschaftliche Tänzerinnen, und die Menschen huldigten ihnen, indem sie ebenfalls tanzten.. Platon, der in seinen Schriften keinen Ritus für die Verehrung dieser Göttinnen vorschreibt, weist darauf hin, daß man mit dem Tanzen diese Göttinnen am besten erfreuen könne171. Die Menschen tanzen der Freude wegen, denn charis bedeutet auch Freude, und die Feste standen unter dem Schutz der Chariten172.

Platon leitet das Wort „choros“ (Tanz) von „chara“ (Freude) ab. Alles, was im Spiel gemacht wird, strahlt charis aus. Anmutig ist nur, was spielend erzeugt wird. Tanzen ist das beste Beispiel für eine Tätigkeit, die zugleich fröhlich und anmutig ist. Solange der Mensch tanzt, ist er nicht der Notwendigkeit ausgesetzt, die ihn in seinem alltäglichen Leben bestimmt. Er fühlt sich frei, ohne den Gesetzen der reinen Vernunft zu gehorchen. Und charis gehörte zu den Eigenschaften, derentwegen die Griechen bewundert wurden. Es ist eine unentbehrliche Eigenschaft des freien Menschen und kennzeichnet jene Tätigkeiten, die der Muße entsprungen sind, die im Spiel geübt wurden, aber nicht kindlich waren. „Charis“ ist eine göttliche Eigenschaft, da der Mensch den Göttern ähnlich wird und, sofern er frei ist, sich frei

166 E. Cope/J. Sandys: The Rhetoric of Aristoteles, Vol. III, 1877, pag. 87-93; nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 50. 167 Karl Deichgräber, Charis, S. 53. 168 J. Stenzel: Platon der Erzieher, Leipzig 1928, S. 233. 169 Karl Deichgräber, Charis, S. 50. 170 Gemäß der religiösen Bedeutung galt das Tanzen als eine besondere moralische Beschäftigung. 171 Nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 46. Diese Art der Götterverehrung findet man an manchen Kultstätten Griechenlands, z.B. in Delos. In Orchomenos aber galt der Tanz den Chariten allein. Er war dort der ursprüngliche, wesentliche Teil des Kultes. 172 Singen und Tanzen waren ursprünglich nicht getrennte Tätigkeiten; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 46. 119 bewegt. Die Griechen versuchten, diesen Gedanken auszudrücken, indem sie sich die Chariten als jugendliche Gestalten vorstellten, die tanzten173.

Hier sind Ansätze vorhanden, die in der zweiten Bedeutung von charis liegen. In der Philosophie wurde charis mit „edoné“ gleichgesetzt, als Ausdruck für Lust und Freude, Die Antike kennt keinen Unterschied zwischen beiden174, dennoch scheint charis mehr eine Ursache von edoné. Während dieses Lust und Freude bezeichnet, bezieht sich charis auf die Anziehungskraft, die der Mensch auf andere ausübt; dabei wird auf den Zauber der Aphrodite hingewiesen.175 Die magische Kraft ist substanzlos. Eine Frau, die charis besitzt, erweckt bei den Männern das Begehren, sie zu besitzen, aber es ist nicht das gleiche, was diese anzieht. Damit wird charis eine Frage des Geschmacks. Feststeht, daß sich charis vorzugsweise auf Empfindungen bezieht. Am leichtesten läßt sich charis in der Liebe verfolgen, weil dort die Wirkungen am stärksten sind. Liebende und junge Ehepaare wandten sich an die Chariten, denn sie waren die Verkörperung von charis. Das Verhältnis von charis zu edoné gleicht dem der Chariten zu Aphrodite. Wie die Chariten diese Göttin bedienten, so ist charis eine Begleiterscheinung der Liebe. Mit der Erfüllung der natürlichen Bedürfnisse hören Reiz und Lust auf. Da der Mann aber immer von neuem gereizt werden möchte, ist charis jene Begabung, ihn zu erregen176. Charis und edoné sind Empfindungen, die vergänglich, aber dementsprechend begehrt waren.

Mit der Schönheit verhält es sich, zumindest in der Antike, anders177. Die Schönheit galt als etwas Ewiges. Trotzdem findet man im Altertum manchmal „kallos“ und „charis“ zusammen erwähnt. Das mag folgenden Grund haben: eine häßliche, schlecht proportionierte Frau wirkt auf Männer eher abstoßend. So scheint die Schönheit eine notwendige Bedingung von

173 nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 46ff.; 54. 174 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 73f.; 46f. sowie Karl Deichgräber, Charis, S. 50f. Auch für Aristoteles bedeutete „charis“ sowohl Lust als auch Freude. Dieses kann sich auch auf Freuden der Liebe, des Essens, des Trinkens beziehen. Da der griechische Sprachgebrauch eine Trennung dafür nicht kannte, kann es sich auf viele Dinge beziehen: auf die Freuden einer angenehmen Gesellschaft, auf das Genießen eines Kunstwerkes, auf das Wohlgefühl, das aus dem Bewußtsein kommt, richtig gehandelt zu haben, jemandem eine Freude bereiten oder ein Geschenk gemacht zu haben. Aristoteles hat charis in seinem Sinne ausgelegt und es auf das Gefälligsein, Schenken bezogen; nach Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 48ff. 175 Das französische Wort „Charme“ enthält etwas von einer magischen Kraft und die Chariten besaßen von Anfang an, was man heute „Charme“ nennt. Doch geht das französische Wort auf das lateinische carmen zurück, hat also mit charis nichts zu tun; nach Karl Deichgräber, Charis, S. 74. 176 Vgl. dazu Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 75, Anm. 12: Abwechslung und Bewegung sind die Bedingungen der charis. Quintilian, Inst. I, 13,8. 177 Die Verwechslung der Schönheit mit der Anmut, die im 18. Jahrhundert geläufig war, beruht auf der Ausdrucksweise der Verliebten; Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 75. 120

„charis“. Im Unterschied dazu wird „kallos“ oft definiert. Eine beliebte, und vielleicht die älteste Definition dafür ist das geregelte, gelungene Verhältnis der Teile zueinander: das Schöne ist also symmetrisch. Das Schöne und das Gute galten als Eigenschaften, „welche Eigentum der Wesen war, in welchem man sie erkannte. ... Nach dem Schönen zu streben, als ein gemeinsamer Zug aller Menschen. Eigenschaften des Schönen waren vor allem Einfachheit und Ewigkeit“. Charis dagegen war eine Eigenschaft, die weder durch die Menschen verbessert werden konnte, „noch durch Vernunft interpretierte Natur ist. ‘Charis’ ist Gegenstand einer unmittelbaren Erkenntnis“178 und läßt sich nicht mit Worten beschreiben. Es ist nicht möglich, sie bewußt zu besitzen. Noch in „Faust II“ spricht Goethe die Unterschiede zwischen Schönheit und Anmut an179. Es bleibt festzuhalten, daß die Griechen charis als Ausdruck des „unmittelbar Lebendigen“180 empfanden, auch wenn es dafür keine Definition gibt. Als Begleiterscheinung alles Lebendigen und Vergänglichen kommt charis besonders in der Bewegung, in Gebärden, beim Tanz zum Ausdruck und gilt als eine geschätzte, bewundernswerte Eigenschaft. Aber alles, was man über charis sagen kann, ist, daß sie göttlich ist, eine Erklärung, der man in der Antike in bezug auf das dichterische Talent begegnet.

Nach 1500 beschäftigen sich Schriftsteller und Kunsttheoretiker mit diesem Begriff181. Seit der Antike ist charis mehr im Sinne von Gnade, der Gnade Gottes, verwandt worden, die eine Gabe ist182. Mit der Wiederentdeckung der Bedeutung von Gratia in der Renaissance spricht man ihr ebenfalls einen göttlichen Ursprung zu und erklärt sie mit Mitteln des christlichen Glaubens: charis des Antlitzes ist ein Nachklang, eine Widerspiegelung der Gnade Gottes, die sich in der Seele befindet. Da Gott die Ursache des Lebens ist, ist er auch der Urheber seiner Reize und der Anmut. Die unsterbliche Seele verrät sich durch viele kleine Gebärden ihres Körpers. Aus der Grazie durfte man auf die Gnade Gottes schließen. Erst dem 18. Jahrhundert ist es vorbehalten, der Anmut eine andere, säkularisierte, aber durchaus tiefe Bedeutung zu geben.

178 Kunstwerke verkörpern die Gesetze der Symmetrie vollkommener als Naturgeschöpfe. Das Kunstwerk war den Naturgegenständen in bezug auf „kallos“ also überlegen. Zwar wurde der Natur eine gewisse Schönheit zugesprochen, dieses war aber nur möglich, weil die Natur selbst als Kunstwerk aufgefaßt wurde; vgl. Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 75f. 179 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 5, S. 376. Schönheit ist etwas Starres, Unbewegliches, die mit dem Reiz der Anmut verbunden sein muß, um unwiderstehlich zu wirken bzw. um überhaupt zu wirken. Schönheit allein läßt kalt, sie ruht in sich selbst, ist sich selbst genug, während Anmut sich mitteilt und sympathische Gefühle erweckt. 180 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 77f.; die folgenden Ausführungen stützen sich auf diese Quelle. 181 B. Castiglione soll der erste gewesen sein, der sich eingehender mit dem Thema beschäftigte; Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 77. 121

3.8 Die Chariten in der Literatur bis zum Ende des 17. Jahrhunderts

Mit der Neubelebung der Antike wurden viele Werke klassischer Autoren übersetzt. Damit haben neben anderen mythologischen Gestalten auch die Chariten Eingang in die neuere Literatur gefunden, die aber zunehmend mit dem lateinischen Namen Grazien benannt werden. Für diesen Themenbereich sind vor allem zwei Quellen zu nennen, die bei den Anakreontikern eine Rolle gespielt haben: • die unter dem Namen des griechischen Lyrikers Anakreon (6. Jh. v. Chr.) erschienene Sammlung griechischer Lieder aus alexandrinischer und nachchristlicher Zeit183 und • die griechische Anthologie des Planudes, die bereits im 16. Jahrhundert in mehreren Übersetzungen verbreitet war (erste Übersetzung 1494 von Lascaris in Florenz).

Aus der Sammlung der griechischen Lieder gewinnt man nur ein oberflächliches Bild von den Grazien: es sind heitere, tanzende Mädchen, mit Rosen bekränzt, die sie im Frühling zum Blühen bringen, und sich zu Amor, Venus und Bacchus gesellen. Heiterkeit und Freude sind die Elemente dieser „naiven Göttergestalten“. Die Verbindung der Grazien zu den Dichtern wird nicht thematisiert, obwohl es bereits in der Antike ein beliebtes Motiv war, und auch die Anakreontiker im 18. Jahrhundert des öfteren variieren184. Die griechische Anthologie spielt für dieses Thema eine größere Rolle. Wie Pomezny belegt, finden sich hier schon Bezüge der Grazien zu den Menschen, die sich aus Liebe zu diesen äußert. So wird z. B. ein Mädchen die vierte Grazie genannt bzw. wird zu einer der drei Grazien erhoben, oder es verdankt ihren Reiz den Grazien, und die Verleihung des Reizes an die Menschen kann durch Umarmung dieser Grazien erfolgen. Die Göttinnen verleihen also Reiz bzw. die menschlichen Vorzüge werden als grazienhaft bezeichnet. Auf diese Motive beschränkt sich zwar fast die Anthologie, aber durch vielfältige Variationen bilden sie dennoch den Kern der griechischen Überlieferung. Daneben werden wieder Grazien und Musen gemeinsam erwähnt, auch die Verbindung zu den Dichtern ist ein beliebtes Thema.

182 Erkander Schwarzenberg, Grazien, S. 79 und Anm. 28. 183 die 1554 von Henricus Stephanus (Henri Estienne) in Paris herausgegeben wurde. Im übrigen sei auf die ausführliche Darstellung der literarischen Tradition bei Herbert Zemann verwiesen; Nachwort zu Johann Nikolaus Götz: Die Gedichte Anakreons und der Sappho Oden. Faksimiledruck der Ausgabe von 1760, Stuttgart 1970, S. 21f. 184 Pomezny, S. 3; im übrigen stützt sich das gesamte Kapitel auf seine Ausführungen. 122

In der Dichtung der Renaissance sind die Grazien zwar vorhanden, ihr Wirkungskreis beschränkt sich aber einmal auf die Rhetorik, wo sie als mythologische Verzierung, als Schmuck der Rede, erscheinen. Zum anderen vergleichen die Dichter die Geliebte oder andere Persönlichkeiten mit den Grazien. Auch bei den Schriftstellern des 17. Jahrhunderts bleiben diese Göttinnen nur vereinzelt auftretende Gestalten, die kaum als mythische Elemente betrachtet werden können. Allerdings ist hier Flemming erwähnenswert. Bei ihm wird die Vorstellung der Grazien zum Bild der idealen Mädchengestalt. „Er hat drei schwestern vor sich, die er mit den Grazien vergleicht, die mädchen hat er vor augen; nach ihnen bildet er seine vorstellung der huldgöttinnen“185. Flemming sieht also einmal die angenehmen Eigenschaften der Menschen als Gaben der Grazien, zum anderen versuchte er, die Vorstellung sinnlich dadurch zu verdeutlichen, daß er die Grazien durch menschliche Züge bereicherte. Im 18. Jahrhundert tritt diese mythologische Bedeutung zurück. Die Grazien werden zur idealen Gestaltung eines ästhetischen Begriffs, der Anmut.

185 Pomezny, S. 11. 123

4 Der Anmutsbegriff im 18. Jahrhundert

Für den Begriff „Anmut“ gibt es weder in der Antike noch in der Neuzeit einen einheitlichen Sprachgebrauch1. Sie zielt auf diejenige Form der Schönheit, die sich durch den besonders in der Bewegung liegenden Reiz einer ungezwungenen Natürlichkeit auszeichnet. Anmut in diesem Sinne erstrebt Gefälligkeit bzw. bewirkt Gunst.

4.1 Voraussetzungen in der deutschen Anakreontik

„Die anakreontische Poesie erweist sich als eine Entwicklungsstufe der deutschen Lyrik und zugleich als Durchgangsstadium einzelner bedeutender Dichter...“2. Es wird sogar der Standpunkt vertreten, daß um die Mitte des 18. Jahrhunderts kein Dichter nachweisbar ist, „bei dem sich nicht wenigstens anakreontische Motive fanden“3. Auf jeden Fall huldigten neben Jacobi, Gerstenberg und Klopstock auch Wieland, Lessing und Goethe auf einer bestimmten Entwicklungsstufe den „Idealen der Anakreontiker“4. Im folgenden werden Motive und Elemente aufgezeigt, die Wielands Graziendichtungen beeinflußt haben könnten.

Erwähnenswert ist zunächst, daß die Ästhetiker Lessing und Sulzer, die zeitweise mit der anakreontischen Poesie verbunden waren, ihre Anschauungen über den Begriff der Grazienschönheit auch durch das von Gleim und den Halleschen Freunden vermittelte Bild anakreontischer Dichtung gewonnen haben. Die Anakreon-Übersetzungen von 1746 und 1760 vermitteln an praktischen Beispielen die ästhetischen Lehren Baumgartens und Meiers. Die enge Verbindung zwischen den Anakreontikern und den Ästhetikern G. F. Meier und A. G. Baumgarten ist in der Literatur mehrfach belegt5. Hier geht es um die ästhetischen

1 Karl-Heinz Göttert: Art. „Anmut“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Tübingen 1992ff., Bd. 1, Sp. 601f. 2 Herbert Zemann: Die deutsche anakreontische Dichtung, Stuttgart 1972, S. 178. Zemann hat in seiner gründlichen Studie versucht, die ästhetischen und literaturhistorischen Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert zu erfassen. 3 Erna Merker: Anakreontik, in: Merker-Stammler: Reallexikon der deutschen Literatur, 2. Aufl., Berlin 1958, Bd. 1, S. 61; vgl. dazu die teilweise berechtigte Kritik an dem Artikel von Anger, Rokoko-Dichtung, S. 614, Anm. 129. 4 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 5. Aufl., Stuttgart 1969, S. 23f. 5 Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung: „Die Hallenser Freunde Gleim, Götz und Uz erfüllen die Schreibart mit neuen poetischen Akzenten, die sie aus den Lehren A. G. Baumgartens und G. F. Meier erarbeiteten“, S. 177: vgl. dazu Pomezny, S. 85; vgl. auch Gustav Waniek: Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1882, S. 166. 124

Erörterungen von „Schönheit“, „Anmut“, „Grazie“ und „Reiz“6. Dieses Kapitel soll als Bindeglied angesehen werden zwischen der Darstellung der Chariten in der Antike und der Verwendung dieser Göttinnen als dichterisches Motiv im 18. Jahrhundert, insbesondere bei Wieland. Aus der Antike sind mehrere Motive überliefert, die auf verschiedenen Wegen in die deutsche Graziendichtung eingegangen sind. Ein wesentlicher Vermittler ist die anakreontische Dichtung, die im Laufe ihrer Entwicklung auch als Graziendichtung bezeichnet wird.

Obwohl die Grazien neben Venus als Schutzgöttinnen der Anakreontik angesehen und von Uz und Gleim als „Gönnerinnen der anakreontischen Poesie“ bezeichnet werden, spielen sie in der Dichtung keine führende Rolle. „Man machte sich eine vorstellung von den Grazien aus dem grundcharakter der anakreontik zurecht“. Der Begriff „Grazienpoesie“ wird mehr auf das leichte Wesen, den heiteren, anmutigen Charakter der anakreontischen Dichtung bezogen. Aber wie sich die Anakreontiker von dem Dichter entfernt haben, dessen Namen sie trugen, so sind auch die Grazien nicht mehr identisch mit den Chariten in der Mythologie. „So konnte es kommen, dass sie auch den namen für ein philosophisches System liehen, mit dem sie ursprünglich keinerlei zusammenhang hatten, weil eben dieses system in die moderne anakreontik eingang gefunden hatte“7. Damit sind horazische und epikureische Lebensweisheit gemeint, die durch die Anakreontik in die deutsche Dichtung eingeführt wurde. Es bleibt festzuhalten, daß die Anakreontik von antiken Vorbildern abhängig ist, und zwar von der unter dem Namen Anakreon herausgegebenen Sammlung bzw. die man diesem zuschrieb, und der griechischen Anthologie, daneben von dem echten Anakreon und der römischen Lyrik, u. a. den Oden des Horaz. Sie entsteht um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus einer Beschäftigung mit den Anakreonteen8. Die Anakreontik wird in erster Linie mit den Dichtungen von Gleim, Uz und Götz verknüpft9. Daneben sei noch auf Pyra hingewiesen, der zwar abseits dieser literarischen Erscheinung, aber mit den Halleschen Anakreontikern in

6 Hier darf der englische Einfluß nicht unterschätzt werden, der vor allem durch Shaftesbury vermittelt wurde; vgl. die entsprechenden Ausführungen im Zusammenhang mit Wielands Graziendichtungen. 7 Pomezny, S. 130.f; vgl. auch S. 118. Vgl. dagegen Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung, S. 229, Anm. 35, der den Begriff aus anderen Phänomen ableitet: „Da die Gedichte des Anakreon neben der griechischen Anthologie die Hauptquelle für den Grazienkult sind, wird dieser im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts... erst durch Gleim, Uz und Götz lebendig, weshalb man die ganze Dichtung auch Grazienposie nannte“. Vgl. dazu Gero von Wilpert, Sachwörterbuch, S. 24 „Anakreontik“. 8 nach Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung, S. 177. Für Anregungen der französischen poesie fugitive der „petits poetes“, durch deren Vermittlung diese antike Lyrik und Odendichtung in der deutschen Anakreontik bekannt wurden vgl. Erna Merker, Anakreontik, in: Merker-Stammler, Reallexikon, Bd. 1, S. 62. Sie erläutert: „Seit den Tagen der Plejade waren die Frankreich anakreontische Töne nicht wieder verklungen...“. 9Vgl. dazu Ferdinand Josef Schneider: Die deutsche Dichtung der Aufklärungszeit, 2. Aufl., Stuttgart 1948, S. 148. 125

Verbindung steht10. Der Motivkreis dieser Dichter ist begrenzt: Liebe, Wein, Geselligkeit, heiterer Lebensgenuß im Sinne Epikurs, und eine Lebensphilosophie des Scherzes und der Freude sind die geläufigen Themen. Das Eigentümliche der anakreontischen Dichter ist das Spielende, Tändelnde. Immer wieder wird das Wesen und die Macht der Liebe erörtert, die Reize der Geliebten geschildert. Die Darstellung bedient sich der Namen und Situationen aus der Mythologie. Venus ist neben Amor die am meisten verwendete Göttin. Daneben erscheinen Grazien, Nymphen und Sylphen11. Der Schauplatz ist die sanfte, liebliche Natur, die amöne Landschaft und der locus amoenus mit den schattigen Hainen, Quellen und stillen Grotten12. Neben den inhaltlichen Elementen spielen die vielen Ausdrucksmöglichkeiten eine Rolle. „Graziöse Leichtigkeit und reizvolle Bewegung der Sprache“ schaffen neue Möglichkeiten der Versbehandlung und Sprachgestaltung13. Die Abwandlung der häufig wiederholten Motive hat die Sprache gelenkig und biegsam gemacht, aber diese Poesie war eher ein Mittel und Werkzeug, „als beseeltes Gebilde“14. Mit der Verbreitung der anakreontischen Motive gewinnen auch die Grazien an Bedeutung. „Ihr charakter aber blieb der des beweglichen, kleinen, zierlichen, sinnlichen...“15.

Obwohl Wieland während seines Aufenthalts im Hause Bodmers als sogenanntes „Sprachrohr“ der Schweizer Bodmer und Breitinger benutzt wurde, um gegen die anakreontische Art zu dichten vorzugehen und sich daraus eine langjährige Kontroverse mit Uz entwickelt, kann nicht bestritten werden, daß in Wielands Graziendichtungen anakreontische Einflüsse nachzuweisen sind16. Im folgenden werden Aspekte aufgezeigt, wie die anakreontischen Dichter sowie Lange und Pyra Grazienmotive verarbeitet haben und welche Anregungen davon Wieland in seinen Graziendichtungen aufgenommen hat17. Bei

10 Vgl. Pomezny, S. 10 und Gustav Waniek, Pyra, S. 166. Beide weisen auf die Bedeutung Pyras für die Lyrik der Zeit hin. 11 nach Ferdinand Josef Schneider: Die deutsche Dichtung der Aufklärungszeit, S. 149. 12 Erna Merker: Anakreontik, in: Merker-Stammler, Reallexikon, Bd. 1, S. 61; vgl. Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung , S. 178; er verweist auf die Vorliebe für die Darstellung des friedlichen Landlebens und der kleinen Gegenstände, die nicht nur die Anakreontiker, sondern auch die „empfindsamen“ Poeten erfaßte. 13 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch., S. 24. Zum anakreontischen Stil vgl. Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung, S. 21; und Erna Merker, Anakreontik, in: Merker-Stammler, Reallexikon, Bd. 1, S. 62. 14 Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung, Leipzig 1924, S. 281. 15 Pomezny, S. 92. 16 Das beweist die parodistisch-polemische Schrift Bodmers „Von den Grazien des Kleinen“ (im Namen und zum Besten der Anakreontchen), die 1769 als Entgegnung auf die Philosophie der Grazien gedacht war, die Wieland und Jacobi vertraten; diese Schrift ist abgedruckt im Anhang zu Fr. Ausfeld: Die deutsche anakreontische Dichtung des 18. Jahrhunderts, Straßburg 1907, S. 151-162. Vgl. im übrigen Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung, S. 166f; vgl. auch Werner Schlotthaus: Das Spielphänomen und seine Erscheinungsweise in der Dichtung der Anakreontik, Diss. Göttingen 1957, S. 85ff. 17 Da Pomezny die Grazien in der deutschen Anakreontik ausführlich erläutert, sei auf diese Ausführungen ausdrücklich verwiesen, S. 92ff. 126

Anakreon wird die zarte, heitere Liebe, die Liebe zu einem schönen Mädchen thematisiert. Dieses Motiv ist eines der Hauptthemen der anakreontischen Lyrik. Die Geliebte trägt oft arkadische Namen - Doris, Daphne, Chloe, Phyllis und wird in verfänglichen Situationen belauscht: schlafend, badend, entkleidet. Augen, Lippen, die zarte Hautfarbe und der halb verhüllte Busen sind beliebte Motive18. Die Liebe wird zunächst äußerlich und sinnlich dargestellt. Im Laufe der Zeit ist hier eine Entwicklung festzustellen. Anfangs werden die Mädchen mit den Grazien in allgemeiner, unbestimmter Form verglichen, später werden die liebenswürdigen Eigenschaften der Mädchen als Gaben der Grazien angesehen. „Durch diese wechselseitige beeinflussung gewinnen die... grazien an anschaulichkeit, sinnlichem leben und im weiteren an innerer bedeutung“19. Auf der letzten Stufe werden die Grazien auf das menschliche Niveau gesetzt, d.h. sie werden in ihrer Erscheinung zu menschlichen Wesen.

Obwohl Friedrich von Hagedorn als ein Vorläufer der deutschen Anakreontik bezeichnet wird, hat er auf die Entwicklung des jungen Wieland einen gewissen Einfluß gehabt20. Hagedorn vertritt den Standpunkt einer natürlichen Sittlichkeit. Wenn bei ihm „sokratische Sittenlehre und horazische Lebensweisheit eine enge Verbindung mit der Moralphilosophie der deutschen und englischen Aufklärung“ eingehen21, so kann dieses als Fortsetzung der Bestrebungen Shaftesburys, Popes und Addisons aufgefaßt werden22. Hagedorn vertritt den Standpunkt, daß sich „die Forderungen der Tugend mit den natürlichen Lebensansprüchen harmonisch verbinden“23 lassen, eine Forderung, die Wieland in seinen späteren Graziendichtungen vertritt. Dennoch findet man bei Hagedorn noch nicht die tiefere, innere Bedeutung, die Wieland in seinen Graziendichtungen vertritt. Hagedorn ist der Ausgangspunkt, „die Grazien aus mythologischen begriffen zu wirklichen gestalten zu formen“24. Über das Wesen der Grazien läßt sich noch wenig erschließen, auch die Verbindung mit anderen Gottheiten wird nur äußerlich dargestellt. Obwohl Hagedorn die

18 nach Erna Merker: Anakreontik, in: Merker-Stammler, Reallexikon, Bd. 1, S. 61; vgl. die wörtliche Übereinstimmung mit Ferdinand Josef Schneider, Die deutsche Literatur der Aufklärungszeit, S. 150. 19 Pomezny, S. 94. 20 Über anakreontische Spuren in der deutschen Dichtung vgl. G. Wittkowski: Die Vorläufer der anakreontischen Dichtung in Deutschland und Friedrich von Hagedorn, Leipzig 1889; vgl. zur Sonderstellung Hagedorns innerhalb der deutschen Anakreontik und Rokokolyrik, C. v. Langsdorff: Die anakreontische Dichtung in Deutschland, 1862; vgl. auch Karl Fr. Schmitt: Friedrich von Hagedorn nach seiner poetischen und literaturgeschichtlichen Bedeutung für die deutsche Literatur, Diss. Leipzig 1882. Herbert Zemann, Anakreontische Dichtung S. 188, betont Hagedorns neutrale, manchmal sogar ablehnende Stellung gegenüber der Dichtung der Hallenser Schule. 21 Karl Hoppe: Philosophie und Dichtung, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Berlin/München 1957, Bd. III, Sp. 2124. 22 Vgl. Otto Brückl: Wielands „Erzählungen“, Diss. Tübingen 1960, S. 43f. 23 Karl Hoppe, Philosophie und Dichtung, Bd. III, Sp.2124. 24 Pomezny, S. 97. 127

Grazien schon als Motiv verwandte, sind diese Göttinnen noch keine lebenden Gestalten, sie werden nicht unter Menschen dargestellt, und auch noch nicht als Idealgestalten von Mädchen angesehen. In bezug auf diesen Dichter sind für das Grazienmotiv nur Ansatzpunkte vorhanden.

Bei den eigentlichen Vertretern der Anakreontik Gleim, Uz und Götz finden sich neben antiken Elementen auch Ansätze, die auf eine Bereicherung der Grazienvorstellung hindeuten. Zunächst bringen diese Dichter die Grazien und Musen in Verbindung und stellen eine Beziehung zur Dichtkunst her, d.h. diese Gottheiten werden ohne tieferen Sinn zusammengebracht25. Als antike Elemente können vor allem die Verbindungen zu Amor und Venus angesehen werden. Neues in bezug auf den Grazienbegriff bringen die Anakreontiker insofern, als Gleim und Uz im Laufe ihrer dichterischen Entwicklung die Grazien zunehmend bekleidet schildern26. Obwohl in der Antike die Grazien auf einer gewissen Entwicklungsstufe in leichtem Gewand dargestellt werden, ist es kein Zufall, daß die Anakreontiker gerade diese Bekleidung bevorzugen. Es sind „sanfte hüllen, die den reiz des körpers nicht verdecken...(und) den busen halb oder ganz entblösst lassen“27. Maßgebend dafür ist wohl gewesen, daß diese Dichter die Erscheinung der Grazien nach Gestalten des Lebens oder nach Menschenbildern formten, die sie vor Augen hatten. „Diese werden ihm zu Grazien. Sie sind selbstverständlich bekleidet; und also die dafür eingesetzten Grazien ebenfalls“. Damit ist ein wesentlicher Aspekt angesprochen, den die Anakreontik in der Entwicklung des Grazienbildes im 18. Jahrhundert geleistet hat: aus mythologischen Gestalten der Antike werden menschliche Wesen. An der Schilderung der Kleidung wird deutlich, daß die Grazien dem „antiken olymp entrückt, dem leben der gegenwart genähert werden. Sie sind vermenschlicht und... dadurch wurden sie der dichtung mehr als zier, wurden aus ihnen inhaltsvolle gestalten“28. Diese Vermenschlichung der Versinnlichung der Grazien ist ein wesentlicher Zug, den man in der Anakreontik feststellt. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß mit dieser Entwicklung ihre körperliche Erscheinung nicht beschrieben wird. Sie werden dagegen in vielfältiger menschlicher Bewegung gezeigt, d.h. an den Mädchen bzw. Grazien wird alles beschrieben, was reizt. Diese belebte Tätigkeit steht mit dem Gesamtcharakter der

25 Als Beleg sei auf Gleims „Zur Geschichte der Grazien“ verwiesen, in: J. W. Gleim: Sämtliche Werke, Carlsruhe 1819/20, Bd. 3, S. 154. 26 Zu Gleim vgl. Pomezny, S. 112, zu Uz, S. 122; er weist darauf hin, daß Uz in seinen späteren Dichtungen (1755ff.) die Grazien in „leichtem, die Brust freilassenden Kostüm“ darstellt. 27 nach Pomezny, S. 112. Vgl. dazu Wielands „halb verhüllte“ Grazien, wie sie in dieser Arbeit beschrieben werden. 28 Pomezny, S. 112f. 128

Literatur in Verbindung. Mit den Grazien verschwinden die ruhenden Schilderungen, sie werden bewegt beschrieben. Das kommt der Theorie der Zeit entgegen, die in der „bewegung einen wesentlichen bestandteil der durch sie repräsentierten eigenschaft, der grazie, erkannte“29.

Gleim ist ein Vertreter jener Richtung, bei dem das seelische Moment in den Hintergrund tritt, d. h. er beschreibt nur die sinnliche Liebe, die durch körperliche Reize erzeugt wird. Gleims anakreontische Mädchen und die ihnen nachgebildeten Grazien sind mit dem eines Spielzeuges vergleichbar. Da das Wesen der Grazien bei Gleim aus Tändelei besteht, und er das Verhältnis von Schönheit und Anmut nicht thematisiert, hat er „weniger als andere für die entwickelung.. (der Grazien) und des damit verbundenen begriffes gethan...“30. Bei Uz dagegen sind bereits 1755 Hinweise über den Zusammenhang von Schönheit, Reiz und Liebe zu finden. Bei diesem Dichter erweckt an der Schönheit nicht der äußere Reiz, sondern die seelische Anmut Liebe. Dieser Gedankengang geht wie bei Wieland auf Shaftesbury zurück. In bezug auf Wielands Graziendichtungen kann Uz als ein Ausgangspunkt angesehen werden31. Er zeigt im Betonen des schönen Maßes seinen horazischen Einfluß. Wie bei Wieland werden die Grazien zwar in Verbindung mit Bacchus und Amor genannt, aber diese Göttinnen fordern einen „sparsamen genuss“ und fliehen vor „trunkener gelassenheit“. Das Maßhalten wird der Weisheit zugeschrieben, die sich gegen „niedere lust“ und „schwerfällige gelehrsamkeit“ wendet. Die heitere Grazienphilosophie, die lehrt, stets fröhlich zu sein, hat wenig mit anakreontischer Tändelei zu tun.

Es werden hier noch Einflüsse erläutert, die Pyra32 auf das Grazienbild Wielands hatte. Jener gilt als Dichter der Empfindsamkeit und steht den Anakreontikern gegenüber. Allerdings war der immer wieder behauptete Gegensatz zwischen anakreontischer und empfindsamer Lyrik nicht so groß33. Bei Pyra treten die Huldgöttinnen mit den Menschen in Verbindung. Dabei bedient er sich durchaus antiker Motive. So tanzen die Grazien, streuen Blumen und werden

29 Pomezny, S. 113. 30 Pomezny, S. 105. Dennoch nennt ihn Wieland neben Jacobi als den „Dichter der Grazien“ (H 11, 154). 31 Die Ausführungen dieses Absatzes beziehen sich auf Pomezny, S. 126 und 131f., der einige Werke von Uz zitiert. 32 In bezug auf Wielands frühe dichterische Phase erscheint der Hinweis bedeutsam, daß Pyra den Schweizern Bodmer und Breitinger nahestand, bei denen Wieland allerdings zehn Jahre nach Pyras Tod lebte; Bodmer hatte 1745 die „Freundschaftlichen Lieder“ von Pyra/Lange herausgebracht. Dadurch ist zumindest wahrscheinlich, daß Wieland auch auf diesem Wege von Pyra Anregungen bekam; vgl. auch die Erwähnung von Lange und Pyra in der Einleitung zu den „Erzählungen“ von Wieland (H 39, 201); vgl. auch Gustav Waniek, Pyra, S. 155f. 33 Für Anger besteht der Hauptunterschied in erster Linie darin, daß die einen den sinnlichen Reiz und die anderen die seelische Rührung kultivierten; vgl. Anger, Rokoko-Dichtung, S. 621, Anm. 152. 129 mit verschlungenen Händen dargestellt. Aber Pyra hat eine deutliche Vorstellung von seelischer Anmut, wobei die äußeren Reize nicht zu kurz kommen. Allerdings zeigt sich das gerade dort, wo die Grazien nicht erwähnt werden34. Neben Anmut und Tugend nennt Pyra auch die Natur. Pomezny meint, damit sei eine Richtung vom Verwickelten zum Einfachen, vom Künstlerischen zum Natürlichen unverkennbar, die in der Theorie der Anmut mit Shaftesburys „natural grace“ zum Begriff wird. Er fügt hinzu, damit würde deutlich und begreiflich, „dass das streben nach natürlichkeit und das erwachen des sinnes für anmut in zusammenhang stehen“35. Es bleibt festzuhalten, daß bei Pyra die Anmut hervortritt und er sie durch die Verbindung von Grazien und Menschen zu verkörpern versucht. Der Zusammenhang von Anmut des Körpers und der Seele, den Wieland in seinen späteren Graziendichtungen vertritt, läßt sich aus einem Gedicht ansatzweise erkennen, das bei Pomezny abgedruckt ist36. Bemerkenswert ist, daß Pyra schon die Vorzüge des Gesichts betont, das auch als Sitz der Anmut gilt.

Vergleicht man die Motive der Anakreontik mit Wielands Graziendichtungen, so läßt sich konstatieren, daß besonders mit „Die Grazien“ Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Was diesen Dichter aber von den Anakreontikern unterscheidet, ist die größere seelische Tiefe, da er nicht einseitig beeinflußt ist und „der anakreontischen Heiterkeit Shaftesburys platonischen Ernst beimischt“37. Die Philosophie der Grazien, die Wieland in „Musarion“ und „Die Grazien“ vertritt, gehört mehr zu als zu Anakreon, denn sie bildet „eine auf höherer Stufe stehende Lebensphilosophie als der leichte anakreontische Hedonismus“38.

Abschließend werden noch einige Gesichtspunkte und Voraussetzungen für die Anakreontik erwähnt, die auf spätere Entwicklungen hinweisen, ohne die Wielands Graziendichtungen

34 Pomezny sieht darin einen Beweis, daß der Anmutsbegriff sich nicht unbedingt im Zusammenhang mit den Grazien entwickelte, sondern an menschlichen Gestalten, und erst von diesen wurde er auf die „Göttinnen der Anmut“ übertragen; S. 100. 35 Pomezny, S. 102; vgl. auch S. 100. In bezug auf die Naturschilderungen Pyras vgl. die Rezension von Bernhard Seuffert zu Gustav Waniek, Pyra, in: Zeitschrift für das deutsche Altertum und die deutsche Literatur 16, Leipzig 1884, S. 253ff. 36 „Aus einem Trostschreiben“. 2. Charakteristische Schilderung; Pomezny, S. 103. Das Gedicht ist ein Nachruf auf eine Verstorbene. Darin stellt der Dichter die Vorzüge des Körpers und des Geistes dar. Dabei wird die Verstorbene zum Idealbild weiblicher Grazie. 37 Gemeinsam ist die unmittelbare Verbindung zu Anakreon, Xenophon und Horaz. In den „Grazien“ will Danae die griechischen Grazien kennenlernen, „die Grazien, die den Anakreon singen, den Xenophon schreiben, den Apelles malen lehrten, die Grazien, denen Platon opfert....“ (HRA III/10,5). Auch das arkadische Milieu, daß die Anakreontiker in erster Linie der römischen Lyrik entnommen haben, läßt den Einfluß deutlich werden. Vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 58; er weist auch auf das Spiel der Grazien mit dem schlafenden Amor hin; vgl. dazu auch die arkadische Szenerie im 2. und 3. Buch der „Grazien“. Vgl. im übrigen zu anakreontischen Motiven in Wielands Dichtungen, Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 58ff. 38 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S, S. 58ff. 130 kaum denkbar sind. Eine wesentliche Voraussetzung für das Aufblühen der Anakreontik in Deutschland war das „Erwachen eines neuen Lebens- und Weltgefühls“. Im Bestreben, der neuen Stimmung dichterischen Ausdruck zu verleihen, nahm man wahlverwandte Vorbilder aus der antiken und modernen Lyrik, „übersetzte sie, ahmte sie mit wachsender Selbständigkeit nach, gestaltete sie frei um, bis schließlich durch Abstoßung und Assimilation der eigene Ton gefunden war“39. Die große Verbreitung der Anakreontik in Deutschland ist auch „auf die erwachende Sehnsucht nach dem Einfachen, Ungezwungenen und Natürlichen“ zurückzuführen. Wenn man Anakreon übersetzte und nachahmte, dann wegen der Natürlichkeit, dem „Ungekünstelten, Freien, Leichten und Nachlässigen“, der „Naivität“ seines Ausdrucks40. Gegenüber der statuarischen Ruhe barocker Schilderungen hat die Anakreontik „Beschreibung in Handlung aufgelöst, und damit nicht nur das Auge empfänglich gemacht für den Reiz der Bewegung in Gang, Haltung, Stellung, Gebärden und Lächeln, sondern einen ersten Schritt getan vom Betrachten äußerer Form zu beseelendem Individualisieren“41

4.2 „Anmut “, „Grazie“ und „Reiz“ bei den Ästhetikern des 18. Jahrhunderts

Es ist üblich, „in den Grazien die verkörperung jener reizvollen, körperlichen und seelischen schönheit zu sehen, die wir mit den worten a n m u t , reiz, grazie ausdrücken“42. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein neuer Schönheitsbegriff, für den sich Ausdrücke wie Anmut, Reiz, Grazie, auch Artigkeit43 einstellen. Merkmale sind auch die des Zarten und Kleinen44. Ziel dieses Kapitels ist es, einige definitorische Abgrenzungen vorzunehmen. Dabei wird das Schwergewicht auf diejenigen Theorien gelegt, die Wielands Graziendichtungen beeinflußt haben.

39 Anger, Rokoko-Dichtung, S. 619. Hier mag auch der Klassizismus mit der Ablehnung und Bekämpfung des barocken Stilideals den Boden bereitet haben. 40 Anger, Rokoko-Dichtung, S. 621 41 Erna Merker: Anakreontik, in: Merker-Stammler, Reallexikon, Bd. 1, S. 42. 42 Pomezny, S. 14; vgl. dazu sein ausführliche Kapitel „Die Entwicklung des Anmutsbegriffs in der Theorie des 18. Jahrhunderts“, S. 32-91. 43 Vgl. die Definition „Artigkeit“ in Johann Jacob Breitinger: Kritische Dichtkunst., 1740, S. 106. Nach Ludwig Goldstein: und die deutsche Ästhetik, Königsberg 1904, und Pomezny, S. 39f. hat Breitinger damit einen wesentlichen Anteil an der theoretischen Erfassung des Begriffs der Anmut bzw. wie Breitinger es nennt, des „Artigen“. 44 Vgl. über das „Kleine“ in den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 40. 131

Der Begriff der Schönheit des Barockzeitalters ist gegenüber dem des 18. Jahrhunderts starr und erhaben. Schönheit ist etwas Objektives und gekennzeichnet durch Ordnung und Symmetrie der einzelnen Teile zueinander. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird diese Schönheit abgelöst von der anmutigen Schönheit, die unter den Namen „Anmut“, „Grazie“, „Reiz“ in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts Eingang finden. Schließlich hat die Entwicklung dazu führt, „daß das Schöne, seines früheren Inhalts beraubt, gänzlich zur Anmut wird“. Mit dem Gegenstand wandelt sich auch die Wirkung, die von ihm ausgeht. Die anmutige Schönheit wird im 18. Jahrhundert übereinstimmend als das angesehen, was „Vergnügen“ bereitet, was angenehm ist, was anzieht; d. h. was gefällt45 . Betrachtet man den Anmutsbegriff genauer, so läßt sich eine Zweiteilung erkennen: eine sinnliche und eine seelische Anmut. Jedoch kann man diese Zweiteilung nicht mit einer äußeren und inneren Anmut gleichsetzen und jene den Franzosen und diese den Engländern zusprechen46, wie es u. a. Pomezny betont, ohne auf die Wirkungen einzugehen47. Hier ist nur von Bedeutung, daß eine Zweiteilung deutlich wird, wenn man die verschiedenen Wirkungen betrachtet, die von der Anmut ausgehen. Auf der einen Seite zeigt sich eine betont sinnliche Reizwirkung, auf der anderen Seite seelische Anmut. Dabei können von einem Gegenstand gleichzeitig beide Wirkungen ausgehen. Es kommt auf die Sichtweise des Betrachters an. In diesem Sinne kann man von einer reizenden und einer anmutigen Schönheit sprechen. Jene wird später als „Reiz“, letztere als „Anmut“ oder „Grazie“ bezeichnet48

Bevor auf diese Begriffe in den Theorien des 18. Jahrhunderts eingegangen wird, seien einige Wortuntersuchungen vorangestellt. Über „Anmut“ geben die vorhandenen Wörterbücher kaum Auskunft. Das Wort ist vor 1338 nicht belegt. Es tritt als ‘der’ oder ‘die’ Anmut erst im Frühneuhochdeutschen auf. Beide Formen erscheinen mit der gleichen Bedeutung von Lust, Begierde, Verlangen nach etwas49. Das Verb „muoten“ (muten) ist altdeutsch und mittelhochdeutsch des öfteren belegt50 und bedeutet: etwas haben wollen, verlangen, begehren. Hier findet man die Verbindung mit dem Präfix „an“ = anmuten in der gleichen

45 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 4. Er hat entsprechende Belege bei Shaftesbury, Breitinger, Hogarth und Mendelssohn dafür gefunden. 46 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 5f. 47 Pomezny, S. 147. 48 nach Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 6. Er meint, erst wenn man die Wirkung der Schönheit betrachtet, ist sie bei den Franzosen mehr auf der Seite des sinnlichen Reizes zu suchen, während sich die Engländer fast nur auf seelisch-rührende Wirkungen beschränken. Er weist auch darauf hin, daß die englische Sprache kein Wort für „Reiz“ habe, denn „attraction“ gebe das deutsche Wort „Reiz“ nicht annähernd wieder. 49 Jacob und : Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff, Bd. 1, Sp. 409. Die folgenden Ausführungen stützen sich , wenn nicht ausdrücklich erwähnt, auf die Artikel „Anmut“, „anmutig“. 132

Bedeutung. Während die männliche Form von „Anmut“ allmählich verlorengeht, macht die weibliche Form einen Bedeutungswandel durch. Sie wird zur Bezeichnung von Eigenschaften, die die Affekte Lust, Begierde, Verlangen hervorbringen, also das, was reizt und anzieht. Die Anmut ist nicht mehr das Begehrende, sondern das, was das Verlangen erweckt. Dem gleichen Wandel unterliegt das Adjektiv „anmutig“. Daneben vollzieht sich eine Bedeutungsabschwächung. Die Anmut verliert zunehmend die Bedeutung des Begierde und Verlangen Erregenden und gelangt zu einer abgeschwächten Form des Gefälligen, Sanften unter Betonung des Seelischen. Bei Stieler ist dieser Wandel bereits 1691 vollzogen51. „Anmut“ wird als dasjenige bezeichnet, das Wohlgefallen oder ein sanftes Gefühl hervorbringt. Während das Substantiv „Reiz“ in den Wörterbüchern kaum vorkommt52, werden das Verb „reizen“ und das Adjektiv „reizend“ erläutert. Die Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes „reizen“ wird für anreizen, antreiben, verlocken, zu etwas erwecken, erregen gebraucht. Eine entsprechende Bedeutung hat „reizend“: anregend, verführerisch, Verlangen erregend, verlockend. Daneben gibt es auch die allgemeinere, abgeschwächte Bedeutung, im Sinne von „höchstanmutig“ oder „anmutig“53. Eine ähnliche Erläuterung gibt Grimm unter dem Stichwort „Reiz“54. Die Neubildung „Reiz“ erscheint vereinzelt im 17. Jahrhundert, aber der Begriff bleibt auch in den Theorien des 18. Jahrhunderts lange Zeit ungeklärt. Einmal bezeichnete der „Reiz“ in den zeitgenössischen Dichtungen und Wörterbüchern Gegenstände und Eigenschaften, von denen eine sinnlich- erotische Wirkung ausgeht, zum anderen wird der Begriff zur Bezeichnung dieser Wirkungen selbst gebraucht. Für das 18, Jahrhundert ist festzuhalten, daß „Reiz“ hauptsächlich in der Bedeutung von Begierde, des Verlangen Erregenden, des Verlockenden, Verführerischen

50 nach Kluge-Mitzka erscheint das Adjektiv „anmutig“ erstmals 1510. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 20. Aufl., bearb. von Walther Mitzka, Berlin 1967, S. 23. 51 Stieler: Der deutschen Sprache Stammbaum, 1691. Er setzte „amabilitas, venustat, amoenitas“ (wohlgefälliges. liebenswürdiges Wesen) für „Anmut“; das gleiche gilt für „anmutig“. Aus „excitans“ wird bei Stieler „amabilis, venustas“; vgl. dazu Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 409 und J. Nickel: Studien zum Wortgebrauch Goethes: Anmut, anmutig, Diss. Berlin 1955, S. 9. 52 z. B. bei Kluge-Mitzka, Wörterbuch; Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch, Halle 1897; Karl Stieler: Teutscher Sprachschatz... von dem Spaten, Nürnberg 1691. Auch Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 791, „Reiz“ bemerkt unter Hinweis auf Adelung, daß es neueren Ursprungs sei. 53 Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 8, „reizend“, Sp. 798f. 54 „Reiz“, „... als habitus des wohlgefallenden, anmuthenden, lockenden erregens, von einem subject aus gesagt... a) von erregungen mit beimischung eines geschlechtlich-sinnlichen elements; von der sinnlich erregenden wirkung weiblicher schönheit und anmuth..., ganz körperlich gedacht... man spricht... von den reizen einer frau in nicht blosz körperlichem verstande, mit bezug auf liebenswürdige, anziehende gemüthsart, alles zusammenfassend, was beim andern geschlecht neigung und wohlgefallen hervorruft...“; Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 791. Er belegt auch, daß das Wort „Reiz“ sich erst allmählich im 18. Jahrhundert einbürgert; älter dagegen seien die Composita „Liebreiz“ und „Anreiz“. 133 gebraucht wird. Der „Reiz“ läßt sich nicht ohne direkten Bezug auf ein zu reizendes Subjekt denken55.

„Grazie“ erscheint sowohl bei Grimm als auch bei Ritter in doppelter Bedeutung. Es ist in vielen anderen Sprachen zu finden56. Grimm übersetzt es mit „Gnade“, während Kluge- Mitzka es abwandelt, als Wohlgefälligkeit erklärt57. Den Begriff „Grazie“ findet man vorwiegend im Mittel- und Frühneuhochdeutschen. Bis etwa 1700 ist es als „Grace“ üblich und wird verdrängt durch „Grazie“, dem Winckelmann (1759) mit seiner Schrift „Von der Grazie in den Werken der Kunst“ Bahn bricht. Dem Terminus „Grazie“ im allgemeinen entspricht im Deutschen zuerst „Reiz“. Das Wort „Grazie“ wird später eingeführt58. Die Begriffe Reiz, Anmut und Grazie sind am Ende des 17. Jahrhunderts zwar vorhanden, die im folgenden Jahrhundert in den Graziendichtungen Verwendung finden, es ist den Zeitgenossen aber nicht möglich, das Wesen dieser Begriffe zu definieren bzw. gegeneinander abzugrenzen59.

Im folgenden wird erläutert, wie Reiz, Anmut und Grazie in den Theorien des 18. Jahrhunderts inhaltlich gefaßt werden. Ähnliche Unterschiede kann man auch bei den Dichtern festgestellt60. Erst Schiller hat dafür einen deutlichen Ausdruck gefunden: die Spaltung der Anmut in eine sinnliche und eine seelische Seite. Die erstere nennt er „Reiz“, die letztere die „eigentliche Anmut“, während er den gemeinsamen Oberbegriff mit „Grazie“ bezeichnet61. „Reiz, Anmut und Grazie werden zwar gewöhnlich als gleichbedeutend gebraucht; sie sind es aber nicht. Es gibt eine belebende und eine beruhigende Grazie. Die erste grenzt an den Sinnenreiz, und das Wohlgefallen an derselben kann... leicht in Verlangen

55 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 9; vgl. auch S. 25 und 59f. 56 Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 4, I. Abt., 5. Teil „Grazie“, Sp. 2245ff; Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 866f.; vgl. lat. gratia, ital. grazia, französ. gràce, engl. grace, griech. charis. 57 Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 2245; Kluge-Mitzka, Wörterbuch, 269. 58 Jacob und Wilhelm Grimm, Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 2248. Doch bevor „Grazie“ in diesem rein begrifflichen Sinn im Deutschen als ein gleichsam neues, eigenes Wort auftrat, bildete sich bei Wieland eine doppelte Verwendung des noch mythologisch bestimmten Wortes heraus, die aber bis zur abstrakten Bedeutung „Reize“ vorstößt und damit die Grenze erreicht, wo „Grazie“ als abstrakter Begriff verwendet wurde. Diesen „Übergangsgebrauch“, wie Grimm es nennt, findet man noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Grimm hat die verschiedenartige Verwendung des Begriffs „Grazie“ im 18. Jahrhundert näher erläutert, Sp. 2248f.; vgl. dazu auch Ersch-Gruber, Encyklopädie, 1. Section, 88. Theil, S. 423 „Grazie“. 59 Pomezny, S. 14. Er weist darauf hin, daß man teilweise auf die französische Redensart „Je ne sais quoi“ auswich. 60 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 12. 61 Zu Schillers Anmutsbegriff vgl. u. a. J. Nickel, Studien zum Wortbegriff Goethes, S. 17ff; vgl. auch Gert Ueding: Schillers Rhetorik, Tübingen 1971, S. 51ff.; vgl. auch G. Baumecker: Schillers Schönheitslehre, 134 ausarten. Diese kann Reiz genannt werden... Die beruhigende Grazie grenzt näher an die Würde, da sie sich durch Mäßigung unruhiger Bewegungen äußert... Zu ihr wendet sich der angespannte Mensch... Diese kann Anmut genannt werden. Mit dem Reiz verbindet sich.... der lachende Scherz und der Stachel des Spottes; mit der Anmut das Mitleid und die Liebe“62.

Zwischen 1740 und 1790 konnte man sich weder über den Namen einer sonst gewiß abgegrenzten Sache einigen, noch über den Gegenstand selbst. Das beste Kennzeichen dieses Schwankens ist gerade die Unsicherheit in der Namensgebung. Johann Nikolaus Meinhard, der 1762 Henry Home „Elements of Criticism“ übersetzt, macht anläßlich der Übersetzung des 11. Kapitels folgende Anmerkung: „Man mag das Wort Grace durch Anmuth oder Reiz oder Grazie geben... so ist doch keines, welches den ganzen Begriff erschöpfte und zugleich nur auf die nämlichen Gegenstände eingeschränkt wäre. Anmuthig nennen wir alles, was uns ein sanftes Vergnügen machet; reizend alles was in uns die thätige Begierde zum Genuss erregt: Grazie ist eigentlich nur von den Werken der Kunst gebräuchlich“63. Er führt weiter aus, warum er das englische „grace“ mit Anmut und nicht mit Reiz übersetzt. Aus dieser Bemerkung ist zu entnehmen, daß Meinhard eine klare Vorstellung von der unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe Reiz und Anmut hat. Dagegen zeigen einige Sätze, daß man sich noch nicht auf ein bestimmtes Wort zur Bezeichnung des neuen Schönheitsbegriffs, um den es im 18. Jahrhundert ging, einigen konnte. Christian Ludwig von Hagedorn schreibt 1762: „Der Reiz hat seine Stufen, aber der Sprache fehlt es vielleicht mehr an der Bestimmung als den Worten, von dem guten Anstand und der Annehmlichkeit an, bis zur Anmuth und dem Reize, und bis zu derjenigen Holdseligkeit, die himmlischen Bildern eigentümlich geworden“64.

Herder verwendet 1765 „Grazie“ in pädagogischer Bedeutung. Er vergegenwärtigt sich den Begriff, indem er „Grazie“ in der Schule fordert: „Die Gratie?... nennen Sie den Reiz, Anstand, Schönheit, Anmuth, Annehmlichkeit, Holdseligkeit; alles dies sind Theile, sind Grade, sind Karaktere der Grazie, aber kein Wort einzeln erschöpft ihren Begriff ganz“65.

Heidelberg 1937; vgl. auch Benno von Wiese: Das verlorene und wiederzufindende Paradies, in: ders.: Von Lessing bis Grabbe, Düsseldorf, S. 1968, S. 182ff. 62 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 485. 63 Henry Home: Grundsätze der Kritik, nach der 4. engl. Ausgabe übers. von J. N. Meinhard, Leipzig 1772, Bd. 1, S. 465. 64 Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Malerei, Leipzig 1762, Buch 1, S. 29. 65 „Von der Gratie in der Schule“, in: : Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1889, Bd. 30, S. 17. Herders Verständnis der Grazie geht teilweise auf dieselbe Tradition zurück wie Winckelmanns, besonders von Platon und Shaftesbury beeinflußter Versuch einer Theorie der Grazie; vgl. dazu auch die Abhandlung „Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele?“, die Herder 1766 in 135

Auch Sulzer gebraucht „Reiz“ und „Grazie“ synonym. „Wir nehmen dieses Wort (Reiz) in der Bedeutung, für welche verschiedene unsrer neuesten Kunstrichter das Wort Grazie brauchen“; und er nennt in diesem Zusammenhang Winckelmann. Für Sulzer ist „Reiz“ ein „gewisser Grad des Gefälligen und Anmuthigen, das die Zuneigung aller Herzen gewinnt, das uns für Personen, Handlungen... einnimmt (und) muß als eine Wirkung der Grazien angesehen werden. Sehen wir also die Grazie, oder um deutsch zu sprechen den Reiz, als eine gewissen Gegenständen inhaftende Eigenschaft an, so wird uns ... die Wirkung dieser Eigenschaft bekannt...“66.

Einig sind sich die Ästhetiker und Theoretiker nur in der Gegnerschaft zum barocken Schönheitsideal. Mit Baumgartens „Aesthetica“ (1750) wird die Grundlage geschaffen, das Wesen der Schönheit zu ergründen. Dieses Werk ist der Ausgangspunkt, die Untersuchungen auf jene Art von Schönheit zu lenken, für die Schiller später das Wort „Anmut“ als feststehenden Begriff angenommen hat67. Danach gehen die Meinungen jedoch auseinander: die einen gebrauchen das Wort Reiz, die anderen Anmut oder Grazie. Die eine Entwicklungslinie beginnt bei Mylius. Er übersetzt 1753 Hogarths „Analysis of beauty“. Darin wird das englische Wort „grace“ mit „Reiz“ übersetzt68. Er ist der erste, der diesen Begriff in die Theorie einführt69. 1755 stellt Moses Mendelssohn im 11. Brief „Über die Empfindungen“ in Anlehnung an Mylius und mit direktem Hinweis auf Hogarths „Zergliederung der Schönheit“ die erste deutsche Definition des Begriffes „Reiz“ auf: „Vielleicht würde man ihn (den Reiz) nicht unrecht durch die Schönheit der wahren oder anscheinenden Bewegung erklären. Ein Beispiel der ersteren sind die Mienen und Geberden der Menschen, die durch die Schönheit in den Bewegungen reizend werden; ein Beispiel der letzteren hingegen die flammigen oder mit Hogarthen zu reden, die Schlangenlinien, die

den Gelehrten Beyträgen zu den Rigaischen Anzeigen veröffentlichte: „Die dritte und höchste Stufe der Schönheit ist der geistige Reiz, die Anmuth und Gratie, die alles vorige belebt...“, Bd. 1, S. 53. 66 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, 2. Aufl. 1792 (Nachdruck Hildesheim 1967, Art. Reiz, 4. Theil, S. 88; vgl. auch „Anmuthigkeit“, Teil 1, S. 150f. Darin nennt er zwar Anmuthigkeit als die „Eigenschaft eines Gegenstandes, wodurch...das Gemüth mit einem sanften und stillen Vergnügen (ge)rührt“ wird, aber dann fügt er hinzu, diese Eigenschaft „scheinet... nahe an das zu gränzen, was man den Reiz oder die Grazie zu nennen pflegt“; er beruft sich dabei auf Hagedorns „Betrachtungen über die Mahlerey“. Später grenzt er das Anmutige gegen das Erhabene, Prächtige ab. „Das Anmuthige gefällt allen Arten von Gemüthern, aber ruhigen und stillen am meisten; denn in ihnen findet sich die meiste Ruhe“. Ueding weist darauf hin, daß das Anmutige bei Sulzer „nicht jene Schönheit der Bewegung (ist) wie bei Schiller oder auch Home und allgemein bei den zeitgenössischen Ästhetikern“; vgl. Gert Ueding, Schillers Rhetorik, S. 58 67 Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1751-58, Hildesheim 1961 68 William Hogarth: Zergliederung der Schönheit. Aus dem Engl. übers. C. Mylius, 2. Aufl. London/Hannover 1754. 69 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 11. 136 allezeit eine Bewegung nachzuahmen scheinen“70. Später taucht dieser Reizbegriff bei Mendelssohn in den Lessing beeinflussenden Noten zum „Laokoon“ noch einmal auf71. Lessing übernimmt diesen Begriff im XXI. Abschnitt des Laokoon, indem er den „Reiz“ als Mittel des Dichters darlegt, durch die er die Vorteile des „malenden Zugleich“ einholen könne: „Ein andrer Weg, auf welchem die Poesie die Kunst in Schilderung körperlicher Schönheit wiederum einholet, ist dieser, daß sie Schönheit in Reiz verwandelt. Reiz ist Schönheit in Bewegung und eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter“72. Für Kant gilt ‘Reiz’ als Merkmal der Schönheit im Unterschied zur Erhabenheit. Er bezeichnete die menschliche Schönheit als „reizend“, wenn sie einen moralischen Charakter trage; eine nicht moralische Grazie nenne man dagegen „hübsch“73.

Eine zweite Linie geht von Meinhards Übersetzung Homes „Elements of Criticism“ aus74, der zwar das englische Wort „grace“ für unübersetzbar hält, sich dann aber für „Anmut“ entscheidet: „Wir haben Anmut vorgezogen, weil Reiz, welches eigentlich die Ursache von Begierden ist, weniger Würde erfordert als Anmuth, welches bloß Wohlgefallen erregen soll, und Würde soll doch nach der Erklärung „(homes) der vornehmste Bestandteil der ‘grace’ seyn“75. Hier muß auf den Einfluß des englischen Moralphilosophen Shaftesbury verwiesen werden, der die zweite im 17. Jahrhundert in den Hintergrund getretene Bedeutung erneut zur Geltung gebracht hat. Ritter verweist auf Shaftesburys „moral grace“ und „moral venus“76. Mendelssohn nimmt „Grazie“ 1771 in der dritten Fassung der „Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften“ auf. Die Grazie, heißt es, „ist mit dem

70 Die Annahme, der Begriff des Reizes sei zuerst von Home in die deutsche Ästhetik eingeführt worden, ist von Friedrich Braitmaier: Geschichte der poetischen Theorie und Kritik von den Discursen der Maler bis auf Lessing, Frauenfeld 1889, T. 2, S. 166ff. widerlegt worden. Nach Ludwig Goldstein, Moses Mendelssohn, S. 117. Moses Mendelssohn: 11. Brief „Über die Empfindungen“, in: Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Apologetik, hg. Moritz Brasch, 2 Bde., Leipzig 1880; nach Ludwig Goldstein, Moses Mendelssohn, S. 117. 71“Reizend ist nur die Schönheit der Form in Bewegung, denn diese erregt in uns das Verlangen, sie wiederholt zu sehen, reizt uns zur Aufmerksamkeit. Es gibt auch einen sinnlichen Reiz, der nicht aus der Schönheit entspringt, und dieser kommt sogar dem Geschmack zu“; nach Ludwig Goldstein, Moses Mendelssohn, S. 118. 72 : Werke in 6 Bde .Aufgrund der von Julius Petersen u. a. besorgten Ausgabe, neu bearb. von Fritz Fischer, Zürich 1965, Bd. 5, S. 136. Insgesamt ist festzustellen, daß „Reiz“ bei Lessing die „Anmut“ vertritt, die als solche in der Gedankenwelt des Dichters aber kaum eine Rolle spielt; nach J. Nickel, Studien zum Wortgebrauch Goethes, S. 13. Vgl. auch William Guild Howard: Reiz ist Schönheit in Bewegung, in: Publications of the Modern Language Association of America XVII (1909), S. 286ff. 73 : Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: ders.: Werke in 10 Bde., hg. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, Bd. 2, S. 825ff. 74 Vgl. dazu Wilhelm Neumann: Die Bedeutung Home’s für die Ästhetik und sein Einfluß auf die deutschen Ästhetiker, Diss. Halle 1894, S. 84ff.; vgl. auch Josef Wohlgemuth: Henry Homes Ästhetik und ihr Einfluß auf deutsche Ästhetiker, Diss. (Berlin) 1893. 75 Henry Home, Grundsätze der Kritik, S. 465. 76 Joachim Ritter, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 867.; vgl. auch den Hinweis von Ludwig Goldstein, Moses Mendelssohn. S. 20, daß Mendelssohns „Briefe über die Empfindungen“ eine Art Nachahmung von Shaftesburys „The moralists“ (1711) sind. 137

Naiven verbunden, da die Bewegungen des Reizenden natürlich, leicht fließend und sanft auf einander hinweg gleiten und ohne Vorsatz und Bewußtsein zu erkennen geben, daß die Triebfeder der Seele die Regungen des Herzens... ebenso ungezwungen spielen, ebenso sanft übereinstimmen und ebenso kunstlos sich entwickeln. Daher ist auch allezeit die Idee der Unschuld und der sittlichen Einfalt mit der hohen Grazie verbunden. Je mehr diese Schönheit in der Bewegung mit Bewußtsein verbunden und ein Werk des Vorsatzes zu sein scheint, desto mehr weicht sie von dem Naiven ab...“77. Goldstein meint, der Begriff des „Reizes“ habe hier nicht nur den Namen gewechselt - „Grazie“, hohe Schönheit in Bewegung“ -, sein Inhalt sei auch ein anderer geworden. Er wird als Ausdrucksform einer seelischen Harmonie gefaßt. Ganz im Sinne Homes spricht er von einer seelischen Anmut, von der in den „Briefen über die Empfindungen“ noch nicht die Rede war. Goldstein bemerkt: „Was Home im 11. Kapitel seines Werkes über ‘Grace’ sagt (Übersetzung von 1772, I, 478ff.), stimmt mit der ‘Grazie’ Mendelssohns überein. Nach Home ist Anmut eine angenehme, von der Bewegung unzertrennliche Eigenschaft, die lediglich im Gesicht... zum Ausdrucke kommt. Hier geht Moses ... weiter, indem er auch den sonstigen Bewegungen des Körpers Anmut zugesteht...“78. Den Namen „Grazie“, und wohl auch Teile des seelischen Gewichts, hat Mendelssohn von Winckelmann übernommen. Er hat als erster deutscher Theoretiker den Begriff „Grazie“ verwandt. Im Jahre 1759 erscheint die Abhandlung „Von der Grazie in den Werken der Kunst“. Wie bereits der Titel zeigt, bezieht sich der Verfasser auf die Grazie in den Kunstwerken. Dennoch gibt er zu Beginn eine allgemeine Definition des Begriffs79: „Die Grazie ist das vernünftig Gefällige. Es ist ein Begriff von weitem Umfang, weil er sich auf alle Handlungen erstreckt. Die Grazie ist ein Geschenk des Himmels, aber nicht wie die Schönheit. Denn er erteilt nur die Ankündigung und Fähigkeit zu derselben. Sie bildet sich durch Erziehung und Überlegung und kann zur Natur werden, welche dazu geschaffen ist. Sie ist ferne vom Zwange und gesuchten Witze, aber es erfordert Aufmerksamkeit und Fleiß, die Natur in allen Handlungen, wo sie sich nach eines jeden Talent zu zeigen hat, auf den rechten Grad der Leichtigkeit zu erheben. In der Einfalt und in der Stille der Seele wirkt sie und wird durch ein wildes Feuer und in aufgebrachten Neigungen verdunkelt. Aller Menschen Tun und Handeln wird durch dieselbe angenehm, und in einem schönen Körper herrscht sie mit großer

77 Moses Mendelssohn, Schriften zur Philosophie, Bd. 1, S. 341. 78 Ludwig Goldstein, Moses Mendelssohn, S. 118ff. 79 Die Definition der „Grazie“ in Kunstwerken erhielt eine präzisere Fassung im 4. Kap. des 1. Teils der „Geschichte der Kunst des Altertums“ (1764), wo Winckelmann in einem Abschnitt besonders die Grazie behandelt; dort wird sie zum eigentlichen Maßstab für die Einteilung der griechischen Kunst in vier Perioden; vgl. dazu Walter Bosshard: Winckelmann, Aesthetik der Mitte, Zürich 1960, S. 88ff.; vgl. Hermann J. Weber: „Grazie“ bei Winckelmann, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 9/1907, S. 141ff. 138

Gewalt“80. Bei Winckelmanns Begriffen „Anmut“ und „Grazie“ muß berücksichtigt werden, daß er sie auf der direkten Anschauung antiker Kunstgegenstände aufbaut. Hieraus erklärt sich das hohe, stille Wesen seiner Anmut, die sich von den modernen Einflüssen fernhalten.

Als wesentlich ist festzuhalten, daß Winckelmann die Grazie nicht auf das Körperliche beschränkt, sondern auf das gesamte Tun und Handeln des Menschen ausdehnt. Grazie ist für ihn eine Eigenschaft, die dem Menschen zwar von der Natur gegeben ist, die er aber bewußt zur Ausbildung bringen muß, bis sie eine natürliche Leichtigkeit erreicht. An Winckelmanns Begriff der Grazie fällt besonders der Zug zur seelischen Ruhe und zum Ernst auf. Die Anmut wirkt in „der Einfalt und in der Stille der Seele“. Zwar unterscheidet er zwischen einer Grazie, die mehr der Materie unterworfen ist und einer von höherer Geburt, aber trotz dieser Zweiteilung handelt es sich bei ihm um ein Ideal aus der antiken Kunst, das nichts mit dem Grazienbegriff zu tun hat, der bei den zeitgenössischen Dichtern und Theoretikern allgemein gilt. Die Bedeutung Winckelmanns liegt darin, daß er dem Begriff eine wesentlich tiefere Bedeutung gibt und zur Beseelung beigetragen hat.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl bei Hogarth/Mylius, bei Moses Mendelssohn in den 1755 erschienenen Briefen „Über die Empfindungen“ und in den Noten zu „Laokoon“ als auch in Lessings „Laokoon“ selbst keine Rede ist von seelischen Elementen, sondern nur von der „rein ästhetisch-sinnlichen Erscheinung“81. Bei Home/Meinhard und Mendelssohn in der dritten Fassung des „Erhabenen und Naiven“ (1771) liegt zweifellos der Schwerpunkt auf den seelischen, teilweise sittlichen Elementen. Beide Richtungen, die des sinnlichen Reizes und der seelischen Anmut, finden in Wielands Graziendichtungen ihren dichterischen Ausdruck, ehe in Schillers „Anmut und Würde“ die endgültige philosophische Begründung folgt. Wieland hat die Anmut in verschiedenen Bereichen verwandt. Er hat den Begriff zu der Höhe entwickelt, auf der Goethe ihn übernimmt. Bei Wieland verschmelzen sich die Grazien der Anakreontik mit der seelischen Anmut im Sinne Shaftesburys, die Pyra in der deutschen Dichtung verwendet. Vor allem in Wielands Graziendichtungen setzt sich der Begriff entscheidend durch und ist nicht mehr nur ein Ersatz für Reiz, Lieblichkeit, Holdseligkeit u.a., „sondern hat seine eigene, individuelle Prägnanz“82. Anmut ist für Wieland eine angeborene Eigenschaft, die sich durch Erziehung entwickeln läßt, deren Wirkung aber unbewußt ist. Sie

80 J. J. Winckelmann: Ausgewählte Schriften, eingeleitet von H. Uhde-Bernays, Leipzig o. J., S. 73. 81 Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 12. 139 fließt „unmittelbar aus der Seele“ und ist infolgedessen „weit edler“ als die Schönheit (HRA XIV/S 4, 57). Leidenschaft zerstört die Anmut, aber auch die Schönheit, d. h. die äußere Schönheit steht in engem Zusammenhang mit der Seele. Wielands Anmutsbegriff wird im Zusammenhang mit den Graziendichtungen erläutert.

4.3 Die „schöne Seele“ bei Wieland

Der Begriff „schöne Seele“ hat in der Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur deutschen Klassik grundlegende Bedeutung83. Er ist der Ausdruck „eines Ringens um ein gültiges Menschenbild ethischer Natur, nach dem das bürgerlich-individualistische Zeitalter Ausschau hält“84. Einer der ausschlaggebenden literarischen Vertreter des Typus der „schönen Seele“ in Deutschland ist Wieland. Bei ihm erlangt der Begriff seine weiteste Verbreitung, die er in deutscher Sprache gefunden hat85. Auf ihn geht es zurück, wenn die „schöne Seele“ eine Zeit lang zum weit verbreiteten Modewort in literarischen Kreisen wurde86. Schmeer hat in seiner Studie die Geschichte dieses Topos erläutert und dabei den Weg aufgezeigt87, den der zum Klischee

82 J. Nickel, Studien zum Wortgebrauch Goethes, S. 15. Vgl. zu Wielands Anmuts- und Grazienbegriff u. a. Barbara Schlagenhaft: Wielands Agathon als Spiegelung aufklärerischer Vernunfts- und Gefühlsproblematik, Diss. Erlangen 1935, S. 154-157. 83 Vgl. dazu Junji Yamamoto: Reflexionen über den Begriff der „schönen Seele“ bei Schiller - im Hinblick auf den Einfluß Wielands, in: Jahresberichte des Germanistischen Instituts der Kwanseigakuin-Universität Uegahara, H. 32 (1991), S. 1-26, bes. S. 15ff.; vgl. auch die Ausführungen von Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft, S. 174-189. 84 H. Pohlmeier: Untersuchungen zum Begriff der „schönen Seele“ im 18. Jahrhundert und in der Goethezeit, Diss. Münster 1954, S. 1. Er hat versucht, die geistesgeschichtlichen Grundlagen sichtbar zu machen und gleichzeitig konkrete Ausformungen des Begriffs in Dichtung und Philosophie dargestellt. Vgl. auch H. Heinz Schubert: Der Begriff der „schönen Seele“ bei Schiller und Wieland, in: ders. Schiller und Wieland. Ein Beitrag zur Geschichte der Weimarer Klassik, Diss. Tübingen 1958, S. 206ff. Leider hat Schubert die Untersuchung von Ohlmeier nicht berücksichtigt, obwohl sie vier Jahre früher erschienen. Dennoch gibt Schubert wertvolle Anregungen für die zwischen Wieland und Schiller bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Begriffs der „schönen Seele“. 85 Eine vollständige Übersicht über alle vorkommenden Stellen gibt Hans Schmeer: Der Begriff der „schönen Seele“ besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1926. 86 Nach H. Pohlmeier, Untersuchungen zum Begriff der „schönen Seele“, S. 74. Er weist auf die Anlehnung des Begriffs an die Anakreontik und Empfindsamkeit hin. Er hat die graziöse „schöne Seele“ bei den Anakreontikern Hagedorn, Pyra, Gleim u. a. untersucht und kommt zu den Ergebnis, daß die Anakreontik die erste dichterische Bewegung ist, die von den allgemeinen geistigen Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts her das Seelische in das Sinnliche hinein nimmt und es damit ästhetisiert. So werden neue Entwicklungslinien freigelegt, die sich mit dem modernen Begriff des Ästhetischen verbinden können. Die Anakreontik sei also ein Punkt, wo eine Umwertung des Schönheitsbegriffs in der „schönen Seele“ einsetze. Sie löse die „schöne Seele“ aus dem Moralischen und Religiösen und so werde sie vorwiegend in ihrer Wirkung, nicht mehr nach ihrem Rang und Wert beurteilt, S. 40. Im Zusammenhang mit der Empfindsamkeit sei auf die „schönen Seelen“ bei Richardson und Rousseau hingewiesen. Die Gestalt, die für den Typus der Tugendschönheit vorbildlich wurde, ist Clarissa, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zum unerreichten Vorbild weiblicher Tugend wurde. Wieland hat im Fragment „Theages“ mehr als einmal auf Clarissa hingewiesen; vgl. dazu im einzelnen H. Pohlmeier, Untersuchungen zum Begriff der „schönen Seele“, S. 41ff.: „Die empfindsame ‘schöne Seele’“. 87 Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“. 140 gewordene Ausdruck von Platon ausgehend über Plotin, Augustin, die mittelalterliche Mystik88, Opitz und die Barockpoeten bis hin zu Wieland und Schiller genommen hat. Auf die gleiche Art ist die Bezeichnung in anderen Literaturen verfolgt und zum Teil von Schmeer erwähnt, so daß sich ein fast lückenloses Bild nicht nur des Wortgebrauchs, sondern auch des Bedeutungswandels aus dem Material gewinnen läßt89.

In diesem Kapitel wird der Begriff der „schönen Seele“ in seinen Ausprägungen, d.h. vor allem in seinen Wandlungen. bei Wieland dargestellt. Es sind drei Möglichkeiten bei der Analyse des Topos zu unterscheiden:

• Die rein zufällige Wortverbindung ohne tiefere begriffliche Bedeutung. • Der Begriff, der als Gegensatz der Seelenschönheit zur Körperschönheit, das ganze also als Abstraktum, aufgefaßt wird (eine „schöne Seele“ haben). • Der Begriff als Charakter- oder Menschentypus, wie er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete (eine „schöne Seele“ sein).

Bei Wieland erfährt die „schöne Seele“ im Laufe seines dichterischen Schaffens eine nicht genau abgegrenzte Wandlung vom klischeehaften Wort zum moralästhetisch bestimmten Typus-Begriff. Man kann diesen Wandel in Perioden einteilen. Im Zusammenhang mit der Untersuchung zur Entwicklung des Grazienbildes werden ähnliche Phasen sichtbar. In der Jugend handelt es sich um eine „moralisch-platonisch(e)“ bzw. „pietistisch-asketisch(e)“ Periode; in den Biberacher Jahren folgt eine „frivol- sinnliche Periode“ mit der „Verspottung der platonischen körperlosen ‘schönen Seele’“. Am Ende der Biberacher Amtsjahre beginnt Wielands sogenannte „Reifezeit“ mit einer „ästhetisch-ethische(n) Begründung“90.

Ausgangspunkt der Überlegungen zu Wielands „schöner Seele“ ist die Jugendliebe zu Sophie Gutermann, die er eine „schöne Seele“ nannte91. Der Begriff besitzt noch keine spezifische Bedeutung und steht für „schönes Herz“, „edle, gute Seele“. Da diese Liebe etwas

88 Vgl. H. F. Müller: Zur Geschichte des Begriffs „schöne Seele“, in: GRM 7 (1915-1919), S. 236ff.. Vgl. Walter Müller: Das Problem der Seelenschönheit im Mittelalter. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1923; Max von Waldberg: Zur Entwicklungsgeschichte der schönen Seele bei den spanischen Mystikern, Berlin 1910. 89 Vgl. Erich Schmidt: Entstehung und Begriffsentwicklung des Ausdrucks „Schöne Seele“, in: ders. Richardson, Rousseau und Goethe. Ein Beitrag zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert, Jena 1875, S. 318ff. 90 Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“,, S. 10. Schubert betrachtet die Festlegungen Schmeers als einen Leitfaden durch das Labyrinth der oft einander ausschließenden Kennzeichnungen Wielands und folgt ihnen; Heinz Schubert, Der Begriff der „schönen Seele“, in: ders., Schiller und Wieland, S. 212. 141

Schwärmerisch-Platonisches hatte, bekam die „schöne Seele“ in dieser dichterischen Phase eine entsprechende Färbung allgemeine Tugendschwärmerei. Als Wieland unter den Einfluß Bodmers geriet, ist dieser zunächst die ausschlaggebende Persönlichkeit, und in seinen Dichtungen schlägt sich „Tugendschwärmerei in religiösen Formen“ nieder. „Der Seelen hohe Würde“ macht ihre Schönheit aus92. In dieser Phase erscheint die Seelenschönheit als Gegenpol zur leiblichen Schönheit. Gegen die irdische Liebe setzt Wieland die platonische. Wielands Mystik ist, auch wo sie sich noch so platonisch gibt, nur ein Pseudonym eines ruhelosen Geistes, der seinen Weg noch nicht gefunden hat93. Auch die Tugend wird in dieser Zeit zum Inhalt seelischer Schönheit94. Allerdings kann diese Trennung von Tugendschönheit und Sinnlichkeit als das Ergebnis der Enttäuschung seiner Liebe zu Sophie Gutermann gedeutet werden. Wielands seraphische Seelenschönheit ist hier das Ergebnis einer tiefen Resignation, er hat es aufgegeben, im irdisch-diesseitigen Leben Glückseligkeit zu finden95.

Durch die Lektüre Shaftesburys kommt Wieland zu einer neuen, umfassenderen Bestimmung der Seelenschönheit96 „als harmonischen Uebereinstimmung der einzelnen Seelenkräfte“. Auch der Leib wird „in diese Harmonie des Menschentums, die ihren Ursprung im Uebersinnlichen hat, mit einbegriffen“97. Die Schönheit des Leibes wird als Widerschein seelischer Schönheit gedeutet, die Anmut der äußeren Erscheinung steht in bezug zur inneren Anmut des Geistes. Genauso verhält es sich mit der Tugendschönheit. Sie ist der Seele gemäß und nicht die Auswirkung eines Sittengesetzes. Sie ist „Gesundheit der Seele“ (HRA XIV/S 4, 56) und in der Natur des Menschen verankert98. In „Timoklea“ heißt es, „Unser Leib sowol als unsere Seele sind von Natur so gebildet, daß sie nicht anders als schön seyn können, wenn sie sich in dem natürlichen Zustande befinden, in welchem alle Geschöpfe sind, wofern sie nicht verderbt werden; das ist, wenn sie gesund sind“ (HRA XIV/S 4,56). Hier drückt

91 Beispiele, wo Sophie als „schöne Seele“ bezeichnet wird, vgl. Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 11f. 92 Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 10 und 19. 93 H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 77. 94 Vgl. dazu das allegorische Traumgedicht „Gesicht des Mirza“ (1754), HRA XIV/S4, 19ff. Hier ist die Tugend von überirdischer Schönheit und wird begleitet von der Harmonie. Geistige Tugendschönheit gegenüber sinnenhaftem Genuß geltend zu machen, war schon das Anliegen des „Anti-Ovid“ (1752). 95 H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 78. 96 Obwohl Shaftesbury den Ausdruck „schöne Seele“ nicht kannte, kann der Einfluß dieses englischen Moralphilosophen für die Bedeutung der „schönen Seele“ im 18. Jahrhundert und speziell für Wieland nicht genug betont werden. Vgl. dazu die Erläuterungen von H. Pohlmeier, Untersuchungen., S. 12ff; vgl. auch H. Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 6f. Shaftesbury spricht im Gegensatz zur Leibesschönheit von „inward beauty“, „moral beauty“, „moral venus“. Hamann nimmt an, daß Shaftesbury „moral venus“ für Wieland als die über der Wirklichkeit schwebende Idee der „schönen Seele“ zu betrachten sei und gibt dafür Belege in Wielands Werken. Emil Hamann. Wielands Bildungsideal, Diss. Leipzig 1907, S. 25f. 97 H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 80. 98 nach H. Pohlmeier, Untersuchungen, S.80. 142

Wieland unter Shaftesburys Einfluß aus, daß Natürlichkeit und Gesundheit der Seele identisch sind mit der Tugend und sittlichen Schönheit. In Verbindung mit „Theages“ läßt sich festhalten, daß in dieser Phase mit der „schönen Seele“ noch kein eindeutiger Begriff besonderer Prägung verbunden ist. Es wird traditionelles Gedankengut übernommen und mit eigenen Erlebnissen in Verbindung gebracht. „Unschuld und Güte des Herzens“, wie es in einem Brief an Zimmermann heißt99, sind die Kennzeichen der „schönen Seele“, und die Betonung liegt auf der Seelenschönheit. Hinzugefügt sei, daß Wielands „schöne Seelen“ in seinen Jugenddichtungen noch der Welt entrückt sind, d. h. sie sind nicht den Gefährdungen des Lebens ausgesetzt. Es ist der Ausgangspunkt des Bildes einer Seelenschönheit, die sich in der wahren Welt noch nicht zu bewähren hat. Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit Danae im „Agathon“ näher erläutert.

Als ein Übergang zur „sinnlich-frivolen Periode“ Wielands kann „Araspes und Panthea“ angesehen werden, die er in Anlehnung an Xenophons „Cyropädie“ geschrieben hat. In dem 1774 erschienenen Aufsatz „Von schönen Seelen“100 nennt Wieland die „reizende und tugendhafte“ Panthea „eine schöne Seele“ (H 32, 13). Sie ist eine Idealgestalt, die an ihrer Tugend festhält und deren vollendete Harmonie nicht durch Leidenschaft ins Wanken gebracht wird. Wieland meint, Xenophons Absicht sei es gewesen, „uns in dieser Panthea das I d e a l einer an Leib und Seele schönen Frau darzustellen“ (HRA XIV/S 6,70)101. Mit der „Entzauberung der Schwärmerei“ wandelt sich Wielands Begriff der „schönen Seele“. Zunächst wird er negativ gebraucht. Diese Periode ist gekennzeichnet vom menschlichen Erlebnis, daß die Sinne sich stärker erweisen als das geträumte Reich der Ideale. Für Wieland ist das ein Sturz von der körperlosen Tugendschönheit in die reine Sinnlichkeit. Er ist gegen die bloße Seelenschönheit skeptisch geworden. Er wendet sich ironisch gegen die platonischen „schönen Seelen“. „Der Natur müsse man folgen und nicht Hirngespinsten, man dürfe nicht den irdischen Teil abstrahieren wollen“ schreibt Wieland102. Die damit verbundene Auflösung der Einheit von Leib und Seele wird für den Dichter ein folgenreiches Problem. „Die Frage nach der Möglichkeit seelischer Schönheit, die ... an die menschliche

99 vom 11. 1. 1757, in: AB II, S. 240. 100 TM 1774, Teil 1, S. 310-321; als Brief erschien er 1798 in den Supplementen Bd. 6 unter dem Titel „Antwort auf die Frage: was ist eine schöne Seele?“ (HRA XIV/S 6, 67-77). Dieser Aufsatz enthält nur den zweiten Teil des veröffentlichten Briefes. In diesem Teil werden nur Xenophons, nicht Wielands eigene „schöne Seele“ erwähnt. In dieser Fassung ist der Aufsatz auch in die Hempel-Ausgabe übernommen (H 32, 5-13), hier allerdings mit einigen Anmerkungen der Erstveröffentlichung im TM, die in der HRA fehlen; aus diesem Grund wird der Aufsatz nach der Hempel-Ausgabe zitiert (H 32,13). 101 Vgl. Cornelis Schravesande: Betrachtungen über pädagogische und ethische Tendenzen in Wielands Werken, Diss. Amsterdam 1933, S. 58f. 143

Harmonie gebunden ist, hat Wieland aus dieser Auflösung... immer wieder gestellt“103. Vor allem im „Agathon“ und in „Musarion“ hat er versucht, darauf dichterisch eine Antwort zu finden. Aber in dieser Periode verfolgt Wieland auch Vorstellungen, die Rousseau mit der belle amè verbindet; Natürlichkeit wird ihr als unerläßliches Attribut zugeordnet104. In dieser Zeit ist der Begriff der „schönen Seele“ davon beeinflußt. Sie ist kein Kultur- oder Bildungs-, sondern ein Naturprodukt, wie im folgenden erläutert wird.

Es bleibt anzumerken, daß Wielands „schöne Seele“ ein „mögliches Wesen dieser empirischen Welt“ ist, im Gegensatz zu Schiller, bei dem es sich um ein „ideales Abstraktum“ handelt105. Wielands „schöne Seele“ kann auch eine mit Fehlern behaftete Person sein, denn für ihn gestaltete sich in ihr sowohl das ideelle als auch das materielle Leben zum Kunstwerk, weil der Anteil der Natur an ihr wirkungskräftiger ist als die moralische Komponente. Es findet in dieser Zeit eine Akzentverschiebung vom Moralischen zum rein Gefühlsmäßigen statt. „Ein glückliches Dasein“ ist das Spiegelbild der inneren Vollkommenheit dieses Menschentypus106. Wieland bleibt auf dieser Stufe nicht stehen. Schon in der Biberacher Zeit ist eine ästhetisch-ethische Begriffsbildung der „schönen Seele“ zu spüren, die Kennzeichen von Wielands Reifezeit wird. Diese Periode läßt sich nicht so eindeutig von seiner sinnlich- frivolen Periode trennen, wie von der Jugendzeit. In der Reifezeit kommt es zu einer Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, wie z. B. in „Musarion“. Das Ethische verbindet sich mit dem Ästhetischen im Sinne Shaftesburys. In dieser Zeit entsteht die endgültige Formulierung der „schönen Seele“, eine der wichtigsten Fundstellen dafür ist der „Agathon“107. Neben der besonders tugendhaften Panthea wird Danae im „Agathon“ eine „schöne Seele“ genannt, die nicht immer tugendsam war. In der ersten Fassung von 1767 ist sie noch die Hetäre, die den idealistischen Schwärmer Agathon mit seinen eigenen Mitteln fängt. Sie erhebt hier den Anspruch auf Seelenschönheit. Wieland war sich wohl der

102 Brief vom 16. 3. 1771 (zit. nach Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 27). 103 H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 82. 104 Vgl. Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 27. Wieland verwandte oft den Ausdruck infolge von Rousseaus Nouvelle Héloise (1761). Vgl. dazu den Vorbericht zur 2. Auflage von „Musarion“, wo auch das Naturhafte der „schönen Seele“ betont wird. „Wenn sie einander so liebten und ehrten, wie gewiss alle wahrhaftig schönen Seelen durch eine Art von innerlicher Notwendigkeit zu tun angetrieben werden“, H 4, 324. 105 Heinz Schubert, Der Begriff der „schönen Seele“, in: ders.: Schiller und Wieland, S. 213. 106 In „Musarion“ ist ein möglicher Weg zur Realisierung angedeutet. Um das Schöne im Leben zu verwirklichen, ging sie den Weg der leicht gefälligen Anmut, mit der sich zu umkleiden die irdischen Dinge fähig sind. Auch Danae hatte ihr Leben unter dieses Gesetz gestellt, indem sie sich den Grazien weihte. Die in ihrer Art vollkommene Verwirklichung dieses Weges ist „Musarion“. Das Weltbild der „schönen Seele“ wird hier zur „reizenden Philosophie“, zur heiteren Lebens- und Liebeskunst. Vgl. dazu ausführlich H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 93ff. 107 Wieland stellt darin das Ideal seiner Jugend vor die Wirklichkeit des Lebens. Das ist das Hauptanliegen dieses Romans, das ihn auf seinem weiteren Lebensweg begleitete, S. 93ff. 144

Schwierigkeit bewußt, auch in diesem Fall seine Ansicht am Beispiel zu erhärten108 . „Aber welche neue Schwierigkeiten! - Die Tugend einer Danae! Wer kann ... zu der Tugend einer Danae Vertrauen fassen? ... Wir gestehen es, insoweit ein Vorurtheil gerecht heißen kann, ist nichts gerechter als das Vorurtheil, welches der schönen Danae entgegensteht“ (HRA I/3, 241f).

1773 wird die „Geheime Geschichte der Danae“ eingefügt. Damit gibt Wieland die Rechtfertigung für eine im innersten Kern „schöne Seele“. Die Erhebung der Danae zur „schönen Seele“ ist für seine Auffassung bezeichnend. Es ist das Neue, das er mit diesem Begriff verbindet. Bei Danae zeigt sich nicht strenge, aushaltende Tugend, die Unzerstörbarkeit ist vielmehr das charakteristische Merkmal. Bei ihr ist die Tugend angeboren, naturgegeben, und so bleibt Danae eine „schöne Seele“. auch wenn sie zeitweise nicht tugendhaft gehandelt hat109. „Eine schöne Seele, welcher die Natur, die Lineamenten der Tugend... eingezeichnet hat, begabt mit der zartesten Empfindlichkeit für das Schöne und Gute, und mit angeborner Leichtigkeit jede gesellschaftliche Tugend auszuüben, kann durch einen Zusammenfluß ungünstiger Zufälle an ihrer Entwicklung gehindert, oder an ihrer ursprünglichen Bildung verunstaltet werden. Ihre Neigungen können eine falsche Richtung bekommen. Die Verführung in der einnehmenden Gestalt der Liebe, kann sich ihrer Unerfahrenheit zur Wegweiserin aufdringen. ... Erziehung und Beyspiele können sie über ihre wahre Bestimmung verblenden... Eine lange Reihe angenehmer Verirrungen kann die Folge des ersten Schrittes seyn, den sie auf einem Wege gethan hat, der ihrem bezauberten Auge der gerade Pfad zum Tempel der Glückseligkeit schien. - Aber warum sollte sie nicht von ihrem

108 Nach Julian Schmidt war Wieland der erste Dichter, der das Konzept der „schönen Seele“ auch auf Hetären und „gefallene“ Jungfrauen ausdehnte; Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland 1650-1750 II., Leipzig 1863, S. 283. Nach Pohlmeier ist Danae eine der problematischsten Gestalten Wielands, die modifiziert auch in anderen Frauengestalten wiederkehrt. Das sentimentale Tugendideal trifft in ihr zusammen mit dem Drang nach einer Emanzipation der Sinne. Er hält es für eine gefährliche Möglichkeit, die Wieland mit der Geschichte der Danae beispielhaft wiedergibt, um den Gegensatz von Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu überwinden, H. Pohlmeier, Untersuchungen, S. 87. 109 Groß weist daraufhin, daß der Zug der ästhetischen Bestimmbarkeit in dieser Wesensbestimmung der schönen Seele auf Shaftesbury zurückgeht. Die anderen Züge, die weniger mit dem Geist dieser Moralphilosophie zu vereinbaren sind, stammen aus anderen Quellen. „Wie Rousseau Julie in der ‘Nouvelle Héloise’ und Richardsons ‘Clarissa Harlowe’ durch einen Fehltritt nichts von der Schönheit ihrer Seele verlieren, ebenso wenig vermag auch bei Danae die ‘lange Reihe angenehmer Verirrungen’ die ‘Lineamente der Tugend’ zu beseitigen, und Wieland lehnte sich damit bewußt an das Vorbild Rousseaus an...“; Erich Groß: Wielands „Geschichte des Agathon“. Entstehungsgeschichte, Berlin 1930, S. 135f. Vgl. dazu T. Klein: Wieland und Rousseau, Diss. Berlin 1903, S. 11f. Vgl. auch „Unterredungen mit dem Pfarrer von ***“. Er fragt darin, ob denn wirklich kein Unterschied sei zwischen „einer nächtlich schwärmenden Priesterin der Venus Volvivage, und einer Leontin, für welche die Grazien und Musen (mächtige Fürsprecherinnen!) beynahe die Tugend selbst zu Nachsicht bestehen konnten? Zwischen einer Schatulliöse... oder einer Julie, deren Seele durch ihren Fall selbst ihre Reinigkeit nicht verliehrt, und der Tugend, auch da sie sich von ihr verirrt, herzlicher ergeben ist, als 145

Irrwege zurück kommen können? Die Umstände können der Tugend eben sowohl beförderlich als nachtheilig seyn. Ihre Augen können geöffnet werden. Erfahrung und Sättigung lehren sie anders von den Gegenständen urtheilen. ... Die Grundzüge der Seele bleiben unveränderlich. Eine schöne Seele kann sich verirren, kann durch Blendwerke getäuscht werden; aber sie kann nicht aufhören, eine schöne Seele zu seyn. ... laß’t sie die Gottheit der Tugend kennen lernen! Dies ist der Augenblick, wo sie sich selbst kennen lernt; ... Die Liebe zur Tugend, das Verlangen sich selbst nach diesem göttlichen Ideal der moralischen Schönheit umzubilden, bemächtigt sich nun aller ihrer Neigungen...“ (HRA I/3, 242ff.). Hier gewinnt die „schöne Seele“ einen festen Begriffscharakter und dient Wieland, wie vielen Dichtern des 18. Jahrhunderts, zur Bezeichnung eines bestimmten, von der Natur mit ethischen und ästhetischen Qualitäten begabten Menschentypus. Formal gesehen ist das wesentliche Merkmal der „schönen Seele“ ihre Unveränderbarkeit durch äußere Einflüsse, ihr Beharren auf der angeborenen Form ihrer Natur110. Wenn dennoch Danaes Lebensweg weitgehend als Resultat äußerer Einflüsse erscheint, so besteht hier nicht zwischen der „schönen Seele“ als philosophischer Idee und der die „schöne Seele“ in ihrer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu beobachtenden dichterischen Formung eine Unstimmigkeit, sondern ein Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Denn je größer die Gefahren sind, die die „schönen Seelen“ bedrohen, um so deutlicher wird schließlich der Triumph ihres eigentlichen Wesens. „Sie ist ihm (Wieland) als ‘character indelebilis’, als angeborene Tugend eine moralische Substanz, die zwar durch äußere Einflüsse in ihrer Lebenstätigkeit gestört wird, die aber ihre eigentliche Kraft, ‘die Leidenschaft zum Guten’,

manche maßgebliche Lucrecia, die sich große Dinge auf eine Keuschheit einbildet, welche niemand auf die Probe zu stellen begehrt?“ (HRA X/30, 470). 110 Hier sei angemerkt, daß Wieland bereits 1753 in der „Abhandlung vom Naiven“ eine Verknüpfung von Naivität und Anmut in der „schönen Seele“ vornimmt: „Ich glaube, daß ich es kühnlich für eine allgemeine Erfahrung ausgeben darf, daß diese Naivete allemal mit einer gewissen äußerlichen, sichtbaren Anmuth verknüpft ist, die man nicht definieren aber vermittelst eines feinen Geschmacks ganz klar empfinden kann. In der poetischen Sprache könnte man von diesem je ne sai quoi sagen, es sey der Widerschein eines schönen Herzens. Ohne Zweifel hat diese Anmuth ihren Grund sowol in der ersten Anlage des Körpers, als auch in der Uebung in edlen und harmonischen Gemüthsbewegungen, welche eine große Kraft haben, einem sonst nicht schönen Gesicht eine Lieblichkeit zu geben, die weit über den leblosen Glanz der Farben, oder über die Regelmäßigkeit der Züge an einem geistlosen Bilde geht. Sie sehen hieraus, mein Herr, wo die Naivete vornehmlich statt hat, nehmlich bey ganz unschuldigen und kunstlosen Sitten, da die Tugend mehr vom Instinkt, als von deutlichen Ueberlegungen getrieben wird, und in Reden, Affekten und Thaten welche man solchen Leuten beylegt. Diese Eigenschaft ist von einer schönen Seele unzertrennlich; ...“ (AA I/4, S. 17). Wieland definiert die „schöne Seele“ schon als Natur-, nicht als Bildungsprodukt; auch taucht der Begriff nicht als zufällige Wortverbindung auf. Heinz Schubert, Der Begriff der „schönen Seele, in: ders., Schiller und Wieland, S. 212, weist darauf hin, daß es hier schon um einen Menschentypus gehe, eine Form des Menschseins, deren besondere Eigenschaften Naivität und sich in Gemütsbewegungen äußernde Anmut sind und diese seien unerläßliche Merkmale einer „schönen Seele“; Vgl. dagegen zu dieser Abhandlung die gegenteiligen Äußerungen Hans Schmeers, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 10f. 146 nie verliert“111. Der Weg der Danae ist demnach nur ein „Irrweg“ einer „schönen Seele“, von dem sie später zur Tugend und Enthaltsamkeit zurückkehrt, als sie am Schluß auf eine Verbindung mit Agathon verzichtet und im Tempel als Chariklea das Leben einer ehrsamen Matrone führt. Das längere Zitat kann als Motto der Lebensgeschichte Danaes angesehen werden, die von Wieland als „Rettung“ der großen Hetäre aufgefaßt wird. Auf diesen Aspekt wird im Exkurs noch eingegangen. An dieser Stelle sei noch einmal der Aufsatz „Von schönen Seelen“ erwähnt, den Wieland 1774 im Teutschen Merker veröffentlicht“ (HRA XIV/S6,67-77). Darin gibt er zwar Beispiele, aber keine Begriffsbestimmung. Auch hier weicht er einer Definition aus und bevorzugt statt dessen exemplarische Schilderungen. „Was ich unter einer ‘schönen Seele’ verstehe...? Sie haben meine Schriften gelesen; Sie kennen Panthea, Psyche, Danae und Olinde..., und Sie können problematisch finden, was ich unter einer schönen Seele verstehe?“. Die Beispiele, die hier zur Erläuterung angeführt werden, entnimmt Wieland einem seiner Lieblingswerke, der Cyropädie von Xenophon, denn der Dichter meint, „Beispiele malen oft mit einem einzigen Zug unsre Begriffe besser als schwankende Schulerklärungen“ (H 32,7f.). Aber diese Beispiele zeigen nicht denselben „theoretisch-abstrahierten Idealtyp: schöne Seele, sie sind... aus verschiedenen Entwicklungsstadien des Dichters entnommen“. Andererseits stellt Wieland auch Psyche112 neben Danae. Das Gemeinsame zwischen der naiven und der geistig gebildeten, liebeserfahrenen Frau besteht darin, daß sie beide die „schöne Seele“ des 18. Jahrhunderts haben. Wenn man die Beispiele in dem Aufsatz „Von schönen Seelen“ betrachtet, kommt man zu der Auffassung, daß Wielands „schöne Seelen“ „sozusagen als dichterische, lebendige Typen um ein meist unbewußtes Begriffssystem“ oszillieren113. Während der Begriff hauptsächlich auf das weibliche Geschlecht angewandt wird, ist das entsprechende männliche Ideal der Virtuoso nach Shaftesbury, die Bildung des Geschmacks tritt hier in den Vordergrund des Interesses. In „Theages“ ist Nicias ein „Virtuoso nach den Begriffen unsers Shaftesburys“ (HRA XIV/S 4,144). Allerdings dürfen der „Virtuoso“ und die „schöne Seele“ bei Wieland nicht gleichgesetzt werden. Ersterer ist das Resultat ästhetischer Bildung, die „schöne Seele“ ein Produkt der Natur, sie ist „begabt mit der zartesten Empfindlichkeit für das Schöne und Gute“ (HRA I/3,242). Darin liegt das Geheimnis ihrer Wirkung, daß sie von Geburt an Repräsentantin jenes Ideals ist, zu deren Verwirklichung der Virtuoso vieler

111 Barbara Schlagenhaft: Wielands „Agathon“ als Spiegelbild aufklärerischer Vernunfts- und Gefühlsproblematik, Erlangen 1935, S. 152. 112 Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 38. Er meint, das Psyche im „Agathon“ als „schöne Seele“ gedacht ist, in ihrer zarten, edlen Anmut und stets im Einklang mit sich selbst, sei leicht zu verstehen, S. 37. 113 Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele, S. 38. 147

Erfahrungen auf dem Gebiet der Kunst, der Sitte usw. bedarf. Der „schönen Seele“ sind nicht nur sittliche Integrität von Natur aus mitgegeben, sondern auch der Geschmack und die Liebe zum Schönen. Dieses alles bestimmt ihr Wesen, das sich in der Begegnung mit der Gesellschaft wohl mal irren, aber nicht verlieren kann.

Es bleibt festzuhalten: Die „schöne Seele“ ist die Rechtfertigung der Tugend vor der Vernunft. Wielands Philosophie ist praktische Lebensweisheit. Die Harmonie des Lebens ist nicht gefährdet. Auch in der Moral wählt der Dichter den Mittelweg und wendet sich gegen Schwärmer und Rigoristen. Moralisch beschränkt er sich darauf, die Triebe vernunftmäßig zu leiten. Er ordnet die Sinnlichkeit in sein von Shaftesbury übernommenes Harmoniesystem ein. Die „schöne Seele“ ist kein Zwangsprodukt, sondern etwas Naturgegebenes, eine Bildung der Natur. Die Harmonie ist das Ideal der „schönen Seele. Es darf nicht durch heftige Leidenschaft zerstört werden. Aber auch Wielands Sinnlichkeit ist nicht leidenschaftlich, sondern epikureisch. Der Ausdruck dieses Harmoniesystems sind Anmut, Grazie. Der „schönen Seele“ werden alle geistigen und körperlichen Verrichtungen zum Spiel. Wieland ist der Ansicht, „Ein schöner Leib verspricht auch eine schöne Seele“ (HRA VI/17, 23, Vers 31). Daß dieses nicht immer der Fall ist, bringt ihn in manchen Zwiespalt. Er läßt an sich die äußere Schönheit beiseite, die Anmut, die Schönheit in Bewegung, ist bei Wieland das ästhetische Phänomen der „schönen Seele“. Er betont dabei nicht so stark das moralische Moment der Grazie. Abschließend sei bemerkt, „der Ausdruck der ‘schönen Seele’... ist nicht der Körper selbst, was die vollendete Harmonie wäre, sondern die Anmut, die Grazie des Körpers - infolge des seelischen Frohsinns, der ungetrübten Harmonie“114. In der Ausführung des Harmoniegedankens ist Wieland der klassischen Definition Schillers zwar nahegekommen, erreicht jedoch nicht die Tiefe. „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonisieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. Nur im Dienst einer schönen Seele kann die Natur zugleich Freiheit besitzen und ihre Form bewahren, da sie erstere unter der Herrschaft eines strengen Gemüts, letztere unter der Anarchie der Sinnlichkeit einbüßt. Eine schöne Seele gießt auch über eine Bildung, der es an architektonischer Schönheit mangelt, eine unwiderstehliche Grazie aus, und oft sieht man sie selbst über Gebrechen der Natur triumphieren. Alle Bewegungen, die von ihr ausgehen, werden leicht, sanft und dennoch belebt sein. Die architektonische Schönheit kann

114 Vgl. Hans Schmeer, Der Begriff der „schönen Seele“, S. 41, der bemerkt, daß der Bruch zwischen „schöner Seele“ und dem „schönen Körper“ von Wieland möglichst umgangen wurde; deshalb spricht er einschränkend des öfteren von den Augen, in denen sich die schöne Seele malt. Vgl. auch die „Abhandlung vom Naiven“ (1753); „Timoklea“ (1754/55). 148

Wohlgefallen, kann Bewunderung, kann Erstaunen erregen, aber nur die Anmut wird hinreißen. Die Schönheit hat Anbeter; Liebhaber hat nur die Grazie; denn wir huldigen dem Schöpfer und lieben den Menschen“115

115 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Bd.5, S. 468f. Vgl. zum Unterschied zwischen der „schönen Seele“ bei Wieland und Schiller Heinz Schubert, Der Begriff der „schönen Seele“, in: ders.: Schiller und Wieland, S. 206- 216. Vgl. auch Walter Hinderer: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18/1974, S. 308f. 149

5 Die Göttinnen der Anmut - Entwicklung des Grazienbildes

5.1 „Theages oder Unterredungen von Schönheit und Liebe“. Ein Fragment

5.1.1 Entstehung des Werkes und Verbindung zu anderen Dichtungen

Das Prosawerk erschien erstmals 1758, nicht wie Wieland später in seiner „Ausgabe letzter Hand“ angibt, 17601 in der „Sammlung einiger Prosaischer Schriften“2 und wurde „einige Jahre vor 1758“3 geschrieben. Wahrscheinlich entstand es 1755. Beide Daten, Entstehungszeit und Erscheinungsjahr, liegen bei Wieland, wie in diesem Falle, oft mehrere Jahre auseinander. Für das Fragment ist die genaue Datierung der Entstehung insofern von Bedeutung, als Sengle für 1756 Wielands „große Wandlung..., die Entzauberung des jungen Schwärmers“ ansetzt4. Im gleichen Zeitraum entstanden die „Sympathien“ (1755), „Empfindungen eines Christen“ (1755/56), zwischen 1756 und 1760 „Araspes und Panthea“ und „Cyrus“. In diesem Zusammenhang ist vor allem der um 1754/55 entstandene Dialog „Timoklea. Ein Gespräch über scheinbare und wahre Schönheit“ von Bedeutung, der im April 1755 in Bodmers Zeitschrift „Das Angenehme mit dem Nützlichen“ erschien, in dem das Verhältnis von innerer und äußerer Vollkommenheit, seelischer Tugend und körperlicher Schönheit erörtert wird5. Während die „Sympathien“ den „höchsten Grad übersinnlicher Schwärmerei, den die Liebes- und Schönheitsphilosophie des Symposions bei Wieland annehmen konnte“6, aufweisen, finden sich in „Timoklea“ erste „Spuren eines tieferen

1Vgl. HRA XIV/S4, 141-192 2 Zürich: Orell 1978, Bd. 1, S. 139ff. 3 Vgl. Sommer, S. 24. Vgl. Peter Michelsen: Lawrence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1962, S. 141f. 4 Sengle, S. 75. 5 Ähnliche Gedanken formuliert Wieland in zwei gleichzeitig entstandenen Werken. In der „Abhandlung vom Naiven“ heißt es: „Ohne Zweifel hat diese Anmuth ihren Grund, sowol in der ersten Anlage des Körpers, als auch in der Uebung in edlen und harmonischen Gemütsbewegungen, welche eine große Kraft haben, einem sonst nicht schönen Gesicht eine Lieblichkeit zu geben, die weit über den leblosen Glanz der Farben oder über die Regelmäßigkeit der Züge an einem geistlosen Bilde geht“; AA I/4, S. 17. Vgl. auch „Ankündigung einer Dunciade“ (1755).Da dieses Werk nicht in die „Sämmtlichen Werke“ aufgenommen wurde, wird nach der Hempel-Ausgabe zitiert. „Je größer die innerliche Güte eines Dinges ist, desto größer ist seine Schönheit. Daher ist das sittlich Schöne so sehr über das, was in den Figuren und Farben schön ist, erhaben“, H 40, 584f.. Und den Anakreontikern macht er in den ebenfalls 1755 erschienenen „Sympathien“ demzufolge nicht den Vorwurf der Unsittlichkeit, sondern hält ihnen unter Berufung auf Shaftesbury das rein ästhetische Argument entgegen, daß es höhere Schönheiten gäbe als „blumichte Wagen und milchweiße Busen“, HRA XIII/S3, 127f. Vgl. auch Sokrates über Schönheit und Liebe im „Aristipp“, Erstes Buch, XXV. Brief: Lais an Aristipp, HRA XI/33, 237- 257. Durch das Thema „Schönheit und Liebe“ und durch die Dialogform scheint dieses „Gespräch“ auch sonst mit „Theages“ nahe verwandt. 6 Herbert Grudzinski: Shaftesburys Einfluß auf Wieland, in: Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte NF 34 (1913), Teil 3, S. 60. In „Timoklea“ stellt Wieland die Begriffe von Schönheit und Liebe in einseitiger Weise als platonischer Schwärmer als Seelenschönheit in den Vordergrund und spielt sie gegen die Reize der sinnlichen 150

Studiums Shaftesburys“7. Obwohl er bereits das Moment der Anmut hervorhebt und Wieland nachweislich von ihm beeinflußt ist, trennt der englische Moralphilosoph die Anmut nicht von der Schönheit; sein Ausdruck dafür ist „moral grace“8. In „Timoklea“ geht Wieland insofern über Shaftesbury hinaus, als er als erster in Deutschland, noch vor Mendelssohn9, zwischen Schönheit und Anmut unterscheidet10: „Man versteht unter dem, was man Annehmlichkeiten oder Grazien nennet, nichts Anders als diese kleinen Einflüsse, welche die Lebhaftigkeit, Schönheit und Zierlichkeit des Gemüths in den (sic) Körper hat; und wenn man genau redet, so unterscheidet man Schönheit und Anmuth, wovon die letzte eben deswegen, weil sie unmittelbar aus der Seele fließet, weit edler ist als die erste“ (HRA XIV/S4,57). Wie wenig Wieland die Philosophie Shaftesburys bis dahin verarbeitet hat, zeigt sich sowohl in „Timoklea“ selbst, als auch im Widerspruch zwischen „Timoklea“ und den „Sympathien“. So preist Sokrates Timoklea als die ideale Einheit von innerer und äußerer Schönheit: „Die Natur hat Dich mit der schönsten Anlage zu einer liebenswürdigen Harmonie zwischen dem äußerlichen Menschen und dem inwohnenden Geiste begabt“, aber dann fährt Sokrates fort, daß der seelischen Schönheit der Vorrang vor der leiblichen gebühre (HRA XIV/S4, 60f.)11. Für die Entwicklung des Grazienbildes ist „Timoklea“ also insofern wichtig, als Wieland hier schon zwischen Schönheit und Anmut unterscheidet und in Anlehnung an Shaftesbury ihren Grund in der Seele findet12. Außerdem ist die Anmut mit „Lebhaftigkeit“ (HRA XIV/S4,57) verbunden. Damit ist das Element der Bewegung angesprochen, das in der ästhetischen Diskussion um den Anmutsbegriff eine wichtige Rolle spielt. Wie Hogarth tritt Wieland dem „je ne sais quo“ entgegen, wenn Timoklea die Auffassung vertritt, daß für einen Sokrates die Anmut schon ein fester Begriff geworden sei. Timoklea stellt fest, daß zu einer

Liebe aus. Liebe ist folgerichtig nur in platonisch-mystischem Sinne der Seelenverwandtschaft zu verstehen. Für diese Geistesverfassung fand Wieland auch bei Shaftesbury die Bestätigung und beruft sich ausdrücklich auf ihn: „Von dem Plato oder Shaftesbury lerne, was Natur und Tugend“, AA I/2, S. 460. Shaftesbury dient Wieland nur als Stütze für seine platonische Schönheitslehre; vgl. dazu Hans Werner Seiffert: Der vorweimarerische Wieland, Diss. Greifswald 1949, S. 104f. 7 Emil Ermatinger: Die Weltanschauung des jungen Wieland, Frauenfeld 1907, S. 113. Grudzinski, S. 57, weist darauf hin, daß es möglich ist, daß die dialogische Form der Schrift von Shaftesbury angeregt ist und verweist auf den Vorbericht von 1758 (AA I/2, S. 277). Aber auch inhaltlich ist der Einfluß spürbar, wenn es heißt: „Seele und Leib stehen in einem so genauen Verhältnis miteinander, daß die Gesundheit und Schönheit des Körpers leidet, je mehr sich die Seele von der Tugend entfernt, und hingegen ordentlicher Weise zunimmt und vermehrt wird, je mehr sich die inwendige Schönheit entwickelt“ (HRA XIV/S4, 57). 8 Vgl. Otto Brückl: Wieland „Erzählungen“, Diss. Tübingen 1960, S. 36. 9 Vgl. Moses Mendelssohn: Zufällige Gedanken über die Harmonie der inneren und äußeren Schönheit, in: ders. Werke, hg. von Brasch, 1880, Teil II, S. 295. 10 Price ist dagegen der Ansicht, daß Wieland erst in „Theages“ klar zwischen Anmut und Schönheit unterscheidet. L. M. Price: Die Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland 1550-1960, Bern/München 1961, S. 69. 11 Daß sich im übrigen in diesem Werk Shaftesburys Moralphilosophie mit mystischen Jenseitsphantasien vermischen, hat Ermatinger, Weltanschauung, S. 113f. zu belegen versucht. 12 Vgl. HRA/S4, 35-64. 151 vollkommenen Schönheit des Menschen sowohl „die Seele, der edelste Teil“13, als auch der Leib, „jedes ganz und gar in seinem natürlichen Zustand der Gesundheit...“ (HRA XIV/S4, 58) gehöre. Die „inwendige Schönheit“ (HRA XIV/S4,57)14, die Seele, spiegelt die Anmut wider.

Wichtig ist auch ein anderer Aspekt in diesem „Gespräch“. Wieland beschreibt das Idealbild eines anmutigen Mädchens, das aber wie in früheren Dichtungen, nur ein Vergleich ist, wie ein Mädchen sein müßte, wenn sie eine Grazie genannt werden sollte. Timoklea hat „die liebenswürdige Pasithea“ (HRA XIV/S4,45) - so heißt eine der Grazien bei Homer und in Wielands „Die Grazien“ - im Traum gesehen und beschreibt, daß sie allen gefällt, „... die sie sehen; aber ein Weiser, der sie sieht, muß sie lieben. Ihre Augen lächeln wie ein heiterer Abendhimmel, und die Sittsamkeit wohnt in ihren unverstellten Wangen. Wenn sie spricht, so ist der Inhalt ihrer Worte so harmonisch als ihre Stimme; ihre Empfindungen sind aufrichtig, gütig und unschuldig wie ihre Blicke. In ihren Geberden ist Anstand, ihre Kleidung ist einfach und zierlich...“ (HRA XIV/S 4,45f.). Und am Schluß heißt es, „...wenn die Grazien, welche die Tugend begleiten, eine irdische Gestalt annehmen wollten, so würden sie die Deine annehmen...“. Damit erhält man zum ersten Mal ein ausführliches Bild der Grazien in Wielands Vorstellung, aber noch bleibt es beim Vergleich. Die mythologischen Grazien, die keine irdische Gestalt haben, also unsinnlich sind, können ihre Erscheinungsformen nur einem irdischen Mädchen übertragen. Damit ist mit „Timoklea“ ein Ansatz zur Versinnlichung der Grazien gemacht15. In „Theages“ tragen Aspasia, Pasithea und die Grazien des Gemäldes schon Züge der Grazienvorstellung Wielands. Die erste größere erwähnenswerte Dichtung nach der sogenannten Wandlung ist „Araspes und Panthea“, auf die noch eingegangen wird.

13 Vgl. dagegen Shaftesbury, der einen harmonischen Ausgleich zwischen Seele und Körper vertritt; Seiffert, Wieland, S. 103f. 14 Wenn Wieland von „inwendiger Schönheit“ spricht, erinnert das an Shaftesburys bekannte Formulierung „inward form“. Shaftesbury vertritt damit die Auffassung, daß der Mensch ein mit bestimmten Anlagen und Fähigkeiten ausgestattetes Wesen ist; vgl. Ernst Ludwig Stahl: Die religiöse und die humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert, Berlin 1934 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1970), S. 145. 15 Pomezny, S. 163ff. 152

5.1.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Theages“

Die dichterische Phase, in der Wieland das Fragment „Theages“ schrieb, wird in der Literatur als „Schweizer Wirrnisse“16 oder die „Schweizer Jahre“ (1752-1760)17 umschrieben. 1752 ging Wieland nach Zürich und lebte dort bis 1754 im Hause Bodmer. Unter seinem Einfluß entstanden eine Reihe von Dichtungen18. Zur Zeit der Entstehung von „Theages“ hatte sich Wieland bereits von Bodmer gelöst. Ihn verdroß u. a. die Rolle, die er ihm im Streit mit Gottsched zugedacht hatte. Das entscheidende Erlebnis des jungen Wieland war die Liebe zu Sophie Gutermann, mit der er zeitweise verlobt war. Ende 1753 löst sie diese Verbindung und heiratet den Herrn von La Roche19. Dennoch verbindet Wieland mit dieser Frau eine lebenslange Freundschaft20. Die biographischen Zusammenhänge zwischen Wieland, Sophie La Roche und ihrem Mann sind bekannt21. Nachdem Wieland sich von Bodmer gelöst hat, nimmt er 1754 eine Hauslehrerstelle bei dem Amtmann Grebelin in Zürich an22. Der Aufenthalt in diesem Hause und die Eheschließung von Sophie Gutermann fördern seine Flucht in den „Mystizismus“, wie er in der Literatur genannt wird23. Wieland hat

16 Sengle, S. 53f. 17 Sommer, S. V. 18 Vgl. L. F. Ofterdingen: C. M. Wielands Leben und Wirken in Schwaben und in der Schweiz, Heilbronn 1877, S. 87ff; das Werk ist aufgrund zahlreicher Irrtümer allerdings mit Vorsicht zu benutzen. Vgl. zu den frühen Dichtungen auch Werner Schubert: Geträumte Wirklichkeit. Zu Christoph Martin Wielands frühen Erzählungen, in: Höhle, Kolloquium Halberstadt 1983, S. 204-212 19 Vgl. dazu E. Nödl: Die Frauengestalten in Wielands Griechenromanen, Diss. Wien 1930, S. 34. Sie beschreibt Wielands seelische Verfassung nach der Lösung der Verlobung und zitiert einen Brief Wielands an Bodmer in Zürich vom 24. 6. 1754: „Ich will anstatt der Sprache der Leidenschaft, die meiner wahren Gesinnung gemässeste Sprache eines tugendhaften und weisen Freundes reden. ... Meine grösste Freude ist hierbei, daß die platonische Liebe bei mir keine Schimäre ist“. In den „Sympathien“ (1755) sprach er zu den Seelen seiner Freundinnen. 20 Vgl. Ludmilla Assing: Sophie La Roche, die Freundin Wielands, Berlin 1850. Vgl. auch Karl Hoppe: Der junge Wieland. Wesensbestimmung seines Geistes, Leipzig 1930, S. 72ff. und Marga Wesly: Das junge Mädchen im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Sturm und Drang, Leipzig 1933, S. 91ff. 21 Vgl. Sengle, S. 24ff. 22 Das Wesen dieser Frau schildert Wieland später als das einer „Devotin“, der „zu Gefallen (er) damals auch die ‘Empfindungen des Christen’ gedichtet habe“ (Böttiger 1838, S. 397f.). „Sie sind der reinste Ausdruck von Wielands Mystizismus“, meint Groß; Erich Groß: Wielands Geschichte des Agathon“. Entstehungsgeschichte Berlin 1930, S. 52. Auch Ofterdingen hat unter Heranziehung von Wielands Briefwechsel dieses Verhältnis zwischen dem „platonisierenden Morgenträumer“ und dieser „Devotin“ eingehend dargelegt; Ofterdingen, C. M. Wielands Leben und Wirken in Schwaben und in der Schweiz, Heilbronn 1877, S. 106ff. Vgl. über den Umgang Wielands im Hause Grebel auch: C. M. Wielands sämtliche Werke, 50. Bd., neu bearb. J. G. Gruber: Wielands Leben, 1. Theil, II. Buch, Leipzig 1827, S. 218ff.; Sengle, S. 70ff. nennt es „das empfindsame Serail“. Vgl. auch : Über Wielands Züricher Freundinnen, in: Anzeiger für deutsches Altertum I,1 (1875), S. 24ff. Vgl. auch E. Thorn: Wielands Liebe, in: ders. Frauen um Dichter, 1933. 23 Erich Groß, Wielands „Geschichte des Agathon“, S. 52. Was Wieland selbst als „Mystizismus“ ansah, beschreibt er in einem Brief an Zimmermann vom 2.9.1756 als „eine gänzliche Verläugnung aller irdischen Dinge und unserer Selbst...“; AB I, S. 215. Vgl. Christian Jakob Wagenseil: „Wie kam Wieland zum Mystizimus 153 rückblickend die Jahre 1755/56 als „mystische Schwärmerei“ bezeichnet24. Auch in „Theages“ scheint sie noch nicht ganz überwunden zu sein25, wie z. B. die mehrmalige Erwähnung der Engländerin Elisabeth Rowe-Singer beweist, durch deren Werk Wielands Mystizismus unter anderem gefördert wurde26. Neben einigen anderen Frauen dieses „Serails“ ist der Umgang mit einer älteren Frau des Züricher Kreises für Wielands Entwicklung von Bedeutung. Es ist die Witwe Elisabeth Grebel-Lochmann, die er 1754 im Hause Grebel kennenlernt. Sie wird als eine gebildete und welterfahrene Dame geschildert27, die nicht ohne Einfluß auf Wieland geblieben zu sein scheint. Er nennt sie noch im Alter „die geistreichste und gebildetste Frau in Zürich“28. In der Literatur wird sie vielfach mit der Entstehung von „Theages“ in Zusammenhang gebracht, was der entsprechende Briefwechsel Wielands aus der Zeit belegt29. Die Vermutung scheint sich zu bestätigen, wenn man berücksichtigt, daß der Veröffentlichung von „Theages“ ein unbekannter Druck in 12 bzw. 16 Exemplaren mit einer Widmung für Frau Grebel-Lochmann vorgegangen ist30. Und z. Z. des „Agathon“ schreibt

und Pietismus? und wie geschah es, dass er in der Folge wieder auf die Gegenseite gerieth?“, in: Literarisches Almanach,. hg. Lic. Simon Ratzeberger, 4. Jg., Leipzig 1830, S. 227-246. 24 Vgl. Brief an L. Meister, AB III, S. 385. 25 Noch in einem Brief vom 2.9.1756 hatte er den Mystizismus gepriesen; AB I, S. 215. 26 Vgl. zum Einfluß auf Wielands Dichtungen: „Sympathien“, AA I/2, S. 487, wo er die „Andachten“ (deutsche Übersetzung) der Frau Rowe erwähnt; „Empfindungen eines Christen“, AA I/2, S. 397f., wo auch der Einfluß dieser englischen Dichterin spürbar ist. Vgl. dazu Erich Groß, Wielands „Geschichte des Agathon“, S. 54. Danach kommen in der Gedankenwelt dieser Frau „... Vorstellungen Platons und des Christentums zur Durchdringung. Weltverneinung und übersinnliche Schönheitsbegeisterung kennzeichnen ihre Erlösungslehre“. 27 Vgl. Ermatinger, Weltanschauung, S. 96f. und 105f. Vgl. Nachrichten von Wielands Leben, in: Wielands sämmtliche Werke, 20. Bd., Leipzig 1856, S. 378f.; vgl. auch Erna Merker: Biographie Wielands, Leipzig 1913, S. 23f. Besonders aufschlußreich über die Damen des Züricher „Serails“ ist Ludwig Hirzel: Wieland und Martin und Regula Künzli, Ungedruckte Briefe und wiederaufgefundene Actenstücke, Leipzig 1891, S. 67ff. und der Briefwechsel S. 153f. Auch Christian Jakob Wagenseil, Mystizismus, S. 235f. 28 Brief vom 18.5.1809 an eine deutsche Fürstin, Neuwied ;DB II, S. 110. An anderer Stelle sagt Wieland, daß er nach und nach „immer mehr Beweise ihres gebildeten Geistes und feinen Geschmacks...“ erhielt; Böttiger 1839, S. 401. 29 Vgl. den Brief Wielands an Zimmermann vom 6.10.1758; AB I, S. 285f., teilweise wieder abgedruckt in HA 3, Anmerkungen zu „Theages“, S. 821: „Theages ist wie die Natur der Dinge die Frucht einer sehr heftigen und sehr platonischen Liebe, die ich zu einem FrauenZimmer trug, das schon über 40 Jahre alt war. Erkundigen Sie sich bei niemand als bei mir wer sie wohl sein möge... Hagedorn sagt von seinem gefabelten Poeten: Von Schönem liebt er nur die Alten, / Bloß ihrer Seele Freund zu sein / Und sich des Busens zu enthalten - Gleich als ob eine Vierzige von 40 Jahren nicht noch einen schönen Busen haben könnte. So viel versichre ich Ihnen, daß ich nie jemand platonischer geliebt habe als dieses FrauenZimmer. Ich weiß aber nicht wie es weiter gegangen wäre. Zu allem Glück charmierte mich eine andre noch mehr, gerade um die Zeit da meine sublime Liebe anfangen wollte sich ein wenig zu bekörpern. Dieser Umstand machte es mir leicht in die Schranken der gesetzten Freundschaft mit ihr zu kommen... Ich habe Ihnen gesagt Theages sei die Frucht einer platonischen Liebe zu einem gewissen FrauenZimmer. Dieses ist ein Umstand den außer Ihnen... nur wenige zu wissen brauchen. Er ist à la rigueur wahr. Ich sende Ihnen die ehemalige dedicare dieses Fragments von dem anfänglich nur 12 Exemplare mit lat. littern gedruckt wurden. Hätte diese sehr platonische amourette nicht eine Diversion bekommen so wäre Theages kein Fragment. Voila... Was tut die Liebe nicht! Die Damen sind ehmals der Hauptressort meines Geistes gewesen. Ohne gewisse drei Damen würden die Natur der Dinge, die Moralischen Briefe, die Erzählungen, die Sympathien, der Theages und selbst die Christlichen Empfindungen nie von mir geschrieben worden sein“. 30 Vgl. Nachwort HA 3, S. 821. 154

Wieland, daß alle seine bisherigen Werke für bestimmte Personen geschrieben seien31, d. h. also, fast alle Jugendwerke - und somit auch „Theages“ - sind für bestimmte Personen oder in Gedanken an solche entstanden32.

Aus dem Briefwechsel der Zeit spricht Wieland von einer „...sehr platonischen Liebe“, die er „zu einem FrauenZimmer trug, das schon über 40 Jahre alt war“. Frau Grebel-Lochmann war 44 Jahre, Wieland 22 und er „las mit ihr den ‘Noah’ seines alten Freundes (Bodmer), - dann die Begebenheiten des tugendhaftesten aller Romanhelden, das Sir Grandison“33. Des öfteren werden in der Literatur charakteristische Züge zwischen Frau Grebel-Lochmann und der Aspasia des Fragments hergestellt34, obwohl sich Wieland selbst dagegen verwahrte. Sie sei vielmehr nur „ein bloßes Geschöpf seiner Einbildungskraft aus hundert zerstreuten Zügen zusammengelesen35. Zwar sind beide Damen „um vierzig Jahre“ alt, aber ansonsten kann nur festgehalten werden, daß Wieland selbst und in „Theages“ geistreiche, gebildete Frauen bevorzugte, die ihn bis an sein Lebensende in seinen Dichtungen begleiteten, obwohl er selbst 1764 eine anders geartete Frau heiratet. Es bleibt zu vermuten, daß diese Züricher Erlebnisse seine Vorliebe für reifere, lebenserfahrene Frauen unterstützen. Erwähnenswert für die dichterische Phase in der Schweiz und darüber hinaus ist nach den Jahren geistiger Bevormundung im Hause Bodmer der Beginn der Korrespondenz mit dem Brugger Arzt J. G. Zimmermann ab Mai 1756, der im selben Jahr die „Betrachtungen über die Einsamkeit“36 veröffentlichte. Wielands Briefe an Zimmermann sind neben den Werken die wichtigste Quelle für die Erkenntnis seiner inneren Wandlung während der Schweizer Jahre. Wieland fand in Zimmermann zum ersten Mal einen aufgeschlossenen und unvoreingenommenen Briefpartner, mit dem eine echte gedankliche Zwiesprache möglich war37. Der Brugger Arzt, das tiefere Eindringen in die Philosophie Shaftesburys und die nicht ganz platonische Liebe

31 Vgl. Sengle, S. 72 und den bereits zitierten Brief Wielands an Zimmermann vom 6.10.1758. 32 Vgl. Regina Schindler-Hürlimann: Wielands Menschenbild. Eine Interpretation des „Agathon“, Zürich 1964, S. 49f.. 33 Christian Jakob Wagenseil, Mystizismus, S. 236. 34 Vgl. Victor Michel: C. M. Wieland. La formation et l’evolution de son esprit jusqu’en 1772, Paris 1938, S. 141ff. Vgl. Hans Werner Seiffert: Der vorweimarerische Wieland. Leben und Werk 1733-1772, Diss. Greifswald 1950, S. 106f.. 35 AB I, S. 285f. 36Zur Beurteilung dieses Verhältnisses zwischen Wieland und Zimmermann vgl. Sengle, S. 93. Zimmermann hat das platonische Verhältnis zwischen Wieland und Frau Grebel-Lochmann in der Schrift „Über die Einsamkeit“ (1784/85), Bd. IV, S. 178f. verewigt. 37 Klaus Bäppler: Der philosophische Wieland. Stufen und Prägungen seines Denkens, Bern/München 1974, S. 14. „Dem nur wenig älteren Mann konnte Wieland... die inneren geistigen und seelischen Spannungen anvertrauen, die er in seinen Dichtungen noch nicht zu verarbeiten wagte. So wird dieser Briefwechsel in der zweiten Hälfte von Wielands Züricher Jahre zum privaten geistigen Raum seines Suchens nach Welt- und Selbsterkenntnis“. 155 zu Frau Grebel-Lochmann38 führen allmählich die „Zerstreuung seines spekulativen Platonismus herbei“39. Groß meint, daß Wieland, nachdem er den „Idealen mönchischer Weltverneinung, frommster Gottseligkeit, größter Sinnenfeindschaft, Genüge getan hatte, ... er langsam aus seiner seraphischen Himmelswelt zu den Erdenkindern hinab(stieg), um auch der Weltwirklichkeit ihren Anteil nicht zu versagen“40. Gerade in diese geistige Umbruchphase fällt „Theages“, wie Wieland in einem Brief erläutert. „Mit meinem Übergang aus der Platonischen Schwärmerey zur Mystischen (Ao 1755.56) und mit meinem Herabsteigen aus den Wolken auf die Erde ging es natürlich und gradatim zu. Mein Cyrus, und meine Panthea und Araspes waren die ersten Früchte der Wiederherstellung meiner Seele in ihre natürliche Lage. Indessen konnte es nicht anders seyn, als daß damahls alles noch sehr idealisch zu meinem Kopfe war“41. Die in diesem Brief genannten Werke stehen bereits unter dem Einfluß Shaftesburys, denn dieser hat Wieland „in das Heiligthum der socratischen Weisheit eingeführt“42, und er nennt ihn in einem Brief vom 18.10.1756 „einen Führer zum Leben“43.

In den frühen Lehrgedichten der Tübinger Zeit, vornehmlich in den „Moralischen Briefen“ und im „Anti-Ovid“ neigt Wieland einer durchaus sinnenfreundlichen Haltung zu. Er kritisiert die Stoa, die den Tod der Begierden fordere und plädiert schon hier für das harmonische Prinzip vernünftiger „Mäßigung“, das ihm später in „Musarion“ so viel bedeutet44, ein Ideal sinnlich-geistiger Harmonie, das er in immer neuen Figuren seiner Dichtungen veranschaulicht und eng mit seiner späteren Grazienvorstellung verknüpft. Zwar weisen diese Dichtungen auch empfindsame und christlich-mystische Züge auf, und so war die umstrittene „Wendung zur Seraphik“45, die sich in den „Erzählungen“ anzubahnen begann, teilweise mit

38 DB II, S. 10f. Zwischen Wieland und dieser Frau entspann sich unvermerkt „eine zärtliche Freundschaft..., unvermerkt verwandelte sich diese in eine Art von platonischer Liebe, und zuletzt würde auch diese... sich in eine r e i n m e n s c h l i c h e Art zu lieben herabgestimmt haben, wenn die Dame nicht besonnener als ich gewesen wäre, und ... in ihrer Weisheit beschlossen hätte, mich allmählich mit guter Art zu entfernen und - die zweyte Frau eines Züricher Magnaten zu werden...“; vgl. auch Böttiger 1839, S, 402: Frau Grebel-Lochmann heiratete 1759. 39 Erich Groß, Wielands „Geschichte des Agathon“, S. 57. Daß Frau Grebel-Lochmann aus dem „Seraphen“ wieder einen Menschen machte, geht auch aus dem Brief an Zimmermann vom 12.2.1758 hervor, AB I, S. 261. 40 Erich Groß, Wielands „Geschichte des Agathon“, S. 56. 41 AB III, S. 385. 42 AA I/4, S. 228 43 AB I, 223 44 Vgl. HRA XIII/S1, 295, 319; XII/S 2, 39f. 45 Wolfram Buddecke: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die „Geschichte des Agathon“, Göttingen 1966, S. 98. 156

Verzicht verbunden, kommt aber keinesfalls einer „Selbstpreisgabe“46 des Dichters gleich. Nur zeitweise postuliert er in seinen Dichtungen die totale Unterwerfung der Sinnlichkeit.

Nach der Lösung von Bodmer im Jahre 1755 macht sich unter dem wachsenden Einfluß Shaftesburys eine rückläufige Tendenz bemerkbar, aber noch immer ist er im Zweifel, wohin es ihn zieht. Dieses wird in „Theages“ an der Figur der Aspasia deutlich, der er immer wieder Zweifel in den Mund legt47. Daß Wieland in „Theages“ schon von Shaftesbury beeinflußt ist, belegt der Vorbericht, in dem der Dichter sich auf seine literarischen Vorbilder, die Werke Platons und Shaftesburys, beruft, die „ihn auf diesen Einfall“ (H 40, 110) gebracht hätten. Er ergänzt später , „... die er vorzüglich liebte, weil er sehr oft seine eigensten Empfindungen und Ideen darin ausgedrückt fand“ (H 40, 110).. Sie gaben ihm die „Grund-Ideen... seines Werkes“, und er wollte in diesem Werk die „platonischen Grundsätze von Schönheit und Liebe in einem System ausführen“ (H 40, 110)48. Daß gerade diese beiden Philosophen zusammen genannt werden, wirft ein Licht auf Wielands Verhältnis zu Shaftesbury in diesem frühen Stadium. Der platonischen Philosophie stand Wieland in seinen früheren Dichtungen besonders nahe49. Platon war ihm ein „Vorbild im Sinne des Idealischen, des zur reinen Tugend Strebens“50. Er wurde erst in „Araspes und Panthea“ und im „Cyrus“ überwunden und durch dessen Schüler Xenophon abgelöst. Shaftesbury hat nicht nur Wieland, sondern das deutsche Geistesleben des 18. Jahrhunderts beeinflußt, jedoch wird die Bedeutung des englischen Moralphilosophen für das Gesamtwerk Wielands von der Forschung unterschiedlich bewertet51. Der Einfluß Shaftesburys im geistigen Umbruch der Züricher

46 Damit charakterisiert Sengle, S. 50, Wielands Haltung im Hause Bodmer. Zur Kritik vgl. Brückl, S. 23ff. Die der These der „Selbstpreisgabe“ entgegensetzte Behauptung, der enge Anschluß an Bodmer sei für Wielands damalige Verfassung „notwendig“ gewesen, stimmt nicht weniger bedenklich. 47 Vgl. HRA XIV/S4, 189f. 48 Da der Vorbericht in der Hamburger Reprint-Ausgabe fehlt, wird hier nach der Hempel-Ausgabe zitiert. 49 Obwohl Platon in den „Moralischen Briefen“ abgelehnt wird, steht in den „Sympathien“ wie in „Theages“ das „Gastmahl des Plato“ (HRA XIV/S4, 185 ) im Vordergrund; Geyer meint, daß in dieser Dichtung Gedankenreihen des platonischen Symposions eingeflossen seien. Gerda Geyer: Wieland und das Schwärmertum, Diss. Graz 1969, S. 37. Vgl. dazu Ermatinger, Weltanschauung, S. 80; vgl. auch E. Nödl: Die Frauengestaltung in Wielands Griechenromanen, Diss. Wien 1930, S. 34. Bantel betont, daß Wieland zwar schon früh Zugang zu Xenophon hatte, aber das Platonische in der Jugend das führende war, Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 143, und verweist auf „Die Natur der Dinge“. Wieland spricht im Vorbericht von 1770 von den „Visionen eines poetisierenden Platonikers“ (HRA XIII/S1, 8). Wie sehr Platon auch z. Z. der Entstehung von „Theages“ Ausdruck seiner Seelenverfassung war, zeigen die „Platonischen Betrachtungen über den Menschen“ (HRA XIV/S4, 65ff.) von 1755. Es ist sicher kein Zufall, daß er sie „platonisch“ nannte, obwohl sie kaum etwas mit diesem Philosophen zu tun haben. Sie sind aus derselben Stimmung heraus geschrieben. 50 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 52. Er meint, das Platonische sei für den jungen Wieland ein „Lebensgefühl“ gewesen. Bantel hat Wielands Verhältnis zu Platon im Laufe seines Lebens ausführlich behandelt und die These bestätigt gefunden, daß sich dieses Verhältnis von einem wesentlich positiven zu einem negativen entwickelt hat, S. 204ff. Zum Einfluß Platons auf Wieland z. Z. von „Theages“ vgl. Sengle, S. 73ff. 51 Vgl. dazu Oskar Walzel: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben des 18. Jahrhunderts, in: GRM 1 (1909), S. 416ff.; Heinrich Küntzel: Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. 157

Jahre, von der Forschung eindeutig und unbestritten, tritt bei Wieland etwa 1755 deutlicher hervor52. Während es für die spätere Schaffenszeit Wielands schwieriger ist, die Einflüsse Shaftesburys nachzuweisen, da er zu dieser Zeit schon „zu sehr mit seinem Vorbild verschmolzen53 war, ist es für die Dichtungen der Züricher Zeit möglich, sein schrittweises Eindringen in die Gedankengänge Shaftesburys zu verfolgen, da es vornehmlich die Schönheitslehre sei, die Wieland gelesen und in seinen Dichtungen verarbeitet hat54. Erst später hat er sich der Sittenlehre zugewandt55.

Tatsächlich rezipiert er Gedanken, die den englischen Moralphilosophen mit dem Platonismus, mehr dem Neuplatonismus und Plotin, der auch eine Schönheitsherrlichkeit verkündigte, verbinden56. Dieses wird in „Theages“ deutlich. Damit sind die beiden

Jahrhundert, München 1969. Im Kap. „Shaftesbury und das deutsche Geistesleben des 18. Jahrhunderts“ versucht er, den Einfluß nicht nur auf Wieland, sondern überhaupt auf das deutsche Geistesleben abzuwerten; S. 119ff.; Windelband-Heimsoeth: Geschichte der neueren Philosophie I, 3. Aufl., Leipzig 1904, S. 275-280; C. F. Weiser: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, Leipzig/Berlin 1916.; Leo Stettner: Das philosophische System Shaftesburys und Wielands Agathon, Halle 1929 C. Elson: Wieland and Shaftesbury, Diss. New York 1913, 2. Aufl. 1966; Herbert Grudzinski: Shaftesburys Einfluß auf C. M. Wieland, Stuttgart 1913. Er hat die Beziehungen zwischen Wieland und Shaftesbury grundlegend dargestellt. W. Bock: Die ästhetischen Anschauungen Wielands, Berlin 1921, S. 38ff. E. Hamann: Wielands Bildungsideal, Leipzig 1907, S. 129ff. 52 Wieland betont in der Besprechung von Herders „Adrastea“, daß er Shaftesbury einen großen Teil seiner eigenen Bildung in seinen frühen Jahren schuldig sei und stärker auf ihn gewirkt habe, als er ohne Beschämung sagen könne (H 38, 625). In der Forschung gibt es widersprüchliche Aussagen dazu, wann Wieland mit Shaftesburys Werken bekannt wurde. Tatsache ist, daß er ihn ab 1755 in seinem Briefwechsel erwähnt. Vgl. Hans Werner Seiffert, Der vorweimarerische Wieland, S. 100. Er nennt das Schreiben an Schinz vom 15.3.1755 als erste Belegstelle, AB I, S. 162f. Vgl. im übrigen Ermatinger, Weltanschauung, S. 167, der die Briefe zusammengestellt hat, in denen sich Äußerungen Wielands über Shaftesbury finden. Der genaue Zeitpunkt, zu dem Wieland mit der Philosophie Shaftesburys vertraut wurde, ist umstritten. Er selbst erwähnt ihn ab 1755. Es ist aber möglich, daß er den englischen Philosophen schon vorher kannte, und er weist auf Walter H. Bruford (Culture and Society in Classical Weimar 1775-1805, Cambridge 1962, S. 35) hin, der nachgewiesen hat, welche deutschen Übersetzungen von Shaftesburys Werken bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vorlagen. Wahrscheinlich hat Wieland vor 1755 einige Übersetzungen aus den „Characteristics“ gelesen, die Philosophie und Bedeutung dieses Mannes aber noch nicht erkannt. 53 Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 20. Goethe hat Shaftesbury in der Gedenkrede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“ als „einen wahrhaft ältern Zwillingsbruder im Geiste“ bezeichnet, dem Wieland „vollkommen glich, ohne nach ihm gebildet zu sein“; J. W. Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bde., München 1977 (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 700f. Goethe betont, daß Wieland an Shaftesbury nicht einen großen Vorgänger fand, dem er folgen, nicht einen Genossen, mit dem er arbeiten sollte. Für die Betrachtung der geistigen Existenz Wielands im Verhältnis zu Shaftesbury ist wesentlich, daß der Dichter sich nicht Gedanken und Begriffe - und auch nicht den der Tugend - nur aneignete, sie ins Deutsche übernahm und zum Gegenstand dichterischer Behandlung machte. Die Übereinstimmung Wielands mit Shaftesbury liegt vielmehr im geistigen Gepräge, der natürlichen Anlagen des Geistes. Hans Wolffheim: Wielands Begriff der Humanität, Hamburg 1949, S, 95f. 54 Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 20f. 55 Vgl. Heinz Schubert: Schiller und Wieland. Ein Beitrag zur Geschichte der Weimarer Klassik, Diss. Tübingen 1958, S. 198. 56 Daß vor allem die Grundzüge des Neuplatonismus, vermittelt durch Plotin, auf Shaftesbury gewirkt haben, wird in der einschlägigen Literatur betont. Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung, S. 119, meint, Shaftesbury sei der geistesgeschichtlichen Forschung als schöpferischer Vermittler platonischer Ideen vertraut; aber es seien mehr die Grundzüge des Neuplatonismus, die durch Plotin auf Shaftesbury gewirkt haben. Auf die Nähe Shaftesburys zu Plotin verweisen auch Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, 158 literarischen Vorbilder durchaus kein Widerspruch. Aspasia hält „das Gute und Schöne für unzertrennlich“ (HRA XIV/S4, 155). Das klingt zwar einerseits platonisch und deutet auf die von Platon gepriesene Seelenschönheit, andererseits spricht Wieland von „moralischer Schönheit“ (HRA XIV/S4, 175), den „moralischen Grazien“ (HRA XIV/S4, 163), die auf Shaftesburys „moral grace“ und „moral venus“ hinweisen. Diese Verbindung zwischen Seelenschönheit und „moral grace“ tritt zwar in „Theages“ erstmals auf, enthält aber Shaftesburys Gedankengut. Für ihn ist Tugend Schönheit. Das vollkommenste Kunstwerk ist der harmonische Mensch, in dem alles zum Guten und Schönen zusammenwirkt. Shaftesburys höchster Gedanke ist die „Einheit des Schönen und Guten, Erneuerung des Griechenideals der Kalokagathie, bereichert durch die Bildung und seelische Bewegtheit neuerer Zeiten“57. In „Theages“ fließen in Anlehnung an diesen Philosophen das Gute und Schöne zusammen. Die Äußerung dieses harmonisch ausgeglichenen Seelenlebens ist die „moral grace“58. Zwar unterscheidet sich in dieser Zeit Wielands Grazienbegriff von der „moral grace“59, aber durch Shaftesburys Einfluß erfährt der Begriff der menschlichen Schönheit eine Umwandlung60. Er hat den Grazien in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts neue Bedeutung gegeben61. Aber erst als Wieland die Werke Shaftesburys im

S. 154. Oskar Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, betont den neuplatonischen Grundzug in Shaftesburys Denken, S. 426f. Vgl. auch Brückl, S. 33 und Grudzinski, S. 1 57 Karl Wolff: Einleitung zu „Shaftesbury: Die Moralisten. Eine philosophische Rhapsodie“, Jena 1910, S. XXXVI. Vgl. Franz Schultz, der darauf hinweist, daß bei der theoretischen Erfassung der Grazien Shaftesbury eine besondere Rolle spielt, als der, der den Anmutsbegriff durch die Wiederbelebung der platonischen Kalokagathia bereicherte. Franz Schultz: Die Göttin Freude, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1926, S. 8. Vgl. zur Neuformulierung der antiken Kalokagathia auch Leo Stettner, Das philosophische System, S. 6. Hier haben wir nach Stettner die Verbindung zur „schönen Seele“ bei Wieland. Bei Shaftesbury besitzt sie in höchstem Maße die Schönheit und sucht auf Erden die vollkommenste Ordnung; überhaupt strebt die „schöne Seele“ in allem nach dem Vollkommenen. In „Theages“ dient Clarissa von Richardson Wieland als „schöne Seele“. 58 Hier wäre auf die von Shaftesbury im „inquiry concerning virtue and merit“ entwickelte Affektenlehre einzugehen, denn das Hauptgewicht legt Shaftesbury auf die harmonische Entfaltung der Persönlichkeit, in der alle Triebe und Fähigkeiten zu vollem Einklang entwickelt werden. Er unterscheidet zwei Arten von Affekten: die „natural affections“, die altruistischen Regungen, und die „self affections“, die egoistischen Triebe; nach Grudzinski, S. 2. 59 Wielands Begriff der Grazie ist zwar eine Verbindung des körperlichen Reizes mit wahrer Geistes- und Herzensbildung, diese Verbindung ist aber nicht dasselbe wie die griechische Kalokagathia. Dabei war der geistig und körperlich harmonisch gebildete Mensch das Ideal. Bei Wieland liegt der Schwerpunkt der Bildung fast vollständig im Geistigen, der wohlgebildete Geist übt unmittelbar einen verschönernden Einfluß auf den Körper aus, und so entsteht Anmut (HRA I/3, 187ff.). Vgl. die „Platonischen Betrachtungen über den Menschen“: „So große Einflüsse hat die Vernunft auf die sinnlichen Kräfte der Seele. Sie erhöhet, verschönert und erweitert sie und adelt das Thier zu einer Art von Engeln“ (HRA XIV/S4, 69). 60 Pomezny ist auf die Darstellung dieser Einwirkungen eingegangen, S. 32ff. Wie bei anderen Schriftstellern, so macht sich auch bei Wieland Shaftesburys Philosophie insofern bemerkbar, als sie die Schönheit des sittlichen Lebens dichterisch verwerten, indem man sie als Äußerungsformen eines schönen Gemüths hinstellt; Grudzinski, S. 46. 61 L. H. Price, Die Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland, S. 68f. Pomezny bestimmt genauer den Platz, den Shaftesbury in der Geschichte des Anmutsbegriffs einnimmt. Danach sind es nicht so sehr die Stellen, in denen dieser Philosoph von Anmut spricht; seine Bedeutung für die Entwicklung des Anmutsbegriffs liege in der Wiederbelebung der platonischen Kalokagathia, S. 42ff. 159

Original lesen konnte, griff er „umgestaltend in seine Anschauungswelt“ ein. Die dichterische Phase, in der Wieland „Theages“ schrieb, wird in bezug auf Shaftesbury der Kampf gegen religiöse Mystik genannt und verfolgt dabei das Ringen der widerstrebenden Elemente, das der endgültigen Aufnahme dieser Lebensphilosophie voranging.

Wie unsicher, schwankend der Dichter in bezug auf die Philosophie des Engländers war, wird nicht nur an Aspasia deutlich, sondern auch an Nicias. Er ist zwar ein „Virtuoso nach den Begriffen unsers Shaftesbury“62 und „ein feiner Kenner des Schönen in Natur und Kunst (HRA XIV/S4, 144)63, doch überwiegt bei ihm das Platonische. Aspasia sagt, „Nicias ist schon mehr als ein halber Platonist“ (HRA XIV/S4, 189), d. h. er ist davon überzeugt, daß die „Kunst zu lieben“ darin bestehe, „ein Liebhaber zu sein, ... ein Kenner aller Schönheiten, der seine Liebe nach den Graden des Schönen abwäget“ (HRA XIV/S4, 186). Ähnliche Gegensätzlichkeiten der geistigen Verfassung lassen sich auch an Theages feststellen.

In Wielands Dichtungen der Züricher Jahre wird zunächst die Schönheitslehre Shaftesburys verarbeitet. Durch die Bevorzugung der Seelenschönheit fördert sie Wielands asketische Richtung. Erste Zweifel, daß das Körperliche völlig in den Hintergrund zu treten habe, sprechen Theages und Aspasia aus64. Damit ist ein erster Schritt zu „Musarion“ getan um auch Shaftesburys Philosophie besser zu verstehen, denn die „moral grace“ strebt eine harmonische Vereinigung von Sittlichem und Geistigem an. Wenn man davon ausgeht, daß Wieland in den frühen Schweizer Jahren durch Shaftesbury zur „Erfassung der inneren Form seines Wesens“ geführt worden65 ist, so ist damit gemeint, daß in dieser Zeit „eine Saat gelegt wurde, die erst später und nach manchen weltanschaulichen Hindernissen zum Durchbruch kam“66.

62 Zum Virtuosobegriff bei Shaftesbury und Wieland vgl. Leo Stettner, Das philosophische System, S. 79ff. und 167ff. 63 Vgl. dazu die Figur des „Aristipp“ im gleichnamigen Roman; er ist auch ein Freund der Künste und ein Liebhaber des Schönen (HRA XI/33, 176f.). 64 Theages lehnt den Stoizismus ab, weil er sich „die Unterdrückung des sinnlichen Theils unsers Wesens (nicht) mit der Natur reimen“ kann (HRA XIV/S4, 185) und Aspasia spricht davon, daß der platonische Genius mit dem Amor der Venus nahe verwandt sei, HRA XIV/S4, 189f. 65 Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, S. 253f. 66 Sommer, S. 20. 160

5.1.3 Namen und Herkunft der weiblichen Figuren

In „Theages“ werden folgende weiblichen Figuren genannt, die alle verwandtschaftlich miteinander verbunden sind: die Gräfin von T., Pasithea67, eine Tochter des Platonisten und Einsiedlers Theages68, dieser ist ein Bruder der Gräfin, und Nicias, ein Neffe. Wie die Gräfin wirklich heißt, wird nicht gesagt. Nicias macht deshalb den Vorschlag, sie Aspasia zu nennen69. Es ist anzunehmen, daß Wieland den Namen nicht zufällig wählte, denn aus seinem Gesamtwerk ist bekannt, daß ihn bestimmte Gestalten aus der Literatur oder Geschichte - und dazu gehören schon früh Sokrates und Aspasia - immer wieder beschäftigt haben70. Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, auf die berühmte Aspasia in der griechischen Antike einzugehen. Dazu wird auf die einschlägige Literatur verwiesen. Auch das dort diskutierte Problem, ob Aspasia eine Hetäre war oder nicht, kann in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben71. Erwähnenswert erscheint, daß die historische Aspasia in Ionien und nicht in Athen geboren ist, d.h. ihrer Herkunft nach eine freie Milesierin ist. Die gesellschaftliche Stellung der Frau in Ionien war eine höhere und freiere als in Attika, obwohl überall zivil- und öffentlich-rechtlich dieselbe Zurücksetzung bestand. Aber im Vergleich zu den attischen Frauen hatte die ionische die Bildung in ganz anderer Weise erfaßt und

67 Pasithea ist der Name einer Grazie bei Homer und in „Theages“ wird sie als das „Urbild aller...Grazien“ (HRA VIII/24, 303ff.) bezeichnet. Auch in Wielands „Die Grazien“ hat eine der Grazien diesen Namen. 68 Es besteht die Möglichkeit, daß Wieland den Namen des Titelhelden aus dem Roman „Aithiopika“ von Heliodor übernommen hat. Obwohl er erst 1767 als „Theagenes und Chariklea“ eine aethiopische Geschichte in 10 Büchern von Heliodor“ von Nikolaus Meinhard aus dem Griechischen übersetzt wurde, ist diese Tatsache unerheblich, da Wieland schon in seiner Jugend griechische Autoren im Original las, und auf den er sich in „Theages“ beruft (HRA XIV/S4, 153). 69 „Aspasia (so wollen wir die Gräfin nennen)...“ (HRA XIV/S4, 146), beginnt Nicias seine Erzählung. In der ursprünglichen Fassung heißt es: „Aspasia (dieses ist die Gräfin...“) (HA 3, 170). 70 „Theages ist die erste Dichtung, in der Wieland Aspasia erwähnt. Sengle nennt Aspasia die „Idealgestalt seiner reifen Jahre“, S. 75. Daß eine solche Frauengestalt ihre besonderen Reize für Wieland gehabt haben muß, betont auch Wolfgang. Paulsen: Wieland. Der Mensch und sein Werk in psychologischen Perspektiven, München 1975, S. 224. Vgl. z. B. a) „Aspasia oder die platonische Liebe“ HRA III/9, 105ff.) von 1766 b) „Geschichte des Agathon“ (HRA I/1-3, bes. 6. und 14. Buch) von 1766 und 1794. Darin ist Aspasia die Lehrmeisterin der Danae und Wieland nennt sie u. a. die „vollkommenste... Frau, die jemals gewesen ist...“ und eine „Beschützerin von unersetzlichem Werte...“ (HRA I/ 3, 323) c) „Göttergespräche“ (HRA VIII/25, 241ff) von 1789/90 d) „Diogenes von Sinope“ (HRA IV/13, 3ff.) von 1770 e) „Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***“ (HRA X/30, 428ff. von 1775. 71 Walter Judeich: Aspasia, in: RE II 1896, Sp. 1716ff. Ernst Kornemann: Große Frauen des Altertums, Leipzig 1942, S. 63-76; dort weiterführende Literaturhinweise. Johannes Scherr: Menschliche Tragikomödie, 3. Aufl., Leipzig 1884, I, 17. Scherr entwirft von Aspasia ein im ganzen zutreffendes Bild. Bechtel: Die attischen Frauennamen, 1902, 48ff. F. Miltner: Perikles, in: RE XIX, 1, 1937, Sp. 750ff. Henry Houssaye: Aspasia, Cléopátra, Thédora, Paris 1890, S. 3-46. K. Schneider: Hetairai, in: RE VIII, 2, 1913, Sp. 1335f. Vgl. im übrigen den Exkurs am Schluß der Arbeit. 161 verschaffte sich dadurch eine höhere Position. Die attische Frau ging im Hauswesen und in der Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber dem Mann auf72.

Es besteht kein Zweifel, daß Wieland bei der Gestaltung seiner Aspasia-Dichtungen an das große Vorbild, die schöne und geistvolle Frau des Perikles dachte. Wie er sich diese historische Aspasia vorstellte, hat er 1789 in der „Ehrenrettung der Aspasia“ (HRA VIII/24, 303ff.) dargelegt73. In „Theages“ werden keine Angaben über die Herkunft der Gräfin gemacht. Es ist anzunehmen, daß Wieland den Namen „Aspasia“ wählte, um diese Frau zu charakterisieren. Was er über sie noch im Alter dachte, hat er im Altersroman „Aristipp“ formuliert: „Aspasia ist unläugbar eine Frau von vieler und langer Erfahrung; von hohem Geist, grosser Menschenkenntniß und feiner Lebensart, eine Meisterin in der Kunst zu reden und zu überreden; wahrlich, der klügste unter den ...Demagogen zu Athen müßte noch lange bey ihr in die Schule gehen, bis er ihr alle die feinen Kunstgriffe abgelernt hätte, womit sie vor dreyßig Jahren den Mann, der Griechenland regierte, zu regieren wußte“ (HRA XI/33, 190). Beide Aspasien, die historische und die Heldin des Fragments, haben grundlegende Wesenszüge gemein. So wie die Frau von Perikles noch im Alter schön und geistreich war, so ist sie auch bei Wieland das „Urbild der schönen und gebildeten Frau“74.

Über das Alter dieser Frau wird im Fragment gleich zu Beginn gesagt: „Aspasia... hat ihre Schönheit... so gut zu erhalten gewußt, daß ihr niemand ansieht, daß sie nahe an vierzig ist“ (HRA XIV/S4,146). Interessant ist hinsichtlich des Alters, daß Aspasia ursprünglich „nahe an fünfzig“75 war. Es ist in jedem Fall eine ältere, reifere Frau, die hier zur Heldin von „Theages“ gemacht und bis in Wielands Alterswerke immer wieder in verschiedenen Variationen dargestellt wird76. Über die Erziehung und Ausbildung von Aspasia heißt es, daß „sie vortrefflich erzogen“ (HRA XIV/S4,146) war. Außerdem ist sie vielseitig künstlerisch

72 Ernst Kornemann, Große Frauen des Altertums, S. 72. Vgl. Wielands „Ehrenrettung der Aspasia“ (HRA VIII/24, 303ff.) 73 Dieser Aufsatz über Aspasia erschien zuerst im „Historischen Kalender für Damen auf das Jahr 1790“. Zwar ist aus der Antike noch eine weitere Frau mit dem Namen Aspasia überliefert, und Wieland machte sie zur Heldin seines Gedichtes „Aspasia oder die platonische Liebe“. Es ist aber nicht eindeutig überliefert, ob dieses ihr ursprünglicher Name war, oder ob er ihr erst beigelegt wurde. Feststeht, daß sie auch „Milto“ hieß und ebenfalls - wie die berühmte Aspasia - aus Ionien stammt; vgl. RE I, Stuttgart 1896, Sp. 1721f. 74 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 271. Auch er betont, daß diese Aspasia sicherlich mehr als nur die Namensgleichheit mit der Perikleischen gemeinsam hat, „es ist ohne Zweifel, daß Wieland bei ihrer Gestaltung an die Athenische Aspasia gedacht hat“, S. 274. 75 Vgl. HA 3, S. 171. 76 So ist z. B. Lais im „Aristipp“, den Wieland fast 50 Jahre später schrieb, „noch nicht 40 Jahre alt“ (HRA XI/35, 288). Auch Lais hat es - wie Aspasia - verstanden, ihre Schönheit noch im Alter zu bewahren; „...ihre Schönheit ist von der dauerhaftesten Art, und was sie vom Glanz der ersten Jugendblüthe verloren haben kann, wird durch die Kunst des Putztisches so leicht ersetzt, daß ihr Niemand... über fünfundzwanzig geben wird“. 162 gebildet, „sie zeichnete, sang, spielte Laute und Clavier“. Da Wieland ihr den Namen Aspasia gab, ist zu vermuten, daß sie eine ähnlich umfassende Bildung und Ausbildung genossen hat, wie die historische Aspasia. Diese Vermutung wird durch den Hinweis gestützt, daß sie „...die Seele in allen feinen Gesellschaften“ (HRA XIV/S4,146) war. Aus diesem Grund verzichtet vermutlich Wieland auf weitere Einzelheiten. Dennoch werden in „Theages“ einige Aussagen über die Erziehung gemacht77, und zwar wie die Erziehung von Pasithea angelegt ist, die, wie bereits erwähnt, das Urbild aller Grazien (HRA XIV/S4,163) genannt wird. Es wird versucht, durch Pasitheas Erziehungskonzept Wielands Grazienvorstellung in seiner Jugend zu beleuchten.

Theages lebt mit seiner Tochter in einer „Einsiedelei“, der „bequemen Einsamkeit“ (HRA XIV/S4,169). Er hat zwei Bedienstete, die von Geburt an stumm sind. Beide scheinen keinen Einfluß auf die Erziehung des Mädchens zu haben. Manchmal weilt Pasithea auf einem Gut bei einer Frau „von sehr vorzüglichen Verdiensten“ (HRA XIV/S4,177), die zwei wohlerzogene Töchter hat und ein „glückliches und mit Wohltun beschäftigtes Leben führt. Nur dieser „gottselige(n) Dame“ und Aspasia vertraut Theages seine Tochter manchmal an, denn er erzieht sie nach einem Plan, den er „der Natur selbst abgelernt hat“ (HRA XIV/S4, 177). Der Vater geht davon aus, daß in der menschlichen Natur Güte, Aufrichtigkeit und Liebe angelegt sind und der Mensch seine wahre Gestalt, Symmetrie und Vollkommenheit durch die Erziehung erhält (nach HRA XIV/S4,169f.)78 . Hier wird der Zusammenhang von Natur und Kunst deutlich, auf den noch eingegangen wird. Auch Aspasia glaubt, daß die „Annehmlichkeiten, welche uns zu Bildern der Engel machen könnten, in der Anlage der weiblichen Natur“ enthalten sind und stimmt mit Theages überein, daß man diese „Natur“ nicht sich selbst oder dem Zufall überlassen darf; vielmehr bedarf eine Erziehung, die nach den „Winken der Natur eingerichtet“ ist, der „sorgfältigsten Pflege“ (HRA XIV/S4,164). Von dieser „Pflege“ haben die beiden Geschwister aber unterschiedliche Vorstellungen, denn im Gegensatz zur Gräfin glaubt Theages, daß Pasithea erst nach und nach in die Gesellschaft eingeführt werden sollte, „wenn die nöthigere Arbeit schon gethan ist“. Um in der

77 „Ohne Erziehung ist der Mensch ein Tier mit menschlichen Fähigkeiten, nach Shaftesbury also weniger als ein Tier, das seine Bestimmung erfüllt. Erziehung ist die Kunst, zum Menschen zu bilden“; Inge Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte „bilden“ und „Bildung“ in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder, Diss. Königsberg 1931, S. 44f. Sie betont, Wieland stellt als erster Schriftsteller die Forderung nach einer „naturgemäß gebildeten Seele“ wörtlich auf. 78 Vgl. den Einfluß Shaftesburys auf Wielands Bildungsideal, den er mit dem Begriff der „inneren Form“, der „inward form“ übernahm. Damit ist die Grundlage für die Anschauung vom Menschen als einem mit bestimmten Anlagen und Fähigkeiten ausgestatteten Wesens gegeben; vgl. Ernst Ludwig Stahl: Die religiöse und die 163

Gesellschaft leben zu können, mangele es dieser Grazie „nur noch eine(r) gewisse(n) Weltklugheit, ohne welche freylich auch das beste Herz und der aufgeklärteste Geist... nicht ruhig... leben“ kann (HRA XIV/S4,170). Aspasia hat Zweifel, daß Pasithea zunächst der Gesellschaft ferngehalten wird und gesteht, „daß sie einer Philosophie nicht recht traue, die nicht herzhaft genug sey, sich mitten in der großen Welt zu behaupten“ (HRA XIV/S4,177)79. An dem bisher Erläuterten und den teilweise unterschiedlichen Standpunkten ist nicht zu erkennen, wie die Erziehung im einzelnen aussieht Das läßt sich aus einer gegenteiligen Äußerung ableiten, die Aspasia über die „falsche“ Erziehung macht. Die guten Anlagen im Menschen werden „von Zwang, ...Affektation, von Leidenschaften ausgelöscht... Man überläßt eine Natur... sich selbst und dem Zufall; und dann künstelt man, wenn wir schon verdorben sind, so lang an uns, bis wir uns selbst nicht mehr gleich sehen... Ich habe die liebenswürdigsten Kinder gesehen, die anmuthigsten Gesichter, aus welchem eine Seele lächelte, die jeder moralischen Schönheit fähig war, und in weniger als fünfzehn Jahren waren sie - in eine Gattung hübscher Affen ausgeartet“ (HRA XIV/S4,164)80.

Wieland spricht damit, wie in „Timoklea“, das Anmutsproblem an, das ihn von nun an sein ganzes Leben beschäftigt. Er vertritt mit diesem Erziehungskonzept, ganz im Sinne Shaftesburys, den Standpunkt, daß Anmut erlernbar ist und man ihre Vollendung erst durch frühe und lange Erziehung erreichen kann81. Das Wesen der Erziehung liegt somit in der Aufgabe, den Menschen zu einem „Urbild...aller... Grazien“ hinzuführen, wobei er den „Winken der Natur“ zu folgen hat. Voraussetzung ist, daß das Mädchen eine Seele hat, die „jeder moralischen Schönheit fähig“ ist (HRA XIV/S4,164)82. Von dieser notwendigen

humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert, Berlin 1934. Vgl. dazu Emil Hamann, Wielands Bildungsideal, S. 3ff. 79 Die Frage, ob es besser sei, daß ein junger Mensch zunächst in vollkommener Abgeschiedenheit von der Gesellschaft zu einer Grazie erzogen werden kann oder von Anfang an in der Gesellschaft lebt, hat der Dichter in diesem Fragment noch nicht beantwortet. Zu dem Gesamtzusammenhang „Gesellschaft“ und die Unterschiede zu Rousseau vgl. die gründliche Dissertation von Karl-Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei Wieland, Göttingen 1954, bes. S. 114ff. Vgl. Klaus Bäppler, Der philosophische Wieland, S. 23ff. 80 Vgl. dazu die fast gleichlautende Formulierung in den „Platonischen Betrachtungen über den Menschen“ (HRA XIV/S4, 75), die im selben Jahr wie „Theages“ entstanden sind. 81 Vgl. Anthony A. Shaftesbury: Charakteristics, Basel 1790, I, S. 164. In der Renaissance vertrat man den Standpunkt, daß Anmut nicht erlernbar sei. Vgl. Agnolo Firenzola: Discours de la beauté des dames, prins de ‘Italien. Par. I. Pallet Sainttongeois, Paris 1578 (deutsch: Gespräche über die Schönheit der Frauen, hg. P. Seliger, Leipzig 1903/13). „Die Anmut besteht in der Leichtigkeit und Lieblichkeit der Bewegungen des Körpers. Sie ist nicht erlernbar, sondern ein Geschenk der Natur. Diese Leichtigkeit der Bewegung ist aber begrenzt durch eine gewisse Zurückhaltung, Maß und Anstand“, S. 57f. 82 Wie die Erziehung, die von anderen den Menschen zuteil wird, so ist auch die Selbsterziehung nach Wieland nur möglich, wenn die seelische Veranlagung da ist. Im Kampf gegen die sinnlichen Triebe, die die Vernunft unter allen Umständen beherrschen soll, erscheint eine eingehende Beschäftigung mit der Kunst, wozu der Unterricht den Grund gelegt hat, als eine unentbehrliche Stütze; vgl. dazu die Gemäldegalerie der Aspasia; die Künste verschönern, entwickeln und veredeln den Menschen wie die Sitten und verfeinern das Gefühl (HRA I/3, 164

Grundlage kann die Erziehung ausgehen, da nur die schlummernden Talente geweckt zu werden brauchen, um zu einer Grazie zu werden83, d.h. die natürlichen Anlagen des Menschen werden mit Hilfe der Erziehung verändert, verschönt. Der Zusammenhang von Kunst und Natur wird also auch in der Erziehung deutlich84. Der Mensch wird als Kunstwerk aufgefaßt85. Ziel der Erziehung dieses vornehmsten aller Kunstwerke ist die Bildung der vollkommenen, tugendhaften Seele. Natur und Kunst müssen zusammenwirken, damit der Mensch sich entwickeln kann. Daraus folgt aber, daß alle notwendigen Anlagen für eine „Grazie“ angelegt sein müssen. Was in dieser „Natur“ nicht vorhanden ist, kann durch keine Kunst ermöglicht werden. Andererseits ist die Kunst nur die „Hälfte unserer Natur“ und ein Mensch ohne Kunst, ohne Erziehung, ist das „elendste unter allen Thieren“ (HRA I/3,422). Für Wieland ist das Verhältnis von Natur und Kunst kein Gegensatz86. Aspasia liebt ja auch die Ähnlichkeit von beidem. In „Die Grazien“ zeigt Wieland, wie „sich die Grazien mit den Musen vereinten, um Geschöpfe, welche die Natur nur angefangen hatte, zu Menschen auszubilden“ (HRA III/10,16). In „Theages“ formuliert er, es werden Lehrer gesucht, „welche die Kunst verstehen, auf eine sokratische Art Thiere mit menschlichen Fähigkeiten zu wirklichen Menschen zu bilden“ (HRA XIV/S4,174).

Auf der Suche nach einem Ideal, das seinen Grazienvorstellungen entspricht und mit dem damaligen Tugendbegriff in Einklang steht, liegt der Schwerpunkt der Erziehung auf den geistig-seelischen Werten, das Vernunftmäßige wird betont. „Der junge Wieland wollte die Seele, das Herz bilden, der reine Wieland den Verstand aufklären, den Geschmack und die

422). Hier ist wieder der Einfluß Shaftesburys spürbar. Vgl. Cornelis Schravesande: Betrachtungen über pädagogische und ethische Tendenzen in Wielands Werken, Diss. Amsterdam 1933, S. 166; er betont, daß die Idee der ästhetischen Erziehung zu einem wesentlichen Bildungsfaktor wurde, Wieland habe durch seine innerlich überzeugte Darstellung von der ethischen Wirkung der Kunst auf diesem Gebiet Vorarbeiten geleistet. Vgl. auch Walter Hinderer: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 18 (1974), S. 368ff. 83 Vgl. den Einfluß Shaftesburys auf Wieland, den Walzel u. a. darin sieht, daß bei dem Philosophen Anmut auf dem geistigen Prinzip im Menschen beruht, das sich sein Leben und Wirken zu einer einheitlichen Ganzheit ergibt. „Solche Anmut erwächst nicht aus dem Unterdrücken der Triebe, sondern durch bewußt erziehliche Gestaltung der Gemütsbewegungen. Es gilt nur, das Vorhandene harmonisch auszubilden“; Oskar Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, S. 427. Daß Wieland noch nicht einen harmonischen Ausgleich von Körper und Seele im Sinne Shaftesburys anstrebte, kann in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. 84 wobei Kunst in der weitesten Bedeutung gemeint ist, wie sie Wieland z. B. in „Koxkox und Kikequetzel“ (HRA V/14, 3ff.) formuliert. Nach Buddecke sind Wielands Aussagen über das Verhältnis von Natur und Kunst für das Verständnis seiner Entwicklungskonzeption von großer Bedeutung; Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 51. 85 Nach Shaftesbury wird die Bildung des Individuums unter ästhetischen Gesichtspunkten gesehen. „Das sittliche Leben in der harmonischen Ausbildung aller individuellen Kräfte ist ihm eine Art von Kunstwerk“, Windelband-Heimsoeth: Geschichte der neueren Philosophie I, 3. Aufl., Leipzig 1904, S. 279. 86 Nach Shaftesburys Konzeption ist „moral grace“ erzogene „durch Reflexion gebildete Natürlichkeit. Sie ist unschuldig wie die der goldenen Zeit, weil sie in jeder Haltung und Bewegung die ‘ursprüngliche’ Harmonie von 165

Sitten bilden“87. Mit Aspasia und Pasithea, die eine „naturgemäß gebildete Seele“ hat, schildert Wieland zwei seinem damaligen Grazienbild entsprechende Frauen. Einmal ist Aspasia das Ideal der höchstmöglich gebildeten Frau, zum anderen ist es das der vollkommen der Natur entsprechende88. Beide Möglichkeiten werden in „Theages“ vorgestellt, ohne daß Wieland zu verstehen gibt, für welchen Frauentyp er sich dichterisch entscheiden wird.

5.1.4 Äußere Erscheinung und Lebensweise

Wenn man sich die Figur der Aspasia ansieht, fällt auf, daß ihr Äußeres nur mit wenigen Strichen gezeichnet ist. Es wird nur erwähnt, daß sie trotz ihres Alters „schön“ war (HRA XIV/S4,146). Die Schilderungen ihrer äußeren Lebensumstände und -weise nehmen dagegen einen breiten Raum ein. So lebt Aspasia in einem Landhaus, „in einer der annehmlichsten Gegenden“ (HRA XIV/S4,149) und ist nur von Verwandten umgeben. Sie ist aus eigenem Entschluß unverheiratet geblieben; dennoch hat sie sich nicht „dem heiligen Stand der ewigen Jungfernschaft gewidmet“, sondern war in ihrem Leben von vielen „seufzenden Geschöpfen“ umringt, wollte aber ihre „Freiheit“ bzw. „Unabhängigkeit“ (HRA XIV/S4,146) nicht aufgeben. Theages glaubt allerdings, daß die Gräfin schon „immer einen kleinen Groll gegen das Wort Liebe gehabt“ habe (HRA XIV/S4,191). Dennoch wäre es möglich, daß sie vielleicht geheiratet hätte, wenn sie einen tugendhaften Helden gefunden hätte, wie ihn Richardson im Roman „History of Sir Charles Grandison“ (1753/54) schildert. Außerdem habe sich Aspasia nicht entschließen können, „die Meisterschaft über ihre Person, ihre Neigungen, ihre Zeit und ihr Vermögen einem Mann abzutreten“ (HRA XIV/S4,147). Sie wird also tugendsam geschildert und war deshalb früher unschlüssig und schwankend. Fest steht, daß sie ein freies und ungebundenes, tugendsames Leben führt. Eine gewisse Reife und Überlegenheit spricht daraus, wenn es heißt, sie lebt „mitten in der großen Welt..., ohne mit starken Banden an dieselbe gebunden zu sein ... Sie kennet die Welt und ergetzt sich mit ihr, ohne ihre Gemütsruhe oder ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen“ (HRA XIV/S4,148)89. Andererseits liebt sie es, allein zu sein, dann zieht sie sich auf ihr Landgut zurück. Dort hält

Sitte und Natur wiederherstellt: ein Paradox, welches keines ist, in einer Welt der erst von Menschen erschaffenen Natur“, Heinrich Küntzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, S. 144. 87 Inge Schaarschmidt, Der Bedeutungswandel, S. 47. 88 Vgl. dazu Winckelmanns Konzept von den zwei Grazien; Johann Joachim Winckelmann: Von der Grazie in den Werken der Kunst“, in: Ausgewählte Schriften und Briefe, hg. Walther Rehm, Wiesbaden 1948, S. 46ff. 89 Vgl. dazu die „vierte Classe“ in Wielands „Platonische Betrachtungen“ (HRA XIV/S4, 88): „Für sie ist die Natur schön, für sie sind so viele feine und beglückende Freuden in den Verbindungen der Gesellschaft. Sie genießen der (sic!) Welt mit Vernunft, aber sie sind nicht an sie gefesselt“. 166 sie sich meistens während der schönen Jahreszeit auf. Hier macht sie sich das „Vergnügen, das sie ... im Schoße der Natur finden kann, zu Nutze...“ (HRA XIV/S4,154)90. Wenn man sich diese Lebensweise betrachtet, wie sie einmal auf dem Lande, einmal in der Stadt lebt, von der Gesellschaft umschwärmt wird, stellt Aspasia eine Synthese aus Natur und Welt, Pflicht und Neigung dar, d. h. sie ist eine „schöne Seele“.

5.1.5 Charaktere und Temperamente

Während an Aspasias äußerem Aussehen nur ihre Schönheit betont und ihre äußeren Lebensumstände nicht ausführlich beschrieben werden, ist es bei Wieland kein Zufall, daß über Aspasias Wesen und Neigungen mehr, auch in Verbindung mit ihrem Bruder, ausgesagt wird. Auf Theages und seine Philosophie, um die es im Fragment vornehmlich geht, wird an anderer Stelle eingegangen, und zwar deshalb, weil die Lebensform der Aspasia an der ihres Bruders gemessen wird. Aspasia scheint ein angenehmes Wesen zu haben, denn bereits „in ihrem ersten Anblick verspricht sie lauter Güte und Leutseligkeit“ (HRA XIV/S4,147)91. Besonders wird ihre Gemütsruhe betont, die aber auch eine Frage des Alters und der Reife sein kann, denn früher „mag sie einige Fehler gehabt haben, die bei ihrem Geschlecht von der Jugend und Lebhaftigkeit des Geistes unzertrennlich scheinen“. Was das für „Fehler“ waren, wird deutlich, wenn man die ursprüngliche Fassung des Fragments heranzieht. Dort heißt es, daß Aspasia „in jüngeren Jahren... zu flatterhaft und unbedachtsam gewesen“92 sei. Mit zunehmendem Alter habe sie genügend Erfahrungen gesammelt und sei ruhig und ausgeglichen geworden. Ihre Gemütsruhe bewahrt sie, wenn sie sich in Gesellschaft vergnügt. Ausgelassenheit scheint Aspasia nicht zu kennen; das würde dem Wesen einer Grazie widersprechen. Es wird nur Ausgeglichenheit, vorwiegend im seelischen Bereich angesiedelt, angestrebt. „Eine immer heitre und muntre Temperatur des Leibes und des Gemüths hat sie jederzeit vor Leidenschaften bewahrt, die ihrem Ruhm oder ihrem Entschluß nachtheilig werden konnten“ (HRA XIV/S4, 148)93. Bei dem Bemühen, immer ausgeglichen und ruhig zu wirken, kommt Aspasia ihr aufgeklärter Geist zu Hilfe, welchem es leicht ist, „in einem

90 Das ist mit wenigen Strichen auch die Lebensform der Lais im „Aristipp“. 91 Vgl. die ähnlich lautende Formulierung von Pasithea, die als das „Urbild... aller ... Grazien“ gilt. „Eine der Natur gemäß gebildete Seele ist lauter Güte, Aufrichtigkeit und Liebe“ (HRA XIV/S4, 169f.). 92 Vgl. AA I/2, S. 426. 93 Vgl. die Formulierung in „Platonische Betrachtungen“, wo Wieland offensichtlich die Grazien zur „vierten Classe von Menschen zählt“, HRA XIV/S4, 86ff. 167 frölichen und sanften Temperament die Oberhand zu halten“ (HRA XIV/S4,149)94, d. h. mit Hilfe des Verstandes, der Vernunft bewahrt sie sich vor sinnlichen Verlockungen. Andererseits kann Aspasia nach Wieland eine Elisabeth Rowe, die Verfasserin empfindsamer geistlicher Dichtungen95, bewundern, „ohne die zweyte Rowe aus sich selbst erzwingen zu wollen“. Es widerspricht dem natürlichen Wesen einer Grazie, etwas zu erzwingen, denn „es muß... ein affectiertes, steifes und hartes Werk heraus kommen, wenn jemand das eigene in einem seltsamen Character kopieren will“ (HRA XIV/S4,149f.). Aspasia und Elisabeth Rowe sind in der Vorstellung Wielands Grazien, „Schönheit in einer moralischen Welt“, aber jede auf ihre Weise. Wenn eine von beiden ihr natürliches, ungezwungenes Wesen aufgäbe, wäre es keine Grazien mehr, dann hätten „wir eine schlechte Copie mehr und ein schönes Original weniger“ (HRA XIV/S4,150).

Aspasias gesellschaftlicher Umgang wird in zwei gegensätzlichen Bereichen geschildert. Einmal liebt sie es, gesellschaftlicher Mittelpunkt zu sein; diese „größer(e) Sphäre“ ist die Stadt, der Hof. Andererseits liebt sie das Landleben. In der „großen Welt“ ist sie gern gesehen. Sie wird als eine „Person der Gesellschaft“ bezeichnet und weiß, darin „eine so schöne Rolle... zu spielen...“ (HRA XIV/S4,147f.). Aber es sind nur bestimmte Kreise, in denen Aspasia verkehrt, es sind Leute „von feiner Lebensart“, die „ihren Umgang für ein Glück“ halten. Aber obwohl die Gräfin „die Seele in allen feinen Gesellschaften“ ist, hält sie sich „... immer aus Geschmack als aus Leidenschaft“ (HRA XIV/S4,148) darin auf. Immer sind es die gemäßigten Affekte, die dieser Grazie zugeschrieben werden. „Leidenschaft“ widerspricht ihrem Wesen. Es hat den Anschein, daß Aspasia sich lieber auf dem Lande aufhält, denn die Geselligkeiten in der Stadt sind nur „unschuldige Ergetzungen“ und sie lebt nur in der Gesellschaft, „um Beobachtungen“ zu machen (HRA XIV/S 4,148), d. h. in der Gesellschaft, wo auch das sinnliche Vergnügen an sie herantreten kann, bleibt sie Zuschauer, beobachtet nur, ohne sich mit hineinziehen zu lassen. Ihren Neigungen geht sie dagegen auf

94 Hier sei auf das Grundschema der antiken Rhetorik bei Quintilian verwiesen, auf das an anderer Stelle noch eingegangen wird, für das Pathos und Ethos unter den Oberbegriff „affectus“ gehören und Ethos „die sanften, gefühlvollen, das Wohlwollen ansprechenden Affekte“ anspricht; Klaus Dockhorn: Wordsworth und die rhetorische Tradition in England, in: ders. Macht und Wirkung der Rhetorik. 4 Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg 1968, S. 16. Vgl. auch H 39, 599 „... diese richtige Stimmung der Affecten und Empfindungen, welche mit der Vernunft... die angenehmste Symphonie machen. Was ist schöner als ein tugendhafter Mensch?“. Vgl. dazu Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, In drei Theilen. Eilfte Original-Ausgabe, Durchgesehen und aufs Neue stark vermehrt von F. P. Wilmsen, Hannover 1830, . Drittes Kapitel: Ueber den Umgang mit Leuten von verschiedenen Gemüthsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und Herzens, S. 151ff. 95 Elisabeth Singer-Rowe erfreute sich bei den empfindsamen Dichtern der damaligen Generation einiger Beliebtheit; vgl. Sommer, S. 19. 168 dem Lande nach96. Da sie hier nur von Verwandten umgeben ist, sind keine sinnlichen Verlockungen zu befürchten. Andererseits hat der Kontakt mit ihrem Bruder Aspasia beeinflußt. So wird die Ausgeglichenheit der Gräfin mit ihm in Verbindung gebracht; „... die Erfahrung und der Umgang mit ihrem Bruder haben sie zeitig genug gesetzt gemacht“ (HRA XIV/S4,148). Außerdem glaubt Theages, daß Aspasias „Gleichmütigkeit“ entweder das Produkt seiner platonischen Philosophie oder ein Phantom ist (HRA XIV/S 4,191).

Theages ist ein Philosoph und Maler, an anderer Stelle wird er als „filosofische(r) Mahler“ bezeichnet (HRA XIV/S4,161). Außerdem ist er ein „Platonischer Einsiedler“ (HRA XIV/S4,143) bzw. ein „Eremit“ (HRA XIV/S4,176), dessen Charakter eine moralische Seltenheit ist (HRA XIV/S4,143)97. Da er im Gegensatz zu seiner Schwester nichts vom Umgang in der großen Welt hält98, hat er sich nach dem Tod seiner Frau in eine kunstvolle Berg-Utopie zurückgezogen99. Dort macht er viele Spaziergänge, auf denen er sich mit seiner Tochter unterhält. Auf der Suche nach der Glückseligkeit100 fand Theages bei der Stoa den Grundsatz „Lebe der Natur gemäß“ (HRA XIV/S4,183). Dennoch ist er „nie Stoiker gewesen“, obwohl er sich diese Lage ausgewählt hat, „weil sie sich zu... (seinen) Ideen am besten schickt“ (HRA XIV/S4,178). Er lehnt die Stoiker ab und bezeichnet sie als „schwülstige Sittenlehrer“, die die Tugend in kolossalischer Größe malen und mit einem göttlichen Glanz umgeben. Aber die Stoa hat ihre schwächste Seite da, wo sie beweisen soll, wie man sein Gemüth in eine Verfassung setzen müsse, in welchem es uns leicht und natürlich ist, die Tugend auszuüben (HRA XIV/S4,184f). Wie schwach gerade diese Seite der Stoa zu sein scheint, wird an dem Stoiker Kleanth in „Musarion“ deutlich werden101. Theages fand also in der Stoa nicht das, was er suchte, denn die „stoische Philosophie... (ist) nicht den

96 Aspasia liest viel und bringt ihre Betrachtungen, die sie in der Natur macht, auch zu Papier; hier deutet sich der Zusammenhang von Kunst und Natur gleichsam auf einer unteren Ebene an. Interessant ist dabei, daß man auch hier „Aspasias Herz und Geist von einer sehr einnehmenden Seite kennenlernen (würde), wenn man diese Papiere einsehen dürfte“ (HRA XIV/S4, 154). 97 Vgl. auch „Platonischer Einsiedler“ (HRA XIV/S4, 143), „Platonischer Erfinder“ (HRA XIV/S4, 165f) oder „Platonischer Schwärmer“ (HRA XIV/S4, 144). 98 Theages hatte von Jugend an einen besonderen Geschmack an der Einsamkeit und dem betrachtenden Leben und war immer ein „Verächter prächtiger und gekünstelter Vergnügungen“ (HRA XIV/S4, 169). Vgl. dagegen Aspasia (HRA XIV/S4, 150f.) 99 wie später ähnlich auch Agathodämon (HRA X/32, 3ff.) 100 Was darunter zu verstehen ist, erläutert Theages selbst; vgl. HRA XIV/S4, 178f. 101 In „Theages“ hat Wieland schon die Warnung für den Stoiker Kleanth formuliert. Selbstgenügsamkeit sei nur in Gott möglich und die Unterdrückung der sinnlichen Triebe sei nicht natürlich. „Ein Mensch, der ganz Vernunft, ganz Geist ist, ist zwar ein stoischer Mensch in einer stoischen Welt, in der wahren Welt aber giebt es keinen anderen Menschen als... Mitteldinge von Engeln und von Vieh...“ (HRA XIV/S4, 184). In den ebenfalls 1755 erschienenen „Platonischen Betrachtungen“ ist nichts davon zu spüren, daß die Vernunft nicht alles für den Menschen vermag. Hier glaubt Wieland noch, daß mit Hilfe der Vernunft aus einem Tier eine Art von Engel werden kann (HRA XIV/S4, 65ff.) 169

Schönheiten ähnlich, welche desto mehr gewinnen, je länger man sie betrachtet (und er)... verließ diese geschminkte, in sich selbst verliebte Dame...“ (HRA XIV/S4,185). Interessant ist hier der Vergleich der Stoa mit einer Dame, wodurch der Unterschied zwischen Schönheit und Anmut verdeutlicht wird. Schon klingt die „reizende Philosophie“ (HRA XIV/S4,186), die Kunst zu lieben an, die Theages sucht und bei Platon und der großen Hetäre Diotima gefunden zu haben scheint. Er meint, der platonische Genius sei vom Amor „der spätern Dichter sehr verschieden“ (HRA XIV/S4,187) und beschreibt die Wirkungen eines platonischen Genius. Diese „sind ein Zustand der Heiterkeit und des sanften Vergnügens, eine angenehme Bewegung unsers ganzen Wesens, eine beständige harmonische Thätigkeit, in welcher sich die Seele von den Hefen der Sinnlichkeit immer mehr reiniget und freyer, geistiger, engelähnlicher wird“ (HRA XIV/S4,188). Aspasia übt nicht nur an dem Lebenskonzept ihres Bruders Kritik, sie warnt auch Nicias vor der Philosophie des Theages, die eine „Kunst zu lieben“ nur vorgibt. Sie ist der Ansicht, Theages habe dem platonischen Amor „eine Gestalt (ge)geben, welche seinen Ehrgeitz“ (HRA XIV/S4,190) befriedige und mahnt, es gibt zwar auch den platonischen Amor, aber „... verlassen Sie sich darauf, ... die beiden Amorn sind einander nahe verwandt, und es ist schon oft geschehen, daß sie ihre Kleidung miteinander verwechselt haben, und daß der leibhafte Kupido erschienen ist, das Wort zu halten, welches der Platonische Sylfe gegeben hatte...“ (HRA XIV/S4,190) Durch Aspasia wird ansatzweise der anstrengende „Kampf der sinnlichen Liebe mit dem überspannten Platonismus“102, den Wieland in seiner Jugend zu bestehen hatte, angedeutet und von dem er im Alter spricht. Es geht um die Frage der beiden Arten des Amors: ob nämlich himmlische und irdische Liebe miteinander vereinigt werden können. Während der Dichter in „Theages“ die Antwort schuldig bleibt, beabsichtigte er in der ersten Dichtung nach der „großen Wandlung“, in „Araspes und Panthea“, eine Lösung, die die beiden Arten Liebe voneinander trennt103. Wie recht Aspasia mit ihrer Warnung hat, drückte Wieland zehn Jahre später in dem Gedicht „Aspasia oder die platonische Liebe“ aus, das schon in die Nähe von „Agathon“ und „Musarion“ gehört. Die Lehre, die dort Aspasia104 und der Platonist Alkahest ziehen müssen, als sie glaubten, im Land der Ideen zu sein, ist:

102 Böttiger 1839, S. 218. 103 AB I, 243; vgl. auch Sengle, S. 90. 104 Zum Namen Aspasia in diesem Gedicht vgl. RE Bd. I, Stuttgart 1896, Sp. 1721. Vgl. auch Anm. 79 dieser Arbeit. Hier handelt es sich um die Aspasia, die wahrscheinlich Milto hieß, nicht um die Perikleische Aspasia. Es ist dieselbe Aspasia, die Wieland erwählte, um sie eine „Psyche“ erzählen zu lassen; vgl. den Vorbericht zu „Bruchstück von Psyche, einem unvollendet gebliebenen allegorischen Gedichte“, (HRA III/9, 269ff.) 170

Kennt ihr den Mann, der, als er nach den Sternen Zu hitzig sah, in eine Grube fiel? Es war ein Beyspiel mehr! Lasst’s euch zur Warnung dienen! Auch, wenn ihr je bey Mondenlicht im Grünen Platonisiren wollt, platonisirt allein. Und kommt die Lust euch an, in einem heil’gen Hain Um solche Zeit - des Stoffs Euch zu entladen – So laßt dabey... ja keine Zeugin seyn! (HRA III/9,125).

Die Vorbehalte oder nötigen Zweifel, die Aspasia im Fragment gegenüber dem platonischen Amor hat, hat der Platoniker Alkahest außer acht gelassen, das wurde ihm zum Verhängnis. Er hat nicht bedacht, daß Amor „ein wahrer Proteus (ist), der sich so gut in einen Platoniker als in eine Franciskanerkutte maskieren kann; und wenn er die Dame Fantasie auf seiner Seite hat... so weiß ich nichts, was die beiden Schelmen nicht anrichten können“ (HRA XIV/S4, 190). Aspasia deutet also an, daß auch bei dem platonischen System Vorsicht geboten sei. Deshalb versucht sie, dem verwandlungsfähigen „Knaben der lächelnden Venus“, dem „anmuthsvollen Betrüger“ mit Gelassenheit und Gemütsruhe zu begegnen. „Was mich betrifft, ich habe immer die stoische Gleichmüthigkeit und Ruhe dieser seelenschmelzenden Zärtlichkeit vorgezogen, die vielleicht ihre eignen Vergnügen hat, und lebhaftere als wir andern kalten Seelen kennen, aber wegen ihrer Empfindlichkeit auch tausend Qualen ausgesetzt ist...“ (HRA XIV/S4,190). Wenn man Aspasias Verhältnis zu ihrem Bruder betrachtet, so ist nicht auszuschließen, daß sie durch Theages und sein philosophisches System beeinflußt wurde. Auch wenn sie Kritik übt, so ist der „Streit“ nicht gelöst oder nur in dem Sinne, daß beide, Bruder und Schwester, auf ihre Weise im Recht sind, ihre Positionen sich im übrigen ergänzen und wechselseitig erfüllen.

Erwähnenswert ist, daß Aspasia eine große Kunstliebhaberin ist und darin einen guten Geschmack besitzt105. Sie hat eine große Gemäldesammlung und das ist vielleicht ihr einziger „Fehler“, denn selbst bei kritischer Betrachtung ihrer Neigungen können ihre strengsten Tadler ihr nur nachsagen, „daß sie die Pracht liebet, und ihrem Geschmack für schöne Gebäude und für Meisterstücke der Malerei... allzuviel nachhängt“ (HRA XIV/S4,148f.). So hat sie einen jungen Maler auf ihre Kosten ins Ausland geschickt. Dieser hat fast alle Gemälde gemalt. Aspasia brachte ihn „zur Ausführung eines Vorhabens..., welches ihr Ehre

105 Der gute Geschmack wird auch in anderen Zusammenhängen betont; vgl. HRA XIV/S4, 146f.; 148f.; 150f.; 159f. 171 macht, indem es zeigt, daß sie das Schöne und Gute für unzertrennlich hält“ (HRA XIV/S4, 155). Und so glaubt man, wenn man sich in der Galerie aufhält, „in einer majestätischen Versammlung der Tugendhaftesten Menschen zu seyn“ (HRA XIV/S4,160). Damit entspricht Aspasia dem moralischen Anspruch, in dessen Dienst die Kunst zu stehen hat. Hier wird der Zusammenhang von Kunst und Natur deutlich. Eines der Gemälde, „welches die Grazien selbst vorstellt und die schönste Zierde des Cabinets der Gräfin ist“ (HRA XIV/S4,161) erscheint in diesem Rahmen von Bedeutung. Dieses hat Theages, der der „eigentliche(r) Apelles“ genannt wird, gemalt106. Es ist als Sinnbild der Tugend gestaltet. Über diese „gemalten Grazien“ heißt es, sie „... geben sich beym ersten Anblick durch die nahmenlose Empfindung zu erkennen, welche die bescheidne Anmuth in Seelen von zartem Gefühl zu erregen pflegt. Sie sind ganz blühend, ganz Leben, ganz Seele und Geist. Die aufrichtigste Unschuld, und eine naive Güte, der man sein Herz nicht versagen kann, athmet in ihren Mienen. Ein sanftwallendes Gewand (man glaubt, es wallen zu sehen) umschattet gleich einer Silberwolke, ihre keusche Schönheit, und erhöhet den Eindruck derselben unendlich weit über die unreservierten Venusbilder, welche alle ihre Reizungen so wohlfeil auskramen, daß sie nichts zu errathen übrig lassen. Eine jede dieser Grazien drückt etwas eignes aus. Die eine scheint die Freudigkeit der jugendlichen Unschuld abzubilden; sie gleicht in ihrer ganzen Person einer frischen Rose, die sich in der Morgendämmerung zu öffnen anfängt, und lächelt dem Frühling, der rings um sie aufblühet, mit heitern Blicken entgegen. Eine andre stellt die Sittsamkeit vor. Die Farbe, welche an Anmuth alle andren Farben in der Natur übertrifft, die holdselige Röthe, die durch eine Vergleichung mit der Rosenfarbe verdunkelt würde, tuscht ihre sanften Wangen auf eine so feine Art, daß man fast böse auf den Künstler werden möchte, daß er so kühn gewesen, der Natur so genau nachzuahmen, da er nicht fähig war ihr das wenige zu geben, was ihr noch zum Leben zu fehlen scheint. Ihre Miene drückt die Empfindung einer innerlichen Würde aus, welche ihr immer leise zulispelt, nichts zu thun oder zu leiden, was dieselbe verdunkeln könnte. Die dritte lächelt uns mit einer so sanften und offenherzigen Güte an, und es ist etwas so aufrichtiges und anziehendes in ihrem Lächeln, daß ich keinen Nahmen für das, was sie ausdrückt, finden kann. ... Ich nenne sie, die moralischen Grazien“ (HRA XIV/S4,161ff.).

106 Von Theages wird gesagt, daß er „... in allem,... was das Wort Grazie bezeichnet, wie jener griechische Corregio, ganz eigen und unvergleichlich ist“ (HRA XIV/S4, 161). Der Hinweis auf Apelles und Corregio ist eine Beschäftigung Wielands mit der Theorie, da in den Werken der Malerei an diesen beiden mit Vorliebe die „Grazie“ gerühmt wird. 172

Auffällig an der Beschreibung ist, daß die Grazien beim ersten Anblick „durch die nahmenlose Empfindung..., welche die bescheidne Anmuth in Seelen von zartem Gefühl zu erregen pflegt“ (HRA XIV/S4,161)107 wirken. Diese Formulierung „namenlose Empfindung“ tritt bei Wieland in Verbindung mit den Grazien hier zum ersten Mal auf. Interessant ist auch, wie anhand von Farben der Unterschied zwischen Schönheit und Anmut verdeutlicht wird. Während das Rote einer Rose der Schönheit entspricht, ist es die „holdselige Röthe“, die „an Anmuth alle andern Farben in der Natur übertrifft“ (HRA XIV/S4,161). Im Gegensatz zu Aspasia stellt man sich diese Grazien jugendlich vor. Das läßt sich durch die Formulierungen „blühend“, „ganz Leben“, „aufrichtige Unschuld“ und „naive Güte“ (HRA XIV/S4,161f.) vermuten. Allerdings können sie ihren „platonischen Erfinder“ (HRA XIV/S4,165f.) nicht verleugnen, denn sie sind, wie Aspasia, „ganz Seele und Geist“ (HRA XIV/S4,161)108. Während über Aspasias Äußeres, speziell ihre Kleidung, nichts gesagt wird, stellt Wieland sich die Grazien auf dem Gemälde bekleidet vor. Noch in „Timoklea“ wird die Kleidung der Pasithea, deren Gestalt die Grazien annehmen müßten, „einfach und zierlich“ (HRA XIV/S4, 46) beschrieben. Hier tragen die Grazien ein „sanft wallendes Gewand (man glaubt es wallen zu sehen), das „gleich einer leichten Silberwolke, ihre keusche Schönheit,“ umschattet109. Damit tritt auch das sinnliche Element, der körperliche Reiz, hervor, denn durch eine leichte Verhüllung des Körpers wird der Eindruck der Schönheit erhöht, „die begierde nach dem verborgenen gereizt“110. Und so wendet sich der Dichter anschließend auch gegen die „unreservirten Venusbilder“. Ein unbekleideter Körper, welcher alle „Reitzungen so wohlfeil auskram(en) (HRA XIV/S4,162), läßt seiner Meinung nach nichts zu erraten übrig.

Auffällig ist weiterhin im Gegensatz zu Aspasia, daß außer der Kleidung auch andere Äußerlichkeiten beschrieben werden. So „lächelt“ eine Grazie „dem Frühling... mit heitern Blicken entgegen“111, die „Miene“ der zweiten Grazie „drückt die Empfindung einer innerlichen Würde aus“ und die „holdselige Röthe... tuscht ihre sanften Wangen“; die dritte hat so etwas „Aufrichtiges und Anziehendes in ihrem Lächeln“, daß der Erzähler keinen Namen für das fand, was sie ausdrückt. In der dritten Beschreibung werden die allgemeinen

107 Vgl. dazu die Formulierung bei Aspasia, die bei ihrem ersten Anblick „lauter Güte und Leutseligkeit“ (HRA XIV/S4, 147) verspricht. Was in früheren Schriften für die Anmut sich ergeben hat, wird hier zusammengefaßt und erweitert. 108 Vgl. dagegen die Beschreibung des Graziengemäldes in „Diogenes von Sinope“, wo sie als „halb nackte Mädchen“ erscheinen und jede mit ihrem „eigenen charakteristischen Reize“ ausgestattet ist; und dennoch werden sie „idealisch“ und als „Grazie“ bezeichnet (HRA IV/13, 34f.). 109 Vgl. „Der Unzufriedene“, wo die Nymphen den Chariten gleich mit „aufgelöstem Gürtel, Hand in Hand, Der Venus und dem Lenz entgegentanzen“ (HRA XIII/S2, 135, Vers 180). 110 Pomezny, S. 168. 173

Eigenschaften „Freudigkeit der jugendlichen Unschuld“, „Sittsamkeit“ und „sanfte und offenherzige Güte“ (HRA XIV/S4,162f.) auf drei Grazien verteilt112. Damit ist aber nicht eine Teilung der Anmut beabsichtigt, denn alle drei Eigenschaften werden gemeinsam gebraucht, um zu gefallen113. Daraus wird auch Wielands ethisch bestimmte Lebensanschauung deutlich, die Shaftesbury verpflichtet ist. Aspasia sagt von diesen „moralischen Grazien“, daß sie „eigentlich den Nahmen des Wiederscheins der innerlichen Güte einer menschlichen Seele (verdienen); ohne sie ist Schönheit ein lebloses unvollendetes Bild; durch sie ist auch ein verwelktes Angesicht lieblich“ (HRA XIV/S4,163)114. Damit spricht Wieland wieder den Unterschied von Schönheit und Anmut an, ein Thema, das im 18. Jahrhundert viele Ästhetiker und Theoretiker beschäftigte. Durch die Seele wird auch ein nicht mehr schöner Körper verschönt. Es ist der Unterschied zwischen der „architektonischen Schönheit“, wie Schiller sie später nannte115 und der moralischen Schönheit116 im Sinne Shaftesburys. Obwohl in „Theages“ die Grazien nur „todte(n) Nachahmungen“ (HRA XIV/S4,165)117 sind, wird die moralische Schönheit direkt mit den Grazien in Verbindung gebracht118 Gegenüber früheren Belegen, wo sie nur als Vergleich zu lebenden Gestalten herangezogen wurden, haben sie hier körperliche und seelische Vorzüge. Wenn man die Grazien auf dem Gemälde der Aspasia vergleicht, so ist schon ein gewisser Unterschied festzustellen. Obwohl in beiden Fällen das

111 Was „Blicke“ ausdrücken und erreichen können, wird in „Musarion“ besonders deutlich. 112 Mit der Dreizahl kommt Wieland auf die Pindarische Grazienvorstellung zurück. 113 Vgl. „Erinnerungen an eine Freundin“ (1753). Dort werden alle drei Eigenschaften, die hier den Grazien zugeschrieben werden, abstrakt gebraucht, um der Freundin zu zeigen, was gefällt (HRA XIV/S4, 10ff.) 114 Vgl. dazu ähnliche Formulierungen in „Erinnerungen an eine Freundin“: „Die äussre schönheit ist Allein der widerschein der innern gyte, Der um die Seele dynngewebte flor“, in: „Erinnerungen an eine Freundin“, Zyrich 1754 (anonym erschienen), S. 9. Vgl. H 40, 585. Vgl. dagegen in „Diogenes von Sinope“, der in zeitlicher Nähe von „Musarion“ und den „Grazien“ entstanden ist. dort heißt es, daß „jede durch sich selbst schön, und dennoch durch eine Art von Wiederschein von ihrer Nachbarin verschönert!“ wird (HRA IV/13, 35). 115 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, in: ders., Sämtliche Werke, hg. Fricke/Göpfert, 5. durchgeseh. Aufl., München 1973, Bd. 5, S. 436. 116 Vgl. dazu, was Theages über die „moralische Schönheit“ sagt, daß es mit ihr die gleiche Bewandtnis habe, „wie mit derjenigen, welche unsern Mädchen den Spiegel so beliebt macht. Eine Schönheit, die beym ersten Anblick außer sich setzt, und dem Herzen, so zu sagen, Gewalt thun will, macht selten dauerhafte Eindrücke; sanfte Züge und sittsame Annehmlichkeiten, die sich erst nach und nach entdecken, nehmen langsamer ein, und gefallen immer“ (HRA XIV/S4, 175f.). 117 Dieses könnte ein Hinweis auf Shaftesburys drei Klassen von Schönheit sein, bei dem die „toten Formen“ die unterste Stufe der Schönheit sind und keine formende Kraft besitzen; nach Leo Stettner, Das philosophische System Shaftesburys, S. 55. Vgl. Manfred Dick, Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland, S. 153. „Shaftesbury unterscheidet verschiedene Stufen der Schönheit. Stoff allein kann keine Schönheit hervorbringen, denn das Prinzip aller Schönheit ist gestaltende Form. ‘All shich is void of mind is horrid’. Die unterste Stufe der Schönheit bilden die ‘dead forms’. Die Natur oder der Mensch haben sie gebildet. Die zweite Stufe machen die ‘forming forms’ aus. Sei haben ‘intelligence, action and operation’. Beides ist bei ihnen Form: die Wirkung des Geistes und der wirkende Geist selbst, der als schöpferische Kraft eine höhere Schönheit darstellt“. 118 Berits 1752 im „Anti-Ovid“ sind Anklänge vorhanden, das seelische Anmut sich in körperlichen Vorzügen äußert. Bewegte Schönheit, äußere Reize genügen nicht, das seelisch Schöne muß hinzukommen, um volle Anmut zu bilden. Aber in diesem Werk werden die Vorstellungen noch nicht mit den Grazien in Verbindung gebracht. Dennoch verstand Wieland darunter das gleiche, was er in „Theages“ mit der „moralischen Grazie“ im 174 seelische Element überwiegt119, treten bei den Grazien auch sinnliche Momente hinzu. Der Dichter spricht von „namenlose(r) Empfindung“ und sie wirken durch Blicke, Gebärden und Lächeln120; auch die Kleidung ist dazu angetan, die Reize zu erhöhen. Zwar drückt bei einer Grazie die Miene die „Empfindung einer innerlichen Würde aus, aber dennoch sind diese jugendlich, naiv, sittsam, unschuldig, sanft und einfach; man könnte sie mit Pasithea vergleichen, wenn von dieser eine Beschreibung vorläge. An einer Stelle wird nur von „bescheidner Anmuth“ (HRA XIV/S4,161) gesprochen.

Bei Aspasia werden keine sinnlichen Elemente beschrieben, das Äußere tritt völlig zurück. Sie erscheint würdevoll, majestätisch, fast unnahbar, ist ganz Geist und Seele121. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß sie eine reiche Gräfin mit einem Landgut und einer Gemäldesammlung ist, den Hof besucht und die „Seele“ in der feinen Gesellschaft genannt wird. Außerdem verleiht der Reichtum allen ihren Vorzügen, die hauptsächlich dem seelischen Bereich angehören, einen „höhern Glanz“ (HRA XIV/S4,146). Dazu paßt, daß sie sich jedem persönlichen Anspruch entzieht, der von außen an sie herangetragen wird. Aspasia hebt sich als die „erste unter vielen Frauen, die einander in Wielands Dichtung folgen sollten, ... als die ins Majestätische hinaufstilisierte Spröde... sonderbar von den leicht durchs Leben schwebenden Musarions und Danaes ab“122. Aspasia möchte nicht von den Pfeilen des „muthwilligen Knaben der Venus“ (HRA XIV/S4,188) verwundet werden und glaubt, daß sie mit Ruhe und stoischer Gelassenheit, mit Hilfe der Vernunft, davor geschützt ist. Die Gräfin versucht sich in „wohlgemeisterter, aber egozentrischer Lebenskunst“123, aber Theages deutet an, daß solche Gelassenheit auch der „Tod der Seele“ sei. Obwohl mit „Theages“ die eigentliche Dichtung von Wielands Reifejahren einsetzt124, was schon angeklungen ist, hat er mit Aspasia eine Figur geschaffen, die wesentliche Züge trägt, die mit seinen abstrakten Vorstellungen von „der Seelen hohe Würde“ aus früheren Dichtungen übereinstimmt.125. Beim Vergleich der beiden Grazienvorstellungen in diesem Fragment fällt auf, daß Aspasia

Sinne Shaftesburys wiedergab. Nur wo äußere und innere Anmut zusammenkommen, verwirklicht sich für Wieland das Ideal des schönen Menschen, der Grazie. 119 Vgl. HRA XIV/S4, 146f. und 161. 120 Vgl. HRA XIV/S4, 161f. 121 Vgl. dazu die Beschreibung von Aspasias Bruder, der Ähnlichkeit mit ihr zu haben scheint. „Ich habe nie eine sanftere Leutseligkeit mit so viel Hoheit und so schönen Zügen des ernsten Tiefsinns untermischt gesehen, als auf seinem Gesicht“, sagt Nicias (HRA XIV/S4, 167). 122 Wolfgang Paulsen, Wieland. Der Mensch und sein Werk, S. 224. 123 HA 3, S. 963. 124 Wolfgang Paulsen, Wieland. Der Mensch und sein Werk, S. 224. 125 Vgl. „Erinnerungen an eine Freundin“. Der Dichter lehrt die Freundin, daß es die Seele ist, die sich den Klugen gefällig macht. „Vor allem schwebe Dir... stets Der Seelen hohe Würde vor den Augen“ (HRA XIV/S4, 6f.). Vgl. zu Aspasias Wesen auch den Anfang dieser Dichtung (HRA XIV/S4, 5f.). 175 durchaus eine „Göttin der Anmut“ ist. Sie verdient, genauso wie die Grazien auf dem Gemälde, das Prädikat „Anmut“; aber sie erscheint eher ernst, würdevoll und charakterisiert sich selbst als „wir andern kalten Seelen“ (HRA XIV/S4,190), sie verkörpert nur das seelische Element und die „ernste Anmut“, wie es in einer früheren Dichtung heißt126. Es ist die „Vorstellung einer höheren Grazie“. Dennoch stehen beide Vorstellungen auf gleicher sittlicher Höhe127.

Wie bereits das Motto, das diesem Fragment vorangestellt ist, ankündigt128, überwiegt bei Wieland in dieser dichterischen Phase bei den „Göttinnen der Anmut“ das seelische Element. „Theages“ ist zwar als Dichtung des „geistigen Umbruchs“ zu sehen, aber er konnte sich noch nicht aus der Enge der vorherrschenden Sittlichkeitsauffassung befreien Das mag auch mit seiner Jugend zusammenhängen. Aber dieses wirkte sich auf seine Grazienvorstellungen aus. Wielands Ideal der „moral grace“ war mit der Clarissas von Richardson vergleichbar. Wenn auf Wieland in den Züricher Jahren neben Shaftesbury auch andere englische Philosophen und Schriftsteller einen Einfluß ausübten129 und erst später auch französische Einflüsse unter dem Grafen Stadion in Warthausen hinzukommen, dann ist festzuhalten, daß Wieland die Grazie der Engländer bevorzugt und die geistigen Vorzüge der „moral grace“ von Shaftesbury besonders hervorhebt. Dabei wird übersehen, daß dieser den Gedanken der Harmonie in den Vordergrund stellt, d. h. daß er einen Ausgleich zwischen Körper und Geist sucht130. Damit wird eine in der Literatur betonte Auffassung widerlegt, daß die Engländer die sittliche Grazie, die geistigen Vorzüge, betonten und unter französischem Einfluß das sinnliche Element, die sinnliche Grazie, hinzukam131.

126 Vgl. „Erinnerungen an eine Freundin“ (HRA XIV/S4, 8f.) 127 Pomezny vermutet, daß Wieland von dieser Zweiteilung kein klares Bewußtsein hatte und er eine Spaltung seiner Anmutsidee nicht wahrnahm; dies läßt sich mit den verschiedenen literarischen Einflüssen erklären, die auf ihn wirkten. So vermittelten Milton und Thomson Bilder der heiteren Anmut, Richardson und Klopstock dagegen Ernst und Würde, S. 160. 128 Pur s’ tanto t’in fiamma e ti conforta Beltà celeste entro terrenc velo, Che sara dunque á vagheggiar la in cielo? (Guidi), HRA XIV/S4, 141. „Wenn so sehr schon dich entflammt und beseligt die himmlische Schönheit im irdischen Schleier, wie wird sie wirken, wenn du sie im Himmel erblickst?“); Übers. nach HA 3, 822. Dieses Zitat stammt aus „Endimione“ (1692) von Alessandro Guidi (1650- 1712). Er war italienischer Lyriker und Dramatiker, in: „Poesie“, 3. Aufl., 1751, S. 239; vgl. auch das Zitat im „Agathon“ (WA 2, 145). 129 Vgl. zum Einfluß der Engländer auf Wieland, Erna Merker, Wieland, S. 21; vgl. auch Erich Groß, Wielands „Geschichte des Agathon“, S. 52f. 130 Bei Wieland ist zwar der Tugendbegriff in dieser frühen dichterischen Phase mit dem Harmoniegedanken verbunden, aber er vollzieht ihn nicht auf Körper und Seele, wie er es später in „Musarion“ tat; vgl. Tugend ist Harmonie „unsre(r) Bewegungen“ (HRA XIV/S4, 191), „sie ist ... (die) richtige Stimmung der Affekte und Empfindungen, welche mit der Vernunft oder den ewigen Gesetzen der Ordnung die angenehmste Symphonie ausmachen. Tugend ist die Gesundheit der ganzen Seele“ ( HRA XI/33, 163f.). 131 Vgl. Pomezny, S. 147; vgl. auch Emil Hamann, Wielands Bildungsideal, S. 137. 176

Mit Aspasia hat Wieland eine „Göttin der Anmut“ gestaltet, die zwar die Existenz der beiden Amorn nicht leugnet, aber von der Stärke ihrer moralischen Kräfte, der Vorherrschaft der Vernunft, überzeugt ist. Wenn später in „Musarion“ ein Vertrag zwischen Körper und Geist angestrebt wird132, löst Wieland in „Theages“ die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, Engel und Tier, im Sinne Shaftesburys mit dem Hinweis, daß es „in der wahren Welt... keine andern Menschen, als ... Mitteldinge von Engeln und von Vieh“ gibt (HRA XIV/S4,185). Dieses weist bereits auf Werke der folgenden Jahre, denn von nun an ist sein dichterisches Ringen um das Ideal einer Grazie von der Polarität zwischen Tugend und Sinnlichkeit gekennzeichnet - und ist mit „Musarion“ und „Die Grazien“ zum Abschluß gekommen.

5.1.6 Anmut in Natur und Landschaft

Der Anmutsbegriff ist auch auf Natur und Landschaft übertragbar und kann mit den Göttinnen der Anmut in Verbindung gebracht werden. Wenn in „Musarion“ und „Die Grazien“ darauf zurückgegriffen wird, dann nur, um zu zeigen, ob und wie sich die Anschauungen des Dichters in bezug auf Anmut in Natur und Landschaft eventuell verändert bzw. gewandelt haben. Grundsätzlich ist zu den Naturschilderungen zu sagen, daß sie durch eine räumliche Unbestimmtheit gekennzeichnet sind, ihnen etwas Kulissenartiges anhaftet. Das Aussehen ist nur insofern bedeutsam, als es, wie in der Rhetorik, bestimmte Wirkungsabsichten verfolgt. So bleiben die Schönheiten der Natur allgemein und werden nur durch ihre Wirkungen bedeutsam133. Die Lokalzeichnung ist in „Theages“ im wesentlichen dieselbe wie in den späteren Dichtungen134. Es ist eine südliche Landschaft, der Grundcharakter ist idyllisch-

132 Schubert nennt diesen Vertrag eine „freiwillige Anerkennung der Vernunftsherrschaft über Begierden der Sinnlichkeit“. Der ursprüngliche Antagonismus ist damit überwunden und ein Harmoniezustand - auch im Sinne Shaftesburys - erreicht; Heinz Schubert, Schiller und Wieland, S. 250. 133 Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S. 76. Sie meint, im Grunde interessiere Wieland nicht die Natur an sich, höchstens das Natürliche, insofern es Ausdruck einer bestimmten Gesetzmäßigkeit der Natur überhaupt sei. 134 Vgl. Jens Voß: „... daß Bißchen Gärtnerey“, Frankfurt/Main 1993: „Wielands Gartenmotivik gehorcht einer inneren Systematik, die sich bereits in seinem Frühwerk abzeichnet und auf die Wieland sein Leben lang zurückgreift“, S. 201.Zu Wielands Naturschilderungen in seinen Romanen vgl. auch Hildegund Berger: Wielands philosophische Romane, Diss. München 1944, S. 127ff. und F. Bobertag: Studien über „Wielands Romane“. Progr. Breslau 1871, S. 22ff. Daß Wieland schon eine ähnliche Landschaft in „Theages“ schildert wie in den späteren Romanen, z. B. im „Don Sylvio“ hat Voß anhand von Textanalysen anschaulich belegt (zu „Theages“ vgl. S. 76-85; zu „Don ´Sylvio“, vgl. S. 85-124). Der Garten zu Lirias ist mit seinen „Alleen des Labyrinths“ – mit den Sommerlauben, kleinen Lustwäldchen, Kaskaden, Griechischen Tempel(n), Pagoden, Bildsäulen und hundert andern Dingen“ ausgestattet (HRA IV/12, 306); vgl. auch IV/11, 305. 177 arkadisch, eine Ideallandschaft135. Ein typischer Aspekt dieser Landschaft ist die Betonung des Sanften, Milden, Gedämpften. Das zeigt sich sowohl in der Wahl der akustischen Eindrücke, in der Zusammenstellung der Farbwirkung, indem starke Kontraste vermieden werden, als auch darin, daß den verwendeten Bestandteilen durchweg weiche Konturen eigen sind. Gebirge gehören im allgemeinen nicht in das Bild der literarischen Landschaft. Dagegen wird den Hügeln eine ästhetische Wertung zuteil; ihre Hänge besitzen eine sanfte Linienführung136. Bei der Schilderung der Örtlichkeiten in „Theages“ fällt auf, daß weder die Räumlichkeiten in der Stadt, noch in Aspasias Landgut beschrieben werden. Nur über Theages seltsame Wohnung in dem „pyramidalischen Felsen“ (HRA XIV/S4,168) werden Einzelheiten mitgeteilt137. Einen breiten Raum nehmen die Beschreibungen der Landschaft, Gärten und Parks ein.

Wie im Zusammenhang mit dem Anmutsbegriff dargelegt, entwickelt sich im 18. Jahrhundert ein neuer Schönheitsbegriff, der im Zusammenhang mit dem Element der Bewegung steht. Obwohl sich später damit Philosophen und Schriftsteller auseinandersetzen, hat Wieland z. Z. der Entstehung von „Theages“ zu diesem Thema noch keine theoretischen Abhandlungen darüber gelesen, weil die meisten noch nicht erschienen waren. Dennoch sind seine Landschafts- und Naturschilderungen durchaus als anmutig im Sinne der späteren Ästhetik zu bezeichnen138. Obwohl Langen in seiner grundlegenden Studie den Begriff der „Bewegungslandschaft“ formuliert und damit eine wichtige formale Bestimmung für die dichterische Landschaftsbeschreibung, besonders des 18. Jahrhunderts, gefunden hat, unterscheiden sich die Bewegungen in der Landschaft bei Klopstock und in der Literatur des

135 In diesem Zusammenhang sei auf den von Theokrit geschaffenen und von Vergil übernommenen „locus amoenus“ mit seinen charakterisierten Landschaftsreizen verwiesen: Quellen, Pflanzungen, Gärten, sanfte Lüfte, Blumen und Vogelstimmen; vgl. dazu E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Berlin 1948, Kap. 10: Die Ideallandschaft, S. 189-207. 136 Vgl. G. Schönbeck: Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962, S. 47f. 137 Sie erscheint wenig anmutig, da die Gemächer und Säle in den Felsen gehauen sind, eine steinerne Treppe die Etagen verbindet und die Räume mit Gemälden und Naturalien ausgeschmückt sind. Bemerkenswert ist, daß Pasithea ein Stockwerg höher wohnt und die Spitze der Pyramide eine Grotte ist, wo allenthalben „Wasser aus den Ritzen des Kristalls und den Muscheln hervor(sprudelt)“, HRA XIV/S4, 169. Es entsteht der Eindruck, daß zumindest die Räumlichkeiten einer Grazie etwas anmutiger geschildert werden. 138 Über Natur- und Landschaftsschilderungen Wielands gibt es kaum einschlägige Literatur - wie überhaupt für das 18. Jahrhundert auf diesem Gebiet ein großer Mangel herrscht; vgl. dazu nur Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln 1974 (teilweise für das 18. Jahrhundert brauchbar) und die sprachwissenschaftliche Studie von August Langen: Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 70 (1948/49), S. 249ff.; WA. in: Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, S. 112ff. verwiesen. 178

Sturm und Drang grundlegend von denen Wielands139. Im Gegensatz zum Schrecken- und Furchtgefühl gegenüber dem Großen, Erhabenen sind es bei Wieland kleine, leichte, spielerisch sanfte Bewegungen, die der Natur in seinen Werken Anmut verleihen. Alles in der Natur bewegt sich leicht, spielerisch und ist klein, eng umschlossen140. Zu Beginn von „Theages“ soll man sich ein „anmuthiges Wäldchen“ vorstellen, in dem ein paar platonischen Schwärmer „in einer wilden Laube von duftenden Gesträuchen“ (HRA XIV/S4,144) sitzen.

Im folgenden wird untersucht, inwieweit die charakteristischen Bewegungen der Natur141 Anmut verleihen und mit den Grazien in Verbindung gebracht werden können. In Anlehnung an die Ideallandschaft der Antike mit den charakteristischen Landschaftsreizen werden folgende Kriterien zur Untersuchung herangezogen, die durch ihre Wirkungen bedeutsam werden: Licht und Farbe; Linien, Figuren und Gestalten, akustische und Geruchswahrnehmungen. Wieland hat diese Kriterien im „Aristipp“ untersucht und dabei festgestellt, daß diese Wirkungen dem „Gesetz der Harmonie“ unterliegen142. Bei der Frage, was sich alles bewegt, fallen die „ätherischen Geister(n) (auf), welche unbemerkt um die Menschen schweben“ (HRA XIV/S4,168). Vom Wind gehen zwar die meisten Bewegungen in der Natur aus, aber nie werden größere Luftmassen bewegt. Es ist schon viel, wenn vom „Sausen eines vom Wind bewegten Tannenwaldes“ (HRA XIV/S4,171) gesprochen wird. Häufiger kommt es vor, daß der Wind personifiziert wird und die Weste Wellen erzeugen und die Pflanzen in leichte Bewegungen setzt, oder die Nymphen „von Zephyrn getragen“ werden (HRA XIV/S4,165). Es müssen nicht unmittelbare Bewegungen sein, sie können auch durch Linien und Formen, leichte, schlängelnde Bewegungen ausgedrückt werden. Man wird an die

139 C. C. L. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Leipzig 1779, Bd. 1. Er hat Wielands Vorstellung in dieser Hinsicht theoretisch dargelegt; vgl. die Punkte „Bewegung“, S. 171f., „Von der Anmuthigkeit und Lieblichkeit“, S. 174ff. „In Bewegung kann überhaupt schon Schönheit sein, weil darin Mannigfaltigkeit und Abwechslung stattfindet. In landschaftlichen Gegenständen ist die Bewegung unentbehrlich, wenn sie einen dauerhaften Eindruck machen sollen“, S. 171. Vgl. zu Hirschfels „Theorie der Gartenkunst“ Wielands Bemerkungen im „Teutschen Merkur“ 1775, III, 288f; auch in H 38, 556f. 140 Wieland bietet keine großen perspektivisch klaren Bilder, sondern kleine Ausschnitte, Details, Situationen und Motive, die sowohl dem Stil des Rokoko entsprechen, aber auch auf antike Vorbilder des „locus amoenus“ zurückgehen. Es wird die „idyllische Umschlossenheit“, „Eingerahmtheit“ und der „Ausschnittcharakter“ betont; Peter Brugger: Graziöse Gebärde. Studien zum Rokokostil C. M. Wielands, Diss. München 1972, S. 133. 141 Diese Kriterien sind deshalb gewählt, weil Wieland sie im „Aristipp“ selbst erläuterte hat bei der Frage, was schön und häßlich ist und er sich dabei an das gehalten hat, was er „auf dem Wege der Beobachtung der Natur im Geschäfte der Entwicklung und Ausbildung ...(des) Schönheitssinns abgelauscht zu haben“ glaubte (HRA XI/34, 294ff.). 142 Vgl. „Aristipp“ (HRA XI/34, 295); Müller nennt es „Harmonisierung von Gestalt und Raum“; A. Müller: Landschaftserlebnis und Landschaftsbild, a.a.O., S. 35. 179 von Hogarth empfohlenen „Schlangen- und Wellenlinien“ als ruhende Objekte erinnert143. Jede Geradlinigkeit wird möglichst vermieden144. Fließendes Wasser z. B. nimmt nie einen geraden Verlauf; die Quelle schlängelt sich in „hundert Wendungen durch... (den) .... Blumengarten“ oder Bäche sammeln „sich hier und da in kleinen Seen“. Dasselbe gilt für die Wege, die die Gärten durchziehen. So verliert sich der Spaziergang „unvermerkt in ein Labyrinth von Rosenbüschen“ (HRA XIV/S4,151ff.)145. Wieland bevorzugt eine „sanftwallende Linie“, einen „Circelrund“ oder eine „Kreislinie“, wie er es im „Aristipp“ begründet146. Wurde im Barock der französische Garten in seiner äußerlichen Schönheit bewundert, indem die Wege geometrisch angeordnet waren und die Wasserläufe geradlinig verliefen, so bevorzugt Wieland schon in „Theages“ - mit wenigen Ausnahmen147 - gewundene Linien, die an den englischen Garten erinnern148. Alle räumlichen Bewegungen sind eng umgrenzt. So sind die beiden Seiten einer „anmuthigen Wüste... mit künstlichen Felsen eingefaßt“, kleine Seen sind „mit kunstlosen Büschen umkränzt“ oder man durchwandelt einen Hain (HRA XIV/S4,151). Zu der flächenmäßigen Abgrenzung kommt teilweise eine Abschließung im vertikalen Bereich. So fehlen in „Theages“ nicht die Grotten und Lauben (HRA XIV/S4,144,151,168). In dieser Landschaft kommt den Hügeln einige Bedeutung zu, da auch in horizontaler Sicht die „umschatteten Hügel“ (HRA XIV/S4,192) oder eine „sanfte Anhöhe“ (HRA XIV/S4,166)149 der Natur anmutige Bewegung verleihen.

Eine besondere Stellung nimmt die Wirkung des Lichts mit den vielfältigen Reflexionen ein. Damit ist verbunden, daß Wieland bestimmte Tages- und Jahreszeiten bevorzugt. Von einem jahreszeitlichen Wechsel ist nie die Rede; sowohl Aspasia als auch ihr Bruder sind in den schönsten Monaten, d. h. „so lange die schöne Jahreszeit währet auf dem Lande, und die Gräfin verbringt „ganze Morgen oder heitre Sommernächte in ihrer Einöde“ (HRA XIV/S4,

143 William Hogarth: Analysis of beauty, 1753 (Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen“. Aus dem Engl. übers. von C. Mylius, 2. Aufl. London/Hannover 1754; die 1. Aufl. erschien 1753 in Berlin). Vgl. dazu Pomezny, a.a.O., S. 49f. und 73f. 144 So durchkreuzen sich die in Wände gezogenen Rosenbüsche „einander unzähligemal“ (HRA XIV/S4, 151). 145 Zum „Labyrinth“. vor allem beim jungen Wieland, vgl. August Langen: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Wortgeschichte, hg. F. Maurer/Fritz Stroh, 2. Aufl., Berlin 1959, S. 142. Vgl. auch Anger, der es das „Ideal des Labyrinthischen“ nennt; Alfred Anger: Landschaftsstil des Rokoko, in: Euphorion 51, 3. Folge (1957), S. 172; siehe dort Belegstellen für die Verwendung des Labyrinths in Wielands Naturschilderungen. 146 Vgl. „Aristipp“ II, 44. Brief, (HRA XI/34, 296f.). 147 So fuhren die Beteiligten „über eine Stunde durch eine Allee von Linden und Kastanienbäumen“ (HRA XIV/S4, 166). Es ist nicht anzunehmen, daß sich diese Allee durch die Landschaft „schlängelt“; später sind diese Alleen jedoch mäandrich“ angelegt (vgl. „Idris und Zenide“, VI/17, 169). 148 Vgl. „Aristipp“ (HRA XI/34 297.): „Eine gerade fortlaufende Linie, eine ebene ununterbrochne Fläche gefällt einen Augenblick, wird aber bald durch ihre Einförmigkeit langweilig; ... ein sanfter Übergang vom Ebnen zum Gebogenen schmeichelt...“ 149 Vgl. auch HRA XIV/S4, 150f., 166. 180

154). Theages unternimmt seine Spaziergänge „an jedem heitern Tag, zur Zeit der Morgen- und Abendröthe“ (HRA XIV/S4,167). Bevorzugt wird also ein schattiges Halbdunkel mit vielen Licht- und Schattenkombinationen150. So findet man z. B. Nymphen oder Sylphen „an einem schattichten Brunnen schlafen“ oder sie steigen „aus einer goldenen Abendwolke... herab“. Die Sonne mit ihren hellen Strahlen, das grelle Mittagslicht, wird gemieden. Nur die auf- und untergehende Sonne bzw. die „liebliche Abenddämmerung“ mit ihrem milden Licht verbreiten Anmut. Und so mag es auch kein Zufall sein, daß Aspasia, Nicias und der Erzähler sich „an einem schönen Abend auf den Weg“ machten (HRA XIV/S4,166f.), um Theages zu besuchen und am Ende des Fragments alle Beteiligten sich zu „jenem umschatteten Hügel unter dem erwachenden Schimmer der Morgenröthe“ (HRA XIV/S4,192) begeben.

Aus diesen Verbindungen geht hervor, daß der Sinngehalt hier in einem zarten, sanften Licht liegt, durch das alles in eine „anmutige“, d.h. gedämpfte, milde Beleuchtung getaucht wird151. Daneben „bewegen“ sich in der Natur auch Nymphen und Sylphen (HRA XIV/S4,165)152 und Tiere. Obwohl in „Theages“ mehrfach Schwäne und andere Wasservögel die Seen und Teiche bewohnen, werden später eher solche bevorzugt, die klein und leicht sind und sich spielerisch bewegen. Aber auch schon im Fragment wird der „Waldgesang einer Grasmücke dem künstlichen Gesang einer Astroa vor(gezogen)“ (HRA XIV/S4,171). Wie in diesem Beispiel sind bei den kleinen Vögeln auch die akustischen Wahrnehmungen entsprechend sanft. Es schallen aus den „Zweigen die Melodien aller Art von Gesangvögel(n) her(vor)“ und „diese Musik macht... (angenehmere Eindrücke) als die künstlichen Triller und falsae voculae unsrer Sängerinnen“ (HRA XIV/S4,152). Es bleibt festzuhalten, daß schon im Fragment die Landschaft kein prächtiger Garten, sondern anmutig und teilweise mit späteren Beschreibungen vergleichbar ist.

Obwohl der Mensch in diese anmutige Natur einbezogen wird, und Aspasia sich gern in der Einöde aufhält, bleiben die Wirkungen auf den Menschen, speziell auf die Grazien, im Fragment begrenzt. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß zwar der Garten von Aspasia beschrieben wird und in vielen Einzelheiten mit dem ihres Bruder übereinstimmt, der Garten aber „menschenleer“ ist. Deshalb verwundert es, daß er dennoch als Lustgegend,

150 Vgl. „Aristipp“ (HRA XI/34, 294f.) 151 Es wird auf die Romantiker verwiesen, für die das milde Licht (speziell das des Mondes) eine große Rolle spielte, fast zum Requisit wurde, da das grelle Tageslicht die Konturen zu scharf hervorhebt, also einen eher realistischen Hintergrund ergibt. 152 Hier und in späteren Dichtungen sind es eher „kleine“ mythologische Gestalten, die sich spielerisch bewegen, tanzen oder scherzen, z. B. Amor, Faune, Grazien usw. 181

„Zaubergefilde“ (HRA XIV/S4,153) bezeichnet wird - wie später die „Lustörter“ und „Lustgärten“ der Lais im „Aristipp“ (HRA XI/33ff.) und sogar mit den „bezauberten Gärten der Armide“ (HRA XIV/S4,152f.) verglichen wird. Aspasia „bewegt“ sich weder in ihrem Garten noch in der anmutig geschilderten Natur. Die Wirkungen beschränken sich deshalb darauf, daß Aspasia dazu angeregt wird, zu dichten, d.h. die Natur ist für sie nur geistige Anregung (vgl. HRA XIV/S4,154). Eine ähnliche Beobachtung kann man bei der Beschreibung des Grazienbildes machen. In „Theages“ ist im Vergleich zu späteren Gemälden dieser Art (z. B. im „Diogenes“, HRA IV/13,33f.) von Natur- und Landschaftsbeschreibungen keine Rede. Außerdem hängt es im „Cabinet“ der Gräfin (HRA XIV/S4,161). Im „Diogenes“ hängt es in einem kleinen Saal, der sich im Myrthenwäldchen des Gartens von Chärea befindet (HRA IV/13,34f.).

Obwohl man bei der Beschreibung im Fragment die enge Verbindung zwischen Mensch und Natur spürt - „unsre Gefühle leiteten uns unvermerkt auf die Schönheit der einfältigen Natur, welche in einer reizenden Nachlässigkeit vor uns ausgebreitet lag...“ (HRA XIV/S4,167)153 und im ersten Moment nicht weiß, ob es sich um die wirkliche Natur oder ein weibliches Wesen handelt, werden Aspasia und die Grazien des Gemäldes mit der anmutigen Natur und deren möglichen Wirkungen nicht in Verbindung gebracht. Dennoch paßt es zu ihrem bisher beschriebenen Wesen. Sie sind ganz Geist, Seele und gegenüber den Anregungen der Natur auf den sinnlichen Teil des Menschen unempfindlich. Wie bereits im Erziehungskonzept des Theages ein Zusammenhang von Kunst und Natur deutlich wurde, kann das auch in den Naturschilderungen beobachtet werden. Wenn Wieland eine Landschaft beschreibt, dann handelt es sich nie um die eigentliche Natur, sondern um eine vom Menschen gepflegte und stark veränderte154. Sie ist zum kunstvoll angelegten Garten oder Park geworden155. Und obwohl Theages nur die unverdorbene Natur schön findet, kommen seine Besucher in eine „geraume Ebne..., welche, ohne einige Spuren von Kunst zu verrathen, einem selbstgewachsenen Paradiese gleich sieht“ (HRA XIV/S4,166f.). Und die Beschreibung von Aspasias Gärten beginnt damit, daß die Gräfin „in allen Werken der Kunst die Verhehlung der Kunst und eine gewisse Einfalt und angenehme Unordnung (liebt), welche sie den Werken

153 Vgl. „Araspes und Panthea“: „Wie reizend die nachlässige Schönheit der halb verhüllten Natur“ (HRA VI/16, 330). 154 Die Schilderung einer „natürlichen“ Natur kommt in „Theages“ nur einmal vor; so ist die Nordseite von Aspasias Garten „von einem großen Tannenwald beschützt“ (HRA XIV/S4, 152). 155 Anger stellt fest, daß sich Landschaft und Park kaum voneinander unterscheiden; er ist der Ansicht, daß es sich immer „um eine schöne, ideale und das heißt von Menschen veränderte Landschaft“ handelt; Alfred Anger: Landschaftsstil des Rokoko, in: Euphorion 31 (1957), S. 168f. 182 der Natur ähnlich macht156. Auch bei den Gärten der Armide von Tasso, die in „Theages“ zum Vergleich herangezogen werden, heißt es, daß „die Kunst Alles that, ohne gesehen zu werden, wo die Natur selbst zum Scherz ihre Nachahmerin nachahmte“ (HRA XIV/S4, 152f.). Die Kunst versucht durch scheinbare Regellosigkeit oder Wildnis, der Landschaft einen natürlichen Charakter zu geben. Beispiele dafür findet man im Fragment, aber auch in früheren und späteren Dichtungen157, Gegenden und Haine, die „einer anmuthigen Wildniß“ gleichen (HRA XIV/S4,166). Mit derselben Formulierung leitet Wieland auch „Musarion“ ein (vgl. HRA III/9,3). Nie ist es eine wirkliche Wildnis; das wäre etwas Ungeordnetes, wo sich die Natur sich selbst überlassen bliebe; es ist die „romantische Wildnis“ (HRA XIV/S4,171) oder eine ihr ähnliche158. Bei der scheinbaren Unregelmäßigkeit besteht ein Zusammenhang zum englischen Garten, wo auch „die Hand der Kunst... nach den Vorbildern der schönen Natur die anmutige Unordnung nachahmt“159. Während im Sturm und Drang der Gegensatz zwischen Kunst und Natur besonders deutlich gemacht wurde, besteht dieser bei Wieland nicht. Er ist der Ansicht, daß es unberührte Natur ebensowenig gibt wie unberührte menschliche Natur. Dieses stete Hin- und Herschwingen zwischen einfacher Natürlichkeit und höchster Raffiniertheit ist auch Bewegung, macht die Natur reizvoll, graziös. Man hat den Eindruck, daß „die Kunst... in der Anlegung desselben (des Lustgartens, d. Verf.) so versteckt (war), daß Alles ein bloßes Spiel der Natur zu sein schien“160. Die Natur soll also auch in „Theages“ von Menschen gestaltet und dadurch verschönt werden, genau wie der Mensch an seiner eigenen Natur sich bilden, sie gewissermaßen verschönern soll161, d. h. daß das, „was zum Maßstab der Schönheit in der Natur wird, nämlich das Erreichen einer höhern, weitern Natürlichkeit auf dem Wege der Kunst... auch zum Betrachten des Schönen im Menschen ausschlaggebend“ ist162. Bei den Grazien verhält es sich also genauso wie in der Natur: das Verlockendste ist nicht die Natur, sondern die Nachahmung eines Ideals mit Hilfe der Kunst.

156 Vgl. dazu HRA XIV/S4, 151 und HA 4, S. 929: „Die englische Vorstellung von einem ‘idealen Park’, - vom französischen Barockgarten her entwickelt, für Wieland in Deutschland durch Hirschfeld vertreten, - zeigt sich in allen seinen Dichtungen. Der gestaltende Mensch wird vorausgesetzt, sein Werk aber muß selbst als Natur erscheinen, damit es in schöner Harmonie die Anmut des ‘Je ne sais quoi’ erweckt“. 157 Vgl. „Erzählungen“ (HRA XIII/S2, 55f.); „Agathon“ (HRA I/2, 26f.). 158 Vgl. „Agathon“ (HRA I/ 1, 285f.), wo es „künstliche Wildnisse, Lauben und Grotten“ sind, die in „anmuthiger Unordnung untereinander geworfen schienen“. 159 Alfred Anger, Landschaftsstil, S. 173. 160 HRA IV/12, 228f.; vgl. dazu HRA IV/12, 306f. 161 Im „Agathon“ wendet sich Wieland durch Hippias gegen „gewisse poetische Köpfe“, die von einem goldenen Alter, einem idealischen Arkadien, einem reizenden Hirtenleben träumen, „welches zwischen der rohen Natur und der Lebensart des begüterten Theils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das Mittel halten soll. Sie haben die verschönerte Natur von allem Denjenigen entkleidet, wodurch sie verschönert worden ist, und diesen abgezogenen Begriff die schöne Natur genannt“ (HRA I/1, 124f.). 162 Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S. 81. 183

Wielands Naturschilderungen strahlen also nicht wie die Schönheit Größe, Erhabenheit und Pracht aus, sondern wirken anmutig. Diese Eindrücke sind zwar schwächer, „aber sanft und erheiternd“ und gewähren eine „sanftere Bewegung der Seele“163. Die Wirkung erreicht er durch eine Harmonie zwischen Kunst und Natur, zwischen einer wilden und der nur künstlichen Natur, d. h. die Kunst ist so versteckt, daß sie die Natur verschönt164. Hier ist nicht nur die Verbindung zu den Grazien, zu Aspasia und Pasithea, sondern auch zu Wielands dichtungstheoretischem Konzept zur Zeit von „Theages“.

5.1.7 Ästhetische Gestaltungsmittel des Fragments

5.1.7.1 Dichtungstheoretische Aspekte

Durch den neuen Mimesisbegriff wurde die Diskussion um den Stellenwert der Kunst gegenüber der nachzuahmenden Natur möglich. Als Wieland im Hause Bodmer war, wird er in die Kontroverse zwischen Gottsched einerseits und Bodmer und Breitinger andererseits mit hineingezogen, bei der es u. a. um den Begriff der Naturnachahmung ging165. Breitinger nannte den Poeten „den Schöpfer einer neuen idealischen Welt oder eines neuen Zusammenhangs der Dinge“166. Er sah entschiedener als Gottsched die „Nachahmung der Natur in dem ihr Möglichen für das eigene und Hauptwerk der Poesie“167 an. In Miltons Epos „Paradise lost“ wurde erstmals die äußere Nachahmung poetischer Vorbilder verworfen. Im Zusammenhang mit der Übersetzung dieses Epos‘ entwickelten Bodmer und Breitinger ihre Theorie vom Wunderbaren und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Nach Hermann verstehen die Schweizer die Forderung nach Naturnachahmung nicht mehr formal,

163 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Leipzig 1779, Band 1, S. 174. 164 Zum Verhältnis Kunst - Natur bei Wieland im einzelnen vgl. die gründliche Arbeit von Karl Heinz Kausch, Das Kulturproblem bei Wieland, bes. S. 65ff. Vgl. in diesem Zusammenhang den Unterschied zu Rousseau. Timotheus Klein: Rousseau und Wieland, Berlin 1903/04, S. 434f. 165 Hier sei ausdrücklich auf Klaus Oettingers Kapitel „Poetik der ‘Möglichen Welten’, Wieland und die Schweizer“ hingewiesen; Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik C. M. Wielands, München 1970, S. 34-51. Vgl. auch Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft, Bad Homburg 1970. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio. Agathon), in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963, hg. H. R. Jauß, 2. durchges. Aufl., München 1969, S. 72ff. und 196ff. 166Johann Jacob Breitinger: Kritische Dichtkunst, worinnen die poetische Malerei in Absicht auf die Erfindung im Grunde untersucht und mit Beispielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird, 1740, S. 426. 167 Johann Jacob Breitinger, Kritische Dichtkunst, S. 57. „Und in dieser Absicht kömmt nach dem Dichter allein der Name eines Schöpfers zu, weil er nicht allein durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mitteilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinne sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Wirklichkeit hinüberbringet und ihnen also den Schein und den Namen des Wirklichen mitteilet“, S. 60. 184 als regulatives „Prinzip der inventio, sondern inhaltlich, als substantielle Ausrichtung der Poesie auf die dem Menschen gegebene in ihrer Eigenart erst noch auszumachende Wirklichkeit“168. Der Poet ist damit in der Lage, die Natur zu verbessern, sie vollkommener zu machen, ihre Werke vorzustellen, nicht wie sie wirklich sind, sondern wie sie sein könnten, wenn sie von einer vollkommenen Natur hervorgebracht worden wären.

In „Theages“ wird deutlich, daß sich Wieland diesen neuen Mimesisbegriff angeeignet hat. Bereits im Zusammenhang mit den Naturschilderungen und dem Erziehungskonzept für Pasithea wurde auf das Verhältnis von Kunst und Natur hingewiesen. Bei Bodmer und Breitinger fand Wieland die theoretischen Grundlagen. Zu Beginn der Erzählung wird darauf hingewiesen, daß Theages allein in der Lage ist, das „Ideal der vollkommenen Schönheit“ (HRA XIV/S4,144) zu malen. An anderer Stelle hat der „Künstler seine Idee dem Marmor“ (HRA XIV/S4,152) eingedrückt. Es ist nach Hermann der Unterschied zwischen einer garantierten, feststehenden Natur und einer, deren Eigenart durch den Dichter oder Maler erst zu bestimmen ist169. Von dem Graziengemälde heißt es, „die Erfindung ist so geistreich als die Ausführung bewunderungswürdig. Es scheint, der filosofische Mahler habe seine Idee völlig erhaschet“ (HRA XIV/S4,161). Die Natur wird also nicht im Wirklichen, sondern im Möglichen dargestellt bzw. nachgeahmt. Aber mit der Theorie der Schweizer vom Möglichen und Wahrscheinlichen war das Erhabene verbunden. Nicht jede Materie sei geeignet, Rührung und Bewegung hervorzurufen. Aufmerksamkeit errege nur das Ungewohnte, Außerordentliche, das Neue. „Das Wunderbare ist das im eigentliche Sinne Neue“170. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf Pseudo-Longins Schrift „Über das Erhabene“ von entscheidender Bedeutung171. Aber darin folgt Wieland den Schweizern nicht mehr172. Obwohl Wieland und Klopstock einmal der Schule Bodmers angehörten und jener den Dichter des „Messias“ zeitweise verehrte, stehen sich später mit die beiden Schriftstellern nicht nur zwei verschiedene Stilhaltungen, sondern auch zwei ästhetische Anschauungen gegenüber. In rhetorischer Terminologie ließe sich die Stilhaltung Klopstocks als pathetisch

168 Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung, S. 276. 169 Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung, S. 279. Preisendanz meint, damit sei das „poetisch Wahre“ statuiert. Wolfgang Preisendanz, Nachahmungsprinzip, S. 75. 170 Wolfgang Bender: Nachwort zu „Johann Miltons Epische Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese“. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742, Stuttgart 1965, S. 16. 171 Vgl. Karl Vietor: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, in: ders., Geist und Form, Bern 1952, S. 234-266; vgl. auch Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 1., Hamburg 1949. 172 Hinderer meint, obwohl Bodmer, dessen Schule Wieland angehörte, „die Kategorie des ‘Erhabenen’ und die Tradition des Pseudo-Longinus in der Poetik durchgesetzt hatte, scheint sie Wieland später eher bekämpft als gefördert zu haben“. Walter Hinderer: Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 18 (1974), S. 381. Vgl. auch AA II/Bd. 1 (Briefwechsel), S. 322 185 und die Wielands als ethisch bezeichnen, in den Begriffen der zeitgenössischen Poetik die ästhetischen Hauptkategorien bei Klopstock als das Große, Erhabene und bei Wieland als das Schöne. Der ästhetische Gegensatz von Klopstock und Wieland nimmt die späteren Vorstellungen Schillers von „Anmut“ und „Würde“ vorweg, die, wie zuerst Klaus Dockhorn nachgewiesen hat, auf das alte rhetorische Schema von Pathos und Ethos zurückgeht. Der ursprüngliche Begriff des „Anmutigen“ und „Schönen“ hat in der überlieferten rhetorischen Tradition mit dem Ethos und das Erhabene mit dem Pathos zu tun173. Wieland entspricht damit der rhetorischen Tradition, nach der sich die Form eines Werkes aus dem Inhalt, den Gegenständen und ihrem Gehalt, der beabsichtigten Wirkung, ableitet. Wenn er von den Göttinnen der Anmut im Fragment spricht, die auf den Leser wirken sollen, ihn gewinnen, für sich einnehmen sollen, was am ehesten durch die Darstellung von Charakter, durch Ethos, geschieht, tut er es im anmutenden Stil; entsprechend der aus der Rhetorik entwickelten Lehre von den drei Stilen wählt Wieland in „Theages“ die ethische Stilhaltung, das genus medium. Dieser Stil hat eine erfreuende, ergötzende, anmutenden, gelassene menschliche Seelenbewegung zur Folge174, was auch dem Wesen der Grazien entspricht. Damit nähert sich Wieland in dieser Hinsicht dem Stilideal Gottscheds. Für den „aufklärerischen Schriftsteller..(ist es) die mittlere, sinnreiche Schreibart, die sich durch ‘Erläuterungen, gute Einfälle, Lehrsprüche u.d.gl.’ auszeichnet und deutlich von der erhabenen, affektuösen Sprache der Lohensteinschule wie von der trockenen, pedantischen der Gelehrten unterschieden ist“175, er verweist dabei auf Blackall176. Es ist „ein Stil der vernunftgemäßen, wohlgeordneten Rede, die alle Extreme vermeidet, aber doch von einer kultivierten Natürlichkeit ist, in der ... die Gedanken auf angenehme Weise zum Ausdruck gebracht werden“177, dann verweist das inhaltlich auf das Wesen der Grazien. Damit kommt Wieland auch Shaftesbury in formaler Hinsicht nahe. Dieser sieht es als Hauptaufgabe des Dichters an, „moral grace“ oder „moral Venus“ zur Darstellung zu bringen. Er soll „in Silbenmaß und Tönen die Harmonie und den Einklang einer inneren Art ausdrücken und die Schönheiten der

173 Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik, Bad Homburg, 1968, S. 57. „Weil Pathos und Ethos... die Gegenstände und Schilderungsarten der emotionalen Redefunktionen sind, weil man diese Emotionen in anmutend-menschliche und wildentsetzende, erdrückende, einteilt, weil endlich die rationale Redefunktion, der ‘nüchternde Stil’ zugeordnet ist, auch Provinz der Philosophie ist, tendiert die Rhetorik dahin, im ‘anmutenden’ Stil und im ‘großen’ oder ‘schweren’ Stil, im ‘genus floridum’ und im ‘genus grande’ das ästhetische Werturteil zu erschöpfen. Ausgangspunkt für die verkoppelnde Antithetik des ‘Anmutenden’ und ‘Großen’, damit Ausgangspunkt für die Ästhetik des ‘Schönen’ und ‘Erhabenen’, die dann als ‘Anmut’ und ‘Würde’ die Diskussion des 18. Jahrhunderts beherrschen, sind aber Ethos und Pathos, Charakter und Leidenschaft“. 174 Nach Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, S. 56f. 175 Gert Ueding: Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik 1 (1980), S. 128. 176 E. A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700 - 1775, Stuttgart 1966, S. 110ff. 177 Gert Ueding, Rhetorik, S. 128. 186

Seele durch geeignete Folie und Gegensätze darstellen“178. Wenn Wieland also den großen, erhabenen Stil zugunsten der ethischen Darstellungsweise, die an der menschlichen Mittellage interessiert ist, ablehnt, dann setzt er, ganz im Sinne Shaftesburys, die „Kunst der Grazie“ gegen die „Kunst des Erhabenen“, denn „nur unter den Händen der Grazien“ verliert „die Weisheit und die Tugend der Sterblichen das Übertriebene und Aufgedunsene, das Herbe, Steife und Eckige“ (HRA III/10,102f.).

Damit läßt sich in Verbindung mit den Grazien festhalten, daß Wieland die ethische Stilhaltung bevorzugt. Diese wird auch an den Grazien deutlich. Durch Shaftesbury hatte Wieland erfahren, daß die „moral sense“ die „Brücke zwischen Gefühl und Vernunft... (die)... treibende(n) ethische(n) Kraft im Menschen (ist), die auf einem inneren Gefühl beruht, aber auch den Verstand anspricht“. Wenn Blackall betont, daß im Ausgangsstadium dieser Theorie bei Shaftesbury der Verstand in diesem Komplex noch die Vorherrschaft hatte und das Wort „sentimental“ z. B. bei Richardson soviel wie „von moralischen Empfindungen beherrscht“ bedeutete179, dann trifft das auch für Wielands Göttinnen der Anmut in „Theages“ zu. Bei ihnen leitet vornehmlich der Verstand ihre ethische Haltung und das Tugendhafte.

5.1.7.2 Formale Aspekte

Bereits im Titel erscheint der Zusatz „Ein Fragment“. Während das Fragmentarische bei den Romantikern beabsichtigt war, ist „Theages“ zunächst nicht darauf angelegt. In einem Brief an Zimmermann schreibt Wieland, das Werk sei durch eine „Diversion“, welche die „sehr platonische Amourette mit einem Frauenzimmer erfuhr“, Fragment geblieben180. In der Literatur gibt es über das Fragmentarische dieses Werkes unterschiedliche Deutungen. Während man darin einmal den „Ausdruck seiner geistigen Verwirrung“ sieht, weil er auf die angeschnittenen Fragen „nicht mehr und noch nicht eine Antwort geben kann“181, beschränken andere sich einseitig auf Aspasia und glauben, daß das Werk deshalb Fragment blieb, nicht, weil Wieland mit der Philosophie des Theages nicht zurecht kam, sondern weil er ihm eine Frauengestalt an die Seite gestellt hatte, mit der er noch nicht ins Reine gekommen

178 Shaftesbury I, S. 91; zit. nach Grudzinski, S. 125. 179 Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 305. Nach Blackall steckt als grundlegende Voraussetzung in diesem ethischen System „die Vorstellung, daß Kopf und Herz in enger Wechselwirkung zueinander stehen“. 180 Brief an Zimmermann vom 6.9. 1758; AB I, 287. 181 Sengle, S. 78. 187 war182. Wieder andere sprechen von einer „reizende(n) kleine(n) platonische(n) Novelle, ein(em) kleine(n) Kunstwerk, das nur, „weil es nicht die ganze platonische Philosophie entwickelt, also sehr mit Unrecht, ein Fragment“ genannt wird183. Zwar mögen auch äußere Umstände den Dichter bewogen haben, auf die Vollendung zu verzichten, die tiefere Ursache liegt aber wohl in der „geistigen Ambiguität“184. Wenn Wieland sich trotz des fragmentarischen Charakters des Werkes mit diesem identifizierte und auf erzwungene Abrundungen verzichtete, so deutet dies gerade an, daß er sich an der „Schwelle zu neuen geistigen und künstlerischen Einsichten befand“ und das Fragment zwar „vorläufig“ im Hinblick auf das Gesamtwerk zu beurteilen sei, aber dennoch in Ansätzen viele Motive und Grundspannungen seines späteren Schaffens enthalte185. Das gilt nicht zuletzt für die Figur der Aspasia.

Wenn man von dem Fragment-Charakter absieht, so bedeutet es auch formal einen Wandel gegenüber früheren Werken. Unter Bodmers Einfluß bemühte sich Wieland um „anspruchsvolle monumentale Dichtung“186. Nur biblische Stoffe und die Form des Hexameters waren erlaubt. Als Wieland unter dieser geistigen Bevormundung nicht mehr arbeiten konnte, wich er auf kleinere Formen aus: Hymen in Hexametern187, Pindarische Oden und Prosatraktate188.Die religiöse Thematik und den seraphischen Ton behielt er bei, selbst in dem in Blankvers geschriebenen Gedicht „Erinnerungen an eine Freundin“ (HRA XIV/S4,3ff.). Ein erster Wandel deutet sich in „Timoklea“ an, Wielands erster Versuch in dieser Gattung. Es entspricht der Platon- und Shaftesbury-Verehrung des Dichters, „daß er sich bei diesem Anpassungsversuch an die Gesellschaft neben der geselligen Briefform ... vor allem des Dialogs bediente“189. Wie Wieland im Vorbericht von 1798 ausführt, ist dieses „kleine Stück“ nur deshalb in die Sammlung aufgenommen worden, „weil es der erste Versuch des Verfassers in der dialogistischen Kunst war“, und er habe nichts daran geändert, „um es den Liebhabern solcher Abmessungen leichter zu machen, die Fortschritte, die er

182 Wolfgang Paulsen, Wieland. Der Mensch und sein Werk, S. 222. 183 Heinrich Pröhle: Lessing - Wieland - Heinse, Berlin 1877, S. 72. 184 Wolfram Buddecke, C. M. Wielands Entwicklungsbegriff, S. 100. 185 Klaus Bäppler, Der philosophische Wieland, S. 15f. 186 Sengle, S. 77. 187 Vgl. Sommer, S. 19. „Hymnen“. Von dem Verfasser des gepryften Abraham (H 38, 389f.) von 1753; (Pindarische) „Ode auf die Geburt des Erlösers“ (H 6, 88f.) von 1754. 188 „Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen von 1755 (H 40, 571). 189 Sengle, S. 77. Vgl. dazu den Brief Wielands vom Juni 1756. Er schreibt, er habe sich seit zwei Jahren, d. h. seit dem Verlassen des Hauses Bodmer, „der Verse ganz entwöhnt“ (AB I, S. 187f.); vgl. dazu eine überlieferte Gesprächsäußerung Wielands bei Heinrich Funck: Gespräche mit C. M. Wieland in Zürich (Rings Tagebuch), in: Schnoors Archiv für Litteraturgeschichte XIII (1885), S. 493f. Vgl. zu dem bei Platon und Shaftesbury 188 binnen vierzig Jahren in dieser Kunst gemacht hatte mag, durch den Punkt, wovon er ausging, genauer zu bestimmen. Seit einem Paar Jahrzehnten ist der Weg freylich nach und nach gebahnter worden“ (HRA XIV/S4, 37f.). Mit dem Wandel zum dialogischen Prinzip deutet sich auch in der äußeren Form der Übergang zum Gefälligen, Graziösen an, das vor allem die Dichtungen ab 1760 kennzeichnet. In „Theages“ ist gegenüber „Timoklea“ diese dialogische Kunst Wielands schon fortgeschritten. Nicht nur inhaltlich ist er von Platon und Shaftesbury bestimmt, sondern diese gaben ihm, wie schon in „Timoklea“, „die Form seines Werkes“ (H 40,110) 190.

Im Vergleich zu früheren Werken ist im Fragment an die Stelle der Predigt „und erbaulich- schönen Redekunst“ das sokratische Fragen getreten191. Nicht nur die „innere Form“ (inward form) des Menschen lernt Wieland in dieser Zeit von Shaftesbury, sondern auch die äußere Gestaltung ist von ihm beeinflußt192. Wie schon bei dem englischen Philosophen in den „Moralists“, so gehörte das „Gespräch“ seit „Timoklea“ und „Theages“ zu Wielands Stil, wie überhaupt das Dialogische der Stil des 18. Jahrhunderts war193. Wenn im Fragment inhaltlich neben der platonischen Philosophie die Grazien im Vordergrund stehen, so entspricht diese Dialogform formal dem, was Wieland unter Grazie verstand194. Wenn sie in den Jugendwerken noch nicht voll ausgereift war, so hat er später im „Aristipp“ dargelegt, wie dieses Dialogische aussehen müßte. Der Dialog ist mit „Rücksicht auf die Erfindung, Anordnung, Nachahmung der Natur u.s.f. in seiner Art... ein dichterisches Kunstwerk“. Als solches muß der Dialog den „Regeln des Wahrscheinlichen und Schicklichen“ unterworfen sein (HRA XI/36,35). Wohl kann im Dialog eine „anscheinende Unordnung“ herrschen, aber unter diesem Schein muß sich die Kunst verbergen, „wie der Dialog gleich einem dem bloßen

vorgefundenen dialogischen Prinzip auch Dieter Kimpel: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland, Diss. Wien 1961, S. 149f. 190 Noch im Alter stellt Wieland als echter Vertreter des 18. Jahrhunderts Shaftesburys Dialoge als die vollendesten dar (Brief vom 6.2.1799; Böttiger 1839). Vgl. Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury, S. 157, der darauf hinweist, daß Shaftesbury gleich Giordano Bruno ein Erneuerer des Dialogs als Kunstform ist. 191 HA 3, S. 962. Vgl. auch S. 964: „Die Form des einkreisenden Gesprächs und die Erscheinung des ‘Meisters’ in der von ihm erschaffenen, sein Wesen spiegelnden Einsiedelei kehrt noch im ‘Agathodämon’ wieder“. 192 Herbert Grudzinski, Shaftesburys Einfluß, S. 65, macht darauf aufmerksam, daß die „Moralists“ bis in die Einzelheiten hinein zum Vorbild gedient hätten. In beiden Fällen handelt es sich um einen brieflichen Bericht über ein Gespräch mit einem platonischen Enthusiasten. Auch weisen die beiden Platoniker Theokles und Theages deutlich verwandte Züge auf; vgl. auch Victor Michel, C. M. Wieland, S. 140f., der die gleiche These vertritt. 193 Vgl. Gert Ueding, Rhetorik und Popularphilosophie, S. 130f. Er weist darauf hin, daß in der Aufklärung die antike Gesprächskultur als Vorbild galt, der man nachzuahmen suchte. 194 Vgl. Marga Barthel: Das „Gespräch“ bei Wieland, Frankfurt 1939, S. 9f. Sie meint, die Menschen im 18. Jahrhundert reden und dichten nicht nur von Grazie und Grazien, Grazie gelte nicht nur als Eigenschaft einer heiteren Plauderei, sie sei mit der dialogischen Form überhaupt verbunden und zum besonderen Kennzeichen erhoben. 189

Zufall überlassenen Spaziergang, indem er sich mit vieler Freyheit hin und her bewegt“. Wieland bezeichnet es als „die größte Kunst des Dialogdichters..., seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu verstecken“ (HRA XI/35,125f.). Solche Äußerungen zielen mehr oder weniger auf das, was man „die Grazie seiner eigenen Gespräche“ nennt195. Dabei ist zu bedenken, daß Wielands erste Dialog-Versuche nicht schon so ausgesehen haben. Der Dialog will „nicht die Konsolidierung des auf sich stehenden, in sich ruhenden, abgeschlossenen Werkes besitzen“196, sondern er enthält bereits das Element der Bewegung, und Natur und Kunst wirken auch hier zusammen. Es werden immer neue Gesprächsszenen aufgebaut. Durch die Bewegung, die dem Dialogischen immanent ist, trägt es zur Auflockerung bei und verhindert, daß das Gedankliche erstarrt. Verbunden mit dem Element der Bewegung ist auch die Wirkung, um die es bei der Anmut und den Grazien geht. Auch dieses ist im Dialog angelegt. Er will direkt wirken und Rückwirkungen vom Gesprächspartner empfangen 197. Anhand des dialogischen Prinzips in „Theages“ läßt sich sowohl ein Zusammenhang von Kunst und Natur als auch das Element der Bewegung aufzeigen. Hinter den scheinbar sich natürlich ergebenden Gesprächen zwischen dem Erzähler, Nicias und Theages verbirgt sich die kunstvolle Gestaltung des Autors, die Gespräche wiederzugeben. Hier spürt man schon die sich später deutlicher abzeichnende Bewegung des Erzählers zwischen Stoff und Leser. Das Dialogische erlaubt es dem Dichter, den Gegenstand aus mehreren Perspektiven zu betrachten, seine Gedanken im Hin und Wider, gesprächsweise zu entwickeln. Die Funktion der verschiedenen Schichten von fiktiven Erzählern und Lesern bzw. Zuhörern besteht in einer Theorie, die er behandeln will. Wie der Untertitel lautet, geht es um „Schönheit und Liebe“. Wenn man bedenkt, daß das eigentliche Thema der Erzählung die platonische Philosophie ist, dann erhält der Stoff durch die verschiedenen Brechungen der Erzählperspektive jene Beweglichkeit, durch die auch die Grazien wirken, d.h. es entwickelt sich ein scheinbar zwangloses Gespräch, und indem die verschiedenen Erzähler ihre jeweiligen Ansichten mit einfließen lassen, kommt eine Diskussion zustande. Andererseits könnte man vermuten, daß durch die unterschiedlichen Standpunkte im Fragment der Autor eines eigenen enthoben wird. Dann würde die Form der Erzähler-Leser-Verschachtelungen inhaltlich in der Verschleierung, der Unsicherheit des Autors liegen, was angesichts der biographischen Hintergründe durchaus möglich ist, für spätere Werke aber sicher nicht mehr zutrifft.

195Marga Barthel, Das „Gespräch“, S. 125f. 196 Wolfgang Monecke: Wieland und Horaz, Köln 1962, S. 10. 190

In „Theages“ zeichnet sich nicht nur inhaltlich ein gewisser Wandel ab, sondern auch formal. Gegenüber früheren Dichtungen ist in dieser Erzählung schon eine gewisse Natürlichkeit und Leichtigkeit festzustellen198. Man nennt es „Mannigfaltigkeit der Formen und Rollen“ und den „Brechungen“ in der Wiedergabe des Gesprächs199. Wie Wieland dieser Erzählung Anmut verleiht, sei kurz erläutert. Das Fragment ist „An Herrn P.“ überschrieben, indem der Erzähler (eine sich lediglich als ‘ich’ einführende Person) Herrn P. eine Unterredung seines Freundes Nicias mit Theages mitteilt. Diese Unterredung wird nun dergestalt wiedergegeben, daß Nicias sie dem „Erzähler“ berichtet, der einerseits als Erzähler den Leser Herrn P. anspricht, andererseits als Zuhörer den Erzähler Nicias des öfteren unterbricht; dieser aber berichtet seinerseits wiederum eine Erzählung des Theages, an der er als zuweilen unterbrechender Zuhörer teilnimmt. Die Erzählung gelangt also durch drei Vermittler gebrochen ans „Ohr“ des Lesers: den ersten Erzähler Theages, den zweiten Nicias und einen dritten Ungenannten, wobei die ersten beiden Erzählungen mitsamt den Unterbrechungen und Einwänden ihrer Zuhörer wiedergegeben werden. Die dritte, die beiden ersten Erzählungen zum Inhalt habende Erzählung wird zwar ihrerseits nicht unterbrochen, richtet sich aber an einen fiktiven Leser oder Adressaten Herrn P. Diese Erzählweise zeigt, wie beweglich der äußere Aufbau des Fragments ist. Wenn auch an manchen Stellen noch etwas verworren, so begegnet man doch in kleinen, scheinbar nebensächlichen Dingen Wielands Erzählkunst, z. B. spricht Nicias unvermutet in einem zweizeiligen Reim (HRA XIV/S4,167), und man glaubt, es sei der Anfang eines Gedichts. Um der Erzählung „Leben“ zu geben, weist er des öfteren darauf hin, daß es sich tatsächlich um eine Erzählung handelt. Gleich zu Beginn wird darauf aufmerksam gemacht, daß es eine „umständliche Erzählung“ wird (HRA XIV/S4,143), an anderer Stelle hat Nicias keine Zeit, sich auf „Nebenzweige der Erzählung herauszulassen“ (HRA XIV/S4,161). Aber anscheinend ist es doch geschehen, denn am Schluß kommt sie erst wieder in das „Gleis“ der Erzählung zurück (HRA XIV/S4,176). Da „Theages“ Fragment geblieben ist, erfährt der Leser nicht, in welcher Hinsicht die Methode des Theages, seine Tochter zu einer Grazie zu erziehen, dem Zweck entsprochen hat, denn es wird „Alles, was dahingehört, auf eine andere Gelegenheit“ verschoben (HRA XIV/S4,170). Ob es allerdings

197 Vgl. z. B. das Kompliment des Sokrates bei Timoklea: „Du hast meine Gedanken nicht nur wohl gefaßt, sondern auch noch besser geordnet und gebildet, und sie haben in deinem Mund eine neue Anmut bekommen“ (H 39, 591). 198 Vgl. den Brief an Zimmermann (AB I, S. 320): „Theages gefällt mir nur, weil er mir etwas von dieser schönen Einfalt und Leichtigkeit zu haben scheint, welche das wahre Sublime in Werken des Geistes und Geschmacks ausmachen...“. 199 Marga Barthel, Das „Gespräch“, S. 96f. 191 jemals ausgesprochen worden wäre, wenn das Werk nicht Fragment geblieben wäre, weiß man bei Wieland nicht. Beweglichkeit spricht auch daraus, daß der „Zuhörer“ langsam ungeduldig wird und den Erzähler zur Eile mahnt, der andere sich aber gerade dem „Geiste der Erzählung“ überlassen möchte (HRA XIV/S4,150)200. Um eine Beziehung zwischen Erzähler und Leser aufzubauen, eine innere Beteiligung des Lesers zu erreichen, wird er persönlich angesprochen bzw. „fühlt“ sich angesprochen. Während Wieland in seinen Jugendwerken die Leser nur selten anspricht - allenfalls als „Freunde der Tugend“- , sagt er hier „mein Herr“ oder „Stellen Sie sich also ... vor“ (HRA XIV/S4,144, 147)201.

Alle diese Merkmale Wielandscher Erzählhaltung sind verstärkt in den späteren Werken, etwa ab dem „Agathon“ oder „Don Sylvio“, anzutreffen. Wenn „Theages“ noch „steif in der Dialogform (und) starr in der Personenzeichnung“ ist202, und außerdem längere philosophische Passagen sowie Gemälde- und Parkbeschreibungen wenig von Wielands späterer Beweglichkeit „der Kunst der Grazie“203 zeigen, so ist es dennoch ein „vortastender Versuch des Romanautors Wieland“ 204.

5.1.7.3 Stilelemente

Obwohl über Wielands Sprache und Stil mehrere gründliche Arbeiten vorliegen, finden darin die Jugendwerke kaum Beachtung205. Lediglich die Arbeiten von Beck206, Barthel207 und

200 Vgl. z. B. Thomas Mann „Der Erwählte“, Frankfurt 1979, S. 7f., wo der „Geist der Erzählung“ ein gewaltiges Glockengeläut über Rom veranstaltet. Hinter diesem „Geist“, der den Autor überkommt, verbirgt sich der aus der Antike stammende Musenanruf. Auch in der Nachahmungstheorie berief sich der Autor auf seine Allwissenschaft, auf die Muse. Vgl. dazu Peter Michelsen, Lawrence Sterne, S. 193, Anm. 33. 201 Vgl. auch „Sie werden mir ein Wenig Zeit lassen müssen“ (H 40, 116). 202 HA 3, S. 965. 203 Vgl. die Ausführungen im Zusammenhang mit „Musarion“. 204 HA 3, S. 965. 205 Vgl. - Brückl, S. 27-48. - Bengt Algot Soerensen: „Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jahrhundert, in: Euphorion 48 (1954), S. 125-152. - Karl-Heinz Kausch: „Die Kunst der Grazie“, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 2 (1958), S. 12-42. - Hans-Heinrich Reuter: „Die Philologie der Grazien“, in: Goethe-Almanach auf das Jahr 1967, Weimar/Berlin 1966, S. 60-132. - Friedrich Beißner: „Poesie des Stils“. Eine Hinführung zu Wieland, in: Wieland. 4 Biberacher Vorträge, Wiesbaden 1954, S. 5-34. - Emil Ermatinger: „Wieland und die Ironie“, in ders.: Deutsche Dichter 1700-1900, Tle. 1-2, Bonn 1948f., T. 1, S. 124-150. - Hanna-Brigitte Schumann: „Zu Literatur über Wielands Sprache und Stil“, in: Studien zur neueren deutschen Literatur, hg. H. W. Seiffert, Berlin 1964, S. 8ff. - Steven R. Miller: Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970. 192

Brückl208 beziehen diese Phase mit ein und beschäftigen sich mit einzelnen Werken dieser Zeit. Barthel geht mit wenigen Sätzen auch auf „Theages“ ein209. Gegenüber Wielands Dichtungen der Biberacher Jahre und seinen reiferen Werken fallen in „Theages“ der religiöse Wortschatz und die damit verbundenen Metaphern auf. Er spricht von den „süßesten Cherubsgesichter(n)“ und Clarissa hat Allen so gelächelt, „in denen sie Züge des göttlichen Bildes erblickte, allen Tugendhaften, Allen, die Trost oder Aufmunterung nötig hatten“ oder Aspasia spricht von „Bildern der Engel“; außerdem „will (sie) gütig“ sein (HRA XIV/S4, 164), und es wird von „Güte, Aufrichtigkeit und Liebe“ (HRA XIV/S4,170) gesprochen210. Während man annehmen kann, daß der seraphische Ton, das religiöse Vokabular Wielands Anschauungen entsprach – er beruft sich sogar auf „Luthers Urtheil“ (HRA XIV/S4,191) und mit seinen früheren Dichtungen vergleichbar ist, so weist das folgende Zitat auf den späteren ironisierenden Sprachstil hin. Der Erzähler hat berichtet, daß Aspasia nicht geheiratet hat, spekuliert weitschweifig, warum Aspasia unverheiratet geblieben sei, „...daß sie aus Begierde, den Engeln ähnlicher zu werden, sich dem heiligen Stand der ewigen Jungfernschaft gewidmet habe, von dessen schwanenweißer Reinigkeit und Unschuld der heilige Hieronymus so viel Schönes zu sagen weiß. Sie sehen sie vielleicht schon in einem schwarzbekleideten Cabinet, an einem Tische von Ebenholz sitzend, mit einem Cruzifix, einem Todtenkopf und einer Sanduhr vor sich, sich im Leben der heiligen Katharina von Siena vertiefen, und wenn sie zuweilen aus ihrer Entzückung erwacht, mit andächtigem Blick ihre himmlische Miene im Spiegel beobachten“ (HRA XIV/S4,147). Da Aspasia zumindest aufgrund der Namensgleichheit mit einer griechischen Hetäre in Verbindung gebracht werden kann, wird dem Leser die Ironie durch die Vergleiche und Häufung der religiösen Worte deutlich - ganz abgesehen davon, daß der Absatz überflüssig ist, denn der Erzähler fährt fort, „aber das ist es nicht, mein Herr“. Hier deuten sich die Abschweifungen und Übertreibungen an, die dem Erzählstil Wielands später soviel Beweglichkeit verleihen, denn innerhalb der längeren nüchternen Ausführungen über Aspasias Wesen und Neigungen könnte beim Leser Langeweile entstehen. Durch den hypotaktischen Satzbau und den gehäuften religiösen Wortschatz gerät der Leser in Spannung, warum Aspasia nicht geheiratet hat. Die einfache Erklärung des Erzählers läßt den Leser nach diesen Vergleichen schmunzeln. Und damit

206 Georg Beck: Die Sprache des jungen Wieland, Diss. Heidelberg 1913. 207 Marga Barthel, Das Gespräch. 208 Brückl. 209 Marga Barthel, Das Gespräch, S. 96f. Da sich sprachlich in „Theages“ ein erster Wandel abzeichnet, kann noch nicht von „Grazie“ oder „Poesie des Stils“ als formendes Prinzip oder Wielands Stilideal gesprochen werden. 210 Vgl. auch die Erwähnung der „Maria Magdalena“ und der „Sünderin“ (HRA XIV/S4, 149). 193 weiterhin keine Unklarheiten entstehen, heißt es dann von Aspasia, daß sie „weit von einer Nonne entfernt“ (HRA XIV/S4,148) sei. Noch an einer anderen Stelle wird die Ironie Wielands im Zusammenhang mit dem religiösen Wortschatz deutlich, wenn von dem „bemeldete(n) Knabe(n) der lächelnden Venus“ gesprochen wird; er kann sich u. a. „in eine Franciscanerkutte maskiren“ (HRA XIV/S4,190). Aus diesen Belegen wird deutlich, daß Wieland sich sprachlich noch nicht von früheren Einflüssen lösen konnte, obwohl schon ironisierende Elemente vorhanden sind.

Abschließend sei auf einen Aspekt hingewiesen, der in Verbindung mit den Grazien zu sehen ist. Nicht nur die Göttinnen der Anmut sind Ausdruck von Wielands Tugendideal, auch die Dichtung gilt als „Wegleitung zur Tugend“211. In „Theages“ vertritt Nicias den Standpunkt, „die Tugend mit ihrer ganzen unwiderstehlichen Schönheit, in ihrer wahren Temperatur, nach dem Leben, d. i. in nachahmlichen Handlungen schildern, die Thaten Gottes erzählen, den Menschen Geschmack am Edlen, Grossen und Erhabenen einflössen, und (was die Seele des Christenthums ist) den Geist von den sinnlichen Dingen ablocken, und an den Himmel, für den er geschaffen ist, angewöhnen dies sind ... die Geschäfte der Dichtkunst“ (HRA XIV/S4,145f.). Und in anderem Zusammenhang heißt es, „Gefallen soll niemals der Hauptzweck seyn, am allerwenigsten der einzige seyn. Auf eine gefällige Art nützlich seyn, ist das allgemeine Gesetz der schönen Künste. Niemand zweifelt an den guten Wirkungen eines Gedichts, in welchem die Tugend in Beyspielen sichtbar wird“ (HRA XIV/S4,159f.). Als ein Beispiel für die „Sittenlehre in allegorischen Gemälden“ nennt Nicias Shaftesburys „Brief(e) über die Wahl des Hercules“; diese wären „ein vortreffliches Mittel..., den Geschmack und das Herz der Jugend zu bilden“ (H 40,120)212. Der Zusammenhangs von Form und Stoff wird hier in seiner ganzen Bedeutung sichtbar und mit Gedanken in Verbindung gebracht, daß ein Kunstwerk allein durch die Art seiner Gestaltung, also durch die Schönheit, moralische Wirkungen zeitigen könne. Auch von diesen Wirkungen erhoffte sich Wieland eine Verbesserung des Menschen, „eine Hinentwicklung zum Typus der schönen Seele oder Shaftesburys ‘virtuoso’, die das Ziel von Wielands Bildungsbestrebungen

211 Vgl. Heinz Schubert, Schiller und Wieland, S. 218. Vgl. Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S. 16ff. und den Brief Wielands an Bodmer vom 20. 12. 1751: „Absicht der Dichtkunst“ sei es, „die liebenswürdige Tugend zu preisen“ (AB I, S. 8). 212 Dieses Motiv, das literarisch ein beliebtes Thema der Zeit war (vgl. Bernhard Seuffert: Wielands höfische Dichtungen, in: Euphorion 1 (1894), S. 530f.) hat auf Wieland eine große Faszination ausgeübt. Vgl. Klaus Bäppler, Der philosophische Wieland, S. 21f.. Er hat 1773 eine „dramatische Cantate“ über „Die Wahl des Herkules“ (HRA VIII/26, 155ff.) geschrieben; es muß aber betont werden, daß er dieses Motiv in „Theages“ nach der Idee des Shaftesbury meint; im „Neuen Amadis“ verwendet er es reduzierter; vgl. HA 4, 788. 194 darstellen“213. Er nennt die Dichter bereits 1752 „Lehrmeister der Tugend“214, die Poesie „eine Lehrerin der Tugend“215 und in den „Sympathien“ von 1754 sind die Musen „Aufwärterinnen der Tugend“ (HRA XIII/S3,160). In „Theages“ und anderen Bemerkungen aus der Züricher Zeit ist der Begriff der Kunst gekoppelt mit dem der Nützlichkeit, der Moral und in erster Linie mit dem der Tugend. Der Dichter spricht der Kunst, dem ästhetischen Genießen, jeden Eigenwert ab. Die Dichtung hat eindeutig den Zweck, daß der Leser durch Anschauen tugendhafter Beispiele selbst zur Tugend geführt wird. Damit zeigt sich Wieland nicht nur Bodmer verpflichtet, er vertritt damit Ziele der Aufklärung216. Obwohl er das Nützlichkeits- und Zweckdienlichkeitsprinzip der Kunst schon in „Theages“ nicht vollkommen erfüllte, ist bis zu „Musarion“ ein bemerkenswerter Wandel in seinen ästhetischen Anschauungen spürbar217.

Anhand der Figur der Aspasia zeigt Wieland, daß er das Prinzip der tugendhaften Vorbilder nicht vollkommen durchführt. Aspasia liebt in allen „Werken der Kunst die Verhehlung der Kunst, und eine gewisse Einfalt und angenehme Unordnung, welche sie der Natur ähnlich macht“. Einerseits hat sie einen „romantischen Geschmack“ (HRA XIV/S4,150f.), was kritisch klingt, andererseits wird im Laufe der Erzählung deutlich, daß Wieland in ihr eine Art weibliches Ideal sieht. Das Gute und Schöne sind sowohl in der Person als auch in ihrem eigenen Geschmack unzertrennlich, wobei dem Schönen die Aufgabe zukommt, das Nützliche angenehm zu machen, wie es Wielands ursprünglicher Theorie unter dem Einfluß Bodmers entsprochen hätte. Zu Wielands Wirkungsabsichten ist festzuhalten, daß im Fragment das Zusammenwirken von Form und Inhalt entsprechend der Tradition der antiken

213 Heiz Schubert, Schiller und Wieland, S. 218. 214 Im „Sendschreiben an einen Freund von der Bestimmung des poetischen Genie“ (H 40, 299). 215 AB I, 56. 216 Er steht damit nach seinem eigenen Geständnis unter dem Einfluß Bodmers; vgl. die Anmerkung in „Theages“ (HRA XIV/S4, 159f.). Auch in der „Theorie und Geschichte der Red=Kunst und Dicht=Kunst (1757) vertritt er diesen Nützlichkeitsanspruch der Dichtung. Die Schrift ist das einzige Werk, in dem Wieland aus den klassischen Autoren unter Berufung auf Dubos, Bouhours, Batteux und Shaftesbury eine ihm eigene Dichtungstheorie aufbaute. Seine Darstellung der Rhetorik gibt eine übersichtliche Zusammenfassung dieses Lehrgebietes und die rhetorischen Anweisungen, Formen einer Rede zielen auf den „Nutzen der Beredsamkeit“, durch den man sich „Gewalt über die Herzen der Menschen verschaffen könne“ (AA I,4, S. 305). Als Aufgabe der Dichtkunst formulierte er, Zweck der Poesie ist es, uns zu ergötzen, unsern Geschmack zu verbessern, uns alle Art von tugendhafter Gesinnung einzuflössen und alle nützlichen und praktischen Wahrheiten auf diesjenige Art zu lehren, welche zugleich die angenehmste ist (AA I/4, S. 341). Vgl. dazu Gerd Matthecka: Die Romantheorie Wielands und seine Vorläufer, Tübingen 1956, S. 85f. Vgl. auch das Kapitel „Die Lehre vom Zweck der Dichtung und die Freiheit des Dichters“, in: Georg Willy Vontobel: Von Brockes bis Herder. Studien über die Lehrdichter des 18. Jahrhunderts, Diss. Bern 1942, S. 5ff. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4. Aufl. Leipzig 1751. 217 Vgl. Emil Hamann: Wielands Bildungsideal, Diss. Leipzig 1907, S. 121f. Später führt Wieland in seinen Äußerungen die Verbindung von Kunst und Natur weiter bis zur Identifikation von beiden; vgl. „Koxkox und Kikequetzel“ (H 31, 5f.) und plädiert für einen Selbstzweck der Kunst. 195

Rhetorik sichtbar wird. Wenn der Erzähler in „Theages“ über die Empfindungsschichten der Anmut reflektiert, die auf den Leser emotional sanft einwirken und ihn für diese Göttinnen zu gewinnen versuchen, was am besten durch eine ethische Charakterdarstellung als „Widerschein der innerlichen Güte einer menschlichen Seele“ (HRA XIV/4,163) angestrebt wird, so geschieht das in der mittleren Stillage. Die Grazien wirken ohne Pathos. Sie bevorzugen sanfte, harmonische Seelenbewegungen und erregen dadurch keine Leidenschaften, sondern menschlich-sittliche Affekte. Entsprechend gibt es in der poetischen Natur nichts Großes, Erhabenes, wie Gebirge oder das Meer. Hügel, Haine und kleine Bäche geben den Naturschilderungen sanfte Beweglichkeit in horizontaler und vertikaler Sicht mit den entsprechenden Wirkungen. Eine Entsprechung findet das alles in der Form und Stilhaltung. Wieland bevorzugt den ethischen, anmutenden Stil. Es ist kein Epos oder Heldengedicht in erhabener Sprache, sondern eine Erzählung im genus medium, das eine gewisse Harmonie zwischen dem genus grande und dem genus subtile darstellt und sanfte Gemütsregungen der Seele in Bewegung setzen soll. Der Stil stellt sich nicht mehr nur als ein Forminstrument dar, sondern repräsentiert vielmehr den Vollzug und das Ideal einer erwünschten Lebenshaltung. 196

5.2 „Musarion oder Die Philosophie der Grazien“. Ein Gedicht in drei Büchern

5.2.1 Entstehung des Werkes und gleichzeitige Arbeit an anderen Dichtungen

„Musarion“ erscheint im August 1768 als Einzeldruck in Leipzig; bereits ein halbes Jahr (1769) später bringt die Weidmannsche Buchhandlung eine Prachtausgabe heraus218. Gleichzeitig erscheint „Musaorion“ in französischer Sprache219. Anschließend wird das „Gedicht in drei Büchern“, wie der Untertitel lautet, in die „Auserlesenen Gedichte“ von 1784 und 1789 aufgenommen. Die endgültige Gestalt erhält „Musarion“, als Wieland es für die Ausgabe letzter Hand überarbeitet und mit ausführlichen Kommentaren versieht220. Schon am 29. August 1764 teilt Wieland dem Züricher Verleger Salomon Geßner mit, daß er nach der Art von Matthew Priors (1664-1721) „Alma, or the progress of mind“ (1718) eine Art komisches Lehrgedicht „Musarion“ vorbereite221. Am 19. Juli 1766 schreibt er an den befreundeten Arzt J. G. Zimmermann, er werde ihm bald „Musarion“ in Handschrift zusenden und schickt im August 1766 den ersten Teil an Geßner222. Die Arbeit verzögert sich und erst am 19. 8. 1767223 bekommt Geßner die vollständige Handschrift des Werkes. Aber es kommt

218 Vgl. dazu die Widmungsschrift „An Herrn Kreissteuereinnehmer Weisse in Leipzig zu „Musarion“: „Unser schätzbarer Freund, Herr Reich, schreibt mir, daß er der Versuchung nicht widerstehen könne, etliche Ballen holländisches Papier, die ihm neulich angekommen, zu einer neuen Ausgabe unsrer Musarion anzuwenden. Er sieht sich gewissermaßen als den Pflegevater dieser Schülerin der Grazien an, und ist parteiisch genug für seine angenommene Tochter, sie so niedlich geputzt sehen zu wollen, als nur immer möglich ist“ (HA 4, 319). 219 Die Übersetzung erfolgt in Prosa statt in Versen. Das forderte Wielands Kritik heraus „(Musarion ou la Philosophie des Gracès“. Poème en trois chants trad. de l’Allemand, par. M. Jean Juste R.+++, Lausanne 1769); vgl. dazu HA 2, 797. 220 C. M. Wieland: Sämtliche Werke, Leipzig 1794-1802, Bd. 9, S. 1ff. (HRA III/9, 1-104). Zum Problem der Textgrundlage – Veränderungen stilistischer und orthographischer Art und der Hinweis darauf, daß es zu den wichtigsten Aufgaben weiterer "„Musarion"“Forschungen gehört, die schmerzliche Lücke einer historisch- kritischen Ausgabe zu schließen – vgl. Joachim Rickes: Führerin und Geführter. Zur Ausgestaltung eines literarischen Motivs in Christoph Martin Wielands „Musarion oder die Philosophie der Grazien"“ Frankfurt/Main 1989, S. 80-84 221 AB II, 251; es soll „die Bekehrung eines Platonikers, und die Widerlegung des ganzen phantastischen Systems dieses weisen Mannes enthalten“. Auch nach einem anderen Brief (AB II, 250) fällt der Plan zu „Musarion“ in den August 1764. Das damals entstandene Fragment ist nicht überliefert. Neben Prior diente Wieland als weiteres Vorbild der griechische Satiriker Lukian (ca. 120-180 n. Chr.), dessen Werke Wieland zwischen 1786 und 1789 ins Deutsche übersetzt und kommentiert hat. Der Name „Musarion“ kommt erstmals in den erotischen Erzählungen des griechischen Autors Aristainetos (5. Jh. n. Chr.) vor, den Wieland wohl im Original kannte. 222 DB I, 39. Bereits am 21.7.1766 (DB I, 33) bezeichnet er das Lehrgedicht „Musarion“ Geßner gegenüber als ein „ziemlich systematisches Gemisch von Philosophie, Moral und Satyre. Daß „Musarion“ zunächst Fragment blieb, bestätigt ein anderer Brief Wielands. „Von „Musarion war nur ein Fragment fertig, das lange in meinem Pulte lag, ohne dass ich sehr darauf achtete. Einmal komme ich darüber und finde beim neuen Durchlesen, dass sich doch wol etwas daraus machen liesse“ (Böttiger 1839, Bd. 1, 177). 223 nicht wie in der HA 4, 863 (Anm. zu Musarion) angegeben „19. 8. 1765“. 197 mit dem Verlag zu keinem Vertrag224. Durch Vermittlung von Johann Justus Riedel und Christian Felix Weisse soll daraufhin für „Musarion“ der Verlag Weidmann in Leipzig gewonnen werden. So schickt Wieland das Manuskript am 2. 6. 1768 an den befreundeten Erfurter Professor Riedel, der es dem Inhaber der Weidmannschen Buchhandlung weiterleitet225. In dem Brief an Riedel heißt es: „Hier haben Sie also meine Musarion - ein kleines Gedicht, welches Ihnen die ‘tournure’ meines Kopfs und Herzens, meinen Geschmack und meine Philosophie besser schildern kann, als irgend ein anderes meiner Werke. Ich gestehe Ihnen, - aber nur Ihnen! - daß ich dieses kleine Poem mit einer Art von Prädelektion ansehe, und - soll ich es heraus sagen? - daß ich es meinen Zeitgenossen nicht völlig gönne. Die Deutschen scheinen noch nicht zu fühlen, was attisches Salz, sokratische Ironie und echte Grazie ist“226. Das Außerordentliche dieses Gedichts hatte Wieland wohl geahnt. Das beweisen die unterschiedlichen Wirkungen von „Musarion“. Auf die Aufnahme bei den Zeitgenossen und auch im folgenden Jahrhundert wird noch eingegangen227. Der Dichter, der zu dieser Zeit schon einen guten Namen und ein großes Publikum, vor allem in Deutschland, hat, fürchtet, daß die eigentlichen Verdienste und Vorzüge seiner Dichtkunst verkannt würden. Diese Angst hegt er noch 1781228. Für die Vermittlung Weisses229 bei der Herausgabe von „Musarion“ bedankt sich Wieland mit einer in Briefform gehaltenen ausführlichen Widmung „An Herrn Kreissteuereinnehmer Weisse in Leipzig“, die der 1769 erschienenen 2. Auflage von „Musarion“ vorangestellt wird230, in der Wieland zugibt, daß er erfreut sei, „nach so vielen allzu unvollkommenen Versuchen endlich etwas hervorgebracht zu haben, dem ich Leben genug zutrauen darf, um alsdann noch zu sein, wenn wir gekommen sein werden, quo pius Aeneas, qua Tullus dive et Ancus“231.

224 Geßner befürchtete erneute Schwierigkeiten mit der Zensur (wie schon beim „Agathon“ und den „Komischen Erzählungen“) und lehnt den Druck ab; vgl. Wielands Werke in 4 Bde., hg. von Hans Böhm, Berlin/Weimar 1964, Bd. 3, 415 (Anmerkungen zu „Musarion“). Eher unwahrscheinlich ist dagegen die Annahme, daß der Züricher Verlag Orell, Gessner u. Cie den Druck ablehnte, weil „man sich über das Honorar... (16 Speziesdukaten) nicht einigen“ konnte; vgl. Deutsche Erzählungen des 18. Jahrhunderts. Von Gottsched bis Goethe, hg. und kommentiert von Heide Hollmer (Kommentar zu „Musarion“ von Albert Meier), München 1988, S. 245 225 Vgl. Friedrich Beißner: Versuch einer Rehabilitation Wielands, in: Werte und Worte 19 (1964), Heft 8, S. 235; Nachwort zu WA 1, S. 913ff. 226 DB I, 186. 227 Vgl. u. a. Wielands Graziendichtungen und das literarische Rokoko im Forschungsbericht (1.4.7.2.) 228 Er schreibt am 5.1.1781 an Voß über die Aufnahme des „Oberon“, dieses Werk habe „beynahe allen seinen Werth“ in seinen Augen verloren, seitdem er es „dem Publicum habe prostituiren müssen, (denn dieß und nichts anders ist herausgegeben in unsern heillosen Tagen)“, AB III, 315. 229 Weisses literarische Stellung beruht hauptsächlich darauf, daß er zwischen 1760 und 1790 die „Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste“ redigierte. Zu Weisse im übrigen vgl. Wielands Werke in 6 Teilen, hg. H. Pröhle, Berlin/Stuttgart 1887, Bd. 1, S. 4. 230 Nur in der 2. Aufl. von 1769 ist der Widmungsbrief enthalten; in allen folgenden Ausgaben, so auch in der Gesamtausgabe von 1794ff., fehlt dieser. 231 HA 4, 319. 198

Wie bereits im Zusammenhang mit „Theages“ erwähnt, sind „Cyrus“ (1757-1759)232 und das in Prosadialog gehaltene Werk „Araspes und Panthea“ (1756-1760) die ersten bedeutenden Werke Wielands nach seiner „Wandlung“233. Darüber ist sich die einschlägige Literatur einig234. Beide Dichtungen fallen in die letzte Phase seines Züricher Aufenthaltes. Während „Cyrus“ 1759 als Fragment erschien, wird „Araspes und Panthea“ in Bern neu gefaßt und vollendet und erscheint 1760. Diese letzte Jugenddichtung gilt als ein Vorläufer von „Musarion“, in der der Übergang von geistiger Freundschaft zu sinnlicher Leidenschaft beschrieben wird235. Zwar wird Panthea nur im abstrakten Sinne der Anmut mit den Grazien in Verbindung gebracht, aber dennoch zeichnet sich mit dieser Dichtung ein Wandel in Wielands Grazienbild ab. Die Vorstellungen von seelischer und sinnlicher Liebe haben sich gegenüber „Theages“ geändert. Zunächst preist Araspes an Panthea - wie in „Theages“ - nur die Seelenschönheit. „Es ist nicht die Schönheit des Leibes, nicht die untadelige Symmetrie ihrer Bildung, nicht dieses harmonische Gemisch von ergetzenden Farben und sanft wallenden Linien, was mich entzückt, ... es ist eine höhere ursprüngliche Schönheit in ihr, von welcher alle diese äußerlichen Reize und Grazien ausfließen! Es ist ihre Seele...“(HRA V/16, 255). Für Araspes ist die körperliche Schönheit zunächst ohne Eigenwert; sie ist nur „Flor der Schönheit“, „äußere Schale“, durch die sich die seelische Schönheit kundtut. Und man könnte an Aspasia denken, wenn Araspes über Panthea sagt, „bey ihr verliert sich das liebreitzende Weib in die holde Majestät des Engels. Sie ist so ganz Seele, daß ihr Leib nur ein Abglanz derselben scheint“ (HRA V/16,151f.). Das Übermaß dieser seelischen Schönheit läßt alles andere Schöne für Araspes gleichgültig werden. Daß aber gerade jene unbewußte Anmut auch die Quelle sinnlicher Reize sein kann, wird Araspes bewußt, als er die anmutsvolle Panthea

232 Vgl. dazu auch Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie, Berlin 1993, S. 185-202. 233 Ob es sich bei dieser „Wandlung“ um einen plötzlichen, ja sogar „bestürzend plötzlichen Vorgang handelte“, wie Sengle, S. 92 meint, oder es sich nach Michel um eine allmähliche „Metamorphose“ handelt, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle; Victor Michel, C.- M. Wieland: La formation et l’evolution de son esprit jusqu’en, S. 165ff. 234 Vgl. Eduard Bodemann: Julie von Bondeli und ihr Freundeskreis. Wieland, Rousseau, Sophie La Roche, Frau von Sandoz u. a. nebst bisher ungedruckten Briefen der Bondeli an Zimmermann und Usteri, Hannover 1874, S. 24ff; Wieland nennt es „die ersten Früchte der Wiederherstellung meiner Seele in ihre natürliche Lage“; vgl. auch Paul Kluckhorn: Die Auffassung der Liebe im 18. Jahrhundert und in der deutschen Romantik, Halle 1922, S. 169. Vgl. Manfred Dick, Wandlungen des Menschenbildes, S. 147; vgl. Emil Ermatinger: Barock und Rokoko in der deutschen Dichtung, Leipzig 1926, S. 139, und Barbara Schlagenhaft: Wielands Agathon als Spiegelung aufklärerischer Vernunft- und Gefühlsproblematik, Erlangen 1935, S. 100: „Deutlicher (als in „Theages“) zeigt Wieland die geförderte Abkehr vom Gedankenkreis der Jugend in „Araspes und Panthea“. 235 Manfred Dick, Wandlungen des Menschenbildes, S. 147f. Den Stoff kannte Wieland aus Xenophons „Cyropädie“, die er schon in Klosterbergen gelesen hatte. Dieselbe Geschichte hatte auch Shaftesbury in „Soliloquy, or Advice to an Author“ eingearbeitet. Ein Brief Wielands vom 15.3.1755 belegt, daß er diese Schrift Shaftesburys gelesen hatte (AB I, 15). 199 unbemerkt beim Bad in einer einsamen Wassergrotte beobachtet; er nimmt nicht mehr die „Majestät des Engels“ wahr, sondern auch die vollkommenste „Natur“. Was zuvor als „Abglanz“ geistiger Schönheit anerkannt wurde, ist jetzt zur eigenen Wirklichkeit gelangt - und im Gegensatz zu den „namenlosen Empfindungen“ des Graziengemäldes in „Theages“ spricht Araspes von „namenlosen Reizungen“ der Panthea, die seine „Seele bezauberten“ (HRA V/16,342f.) 236. Araspes muß erfahren, daß die Gewalt der Schönheit unwiderstehlich wird, wenn sie durch die „Reize einer vollkommenen Seele“ (HRA V/16,389f.) erhöht wird; „..meinst du, ich sollte mir selbst verbergen können, daß Panthea eben so irdisch ist als die übrigen Weiber? Glaube mir, sie hat keine Ursache, sich der Menschheit zu schämen“ (HRA V/16,344). Das Bekenntnis zu dem neu entdeckten Wesen und Wert des ganzen Menschen, „seine Sinnlichkeit eingeschlossen, muß das einseitige Tugendideal als ‘hochfahrend’ verwerfen“237. Nur wer nicht auf die Probe gestellt wird, glaubt dagegen ankämpfen zu können238. Araspes muß die Wahrheit erkennen, daß er „zwey ganz verschiedne Seelen“ (HRA V/16,397) hat239. In „Araspes und Panthea“ wird der Absolutheitsanspruch der Vernunft aufgegeben; Cyrus sagt, daß alles nur „die natürliche Folge der Wirkungen der Schönheit und Liebe (war). Ehmals kanntest du (Araspes) die Liebe nur als eine Tugend, nicht als eine Leidenschaft. Die Erfahrung allein konnte dich überzeugen, daß dieser angenehme und mächtigste von unsern Trieben nicht allezeit in unserer Gewalt bleibe“ (HRA V/16,391). Zwar wird in früheren Schriften der Sieg der Entsagung gepriesen, aber es wird hier erstmals deutlich, daß die sinnliche Liebe, sobald sie auf die Probe gestellt wird, sich vor der seelischen Tugend behaupten muß. Wieland läßt Cyrus in diesem Werk noch seine Weisheit dadurch offenbaren, daß er, den Grundsätzen der Aspasia in „Theages“ entsprechend, vor dem Anblick der Panthea floh, um nicht ihren Reizen zum Opfer zu fallen. Dennoch sind hier schon Grundsätze angelegt, die Wieland in seinen späteren Werken als wichtige sittliche Wahrheit vertritt, daß nicht der platonische Schwärmer, der die Gefahr leugnet, weil er sie nicht kennt, die wahre Tugend besitzt, sondern der, der in der Prüfung

236 Vgl. auch HRA V/16, 190: „Die Bewegungen, die sie (eine königliche Schöne) machte, indem sie ihren Schleier zerriß, entdeckte die schöne Bildung und blendende Weiße ihres Halses und ihrer Arme; selbst die zürnende Ungeduld, deren wilde Zuckungen sonst den Menschen entstellen, wurden in ihrem anmuthigen Gesichte holdselig und gab allen ihren Bewegungen einen lebhaften Reiz“, sagt Araspes zu Cyrus; aber jener glaubte, dagegen gewappnet zu sein. 237 Manfred Dick, Wandlungen des Menschenbildes, S. 161. 238 Vgl. „Die Wasserkufe oder Der Einsiedler und die Seneschallin von Aquilegia“ (HRA VI/18, 67ff.), wo Wieland die Grundgedanken von „Araspes und Panthea“ wieder aufnahm, indem er das Ergebnis seiner jugendlichen Schwärmereien, Irrungen und Rohheiten als wichtigste Erfahrungen seines Lebens niederlegte. 239 Vgl. die Anspielung auf das von Shaftesbury formulierte Ideal der Selbsterkenntnis als „Ichspaltung“, d.h. des Selbstbezugs des Subjekts, dessen verschiedene „Seelen“ sich dialogisch miteinander vermitteln sollten; nach WA 4, 837, Anm. zu S. 681. Vgl. auch das Faustzitat „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust“; Faust I, Goethe 5, S. 177. 200 seine sittliche Kraft bewiesen hat240. Diese Vorstellungen haben die Entwicklung von Wielands Grazienbild beeinflußt241. In „Musarion“ gelingt Wieland der Versuch einer harmonischen Vereinigung der beiden Gegensätze, der Harmonie von Sinnenglück und Seelenfrieden.

Noch bevor er wahrscheinlich mit „Musarion“ begann, erscheint 1764 der Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“242. Von Bedeutung im Zusammenhang mit „Musarion“ sind aber eher die „Komischen Erzählungen“, an denen Wieland zwischen 1761 und 1765 arbeitet243. Darin bedient er sich antiker Stoffe, um in anmutigen und leichten Versen der Sinnlichkeit zu huldigen. Darstellungen natürlicher Sinnlichkeit, immer mit dem Schleier der Grazie bedeckt, sind in dieser Zeit die bevorzugten Themen. Diese Dichtungen bringen Wieland von Seiten der Moralisten den Vorwurf der „Frivolität“ ein244. Er hatte zunächst die Absicht, „Musarion“ einer neuen Ausgabe der „Komischen Erzählungen“ anzuhängen245, gibt diesen Plan aber dann auf246. Wichtig erscheint, daß „Musarion“ neben der Arbeit am „Agathon“ entstand. Darauf wird in der

240 Vgl. Emil Ermatinger, Die Weltanschauung, S. 155f. 241 Es kann in diesem Rahmen nicht auf alle Biberacher Werke eingegangen werden, um zu zeigen, in welcher Weise sich Wielands Grazienvorstellungen änderten. Dazu wird auf Pomezny, S. 170ff., verwiesen, der dieses für „Don Sylvio“, „Agathon“ und „Idris“ aufgezeigt hat. 242 Vgl. dazu u. a. Wolfgang Jahn: Zu Wielands „Don Sylvio“, in: Wirkendes Wort 18 (1968), S. 320-328; WA in: Hansjörg Schelle: Christoph Martin Wieland, Darmstadt 1981, S. 307-321; I. Sagmo: Über die ästhetische Erziehung des Eros. Zu Wielands Roman „Don Sylvio von Rosalva“, in: Text und Kontext 9.2 (1981), S. 185- 197; Walther Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung: Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 62-86. 243 Vgl. zu den „Komischen Erzählungen“ die neuere Literatur von - Thomas Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit. Christoph Martin Wielands „Comische Erzählungen“, Frankfurt/Main 1996. - Jürgen Jacobs: Zur literaturgeschichtlichen Einordnung von Wielands „Komischen Erzählungen“, in: Sammeln und Sichten. Festschrift für O. Fambach, hg. J. Krause u. a., Bonn 1982, S. 30-49. - Daniel Wilson: „Die Fächer vors Gesicht!“ Leser und Erotik bei Wielands „Comischen Erzählungen“, in: Lessing Yearbook 11 (1979), S. 199-226. 244 So erhielten an einigen Orten die Buchhandlungen polizeiliche Order, Wielands „neuere(n) Werke“ nicht zu dulden, da sie „für gute Sitten größtenteils anstößig und gefährlich seien“; vgl. Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur, hg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen, Berlin 1977, 6. Aufl., S. 591. 245 Vgl. Johann Wilhelm Loebell: Die Entwicklung der deutschen Poesie, 2 Bde., Braunschweig 1858, Bd. 2, S. 187. Auch Klee betont, daß neben den fünf tatsächlich erschienenen Dichtungen der „Komischen Erzählungen“ noch andere in Aussicht genommen waren, diese aber entweder nicht zur Ausführung kamen („Ixion“ und „Die beiden Liebesgötter“) oder in anderer Weise gestaltet wurden („Die Grazien“ und „Musarion“); Wielands Werke in 4 Bde., hg. von Gotthold Klee, Leipzig 1900, Bd. 2, S. 139. 246 Vgl. DB I, 33. In einem Brief an Geßner vom 21.7.1766 meint Wieland, daß „Musarion“ geeignet sei, den „Komischen Erzählungen“ bei einer Neuauflage „allenfalls angehängt zu werden“. Aber bereits am 29.8.1766 war er anderer Meinung. „Musarion“... soll und kann niemals mit den komischen Erzählungen erscheinen.... Ich habe vor, künftig dergleichen noch mehr zu machen, unter denen das „Gastmal des Solon“, und „Aspasia oder die Kunst zu gefallen“, seyn werden. Die „Grazien“ werden gleichfalls - Aber ich fange an zu merken, daß ich nicht klug bin, Ihnen von allen den Einfällen zu sagen, die mir im Kopfe herumgehen...“; DB I, 39. 201

Literatur des öfteren hingewiesen247. In der „anmutigen Verserzählung...(wird) die komplizierte ‘Agathon’-Rechnung... auf die einfachste Formel gebracht“ und in „Musarion“ ist die Verbindung „tugendhafter Mäßigung mit behaglichem Lebensgenuß einfacher und kürzer... als beim Agathon“248. Andere faßen „Musarion“ als eine „Kontrafaktur zum ‘Agathon’ auf“249. Es ist nicht zu bestreiten, daß eine thematische Verbindung besteht. Wie der Roman, so führt auch „Musarion“ das Thema der Schwärmerheilung konsequent durch und verzichtet auf Wunder- und Zaubermotive der gleichzeitigen Märchendichtungen. Das Ziel der Verserzählung ist es, „an einem Beispiel die praktische Lebenslehre der ‘reitzenden Philosophie’ darzustellen“250. Sengle weist darauf hin, daß sich an „Musarion“ noch einige Dichtungen zweiten Ranges anschließen lassen251. Seit 1758 beschäftigte sich Wieland mit dem allegorischen Gedicht „Psyche“, das zeitweise sein „Hauptwerk“ werden sollte252 und 1773 als Fragment erschien. Unmittelbar zu diesem Themenkreis gehört das Gedicht „Aspasia“ (1766), das die Rahmenerzählung der Psyche-Dichtung fortsetzt (HRA III/9, 105ff.). Andere Teile des Stoffe sind, wie Wieland erläutert (HRA III/9,276), im „Idris“, im „Amadis“ und in den „Grazien“ verarbeitet worden. Man nimmt an, daß „Musarion“ das „Psyche“-Werk verdrängt oder überflüssig gemacht hat253. Tatsächlich finden sich in dem „Musarion“-Vorwort zur zweiten Auflage Teile der Bruchstücke254. Erwähnenswert ist noch das Gedicht „Der verklagte Amor“ (HRA II/5,147ff.)255, das 1771 entstand, aber erst 1774 veröffentlicht wurde. Im Vorbericht bezeichnet Wieland dieses Gedicht ausdrücklich als Gegenstück zu Musarion256.

247 Vgl. Sengle, S. 203: „Die Vollendung, welche in dem großen...Agathon-Roman nicht zu erringen war, leistete Wieland in dem begrenzteren Umriß seiner... Musarion, eine erholsame Nebenproduktion der Agathon-Zeit“. 248 W. Paulsen: Wieland, a.a.O., S. 158; Johann Wilhelm Loebell: Die Entwicklung der deutschen Poesie, a.a.O., Bd. II, 28. 249 Monecke: Wieland und Horaz, a.a.O., S. 33f. 250 Hermann Müller-Solger: Der Dichtertraum, a.a.O., S. 186. 251 Vgl. Sengle, S. 205f. Hingewiesen sei noch auf die Ode von 1752, die der Weisheit gewidmet ist. Hier sind bereits Grundmotive von „Musarion“ zu finden; auch im Aufbau sind Parallelen festzustellen - und in der Wortwahl sind Anklänge vorhanden (Ode - Die du, als mein Geschick; HA 4, 27ff.) vgl. dazu HA 4, 930f. 252 Vgl. dazu den Vorbericht zu den Bruchstücken von „Psyche“ (HRA III/9, 271) und C. M. Wielands Briefe an , nebst einem Schreiben von Gellert und Lavater, hg. Franz Horn, Berlin 1820, S. 62. Vgl. auch „An Psyche“ von 1776 (H 29, 251). 253 Vgl. Sengle, S. 206. 254 nicht wie Hermann Müller-Solger: Der Dichtertraum, a.a.O., S. 105, Anm. 2, angibt, in der 1. Ausgabe von 1768. Vgl. HA 5, 830. Sengle meint, das Fragment „Psyche“ beweise, wie Wieland das Ideal und Problem der großen Hetäre begleitete, a.a.O., S. 206. 255 Vgl. zu den „Komischen Erzählungen“ insgesamt Thomas Lautwein: Erotik und Empfindsamkeit. Christoph Martin Wielands „Comische Erzählungen“, Frankfurt/M. 1996; Daniel Wilson: „Die Fächer vors Gesicht!“ Leser und Erotik in Wielands Comische Erzählungen, in: Lessing-Yearbook XI (1979), S. 199-226; Jürgen Jacobs: Zur literaturgeschichtlichen Einordnung von Wielands „Komischen Erzählungen“, in: Sammeln und Sichten. Festschrift für O. Fambach, hg. J. Krause u.a., Bonn 1982, S. 30-49 256 Vorbericht zu „Der verklagte Amor“ (HRA II/5, 147): „Die Idee dieses Gedichts, welches eben sowohl als Musarion (zu welchem es als ein Gegenstück angesehen werden kann) nicht leicht unter eine schon bekannte Rubrik zu bringen ist, erschien dem Verfasser schon im Jahre 1771, und der kleinere Teil desselben wurde an 202

5.2.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Musarion“

Bis 1759 lebt Wieland in Zürich und ist anschließend ein Jahr Hauslehrer in Bern. Hier lernt er die Philosophin Julie von Bondeli kennen257, die später mit Jean-Jacques Rousseau befreundet war. Die Übersiedlung nach Bern und die Bekanntschaft mit dieser geistreichen Frau bedeutet einen weiteren „Schritt in der Metamorphose vom schwärmerischen Jüngling zum weltklugen Manne“258. Im Sommer 1760 wird er in seiner Heimatstadt Biberach zum Senator gewählt und erhält das Amt des Kanzleidirektors 259, das er bis Februar 1769 inne hat. In der Forschungsliteratur werden „Agathon“ und „Musarion“ als die besten Biberacher Dichtungen genannt260. Neben der Arbeit am „Agathon“ übersetzt er 22 Shakespeare-Dramen in Prosa261. Obwohl sie später von den Romantikern Schlegel und Tieck übertroffen werden, ist es die erste bedeutende Übersetzung in deutscher Sprache. Wielands Verdienst bleibt es, die Einführung dieses großen Dramatikers Shakespeares und seinen Einfluß auf Goethe und Schiller gefördert zu haben262.

Die neuen Lebenserfahrungen bilden die Grundlage für das nach 1760 in neuer Qualität einsetzende Schaffen Wielands, „das sich durch seine tiefen Einflicke in das reale gesellschaftliche Leben... und ... die Einheit von Gehalt und meisterhafter Gestaltung auszeichnet“263. Es gelingen Dichtungen, die künstlerisches Neuland bedeuten und die deutsche Literatur beeinflussen. Seine persönlichen Eindrücke der frühen Biberacher Jahre

einigen Winterabenden des besagten Jahres zu Papier gebracht. Wie Musarion, hatte es das Schicksal, einige Jahre bei Seite gelegt zu werden“; vgl. auch „Der verklagte Amor“, ein Fragment von dem Verfasser der Musarion, in: Hirtenlieder von F. A. C. Werthes, Leipzig 1772. 257 Sie hatte nachhaltigen Einfluß auf Wielands weitere Entwicklung; er nannte sie noch im hohen Alter „den schönsten, hellsten, ausgebildesten und in jeder Hinsicht vollkommensten Geist, der mit einem so regelmäßigen, zugleich so zarten und starken, so liebevollen und dazu von aller Schwachheit so gänzlich freien Herzen verbunden war“; Wielands Werke in 4 Bde., hg. Hans Böhm, Berlin 1967, Bd. 1, S. XII. 258 Otto Freise: Die drei Fassungen von Wielands Agathon, Diss. Göttingen 1910, S. 2. Vgl. dazu die Widmungsschrift „An Herrn Bernhard Tascharner von Königsfelden“ vom 28.4.1760 (WA 4, 833). Es ist ein aufschlußreiches Dokument für Wielands Neuorientierung am Ende der Schweizer Jahre und ergänzt in mancher Hinsicht die Vorrede zum „Cyrus“; dort wird das Bild von Wielands dichterischen Einstellungen um wesentliche Züge erweitert. 259 Die dabei gemachten Erfahrungen mit dem Spießertum, der Borniertheit und Intoleranz verarbeitete er in der „Geschichte der Abderiten“ von 1781 (HRA VI/19 und 20). Vgl. im übrigen Sengle „Selbstbewährung in Biberach“, S. 119ff und zu Wielands Amt als Senator und Kanzleiverwalter in Biberach auch Ofterdingen, S. 141f 260Sengle, S. 120. Vgl. auch Einleitung zu C. M. Wielands Werke in 4 Bde, hg. von Hans Böhm, Bd. 1, S. XIVf. 261 Der 1. Teil dieser Übersetzungen erschien 1762, der letzte 1766. 262 Vgl. Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, 702. 263 Wielands Werke in 4 Bde, hg. Hans Böhm, Bd. 1, S. XIVf. 203 schildert er in einem Brief an Leonhard Meister vom 28.12.1787264. Erwähnenswert für Wielands dichterische Entwicklung während der Biberacher Jahre ist - wie der Dichter selbst gesteht - die Bekanntschaft mit dem Grafen Stadion in Warthausen265. Sophie La Roche, eine Vertraute des Grafen und ehemalige Verlobte Wielands, führt ihn in Warthausen ein. Hier findet er Zerstreuung und Ablenkung gegenüber der „kleinlichen zänkischen Republik“266 Biberach. In Warthausen erhält er durch die reichhaltige Bibliothek des Grafen Einblick in die englische und vor allem französische Literatur. Man pflegt eine leichte, geistreiche Unterhaltung und erfreut sich an Scherz, Witz und froher Laune. Der Graf war ganz Hofmann, und so herrscht hier der feine Ton des höfischen Lebens267. „Hier ward Wieland zum Dichter der Grazien... und hier lernte er es, das Gewagteste und Lüsterne darzustellen, wofern nur Anmut die Erzählung umschwebte“268. Wieland eröffnen sich in Warthausen neue Lebensansichten, „da er den Ton der großen Welt von seiner gefälligsten Seite... kennenlernte, und zwei so vorzügliche Männer von Welt, wie der Graf und La Roche, zur Erweiterung und Berichtigung seiner Welt- und Menschenkenntniß so unendlich viel beitrugen“269. Tatsächlich wird hier ein Rokokogeist gepflegt, der in einigen Werken zum Ausdruck kommt, und der dem Dichter auch teilweise entspricht, aber nicht sein ganzes Wesen ausmacht. Warthausen ist letztlich nicht geeignet, Wielands ernsthaftesten

264 „Durch ein paar Jahre Aufenthalt in der damals sehr unruhigen Reichsstadt Biberach kam ich ins praktische Leben, und dies wirkte so außerordentlich auf mich, daß in weniger als einem Jahr mein ganzes voriges Leben in der Schweiz mir wie ein schöner Traum vorkam, und daß ich mich aller meiner dortigen Freunde und Verbindungen (den einzigen Zimmermann ausgenommen) nur wie abgeschiedene Seelen im Elysium erinnerte. Sehr viel trug auch zu der Revolution in meiner Seele meine mit dem Jahre 1761 angefangene Connexion mit den Bewohnern des gräflichen Stadionischen Schlosses Warthausen, besonders mit Herrn la Roche und mit dem Grafen selbst bey, welcher einer der vorzüglichsten Weltmänner unserer Zeit war, und unendlich viel zu Erweiterung und Berichtigung meiner Welt- und Menschenkenntnis beytrug. Ein geringes, aber unverfälschtes Denkmal habe ich ihm vorlängst in prooemio des Neuen Amadis gestiftet“ (AB III, 385). 265 „Auf Warthausen lebte, als Gattin des Amtmanns La Roche, Wielands einstige Geliebte Sophie Gutermann. Der Schloßherr Graf Friedrich von Stadion, ein feingebildeter Mann, der mit Voltaire befreundet war, war der illegitime Vater La Roches; daher bestand zwischen ihm und dem Ehepaar ein besonders enges Verhältnis. Wieland, als Freund der La Roches, wurde deshalb auch ... vom Grafen Stadion eingeladen, der den geistreichen Biberacher Kanzleiverwalter wegen seiner Konversation schätzte. Die reichhaltige Bibliothek des Grafen stand Wieland zur Verfügung, aus ihr schöpfte er in den Biberacher Jahren für sein vielfältiges dichterisches Schaffen“ (HA 4, 865). Zum Einfluß des Grafen Stadion auf Wieland vgl. Christian Jakob Wagenseil, Mystizismus, S. 241f. Vgl. auch den Brief an Sophie La Roche (abgedr. in Gruber 51, 3. Buch. 323; HRA XV/1, 322): „Ich will und kann nicht loben, aber ich versichre Ihnen, Warthausen ist der Mittelpunkt der Welt, die ich kenne und ich würde es dem Aufenthalt in allen bezauberten Schlössern Arioto’s und Tasso’s vorziehen“. Vgl. Sengle, 141ff. und HA 4, 924ff. 266 Sengle, S. 144. 267 Vgl. Otto Güldenberg, Wielands komische Erzählungen, S. 3. „Der Stil, der sich im Frankreich des 18. Jahrhunderts zu vollendeter Grazie ausprägte, schlug die gebildete Welt jener Tage in seinen Bann ... Unumschränkt herrschte er... an den Fürstenhöfen und Adelssitzen Deutschlands. An einem solchen kam auch Wieland in Kontakt mit der Geistesrichtung der großen Welt. Hier eignete er sich die Lebensform der vornehmen Gesellschaft an, hier ward er durch den Umgang mit gebildeten Menschen modernen Gepräges... mit den Gedankenkreisen des französischen Rokoko vertraut“. 268 Georg Raederscheidt, Die Entstehungsgeschichte von Wielands Agathon, S. 14. 269 Gruber 3. Buch, S. 377 (HRA XV/1, 377). 204

Bestrebungen jener Zeit Verständnis entgegenzubringen. Die Beziehungen Wielands waren aus verschiedenen Gründen nicht frei von Spannungen270. Diese Einflüsse und späteren Spannungen, die sich schon 1757 in der Schweiz anbahnten und in Biberach und Warthausen fortsetzen, zeigen dichterisch die Desillusionierung von seiner Lebenshaltung. „Ich bin nicht mehr, der ich war, ... ohne mich zu verwundern, dass ich Enthusiast, Hexametrist, Ascet, Prophet und Mystiker gewesen bin. Es ist geraume Zeit, dass ich... von all diesem zurückgekommen bin, und mich ganz natürlich wieder auf demselben Punkt befinde, von dem ich vor zehn Jahren ausging. Platon hat dem Horaz, Young dem Chaulieu Platz gemacht...“ schreibt er Zimmermann271. Zwar unterliegt Wieland zeitweise den Versuchungen des anderen Extrems, aber danach versteht er es, Vernunft und Sinnlichkeit im Menschen zu versöhnen. Er vermochte sein Tugendideal mit kaum gekannter Souveränität neu zu bestimmen272. Der erste bedeutendere Versuch zur dichterischen Gestaltung des neuen Harmonieideals ist der „Agathon“ (1766ff.), der zweite das Märchen-Epos „Idris“ (1768). Beide Werke bleiben bezeichnenderweise Fragment. Erst im anspruchsvolleren Kleinformat der „Musarion“ gelingt seine „Philosophie der Grazien“273.

In der Biberacher Zeit vollzieht sich vor allem in den genannten Werken ein Ausgleich der Gegensätze zwischen über- bzw. unmenschlichem Tugendideal, d. h. idealischer Tugendschwärmerei und der Natürlichkeit der sinnlichen Liebe. Er wollte dichterisch den überkommenen Gegensatz zwischen körperlich-sinnlicher und geistig-seelischer Liebe überwinden. Es geht Wieland nicht nur um die harmonische Einheit von sinnlicher und seelischer Liebe, er versucht, Kultur und Natur, Verstand und Herz, Tugend und Genuß, Ethik und Ästhetik miteinander zu versöhnen. An diesem Wandel sind auch seine literarischen und philosophischen Vorbilder Shaftesbury, Xenophon, Horaz usw. beteiligt, von diesem Wandel in den Anschauungen vom Menschen werden auch die Grazienvorstellungen beeinflußt 274.

270 Vgl. Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S.12; vgl. auch HA 4, 924f.; Sengle, S. 146ff. 271 Gruber 3. Buch, (HRA XV/1, 341) Brief vom 8.11.1762. Vgl. dazu Brief an Zimmermann vom 14.4.1758 (AB I, 285): „Es gab eine Zeit, da ich von Young bezaubert war. Diese Zeit ist vorüber... Ich habe keine Lust mehr, vor der Zeit in unsichtbare Sphären zu reisen, ich will nicht mehr die jungen Mädchen in die Geheimnisse der Philosophie des Platon einweihen“. 272 Nach Wolfram Buddecke, Der Entwicklungsbegriff, S. 100. 273 Vgl. C. M. Wieland: Musarion oder Die Philosophie der Grazien. Mit Erläuterungen und einem Nachwort hg. Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 75f.. Buddecke nennt „Musarion“ ein repräsentatives dichterisches Dokument dieser Entwicklung; Wolfram Buddecke, Der Entwicklungsbegriff, S. 100. 274 Vgl. Barbara Schlagenhaft, Wielands Agathon als Spiegelung aufklärerischer Vernunft- und Gefühlsproblematik, S. 99f. 205

Wie im Zusammenhang mit „Theages“ angedeutet, wandte sich Wieland im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit zunehmend von Platon ab. 1755 neigt sich die platonische Schwärmerei allmählich ihrem Ende zu, neben Platon tritt Xenophon. Bereits 1758 sagt er, „wissen Sie indessen..., daß ich über die Liebe mehr ein Sokratiker als ein Platoniker bin. Platon war einst mein Liebling, jetzt ist es Xenophon“275. Der Unterschied zwischen Wieland und Platon deutet sich in „Araspes und Panthea“ und den Dichtungen der Biberacher Jahre an276, mit „Musarion“ und der Grazienphilosophie wird Platon endgültig abgelöst. Wielands Philosophie ist inzwischen anders geartet und zur dichterischen Gestaltung geeigneter. „Musarion“, aber auch die „Geschichte des weisen Danischmende“ sind Beispiele dafür. Was den Dichter und den Philosophen Platon grundsätzlich unterscheidet, sind die verschiedenen Einstellungen zu allen Fragen des Lebens. Dies mag wohl der letzte Grund der Abneigung gegen Platon gewesen sein 277. Wenn im folgenden griechische und römische Schriftsteller wie Xenophon, Horaz, Lukian und deren literarische Einflüsse auf Wieland erläutert werden, kann davon ausgegangen werden, daß er diese Vorbilder schon kannte oder gelesen hatte, bevor sie in seinen Werken eine größere Bedeutung erlangten. Die Aufnahme Xenophons, aber auch anderer Schriftsteller, ist kein „bloßes Bildungserlebnis, sondern das erste entscheidende Zeichen jener ... tiefgreifenden Desillusionierung, die, schmerzlich verletzend und doch ... befruchtend, ihn zu sich selbst und zu den Biberacher Meisterwerken führte“ 278. Und so hielt Wieland mit der Abkehr vom platonischen Idealismus mehr „auf Xenophons Menschen... als auf alle Heilige der römischen Kirche“279. Daß er bei „Araspes und Panthea“

275 Brief an Zimmermann vom 17.10.1758 (AB I, 293). Vgl. Grudzinski, S. 60ff. Er bringt den Wandel mit Shaftesbury in Zusammenhang. Wieland hat in seinem Schwanken zwischen der platonisch-schwärmerischen Seite seines Wesens und der sokratisch-xenophonischen durch Shaftesbury zum Ausgleich gefunden. Als er Shaftesbury richtig kennenlernte (durch Lektüre im Original während der späteren Züricher Jahre) habe ihn die „platonische Seite des Engländers zuerst angezogen und seine Schwärmerei zur Spitze getrieben. Daneben aber setzte sich der Gedanke der Lebensphilosophie immer mehr durch. Letzteres mag stimmen; er nahm natürlich das ‘Platonische’ in Shaftesbury in seiner damaligen Verfassung leichter auf als die andere Seite, aber die Schwärmerei wurde dadurch sicher nicht mehr weitergetrieben. Daß Shaftesbury im inneren Umschwung wesentlich beigetragen hat, ist wieder richtig“. 276 Doch war Wieland später immer gerecht gegen Platon, obwohl seine innere Abneigung gegen ihn stärker wurde. Er erkennt ihn als großen Philosophen an, obgleich er mit seinen Gedanken nicht einig gehen konnte, weil er allmählich eine andere, Platon entgegengesetzte Auffassung, von der Philosophie und dem Leben bekam. 277 Vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 229, 201 und 207f. 278 Sengle, S. 90. Alle drei Schriftsteller haben ihn fast sein ganzes Leben hindurch beschäftigt; von allen liegen Übersetzungen Wielands vor: - 1782 erschienen „Horazens Briefe, aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischen Einleitungen und anderen nötigen Erläuterungen versehen“ und - 1786 die „Satiren“ von Horaz. - 1788/89 „Sämtliche Werke des spätgriechischen Satirikers Lukian - 1802 Xenophons „Das Gastmahl“, u.a.; vgl. H 37, 279, 281 und 287. Vgl. dazu das Schreiben an die Fürsten von Neuwied von 1808, in dem Wieland berichtet, daß er gern die warmen Sommerabende „in der Gesellschaft eines Cicero, Horaz, Lucian oder Shaftesbury“ zubringen würde (DB II, 118) 279 AB I, 234. 206 von Xenophon angeregt und beeinflußt war280, erwähnt er in der Zuschrift „An Herrn Bernhard Tscharner von Königsfelden“281. Er sei 1756 auf den Einfall gekommen, diese Arbeit auszuführen, als er „die Geschichte von Araspes und Panthea in der Cyropädie des Xenophon mit demjenigen Vergnügen las, welches der Sokratische Geist und die schöne Einfalt dieses unnachahmlichen Verfassers erwecken müssen, dem die ungeschminkte Natur jeden Gedanken einzugeben, und aus dessen Munde die Musen und die Gratien zu reden scheinen“. An anderer Stelle gibt ihm ein „Dämon „in der Gestalt der Muse Xenophons und der moralischen Venus des Shaftesburys verkleidet, den Gedanken ein, den Cyrus zum Helden eines... Gedichtes zu machen“282. Wie in „Theages“ Platon und Shaftesbury als literarische Einflüsse erwähnt werden, wird erstmals im „Cyrus“ Xenophon genannt. „Zeig o zeige sie mir, in ihrer Grazien Mitte, / Jene sittliche Venus, die einst dein Xenofon kannte, / Und dein Ashley mit ihm, die Mutter des geistigen Schönen!“ (HRA V/16,7) 283. Was Wieland in dieser Phase an dem griechischen Dichter beeindruckt, sind die Xenophonischen Menschen. Cyrus und Panthea waren für ihn Ideale und Verkörperungen der Tugend, ähnlich wie Aspasia und Pasithea in „Theages“, die ihm als höchstes Ziel erscheinen und zu einem Bild gehören, das er von der Welt und Menschheit hat284. 1759 ändert sich das Verhältnis zu Xenophon. „Ich ergab mich ohne Rücksicht den Musen und den lächelnden Göttinnen, welche in Xenophons Schriften, in Corregios Gemälden, und in der Bildung ... athmeten“285. Hier spricht er nicht mehr von hohen Tugendidealen, von tugendhaften und edlen Frauen, sondern es ist die Rede von Musen und Grazien. Die Xenophische Grazie geht über Danae im „Agathon“ zu einer heiteren, die Mitte haltenden Lebenskunst, die durchaus die Freuden des Lebens betont; diese „Xenophonischen Grazien“ in Haltung und Stil der Griechen führen Wieland nach seiner Wandlung zur gemäßigten, epikureisch gefärbten Grazienphilosophie286.

280Dieses Verhältnis zu Xenophon war immer positiv, obgleich im Laufe der Zeit das Interesse auf verschiedene Seiten des Xenophonischen Wesens fiel, je nach dem Stand der Entwicklung Wielands selbst. So sind es in der Jugend die tugendhaften und idealen Gestalten der „Cyropädie“, die ihn anziehen und die ihm in sein Weltbild passen; vgl. dazu Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 177. 281 vom 28. 4. 1769; WA 4, 833f. 282 WA 4, 833. 283 Man kann aus dem Vorbericht zur Übersetzung von Xenophons „Das Gastmahl“ entnehmen, daß erst Shaftesbury, dessen Wertschätzung für Xenophon er dort hervorhebt (H 37, 283), ihm den geistesverwandten Griechen nähergebracht hat; vgl. Sengle, S. 90. 284 Vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 195. Er betont, daß Xenophon vor allem in der Darstellung der Frauen neue Wege ging und sich dadurch wesentlich von seinen Zeitgenossen unterschied. Die Xenophonischen Helden waren ihm als Verkörperung der reinen Tugend das Ideal seiner frühen Jahre; S. 202. 285 Brief vom 20. 2. 1759 (AB I, 338). 286 Xenophon begleitete Wieland bis ins Alter durch die Herausstellung der praktischen Lebensphilosophie bei Sokrates, wo auch die heitere Grazienphilosophie allmählich tiefere Formen annahm. Diese letzte Periode ist gekennzeichnet durch die Übersetzungen aus Xenophons „Sokratischen Schriften“. So war dieser Schriftsteller derjenige, der Wieland während seines ganzen Lebens gleich stark anzog und begleitete; vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 202ff. Vgl. in „Musarion“ den Hinweis auf Xenophon (HRA III/9, 93). 207

Daraus entstehen Werke wie „Musarion“ oder „Die Grazien“, in die die Xenophonische Grazie eingeflossen ist. So wird auch am Verhältnis zu Xenophon der innere Wandel Wielands deutlich. Die Wendung vom Tugendideal des „Cyrus“ und der „Panthea“ zur Grazienphilosophie demonstriert sich gewissermaßen an Xenophon. Dieser ist es, der Wielands Lebensphilosophie vertritt, „der Grazie besitzt, der ... ein Künstler der modernen Prosa ist, geschliffen im Stil, nicht hart und eckig, sondern dezent, und der Menschen zeichnet, die dem Ideal Wielands entsprechen“287.

Zu den literarischen Einflüssen auf die Biberacher Dichtungen, speziell „Musarion“ und „Die Grazien“ bedarf es einiger Hinweise auf den römischen Dichter Horaz. Dieser bedeutete Wieland Zeit seines Lebens viel und wird zum Symbol seiner späteren Lebensphilosophie. In „Musarion“ wird Horaz mehrere Male erwähnt288. Bei dem Verhältnis Wielands zu Horaz kann auf zwei Publikationen zurückgegriffen werden. Allerdings steht bei beiden der philologische Aspekt im Vordergrund289. „Niemals setzt (bei Wieland) der Horazische Einfluß aus: er zieht sich sie ein roter Faden durch sein ganzes Lebenswerk“290. Im wesentlichen sind es zwei Aspekte, die Wieland mit Horaz verbindet und die auch auf die Grazienphilosophie gewirkt haben: einmal die epikureische Lebensphilosophie des Römers, zum anderen die „Philologie der Grazien“291. Wieland schätzt Horaz neben Sokrates als einen Menschen, der in höchstem Maße diejenigen Eigenschaften besaß, die nach seiner Ansicht zum vollendeten Menschen gehören. Das meiste, was Wieland vom Wesen und der Art des römischen Dichters sagt, könnte für ihn selbst gelten292. Er war für Wieland ein Dichter, „der die Weisheit als Kunst zu leben, und die Tugend als das Mittel zwischen zweyen Extremitäten betrachtete293 und das Motto von Horaz, das Wieland dem „Agathon“ voranstellt, (HRA I/1, VII) weist schon auf „Musarion“ hin294. Was „Musarion“ inhaltlich und formal bestimmt, ist

287 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, 177. 288 Vgl. Grudzinski, S. 60, der meint, daß durch Shaftesburys Einfluß das horazische Element in Wieland wieder lebendig wurde, die diesseitsfrohe Weltanschauung und die harmonische Lebensgestaltung. Vgl. H 4, S. 98 und 67. 289 Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz. Moneckes Verfahren hat den Nachteil, daß er normativ-begrifflich versucht, Wielands Grazienvorstellung zu fixieren; Hans-Hermann Reuter: Die Philologie der Grazien. Wielands Selbstbildnis in seinen Kommentaren der Episteln und Satiren des Horaz, in: Goethe-Almanach 1967, S. 60ff. 290 Eduard Stemplinger: Wielands Verhältnis zu Horaz, in: Euphorion 13 (1906), S. 473. 291 nach Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 359. Er meint, Wieland und Horaz seien eine besondere Art von Epikureern, nicht konsequente Anhänger, aber in einem Teil ihres Wesens dieser Philosophie verpflichtet, S. 372f. 292 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 74. Vgl. Goethe, der meint, Horaz habe viel Ähnlichkeit mit Wieland: „selbst kunstreich, selbst Hof- und Weltmann ist er ein verständiger Beurteiler des Lebens und der Kunst“; Goethe Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 704. 293 Horazens Satyren, übers. von C. M. Wieland, Weimar 1786, Sat. 1.3. (Einl. AA I/10, 439). 294 „Quid Virtus et quid Sapientia possit / Utile proposuit nobi exemplum“ - was die Tugend und die Weisheit vermögen / hat uns nützlich das Beispiel gezeigt. Epist. I, 2, 17f.; Übers. nach HA 1, 892, Anm. zu S. 373. 208 die Idee des Maßes. Es ist die rationalhumane Beschränkung Epikurs, Horazens und der humanistischen Philosophen, vor allem Shaftesburys295 - und was Wieland über Erasmus von Rotterdam sagt, gilt auch für ihn und bestimmt seine Grazienphilosophie296: „was Wunder, ... daß die Horazische aurea mediocritas, die mit der Sokratischen Sophropsyne eins ist (die Liebe zu allem Gemäßigten, Ruhigen und sanften Schönen in der Natur und im Leben), die so nahe damit verwandte Menandrische Grazie und Urbanität und die Lucianische Feindschaft gegen alle falsche Prätension, alles Ueberspannte, gegen Platonisches Gaukelwerk und stoische Augenbrauen charakteristische Grundzüge seines Geistes, seiner Sitten, seiner Sinnes- und Lebensart... wurden“ (H 35,334). Einen guten Einblick erhält man in bezug auf Horaz durch die Vorrede zu „Musarion“. Die darin enthaltenen Gedanken ließen sich durch Formulierungen aus den Horaz-Kommentaren ersetzen. „Hier spricht Horazisches Wesen, hier sind Horazische Züge nachgezeichnet“297. Der Horaz, der hinter „Musarion“ und der „Philosophie der Grazien“ steht, besitzt einen Blick für die inneren Unstimmigkeiten des Menschen, die er nachsichtig analysiert, und sein Gleichgewicht ist aus solchen Unstimmigkeiten, aus „Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit“298 gewonnen. Auch die Hinwendung zur Idylle bzw. ein Festhalten daran, kann von Horaz bestimmt sein. Aber noch eine andere Seite Wielands ist von Horaz beeinflußt, die in „Musarion“ zum Ausdruck kommt: es ist der Epiker Horaz, der ironische, spöttische, kritische und belehrende Erzähler. Horazisch ist die Art, „moralisch, aber ohne Aufdringlichkeit zu dichten, Dichter, Philosoph und Weltmann in einer Person zu sein“299. Wieland bekundet schon in frühen Werken, wie sehr er das Ideal der Grazie, dem er nach seinen eigenen Werken ein Leben lang nachstrebte, bei den Meistern Lucian und Horaz bewundert300. In den Sermonen ist es Horaz gelungen, die „erhabne Einfalt und kunstlose Eleganz der Griechen zu erreichen301. „Horaz gibt sich in seinen Satyren nicht sowohl die Miene eines Censors als eines socratischen Philosophen, der zwar manchmal mit den Thorheiten der Menschen sich divertiert, aber doch mehr durch sanfte Erinnerungen zu bessern, als durch beißenden Spott weh zu thun sucht... Wo er am

295 Sengle, S. 203. 296 Vgl. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 54; Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 349. 297 Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 36f. 298 HA 4, 320. 299Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 374. Vgl. Horaz-Übersetzung- Zueignungsschrift der 1. Ausgabe, Kap. I, 11. Hier ist es wieder der auf eine gute Art moralisierende Horaz, der dem Bullatius seine Moral „in leichtem munterem Ton und mit so vieler Anmuth vorträgt, daß es diesem sein muß, als habe er sich selbst ermahnt...“ (AA II/4, 133). 300 „Aneignende Nachahmung aus geistiger Verwandtschaft spiegelt sich in Wielands leichtfließendem, lebendigem Stil, dessen Reichtum an direkten und indirekten Zitaten aus Horaz... in Anspielungen und Reminizenzen .. belegt sind“; Hanna-Brigitte Schumann: Zur Literatur über Wielands Sprache und Stil, in: Studien zur neueren deutsche Literatur, hg. Hans Werner Seiffert, 1964, S. 17. 209 schönsten ist, bedient er sich einer feinen Ironie, die so delicat ist, daß sie denjenigen nicht beleidigen kann, den sie trifft. Nichts kann feiner und naiver seyn, als die Wendungen, die er gebraucht, und nichts zierlicher, als seine Expression. Die Kunst ist in diesen Stücken so verborgen, daß sie haben beym ersten Anblick eine so nachlässige Miene, daß sie nicht die mindeste Müh gekostet zu haben scheinen; und doch ist er sowohl in Absicht der Gedanken als des Ausdrucks so richtig und correct, als irgend ein attischer Scribent aus den besten Zeiten Griechenlands“302. Mit dieser angedeuteten „Kunst der Grazie“, die Wieland erst später lernt, unterbreitet er dem Publikum die Grazienphilosophie. Eine philosophische Lehre in persönlicher Form auszusprechen, sie mehr durch die Haltung, in der man sie vorträgt, wirken zu lassen als durch sich selbst, ist eine Gabe, die Wieland an Horaz bewunderte. Diese Gabe eignet sich Wieland an. Sie war in seinem Talent angelegt. In „Musarion“ kommt dieses es zu künstlerischer Vollendung. Nicht zuletzt durch die kunstvolle Kunstlosigkeit des Werkes hat Wielands Grazienphilosophie so gewirkt303.

Noch mehr als bei Horaz hat Wieland bei Lukian Gelegenheit, mit ihm gegen die Entartungen der stoischen und kynischen Philosophie zu wettern304. In der Gedächtnisrede Goethes „Zu brüderlichem Andenken“ nennt er Wieland den deutschen „Lukian, der uns den griechischen um desto lebhafter darstellen mußte, als Verfasser und Übersetzer für wahrhafte Geistesverwandte gelten können“305. Diese geistige Verwandtschaft bekundet Wieland aber nicht nur in seiner Übersetzung306, er zeigte sie auch in seinem eigenen dichterischen Schaffen. Er muß Lukian bereits in seiner frühesten Jugend gelesen und verarbeitet haben307. Obwohl in der Literatur auch von dem „wahlverwandten“ oder „geschätzten“ Lucian gesprochen wird308, und Asmus als Quellen für „Musarion“ u. a. Lukians „Hetärengespräche“ nachgewiesen hat309, lassen sich direkte literarische Einflüsse auf „Musarion“ kaum

301 AA I/4, 387. 302 AA I/4, 403. 303 Vgl. dazu das entsprechende Kapitel in dieser Arbeit. 304 Dazu ist vor allem Lucians „Gastmahl“ geeignet; vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 360. 305 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 703. 306 1788/89 erschien die Übersetzung der „Sämtliche Werke“. Diese Übersetzung wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgelegt. 307 Vgl. dazu den dritten der „Moralischen Briefe“ (H 39, 126): „Wie schön wird durch Vernunft die Leidenschaft gemildert! / So hat uns Lucian die Panthea geschildert“ – in der HRA XIII/S1, 321 heißt es allerdings: „So hat uns Xenofon die Panthea geschildert“. Vgl. Lukians „Panthea oder die Bilder“, die in Wielands Übersetzung der Sämtlichen Werke in Bd. 2, 3. Teil, S. 277-310 erschien; bes. S. 292. 308 C. M. Wielands Werke in 4 Bde., hg. Hans Böhm, Berlin 1967, Bd. 1, S. XV bzw. WA 4, 831. 309 J. R. Asmus: Die Quellen zu Wielands „Musarion“, in: Euphorion V (1898), S. 267ff. 210 nachweisen. Es handelt sich mehr um eine Wesensverwandtschaft der beiden Schriftsteller310. Da es sich vornehmlich um inhaltliche Entlehnungen für „Musarion“ handelt und der „Spötter Lucian“ Wieland beeinflußt hat, wie ihn der Dichter im „Verklagten Amor“ (HRA II/5,153) nennt, kann im Rahmen dieser Arbeit auf eine weitere Untersuchung verzichtet werden.

Shaftesbury, der schon im Zusammenhang mit „Theages“ erwähnt wurde, hat nicht nur auf Wielands Jugendschriften gewirkt. Bei der Besprechung von Herders „Adrastea“ erwähnt Wieland den englischen Moralphilosophen als den „Edeln und Einzigen“, „in welchem Platon’s hoher Idealism mit Xenophon’s Sokratischer Kalokagathie und Sophrosyne und Horazens weisem Frohsinn und lieblich um die praecordia der Leser spielendem geistvollen Scherz so schön vereiniget war!“ (H 38,625). In diesen Worten bringt Wieland zum Ausdruck, was der englische Denker für sein geistiges Leben bedeutete. Und damit sind zugleich jene anderen antiken Autoren genannt, die seine Grazienphilosophie beeinflußt haben. Hinzuzufügen wäre noch der spöttische Scherz des Lukian, der mehr auf Wielands Sprache und Ausdruck als inhaltlich auf ihn gewirkt hat311. Während Wieland zur Zeit der Entstehung von „Theages“ mehr von Shaftesburys Schönheitslehre beeinflußt war, sind in den späteren Werken besonders Spuren seiner Sittenlehre zu finden. Shaftesburys Schönheitsphilosophie hat zwar weiterhin auf den Dichter gewirkt, aber in den Vordergrund ist dessen Lebensphilosophie getreten. „Neben dem platonischen Element beginnt sich immer mehr das horazische Bahn zu schaffen. Die harmonische Einigung ist das Ziel, dem die Entwicklung des Shaftesburyischen Einflusses zustrebt“312. Zunächst war eine optimistischere Lebensstimmung das Ergebnis der eingehenden Studien Shaftesburys313. Er gab ihm ein positiveres Lebensideal, das ihn sein Leben lang begleitete. Damit war aber auch verbunden, daß sich Wielands ästhetische Anschauungen erweiterten. Bisher schien ihm nur diejenige Kunst zur veredelnden Wirkung fähig, die auf der Betrachtung des Sittlichen fußte314; mit dem tieferen Eindringen in Shaftesburys Philosophie sah Wieland, daß die Kunst durch sich

310 Geigenmüller ist in seiner Untersuchung den Äußerungen und Ursachen der Ähnlichkeit der beiden Dichter nachgegangen; Paul Geigenmüller: Lucian und Wieland, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 3 (1927), S. 35-47. 311 Vgl. Grudzinski, S. 72. 312 Grudzinski, S. 58. Vgl. dazu Micha Joseph Berdyczewski: Über den Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik, Diss. Bern 1897, S. 19: Shaftesbury „kennt keinen ausschliesslich moralischen Sinn; er war zu viel von dem hellenistischen Geist durchdrungen, als dass er nicht die Einheit des menschlichen Seelenlebens hätte erkennen sollen, und deshalb legte er viel mehr Gewicht auf das Harmonische und Regelmässige in unseren Handlungen als auf alles andere“. 313 Vgl. Grudzinski, S. 72. Das beste Bild von der inneren Wandlung, die sich unter dem Einfluß des englischen Moralphilosophen vollzog, geben Wielands Briefe an Zimmermann. Nach diesen ist der endgültige Sieg von Shaftesburys Lebensanschauung auf 1758 zu setzen; Brief vom 12.3.1758; ABI, 257ff. 314 Vgl. dazu Nicias Anschauungen in „Theages“. 211 selbst ihre sittliche Aufgabe erfüllte, „weil alle Schönheit wahr ist und ... mit dem Guten verschmilzt. Die Hauptlehre der Shaftesburyschen Aesthetik ‘All beauty is truth’ in ihrer Verbindung des Ethischen mit dem Aesthetischen eröffnet der Aesthetik Wielands ein neues... Feld“315.. In „Cyrus“ und „Araspes und Panthea“ kam Wieland dem Sittlichkeitsideal Shaftesburys näher316. Darin gestaltet Wieland zum ersten Mal „das menschliche Innere als ein Zusammenhang miteinander ringender geistiger und seelischer Mächte317. Zwar stand noch immer die moralische Schönheit im Vordergrund und es ist auch die Aufgabe des Dichters, „die schöne Natur (zu) malen“318, aber für Wieland bestand das Ästhetische nicht mehr ausschließlich in seelischen Vorzügen. An der weiblichen Schönheit werden jetzt auch sinnliche Elemente geschildert; diese Reize werden zudem mit Erscheinungen der Natur verglichen319. Hier ist also zunächst eine Ausweitung des Begriffs von sittlicher Schönheit festzustellen. Wieland wird erst mit der Charakterzeichnung der Danae im „Agathon“ mit dem alten Standpunkt endgültig brechen. Im wesentlichen ist der Einfluß von Shaftesbury auf Wielands Lebensanschauung in der Grazienphilosophie der „Musarion“ abgeschlossen. Es gelingt die harmonische Vereinigung der beiden Gegensätze, in denen sich seine bisherigen Erfahrungen bewegten, die Harmonie von Sinnenglück und Seelenfrieden. Wieland bekennt, es werde mit Gottes und seines gesunden Menschenverstandes Hilfe niemals eine andere als die Philosophie der Grazien geben320. In „Musarion“ finden sich die wichtigsten Züge des Shaftesburyschen Einflusses vereinigt321. Die „reizende Philosophie“ Musarions, die „die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite betrachtet“ (HRA III/9,99), hat ihre Quelle teilweise im Optimismus des englischen Philosophen. Allerdings liegt sein Einfluß hauptsächlich in dem Gedanken der Grazienphilosophie, der Idee einer ästhetischen

315 Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 21. 316 Vgl. die Erwähnung des englischen Moralphilosophen in beiden Dichtungen (HRA V/16, 3ff. und V/16, 181ff.). Manfred Dick hat die Episode von „Araspes und Panthea“ aus der Cyropädie bei Shaftesbury untersucht. Dick, Wandlungen des Menschenbildes, S. 147ff. Neben der Schilderung der Verfallenheit an die Liebe, die alle tugendhaften Gesinnungen auslöscht, sei für Shaftesburys Intention die abschließende Erkenntnis des Araspes von Bedeutung, daß er zwei verschiedene Seelen habe. Die der Leidenschaft verfallene gelte als die schlechte; die sich von neuem ihrer moralischen Bestimmung bewußt werdende gelte als die gute. 317 Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 23. 318 WA 4, 824. Von diesem Satz geht er aus; und deshalb wird sich der Künstler Modelle von dem „Schönen in Charaktern, Sitten, Affekten und Handlungen, von der sittlichen Venus und den sittliche Grazien, wie der Graf von Shaftesbury sie nennt, erfinden“. 319 z. B. „Schöner ist ihr Auge als der entwölkte Himmel, schöner die keusche Röte ihrer Wanden als der junge Frühling, wenn er, vom Morgen angestrahlt, unter kühlenden Rosen erwacht“, heißt es von Panthea (HRA V/16, 217) 320 DB I, 147. 321 Price meint, gewisse Werke Wielands, die zwischen 1768 und 1772 geschrieben wurden, könnten als dichterische Wiedergabe von Shaftesburys Philosophie angesehen werden: Er nennt u. a. „Musarion“, „Die Grazien“ und die „Beyträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“; vgl. M. L. Price: Die Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland 1500-1960, Berlin/München 1961, 69. 212

Lebensgestaltung322. Hier wird der Begriff der „moral grace“ in seiner praktischen Bedeutung entfaltet. In „Musarion“ hat Wieland die „moral grace“ aus der engen Tugendauffassung von „Theages“ herausgehoben. Sie dient nunmehr als Ideal ästhetischer Lebensführung323. An Shaftesburys Einfluß erinnern auch die Verse, in denen von einer Tugendübung „ohne Sold und aus Geschmack“ (HRA III/9,100) die Rede ist. Shaftesbury lehnt sowohl die Lohn- und Strafmoral, als auch die sittliche Askese des Stoizismus ab. Vielmehr soll aus ästhetischem Gefallen am Guten und Schönen das sittliche Handeln hervorgehen. „Der ästhetische Eudämonismus des englischen Moralphilosophen ist damit zum Durchbruch gelangt“324. Die natürlichen Triebe des Menschen werden als gut und berechtigt anerkannt. Es kommt nur darauf an, die Affekte in ein richtiges Maß vernünftiger Sittlichkeit zu bringen. Gleichzeitig haben damit die beiden gegensätzlichen Elemente von Wielands Natur den Ausgleich gefunden, die als die tiefgreifende Wirkung von Shaftesburys Philosophie bezeichnet werden kann. Wieland nennt in der Vorrede zur 2. Auflage „dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, worein sie ihr Gemüt gesetzt zu haben scheinet“325, als einen Hauptpunkt der Philosophie Musarions. Damit war Horazens „aurea mediocritas“ zum ästhetischen Bildungsideal erhoben, und die über die Sinnlichkeit hinausführende platonische Schönheitsschwärmerei wird für die ästhetische Lebensgestaltung nutzbar gemacht. Zwar wirkten Shaftesburys Anregungen auf Wieland das ganze Leben hindurch, aber seine Weiterentwicklung bringt keinen grundlegenden Wandel in den Überzeugungen seiner Lebensanschauung.

322 nach Grudzinski, S. 79f. 323 In seiner Kritik von Jacobi nimmt Wieland Shaftesbury zum Maßstab. Er schreibt am 26.10.1768 an Riedel: „Sagen Sie ihm (Jacobi)..., daß ich zwey Drittel meiner Gedichte darum geben möchte, seine Vestale und seine Venus im Bade gemacht zu haben, Sie erreichen, nach meinem Begriffe, das schönste Ideal, das ein Dichter, vom Anblick der Shaftesburyschen Venus selbst begeistert, zu denken, zu fühlen und anzuschauen fähig seyn kann“ (DB I, 225). In einem Brief an Jacobi von Juni 1769 drängt er ihn, die Anmut der Grazien Shaftesburys darzustellen (DB II, 319): „Und seyn Sie versichert, daß Sie sich dadurch um die glücklichen Seelen, denen die Natur feines Gefühl für das, was Shaftesbury „the moral Venus and the moral graces“ nennt, gegeben hat, und unendlich größeres Verdienst machen werden, als durch die tragischste Tragödie von der Welt“. 324 Grudzinski, S. 80. 325 HA 4, 320. 213

5.2.3 Name und Herkunft der Titelfigur

Da über Name und Herkunft keine Angaben gemacht werden, bei Wieland aber vermutet werden muß, daß er diese bewußt gewählt hat, gibt es mehrere Möglichkeiten, Aufschlüsse über Namen und Herkunft zu bekommen. Zum einen wird die Titelfigur in mehreren Werken Wielands erwähnt, zum anderen können die Quellen von „Musarion“ herangezogen werden326. Es ist nachgewiesen, daß Wieland für „Musarion“ Details im Stil, den Örtlichkeiten und dem Stoff aus den Werken des Engländers Prior entlehnt hat327. Die Namen der beiden Hauptfiguren stammen aus Werken Lucianos328, speziell den „Hetärengesprächen“. Im 7. Gespräch wird eine Musarion charakterisiert. „Sie ist eine junge, arme Hetäre, die es verabscheut, bloß wegen des Gelderwerbs mit ungebildeten reichen Männern Umgang zu pflegen, und in treuer, uneigennütziger und aufopfernder Liebe einem begüterten, ... lebenslustigen Athener, namens Chaireas, ergeben ist, weil er ... ihr die Ehe versprochen hat. Sie muß sich deshalb von ihrer Mutter den Vorwurf gefallen lassen, sie verstände sich nicht auf das Hetärengewerbe (§ 3) und benehme sich so gesittet, wie wenn sie nicht eine Hetäre, sondern eine Priesterin des Demeter wäre“329. Damit ist anzunehmen, daß Musarion der Name für eine Hetäre gewesen ist, und von der „Hetäre Musarion“ wird auch in der Literatur gesprochen. Damit würde aber die Heldin des Gedichts auf ein niedriges Niveau heruntergezogen, wenn man von Wieland nicht wüßte, daß er die Hetäre unter bestimmten positiven Aspekten sah330.

326 J. R. Asmus: Die Quellen von Wielands „Musarion“, in: Euphorion 5 (1898), S. 267-289; vgl. Jakob Minor: Quellenstudien zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 19 (1887), S. 228ff.;Spiridion Wukadinovic: Prior in Deutschland, in: Grazer Studien zur deutschen Philologie 4 (1895), S. 47ff. 327 Vgl. u. a. Priors „Alma“. Poems on several occasions. Bey the late Matthew Prior, London 1754. 328 J. R. Asmus, Die Quellen zu Wielands „Musarion“, S. 286. Jakob Minor, Quellenstudien, S. 231f. und Spiridion Wukadinovic, Prior, S. 54ff. können den Hinweis auf „Aristänetus“ nicht stichhaltig belegen. Vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 384, der darauf hinweist, daß in „Musarion“ sich verschiedene Lukianische Dialoge als Quellen nachweisen lassen. 329 J. R. Asmus, Die Quellen zu Wielands „Musarion“, 286. Er hat Details für den Beweis zusammengetragen, u. a., daß Musarion als Dienerin eine Chloe hat. Außerdem verweist er auf Vers 450ff., wo es in „Musarion“ heißt, „...(der mütterlichen Lehren/uneingedenk...)...“ (HRA III/9, 26). 330 Vgl. dazu das abschließende Kapitel dieser Arbeit. Vgl. auch den Brief an Zimmermann vom 13.11.1767, wo er enttäuscht über die Aufnahme der „Komischen Erzählungen“ seitens der Damenwelt schreibt: „Hat es denn... keine Musarion, keine Ninon (de) l’Enclos und Ladys Worthley Montague mehr in der Welt?“ (AB III, 289). Dadurch, daß Wieland Musarion diesen Damen gleichsetzt, charakterisiert er seine Titelheldin, die „durch eigenes, auf wirkliche Erfahrung gegründetes Denken die engen Schranken der konventionellen Sitte und Ästhetik durchbrochen hat und einer möglichst natürlichen Lebensbethätigung zustrebt“; J. R. Asmus, Die Quellen zu Wielands „Musarion“, S. 288. 214

Hinweise geben auch Wielands Werke, in denen eine Musarion vorkommt. Gleichzeitig mit der Verserzählung entstand die erste Fassung des „Agathon“331. Als Mutter von Agathon ist Musarion eine „Athenische Bürgerin“ und wird als „sehr schön und ebenso tugendhaft“ (HRA I/2,78) beschrieben. Der vornehme Athener Stratonicus möchte sie heiraten; aber sein Vater verweigert dieses, da er „die Reizungen und Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des Reichthums, der ihr fehlte, ansah“ (HRA I/2,80). Daraufhin bringt Stratonicus sie fern von der Stadt auf einem kleinen „Vorwerk auf einer von den Inseln“ unter, und aus der Verbindung stammen die Kinder Agathon und Psyche. Bei der Geburt des Mädchens stirbt Musarion. Die „zärtlichche(n) Musarion“ ist also ein armes Mädchen aus dem Volk und hat ein „unerfahrne(s) Herz“! Sie lebt auf dem Lande, am Rande der Gesellschaft und ist durch die äußeren Umstände zu einer Hetäre geworden (HRA I/2,80ff.).

Im „Aristipp“ ist Musarion die Pflegetochter von Lais332 und wird die Frau von Aristipps Freund Kleonidas (HRA XI/34, 3f.). Hier ist sie die „kleine Musarion“ (HRA XI/33,283; 34, 3), Lais „liebste Freundin“ (HRA XI/34,240) bzw. „jünger(e) Schwester“ (HRA XI/34,3). Gegenüber Lais erscheint Musarion einfach, fast naiv; Kleonidas, ihr späterer Mann, ist zunächst ein platonischer Liebhaber, der lauter Geist ist, und dem es „angethan ist, daß er sich nur in Seelen verlieben kann“ (HRA XI/33,286). Über die Verbindung dieser beiden sagt Aristipp: „Musarion ist eines Mannes wie Kleonidas werth, ... (er) könnte ... schwerlich ein Mädchen finden, das in jeder Beziehung, es sey als Freundin und Lebensgefährtin, oder als Mutter seiner Kinder, oder als Gespielin seiner fröhlichen Stunden, oder als Modell für seine Lieblingskunst, sich besser für ihn schickte, als meine Musarion, die zu einer seltnen Schönheit und Anmuth, und einem Gemüth, das die Keime zum Antheil bekommen hat, als ein Weib im Kreise des häuslichen Lebens nöthig haben kann“ (HRA XI/34,87f.). Wenn die Titelheldin der Verserzählung nicht direkt mit Musarion im „Agathon“ und „Aristipp“ verglichen werden kann, so lassen aber diese Hinweise erkennen, daß Wieland mit Musarion zwar auch eine Gestalt aus der Antike gewählt hat, aber beim Namen bereits Unterschiede zu Aspasia in „Theages“ deutlich werden.

331 Das 5. Kap. des 7. Buches, indem von Musarion die Rede ist, wurde im Januar/Februar 1766, d.h. weniger als ½ Jahr vor Beendigung der Verserzählung geschrieben; vgl. Wolfgang. Paulsen, Wieland. Der Mensch und sein Werk, S. 231. 332 Zu „Lais“ in der griechischen Antike und in der europäischen Literatur bis zu Wielands „Aristipp“ vgl. Christoph Martin Wieland „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, Frankfurt/Main 1988 (C. M. Wielands Werke in 12 Bde., hg. Manfred Fuhrmann u. a., Bd. 4, Deutscher Klassiker Verlag), S. 1060-1066 215

Über das Alter von Musarion lassen sich nur Vermutungen anstellen, da Wieland - im Gegensatz zu Aspasia - keine Angaben macht. Dennoch lassen verschiedene Andeutungen erkennen, daß es sich bei Musarion um ein junges Mädchen handelt. Bei der ersten Beschreibung wird gefragt: „Sagt, Freunde, wenn mit einer solchen Miene / Im wildsten Hain ein Mädchen euch erschiene...“ (HRA III/9,11f.). Hier wird sie also als „Mädchen“ beschrieben. Aus dem weiteren Inhalt ist zu schließen, daß Musarion die Freundin von Phanias ist. Als dieser ihr zu schwärmerisch seine Liebe gesteht, lenkt sie sich ab und tändelt mit einem „Gecken“. Nachdem sie Phanias auf sein Landgut folgt und sich mit ihm versöhnt, leben sie als „beglückte(s)“ Paar auf dem Lande. Das läßt den Schluß zu, daß es sich wohl um ein junges Paar handelt. Auch in den beiden erwähnten Romanen ist Musarion ein junges Mädchen. Im „Agathon“ heißt es, daß eine alte Frau die „junge Musarion vor den Augen und vor den Nachstellungen der ... Jünglinge, welche gewohnt sind, junge Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld und keinen anders Reichthum als ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzusehen, (verwahrte)“ (HRA I/2,78). Auch an anderer Stelle wird von der „jungen Schönen“ oder der „jungen Musarion“ gesprochen bzw. vom „unerfahrne(n) Herz(en) der zärtlichen Musarion“ (HRA I/2,79f.)333. Im Gegensatz zu Aspasia in „Theages“ kann Musarion als junges Mädchen bezeichnet werden. Mit den Belegen aus den beiden Romanen sind auch Hinweise auf eine mögliche Erziehung und Ausbildung gegeben, über die in „Musarion“ ebenfalls keine Angaben gemacht werden. Im „Agathon“ lebt Musarion „unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte“ in strenger „Eingezogenheit“ (HRA I/2,78); d.h. sie wird in bescheidenen Verhältnissen aufgezogen. Im „Aristipp“ ist sie die Tochter einer Sklavin und auf einem Gut erzogen worden, ehe sie in die Obhut der Hetäre Lais kam, die Einfluß auf das Mädchen hatte. Über Musarion schreibt Lais an Aristipp, „Du mußt wissen, ... daß Musarion meinem alten Patron, vor ungefähr sechzehn Jahren, von einer schönen Thracischen Sklavin geboren, und auf seinem Gute... bis an seinen Tod erzogen wurde. Er selbst entdeckte mir dieß kurz vor seinem Ende, indem er das Schicksal des jungen Mädchens gänzlich in meine Hände stellte. Du zweifelst nicht, daß ich ihr sogleich die Freiheit gab; und da ich nicht alt genug bin ihre Mutter vorzustellen, gehe ich mit ihr... wie mit einer jüngern Schwester um“ (HRA XI/34,3f.). Daraus wird deutlich, daß bei Musarion kein Erziehungskonzept vorhanden war wie bei Pasithea in „Theages“. Und im Unterschied zu Aspasia wird nichts über eine künstlerische Ausbildung (Gesang, Musik o. ä.) erwähnt. Bei

333 Noch andere Belege lassen den Schluß zu, daß Musarion jung ist. In verschiedenen Werken der Biberacher Jahre schildert Wieland ähnliche junge Mädchen, die mit Musarion verglichen werden können. So scheint Donna Felicia im „Don Sylvio“ nicht viel über sechzehn Jahre alt zu sein (HRA IV/11, 222); vgl. im „Neuen Amadis“, wo die hübschen Mädchen etwa „sechzehn (eins minder oder mehr)“ sind (HRA II/4, 2). 216 der Erziehung konnten sich nur ihre natürlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten entwickeln. Folgende Stelle in „Musarion“ könnte ein Hinweis auf Wielands neues „Erziehungskonzept“ sein. Im Zusammenhang mit Phocion, der durch Platons Schule gegangen ist, heißt es, „Was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt. / Die Blume, die im Feld sich unvermerkt verliert, / Erzieht des Gärtners Fleiß zum schönsten Kinder der Floren“ (HRA III/9,93). Von Bedeutung sind die Vergleiche mit der Blume im Feld und dem Gärtner; d. h. die Verbindung zur einfachen Natur. Was hier für die Gärtnerkunst gilt, daß sie die Natur nicht völlig verändert oder sich selbst überläßt, sondern durch Auslese und Pflege einen Teil derselben vor Augen führt, ist Wielands „Konzept“ der Erziehung, das aber die Selbsterziehung einschließt. Die Erziehung und Ausbildung war in „Theages“ darauf angelegt, den „guten Geschmack“ und den „moralischen Sinn“ zu entwickeln, Grundfähigkeiten, die das Gute und Schöne beinhalten. Die Beschäftigung mit der Kunst wirke bildend, denn sie verfeinere den Geschmack, d. h. die Fähigkeiten, das Gute zu erkennen. In „Musarion“ wird dieser Gedanken variiert, den er im „Aristipp“ mit Antipaters Bildungsgang beschreibt334. Er beschränkt sich mehr auf das Wachsthum der individuellen Fähigkeiten. Vollkommenheit sei durch die Entwicklung der individuellen Form, d. h. der individuellen, ursprünglichen Anlagen zu erreichen. Im „Attischen Museum“ (1800) faßt er dieses Ziel zusammen. Der Unterschied zu der früheren Auffassung besteht darin, daß Wieland das organische Wachstum der „individuellen Form“, die aus der Anlage entspringende Selbstbildung betont und den Einfluß der Bildungsumstände, des Milieus, geringer bewertet. „Die reinste Übereinstimmung mit dieser Form ist unsre Vollkommenheit, unser letztes Ziel, ... nicht wie der Künstler aus demselben Marmorblock einen Apollo oder Marsyas bilden kann, sondern wie der Keim einer Pflanze Stiel, Blätter, Blume usw. aus sich selbst heraus bildet“335. Das könnte auch in „Musarion“ gemeint sein, wenn Wieland vom Gärtner und der Feldblume in Verbindung mit der Erziehung spricht.

Im gleichzeitig entstandenen „Agathon“ stellt Wieland sich die Aufgabe, zu zeigen, wieviel zur Weisheit und Tugend die bloßen Kräfte der Natur tun, „wie viel die äußerlichen Umstände an unsrer Art zu denken... Antheil haben, und wie es natürlicher Weise, nicht wohl möglich sey, anders als durch Erfahrung, Fehltritte, unermüdete Bearbeitung unsrer selbst, öftere Veränderungen in unsrer Art zu denken, hauptsächlich aber durch gute Beyspiele und

334 Sie werden „nicht gebildet, sondern bilden sich selbst, oder bringen vielmehr ihre schon voraus bestimmte Form mit sich auf die Welt; wie sie sind, sollen sie seyn; was sie werden, sollen sie werden. Was eine Pflanze bedarf um sich zu entwickeln, Freyheit, Licht und angemessene Nahrung, ist im Grunde alles, was solche Menschen zu ihrem Wachsthum und Gedeihen brauchen“ (HRA XI/34, 52f). 217

Verbindung mit weisen und guten Menschen selbst ein weiser und guter Mensch zu werden“ (HRA I/1,5). Mit „Musarion“ preist er eine Lebensphilosophie des heiteren Behagens, der harmonischen Ausbildung der menschlichen Natur, der sinnlichen und der geistigen, zum Zwecke der Verschönerung des menschlichen Lebens. Darin sind deutliche Unterschiede zu Pasitheas Erziehungskonzept und Aspasias Ausbildung feststellbar.

5.2.4 Äußere Erscheinung und Lebensweise

Im Gegensatz zu Aspasia in „Theages“, der Danae im „Agathon“ und der Lais im „Aristipp“ werden über Musarions äußere Lebensumstände, sicherlich vom Dichter beabsichtigt, keine Angaben gemacht. Im „Agathon“ heißt es von Musarion, daß sie „das Unglück hat, ... durch ...(die) Armuth die Verachtung des großen Haufens zu erregen“ (HRA I/2,79). Auch im „Aristipp“ lebt Musarion in bescheidenen Verhältnissen (HRA XI/34,86f.). In „Musarion“ ist diese mit den ihr von Phanias gebotenen Gegebenheiten zufrieden. Sie hat Athen aus freien Stücken verlassen und ist ihm gefolgt. Dieser kann es nicht glauben, daß sie in seinem Haus übernachten will. „Wie? ist dir unbekannt in welcher Lag ich bin? / Daß jenes Dach, von faulem Moos gedrücket, / Und so viel Land, als jener Zaun umschließt, / Der ganze Rest von meinem Erbgut ist?“ (HRA III/9,23). Zwar will Phanias ihr nicht sagen, daß noch zwei Philosophen in seiner Einsiedelei wohnen und macht sein Haus schlechter als es ist. „... mein Haus ist klein... / Du wirst an allem Mangel haben; / Ein wenig Milch, ein Ey, und dieses kaum ...“, aber Musarion ist mit dem Gebotenen zufrieden. „Für eine Freundin hat die kleinste Hütte Raum“, man hilfts sich wie man kann (HRA III/9,31f.). Sie meint, zum Leben gehören nicht Äußerlichkeiten und Reichtum, um glücklich zu zufrieden leben zu können. „Wie, Phanias? Die Farbe deiner Seelen / Ist nur der Wiederschein der Dinge um dich her? / Und dir die Fröhlichkeit, des Lebens Reitz, zu stehlen, / Bedarf es nur ein widrig Ungefähr?“. Musarion meint, Glück sei nicht käuflich. „Das wahre Glück, das Eigenthum der Weisen, / Steht fest, indeß Fortunens Kugel rollt. / Dem Reichthum muß die Pracht, die ihm der Induz zollt, / Erst, daß er glücklich sei, beweisen; / Der Weise fühlt: er ist’s. Ihm schmecken schlechte Speisen / Aus Thon so gut als aus getrieb’nem Gold“. Für Musarion sind die äußeren Lebensumstände unwichtig. „Was der Monarch mit Gold zu kaufen fälschlich meint, / Was, wer es kennt, vor einer Krone wählet, / Das höchste Gut des Lebens: einen Freund“ (HRA III/9,23f.).

335 Attisches Museum (AM), hg. C. M. Wieland, 4 Bde., Zürich 1797-1800, Bd. III, 2, S. 271, 273 und 290. 218

Daraus ist zu schließen, daß Musarion im Gegensatz zu Aspasia nicht reich ist. Sie lebt bescheiden in einfachen Verhältnissen. Die Stadt spielt für sie keine Rolle mehr. Sie hat alles aufgegeben, um ihrem Freund aufs Land zu folgen, unabhängig davon, in welchen Verhältnissen er lebt. Während Aspasia nur von Verwandten umgeben ist und ein Landhaus mit Gemäldegalerie besitzt, ist Musarion zufrieden, mit Phanias in seiner Hütte zu leben. Ein weiterer Aspekt unterscheidet die beiden Göttinnen der Anmut: während sich Aspasias Beschreibung des Äußeren darauf beschränkte, festzustellen, daß sie „schön“ war, wird Musarion mit einer Reihe äußerer Schönheiten beschrieben. Anger weist darauf hin, daß im Barock das Verständnis für die Reize einer Frau, die vor allem in der Unregelmäßigkeit und Zierlichkeit der Körperteile liegen können, verlorengegangen war. Erst unter dem Einfluß des englischen Sesualismus kam ein neues Verhältnis des Menschen zur sinnlichen Wirklichkeit auf. Wie im Zusammenhang mit „Theages“ erläutert, ist Wieland erst nach seiner Wandlung bereit und in der Lage, durch seine freieren Anschauungen auch die körperlichen Vorzüge einer Frau zu beschreiben. Während der Züricher Zeit bestand die höchste Schönheit, das Ideal der schönen Seele, in der Vollkommenheit der harmonischen Seele; die äußere Schönheit trat völlig zurück und wurde nur als Widerschein der inneren Güte gedeutet. Allmählich wandelte sich das Ideal zu einem Ausgleich des geistig-sinnlichen Lebens. Diese Auffassung blieb nicht ohne Wirkung auf sein Grazienbild. Er bemühte sich in einer Reihe von Werken während der Biberacher Jahre, das seelische Moment auch in den körperlichen Schönheiten nachzuweisen. Dennoch wird man bei Wieland den letzte Grund aller Schönheit in der Seele suchen müssen. Mit Musarion hat Wieland eine Grazie gestaltet, an der diese gewandelte Auffassung sichtbar wurde. Allerdings weist Bock darauf hin, daß sein Bestreben, möglichst vollendete Schönheiten des inneren und äußeren Menschen zu zeigen, dazu führte, daß seine Grazien in einer Reihe von Dichtungen immer wieder mit denselben Reizen ausgestattet wurden336 - wie im folgenden durch Verweise auf andere Werke deutlich wird. Wielands Frauengestalten haben nichts Großes, Prächtiges an sich. Auch Musarion weiß, daß ihre Schönheit nicht reicht, ihren Freund wiederzugewinnen337. Schönheit an sich kann sogar zu einer unüberwindbaren Distanz führen. Die „Kunst“ besteht darin, die vorteilhafte äußere Erscheinung zu versinnlichen, sie „reizend“ zu machen, um auf diese Weise Phanias zu überzeugen. Diese Versinnlichung wird einmal durch die spielerische Verflüchtigung der festen statuenhaften Gestalt, d. h. durch graziöse Bewegung und die Betonung des Zufälligen

336 Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 31 und 37 219 erreicht; zum anderen durch eine bestimmte Anordnung der Kleidung und durch die direkten Mittel des Flirts. Die Wirkung liegt in der Mannigfaltigkeit der kleinen, immer wieder anderen Reize338. Musarion ist eine Grazie, die über die Schönheit hinaus unaussprechliche Reize besitzt. Daß sie diese zu besitzen scheint, erfährt der Leser, bevor Musarion selbst erscheint. Phanias, der sie schon in Athen kannte und liebte, sich aber von ihr betrogen fühlt, spricht zunächst negativ von ihren Reizen 339. Er glaubt, ihr Mund, ihr schöner Busen kann ihn nicht mehr reizen und nennt sie „die schöne Ungetreue, / Die Wollust“ (HRA III/9, 5f.), „Nebenbuhlerin“ und „Undankbare“ (HRA III/9,15), aber er ist nicht überzeugt, daß er in Zukunft ihren körperlichen Reizen widerstehen kann. Deshalb läuft er weg, als Musarion erscheint. „Er sah und hätte gern den Augen nicht getraut, / Die ein Gesicht, wovor ihm billig graut’, / Zu sehn sich nicht erwehren können“. Da „Cytherea.. zur ungelegnen Zeit“ (HRA III/9,9f.) kommt, springt er „vom Boden auf und - hielt ein Wenig still, / Um recht gewiß zu sein, was ihm sein Auge sagte; / Und da er sah, es sei Musarion, / So lief er... davon“; „er that... / was Jeder soll, der sicher gehen will“. Da es „nicht ihr Geist“ war340, wollte er sich ihren Reizen durch die Flucht entziehen; ein sicherlich „weise(r) Mann!“, denn Musarion wird hier schon mit Aphrodite verglichen: „Zwar Diese war es nicht! doch hätte / Die Schöne, welche kam, vielleicht sich vor der Wette, / Die Pallas einst verlor, gleich wenig sich gescheut“ (HRA III/9,9ff.). Anschließend wird Musarion genauer charakterisiert, aber der Leser sucht vergebens eine vollkommene Schönheit. Statt dessen schildert Wieland Grazie und Anmut. Und wenn er Musarions körperliche Reize beschreibt, erscheint hinter der „Erscheinung die Totalität ihres Wesens“341. An Musarion wird die Verbindung von sinnlicher und seelischer Schönheit sichtbar. „Schön, wenn der Schleier blos ihr schwarzes Aug’ entdeckte, / Noch schöner, wenn er nichts versteckte; / Gefallend, wenn sei schwieg, bezaubernd, wenn sie sprach: Dann hätt’ ihr Witz auch Wangen ohne Rosen / Beliebt gemacht; ein Witz, dem’s nie an Reiz gebracht, / Zu stehen oder liebzukosen / Gleich aufgelegt, doch lächelnd, wenn er stach, / Und ohne Gift. Nie sah man die Musen / Und Grazien in einem schönern Bund; / Nie scherzte die Vernunft aus einem schönern Mund, /

337 Vgl. Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 73. Er betont, bei Wieland gebe es keine rein ästhetischen Schönheitsschilderungen, dem Dichter komme es auf die Wirkungen an. 338 Vgl. Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, der die Reiztechnik und ihre Darstellungsmittel darstellt. 339 Der Leser erfährt, daß Musarion sich in der Zwischenzeit mit einem Knaben vergnügt hatte, dieser aber nur ein Spiel für sie gewesen sei. Das wird durch die Beschreibung als „Gecken“ deutlich (H 4, 12). Allerdings gewinnt man den Eindruck, daß Phanias in Athen nur von den körperlichen Vorzügen beeindruckt war, denn er meint, „Dein Blick, Dein Athem schien allein mich zu beseelen“ (H 4, 12). 340 wie es in der Erstausgabe heißt; C. M. Wieland: Musarion oder Die Philosophie der Grazien, Leipzig 1768, S. 12. 341 Marga Wesly: Das junge Mädchen im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Sturm und Drang, Leipzig 1933, S. 84. 220

Und Amor nie um einen schönern Busen. / So war, die ihm erschien, so war Musarion“ (HRA III/9,10)342. Auf Musarions Vernunft und ihren Witz wird noch an anderer Stelle eingegangen.

Da die Titelheldin ihren Freund wiedergewinnen will, wird dem Leser gezeigt, welche Reize einer Grazie dafür zur Verfügung stehen. Wie bei vielen Frauengestalten in Wielands Dichtungen lassen sich auch bei Musarion die Reize an einigen Teilschönheiten lokalisieren343. Diese sind alle mit dem Motiv der Bewegung verbunden. Wie bereits betont, ist im Gegensatz zum starren Barockbild die „Bewegung ein Hauptmerkmal des neuen Schönheitsbegriffes. Die strenge „Linie des absolutistischen Geistes“344 löst sich auf in leichte, zierlich gewundene Formen. Die Bewegung, die die Dichter an einem schönen Körper beschreiben und die von diesem ausgehen, setzt sich in Reize um, die zwischen der körperlichen Erscheinung und dem psychischen Eindruck vermitteln. Auf einer niedrigen Ebene deutet Musarion diese Beziehung an. „Ihr bleibt oft an der Stange kleben, / Und was Euch angelockt, war kaum der Mühe wert. / Ein Halstuch öffnet sich, ein Ärmel fällt zurücke, / Und weg ist Euer Herz! Oft braucht es nicht so viel; Ein Lächeln fängt Euch schon, Ihr fallt von einem Blicke“ (HRA III/9,16). Während in den Jugenddichtungen die Seele den bewegten Zustand andeutete - im Zusammenhang mit Aspasia spricht Wieland von der „Lebhaftigkeit des Geistes“ oder „einem fröhlichen und sanften Temperament“ (HRA XIV/S4,148f.) - so erhält in den Biberacher Werken auch die körperliche Bewegung ihre Bedeutung345. Schon im „Don Sylvio“ spielt sie eine Rolle346.

Wenn die erwähnten Teilschönheiten genauer betrachtet werden, so tritt eine Häufung von Umschreibungen bei den Augen, dem Mund und Busen auf. Die Ursache ist immer die

342 Bemerkenswert ist die Anordnung des Ganzen, die Parallelen zu den „Komischen Erzählungen“ aufweisen. Den Ausgangspunkt bildet ein kurzes, allgemein gehaltenes Substantiv/Nomen (hier „Cytherea“), es folgt die Ausmalung der Einzelheiten (Augen, Mund, Busen, Witz o.ä.), durch die der leere Rahmen sich inhaltlich füllt. Den Schluß bildet die spezielle Bezeichnung der dargestellten Figur (hier: „So war Musarion“, HRA III/9, 10). 343 Hier sei an das Renaissanceideal der schönen Frau von Agnolo Firenzuola erinnert; vgl. Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. und mit einer Führung von Walther Rehm, Herrsching 1981, der eine Zusammenstellung der von Firenzuola beschriebenen Teilschönheit gibt, S. 376ff. 344 Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 35. 345 Es ist bekannt, daß die Wellen- und Schlangenlinien zur Erklärung der Schönheit und Reize von Hogarth auf Mendelssohn übergegangen sind. Nach Pomezny äußert sich auch hierin das Moment der Bewegung, das in den Biberacher Dichtungen im Zusammenhang mit den sinnlichen Reizen stärker hervortritt, S. 172. 346 „So geringfügig dieser Gegenstand an sich selbst war, so wichtig wurde er... durch den Reitz, den sie über alles. was sie sagte oder that, auszugiessen wusste. Jeder ihrer Blicke, jedes Wort, das sie sprach, jede kleine Bewegung, die sie machte, vermehrte die Entzückung, worin er (Don Sylvio) ganz verlohren schien“, heißt es von Donna Felicia (HRA IV/12, 315f.). 221 gleiche: alles „bewegt“ sich. Daneben vollziehen die Arme, Hände347, Haare und die ganze Gestalt höchst anmutige Bewegungen348. Daß nicht jede Bewegung Anmut bewirkt, braucht nicht betont zu werden349. Auch Musarion wird graziös geschildert. Ihre Bewegungen sind reizend und natürlich. Als Phanias vor ihr flieht, läuft sie ihm nicht nach. Da sie eine Grazie ist, folgt sie ihm „auf leichten Zefyrfüßen“ (HRA III/9,11). Die graziösen Bewegungen können durch die Kleidung vorteilhaft unterstützt werden. Es ist „das niemahls ruhige Gewand“ (HRA VI/17,153), das reizt. Die Gewänder unterstützen die körperlichen Bewegungen der Göttinnen der Anmut. Bereits in „Theages“ umschattet „ein sanft wallendes Gewand... gleich einer Silberwolke ihre keusche Schönheit“(HRA XIV/S4,161). In „Musarion“ tritt dieses Moment stärker hervor. Hier scheint ein leichtes Gewand ihre Schönheit mehr zu entwickeln als zu verhüllen. Mit Hilfe der Kunst, der kunstvollen Anordnung der Kleidung, wird der natürliche Körper unterstrichen. Im „Agathon“ wird dieser Zusammenhang von Kunst und Natur anhand der Kleidung der Pythia deutlich. „Ihr ganzer Putz hatte dieses zierlich Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen seyn will daß sie der Natur zu Hülfe komme“ (HRA I/2,37)350. Wurde schon in „Theages“ das Durchschimmern eines sinnlichen Motivs feststellbar, so dient hier die Kleidung, der „dünne(n) Flor“ (HRA III/9,63)351, das „Nachtgewand mit nelkenfarbnem Grund“ (HRA III/9,88) dazu, durch halbes Zeigen, halbes Verhüllen die Sinne zu reizen. Wieland zieht das Halbverhüllte dem Nackten, das Flüchtige

347 Nur einmal reicht Musarion dem Geliebten „An Antworts Statt... zum stillen Pfand / Der Sympathie, ... ihre schöne Hand; und „ein sanftes Wiederdrücken“ (HRA III/9, 97) beweist Phanias, daß ihre Gefühle echt sind. Vgl. dagegen Chloens „lose Hand“ wand einen Blumenkranz um Theophrons Stirne (HRA III/9, 90). 348 Vgl. Danae im „Agathon“: „Ihre Gestalt, ihre Blicke, ihr Lächeln, ihre Geberden, ihr Gang, alles hatte diese Vollkommenheit, welche die Dichter den Göttinnen zuzuschreiben pflegen“ (HRA I/2, 154f.). 349 Zwei Beispiele mögen genügen. Im „Neue Amadis“ spitzt Prinzessin Schatulliöse „mit gezierter Anmuth den Mund“ und Kolifischons „Mäulchen“ steht nie still, „stets flattern ihre Blicke, / Nie läßt sie Hände noch Füße ruhn;“ (HRA II/4, 8f.). 350 Im „Agathon „ wird ein solches Kleidungsstück beschrieben. „Ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen war, wallte zwar in vielen Falten um sie her: aber es war auch dafür gesorgt, daß hier und da der schöne Contur dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde (HRA I/2, 37f.). Vgl. auch Danaes Kleidung: sie hatte sich so wenig Mühe gegeben, „ihre Reitzungen durch einen schimmernden Putz zu erhöhen oder durch andere Kunstgriffe in ein blendendes Licht zu setzen. Ein weißes Kleid mit kleinen Streifen von Purpur, und eine halb eröffnete Rose in ihrem schwarzen Haar, machte ihren ganzen Staat aus; und von der Durchsichtigkeit, wodurch die Kleidung der Cyane den Augen unsers Helden anstößig gewesen, war die ihrige so weit entfernt, daß man mit besserm Recht aussetzen konnte, sie verhülle zu viel. Es ist wahr. sie hatte Sorge getragen, daß ein sehr artiger kleiner Fuß dem Auge nicht immer entzogen würde; allein dieser kleine Fuß, und eine schneeweiße rosenfingeringe Hand... war alles, was das neidische Gewand vorwitzigen Blicken nicht versagte“ (HRA I/1, 201f.). 351 Vgl. im „Don Sylvio“: es „entzückten... andere Reizungen, die unter dem Nebel eines dünnen Flors seinen Augen nachstellten“ (HRA IV/12, 174). In „Idris und Zenide“ ist es ein „zephyrisches Gewand“ (HRA VI/17, 203); vgl. auch „Diana und Endymion“ (HRA III/10, 139). 222 der Bewegung dem Dauerhaften, Starren vor352. Wie diese Bekleidung seiner Grazien auszusehen hat, hat Wieland in vielen Biberacher Werken beschrieben. Aufschlußreich ist „eine kleine Stelle aus einer gewissen Psyche“, die er in den Vorbericht zur 2. Auflage von „Musarion“ aufgenommen hat. „Die Mode war in jenen alten Tagen / Die tiefe Weisheit gern in Bildern vorzutragen; / Und klüglich wie uns deucht; denn ungebrochnes Licht / Taugt ganz gewiß für blöde Augen nicht. / Die Wahrheit läßt sich nur Adepten / Gewandlos sehn; und manches schwache Haupt, / Das ungestraft sie anzugaffen glaubt, / Erfährt das Los der alten Nympholepten, / Und läßt, indem es gafft, für einen Augenblick /Zweideutger Lust, sein Bißchen Witz zurück. / Ein Schleier, wie der Morgenländer / Um seine Dame zieht, nicht eben siebenfach, / Doch auch so gläsern nicht wie coische Gewänder, / Verhütet sehr bequem dergleiche Ungemach. / Liebhaber, die mit Witz Geschmack verbinden, / Gewinnen noch dabei: Sie finden / In einem Putz, der weder schwimmt noch preßt, / Viel schönes sehn, doch mehr erraten läßt, / Die Wahrheit, so wie andre Schönen, / Nur desto reizender. Den andern Erdensöhnen / Gefällt doch wenigstens die schöne Stickerei, / Der reiche Stoff, der Farben Spiel und Leben, / Sie würden um den Putz die Dame selber geben, / Und was verlören sie dabei?“ (HA 4,322d).

Gegenüber der frühen antiken Vorstellung sind Wielands Grazien „leicht bekleidet“ (HRA IV/13,43)353. In vielen Werken nennt er es den „Schleier“354, er ist durchsichtig und undurchsichtig zugleich, er entwickelt und verhüllt in ein- und demselben Moment. Die Gegensätze zwischen dem Nackten und Angezogenen verflüchtigen sind355. Dabei bleibt es eine Frage des Geschmacks, des Mittelmaßes, wo das eine aufhört und das andere anfängt356.

352 Vgl. „Neuer Amadis“, wo Wieland die Nacktheit verurteilt. Der Ritter findet eine Dame „In einem Kostüm, wie ihm kein Fiebertraum /Sie närrischer zeigen könnte“ (HRA II/5, 69); vgl. auch „Idris und Zenide“, wo es eine „Schar von Nymphen“ ist, die sich „ohne Schleier zeigt“ (HRA VI/17, 177). 353 „Eine Schöne und eine Häßliche haben Beide gleich viel Ursache, gekleidet zu sein; Jene, um ihre Reizungen, Diese um ihre Mängel zu verbergen. Die Nacktheit der Schönen würde eine Weile Augenweide sein, aber bald sättigen und ermüden; mit Lumpen behangen und mit Schmutz bedeckt, würde sie ekelhaft werden. Venus selbst mußte von den Grazien angekleidet und geschmückt werden; - ein Bild, worein die Griechen eine große Wahrheit hüllten. Auch die kunstlosesten Töchter der rohen Natur fühlen dies und haben ihre Grazien. Wer nichts darnach fragt, ob er gefällt oder mißfällt, kann es halten, wie er will; aber, wer gefallen möchte und empfindlich darüber ist, wenn es ihm fehlschlägt, hat Unrecht, wenn er das verachtet, was eine nothwendige Bedingung zum Gefallen ist“ („Über die vergebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts“; H 31, 174). 354 Vgl. „Idris und Zenide“. „...verhüllt in einen seidnen Schleier“ (HRA VI/19, 250); „Diana und Endymion“ sollen allen Nymphen, „die sich verging(en), ... ihren Schleier fallen“ lassen und „alle Schleier fallen“ (HRA III/10, 133f.). Im „Don Sylvio“ ist die Nymphe „in einen siebenfachen Schleier von Leinwand eingewickelt“, aber der Prinz meint, „wenn dies Leinewand ist, so möchte ich wol die sehen, die sie gesponnen und gewebt haben! denn das feinste Spinnegewebe ist Segeltuch gegen dieses. Ich hätte geschworen, daß es Luft wäre!“ (HRA IV/12, 200). 355 Vgl. Otto Walzel: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit, in: Euphorion 3 (1932). 356 Vgl. „Idris und Zenide“, wo es den Damen an nichts mangelte, „um Grazien zu seyn“, / Als daß sie nicht ein wenig nackter waren...“ (HRA VI/19, 261). 223

Kausch hat das Bild vom Schleier, wie es Wieland gebraucht, erläutert. Dabei geht er vom dreifachen Ursprung dieses Motives aus und wendet es u. a. auf den sprachlichen Ausdruck Wielands, die „Kunst der Grazie“ an. Dennoch gelten die Ausführungen auch für den Schleier der Grazien als Bekleidung357. Dieser verhüllt nicht die Wahrheit der Natur, wie bei der Sage vom verschleierten Bild zu Sais, sondern entwickelt die Schönheit; er schmückt diese nicht, sondern verdeckt sie verräterisch. Wieland findet die Maler seiner Zeit geschmacklos, die damit begonnen haben, nicht nur die Wahrheit und die Schönheit, sondern auch die Grazien nackend darzustellen. Ja, wenn sie zugleich Genie genug hätten, „einen solchen Schein von Unschuld über sie auszugießen, daß man, so wie man sie erblickte, denken müßte, sie wüßten nicht daß sie nackend seyen“358. Nur vollkommene Unschuld kann den Grazienschleier überflüssig machen. Der Körper, besonders das Gesicht, wird zum „Schleier der himmlischen Seelenschönheit“359. „Da wir ‘polizierten’ Menschen aber nun einmal den Sündenfall hinter uns haben und nicht in den utopischen ètat naturel des Jean-Jacques Rousseau zurückkehren können, so müssen wir uns die Grazien verschleiert vorstellen und die ursprüngliche Unschuld durch Kunst zu ersetzen suchen“. Im Gegensatz zum Schleier von Sais ist der Grazienschleider dem Auge durchsichtig und der Wunsch, ihn zu lüften, ist kein geistiges, sondern ein sinnliches Verlangen. Der Reiz besteht in den Wirkungen auf den Menschen360. Für Wieland ist der Grazienschleier unentbehrlich. Ihm kommt es nicht auf die vollkommene Gestalt, sondern ihre Wirkung, ihr „Lebensathmendes“ an361. Die leichtfließende, fast durchsichtige Kleidung bewegt sich. Dadurch wird manchmal ein Körperteil sichtbar362, wie in Verbindung mit Musarions Busen noch zu zeigen sein wird, wo sich die leichten Gewänder verschieben. Auch Chloes Kleidung ist so angelegt, daß „jeder schnelle Schritt / Den schlanken Fuß bis an die feinsten Waden, / Und oft sogar ein Knie von Wachs entdeckt, / Das eilends wieder sich im dünnen Flor versteckt“ (HRA III/9,63). Manchmal genügt ein einzelner Körperteil363, ein Fuß, der „Anfang der zierlichsten Wade..., den... Amor, unter den

357 Karl-Heinz Kausch: Die Kunst der Grazie. Ein Beitrag zum Verständnis Wielands, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 2 (1958), S. 12-42. Vgl. zum Schleiermotiv die Erläuterungen von Karl-Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei Wieland. Untersuchungen über den Zusammenhang von Problemstellung und Formgebung, Diss. Göttingen 1954, S. 272ff. 358 C. M. Wielands Sämtliche Werke, Leipzig 1801, Bd. 36, S. 47f. 359 AA I/6, S. 125. 360 Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 30. 361 AA I/7, S. 371. 362 Vgl. „Nachlaß des Diogenes“: „Ueberdieß öffnete sich zuweilen in der Hitze der Erzählung der Mantel ein wenig, ... und, Ihr begreift, daß eine solche Kleinigkeit in gewissen Umständen keine Kleinigkeit ist“ (HRA IV/13, 49f.); vgl. „Ihr Mantel hatte sich, indem sie ihn um ihre Knie zusammenzog, oben ein wenig aufgethan“ (HRA IV/13, 55). 363 Schlaffer weist darauf hin, daß die französischen Blasoneurs des 16. Jahrhunderts, angeregt durch die Humanisten-Gedichte, auf Augen, Haare usw., aus dem Preis einzelner Körperteile einen eigenen Gedichttypus entwickelt haben; Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen 224

Falten vo(m)n .. Rocke verstecket... mit schlauem Lächeln entdecket“ (HRA II/4,12), um diese Reize auszulösen. Das dünne Gewebe, das einen solchen schönen Körperteil nur „halb entdeckt(em)“ (HRA VI/17,185) zeigt, steigert den sinnlichen Eindruck. Es sind bestimmte Körperteile, deren Schönheit durch die Haltung, die dünne Verschleierung, halbe oder ganze Enthüllung betont werden (Brust, Arm, Hand, Knie, Fuß): Manchmal erweckt ein sichtbarer Körperteil das Verlangen, die anderen verhüllten Teilschönheiten kennenzulernen, wie im „Don Sylvio“364. Aber nicht nur in Verbindung mit der Bekleidung reizt ein schöner Busen. Durch das Atmen oder Seufzen übertragen sich auch sanfte, unmerkliche Bewegungen auf die Brust und verschieben dadurch die leichten Hüllen. In anderen Werken „schlägt“, „steigt und fällt“ oder „bläht“ sich die Brust365. So wird Phanias mehr durch den schönen Busen als durch Musarions geistreiche Worte überzeugt. Er „denkt, indem durchs steigende Gewand / Die schöne Brust sich bläht, ob diese halbe Sfäre / Der Pythagorischen nicht vorzuziehen wäre?“ (HRA III/9, 34f.). Wie schön und reizend Musarions Busen ist, wird mehrmals betont. So scherzt „Amor nie um einen schönern Busen“ (HRA III/9,10) bzw. sie hat einen Busen, „den die Göttin von Cythere, / wenn eine Göttin nicht zum Neid zu vornehm wäre, / Beneiden könnt’“ (HRA III/9,88). Die eigentümliche Art des Reizes wird aber erst jenseits der Schönheit an ihren Wirkungen sichtbar. Die Vollkommenheit des Körpers ist keine conditio sine qua non, damit eine Frau begehrenswert erscheint366. Phanias wird noch einmal das Opfer von Musarions Busen, „... der, jugendlich gebläht, / Die Augen blendt und niemals stille steht...“. Zwar möchte Phanias auf die Worte der Freundin hören, aber er fand sich „von zwei verschiednen Kräften / Gezogen...“ (HRA III/9,88), er nennt sich anfangs „der neue Herkules“ (HRA III/9,6), aber er entscheidet sich, nicht, wie Herkules, zugunsten der Tugend. Ihm geht es wie Idris. „Ihr wollustschwerer Blick, ihr süßer Atem schürt / Die Flammen an, die schon in seinen Adern rinnen; / Wie Xenophons Arasp wird er zwei Seelen inne, / Bei deren ungelegnem Zwist / Die schöne Feindin siegt, und er verraten ist“ (HRA VI/17,32). Musarions Worte bringen ihn „zu sich selbst“, haben weniger Wirkung als ihre Reize. Hier „spielt“ der Dichter den Überlegenen, der weiß, was mehr wirkt. Er fragt rhetorisch, „Mußt er auch so starr und unverwandt / Auf die Gefahr ein lüstern Auge heften? / Natürlich muß der

Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971, S. 63; vgl. Anthologie: Die Blasons auf den weiblichen Körper, Berlin 1964. 364 Als der Prinz Biribinker einen kleinen Fuß sah, wurde er neugierig, auch „das Bein kennen zu lernen, dem ein so artiger Fuß zugehörte; denn ... (er) schloß, ... daß, wo man einen Fuß finde, man nach dem ordentlichen Lauf der Natur berechtigt sey, ein Bein zu erwarten. Er setzte also seine Beobachtungen fort und entdeckte endlich von Schönheit zu Schönheit in einer unsichtbaren Figur, die er vor sich hatte, ein junges Frauenzimmer..“ (HRA IV/12, 258f.) 365 HRA VI/17, 186, IV/13, 27f.; VI/17, 12. 366 Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 63. 225 stärkre Sinn / Des schwächern Eindrucks bald verdringen“ (HRA III/9,38). Auch Theophron wird durch die Wirkungen des reizenden Busens „überzeugt“. Auf seine philosophischen Betrachtungen geht Musarion nicht mit Worten ein; „Belustigt an dem hohen Schwung... / ... stellt sich die schlaue Schöne, / Als ob vor Hörenslust und vor Bewunderung / Ihr Busen sich in seinen Fesseln dehne“. Zwar weiß der Leser, daß Wielands Grazien bekleidet sind, der Busen verhüllt ist, er aber ahnt, daß die kleinste Bewegung das Gewand verschiebt - nicht zufällig, „Zum Unglück für den Mann, der lauter Wunder spricht, / Entsteht dadurch (und sie bemerkt es nicht) / Ich weiß nicht welche kleine Lücke, / Die seinen Flug auf einmal unterbricht; / Und wie zuletzt die Richtung seiner Blicke / Ihr sichtbar macht was ihn zerstreut“367. Hier setzt sie ihre nächsten Reize ein. Als Grazie sollte sie einen solchen „Fehler“ sofort beheben, das macht sie auf eine sehr kunstvolle Art. Indem sie damit beschäftigt scheint, „den Zufall zu verbessern / Hat sie die Ungeschicklichkeit / (Sofern’s nicht Bosheit war), das Uebel zu vergrößern“. Obwohl der „Umstand... an sich nur eine Kleinigkeit“ ist, wird doch an den Folgen sichtbar, „Daß er entscheidend war“. Jedenfalls bemerkt Musarion, als Theophron nicht weiter spricht, daß „Der Jünger des Pythagoras / Den wallenden Contour gewisser Sphären maß“. Aber als Grazie überschreitet sie nicht die Linie des Anstandes und weiß „mit guter Art den unbescheidnen Blicken, / Was, Ihresgleichen zu entzücken, / Die Charitinnen nicht mit eigner Hand / So schön gedreht, auf einmal zu entrücken, / Und alles sinkt sogleich in seinen alten Stand“ (HRA III/9,56f.).

Die Vorstellung der Bewegung kann auch am Haar zum Ausdruck kommen. Dieses bildet den beweglichen Rahmen des Gesichtes. Man kann sie aufbinden, wellen, aufgelöst fließen lassen oder in anmutige Zöpfe flechten. Manchmal übernehmen sie die Funktion der Kleidung und wirken als Schleier368. Ähnlich verhält es sich mit dem Mund, den Lippen. Kennzeichnend ist die große Ausdrucksfähigkeit und Beweglichkeit durch die Sprache, die Stimme. So ist es nicht der schöne Mund, der reizt, sondern die zauberische Bewegung des Mundes, das Lächeln369. Dieses setzt Musarion auch ein. Bedeutsam ist dabei die Verbindung von Sinnlichem und Geistigem. „Nie scherzte die Vernunft aus einem schönern Mund“ (HRA III/9,10). An anderer Stelle wird zugegeben, daß „der Weisheit Reitz aus einem schönen Mund“ (HRA III/9,88) unwiderstehlich ist. Auch als nur sinnliches Element wird Musarions

367 Vgl. dazu im „Neuen Amadis“ (HRA II/4, 35f.). 368 Vgl. der „Neue Amadis“ (HRA II/4, 201; 134; II/5, 72f.); vgl. „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 15). 369 Vgl. im „Anti-Ovid“, wo die ernste, strenge Weisheit durch ein erheiterndes Lächeln milde wird (HRA XIII/S2, 29). Vgl. dagegen die Beschreibung des Mundes, der Zähne bei Donna Mencia, „Ich verstehe..., rief sie und klappte etliche Zähne zusammen, die noch, wie alte Denkmäler, hier und da aus ihrem weiten Mund hervorragten...“ (HRA IV/11, 110). 226

Lachen eingesetzt. Als Phanias flieht, „ruft sie ihm lachend nach“. Früher habe Musarion dem Freund mit ihrem „Sirenenmund... zugelächelt“ und ihn „lächelnd leiden“ (HRA III/9,11ff.) gesehen, jetzt wurde Phanias u. a. „durch ein gefällig Lachen... bald zum Gott und bald zum Wurm“ gemacht. Dennoch glaubt er, „mich fängt kein Lächeln mehr“ (HRA III/9, 20f.). Da Phanias negative Erinnerungen mit diesen Reizen verbindet, versucht die Grazie es mit ihrer Stimme, ihrem Ton, ehe sie ihn im letzten Buch wieder „lächelnd plagen“ kann (HRA III/9,82).

Wenn man das Reizmotiv bei Wieland verfolgt, fällt auf, daß er je nach Situation die Tonlage ändert. Zu den beiden Philosophen spricht Musarion „mit gelass’nem Ton“, denn diese scheinen für solche Reize nicht empfänglich. Im nächsten Schritt wählt sie den „schalkhaft sanfte(n) Ton der Ironie“ (HRA III/9,47f.) für Kleanth, und bei Phanias bestreut sie alles, „was sie spricht und thut“ (HRA III/9,51) mit Grazie370. Mit der Zeit scheint der Freund die verschiedenen „Töne“ von Musarion zu kennen, denn als er bei ihm im Zimmer ist, hat sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie nicht gewillt sei, seinen sinnlichen Vergnügungen aus Mitleid nachzugeben. Phanias meint, „Dein Ton... beweist, / Wie wenig dieser Schein von Güte meinen Klagen / Mitleidiges Gefühl verheißt“ (HRA III/9,82). Deshalb verfehlt Phanias bei Musarion auch die Wirkung, als er „so weinerlich“ spricht. Es fällt schwer, „In diesem Ton jemahls gestimmt zu werden“ (HRA III/9,84)371. Erwähnenswert ist noch, daß von Musarions Wort bzw. Mund gesprochen wird, als sie Phanias gesteht, daß sie ihn liebt. Hier spielen nicht mehr nur ihre Reize eine Rolle, sondern auch ihre Seele. „Welch einen Strahl von unverhofftem Licht / Läßt dieses Wort in seine Seele fallen! / Er glaubte seinem Ohr den süßen Wechsel nicht“ (HRA III/9,85). Aber es sind nicht nur einzelne Reize, manchmal kommen mehrere zusammen, die dann eine verstärkte Wirkung ausüben. Dieses Mittel setzt Musarion u. a. bei Kleanth ein, als sie ihm zum erstenmal begegnet - und hat damit Erfolg. „Der Augenblick, worin Musarion / Ihn überfiel, ihr Blick, der schalkhaft sanfte Ton / der Ironie und (was noch zehnmal schlimmer / Als alles Andre war) ihr ungewohnter Schimmer, / Die Majestät der Liebeskönigin, / Das Wollustathmende, das eine Atmosphäre / Von Reiz und Lust, um sie zu machen schien, / Bestürmt auf einmal.../ .... den überraschten Sinn. / Er stottert ihr Entschuldigungen“ (HRA III/9,47f). Etwas Reizendes, Anziehendes hat auch der Schlaf der Grazie. Wahrscheinlich ist es die besondere Natürlichkeit, in der der Körper sich im Schlaf befindet und die leichten Bewegungen, die durch den Atem entstehen. In Musarion

370 Vgl. dazu „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 172f. und 271ff.). 227 kann Wieland diesen Reiz - angeblich - nicht beschreiben. Phanias kam „An einem Sommertag in eine Laube.../ Worin die Freundin schlief“. Wachend hatte sie ihn bisher ruhig gelassen, aber in diesem Aufzug reizte sie ihn. „Ich weiß nicht, was Dich rührte; / Der Schlaf nach einem Bad, wenn man allein sich meint, / Muß was Verschönerndes in Euren Augen haben“ (HRA III/9,17) vermutet Musarion372.

Eine besondere Rolle spielen die Augen, die Blicke. Sie haben ihren Reiz in der großen Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit. „Die Bewegung des Auges trägt vieles zu seiner Schönheit bey, weil sie immer ihm neue Richtungen gibt“373. Es sind nicht die schönen blauen oder braunen Augen, von denen eine Reizwirkung ausgeht, sondern der Blick. Bereits bei der Bedeutung der Augen in „Musarion“ läßt sich eine Verbindung zur Stilhöhe der Dichtung herstellen374. Bei allen Bewegungen sind der Blick und das Lächeln Hauptmotive des Reizes. Auch Musarion bedient sich in vielfältigen Variationen dieses Reizes, ihren Freund wiederzugewinnen. Die äußerlichen Reize eines Blickes scheinen ein unauffälliges, aber wirkungsvolles Mittel für eine Grazie zu sein, ihre Ziele zu erreichen; wesentlich ist, daß das, was hier geschieht, nicht in Worten erscheint. Diese können abstoßen, verletzen. Das Unhörbare, die fast unmerklichen Bewegungen der Augen, reizen. „So etwa sprach der Blick, womit Musarion / Den weisen Phanias aus seiner Fassung brachte“ (HRA III/9,30f.). Die stumme Sprache der Augen verrät etwas von der unmerklichen Begegnung zweier Menschen. In „Musarion“ ist es nur „eine Kleinigkeit“, die Phanias „plötzlich in die Unterwelt / Zurückezog. - „ (HRA III/9,29). Wie im „Don Sylvio“ genügt ein einziger Blick, einen Schwärmer wieder auf die Erde zurückzuholen (HRA IV/11,324f.) 375. Der weise Phanias, „der so kühn sich zum Olymp erhebt“ von Musarion mit einem einzigen Blick

371 Vgl. auch „Fängt unser Held sehr kläglich an zu krähen“ (HRA III/9, 86), als Musarion ihn von seinen sinnlichen Begierden abhalten will. 372 Auch in „Idris und Zenide“ spricht Wieland von „allen Reitzungen des Mittagsschlummers“. Doch findet der Leser hier einige Andeutungen, was den Betrachter wohl reizen könnte; die schöne Lila, die „eingeschlafne Venus, lag, auf Polster hingegossen, .. / Vom silbernen Gewölk des feinsten Flors umflassen, / Die Locken aufgelöst, den Busen halb entdeckt, / ... die schöne Stirn im weißen Arm versteckt...“. Und einige Zeilen weiter heißt es, „Ein süßes Lächeln floß um ihren Rosenmund; / Ihr Busen schien den Liebesgott zu wiegen; Und jede Muskel tat durch sanftes Schwellen kund, / Es müsse sie der schönste Traum vergnügen“ (HRA VI/17, 170f.). 373 : Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen, übers. Christian Garve, Riga 1773, Teil III, Abschn. XX, S. 195. 374 In der hohen petrarkistischen Dichtung sind es die Augen der Frau, von denen Schönheit und Zwang ausgehen und die einen festen Bestandteil des Schönheitspreises ausmachten; Wieland dagegen gebraucht den Augentopos im antiken Sinn seltener und entwickelt statt dessen „das handlungstreibende Moment des Auges, den visus als Erblicken und Anschauen“; Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 79. Während man bei Petrarca bei den Augen der Geliebten in bewundernder Distanz verharrte, reizt bei Wieland das Auge, der Blick; nach Schlaffer ist das eine „typische Wendung vom passiven zum aktiven Verhalten“, Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 79. 375 Vgl. das „Urteil des Paris“ (HRA III/10, 176f.); vgl. auch „Neue Amadis“ (HRA II/4, 81f.). 228 herabgeschossen (HRA III/9,30). Allerdings erreicht nicht jeder Blick diese Wirkung376; deshalb erläutert der Dichter diese „reizenden“ Blicke der Grazie; die das Herz treffen und mit Amors Pfeilspitzen verglichen werden. „Doch freylich war’s ein Blick, nur jenem zu vergleichen, / Den Koypel seinem Amor gab; / Der, euer Herz gewisser zu beschleichen, / Euch schalkhaft warnt, als spräch’ er: Seht ihr mich? / Ihr denkt, ich sey ein Kind voll süßer Unschuld, ich? / ... Wenn euch zu rathen ist, / So flieht!“ (HRA III/9,30). Ähnlich wirkungsvolle Blicke hat Wieland vielfach beschrieben 377. Wer einmal auf die Rolle der stummen Sprache, des wortlosen Blickes, des Tons, Schweigens oder Seufzens bei Wieland aufmerksam geworden ist, der erkennt, was es bedeutet, wenn es heißt, „Bey deiner Augen Macht“ (HRA III/9, 20). Schon in „Araspes und Panthea“ spricht Wieland von der „Macht der Blicke... (der Zauberin) Panthea (HRA V/16,275). Phanias war schon in Athen von Musarions Blick „entzückt“ (HRA III/9,14). Er mußte also gewarnt sein. Dennoch zeigt sich schnell, „daß ihre Reize noch / Nicht alle Macht auf ihn verloren hatten. / Der ausgetriebne Amor kroch, / So leise wie auf Blumenspitzen, / Aus ihren Augen in sein Herz“ (HRA III/9,33f.)378. Zwar hat Musarion damit bei Phanias erste Eindrücke hinterlassen, und sie sieht ihn auch weiterhin „mit solchen Blicken an, / Die er berechtigt war, so günstig auszulegen, / Als ihm gefiel“, aber der Freund ist vor „Liebe blöd“. Er sah in „ihrem Blick Sonst jeden Reiz, nur nicht sein nahes Glück“ (HRA III/9,35). Später ändert Musarion die Art ihrer Blicke. Sie braucht Phanias damit nicht mehr zu reizen. Da sie sich in Gesellschaft befinden, deutet sie ihm mit Blicken ihre Zuneigung an. Es spricht nunmehr die Seele aus ihren Augen. Die Bedeutung der Augen als Sitz oder Ansprechpunkt für seelisches Leben ist bekannt379. Es ist mehr das stumme Einverständnis zwischen Liebenden, die in Gegenwart anderer mit Hilfe der Augen sich „unterhalten“. Musarion bemerkt, daß Phanias seine Liebe vor den beiden Philosophen nicht eingestehen möchte und sich durch deren Anwesenheit gestört fühlt. Um seinen Unmut zu entkräften, schickt sie ihm, während sie anscheinend zwanglos mit den anderen plaudert, „dann und wann ein(en) Blick voll Zärtlichkeit, / Den sie, als ob sie sich vergäß’, erst auf ihn heftet, / Dann seitwärts glitschen läßt...“. Phanias hört der Unterhaltung nicht zu, er sog indessen „ein liebliches Vergessen / Von Allem, was sein steifer Pädagog /

376 Im „Neuen Amadis“ entnervt ein „frostiger Blick... die kühnste Phantasie“ und bei Kolifischon „flattern“ (stets) ihre Blicke“ (HRA II/4, 8f.). In „Idris und Zenide“ heißt es, „Wo Augen ohne Scham in offne Arme winken, / Läßt die Begierde stracks die Flügel sinken“ (HRA VI/17, 30). 377 Vgl. „Neue Amadis“ (HRA II/4, 141f.). 378 Nach einem Topos, der den antiken Philosophen und Dichtern gemein war, benützt Amor die Augenstrahlen als Weg zum Herzen der Menschen. „Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis“ beginnt Propers sein Buch „Cynthia“; zit. nach Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 79. Bei Wieland findet man diesen Topos wieder. 229

Ihm jemals vorgeprählt, aus schönen Augen“ (HRA III/9,51f.). Während Musarion gleichzeitig die beiden Philosophen mit ihren Blicken reizt, wie noch zu erläutern sein wird, ändert sie die Art ihrer Blicke zu Phanias nicht mehr. Einmal „winkt (sie) ihrem Freund ein Pythagor’sches Schweigen“ (HRA III/9,64) mit den Augen zu, während die anderen sich von Chloe bedienen lassen; ein anderes Mal sieht Phanias sein Glück, „das ihm der Mund verspricht, In ihren schönen Augen wallen“ (HRA III/9,85), und als er zum Schluß sie an sein Herz drückt, „sucht (er) in ihren Blicken, / Ob sie sein Klopfen fühlt“. Sie muß die stumme Frage verstanden haben, denn „Ein sanftes Wiederdrücken / Beweist es ihm“ (HRA III/9,97). Hier wird der Unterschied zwischen Musarion und Chloe deutlich. An ihr werden nur „reizende“ Blicke beschrieben380. Aber während Musarion inzwischen zu Phanias mit anderen Augen spricht, überfällt sie Kleanth noch mit einem reizenden Blick. Und als sie die beiden Philosophen bei einem „wilden Stiergefechte“ überrascht, rettet sie die Situation „mit einem Blick voll junger Amoretten / Und Grazien, der stracks an unsichtbaren Ketten / Kleanths Tollheit legt, (und) Theophrons Rippen heilt“. Es ist also kein Wunder, daß später beim Gespräch „Ihr lachend Aug... selbst vor der Stoa Gnade (fand), / Und man vergab ihr, daß sie so reizend war“ (HRA III/9,48f.).

Die körperlichen Vorzüge von Musarion finden ihre Entsprechung in der Dienerin Chloe. Sie spielt eine untergeordnete Rolle und verkörpert im Gegensatz zu Musarion das sinnliche Element. Wieland teilt dieser Schäferin die Funktion zu, Theophron „vom körperlichen Schönen / Geblendet, in den Schlamm der Sinnlichkeit“ zu stürzen, wie er in seiner Philosophie vorher verächtlich von den „andern Erdensöhne(n) (HRA III/9,60f.) gesprochen hat. Theophrons Amor hat Ähnlichkeit mit dem, den Theages für den richtigen hält. „Und Amor, nicht der kleine Bösewicht, / Den Koypel mahlt, ein andrer von Ideen / Wie der zu Gnid, von Grazien umschwebt, / Ein Amor, der vom Haupt bis zu den Zehen / Voll Augen ist und nur vom Anschaun lebt, / Der Seele Führer wird, sie in die Wolken hebt, / Und wenn er sie zuvor ... wohl gereinigt und gefeget, / Sie stufenweise durch die gestirnten Pfade / Bis in den Schoß des höchsten Schönen trägt“ (HRA III/9,59). Aber während Aspasia Theages nur auf die Existenz zweier Amors hinweist, lernt Theophron ihn in Gestalt der Chloe kennen. Er wird von seiner Philosophie geheilt. „Er fand, er sei nicht klug, und lernte Bohnen essen“

379 Heinz Schukart: Gestaltungen des Frauenbildes in der deutschen Lyrik vom bis zur Gegenwart, Diss. Bonn 1933, S. 9. Vgl. dazu im „Neuen Amadis“ (HRA II/4, 110ff.); vgl. auch im „Urteil des Paris“ (HRA III/10, 181f.); vgl. auch „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 276f.). 380 Chloe war „... auserkoren, /Daß unser Theosoph (beym ersten Blick verloren / Im Wiederschein, der ihm entgegenstrahlt) / Die Dürfte nicht empfindet...“ (HRA III/9, 63); und an anderer Stelle antwortet sie Theo- phrons buhlenden Blicken „... so feyerlich... / Mit so fanatischem... Entzücken“ (HRA III/9, 66). 230

(HRA III/9,100). Es sind nur wenige sinnliche Reize nötig, dem Pythagoräer zu zeigen, daß er die „große Kunst“ nicht beherrscht, das Schöne „vom Stoff abzuschneiden“ (HRA III/9,60). Er merkt, daß „ein weiser Mann“ auch nur „von Fleisch und Blut“ (HRA III/9, 67) sei. Es ist einmal der dünne Flor, der Chloens „Busen leicht verhüllt“ (HRA III/9,63)381. Nicht Theophrons Gedanken, sondern seine Sinne geben die wahren menschlichen Interessen kund, Zum anderen hielt sie, „des Weisen Lüsternheit / Durch listige Geschäftigkeit... anzufachen“, d. h. ihre Beweglichkeit weckt die Begierden des Philosophen. Sie ist stets „um ihn her, und macht sich tausend Sachen / Mit ihm zu tun, / in immer hellerm Glanz / Die Reizungen ihm vorzuspielen“ (HRA III/9,65f.). Die Beziehungen zwischen Chloe und dem Pythagoräer spielen sich ausschließlich auf der sinnlichen Ebene ab382, vor allem deshalb, um die von Theophron vertretenen übersinnlichen pythagoräischen Grundsätze mit dem wirklichen Leben zu kontrastieren. Bei dieser Nebenhandlung hat Wieland auf Elemente der traditionellen erotischen Literatur zurückgegriffen. Das Paar Musarion/Phanias geht darüber hinaus. Sie begnügen sich nicht mit der „isolierten Erotik (die dann leicht aufs Sexuelle reduzierbar wäre: als ‘Leib’, als ‘Fleisch’“. Chloe widerlegt Theophron nur durch den sinnlichen Genuß, den er begehrt und sie gewährt. Musarion verbindet den sinnlichen Reiz, der auf Phanias wirkt, „mit der Aufklärung über diese von der Sinnlichkeit abhängige und zu ihrer Kultivierung berufene menschliche Natur“383.

Im folgenden wird noch auf einen Aspekt hingewiesen, der unlösbar mit dem Reiz und der Anmut verbunden ist: die Wirkung! Während die Schönheit ein Distanzgefühl impliziert und in „musealer Vereinsamung leben“ kann, braucht die Schönheit in Bewegung einen Betrachter, der diese Reize aufnimmt. Auch die Wirkungen, die die körperliche Schönheit hervorruft, beschreibt Wieland. „Die entscheidenden Höhepunkte aller Schönheitsschilderungen bei unserem Dichter (bilden) immer Wirkungsschilderungen“384. Der Leser erfährt, welche Wirkungen die Reize auf die Helden ausüben. Da Aspasia keine äußeren Reize zu haben schien, konnte sie auf den männlichen Betrachter, den Reizempfänger, verzichten. Musarion möchte durch ihr Äußeres auf Menschen wirken, „die als feinsinnige Kenner auf die kleinsten Reize reagieren385, aber sie möchte sehen, welche

381 Schlaffer meint, ihr Busen sei „Statthalter der Wirklichkeit“; Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 196. 382 Das wird auch daran deutlich, daß Chloe eine „lose Sklavin“ bzw. eine „Verführerin“ genannt wird; vgl. HRA III/9, 65 und 91f.. Vgl. auch „Erdenglück“ (HRA III/9, 306ff.), das 1766/68 erschien und überschrieben ist „An Chloe“. In diesem Werk wird auch ihr Charakter deutlich. 383 Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 195. 384 Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 62 und 55. 385 Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 58. 231

Wirkungen jene haben. Auch Danae möchte nicht von einem Liebhaber hören, daß sie reizend ist. „Wir wollen es aus den Wirkungen sehen, die wir auf ihn machen. Je weiser er ist, desto schmeichelnder ist es für unsre Eitelkeit, wenn wir ihn aus seiner Fassung setzen können“ (HRA I/1, 187). Wie Wielands Grazien wirken möchten, so war auch er bedacht, beim Leser durch seine Werke zu wirken. Anhand von Musarions Augen wird deutlich, wie von diesen nicht nur Reize ausgehen, sondern auch die Wirkungen vom Betrachter, vom Gegenüber, wahrgenommen werden386 bzw. wie Musarion auf diese Wirkungen wieder reagiert. Mit Ausnahme von Diana in „Diana und Endymion“387 sind es meistens männliche Helden, die durch die äußere Schönheit einer Frau gereizt werden. Auch Phanias ist Musarions Reizen erlegen. „Er meint, er athme nur, und seufzt, (und) starrt unverwandt / ... sie an“ (HRA III/9,34). Zwar meinen Kleanth und Theophron aufgrund ihrer Philosophie, keinem sinnlichen Reiz zu erliegen, aber anhand ihrer Reaktionen erfährt der Leser, daß Musarions und Chloes Reize nicht ohne Wirkung geblieben sind. Als jene Kleanth mit einem Blick überfiel, wird er verlegen, stottert nur noch und „Zupft sich am Bart, zieht stets den Mantel enger an“. Und als Musarion die beiden Philosophen zu einem Gespräch über ihre Grundsätze bittet, verschlingt das weise Paar mit Ohren und mit Augen, „was diese Muse spricht“. Musarion läßt die beiden Philosophen zunächst berichten, und sie scheint keine Reize auszusenden. So schwärmt Theophron „Vom ersten wesentlichen Schönen“ und blickt dabei ständig auf Musarion (HRA III/9,54); aber es kommen keine Reaktionen. Erst als sich „zufällig“ Musarions Busen leicht enthüllt und sie das Übel noch vergrößert, muß Theophron das bemerkt haben, denn plötzlich folgt ein tiefes Schweigen und auch Kleanth vergißt „die Lust zum Zank“ (HRA III/9,57). Ähnlich reagieren die beiden Philosophen beim Eintritt von Chloe (vgl. HRA III/9,62ff.). Obwohl die drei männlichen Helden noch auf eine Reihe weiblicher Reize reagieren, mögen diese Beispiele genügen388. Da es in der Regel sinnliche Reize einer Grazie sind, die auf die männlichen Helden wirken, ist es nicht leicht, sich ihnen zu entziehen, „die Augen wegzudrehen (HRA VI/17,217). Da helfen auch die Warnungen des Dichters nicht. „Hefte, / O hefte nicht so lang‘ dein kühnes Augenpaar / Auf die zu reizende Gefahr!“ (HRA VI/17,263). In anderen Werken empfiehlt der Autor, die Augen zu schließen oder davonzulaufen389. Aber nicht nur Musarions Augen, Blicke „sprechen“ und reizen Phanias

386 Auch hierin läßt sich das Bewegungsmoment nachweisen. Zunächst reizt eine Frau mit ihrem Äußeren, der Betrachter nimmt diese mit den Augen wahr, und an seinen Reaktionen erkennt die Frau, wie ihre Reize gewirkt haben - und kann wiederum entsprechend handeln. 387 Vgl. HRA III/10, 145f. und 139f. 388 Vgl. HRA III/9, 65f. und 58f. 389 Vgl. „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 248ff.); „Nachlaß des Diogenes“ (HRA IV/13, 18f.); „Don Sylvio“ (HRA IV/14, 75f.). 232 und die beiden anderen Philosophen, sie sieht, daß ihre Reize nicht ohne Wirkung geblieben sind. „Die Schöne wurde der Gefahr / Worin der Ruhm der Stoa schwebte, / Den Kampf in seiner Brust und ihren Sieg gewahr“ (HRA III/9,34)390. Aber Musarion „stellte sich sie sehe nichts, und lachte / Nur innerlich“ (HRA III/9,31). Noch will Phanias von sich selbst nicht zugeben, daß Musarion auch durch ihre Reize ihn überzeugt hat. Dennoch sah sie, „wie nach und nach sein Trübsinn sich verlor, / Und wie beredt, wie stark sein Auge sagte, / Was er sich selbst kaum zu gestehen wagte; / Allein sie fand für gut (und that sehr klug daran); / Ihm, was sie sah, und ihrer Beider Seelen / Geheime Sympathie zur Zeit noch zu verhehlen“ (HRA III/9,34f.). Mit den Augen können Wielands Frauengestalten reizen und gleichzeitig erkennen, wie diese und andere Teilschönheiten auf ihre männlichen Partner wirken. Dabei ist es des öfteren ratsam, letzteres zu verheimlichen.

Wielands Grazienbild zur Zeit von „Musarion“ und „Die Grazien“ wird besonders deutlich, wenn man sich die Beschreibung einiger „Antigrazien“ (HRA IV/11,6f.) ansieht, die übertrieben häßlich geschildert werden. In mehreren Biberacher Dichtungen hat er solche Frauengestalten gezeichnet. Allerdings macht Wieland bei der Beschreibung der häßlichen weiblichen Figuren Unterschiede, die im Vergleich zwischen den Damen im „Don Sylvio“ und im „Neuen Amadis“ deutlich werden. Da im letzteren die weiblichen Figuren eine schöne Seele haben, wird ihre vorübergehende Häßlichkeit anders dargestellt391 als bei den Antigrazien im „Don Sylvio“. Bei diesen spiegelt sich in ihrer äußeren Häßlichkeit auch ihr Inneres wider. Sie haben keinen Geschmack, sind keine „schönen Seelen“. Von der häßlichen Donna Mergelina heißt es deshalb, daß ihr Äußeres von soviel Putz erhöht war, der für ihren Geschmack sprach und daß man sie nur anzusehen brauche, „um die ungemeine Harmonie des Leibes und der Seele in ihr zu bewundern“. Wieland karikiert an diesen Antigrazien alle Details, die sonst bei den Grazien anmutig und reizend sind. Er verzerrt die Figuren ins Groteske. Alles an ihnen ist nicht nur häßlich, sondern das Kleine, Zierliche, Harmonische ist groß, unproportional und die Bewegungen wirken plump (HRA IV/11,100ff.).Die Beschreibung von Donna Mergelina aus dem „Don Sylvio“ mag das verdeutlichen: „Sie war vollkommen zwei Ellen und vier Daumen hoch, von einer Schulter zur andern beinahe so breit und überhaupt so regelmäßig gebaut, daß ihr Kopf ungefähr den viertel Theil ihrer Höhe ausmachte, Hals, Brust, und Unterleib aber sich so unmerklich in einander verloren, daß man unmöglich sehen könnte, wo eines anfing und das andere aufhörte. Ungeachtet der... Länge

390Vgl. „Schon zeigte sich, daß ihre Reize noch / Nicht alle Macht auf ihn verloren hatten“ (HRA III/9, 33). 233 ihres Kinns stellte ihr Gesicht... ein ziemlich regelmäßiges Viereck vor; denn ihre Stirne war gerade um so viel zu niedrig, als ihr Kinn zu lang war. Ihre Augen waren so rund und ragten... weit aus dem Kopf hervor... Ihr Mund war von... so geräumiger Weise, daß man den Schaumlöffel ohne ... Gefahr ihrer breiten Zähne darin hätte hin und wieder schieben können; und wenn ihre Lippen jemals von einem Poeten zum Sitz der Grazien gemacht worden sind, so müssen wir gestehen, daß es ein Canapee war, worauf diese Göttinnen Platz genug gehabt hätten, sich im Nothfall noch mit etlichen jungen Liebesgöttern herum zu tummeln. Ihre Nase war... etwas zu klein; ... allein das war auch das Einzige an ihrer... Person, woran sich die Natur zu karg bewiesen hatte. Zum Ersatz hatte sie .... einen überflüssig hohen Rücken, sehr lange Ohren und ... breite Hände und Füße, ... Aber was... alle diese Schönheiten verdunkelte(n) ..., war ein Busen... von ... so unmäßigem(n) Umfange, daß er für eine ... Venus sehr füglich das Modell zu einem ganz andern Theil hätte abgeben können. Sie schien sich auf diese Vollkommenheit so viel einzubilden, daß sie dieselbe mit einer Freigiebigkeit auslegte, welche von strengen Sittenlehrern vielleicht ärgerlich hätte genannt werden können, wenn sie weniger widerlich gewesen wäre“ (HRA IV/11,97ff.). Zu diesem abschreckenden Äußeren paßt ihre übertriebene Sinnlichkeit. Mergelina hat für Wieland nur symbolische Bedeutung. Mit der Beschreibung dieser Gestalt läßt sich ein grundlegender Wesenszug des Dichters erkennen: die Abscheu vor dem Häßlichen, Geschmacklosen. Zwar sind die Kontrastwirkungen mit den Grazien ein beliebtes Mittel, aber so drastisch und oft gebraucht wie im „Don Sylvio“ sind sie auffällig. Sie sind aus dem parodistischen Ton des Werkes zu erklären. Bezeichnend sind auch die Farben, die er für die häßlichen Figuren wählt. In „Theages“ galt die „holdselige Röthe“ als Farbe der Anmut. Im „Don Sylvio“ hat die Antigrazie „weder blonde Haare..., noch braune..., noch goldfarbne...“. Bei dieser waren sie so gemischt, „daß sie einem Vandyck zu schaffen gegeben hätten“. Ihre Haare waren „feuerfarbig... gradlinig und kurz“ und ihre Augen waren „hellgrau, Stirne und Wangen olivenfarbig und... mit braunroth getuscht; ihr Mund ... spielte ein wenig auf Meergrün und verlor durch die Schwärze ihrer... Zähne nicht das Mindeste von ihrer Anmuth...“. Ähnlich geschmacklos und kontrastreich ist die Farbe der Kleidung. Der Rock bestand aus „hochgelbem Atlas, mit Silber bestickt“ und sie trug „ ein Corset von grünem Taffet, himmelblaue Bänder, eine feuerfarbne Feder, carmesinrothe Schuhe mit Gold und rosenfarbne Strümpfe mit silbernen Zwickeln“ (HRA IV/11,101f.)392. Ebenso übersteigert

391 Vgl. im „Neuen Amadis“ die Beschreibung der eitlen Blaffardine (HRA II/4, 141f ) und der Olinde (HRA II/5, 129f.) 392 Vgl. dagegen Wielands Beschreibung der Wirkung der Farben auf das menschliche Auge im „Aristipp“ (HRA XI/34, 295f.). 234 positiv werden die anmutigen Figuren im „Don Sylvio“ geschildert (vgl. HRA IV/12,81f.,330f.), so daß man bereits aus der Beschreibung der Figuren schließen kann, daß „Ein schöner Leib... auch eine schöne Seele“ verspricht (HRA VI/17,23), wie Wieland es in „Idris und Zenide“ formuliert. Die beschriebene Geschmacklosigkeit bei Wielands Antigrazien hat einen tieferen Sinn. Er sieht den Geschmack als ein eigenwertiges seelisches Grundvermögen an, „als den Gefährten der Tugend und sieht in ihm einen wichtigen Faktor zur seelischen Vervollkommnung“. Der Dichter versucht zu zeigen, wie die Geschmacksbildung veredelnd auf den Menschen wirkt, „wie sie feinere Freuden schenke(n) als der Pöbel sie kenne und wie sie zu weisem Maßhalten erziehe“393.

Das freie, naturhaft ungezwungene Verhältnis des Menschen zur Sinnlichkeit in der Renaissance war im Zuge der Reformation und Gegenreformation verlorengegangen. Damit war auch eine thematische Trennung von Geistes- und Sinnenwelt verbunden, mit gleichzeitiger Überbetonung der ersteren. Im Zuge der Aufklärung wurde die Sinnlichkeit wieder betont, teils einseitig, teils „mit dem klassischen Ziel der Totalität des Menschenbildes“394. Die Sinnlichkeit des Menschen sollte nicht mehr zugunsten des Geistes, der Seele unterdrückt werden395, Nur jedes Übermaß sei vom Übel. Diese Position vertreten auch Wieland und seine Grazien in den Jahren nach 1760396. Am 10. 7. 1766 schreibt er an Zimmermann, „ich gestehe Ihnen, daß ich mich schon lange in die ... Moralphilosophie nicht mehr finden kann, aber davon bin ich sehr überzeugt, daß die Priors und Hamiltons... liebenswürdigere Leute waren, als die feyerlichen, stoischen moralischen Sauertöpfe unserer Zeit... Die Erleuchtung unserer Zeiten hat gewisse Gegenden noch nicht betroffen“397.

Aber nicht nur die männlichen Helden werden desillusioniert und zu lebensfrohen natürlichen Menschen, auch mit den Grazien ist er nachsichtig und läßt ihre menschlichen Schwächen gelten. Er nimmt nicht mehr eine strenge Einteilung der Frau vor in tugendhafte Engel und

393 Karl Hoppe: Der junge Wieland, Leipzig 1930, S. 63. 394 Nach Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, 117-122. Er betont, das Verhältnis des barocken Menschen zur Liebe, zum Körper, ist das eines schlechten Gewissens. Die körperliche Liebe wird religiös zur Sünde, ethisch zum Laster. Die Barockdichtung flüchtet sich in die rein geistige Welt der Seelenliebe, der „amour pure“, in der die Tugend regiert und über das Laster aller körperlichen Begierden erhaben ist. 395 Man argumentierte, die Sinnlichkeit sei ebenso eine Gabe Gottes, der Natur, wie Verstand, Vernunft oder Geist und kann also nicht apriori schlecht sein; sie sei etwas Natürliches, darum nützlich und gut; nach Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 118. 396 Mit Spott und Ironie kämpfte Wieland nicht nur in „Musarion“ gegen Stoiker, Platoniker und Pythagoräer, gegen die Schwärmer, die sich in überheblicher Weise über die sinnliche Liebe hinwegzusetzen glauben. Er führte sie (z. B. Theophron, Kleanth und Phanias) in Situationen, in denen sie die Unmöglichkeit ihrer Grundsätze oder Schwärmerei einsetzen mußten. 397 AB II, 266. 235 lasterhafte Dirnen. Gegenüber Richardsons weiblichen Tugendidealen versucht Wieland u. a. in „Musarion“ eine „Ehrenrettung der Sinnlichkeit“398. Jedes Übermaß ist schädlich. Es zeugt von Geschmack, wenn der sinnliche Genuß verfeinert wird. Damit hängt zusammen, daß in der Liebe die Leidenschaft keinen Platz hat. Wieland warnt in „Musarion“, sich keinen Augenblick vom Übermaß der Gefühle berauschen zu lassen (HRA III/9,17f.,86f.). Danach bedeutet wahre Kunst eine Verschönerung gegenüber der bloßen Natur, ja sie ist ein Teil der Natur selbst, da sie als natürliche Anlage im Menschen vorhanden ist. Die wahre Kunst ordnet „die zerstreuten Schätze und Schönheiten der Natur...“, sie überfeilt „den rohen Stoff der Natur“ und bildet, „was diese gleichsam ohne Form gelassen hat“, sie „schleift, polirt... oder vollendet, was die Natur roh, wild, unreif und mangelhaft hervorgebracht hat“ (HRA V/14,56f.). Der Zusammenhang von Kunst und Natur wird auf den sinnlichen Teil des Menschen ausgedehnt. Die Kunst soll zur Verfeinerung, Kultivierung der körperlichen Triebe führen. Auch diese Funktion übernimmt bei Wieland die Grazie Musarion, während ihre Dienerin den „Naturmenschen“ vertritt, der keine andere Funktion hat, als das man sich „an Chloens Brust vom Nichtsthun“ ausruhen kann (HRA V/14,75f.).

Das Rohe, Drastische ist nach den „Komischen Erzählungen“ stofflich verschwunden. Die Liebe wird in „Musarion“ „zum geistvollen Spiel“399, zur maßvollen Mitte zwischen den Extremen. Wieland vertritt das Maß. Die von ihm als gleichberechtigt anerkannte Sinnlichkeit vermeidet alles Anstößige, sein Tugendideal jede Strenge. Es gilt, das als Lebenskunst anzuerkennen, „was Natur und Schicksal uns gewährt“ (HRA III/9,99). Hier wird angedeutet, daß es unter diesem Aspekt unberechtigt wäre, Wieland wegen seiner sinnlichen Schilderungen als frivolen Dichter abzustempeln in der Annahme, damit den Kern seiner Werke, seines Wesens zu treffen. Um die natürlichen Bedürfnisse, die vorher durch Schwärmerei oder übertriebene Moral unterdrückt wurden, wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen, kann der Reiz des Sinnlichen nicht deutlich genug gezeigt werden. Aber in den meisten Werken bleibt es nicht beim Sieg der sinnlichen Liebe, „beim Schwelgen im Frivolen“400, wie „Musarion“ zeigt. Genauso oberflächlich wäre es, sie in das Bild einer nur verführerischen Frau einzuordnen. Sie ist zwar reizend und verführerisch, aber darauf beschränkt sie sich nicht. Sie will zwar Phanias’ Aufmerksamkeit auf sich lenken und

398 Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 124. 399 Vgl. Wieland: „Spielen ist die erste und einzige Beschäftigung unserer Kindheit und bleibt uns die angenehmste unser ganzes Leben durch... Nehmet vom Leben weg, was erzwungener Dienst der eisernen Nothwendigkeit ist, was ist in allem übrigen nicht Spiel?“ (AA I/14, 316). 400 Regina Schindler-Hürlimann. Wielands Menschenbild; vgl. Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 62. 236 allmählich in Sinnlichkeit verwandeln, aber sie verlangt nach einer reinen und beständigen Liebe, die weit genug ist, den Freuden der Sinne und der Tugend Raum zu geben401.

Wie sich die Liebe von Wielands Jugenddichtung zu „Musarion“ gewandelt hat, wird am Schluß von „Theages“ deutlich, den der Dichter bemerkenswerter Weise später gestrichen hat. „Wie ich sehe, wird das Unrecht, das Ovid der Liebe angethan, durch unsern Theages aufs nachdrücklichste gerächet werden. Die Kunst der Liebe, in welcher dieser Römische Libertin ein Meister zu seyn vorgiebt, ist eigentlich nichts als eine Kunst durch tausend schlaue Streiche das schönste und beste unter allen sichtbaren Geschöpfen zu degradieren, und den edeln Instinct, den der Schöpfer der Natur zur Erhaltung des menschlichen Geschlechts in uns gelegt hat, zu einer herrschenden blinden Leidenschaft zu machen, die den natürlichen Zweck aus den Augen setzt, und dasjenige zum Zweck macht, was nur ein Mittel seyn soll. ---“402. Da dieser Zusatz dem ungenannten Erzähler in den Mund gelegt wird, ist anzunehmen, daß auch Wieland dieser Ansicht ist. Musarion aber fühlt sich durchaus nicht „degradiert“, läßt auch den sinnlichen Teil des Menschen nicht zu einer „blinden Leidenschaft“ entarten. Wenn Aspasia selbst diese Worte nicht sagt, so kann der Leser aber aus ihrer Charakterisierung schließen, daß sie sich damit identifizieren könnten. Darin unterscheiden sich im wesentlichen die Grazien seiner Jugend von denen der Biberacher Jahre.

5.2.5 Charakter und Temperament von Musarion

Wenn bisher ausführlich Musarions Äußeres und ihre Reize beschrieben wurden, darf daraus nicht geschlossen werden, daß sich hierin die wesentlichen Unterschiede zu Aspasia erschöpfen. Damit würde man weder der Figur Musarions noch Wielands Grazienvorstellungen gerecht. Festzuhalten bleibt, daß die sinnlichen Schilderungen aus der Biberacher Zeit nicht mehr wegzudenken sind, ja in manchen Dichtungen, wie z. B. den „Komischen Erzählungen“, eine zentrale Stelle einnehmen. In der Jugenddichtung hatte Wieland diese Seite in den Hintergrund gedrängt. Der Titelheldin der Verserzählung kommt auch eine seelisch-ethische Bedeutung zu403, die Wieland mit seinen Grazienvorstellungen

401 Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 73; er weist auf ähnlich positive Eigenschaften bei einer Reihe anderer Frauengestalten Wielands hin. 402 Sammlung einiger Prosaischer Schriften von C. M. Wieland, Erster Theil, Zürich 1758, S. 203. 403 Vgl. Peter Michelsen, Lawrence Sterne, S. 179; er betont, bei Wieland spiele das ethische Problem eine große Rolle. Angesichts des Widerstreits zwischen Vernunft und Gefühl sei es kein Zufall, daß es vor allem das Feld der Ethik sei, auf dem Wielands Helden die Widersprüche der Aufklärung austragen. Vgl. G. Sauder: 237 verbindet404. Wielands Tugendideal bestand trotz der sinnlichen Schilderungen nach seiner Wandlung darin, daß sich die Sinnlichkeit den Gesetzen des Sittlichen unterzuordnen hatte405. Musarion vertritt diese Grazienphilosophie. Sie kann die Weisheit der Männer mit Blicken und halbverhüllten kleinen Reizen mühelos entwaffnen, aber auch mit ihrer Klugheit und dem Charme der Rede. Der Dichter hat dieses im „Neuen Amadis“ poetisch ausgedrückt406.

In der Vorrede zur 2. Auflage charakterisiert Wieland nicht nur seine Heldin, sondern identifiziert sich ausdrücklich mit ihr, ein in der Literatur nicht häufig vorkommendes Phänomen: Musarion gilt als „Schülerin der Grazien“. „Ihre Philosophie ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen. Das milde Licht, worin sie die menschlichen Dinge ansieht; dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, worein sie ihr Gemüt gesetzt zu haben scheint; dieser leichte Scherz, wodurch sie das Überspannte, Unschickliche, Schimärische, (...) auf eine so sanfte Art, daß sie gewissen harten Köpfen unmerklich ist, vom wahren abzuschneiden weiß; diese sokratische Ironie, welche mehr das allzustrenge Licht einer die Eigenliebe kränkenden oder schwachen Augen unerträglichen Wahrheit zu mildern, als andern die Schärfe ihres Witzes zu fühlen zu geben sucht; diese Nachsicht gegen welche, (...) mit allen ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Dinge ist, das wir kennen“407. Diese ausführliche Beschreibung Musarions soll anhand zweier Schwerpunkte erläutert werden, die ihr Wesen detailliert zeigen408. Es wird deutlich, daß bei Musarion die äußere Schönheit durch die innere ihre wahre Bedeutung erhält. Witz, Geist und Bildung sind wichtiger als die Schönheit. Besonders Witz zeichnet Frauengestalten wie Musarion und Danae aus409. Wieland und Shaftesbury halten den Witz für unerläßlich, um mit dem Leben

Empfindsamkeit, Bd. I: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, S. 96, der ebenfalls betont, daß sich bereits im 17. Jahrhundert in der Ethik eine neue Bewertung des Gefühls anbahnt. „Sie artikulierte sich in der Opposition gegen die rigoristische Moral, die die Leiden des irdischen Jammertals und die Anfechtungen der Sinne und Leidenschaften als Prüfungen hinnahm“. 404 Vgl. „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 264); vgl. „Neue Amadis“ (HRA II/5, 129f.). 405 Wielands Heldinnen sind Lebenskünstler. Es geht ihnen darum, sich den höchstmöglichen Lebensgenuß zu verschaffen, ohne mit dem Gesetz der Tugend, das sie zum Prinzip ihres Lebens machen, in Konflikt zu geraten; L. Bröcker: Das Zweiseelenproblem bei Goethe und Wieland, Diss. Münster 1947, S. 85. 406 „So wahr es ist, daß Tugend, Verstand und andere Gaben / Des Geistes und Herzens in einer schönen Gestalt / Mehr Reiz und raschere Allgewalt / Auf alle Herzen, sogar der rohesten Wilden, haben / Als ohne äußern Schmuck blos durch den innern Gehalt“ (HRA II/5, 129). 407 HA 4, 319f. 408 Wenn im Zusammenhang mit der äußeren Schönheit vom Moment der Bewegung gesprochen wurde, so trifft das in gleichem Maße für das Wesen, das Innere des Menschen zu, auch wenn es nicht immer betont wird. Oft spiegelt sich in den äußeren Bewegungen das Innere der Gedanken und Motive wider, d. h. die mannigfaltige belebten Bewegungen des Äußeren in Blick, Lächeln, Gesten usw. spiegeln die Regungen, Gedanken, Stimmungen des Inneren wider. 409 Vgl. dazu Aspasia, Danaes Lehrerin (HRA I/3, 309f). 238 fertig zu werden410. Auch Musarions Witz, der leichte Scherz, die Ironie (HRA III/9,47) werden betont, ein Wesenszug, den Aspasia in „Theages“ nicht zu haben schien, obwohl Wieland ihn in der Vorrede hervorhob. Es ist des öfteren von „der Dame Witz“ (HRA III/9,51)411, dem „Witz, dem’s nie an Reitz gebrach“ die Rede. Da Musarion eine Grazie ist, ist ihr Witz nicht verletzend, d. h. „ohne Gift“ (HRA III/9,10). Er macht unwiderstehlich. Sie klärt Phanias nicht im Wege strenger Unterweisung über seine beiden Freunde auf, sondern mit „wit and humor“, wie Shaftesbury sagen würde. Der Witz bietet der Grazie die Möglichkeit, in hitzigen Rededuellen oder trockenen philosophischen Ausführungen einen goldenen Mittelweg zu halten. Das entspricht ihrem Temperament. Zwar wird von Musarions Temperament nicht explizit gesprochen, aber man kann davon ausgehen, daß sie auch in diesem Fall eine Grazie bleibt. Sie versucht nicht, wie Aspasia, sich durch „stoische Gelassenheit und Ruhe“ im Gleichgewicht zu halten. Obwohl sie auch in der Liebe die sanften Triebe bevorzugt, ist ihr Temperament mit mehr Beweglichkeit ausgezeichnet. Phanias nennt seine Freundin zwar „Kaltsinnige“ (HRA III/9,32) und spricht von ihrem „kalten Blut“ (HRA III/9,13), aber diese Charakterisierung wählt er im Zusammenhang mit seinen sinnlichen Begierden, denen Musarion nicht nachgibt. Sie räumt nur ein, daß der Liebesgott nicht fragt, ob sie wollen; „Wir finden ohne Grund uns zärtlich oder kalt“ (HRA III/9,15). Schon in Athen kam ihr Herz in Gefahr, denn Phanias „Schwärmerei steckt wie der Schnupfen an“ (HRA III/9,19). Sie hat aber nicht die Schönheitslinie des Anmutigen verlassen - auch nicht, als sich die beiden Liebenden endgültig ihre Liebe gestehen (HRA III/9,97ff.). Im Gegensatz zum übersteigerten Verhalten des Stoikers und des Pythagoräers ist Musarion ganz Grazie. Sie gewinnt ihren Freund dadurch zurück, daß sie seine anspruchsvollen Lehrer, zwei angeblich weltflüchtige Philosophen, als sinnliche Heuchler entlarvt. Wie Danae spielt Musarion anfangs kaum ihre Reize gegen die beiden Philosophen aus, Jedenfalls haben sie den Eindruck. Sie begegnet ihnen auf geistiger Ebene. Damit gewinnt sie die Sympathie dieser Männer, die ansonsten argwöhnisch dem weiblichen Geschlecht gegenüberstehen. Erst als Musarion ihr Vertrauen gewonnen hat, spielt sie ihre körperlichen Reize aus412. Ihr Charakter, die Wesenszüge, lassen sich daran ablesen, wie sie

410 „Objektiv gilt der Humor als das beste Kampfmittel gegen Schwärmerei, Aberglauben, überhaupt jede Art von Torheit. Subjektiv ist er die Äußerung eines heiteren, ausgeglichenen Seelenzustandes, der gegen jede Art von Überspanntheit und Maßlosigkeit sicherstellt“; Grudzinski, S. 77. 411 Vgl. dagegen im „Neuen Amadis“ Colofischons „quecksilberneer Witz“ (HRA II/4, 8). 412 Dieses Schema stellt Wieland auch in „Araspes und Panthea“ auf; er wendet es immer wieder an, wenn er jugendliche Schwärmer bekehren will; auch Danae ist im „Agathon“ eine erfahrene Frau, die gegenüber dem Titelhelden eine überlegene Rolle spielt; sie weiß, wie Musarion, wie sie Agathon von den Verstiegenheiten der platonischen Schwärmerei heilen kann. Sie beherrscht die Technik, durch verstandesmäßige Ausnützung ihrer Kenntnisse und durch ihre Reize, die Männerherzen zu gewinnen; vgl. E. Nödl, Wielands Frauengestalten, S. 13. 239 die beiden Philosophen nach und nach bekehrt. Als Musarion das „weise Paar“ kennenlernt, vertreten sie „handgreiflich“ ihre philosophischen Systeme. „Sie hatten sich einander bei den Haaren“. Sie rettet die Situation, nicht ohne Absicht gab sie dem „Stiergefechte / Ein Colorit von Wohlanständigkeit“. „Die Spötterin“ legt es den beiden Streitenden in den Mund, daß sie annähme, „die Herren üben sich... vermuthlich nach der Lehre, / Daß Leibesübung auch des Geistes Stärke nähre“. Doch der stoische Kleanth fühlt nicht den leisen Spott. Er ist zu hitzig und ungeschmeidig und nimmt das Kompliment ernst. „Der Streit, versichert er, ging eine Wahrheit an, / Die er so sonnenklar, so scharf beweisen kann; / Nur ein arkadisch Thier, ein Strauß, ein Auerhahn - ... / Er schreit“. Phanias ist beschämt und möchte im Erdboden versinken (HRA III/9,45ff.), bleibt aber passiv. Musarion rettet die Situation, indem sie zum erstenmal ihre Reize mit ihrem Verstand zusammen ausspielt. Sie verbindet „einen Blick“ mit dem scheinbaren Interesse, mehr über die Philosophie der beiden Freunde zu erfahren und lobt sie sogar. Das beeindruckt Kleanth und Theophron. Sie sind in diesem Punkt genauso menschlich wie andere, das weiß Musarion. Aber sie läßt es nicht zu einem Disput kommen, sie macht die Fragen zu einem „Tischconfect“. Damit hat sie erreicht, daß ihr als weiblichem Wesen kein Widerstand entgegengebracht wird. „Es stieg demnach von Grad zu Grade / Der Schönen Gunst bei unserm Weisenpaar“. In dem anschließenden „akademischen Gefecht“ (HRA III/9,50f.) hält sie sich zurück. Während die beiden Philosophen mit Nachdruck ihre Grundsätze verteidigen, bleibt sie ganz Grazie, läßt sich in das Gespräch nicht mit hineinziehen. Mit diesen beiden „Weisen“ kommt Wieland auf den Inhalt von „Theages“ zurück. Kleanths Argumente, „Des Weisen Eigenthum, die Tugend, ganz alleine / Sey wahres Gut, und nichts vom allem dem, / Was unsern Sinnen reitzend scheine / Sey wünschenswert (HRA III/9,53), könnte auch Aspasia gesagt haben, und Theophrons Vorstellung vom „Tod der Sinnlichkeit“ und das Schöne müsse „vom Stoff geschieden“ und in Urbildern erschaut werden (HRA III/9,55) vertrat Theages selbst. Während im Fragment der Ausgang offen bleibt, wendet sich Wieland in der Verserzählung, wie im „Agathon“ und anderen Werken der Biberacher Jahre, „gegen Einseitigkeiten und Exzesse der Schwärmerei“413. Da Phanias’ Freunde nicht nur ihre eigene Philosophie verteidigen, sondern auch gegenseitig handgreiflich werden, entsteht der Eindruck, die Grazie könnte Schwierigkeiten bekommen, sich zum einen gegen soviel Pathos zu verteidigen, zum anderen, wenn sie zugeben müßte, daß sie keines der beiden Systeme akzeptiert. Sie verhält sich in dieser Situation geschickt. „Die schlaue

413 Ernst Ludwig Stahl, Die religiöse und die humanitätsphilosophische Bildungsidee, S. 144. Vgl. Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 51. Wieland bestreitet das rein Spekulative des Schönheits- und Tugendbegriffs und lehrt, daß in Verbindung von Natur und Geist das Schöne und die Tugend liege. Für ihn gibt es keine Gedankenwelt, die sich unabhängig macht vom Zusammenhang der Natur. 240

Schöne“ (HRA III/9,56) tut sehr interessiert und läßt „vor Bewunderung“ ihre Reize spielen. „Zufällig“ verschiebt sich, wie schon einmal, beim Atmen ihr Brusttuch. Wieder verbindet sie ihren Geist mit ihren Reizen. Nachdem sie die Philosophen mit ihren körperlichen Schönheiten aus dem Konzept gebracht hat, lobt sie sogar die Philosophie von Theophron. Im anschließenden Gespräch ist der Pythagoräer „noch ganz warm von dem, was seinem Blick / Entzogen war, und voll von wollustreichen Bildern“ (HRA III/9,58). Das Gespräch endet beinahe wie das erste; aber im richtigen Moment kommt die Dienerin Chloe, die Theophron endgültig mit ihren körperlichen Reizen „überzeugt“. Damit wird Musarion die Entscheidung abgenommen, sich für eine Philosophie zu entscheiden. Sie gesteht großmütig, „Die Herren ... haben beide / Mich wechselseitig... bekehrt: Wie sehr ich auch das Glück der Apathie beneide, / So dächt mich doch die geist’ge Augenweide, / Die uns Theophron zeigt, nicht minder wünschenswerth“. Der Leser weiß, daß sie keine der beiden Standpunkte akzeptieren würde. Deshalb beschließt sie, sich „ein ander Mal (zu) entscheide(n)“ (HRA III/9,64). Sie gibt also anscheinend beiden Philosophen recht, und alle sind zufrieden. An diesem Geschehen hat Phanias fast gelangweilt teilgenommen. Als er erkennt, wie schnell und wodurch seine Freunde von ihren Grundsätzen abzubringen sind, verurteilt er sie. Doch damit stößt er auf den Widerstand Musarions, die ihn zur Mäßigung mahnt414. Phanias kann es nicht glauben. „Was hör ich! ... spricht Musarion für sie? / Du scherzest!“. Aber sie erwidert, „Kein Uebermaß, mein Freund, ich bitte sehr! / Du schütztest sie vordem vermuthlich mehr, / Jetzt weniger, als sie vielleicht verdienen“. Sie gesteht Phanias zwar zu, daß die beiden gefehlt haben, aber sie haben „sehr menschlich“ gefehlt, „Und... nicht ganz so weise / Als ihr System, das zeigt der Augenschein“. Manche Menschen brauchen ein System, das ihnen die Welt mit ihren Gütern und Freunden richtig erscheinen läßt (HRA III/9,91f.), aber das läßt nicht den Schluß zu, ihre Lehren seien nur Schimären; das zeugt von schlechter Kenntnis der Geschichte415. An Musarions Verhalten ist zu erkennen, daß manchmal ihr Herz und Gefühl eine andere Sprache sprechen und man die beiden Philosophen verdammen möchte, aber sie ist weit davon entfernt, „die Wahrheit ihres Lebens verabsolutieren zu wollen, denn wo immer die ‘reizende Philosophie’ sich formuliert, erscheint als einer ihrer vornehmsten Grundsätze die Toleranz“416. Sie beruht auf der Einsicht in die Subjektivität aller Wahrheiten, wenn man

414 Wie in „Musarion“ verteidigt Wieland in vielen Werken das rechte Mittelmaß in allen Dingen. Die Nachsicht ist ein wesentlicher Charakterzug seiner Dichtungen. Vgl. dazu u. a. „Erdenglück“ (HRA III/9, 306f.) und „Das Leben ein Traum“ (HRA III/9, 215ff.) 415 Auch Phocin und Leonidas waren Stoiker. Zu den gleichen Ideen, für die Theophron wenig überzeugend wirkte, bekannte sich Archytas; vgl. Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 101. 416 Wolfram Buddecke: Entwicklungsbegriff, S. 101. Vgl. auch Wielands Aufsatz „Was ist Wahrheit?“ (HRA VIII/24, 39ff.). Vgl. zum Gedanken der Toleranz bei Wieland auch H 32, 347ff. Dichterisch drückte er die Toleranz mit Hilfe der sokratischen Ironie aus, wie er in der Vorrede zu „Musarion“ schreibt (HA 4, 320). 241 so will, auf Weisheit, Theophron und Kleanth mögen ihre Systeme lautstark verteidigen, glaubhaft werden sie erst, wenn sie auch danach leben. Das hat auch Goethe in dem Maskenzug des Jahres 1818 formuliert, als er diesen mit den Figuren aus „Musarion“ eröffnete417.

Einige der Verse könnten auch Phanias gelten, den Musarion die „Kunst zu lieben“ lehrt. Auch in diesem Handlungsstrang wird Musarions Wesen als Grazie deutlich. Sie hat mit ihrem Freund in Athen gelebt, „wo die schöne Welt, aus langer Weile bloß, / Zu Freuden sich zusammen rottet / ..., Wobei man künstlich lacht und ungezwungen gähnt, / Und mitten im Genuß sich schon nach andern sehnt“ (HRA III/9,22). Nachdem Phanias bei diesem Lebenswandel arm geworden und enttäuscht ist von der unerwiderten Liebe zu Musarion, zieht er sich in Gesellschaft zweier Philosophen auf sein Erbgut zurück, um hier ein sinnenfeindliches Leben zu führen. Der Leser erfährt, daß Musarion Phanias in Athen als einen „Freund“ betrachtete. Als er sie eines Tages beim Schlaf überraschte, war er von ihren Reizen überwältigt, er war „in dithyrambische(r) Begeisterung“ hingerissen - und „sie verlor den angenehmen Freund“. Eine Grazie liebt keine heftigen Begierden, große seelische Bewegungen. „Der feierliche Schwung erhitzter Phantasie / Schlägt mir die Lebensgeister nieder“ (HRA III/9,18). Musarion versucht, mit „kaltem Spott“, dann mit „Fröhlichkeit und Scherz“ Phanias’ heftige Gemütsregungen zu besänftigen. Während er es in Athen mit Seufzen versucht hatte, begeht er auf dem Lande den Fehler, mit weinerlicher Stimme und „sehr kläglichen Geberden“ zu sprechen. Auch das ist kein geeignetes Mittel, sie zu gewinnen, denn ihr Element ist „heitre sanfte Freude“ (HRA III/9,84f.)418. In Athen war Musarion fast der Schwärmerei, ihren sinnlichen Leidenschaften419 erlegen: ihr Herz kam in Gefahr. Sie meinte, „man fühlt, ich weiß nicht was, und eh’ man wehren kann / Ist unser Kopf des Herzens nicht mehr mächtig“ (HRA III/9,19)420, d. h. die Sinnlichkeit würde über die Sittlichkeit siegen. Aber wo der Trieb herrscht, enden Grazie und Anmut421. Das paßt nicht zu

417 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 3, S. 730. 418 Firenzuola bemerkte im Zusammenhang mit der Anmut, daß „zu große Ausgelassenheit oder sogar Albernheit... (der Grazie) geradezu entgegengesetzt“ sei und heftige Gemütsbewegungen selten seien; vgl. Agnolo Firenzuola, Discours de la beauté, S. 57f. Was er über die Anmut formuliert, gilt auch für die männlichen Helden, die eine Anmutsgöttin erobern möchten. 419 „Leidenschaft“, formuliert Agathodämon, „sind nicht (wie die Stoiker irrig lehren) Krankheiten der Seele; sie sind ihr vielmehr, was die Winde einem Schiffer sind, das keine Seefahrt von einiger Bedeutung ohne sie vollbringen kann. Sie verstärken die demselben gegebene Bewegung; aber der Schiffer muß sie in seine Gewalt zu bringen wissen, wenn er nicht Gefahr laufen will, von ihnen verschlagen oder an Klippen zertrümmert zu werden“ (HRA X/32, 60f.; 31f. und 150). 420 Vgl. „Nachlaß des Diogenes“ (HRA IV/13, 53). 421 Als ein Seitenstück zu „Musarion“ wird die Allegorie „Der verklagte Amor“ in diesem Sinne verstanden; der Reiz der Liebe ist dahin, wenn ihr die Beseelung durch den Liebesgott fehlt. 242

Wielands Grazien. Musarion ist auf ihre Sicherheit bedacht, deshalb meint sie, sie müsse sich mit einem Gecken zerstreuen. Dieser hat, ähnlich wie Chloe, nur eine untergeordnete Bedeutung und wird von Musarion nur zum Zeitvertreib gebraucht422. Während sie in Athen „den Zwang der ersten Liebe“ scheute, hat sie diese Stadt aus „freyen Stücken“ verlassen, um Phanias „nachzugehen“ (HRA III/9,26), d. h. sie gesteht ihm ein, daß sie einen Fehler gemacht hat. Sie hofft, daß ihr „Irrthum... vielleicht verzeihenswerth“ (HRA III/9,16) sei. Sie ist ihm also „nachgelaufen“, wie man heute sagen würde, und zwar im doppelten Sinne. Einmal gönnt sie ihm „den kleinen Stolz“, daß er an den Strand flieht und sie ihm nachläuft, zum anderen ist sie Phanias von Athen „eifrig nachgejagd“ - und gefährdet damit ihren „Ruf“. „Ich dächte, das beweist, wenn einem Mann zu Ehren / Ein Mädchen - sich - und seinen Kopfputz wagt!“ (HRA III/9,26).

Nachdem beide eine Weile gestritten haben und Phanias nicht von seinen neuen Grundsätzen abzubringen ist, spielt Musarion mit ihren körperlichen Reizen. Mit einem Blick hat sie den „weisen Fanias aus seiner Fassung“ gebracht (HRA III/9,31). Sie hat damit einmal mehr die vom Dichter betonte Anziehungskraft der sinnlichen Reize bestätigt. Noch will sich ihr Freund nicht eingestehen, daß das Sinnliche, dem er den Kampf angesagt hat, „Macht“ über ihn hat (HRA III/9,34). Musarion ist klug genug, ihn nicht merken zu lassen, daß sie fast gewonnen hat423. Im anschließenden „Bacchanal“ schenkt sie ihrem Freund kaum Beachtung - auch das gehört zu den Reizen einer Grazie. Durch Verstand und Sinnlichkeit und mit Hilfe ihrer Dienerin will sie zunächst die beiden Freunde von ihren philosophischen Grundsätzen heilen. Obwohl sie die gleichen Gedanken hat wie Phanias, gibt sie sich völlig gleichgültig und verfolgt dabei ihrem Plan (HRA III/9,65f.). Nachdem sich alle zur Ruhe begeben haben, schleicht Phanias zu Musarion aufs Zimmer. Zwar weiß sie, was er von ihr möchte, aber sie stellt sich unwissend und sagt, ein „Freund“ könne jederzeit kommen und das sagen, was „uns gefällt“. Als sich Phanias daraufhin rhetorisch einen Dolch ins Herz stechen möchte, überschreitet er die Grenzen der Anmut. Musarion meint, „Nichts Tragisches, mein Lieber!“. Sie möchte keinen großmütigen Helden, aber keinen, der „stottert“ und bittet ihn, sich gelassen hinzusetzen und ihr zu sagen, wieviel dazu gehöre, daß sie ihn so glücklich mache, wie er verlangt (HRA III/9,82f.). Als er wieder mit Pathos ihr sein Leben zu Füßen legt, erklärt sie ihm, was sie unter Liebe versteht: „Ich liebe Dich mit diesem sanften Triebe, / Der,

422 Sie suchte tatsächlich Zerstreuung; vgl. dazu was Danae zu Hippias über die „Gecken“ äußert (H 1, 150f.). Vgl. auch, wie diese „Puppe“ charakterisiert wird (HRA III/9, 19). Vgl. dazu die ausführlichen Erläuterungen von Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 197f. 423 Vgl. auch „Idris und Zenide“ (HRA VI/17, 267). 243

Zephyrn gleich, das Herz in leichte Wellen setzt, / Nie Stürm’ erregt, nie peinigt, stets ergetzt; / Wie ich die Grazien, wie ich die Musen liebe, / So lieb’ ich Dich. Wenn dies Dich glücklich machen kann, / So fängt Dein Glück mit diesem Morgen an...“. Phanias unternimmt zwar noch mehrere Versuche in der sinnlichen Liebe, aber Musarion wehrt sich nach der Art einer „Phyllis“ mit „stumpfen Nägeln“. Sie entzieht sich diesem Verlangen mit Umsicht und Gelassenheit und möchte Beweise, daß es wirklich Liebe und nicht ein „bloßes Sinnenspiel, ... ein kleines Fieber“ (HRA III/9,84ff.) sei. Dabei entwickelt sie noch einmal ihre Vorstellungen von wahrer Liebe424. Der Freund schwankt zwischen beiden Polen, der als sinnlichem Trieb erfahrenen Natur und Musarions Kunst zu lieben und versucht, die „Spröde zu bezwingen“. Obwohl er jetzt gemäßigtere Regungen zeigt, nur noch „feinste Wendungen“ und „unsichtbare Schlingen / Versucht“, muß er sich schließlich der „schöne(n) Siegerin“ ergeben, die „nachsichtsvoll“ bleibt (HRA III/9,89f.). Mehr Eigensinn hätte ihre Zärtlichkeit beleidigt. Nachdem Phanias von der Grazie gelernt hat, mit Verstand zu lieben, bekämpft sie nur noch „schwach / Die Macht des süßesten der Triebe, / Und kämpfend noch bekennt ihr Herz den Sieg der Liebe“ (HRA III/9,97).

In der Vorstellung Wielands muß der Mensch, der sich für die Tugend entscheidet, nicht auf alle Freuden verzichten. Nur der, der die Sinnlichkeit der Sittlichkeit freiwillig unterordnet, ist fähig, maßvoll zu genießen425. Die Harmonisierung der geistigen und sinnlichen Anlagen wird dadurch erreicht, daß die sinnlichen Kräfte zur Geltung gebracht werden. Er stellt Musarion und mehrere andere Frauengestalten in den Dienst dieser Moral, wenn auch in den der „Moral der Grazien“, in die „moral grace“, wie Shaftesbury sie wissenschaftlich und philosophisch begründete426. Ausbildung des Geistes, des Herzens und Pflege der anmutigen Schönheit sind Obliegenheiten der idealen Frau, seiner Grazien. Wie Musarion weisen seine Heldinnen den goldenen Mittelweg zwischen den Extremen auf, begünstigt durch die ihnen eigene Gabe der

424 „Du selber willst, daß wir im Ernst uns lieben! / Sonst tändelt’ ich mit Amors Pfeilen nur; / Jetzt, da er mich erhascht, ist’s nicht mehr Zeit zum Lachen; / Es ist darum zu thun, daß wir uns glücklich machen, / Und nur vereinigt kann dies Weisheit und Natur“ (HRA III/9, 87f.). 425 In den beiden letzten Werken, den Brieferzählungen „Meander und Glycerion“ (1803) und „Krates und Hipparchia“ (1804) greift Wieland das Thema aus „Musarion“ wieder auf. „Das Sich-Finden der beiden in der Mitte, die feine Toleranz des gegenseitigen Sich-Annähern ohne Selbstaufgabe, der goldene Mittelweg des ausgleichenden und vermittelnden Wielands darf hier nicht verstanden werden als mittelmäßig, sondern ähnlich dem aristotelischen Tugendbegriff als ein erreichtes Höchstmaß kultivierter Gemeinschaftsfähigkeit, der Toleranz und inneren Loyalität... in der Liebe... In beiden Erzählungen steht das stille Glück der Selbstbeschei- dung und maßvollen Zufriedenheit vornan. 426 Über die Harmonie zwischen Körper und Geist bei Wieland und Shaftesbury vgl. Leo Stettner, Shaftesbury, S.103ff. und 175 ff. „Wenn der Mensch naturgemäß lebt, seine Triebe zügelt, auf Vergnügen und Genuß achtet, für das moralische Gleichgewicht und System sorgt, so hat er moralische Tugenden. Über allen moralischen Tugenden steht nun die Mäßigkeit, welche geradezu die Tugend des moralischen Systems genannt werden muß“. S. 37 244

Grazie. Von Musarion lernt ihr Freund die „reizende Philosophie“ und verkörpert damit Wielands, dem Horaz nachempfundenen Grundsatz, zufrieden zu genießen427, die „was Natur und Schicksal uns gewährt, / Vergnügt genießt und gern den Rest entbehrt; / Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite / Betrachtet; dem Geschick sich unterwürfig macht, / Nicht wissen will, was alles das bedeute, / Was Zevs aus Huld in räthselhafter Nacht, / Vor uns verbarg, und auf die guten Leute / Der Unterwelt, so sehr sie Thoren sind, / Nie böse wird, nur lächerlich sie findt, / Und sich dazu, sie drum nicht minder liebet, / Den Irrenden bedau’rt und nur den Gleißner fliegt; / Nicht stets von Tugend spricht , noch, von ihr sprechend glüht, / Doch, ohne Sold und aus Geschmack, sie übet“ (HRA III/9, 99f.)428. Musarion maßt sich nicht an, über alles Irdische, Sinnliche erhaben zu sein. Ebenso wenig läßt sie sich davon gefangen nehmen429. Sie heilt den Schwärmer Phanias von der idealistischen Überschwenglichkeit, hält ihn aber auch vom anderen Extrem, der nur leidenschaftlichen, sinnlichen Liebe zurück. „Sie gönnet ihm und sich die Lust ihn zu beglücken, / Die Lust die so viel Reitz für schöne Seelen hat;“ (HRA III/9,85). Das Gefällige, der anmutige Mittelweg zwischen vernünftiger Selbstbeschränkung und fröhlichem Daseinsgenuß wird betont430. Um auf das Element der Bewegung zurückzukommen, versucht Wieland, die Gegensätze zu überbrücken, Leidenschaften zu glätten, heftige Bewegungen zu meiden. Sein Ideal liegt in der Bescheidenheit, im harmonisch-ausgewogenen Mittelmaß, in der aurea mediocritas. Er versucht in „Musarion“, „eine die Lebensganzheit umfassende... im Ästhetischen wurzelnde praktische Ethik zu schaffen, die ‘Philosophie der Grazien’“431.

Beim Vergleich von Aspasia und Musarion fällt auf, daß der Dichter keine Tugendheldinnen mehr mit seiner Grazienvorstellung verbindet, sondern „einen Menschen mit seinen Schwächen“, wie er im „Agathon“ sagt. Aber er idealisiert sie im ästhetischen Sinne und ist auf diese Wirkung des ideal Schönen bedacht. Durch die weiblichen Züge werden Musarion

427 Vgl. Werner Deetjen: Wieland in Weimar, in: C. M. Wieland 1733-1933. Festschrift zum 200. Geburtstag des Dichters, hg. von der Stadtgemeinde Biberach/Riß 1933, S. 146; Deetjen weist auf den Zusammenhang von „Musarion“ und dem „Goldenen Spiegel“ hin. 428 Mit dem letzten Vers wird die „Lohn- und Strafmoral“ der Zeit angegriffen. Musarion übt die Tugend ihrem Wesen gemäß frei und ungezwungen aus. Vgl. dazu den Brief an Geßner vom 13. 11. 1767 (AB II, 289), wo er ungehalten über die schlechte Aufnahme der „Komischen Erzählungen“ fragt, ob es keine Musarion, keine Ninon de Lenclos und Ladies Worthley Montague gebe. Er sah den Vorzug darin, daß sie ein Herz gehabt hätten, ein System ausfindig zu machen, nach dessen Grundsätzen Laster keine Laster mehr seien. 429 Aufschlußreicher formulierte Wieland im „Aristipp“ das Ideal sinnlich-geistiger Harmonie; vgl. HRA XI/34, 164f.; HRA XI/33, 344ff.; HRA IX/29, 255ff.; HRA XIV/S5, 38f.; HRA X/30, 186ff. 430 Sengle belegt, daß der dreiteilige Aufbau des Werke, die drei Schauplätze mit dem Inhalt des Werkes korrelieren. Phanias schwankt zwischen Weltverachtung und -hingabe, Enthaltsamkeit und naiver Sinnlichkeit; von Musarion wird er auf den Mittelweg, die dritte Möglichkeit, „der besinnlichen Heiterkeit und des schönen Maßes“ geführt, 204. 431 Lüder Beeken, Desillusionierung, S. 23. 245 und Danae dem Leser menschlich näher gebracht. Obwohl sie auch Schwächen haben, verbindet sich bei Wielands Grazien Anmut mit Geschmack. Wie in „Theages“ spricht er auch in „Musarion“ von der „reizenden Philosophie“. Theages nennt sie die „Kunst zu lieben“, zu lieben mit sanfter Beglückung des Herzens, ohne hinterhältige Einmischung des Cupido. In dieser Allgemeinheit würde Musarion diese Definition nicht abweisen, aber sie bekennt sich zur Liebe, die die Sinnlichkeit mit einbezieht und die durch die Anteilnahme des Herzens ihren Wert erhält. Sie darf nicht zum flüchtigen Selbstzweck werden, sondern muß durch den verfeinernden Verstand sublimiert werden432. So wurde Phanias abgewiesen, als er leidenschaftlich auf die Erfüllung drängte. Es ist aber eine Liebe zu den Musen, ein Gefühl der Anmut und Grazie, ohne das die sinnliche Liebe plump wäre. Die Kunst, wahrhaft zu lieben, ist nur ein Aspekt der „reizenden Philosophie“. Richtig angewandt ist sie eine Harmonisierung des Lebens überhaupt. „Sie stellt als solche keine einseitig engen inhaltlichen Forderungen, sondern will das rein formale Prinzip vernünftig-natürlicher Mäßigung, das in der Liebe gelten soll, und muß auf alle Bereiche des Lebens angewendet wissen“433.

Musarion hat in der Verserzählung noch eine weitere Funktion. Von den Hetären, die in Wielands Werken eine Rolle spielen, findet nur Musarion am Schluß das Glück in der „Hütte“. Sie gibt ihr ungebundenes Leben in der Stadt auf und entschließt sich, mit ihrem Freund auf dem Lande zu wohnen, wobei sich jeder Partner „selbst zum Andern glücklich macht“. Durch sie wird nicht nur der bisher ungestüme und zwischen den Extremen schwankende Phanias zur Selbstzufriedenheit und -bescheidenheit auf dem Lande ‘erzogen’, wo sie „Gleich fern von Dürftigkeit und stolzem Ueberfluß“ leben, sondern durch ihre bescheidene Kunst prägt die Athenerin auch die Natur von Phanias (HRA III/9,97f.). Auch in „Musarion“ wird die Verbindung von Kunst und Natur sichtbar. Der Mensch ist hier ein Kunstwerk, eine weitergebildete, schöne Natur. Das gilt vor allem für Musarion. Wieland und Rousseau sahen als Ausgangspunkt den „natürlichen“ Menschen, aber Wielands Menschenbild geht über das Rousseausche Ideal von der Natur hinaus, indem er sagt, daß die Menschen erst glücklich, unabhängig seien, „wenn ihr Herz eben so gut, als ihr Kopf wäre: wenn der Einfluß der Musen und Grazien, auch ihr sittliches Gefühl, wenn ihr Geschmack auch ihre Gesinnungen verfeinert und verschönert hätte“, wie er es in der Vorrede zu Musarion formuliert. Das ist bei Wieland mit Hilfe der Kunst möglich. Aber er erklärt weiter, „wieviel würde die Gesellschaft und in der Folge die menschliche Natur..., die von dem

432 Vgl. „Agathon“ (HRA /1, 271f.). 433 Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 101. 246 höchsten Grade der Verschönerung, deren sie fähig ist, noch so weit entfernt scheint, durch die Erfüllung dieses Wunsches gewinnen“ (HA 4,323f.). Musarion erkennt die Bedeutung der Grazien, sie besitzt die Erkenntnis des feineren Gefühls für das Schöne und Anständige, für das, „was sich ziemt“. Natürlichkeit ist bei den Grazien nicht gleichzusetzen mit roher Sinnlichkeit. Die Kunst besteht in der Harmonie zwischen Leib und Seele - das ist Wielands und Shaftesburys Ideal. Beide sehen die Harmonie in der Natur; das Widerstrebendste scheint sich mit Hilfe der Kunst aufzulösen, d. h. die Kunst ist am wirksamsten und stärksten, wo sie der Natur am wenigsten von ihrer Freiheit und Einfalt raubt434. Wie den Grazien jeglicher Zwang, Gekünstelei und Übertreibung fern liegt, so verhält es sich auch mit der Kunst, zu leben und zu lieben. Für Musarion gehört die Liebe zur Natur, zur Menschlichkeit, aber wie alle Vermögen, müssen sie mit Hilfe der Kunst vernünftig gebildet, vermenschlicht werden. In diesem Dienst stehen Wielands Grazien. Durch sie lernt Phanias „gern und schnell und sonder Müh’ / Die reitzende Filosofie“ (HRA III/9,99). Was er durch die Grazie „praktisch“ lernte, hat Wieland im „Agathon“ in einer „Theorie der angenehmen Empfindungen“ zusammengefaßt435.

Wielands Tugendbegriff hat sich also gegenüber „Theages“ gewandelt und damit auch sein Grazienbild. An der ethischen Grundhaltung der Grazien hat sich dagegen nichts geändert. Er versteht unter Tugend in „Musarion“ nicht nur den Geist, die Seele, sondern auch das Körperliche ist mit einem positiven Wertakzent in diesen Tugendbegriff eingeschlossen. Sie ist eine moralische Grazie, eine „schöne Seele“ (HRA IIII/9,85), bei der sich körperliche und seelische Schönheit verschmelzen. Sie versteht es, wie Donna Felicia im „Don Sylvio“, „ihre materielle Schönheit in dem mannigfaltigsten und vorteilhaftesten Lichte zu zeigen“ und ist ebenso reich an „intellectuellen Reizungen.... des Geistes (die unter dem Flor der sichtbaren Schönheit so verführerisch sind) ...“ (HRA IV/12,144f.). Die „schönen Seelen“ haben nicht den Beigeschmack der Empfindsamkeit, sie sind es nach den Regeln der Lebenskunst Shaftesburys. Bei ihnen verbinden sich Ethik und Ästhetik, mit ihrer eudämonistischen Zielsetzung fügt sich Wielands reizende Dichtung in den bildungsgeschichtlichen Rahmen

434 AA I/6, S. 43; vgl. auch S. 50. 435 „Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrückt, die ihre mühsamen Anstalten und die genaueste Regelmäßigkeit unter einem Scheine von Leichtigkeit und Anmut verbirgt. Mit diesem Stempel sind auch die Gesetze der Glückseeligkeit bezeichnet, welche sie dem Menschen vorgeschrieben hat. Sie sind einfältig leicht auszuüben, führen gerade und sicher zum Zweck. Die Kunst, glücklich zu leben, würde die gemeinste unter allen Künsten sein, wie sie die leichteste ist, wenn die Menschen nicht gewohnt wären, sich einzubilden, ‘daß man große Zwecke nicht anders als durch große Anstalten erreichen könne’. Es scheint ihnen zu einfältig, daß Alles was uns die Natur durch den Mund der Wahrheit zu sagen hat, in diese drei Erinnerungen 247 seiner Zeit ein. Das Grazienbild hat sich also, wie Wielands Lebensauffassung überhaupt, gewandelt. Durch den Aspekt der körperlichen Schönheit wirken die Grazien mehr nach außen. Seele und Empfindung treten zurück, wofür aber Geist und Witz zur Geltung kommen. Die sinnlichen Freuden werden nur im Rahmen der Tugend, im Maßhalten, gebilligt. Neben „Musarion“ und anderen thematisch verwandten Werken („Die Grazien“, „Der verklagte Amor“) stehen Aufsätze und Prosadichtungen, die das Problem Vernunft und Sinnlichkeit und die damit verbundene Frage der Tugend mit der gleichen Selbstverständlichkeit zugunsten der „Philosophie der Grazien“, der Idee des Maßes und der Harmonie, entscheiden436. Mit „Musarion“ hat die Grazienvorstellung ihre endgültige Gestalt erlangt, die sich auch in „Die Grazien“ nicht ändert.

5.2.6 Schauplätze und Naturschilderungen

Für die theoretischen Betrachtungen zu Wielands Naturschilderungen wird auf das entsprechende Kapitel bei „Theages“ verwiesen. Obwohl in der Verserzählung die eigenartige Bewegtheit von Natur und Landschaft gegeben ist, kann dennoch ein Unterschied zu „Theages“ festgestellt werden437. Die Naturschilderungen sind nur dann kleine, fast flüchtig, wenn damit gleichzeitig Rückschlüsse auf die Menschen möglich sind, d. h. in „Musarion“ bewegen sich die Menschen in der Natur. Damit läßt sich in diesem Werk die bereits definierte Bewegtheit438 nicht nur in den Naturschilderungen nachweisen, sondern auch in den äußeren und inneren seelischen Bewegungen sowie in seinem Erzählstil und der -haltung. Gerade in dieser Einheitlichkeit und Übereinstimmung zwischen Mensch und Natur zeigt sich die Bedeutung der Natur, und insofern hat sich Wielands Anschauung in bezug auf die Anmut in Natur und Landschaft gewandelt bzw. gegenüber „Theages“ entwickelt. Sie ist mehr als eine Kulisse, mehr als ein beliebig austauschbarer Hintergrund für menschliche

zusammenfließen soll: Befriedige deine Bedürfnisse; vergnüge alle Deine Sinne; erspare Dir, so viel du kannst, alle schmerzhaften Empfindungen!“ (HRA I/ 1, 113f.). Vgl. dazu „Koxkox und Kikequetzel“ (HRA V/14, 5ff.). 436 Vgl. z. B. „Betrachtungen über J. J. Rousseau’s ursprünglichen Zustand des Menschen“ (HRA V/14, 169ff.); vgl. auch „Nachlaß des Diogenes“ von 1770 (HRA IV/13, 3ff.). 437 Vgl. für „Musarion“ Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 19ff.: „Die reizvolle Landschaft“ und S. 132f.: „Tabelle der Landschaftsreize“. 438 Im Zusammenhang mit der Bewegtheit fallen in den Naturbeschreibungen in der Verserzählung die Bewegungsverben „durchstrich“, „umkränzte“, „winkte“, „windet“ auf. Da diese sanften Bewegungen auch später für die Rokoko-Natur charakteristisch sind, ist man geneigt, zu sagen, „überhaupt erscheint die Landschaft bei Wieland immer wie ein lauschiger Rokokogarten...“; Jürgen Jacob: Der Roman der schönen Gesellschaft, Diss. Köln 1965, S. 62. Es ist unbestritten, daß diese Bewegtheit „vor allem der Welt des Rokoko zuzuschreiben“ ist (Alfred Anger, Landschaftsstil, S. 152f.), damit entsteht aber eine falsche Zuordnung, Wieland auch in dieser Hinsicht nur als Rokokodichter abzustempeln. Das widerstrebe aber dem Selbstverständnis des Dichters (Friedrich Beißner: Versuch einer Rehabilitation Wielands, in: Werte und Worte 19 (1964), Heft 8, S. 19). 248

Handlungsszenen, sie ist ein Spiegelbild der seelisch-sinnlichen Grundhaltung ihrer Menschen439. Der Wandel zeichnet sich dadurch ab, daß die Grazien nicht nur anmutig geschildert werden, sondern sich auch in einer solchen Natur bewegen. Dadurch wird es möglich, daß sie auf den Menschen „wirken“ kann. Wieland achtet darauf, wie diese Natur beschaffen ist. Er weist daraufhin, daß die Art des Schauplatzes sorgfältig ausgedacht werden muß. Eine Begründung dafür findet sich u. a. im „Agathon“ (HRA I/3,246f.). Man verkennt Wielands Wirkungsabsicht, wenn man meint, daß bei ihm nur „dürftige Naturschilderungen“ zu finden sind, Wieland sei „die Natur... doch zu wenig wichtig, um ihr in seinen Dichtungen einen größeren Platz einzuräumen“440, andere meinen, „seinen Naturschilderungen (fehle) sowohl die Kraft als auch die Feinheit und Tiefe...“441. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird in „Musarion“ nur der Aspekt der körperlichen und seelischen Empfindungen gegenüber den Schauplätzen und der Natur herausgestellt. Im übrigen haben sich die Natur- und Landschaftsschilderungen gegenüber „Theages“ nicht grundsätzlich gewandelt. Unter dem Natur- und Landschaftsgefühl ist das Reagieren des menschlichen Gefühls auf die von den Sinnen aufgenommene Form der Landschaft442 zu verstehen. „Je nach ihrer Struktur, als ‘amöne’, als ‘erhabene’ oder als ‘reizende’ Landschaft kann sie die Aktivität innerseelischer Kräfte herausfordern, die Entstehung empfindsamer Stimmungen begünstigen und auf (eine) ... Tendenz zur Schwärmerei verweisen oder gerade umgekehrt die immer wieder abgewiesene latente Sinnlichkeit aktualisieren“443. Wenn man sich die Schauplätze der Verserzählung ansieht, so spielt die Geschichte im utopisch-arkadischen Griechenland, in einer antiken Kunstlandschaft - wie „Theages“. Der Schauplatz erscheint unter drei Aspekten, wobei Rückblicke auf das antike Athen eingestreut werden444. Den drei Schauplätzen entsprechend umfaßt das Gedicht drei Bücher - und drei Philosophien stehen sich gegenüber: im ersten sucht Musarion ihren grollenden Freund Phanias auf. Die Szene spielt, der Verwirrung des Freunde entsprechend, „in einem Hain, der einer Wildnis glich“ (HRA III/9, 3). Im zweiten Buch werden die beiden Philosophen Kleanth und Theophron entlarvt. Der geeignete Ort ist ein „leichte(s), filosoph’sche(s) Mahl“, das sich „in ein kleines Bacchanal“ (HRA III/9,65) verwandelt, also die Tafel. Im dritten Buch lernt Phanias die reizende

439 Anger, Rokoko-Dichtung, S. 478. Vgl. dazu G. Schütze: Das Naturgefühl um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Lyrik von Pyra bis Claudius, 1933. 440 Hildegund Berger, Wielands philosophische Romane, S. 127. 441 F. Bobertag: Studie über „Wielands Romane“, Progr. Breslau 1871, S. 22. 442 Fritz Kammerer: Zur Geschichte des Landschaftsgefühls im frühen 18. Jahrhundert, Berlin 1909, S. 1. 443 Wolfram Buddecke, Entwicklungsbegriff, S. 172. 444 Vgl. zum antiken Schauplatz Wielands Werke in 4 Bde., hg. Gotthold Klee, Leipzig 1900, Bd. 1, S. 3 (Vorwort). Er weist darauf hin, daß der Dichter zwar den Schauplatz in die Antike verlegt, aber er dennoch nach 249

Philosophie. Die Szene spielt in einer Kammer um Mitternacht. Aus dem wilden Hain wird „ein Hain, worin sich Amor gern verliert“, die einfache Hütte wird zum „Tempel der Grazien“445, die Einöde zur lieblichen Idylle.

Wie Aspasia, die sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande lebte, haben Musarion und ihr Freund in Athen gelebt, ehe sie sich aufs Land zurückzogen. Aber anders als die Gräfin haben die beiden dort hauptsächlich ihr Vergnügen gesucht. Aus der Rückschau auf Athen hat der Leser den Eindruck, daß beide in der Stadt die sinnlichen Freuden genossen haben. Das läßt sich aus einigen Details schließen. Es wird vom „Getümmel“ von Athen gesprochen, dem „bürgerlichen Sturm, der stets Athen bewegt“, oder zum „Tadel von Athen, das Deiner Aendrung spottet“. In einem anderen Zusammenhang heißt es von Phanias, daß er in Athen, „wo auch Sokraten zechten, / Beim muntern Fest, in durchgescherzten Nächten, / Dem Komus bald und bald dem Amor glich...“ (HRA III/9,22, 96f). Als seine „Freunde“ ihn aus finanziellen Gründen verlassen haben und er sich auf sein Gut zurückzieht, stellt er Vergleiche zwischen Athen, wo er der „Günstling des Geschicks“ war und der „Wildniß“, wo er nur „der Nackte, der Verbannte“ ist. Zwar spricht er noch im Groll, weil er sich auch von seiner Freundin verlassen fühlt, aber er deutet die Situation richtig, wenn er sich eingesteht, daß er auf dem Lande trotzdem „neidenswerth“ sei. In Athen war er arm, „gleich dem Kranken, / Der sich zu Tode tanzt, als Schmeichler Schwarm an Schwarm, / Sein Herzenslust aus goldnen Bechern tranken, / Beim nächtlichen Gelag’, an feiler Phrynen Brust, / Da war er elend, da! ein Sklave, festgebunden / Von jeder Leidenschaft! ein Opferthier der Lust! / Wie? Der, der siebenfach von einer Schlange umwunden / Auf Blumen schläft und träumt, er sitzt auf einem Thron, / Der sollte glücklich sein?“ (HRA III/9,27f.). Auch Musarion gab, ohne sich zu „schämen“, einem „Aeffchen... den Busen preis“ (HRA III/9,14). Hier werden die Unterschiede zwischen den Grazien der Jugenddichtungen und der Biberacher Jahre deutlich. Beide lebten zwar in der Stadt, aber Aspasia war auch dort ganz Vernunft, ganz Geist, während für Musarion die Stadt der Ort war, in der sie die Sinnlichkeit erlebte. Einschränkend muß gesagt werden, daß es in der Stadt nicht nur dieses Element für Musarion gab, denn das geschilderte Vergnügen mit dem Gecken war eine vorübergehende Zerstreuung, nachdem sie sich von Phanias bedrängt gefühlt hatte. Ein weiterer Schauplatz ist das Erbgut von Phanias.

Vermittlung zwischen dem Zeitgeschmack und der Antike suchte. Er hielt sinnliche Schönheit und Grazie, verbunden mit feiner Geistesbildung für das eigentlich Kennzeichnende griechischer Art. 445 Vgl. dazu im „Neuen Amadis“ (HRA II/4, 68f.). Vgl. auch den in der Literatur des 18. Jahrhunderts. gestalteten Gegensatz von Palast und Hütte. Obwohl Wieland weltanschaulich das Hüttenideal ablehnt, kann Musarion und die „Philosophie der Grazien“ nur in selbst gewählter Absonderung von der Gesellschaft leben. Ähnliche Probleme wirft Wieland im „Nachlaß des Diogenes“ auf. 250

Das Innere wird als kleiner „Saal“ beschrieben, „der von des Hauswirths Schätzen / kein allzu günstig Zeugniß gab“. An anderer Stelle ist das Haus „klein“. Mehrmals wird es als „Hütte“ (HRA III/9,31,98) bezeichnet. Es besteht also ein deutlicher Unterschied zu den Örtlichkeiten zu „Theages“. Wenn man sich die körperlichen und seelischen Empfindungen gegenüber der Natur ansieht, so lassen sich diese bereits in den ersten Versen nachweisen. Es ist von „Gram“, „Verdrossenheit und Trübsinn“ die Rede, der bei Phanias „in Blick und Gang und Stellung“ sichtbar wurde. Er wandelt dabei „in einem Hain, der einer Wildniß glich“. Bemerkenswert ist der Zusatz „Und nah am Meer“ (HRA III/9,3). Das bedeutet bei Wieland heftigere Bewegungen und paßt nicht zu der sonst anmutigen Natur. So läßt dieser Hinweis Schlüsse auf den Menschen zu. Tatsächlich ist Phanias aufgewühlt - wie das Meer; für die anmutige Landschaft mit ihren sanften Bewegungen ist er nicht empfänglich. „Ermüdet wirft er sich auf einen Rasen nieder, / Sieht ungerührt die reizende Natur, / So schön in ihrer Einfalt, hört die Lieder / Der Nachtigall, doch mit den Ohren nur. / Ihr zärtlicher Gesang sagt seinem Herzen nichts: Denn ihn beraubt des Grams umschattendes Gefieder / Des innern Ohrs, des geistigen Gesichts. Empfindungslos... starrt...er zweifelsvoll“. Obwohl die Natur mit vielen angenehmen Reizen ausgestattet ist, hat Phanias dafür kein Empfinden; er „sinnt der schweren Reise des Lebens nach“ (HRA III/9,4). Es fällt ihm leicht, „den Dornenpfad zu klettern“, d. h. den sinnlichen Freuden zu entsagen. Der Schwärmer hat aber auch deshalb kein Empfinden für die anmutige Natur, weil er sich mit seinen Gedanken nicht mehr auf der Erde befindet. Sein Geist erhebt sich „Zum Rang des Göttlichen, ... / Zu einem Platz im Sternenplan...“446. In diesen himmlischen Sphären, wo man „ohne Furcht Kometen brennen sieht“, verbindet „kein Wahn die Augen“. Deshalb findet er „die Natur sich (stets) gleich, stets regelmäßig“ (HRA III/9,6f). Während solcher „schimmernde(r) Betrachtungen“ erscheint Musarion und Phanias läuft „durch ungebahnte Pfade“. Er wand sich wie eine Schlange. Aber nur wenige würden in einer solchen Situation davonlaufen, selbst dann nicht, wenn „Im wildsten Hain ein Mädchen.. erschiene“ (HRA III/9,10f.). Das bedeutet, erst durch Musarion wird die anmutige Natur reizvoll. Das läßt den Schluß zu, daß außer einer anmutigen Natur noch andere Reize hinzukommen müssen, ehe die äußerlich gleich gebliebene Natur wirken kann. Musarion beschreibt eine solche Natur, die man erst so empfindet, wenn man nicht mehr allein ist, sondern einen Freund hat. „Wenn um ihn her die muntern Lämmer springen, / Indem er sorgenfrei in eignem Schatten sitzt, / Und Zephyrn, untermischt mit bunten Schmetterlingen, / Gemähter Wiesen Duft ihm frisch entgegen

446 An anderer Stelle heißt es: „Im reinsten Quell des Lichts... / Der Sfären mistischen, verworrnen Tanz verstehen / Und bis ins Reich der reinen Geister streifen“ (HRA III/9, 7). 251 bringen, / Die Vögel um ihn her aus tausend Zweigen singen, / Und Alles, was er sieht, zugleich ergetzt und nützt: / Wie leicht vergißt er da, er, der so viel besitzt, / Daß sich sein Landhaus nicht auf Marmorsäulen stützt...“ (HRA III/9,25). Ähnlich fühlt Phanias erst am Schluß, als er sich mit seiner Freundin versöhnt hat und er innerlich reich und zufrieden ist . „Ein Garten, den mit Zephyrn und mit Floren / Pomona sich zum Aufenthalt erkoren; / Ein Hain, worin sich Amor gern verliert, / Wo ernstes Denken oft mit leichtem Scherz sich gattet! / Ein kleiner Bach, von Ulmen überschattet, / An dem der Mittagsschlaf ihn ungesucht beschleicht; / Im Garten eine Sommerlaube, / Wo, zu der Freundin Kuß, der Saft der Purpurtraube, / Den Thasos schickt, ihm wahrer Nektar däucht“ (HRA III/9,98).

Im Zusammenhang mit den Empfindungen des Menschen spielt die Tageszeit eine Rolle. Vor allem die vom Licht des Mondes kaum erhellte Nacht begünstigt erotische Empfindungen. So lag Musarion um Mitternacht „auf ihrem Ruhebette, als „Ein leicht Gewölke... des Mondes Silberschimmer“ brach (HRA III/9,81). In dieser Situation kommt Phanias zu ihr. dieses „matte zweifelhafte Licht, / Das Amor selbst zu seinen süßen Scherzen / Erfunden hat“ (HRA VI/17,184), wie es in „Idris und Zenide“ heißt, blieb auf die beiden Liebenden nicht ohne Wirkung. Deshalb entschuldigt der Dichter sie auch: „Die Nacht, die Einsamkeit, der Mondschein, die Magie / Verliebter Schwärmerey, ... wie Vieles kommt zusammen“ (HRA III/9,85f.). Und so folgt „dieser schönsten Nacht“ der „schönste Tag“ (HRA III/9,97). Auffällig sind auch die Vergleiche des Menschen mit der Natur; diese spiegeln menschliche Regungen wider. An den Vergleichen wird die trübe oder heitere Stimmung des Menschen sichtbar447.

Wenn man die Schauplätze und Landschaftsschilderungen der beiden Werke vergleicht, ist festzustellen, daß die Natur in beiden Fällen ihre Reize hat; aber erst in „Musarion“ können sie von den Menschen aufgenommen werden, auf ihn wirken, weil sie sich darin „bewegen“. Manchmal wird auch ein Schauplatz erst durch die Grazie zu einer reizenden Örtlichkeit. So wird Phanias’ Hütte durch seine Freundin zu einem „Musentempel“, weil „ihr das Glück beschieden sey, / Die liebenswürdigste der Musen zu beschatten“ (HRA III/9,33). Die „reizende Philosophie“ findet ihre Entsprechung in der Welt. Glücklich ist nur der, der sie „Für kein Elysium, für keine Hölle hält“ (HRA III/9,100). Auch hier wird ein Mittelweg eingeschlagen. Bezüglich des Zusammenhangs von Kunst und Natur in den Naturschilderungen wird auf „Theages“ verwiesen bzw. mit Wieland selbst beantwortet: „... 252 die Natur, von der diese ganze Zeit über die Rede war, ist ja wahrscheinlich nicht die Natur selbst, sondern bloß die Natur, wie sie sich in unsern Augen abspielt - und dieß rückt Natur und Kunst um ein Beträchtliches näher zusammen“448. An dieser Auffassung hat sich gegenüber „Theages“ nichts geändert; nur wird der Zusammenhang nicht explizit betont. Lediglich am Schluß heißt es, „Bescheidne Kunst, ..., Giebt der Natur... / Den stillen Reitz, der ohne Schimmer rührt“ (HRA III/9,98).

5.2.7 Wirkungen auf Zeitgenossen

Während für „Theages“ keine Zeugnisse über die Aufnahme und Kritik bei den Zeitgenossen bekannt sind, liegen für „Musarion“ eine Reihe von Beweisen dafür vor. Es muß allerdings berücksichtigt werden, daß Wieland 1768 bereits ein viel und gern gelesener Autor war, er zählte zu den literarischen Berühmtheiten Deutschlands449. Obwohl der Verleger in Zürich Schwierigkeiten mit der Zensur befürchtete und „Musarion“ daraufhin in Leipzig erschien, hatte das Werk unmittelbar nach Erscheinen großen Erfolg, so daß ein halbes Jahr später eine Neuauflage erforderlich wurde. In der Vorrede zu dieser Auflage erwähnt Wieland bereits die positive Aufnahme beim Publikum450 Im übrigen hat Gruber die Stimmen der Zeit gesammelt451. In der Literatur wird Goethe als einer der ersten Bewunderer der Verserzählung genannt452. Er schrieb 1811 in „Dichtung und Wahrheit“ über seine ersten Eindrücke: „Musarion wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam, welchen mir Oeser mitteilte... Alles was in Wielands Genie plastisch ist, zeigte sich hier aufs vollkommenste... Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heiteren Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche bei leicht verfehlter Anwendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden. Man verzieh dem Autor, wenn er das, was man für wahr und ehrwürdig hielt, mit Spott verfolgte, um so eher, als er dadurch zu erkennen gab, daß es ihm selbst immerfort zu schaffen mache“453. Auch im „Maskenzug 1818“ bestätigt Goethe über Wielands Tod hinaus seine Sympathie für „Musarion“454.

447 Vgl. dazu H 4, 8, 15 und 18 bzw. H 4, 19, 21, 25 und 35f. 448 AA I/14, 159, Z. 7ff. 449 Nachwort zu C. M. Wieland: Musarion oder die Philosophie der Grazien, hg. Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 73. 450 Vgl. HA 4, 321f. 451 Gruber Band 15, S. 298-309. 452 Vgl. K. Trost: Wieland und das Humanitätsideal, in: Grenzboten 46 (1887) IV, Nr. 50, S. 526; vgl. W. Dittrich: Erzähler und Leser in C. M. Wielands Versepik, Diss. Berlin 1974, S. 167. 453 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 10, S. 299. Vgl. dazu Bernhard Seuffert: Der junge Goethe und Wieland, in: Zeitschrift für Deutsches Altertum und deutsche Literatur 26 (NF 14), Berlin 1882, S. 252-287. Vgl. 253

1771 erschien in Paris „La Philosophie“ von Dorat. In den Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom Jahre 1772 heißt es, „dieses Werk des Herrn Dorat sehen wir, so wie die M u s a r i o n unsers Wielands, als den Schlüssel zu seiner ganzen Philosophie an455. Hier wird schon seine Lebensphilosophie in Musarion erkannt. Eine positive Rezension zur 2. Auflage erschien am 11. 7. 1769 von Heinrich Wilhelm Gerstenberg456: „Es ist zufälliger Weise geschehen, daß wir bisher noch nichts von einem der anmuthigsten Gedichte gesagt haben, das vielleicht je geschrieben ist.... Wer kennt die scharfsinnigste der Grazien solutis zonis, wer kennt Musarion nicht? Wer hat ein Herz, und muß sie lieben? Wir reden... von der neuen Ausgabe dieses allerliebsten kleinen Gedichts, die nicht allein wegen ihrer äußern Schönheit, sondern noch besonders durch eine Zuschrift an Herrn Weiße merkwürdig ist...“. Auch Loebell bekennt, daß der Beifall, den „Musarion“ fand, außerordentlich war. Er versucht eine Deutung der Wirkung auf die Zeitgenossen. „Man muß, um ihn erklärlich und gerechtfertigt zu finden, bedenken, wie sehr das Gedicht abstach gegen die Trockenheit, mit welcher damals die populäre Moral vorgetragen wurde, deren Gehalt, schwebend zwischen ascetischer Strenge, Süßlichkeit und Plattheit, auch nicht eben anziehend war“457. 1789 schreibt Hottinger in einer Preisschrift458: „Wielands Musarion ist, man mag sie ansehen, von welcher Seite man will, eines von den Meisterwerken, welche zu lesen und zu betrachten man niemals satt wird. Sie gleicht jenen seltenen Schönheiten, welche unser Herz nicht allmählich, sondern mit einmal erobern und auf den ersten Blick alle unsre Sinne bezaubern: die durch alles, was sie uns ganz oder halb zeigen, gefallen, aber durch einen gewissen geistigen, unsichtbaren, oder doch unnennbaren Reiz uns doch weit mehr entzücken, und Aug’ und Herz um so mehr fesseln, je auch Goethe „Zu brüderlichem Andenken Wielands“, wo er meinte, Wieland machte es Vergnügen, „das Liebenswürdige einer Musarion.... hervorzuheben“; Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 703. 454 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 3, S. 729f. Den Einfluß, den Wielands Graziendichtungen auf Johann Georg Jacobis sittliche Grazie ausübte, hat Pomezny erläutert. Pomezny, S. 217; vgl. J. G. Jacobi: Charmides und Theone, der die sittliche Grazie zuerst 1773 im TH veröffentlichte. Vgl. dazu Georg Ransohoff: Über J. G. Jacobis Jugendwerke, Diss. Berlin 1892, S. 56ff. 455 Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772, hg. Bernhard Seuffert, Heilbronn (1882)-1883, S. 171. 456 Gerstenbergs Recensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767-71, hg. O. Fischer, Berlin 1904, S. 233ff. Käthe Kluth hat diese Recension kritisch erläutert; vgl. Käthe Kluth: Wieland im Urteil der vorklassischen Zeit, Diss. Greifswald 1927, S. 23. 457 Johann Wilhelm Loebell: C. M. Wieland, in: ders.: Die Entwicklung der deutschen Poesie von Klopstocks erstem Auftreten bis zu Goethes Tod, Bd. II, Braunschweig 1858, S. 188f. 458 Johann Jakob Hottinger: Versuch einer Vergleichung der deutschen Dichter mit den Griechen und Römern, Zürich 1789, S. 70f. Vgl. auch HA 4, 932. Eine von Wielands Verehrerinnen, die Gräfin Wartensleben, teilte dem Dichter Weihnachten 1770 ihre Eindrücke mit: „Ich muß Ihnen sagen, daß mein Geist Ihren Idris, Ihre(n) Musarion verschlungen hat, und noch mehr, daß ich - o wie freut es mich! - Sie ganz und so verstand, daß ich Sie gegen die seichten und gegen die mit Vorurteilen umnebelten Köpfe Satz für Satz verteidigt habe. Aber ich muß Ihnen auch lachend vertrauen, daß ich, seit dem ich Ihre Werke preise und Ihre Grundsätze verfechte, mancher Achtung verloren habe und oft lispelnd sagen höre: ‘Die ehrbare Frau denkt wie Wieland; Sie gesteht, daß wir 254 weniger sie sich um uns zu bekümmern scheinen. - Statt die Rolle des Sittenlehrers zu übernehmen und ... zu dogmatisieren, stellt der Dichter uns seine Betrachtungen in einer kleinen Gruppe gut konstrastierter Personen zur Schau und führet uns durch eine Reihe von Charakteren, Situationen und Handlungen, welche anziehend genug sind, um das Interesse zu reizen, aber nicht genug, um den dogmatischen Zweck, welchem die Geschichte dienstbar sein soll, zu überdämmern. ... Allein wie sehr verdient nicht die Wahl der Personen.... die Erfindung und die so kunstlose Herbeiführung der Situationen und Vorfälle unsre Bewunderung? ... Und nun sage man nur, welcher Dichter eine so reizende Idee und einen so wahrhaft poetischen Plan zu einem didaktischen Gedicht jemals geboren habe. Von der vortrefflichen Ausführung dieses Plans, von dem bezaubernden Kolorit, von der unbeschreiblichen Grazie und der Leichtigkeit, womit alles wie durch einen Guß mehr zu werden als gemacht zu sein scheint, sage ich nichts. Wer dies alles an Wieland kennt und gefühlt hat, dem würde keine Beschreibung genug thun, und wer es nicht fühlt, dem würde keine was helfen“. In dieser Rezension wird deutlich, was Wielands Grazien und seine ‘Grazie’ ausmachten. In der „Allgemeinen deutschen Bibliothek wird „Musarion“ als eines „von unsern schönsten und vortrefflichsten Gedichten“ genannt; die Schönheit dieses Gedichtes soll nicht zergliedert werden, sie „ist eine Sache, die wir den Lesern von Geschmack“ überlassen459. 1794 erschien in Berlin von Manso „Die Kunst zu lieben. Ein Lehrgedicht in drey Büchern“, das sich als eine schlechte Nachahmung von Wielands „Musarion“ herausstellt, wie Schiller feststellt. In den Xenien 33-42 wird der Breslauer Gymnasialdirektor als „deutscher(n) Ovid“ deshalb verspottet460.

Nicht alle Zeitgenossen waren mit dieser Philosophie der Grazien einverstanden. Neben positiver, überschwenglicher Zustimmung, wurde die Sittenlehre, Wielands Moralauffassung, verdammt. Es ist möglich, daß die „Komischen Erzählungen“ nachgewirkt haben. Am 28. 1.

solche Weiber sind, wie er sie schildert’: Und da staunt man und kann sichs nicht auflösen, wie es doch möglich sei, daß ich so dächte und nie das Vorurteil verletzt hätte“. 459 AdB, hg. Friedrich Nicolai, Berlin 1770, Bd. 12, 2. Stück, S. 288. 460 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bde., hg. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert, 5. Aufl., München 1973, Bd. 1, S. 260f. Xenie 33: „Manso von den Grazien / Hexen lassen sich wohl durch schlechte Sprüche zitieren, / Aber die Grazie kommt nur auf der Grazie Ruf“. Xenie 35: „Die Kunst zu lieben / Auch zum Lieben bedarfst du der Kunst? Unglücklicher Manso, / Daß die Natur auch nichts, gar nichts für dich noch getan!“. Xenie 36: „Der Schulmeister zu Breslau / In langweiligen Versen und abgeschmackten Gedanken / Lehrt ein Präzeptor uns hier, wie man gefällt und verführt“. Vgl. Karl Friedrich Hommel (1722-1781) „Parodie nach Wielands Musarion und einer Stelle zu Peter Pennyless“. Die Parodie steht in dem anonymen Werk mit dem Titel „Kleine Plappereyen“, Leipzig 1773, S. 386-392, 84. Stück. 255

1771 erschien in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“461 eine anonyme Rezension der „Grazien“. Der Verfasser nahm dieses zum Anlaß, über Wielands gesamte Graziendichtungen kritische Aussagen zu machen, d.h. auch über „Musarion“. Der Rezensent stellt im Zusammenhang mit der Moral die rhetorische Frage, ob die Grazien dem Leser gefährlich werden können, und man spürt den Unterton, der an die moralische Erbitterung der Göttinger Dichter über den frivolen Wieland erinnert462. „Von den Grazien des Kleinen“ handelt eine parodistisch-polemische Schrift Bodmers von 1769463 als Entgegnung auf die Philosophie der Grazien, die Wieland und Jacobi vertraten. Ausdrücklich wandte sich Bodmer gegen Wieland: „Wir können uns darum versprechen, daß der Poet, der die Philosophie der Grazien geschrieben hat, das Zujauchzen von den Journalisten erhalten werde, welchen sein geprüfter Abraham, und seine grabsingenden und nachtwandelnden Briefe der Abgestorbenen umsonst entgegen gehexametert haben. Denn was ist diese Philosophie der Grazien anders als Die Kunst, die Ovid in ein System gebracht, / Die kleinen Wendungen, der Wollust kleine Schwünge, / womit eine Cokette den Zeno, und den Pythagoras, / und den Plato in Silenen, Corybanten, Bacchanten und Geisterseher umgebildet, den einen zu einer Meze ins Bette den andern in einen Stall gebracht hat? Und eben diese Philosophie der Grazien ist zugleich die Grazie der Philosophie. Wie unglücklich wären beyde diese Grazien und ihre Philosophie verschwunden, wenn der Poet nicht Theophron zum Silen, und nicht den Cleanthen zum Vieh hinabgesetzt hätte!“464 Wenn sich diese Angriffe vornehmlich gegen Wielands Werke richteten, so darf nicht übersehen werden, daß auch persönlich zwischen Bodmer und seinem ehemaligen Schüler Unstimmigkeiten bestanden, wie aus der Vorrede zur 2. Auflage von „Musarion“ hervorgeht465.

461 Kritik der „Grazien“ St. 12, S. 102f. Vgl. dazu Wielands gereizten Brief über diese Rezension der Grazien durch Kästner in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vom 18. 1. 1771, abgedruckt bei Victor Michel: C. M. Wieland, S. 489ff. 462 Nach Manfred Poitzsch: Zeitgenössische Persiflagen auf C. M. Wieland und seine Schriften, Frankfurt 1971, S. 96, handelt es sich bei dieser satirisch gehaltenen Rezension um einen scharfen Angriff auf den Rokokodichter Wieland und seine „Philosophie der Grazien“; er meint, man dürfe vermuten, daß die Rezension einen starken Eindruck auf das Lesepublikum dieser Zeitung gemacht habe. 463 J. J. Bodmer: Von den Grazien des Kleinen in der Schweiz im Namen und zum Besten der Anakreontchen, 1769, zit. nach Wiederabdruck im Anhang von F. Ausfeld: Die deutsche anakreontische Dichtung des 18. Jahrhunderts, Straßburg 1907. 464 J. J. Bodmer, Von den Grazien des Kleinen, S. 162. 465 Wieland geht darin auf die Angriffe ein, die Bodmer gegen Weisse gerichtet hat (dieser hatte seine dramatischen Arbeiten unter dem Titel „Beiträge zum deutschen Theater“ herausgegeben). Wieland stand inzwischen nicht mehr auf Bodmers Seite, hatte aber wegen der alten Freundschaft nicht selbst das Wort in dieser Sache ergriffen, sondern indirekt Riedel damit beauftragt. Dieser hat zwar Wielands Meinung vertreten, aber war dabei etwas ungeschickt vorgegangen. So spricht er in der Vorrede zu „Musarion“ selbst aus, daß er mehr auf Weisses als auf Bodmers Seite stehe; vgl. Wielands Werke, 6 Teile, hg. Heinrich Pröhle, Berlin/Stuttgart (um 1887), Bd. 1, S. 5. 256

Diese Zeugnisse mögen genügen, um daraus einige Schlüsse ableiten zu können. Einmal ist den zeitgenössischen Reaktionen zu entnehmen, daß Wieland mit seiner Grazienphilosophie Wirkungen erreichte. Daß es nicht nur positive Stimmen sein würden, dessen war er sich bewußt466. Durch sein gesamtes dichterisches Werk zieht sich der Kampf gegen konträre Ansichten und Meinungen, aber daß er mit „Musarion“ etwas Besonderes geleistet hatte, dessen war er sich sicher467. Neben einigen schlechten Nachahmungen (vgl. H 38, 204f.) wird an „Musarion“ in erster Linie die darin vertretene Sittenlehre, die in dieser ungewöhnlichen Art vertretene Verbindung von Kopf und Herz verdammt, die mit der damaligen Moralauffassung nicht in Einklang zu bringen war. „Die Zeichnung der Frauengestalten ist es, die ihm Zuneigung und Kritik der Leser zugleich einbringt. Die sich frei entscheidende, die emanzipierte Frau, die dennoch weibliche Anmut und Grazie bewahrt, das ist das bis dahin unerhört Neue“468. Innerhalb der positiv gehaltenen Kritiken fällt auf, daß hauptsächlich Wielands Sprachkunst hervorgehoben wird. Einige Zeitgenossen „spürten“ die „Grazie der Neuheit“ (H 36, 168). Diese beiden Aspekte werden auch in der ausführlich, durchweg positiv gehaltenen Rezension der „Neue(n) Bibliothek der schönen Wissenschaften“ nach Erscheinen der 2. Auflage von einem Ungenannten hervorgehoben. Einerseits werden der „Reichthum von Ideen, ... (die) Stärke und Richtigkeit in ihrem Ausdrucke, ... (die) Ausbildung und Rundung in der Zusammensetzung der Perioden ... (und die) Harmonie in der Versification“ hervorgehoben, andererseits aber die Verbindung von Tugend und Sinnlichkeit, Vernunft und den naturgemäßen Trieben angegriffen. „Aber warum mußte sich diese sinnliche Liebe doch mit allem in einem Werke zeigen, das schon so viel Sayten des Herzens berühret hatte... Unser Verfasser hat sich seit einiger Zeit in allen seinen Werken zur Absicht gemacht, uns unsre eigne Tugend verdächtig zu machen, uns der angenehmen Ueberredung zu berauben, daß wir Neigungen fähig wären, die weder aus Instinct noch Eigennutz herstammten; mit einem Worte: uns zu zeigen, daß wir immer aus Vernunft und aus Tugend zu handeln uns einbilden, und immer aus Leidenschaft und körperlichem Triebe wirklich handeln...“469

466 Wielands Werke in 4 Bde., hg. Gotthold Klee, Leipzig 1900, Bd. 1, Vorwort S. 30. 467 Das geht aus seinen Brief an Riedel (DB I, 186) und seiner Vorrede zur 2. Aufl. an Weisse (HA 4, 319ff.) hervor. Vgl. Brief an Georg Jacobi vom 17. 2. 1779, in der „Musarion“ ein „Werklein“ nennt, „wozu mir unter Alten und Neuen kein Muster und Paradeigmai bekannt ist“. Noch 1805 erklärte er (zu dem Engländer H. C. Robinson) diese Verserzählung für sein bestes Werk. Vgl. H. Eitner: Ein Engländer über deutsches Geistesleben, im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, Weimar 1871, S. 300. 468 HA 4 (Nachwort), S. 932f. 469 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, hg. Chr. F. Weisse, Bd. 9 (1769), S. 114 und 129. 257

5.2.8 Ästhetische Gestaltungsmittel

In „Musarion“ werden im Unterschied zu „Theages“ vollkommene Tugendhelden und vollkommene Bösewichter abgelehnt, wie auch im „Agathon“ (HRA I/ 2, 249f.). Wielands realistischere Charakterauffassung hat sein Grazienbild beeinflußt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Musarion von den Tugendheldinnen Richardsons und Aspasia.. Noch 1760 hatte Wieland Clarissa und den Grandison für „Modelle“ oder Copeyen“ der vom Dichter darzustellenden Schönheit hingestellt470. Im Laufe seiner Wandlung war er von den idealistischen Charakteren Richardsons abgerückt. Dennoch haben sich die grundsätzlichen Vorstellungen nicht geändert. In Zürich schreibt Wieland die „Theorie der Red=Kunst und Dicht=Kunst471, in der er die Ansicht vertrat, die Dichtkunst sei eine Kunst, „die das Wahre und Schöne in der Natur auf eine solche Art mit Worten zu schildern (vermag), wodurch diese Gegenstände die lebhaftesten Eindrücke auf die unteren Seelenkräfte machen und wodurch ein hoher Grad des Ergötzens bei dem Leser erweckt werden kann“472. 1773 schreibt er, die Dichtkunst müsse sich „über die bloße Nachahmung der individuellen Natur..., über die unvollkommenen Modelle einzelner Kunstwerke erheben, aus den Zügen des über die ganze Natur ausgegossenen Schönen sich ideale Formen bilden und aus diesen die Urbilder zusammensetzen, nach denen sie arbeitet“473. Es gibt Ansätze, die zu belegen versuchen, daß Wieland am Ende der Züricher Jahre eine „poetologische Kehre“ gemacht habe, die den Dichter von der Poetik der „möglichen Welten“ zur Poetik des Empirismus führt474. Nicht nur in der Literaturwissenschaft ist dieser Ansatz umstritten475. Wieland selbst verband

470 Vorbericht zum „Cyrus“ (WA 4, 824). 471 Es wäre ein interessanter Aspekt, diese noch in der Schweiz entstandene Schrift auf ihre Beziehungen zu den ästhetischen Werken von Bodmer und Breitinger zu untersuchen. 472 AA I/4, 334ff. Hier sei angemerkt, daß die Forderung noch nicht von Shaftesbury beeinflußt war, weil die Gedanken der inneren und äußeren Harmonie fehlen; vgl. Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 67. 473 Bemerkungen zum Aufsatz Chr. H. Schmidts „Ueber den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses“ von 1773 (H 38, 174). Vgl. Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 33, und Gerd Matthecka, Roman und Romantheorie, S. 178. 474 Oettinger, S. 51. Das bedeutendste Ergebnis dieser Wandlung war der „Agathon“, den Oettinger als Paradigma der empiristischen Ästhetik Wielands ausführlich analysiert. Er sieht in der neuen Poetik Wielands eine „Kontroverspoetik“ gegenüber den Schweizern; S. 32, die als „Abrechnung“ mit den von ihnen propagierten spekulativen Prinzipien aufzufassen sind, S. 31 und 76. 475 Vgl. dagegen die Kritik an Oettinger bei Müller-Solger, Publikationen, S. 101f. Er kritisiert die einseitige Sichtweise Oettingers und meint, die Poetik Wieland sei erst vollständig bestimmt, wenn nicht nur die Prinzipien der Wirklichkeitsdarstellung, die tatsächlich häufig den Erfahrungsprinzipien des Empirismus entsprechen, sondern auch die idealistische Rückbindung der Darstellungsintention und das Problem der Wirkungsabsicht des Autors in die Betrachtung mit einbezogen würden, S. 101f. Vgl. Müller-Solger, Dichtertraum, S. 209ff. und 249ff. Er versucht, Wielands Kunsttheorie als Wirkungsästhetik zu interpretieren. Vgl. auch Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 21, der auf den für die Dichtung Wielands konstitutiven Charakter des Wirkungsbezugs hinweist.. 258 empirische Wirklichkeitserfassung und idealistische Zielvorstellungen476. In einem Brief schreibt er: „Was hätten wir davon, wenn der Maler und der Poet nicht das Vermögen hätten, die Dinge durch die Magie des Ideals umzugestalten? Wodurch entsteht für den sensiblen Zuschauer der Reiz ihrer Werke? Was wären die Grazien, denen die Natur kein Vorbild anbieten kann, die Galatee, Danae, Hebe?“477. Es ist insofern eine poetologische Neuorientierung erkennbar, als Wieland sich in der Vorrede zu „Cyrus“ dazu bekennt, anstelle übermenschlicher Helden in Zukunft nur noch ideale Persönlichkeiten darzustellen, die zwar die unvollkommenen Mitmenschen überragen, nicht aber „als Übermensch in mythischer Ferne unerreichbar“ sind. So nennt er „Cyrus“ ein „menschliches Heldengedicht“. Ob ihm diese Art der Darstellung noch Schwierigkeiten machte, läßt sich nicht klären. Feststeht, daß „Cyrus“ ein Fragment blieb und in „Araspes und Panthea“ thematisch teilweise wieder aufgenommen wurde. Fest steht, daß die Figuren in „Theages“ zwar keine Übermenschen sind, aber auch keine menschlichen Schwächen zu haben scheinen. Da dieses Werk des öfteren als Übergangsdichtung betrachtet wird, muß angenommen werden, daß in diesem Fragment die Neuorientierung in der Dichtungstheorie von Wieland noch nicht vollzogen war. Erst im „Cyrus“ glaubt er, ein „sokratische(r) Dichter“478 zu sein. Wesentlich ist, daß in „Musarion“ die Schwächen der Helden von Wieland in einem milderen Licht gesehen werden. Er entschuldigt die menschlichen Fehler. In der Vorrede zur 2. Auflage ist es „... das milde Licht, worin sie (Musarion) die menschlichen Dinge ansieht“. An anderer Stelle spricht er von der Nachsicht „gegen die Unvollkommenheit der menschlichen Natur - welche, ... mit allen ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen...“479. Auch Musarion erklärt ihrem Freund, als dieser seine Freunde und deren Philosophie verdammt, „daß sie sehr menschlich sind, ... / Und in der That nicht ganz so weise / Als ihr System...“ (HRA III/9,91)480. Auch Blanckenburg bestätigt dem Dichter, daß er Natur und Wirklichkeit getroffen habe. „In der Musarion sind die handelnden Personen wahre Menschen; ich erkenne, daß sie es sind; ich sehe in ihnen das, was ich im wirklichen Leben betrachte und wozu ich die Anlage in mir selbst fühle“481. Obwohl Wielands Grazien in den Biberacher Werken auch idealistische Züge tragen, erscheinen sie gegenüber Aspasia in „Theages“ menschlicher, nicht zuletzt durch ihre körperlichen Reize. Der Zusammenhang von

476 § V der Abhandlung „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller“ (H 33, 173ff.) 477 DB I, 208f. 478 WA 4, 820 und 823 479 WA 4, 320. 480 Musarion tritt dem Leser auch dadurch menschlich entgegen, daß sie nicht Metaphysik, sondern Lebensphilosophie, Lebens- und Liebeskunst, die „reizende Philosophie“ lehrt; nach Sengle, S. 203. 481 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig/Liegnitz 1774. Faksimiledruck der Originalausgabe. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 281. 259

Kunst und Natur hat sich nicht grundlegend geändert. In der Verserzählung heißt es, „Was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt“ (HRA III/9,93). Das gilt in „Musarion“ sowohl für die menschliche Natur und die Landschaftsschilderungen, als auch für die Dichtung selbst. Diese Verbindung besteht ebenso für Wielands Grazien in den Biberacher Werken482. Geändert hat sich gegenüber „Theages“ nur, daß Kunst und Natur nicht mehr mit Nutzen und Zweck der Dichtung gekoppelt sind.

Zunächst faßt man im 18. Jahrhundert die Poesie als ein Mittel auf, die einen bestimmten Zweck zu erfüllen hat. Vornehmlich ging es darum, die Menschen zu bessern und zu belehren. Auch Wieland fühlte sich in seinen Jugendwerken diesen Grundsätzen der Aufklärung verpflichtet. Damit entstand der Zwang, Zwecke und Mittel, die nützlich sein könnten, zu bedenken. In „Theages“ finden sich Hinweise auf die auch von den Schweizern Bodmer und Breitinger vertretene Ansicht vom Nutzen und Zweck der Kunst, des Kunstwerks (HRA XIV/S4,159). Für Gottsched sollte jede Dichtung eine moralische Wahrheit enthalten, die Poesie wurde zum „Sprachrohr der Moral erniedrigt“ die Musen waren Lehrerinnen geworden. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts wird es der Poesie erlaubt, auch zu erfreuen und zu unterhalten. „Ästhetische Autonomie und Lösung von der Nützlichkeitsforderung bahnen sich an“. In der Dichtung herrscht „die Grazie der Form“483. Zwar spricht Wieland in der Verserzählung in einem anderen Zusammenhang noch von „ergetzt und nützt“ (HRA III/9,25), aber die Dinge der Natur haben nicht mehr einen bestimmten Zweck oder sollen nützlich sein. Auch die Kunst ist nicht mehr in einer Linie zweckbedingt484. Wie die Natur, so soll auch die Kunst an sich schön sein und allein durch ihre Schönheit, ohne einen bestimmten Zweck zu erfüllen, ihre Berechtigung haben. Darum hat für den älteren Wieland jedes Kunstwerk „seinen Zweck in sich selbst“. Die „Schönheit“ wird zum einzigen Kriterium für die Beurteilung der Kunst, ob noch moralische Nützlichkeit hinzukommt, ist gleichgültig485. Damit nähert sich der Dichter den von Kant und Schiller in dieser Hinsicht für die Klassik maßgebenden Idealen vom Eigenwert der Kunst. Seine

482 Vgl. die Ausführungen von Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 63-71. 483 B. A. Soerensen: Das deutsche Rokoko und die Verserzählung im 18. Jahrhundert, in: Euphorion 48 (1954), S. 131. Vgl. dazu J. E. Schlegel: Abhandlung von der Nachahmung (1742), in: Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken, hg. Bernhard Seuffert. Bd. 26: Johann Elias Schlegels aesthetische und dramatische Schriften, Heilbronn 1887. Er stellt fest, „es mögen die strengsten Sittenlehrer sauer sehen wie sie wollen, ich muß gestehen, daß das Vergnügen dem Unterrichten vorgehe...“, S. 25. 484Zwar betont Wieland auch später, daß „alles, was den Menschen und seinen Zustand vervollkommnet, den Nahmen des Nützlichen verdient“ (AA I/21, 138), aber damit ist nicht gefordert, daß die Kunst nützlich sein soll, sondern erklärt, daß sie nützlich ist. Wieland war sich dieser problematischen Behauptung bewußt, so machte er gelegentlich Zugeständnisse: „Es ist wahr, daß beinahe alles Nützliche schön, alles Schöne nützlich sein kann“ (AA I/21, 138). 260 früheren Äußerungen, daß z. B. die Kunst den Menschen „von den sinnlichen Dingen ablocken“ und dadurch erziehen müsse486, will Wieland sich nicht mehr eingestehen, und so setzt er in der Ausgabe letzter Hand zu jener in „Theages“ zitierten Stelle eine Anmerkung (HRA XIV/S4,159f., 40,119)487. Was allerdings in „Musarion“ und den späteren Werken für Wieland wichtig bleibt, sind die erzieherischen Bemühungen. Diese häufig zu findenden Mitteilungen seiner Philosophie und moralischen Anschauungen haben mehr andeutenden Charakter, vergleichbar mit dem Schleier der Grazien488. So charakterisiert Wieland seine „Gedichte im Geschmack der Musarion, das ist wo der U n t e r r i c h t , wie wohl er die Hauptsache ist, sich unter E r z ä h l u n g und D i a l o g versteckt“489. Unterricht in dieser Form ist kein Überzeugen, sondern ein Wirken auf die „untern Seelen-Kräfte“. Wie die Grazien, so möchte auch Wieland wirken, aber nicht unter dem Zwang von Nutzen und Zweck. Auch in der Gattung bemühte sich Wieland um einen Mittelweg. „Musarion“ vermag „auf weniger problematischem Raum leichter und unverbindlicher als der ‘Agathon’ den gesuchten Ausgleich zu finden“490. Was Wieland inhaltlich als ein „ziemlich systematisches Gemisch von Philosophie, Moral und Satire“ zu umschreiben versucht491, findet formal seine Entsprechung darin, daß er die Verserzählung eine „neue Art von Gedichten (nennt), welche zwischen dem Lehrgedicht, der Komödie und der Erzählung das Mittel hält, oder von allen dreyen etwas hat“492. Es ist „eine reizvolle Mischung von Nuancierung der überkommenen Formen“493. Man könnte auch sagen, bei „Musarion“ handele es sich „um ein Werk der Randzone, des Übergangs zu anderen Gattungen mit allen spezifischen Reizen und dem ... Reichtum dieser Gebilde“494. Wieland war es dadurch möglich, sich leicht und ungezwungen zwischen den drei Genres hin- und herzubewegen. Auch wenn „Musarion“ gattungsmäßig zu den Verserzählungen zählt, bewegt sie sich zwischen Lyrik und Epik. Es ist nicht möglich,

485 Im „Aristipp“ betont Wieland den Selbstzweck der Kunst; HRA XI/34, 301f. 486 Vgl. HRA XIV/S4, 160, wo Wieland der Meinung ist, daß „eine Sittenlehre in allegorischen Gemälden nach der Idee, die Shaftesbury in seinem Briefe über die Wahl des Hercules davon giebt, ein vortreffliches Mittel wäre, den Geschmack und das Herz der Jugend zu bilden“. 487 Vgl. dazu den Abschluß dieses Kapitels. 488 Vgl. Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 29. 489 TM 1773 I, S. 31-33 (AA I/21, 12/13). Epilog des Herausgebers, indem Wieland die Gattung der komischen Erzählungen charakterisiert. 490 Günter Müller: Geschichte der deutschen Seele, Freiburg 1939, S. 242. Vgl. dazu Victor Zmegac (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Königsstein/Ts. 1978, Bd. I/1. Er nennt „Musarion“ ein „spielerisch-heiteres Gegenstück zum gewichtigeren Bildungsroman“ und glaubt, Wieland variiere mit „leichter Hand das Grundthema des ‘Agathon’, den Zwiespalt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit“, S. 313f. 491 AB I, 289. 492 Brief vom 29. 8. 1766 (DB I, 38). Es sind alle drei Elemente, die auch im Bildungsroman des späten 18. Jh. integriert sind. 493 Sengle, S. 205. 494 Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974, S. 171. 261 auf die einzelnen Gattungen einzugehen. Für die „Erzählung“ wird auf Barthel495 verwiesen, auf die Elemente der Komödie ist Rowland eingegangen496, der Lehrgedicht-Charakter497 ist in der Literaturwissenschaft umstritten498. Daß Wieland ihn nicht ganz abgelehnt hätte, geht aus seinen Wirkungsabsichten hervor, die im folgenden Kapitel erläutert werden.

Wielands Kunst ist Formkunst499, d.h. er bringt Vorgefundenes in eine bessere Form. Den Stoff übernimmt er von anderen. Meistens gibt er sogar mit betonter Beiläufigkeit die Quellen an, aus denen er schöpft. Allerdings hat er sich dabei nicht an die strengen herkömmlichen Regelpoetiken gehalten. Die starre Regelhaftigkeit des Klassizismus lehnt er genauso ab wie später die völlige Regellosigkeit des Sturm und Drang. Er hat sich das „Geheimnis der Wellenlinie des Stils“ bewahrt500. „Was die Dichtung inhaltlich und formal bestimmt, ist die Idee des Maßes“501. Das Ausgleichende wird nicht nur durch Wielands Grazien vertreten, sondern es bestimmt auch die Struktur seines Werkes. Ihm kam es auf das Gleichgewicht an, wie sich auch Musarions Gemüt im „Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit“ (HA 4,320). hält. Dabei kommt es auf die bereits erwähnten leichten Bewegungen an, denn auch formal kann das Gleichgewicht nur erreicht werden, wenn man sich zwischen den Extremen hin- und herbewegt. Diese unmerklichen Bewegungen strebte

495 Marga Barthel, Das Gespräch, S. 87-90. 496 Herbert Rowland, „Musarion“ and Wielands Concept of Genre, S. 53-80. 497 Zum Lehrgedicht vgl. u. a. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1792/93, Bd. III, S. 172ff.. Johann Jacob Engel: Poetik, 1806; „Musarion“ als Lehrgedicht vgl. S. 149, 160f und 208f. Engel nennt „Musarion“ ein „wahres didaktisches Gedicht“. Hans-Wolf Jäger: Lehrdichtung, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, Bd. 3 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. Rolf Grimminger), München 1980, 2. Teilbd., S. 500f. (zu „Musarion“, S. 531f.). W. Ulrich: Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts im 17./18. Jahrhundert, Diss. Kiel 1959. Er meint, mit Wielands „Musarion“ beginne die Abkehr vom eigentlich Didaktischen. „Wielands Weg der Wandlung von der moral-pädagogischen Zielsetzung seiner Frühzeit zum moral-ästhetischen Prinzip der ‘Musarion’ und der ‘Grazien’ (1768/1769) bedeute gleichzeitig die endgültige Emanzipation der Dichtung, die moralische Werte vermitteln will, von der Philosophie“, S. 165. Vgl. auch Christoph Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung. 498 Vgl. Hans-Wolf Jäger: Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 44. Jg., Bd. 44 (1970), S. 561f. 499 Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 274. Auf S. 163ff meint Kausch, Grazie sei keine Sache des Stoffes, sondern der Form. Man müsse „bemerken, wie es der Dichter anfängt, graziös zu dichten. Zweifellos ist das, was man nicht nennen kann, aber tief empfinden muß, ... ihr unmittelbarer Ausdruck, die Form, in der sie erfahrbar ist“. Vgl. Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser, S. 59f. 500 Leisewitz schrieb am 25. 4. 1780 nach der Lektüre des „Oberon“ in sein Tagebuch: „Ich glaube, daß niemand das Geheimnis der Wellenlinie des Stils so in seiner Gewalt hat, selbst Lessings Stil ist eckig dagegen“, in: Johann Anton Leisewitzens Tagebücher, Weimar 1961, Bd. I, S. 188; auch in: Heinemann: Zur Erinnerung an Lessing, Leipzig 1870, S. 133. 501 Sengle, S. 203. Er weist darauf hin, daß der Aufbau der Dichtung genau der ideellen Struktur entspricht. Vgl. Wieland: Est modus in rebus, sunt cerit denique fines, quos ultra citra que nequit consistere rectum („Halt Maas in Allem, denn in Allem giebt’s ein Mittel, dessen Linie das Recht bezeichnet; diß- und jenseits wird gefehlt“ (AA I/4, 402f.). 262 der Dichter formal an, um seine Wirkungsabsichten nicht zu verfehlen502. Wenn im folgenden die äußere Form betrachtet wird, so geschieht das u. a. im Rückgriff auf „Theages“. Es kann in diesem Rahmen nur anhand einiger Details erläutert werden503, daß sich nicht nur Wielands Grazien entwickelt haben, sondern auch in formaler Hinsicht ein Wandel erkennbar ist504. Bereits im „Cyrus“ und in „Araspes und Panthea“ finden sich Merkmale dafür. Wieland erläutert im „Cyrus“-Vorbericht die neue Art der Versifikation: „Unser Verfasser (Wieland) ... ließ sich die Mühe nicht verdrießen, eine besondere Aufmerksamkeit auf den Mechanismus dieses Verses, auf die Baukunst der Perioden, und auf das, was die Alten den ‘Rhythmus’ nannten, zu wenden. Er fand sehr leicht eine Menge kleiner Regeln, die eben so schwer zu beobachten als leicht zu finden waren. Die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte, indem er nach der korrekten Schönheit des Ausdrucks, nach der musikalischen Harmonie der Versifikation und nach einer noch höhern Harmonie des ‘Tons’ seines ganzen Werkes strebte, lehrten ihn begreifen, warum es dem Vergil so sauer geworden war, schöne Verse zu machen, und warum es einigen Poeten so leicht ist, schlechte zu machen. Die größte Mühe war nicht diese Schwierigkeiten zu überwinden, sie war die Arbeit zu verbergen, und seinem Werke diese Leichtigkeit zu geben, ‘ut sibi quivis speret idem’...“ (WA 4,826).

Obwohl in den beiden erwähnten Werken die Verse noch nicht „so leicht und anmutig fließen wie es später in „Musarion“ der Fall ist , war sich Wieland der allmählichen Wende doch bewußt505. In „Musarion“ bewegt er sich mit künstlerischer Virtuosität zwischen Reimen und anscheinend kunstlosen Versmaßen hin und her506. Es ist die lose Ordnung, „die innere

502 Wieland spricht von der „Harmonie der Verse“ (H 4, 119) im Vorbericht ‘An den Leser’ zu „Geron der Adlige“. Vgl. auch WA 1, 927: „Die Reimstellung ist... frei und beweglich. Reimpaare mischen sich mit Wechselreimen und Spiegelreimen... Nimmt man hinzu, daß die unterschiedliche Länge der Verszeilen die Diktion nirgends schwer werden läßt, daß aber die drei Versarten immer den genauen Kontur wahren in der Beachtung der gesetzmäßigen Einschnitte, so erkennt man schon an diesen... Merkmalen die in reizvoller Harmonie wirkenden Gegensatzkräfte der Bindung und der Freiheit. 503 Vgl. dazu im einzelnen WA I, 926f.; vgl. auch Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 117f. 504 Zum Wandel vgl. u. a. Marga Barthel, Das Gespräch, S. 19ff.; vgl. auch HA 3, 944f. Daß Wieland besser in Versen als in Prosa so leicht und anmutig wirken konnte, hat er selbst poetisch dargelegt: „Allein wir haben selbst ein zärtliches Gemüt, / Und mögen gern (wer will, kann unsrer Schwachheit lachen!) / Die Leute, wenigstens in Versen, glücklich machen. / In Prosa, freilich, gehts so leicht nicht immer an!“; WA 1, 853. 505 Daß er etwas völlig Neues geleistet hatte, schreibt er im Zusammenhang mit der Arbeit am „Endymion“ an Zimmermann. Auf die Kritik seines Freunde an den „Komischen Erzählungen“ antwortet Wieland am 3. 5. 1764: „Aber mein Herr Doktor, haben Sie nicht bemerkt, daß in der Versifikation, in den rimes redoublees, in dem Numero der Perioden, in der Wahl der Worte usw. eine gewisse Musik ist, welche außer dem höchst unbillig von mir behandelten Herrn Uz, noch kein Dichter, meines Wissens erreicht...“ (AB II, 290). Vgl. HA 1, 919: „Im ‘Don Sylvio’ sind die Grazie, die Spielfreude und die Einfallsfülle des Erzählkünstlers schon mit allen Gaben gegenwärtig“. 506 Vgl. den Brief an Geßner vom 15. 7. 1764: „Ich gestehe Ihnen, daß mich der poetische Taumelgeist seit geraumer Zeit mächtig ergriffen hat, und daß ich die Fragmente von Zeit, die mir übrig bleiben, nicht lieber und angenehmer zu bringen kann, als mit R e i m e n . Ich habe im Sinn, ... auch einige größere L e h r g e- 263

Nachgiebigkeit des Dichters, die lächelnde Bereitschaft, sich auf Ungewisses einzulassen...“507. Obwohl „Musarion“ auch als Lehrgedicht bezeichnet wird508, hat die Verserzählung in der Form wenig mit dem schwerfälligeren Lehrgedicht der Aufklärung gemein. So wird z. B. der Alexandriner-Vers locker gehandhabt; „eingestreute Blankverse und Kurzzeilen geben der Sprache eine virtuose Leichtigkeit“509. In diesem Rahmen ist es nicht bedeutsam, ob sich in „Musarion“ verstreut noch Alexandriner befinden oder ob sich „dieses Metrum... in der ‘Musarion’ am häufigsten (rund 680 mal) findet, also fast die Hälfte aller Verse ausmacht“510. Die Monotonie, die ermüden würde, heißt es in der Vorrede zu „Idris und Zenide“, „wird dadurch vermieden, und ein weit schönerer Periodenbau, mit einer sehr mannichfaltigen, oft nachahmenden, immer dem Ohr gefälligen Eurhythmie und Singbarkeit ... in diese Versart gebracht“ (HRA VI/17,5). Es ist eine überaus bewegliche, „dialogisch gelockerte Erzählweise, die ebenso spielerisch-melodische wie distanziert- besinnliche Versgebung“ ist511. Es ist nicht möglich auf die Mannigfaltigkeiten aller Formen einzugehen. Hier sei nur der besondere Reiz auf den Leser betont, der sich in der „meisterhaften Verwendung von Versrhythmus und Reim, ... (der) Einführung neuer Metren und Reimschemen ins Deutsche, ... (dem) ungezwungenen Fluß der Erzählung im Vers und... (in der) alles durchdringenden Musikalität der Sprache“ (HA 4,926) zeigt. Das Inhaltliche wird scheinbar spielerisch erzählt und der Vers schmiegt sich „allen Arten von Gegenständen an und passt zu allen Veränderungen des Tons und Styls“ (HRA II/4,X). Scheinbar planlos werden die Verse kürzer oder länger, je nach Bedarf. Die vorgegebene Ordnung des Metrums wird verlassen. Damit erweckt er den Anschein von Regel- und Zwanglosigkeit, die die Romantiker kritisieren512. Ein Beispiel aus „Musarion“ soll das belegen. Kleanth prahlt,

d i c h t e zu machen. - R e i m l o s e Verse und Hexameter werden Sie von mir schwerlich mehr erleben....Die Reime können vermuthlich nichts dazu, wenn sie für einige Dichter schwere Ketten und Fußeisen sind; für einen Prior und C h a u l i e u sind sie Blumenketten, womit die Grazien selbst sie umwunden zu haben scheinen, und in denen sie so leicht und frei herumflattern, als die Scherze und Liebesgötter...“ (Gruber 3. Buch, S. 389). Wie leicht und ungezwungen der Dichter die Form handhabte, wird auch am Umfang der drei Bücher von „Musarion“ deutlich; das erste umfaßt rund 640, das zweite etwa 440 und das dritte 370 Zeilen. 507 Staiger, Musarion, S. 107. 508 U. a. in einem Brief an Geßner vom 24. 8. 1764: „Unter den Sujets, womit sich meine scherzende Muse künftig für alle desagréments meiner Umstände schadlos zu halten gedenkt, ist auch Musarion, eine Art von komischem Lehrgedicht, im Gout der Alma des Prior...“ (AB II, 251). 509 Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 15, S. 6522. 510 Ulrich Sommer, Wieland Epen und Verserzählungen, S. 116, Anm. 1. Vgl. dazu Herbert Rowland, „Musarion“ and Wielands Concept, S. 49, Anm. 23: „Musarion ist comprised of 692 alexandrines, 544 pentameters, and 220 tetrameters“. Vgl. Alexandriner in „Musarion“ H 4, 12ff. 511 Johann Müller, Wielands Versepen, S. 16. Vgl. dazu Staiger, Musarion, S. 106. 512 A. W. Schlegel sah z. B. darin eine gewisse „Laxität der Form“ und bezeichnete diese Art zu dichten, als einen blinden „Trieb zu reimen und Verse endlos aneinanderzureihen, ohne Wirkung, ohne Zweck und Ziel“. A. W. Schlegel: Vorlesungen über die schöne Literatur und Kunst, Heilbronn 1884, Bd. III, 244. An anderer Stelle heißt es, Wieland habe „das Fließende gesucht, und es in einem solchen Grade gefunden, daß man, wie jener Bauer am Flusse, ohne Ende an seinen Versen stehen und warten kann, bis sie abfließen werden“, S. 247. 264

„wenn in Cypriens Figur / Die Wollust selbst leibhaftig vor ihn träte, / Schön, wie die Göttin sich dem Sohn der Myrrha nur / Bey Mondschein sehen ließ, - und diese Venus böte / Auf seinem Stroh ihm ihre schöne Brust / Zum Polster an - ein Mann wie Er verschmähte / Den süßen Tausch“ (HRA III/9,55). Wie Wielands Landschaft eine gewisse reizende Unbestimmtheit, Unordnung anhaftet, so läßt sich das auch auf der formalen Ebene nachweisen. Dennoch verbirgt sich hinter den scheinbar so leicht dahin geschriebenen Reimen eine kunstvolle Ordnung, eine maßvolle Bewegung. Aber diese bestimmt der Dichter selbst. Er ist zu „allen Veränderungen des Tons und Stils“ (HRA II/4,X) fähig. Dazu braucht er, wie es im Vorbericht zur ersten Fassung des „Neuen Amadis“ (1771) heißt, eine Versart, die sich den Erfordernissen anpaßt513. Gleichzeitig heißt es in dem Vorbericht - und das ist entscheidend -, „alles in der Welt hat seine Regeln; und diese freie Versart hat deren vielleicht mehr als irgendeine andere“ (HRA II/4,XI). Er spricht von der „musikalischen Anmuth“, die einem Gedicht dieser Art nur durch „viel Kunst“ und „hartnäckigen Fleiß“ gegeben werden könne. Auch in „Musarion“ darf man nicht von Formlosigkeit sprechen. Wieland hält sich nur nicht an die vorgegebenen Regeln. Er verachtet Vorgeformtes und traditionelle Schemata, wie seine Grazien514. Dennoch verliert er sich nicht in Maßlosigkeit. Der „Geist Capriccio“ schreibt sich seine Regeln selbst, die Regeln in den Grenzen der Harmonie. „Die Grazie tanzt nach unstudierten Gesetzen“ (HRA VI/17,3) sagt Wieland, und damit deutet sich die Dialektik von Freiheit und Bindung an, die der Form die innere Beweglichkeit und Lebendigkeit gibt. Gerade dahinter verbirgt sich die Grazie. Es sind hauptsächlich kleine poetische Schönheiten, durch die Anmut erzeugt wird.

Wenn man formale Gestalt von „Musarion“ analysiert, kommt man zu dem Ergebnis, daß Wieland die „virtuose Manier“, mit der er den „Rhythmus, den Vers und den Reim handhabt - scheinbar lässig bis zur Nachlässigkeit -, ... sich doch immer in den Grenzen des Schicklichen (hält), ... immer auf der Hut vor dem kleinsten Mißton (ist), der kleinsten Übertretung des

513 „In einem Gedicht dieser Art muß der Dichter Raum und Freiheit genug haben, damit der Geist Capricio, dem er sich gänzlich überläßt, alle möglichen Bewegungen, Wendungen und Sprünge machen könne. Jede einförmige Versart würde ihm einen Gang vorschreiben, der mit seinem launigen Charakter, mit der Munterkeit und dem naiven Ton der Erzählung, ..., kurz, mit der ganzen Beschaffenheit eines Gedichtes, welches durchaus mehr einem bloßen Spiele der Phantasie und der freiwilligen Ergießung einer reichen Brunnenader von Witz und Laune als einem Werk des Nachdenkens und der Kunst gleich sieht, einen auffallenden Abstrich machen würde“ (HRA II/4, IX; vgl. auch VI/17, IXf.). 514 Damit lassen sich auch in dieser Hinsicht Formales und Inhaltliches in Beziehung setzen. Buddecke meint, „die verschiedenen Elemente, aus denen das Gedicht gefügt ist, stehen sich nicht fremd und beziehungslos gegenüber, vielmehr sind.... sie in der Weise wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung unauflösbar miteinander verbunden, solcherart die vermittelnde und versöhnende Macht der ‘reizenden Philosophie’ auch im Baugesetz der Erzählung spiegelnd und bezeugend“; Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 108. 265 großen ungeschriebenen Gesetzes der Schönheit. Gleich weit entfernt von pedantischer Strenge und naturalistischer Ungebundenheit, ist seine Darstellung einem graziösen Schweben vergleichbar, in dem Vernunft und Sinnlichkeit miteinander versöhnt erscheinen. ... Die Freiheit, der er sich wirklich bedient, ist Freiheit innerhalb bestimmter Grenzen; ist Freiheit des Spiels und unterliegt als solches festen Regeln, weil ohne Regeln kein Spiel möglich ist“515. Es kommt Wieland darauf an, der poetischen Ausgestaltung des Stoffes mehr als bisher Beachtung zu schenken. Wenngleich im Sinne der rhetorischen Tradition die Schönheiten der Darstellung und des Ausdrucks noch als Mittel gelten, die beabsichtigte Wirkung beim Leser/Hörer zu erreichen, so gewinnt durch die Betonung das unmittelbar ästhetische Erlebnis der Schönheit der Darstellung eine gewisse Selbständigkeit. Das bedeutet gegenüber dem moralischen Gehalt der Dichtung eine verstärkte Berücksichtigung und Aufwertung des Geschmacks an der kunstvollen Form.

5.2.9 ‘Grazie’ als sprachliches Ausdrucksmittel

Musarions Element ist „heitre, sanfte Freude“ (HRA III/9,84). Diesem Wesenszug trägt Wieland auf stilistischer Ebene Rechnung. Wie in „Theages“ wählt er in der Verserzählung das genus medium, die mittlere Stilart, und mit der „Philosophie der Grazien“ entwickelt er eine Alternative zur Ästhetik des Erhabenen. Wenn im folgenden von „Grazie“ die Rede ist, so sind damit stilistische Eigentümlichkeiten gemeint, hinter denen der Eindruck des Stoffes zurücktritt. Wie der Schleier der Grazien das Verhüllte zur Geltung bringen soll, so ist auch Wieland der Ansicht, daß ein „nackter“ Inhalt, Fakten oder Tatsachen nicht wirken können. Deshalb hüllt er den Stoff in den Schleier der Form, der Grazie. Die „Bearbeitung des Stoffes“ gilt ihm als „die wahre Erfindung. So habe ich den Agathon, die Musarion, den Idris erfunden. Oder wo hat irgendeine Nation ein so erfundenes und componiertes Gedicht, wie meine Musarion ist, aufzuweisen?“516. Dabei ist zu berücksichtigen, daß man keine Trennung zwischen Inhalt und geformter dichterischer Aussage vornehmen kann517. Wenn auch die stoffliche Basis in vielen Dichtungen „recht schmal, ...selten von weltbewegender

515 Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 104; vgl. dazu „Musarion“ (H 4, 23). 516 Böttiger 1839, S. 254f (Brief Wielands an Karl August Böttiger). 517 Vgl. Einleitung zu „Musarion“ in Wielands Werken in 4 Bde., hg. Hans Böhm, Berlin/Weimar 1967, Bd. 1, S. XXIII. Dort wird betont, daß sich der Gehalt der Verserzählung mit der Form zu einer Einheit verschmelze. Leicht und scheinbar spielend, abwechslungsreich und nuancenreich, „sich bis in den Rhythmus hinein der jeweiligen geschilderten Situation anpassend, fließend die Verse, und großer Wohlklang zeichnet die Reime aus“. 266

Bedeutung“518 ist, so geht es nicht um die Erfüllung bestimmter Formgesetze. Sein Anliegen ist, Inhalt und sprachliche Ausgestaltung zu verbinden, „den Sinngehalt des Stoffes in der ihm angemessenen Kunstgestalt zum Ausdruck zu bringen. das ist dem Dichter aufgegeben, das ist ‘Poesie des Stils’“519. Das ist für Wieland der Inbegriff dichterischer Vollkommenheit.. Was Wieland unter Grazie versteht, hat er in der „Theorie der Red=Kunst und Dicht=Kunst“ erläutert. „Unter der Gracie, welche besser empfunden als beschrieben wird, verstehen wir die kunstlose Anmuth und Leichtigkeit, die ungezwungene und bescheidne Zierlichkeit und das, was man in der Mahlerey die stille Größe nennt in der Absicht auf Expression, die naiveté in Absicht der Empfindungen und die ächte sittliche Schönheit in Absicht der Charactere und Handlungen“520. Anmut und Grazie sind für Wielands Dichtungen zentrale Begriffe, die er aus den ästhetischen Anschauungen der Antike und Moderne herleitet. Hierin stimmen seine und Herders Auffassungen überein, der in der „Adrastea“ Grazie definiert. „Zwanglose Leichtigkeit ist die erste Eigenschaft der Grazie; Harmonie in der Bewegung die zweite; endlich das Unnennbare (das Je ne sais quo) der Anmut, meistens verknüpft mit hoher Einfalt, ist das dritte innigste Kennzeichen ihrer himmlischen Erscheinung“521. Bei Wieland und Herder sind Grazie und Anmut also kein Zierrat, sondern Ausdrucksträger und das „Je ne sais quo“ kein äußerlicher Reiz. Fest steht, daß Wieland sich an keine vorgegebene metrische Form hält. Die leichte Beweglichkeit kommt durch die Anwendung verschiedener Versarten zustande. Dennoch kennt Wieland die Grenze der Form, dessen „feine Grazie nur scheinbar willkürlich sich tummelt“522. Damit ist es möglich, Wielands Sprachstil, die Grazie, als sprachliches Ausdrucksmittel mit denselben Maßstäben zu messen wie die Grazien selbst523.

518 Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 19. 519 WA 1, 924. Vgl. zur Poesie des Stils u. a. Müller-Solger, Dichtertraum, S. 244-263; Brückl, S. 27-48; Friedrich Beißner, Poesie des Stils, S. 5-34. 520 AA I/4, 419. Es sei angemerkt, daß 1755 von Johann Joachim Winckelmann die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ und 1756 das „Sendschreiben“ dazu erschienen sind. Beide Werke können eventuell auf Wielands ‘Grace’-Definition Einfluß gehabt haben, da begriffliche Übereinstimmungen (z. B. Stille Größe) nicht zu übersehen sind. Die Abhandlung Winckelmanns „Von der Gratie in den Werken der Kunst“ erschien allerdings erst 1759. Vgl. Walter Bosshardt: Winckelmann. Ästhetik der Mitte, Stuttgart 1960. 521 Briefe. Über das Leben des Horaz, an einen jungen Freund, 1. Brief. Herders Adrastea, 5. Bd., 1. Stück. in: Herders Sämtliche Werke in 30 Bde., Berlin 1886, Bd. 24, S. 217f. Vgl. die weiteren Ausführungen dazu: „Anmuth und Grazie waren seine (Horaz) Muse. Von diesen zu schreiben aber, weiß du selbst, wie schwer es ist! Man fühlt, man genießt die Anmuth; die Grazie spricht zu uns in Form und Zügen, in Bewegungen, Worten, Gebehrden, Seelenvoll, herzlich; wer mag, wer will aber den Tanz dieser Bewegungen festhalten, das Spiel dieser Züge zerschneiden? Wer mag den Geist sichtbar machen, der, in die Anmuthreiche Gestalt gegoßen, in Wort und Gebehrde, unmittelbar gleichsam, uns zuspricht?“ 522 Friedrich Beißner, Poesie des Stils, S. 18. Vgl. auch die Vorrede zum „Neuen Amadis“ von 1794 (HRA II/4, IIIff.). 523 Eine Untersuchung seines Stils auf ein solches formendes Prinzip hin mit dem Grazienbegriff und auch der Grazienphilosophie in Verbindung zu bringen, ist durch zahlreiche Äußerungen gerechtfertigt, in denen Wieland bei Beschreibungen seines Stilideals oder fremder, diesem entsprechender und als vorbildlich herausgestellter Stilformen sich des Grazienbegriffs entweder ausdrücklich oder in Umschreibungen bedient. Vgl. z. B. Wielands 267

Gemeint sind die Begriffe Bewegung in Verbindung mit Harmonie, Wirkung und natürlicher Leichtigkeit in Verbindung mit Kunst. Bevor darauf in Verbindung mit der Verserzählung eingegangen wird, um die zunehmende sprachliche Gewandtheit aufzuzeigen, soll die „Grazie der Neuheit“ erläutert werden, die im Zusammenhang mit Wielands Sprache und Stil gebraucht wird. Dieser Begriff kann im Zusammenhang mit Wielands Verhältnis zu Horaz als Schlüsselbegriff und Stilprinzip herausgestellt werden. Der Dichter übernahm bekannte Stoffe aus der Antike oder der europäischen Tradition und gab ihnen durch die besondere Form und Gestaltung den Reiz der Neuheit524, und zwar dadurch, daß er dem Stoff kunstvoll und unauffällig das Schwere entzog und ihm einnehmende Gefälligkeit verlieh. Dadurch gewann der Inhalt „Neuheit und Anmutigkeit“525. „Neuheit“ spielt schon in der Ästhetik Bodmers und Breitingers eine Rolle526. Bei Wieland wird dieser Gedanke weiter entwickelt, indem er sich mit dem Begriff der Individualität verbindet. Neuheit entsteht aus der individuellen, charakterlichen Prägung eines bekannten Stoffes, wird also als „Reiz und Faszination des individuellen Ausdrucks“ verstanden. Wie bereits betont, ist ein wichtiger Bestandteil des Grazienbegriffs das Element der Bewegung. In Sprache und Stil wird dieses als „Ausdrucksbewegung, als charakteristische Gebärde“ aufgefaßt527. Die Bewegungen beschränken sich nicht nur auf Naturschilderungen sowie äußere und innere seelische Bewegungen, sondern sie lassen sich ebenso in Erzählstil und -haltung nachweisen528. Beweglichkeit meinte Goethe, wenn er sagt, Wielands außerordentliche Poesie sei aus zwei Gegensätzen zusammen gewoben. Er „gefiel sich und andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im leichten Gefecht, sein Talent am allerschönsten

Urteil über Ludwig Heinrich von Nicolay’s „Manier zu erzählen“, dem nach seinem „Gefühle“ „ein Wenig mehr attisches S a l z und eine gewisse Grazie“ fehle (H 38, 263) oder seine Ausführungen über „Diction“, die in den Begriffen „Frischheit, Leichtigkeit und naive Grazie“ gipfeln (H 37, 634). Vgl. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 11. 524 Damit ist nicht Neuheit oder Originalität im Sinne der Sturm- und Drang-Ästhetik gemeint. 525 Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 116. 526 Vgl. Susi Bing: Die Nachahmungstheorie bei Gottsched und den Schweizern und ihre Beziehung zu der Dichtungstheorie der Zeit, Diss. Köln 1934, S. 73ff. Für die Schweizer war das „Neue“ das eigentlich konstituierende Element der Poesie und der Grund des Interesses wird, das ihren Werken entgegenkommt, da „das Schöne, das Große und Verwundersame selbst uns ohne den Schein der Neuheit nicht bewegen kann“; Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, Zürich/Leipzig 1740, S. 110; zit. nach Susi Bing, Die Nachahmungstheorie, S. 73. Neuheit ist keine Eigenschaft des Stoffes, sondern „eine niemals zuvor in acht genommene Zusammenführung solcher Gegenstände, die uns schon einigermaßen bekannt sind“; : Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter, Zürich 1741, S. 245; zit. nach Susi Bing, Die Nachahmungstheorie, S. 75. 527 Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser, S. 109. Das Element der Bewegung in Wielands Sprache ist mehrfach betont worden; vgl. Otto Keller: Heinses Entwicklung zur Humanität, Bern/München 1972, S. 24; H. Vormberg: Vernunft und Gegenwirkung, in: Merkur 17 (1963), S. 102; Vgl. auch HA 1, 917 und HA 4, 927. 528 Vgl. dazu den 2. Vorbericht zum „Neuen Amadis“ (HRA II/4, XVff.). Wieland hat sich die Beweglichkeit bewahrt und die Möglichkeit offen gelassen, mehrdeutig zu sein; diese erreichte er u. a. durch den „Silbentanz“ der Grazien, der „bei aller seiner Freiheit niemals oder doch nur selten, über die Wellenlinie der Schönheit 268 zeigte“529. Einige Belege aus „Musarion“ mögen diese Bewegungen verdeutlichen. „Bewegung“, und damit Wirkung, versprach schon der zweiteilige Titel: Musarion oder Die Philosophie der Grazien. Durch die Konjunktion „oder“ scheint es dem Leser freigestellt, welchen Titel er später diesem Werk geben möchte. Während des Lesens „bewegt“ man sich zwischen beiden Möglichkeiten, um am Schluß festzustellen, daß Musarion die Philosophie der Grazien vertritt, d.h. es ist weder der eine noch der andere Titel allein richtig, sondern die Mitte. Wirkungen verspricht sich Wieland auch durch die an sich ungewöhnliche Verbindung von „Philosophie“ und „Grazien“, die einen besonderen Reiz auf den Leser ausübt. Wieder sind es Extrempunkte, die sich aufeinander zu bewegen. Und wie die Grazien bei ihm nicht leicht tändeln, so ist die Philosophie „eher metaphorisch als im strengen Sinne, mehr in antiker als in moderner Bedeutung zu verstehen“. Der Begriff verweigert sich „dem geschlossenen System wie der begrifflichen Schärfe“530. Damit haben sich die Begriffe aufeinander zu “bewegt“. Beweglichkeit erreicht Wieland auch dadurch, daß er nicht direkt etwas darstellt, sondern sich dafür verschiedener Techniken bedient. Das Gewicht wird vom erzählten Vorgang auf den Vorgang des Erzählens verlagert. Durch „eine Kleinigkeit“ wird „der hohe Schwung, den Phanias zu nehmen / Begriffen war, gehemmt“. Der Dichter braucht sechszehn Zeilen, bis der Leser erfährt, um welche Kleinigkeit, „die wir uns fast zu sagen schämen“, es sich handelt. In der Zwischenzeit spricht er vom „mächtigen Besieger / Der Menschlichkeit, die Ihr dem Sternenfeld / Euch nahe glaubt“, vom „Olymp“, vergleicht Phanias mit „Sancho... auf Magellonens Pferd“, spricht von „Des Feuerhimmels Nähe“ und nennt Musarions Freund „den stolzen Gast des Aethers“. Schließlich stellt sich nach einem Gedankenstrich die erwähnte Kleinigkeit als Musarions „Blick“ heraus. Die bewegliche Kunst der Abschweifung soll hier Leichtigkeit, Natürlichkeit der Erzählung andeuten. Voller Beweglichkeit ist Wielands Sprache auch, wenn er anschließend diesen Blick beschreibt. Er geht nicht gradlinig auf den Gegenstand zu, sondern braucht wiederum einige Zeilen, um diesen Blick zu erklären, wobei er sich auf den Maler Koypel beruft und Amor indirekt sprechen läßt. „Seht Ihr mich?“. Aber selbst nach dieser langen Erklärung bleibt es in der Schwebe, wie der Blick tatsächlich aussah, denn der nächste Absatz beginnt mit den Worten, „So, oder doch in diesem Ton, / So etwa sprach der Blick...“ (HRA III/9,29f.). „Grazie“ sind auch die kleinen Bewegungen zwischen dem Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten,

hinausschweift, und wiewohl an einem losern Bande geführt, doch in einer scheinbaren Ungebundenheit immer zwischen Rhythmus und Harmonie dahinschwebt“. 529 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 10, S. 298. 530 Heinz Schlaffer, Musa iocosa, S. 195. „Mehr von poetischen als von genuin philosophischen Vorstellungen angeregt, findet diese ‘Philosophie der Grazien’ im harmonisierenden, heiter-arkadischen, horazisch-klugen Glückseligkeitsideal am Schluß der „Musarion“ seinen angemessenen, nämlich poetisch-bildlichen Ausdruck“. 269 dem Hinweis auf Autoritäten und dem anscheinenden Gespräch mit dem Leser. Am Schluß des ersten Buches wird berichtet, daß sich „das weise Paar“ unverhofft in einer Stellung befand, die „der Filosophie nicht allzu rühmlich war“ (HRA III/9,35). Obwohl es sich um einen allwissenden Erzähler handelt, beginnt dieser zu fragen, um was es sich „beim Anubis“ für eine Stellung handeln könnte. Er beginnt, die verschiedenen Möglichkeiten mit dem Leser abzuwägen. E r verwirft einige, überlegt neue Möglichkeiten, bringt sogar „Plutarchs Agesilas ins Gespräch, bis er es nach zwölf Zeilen „kurz“ macht, „sie hatten sich einander bey den Haaren“ (HRA III/9,45). Ein Reiz liegt auch darin, daß Persönlichkeiten wie Plutarch so beiläufig in einem einfachen Zusammenhang erwähnt werden. Auch wenn der Leser nicht alle Anspielungen auf solche Verweise verstand, lag das durchaus in der Absicht des Dichters. Es gehört zur Grazie des Stils, daß man nur ahnt oder zu wissen glaubt, was damit gemeint ist. Hier wie überall liegt der „Schleier der Grazie“ über dem Werk. Solche und ähnliche Bewegungen in Sprache und Stil lassen sich bis ins Details verfolgen531. Im Vergleich zu „Theages“ wird eine zunehmende sprachliche Gewandtheit deutlich.

Mit dem Element der Bewegung ist bei den Grazien der Harmoniegedanke verbunden. Auch Wielands Sprache strebt neben dem geistvollen Spiel vor allem zur maßvollen Mitte, zum Ausgleich zwischen den Extremen. Die Gesetze der Harmonie spielen für Wielands Sprachkunst eine bedeutende Rolle532. In der Vorrede zur 2. Auflage von „Musarion“ heißt es von dem leichten Scherz, daß er geeignet sei, „das Überspannte, Unschickliche, Schimärische, ... auf eine so sanfte Art... vom Wahren abzuschneiden“533. Das harmonische Gleichgewicht kommt bei Wieland im Ton, in der Form und Sprache zum Ausdruck. „Wo die witzige Andeutung zur Zote wird, hört die Sympathie des Graziendichters auf“534. Wie die Grazien, so überschreitet auch Wieland in den sinnlichen Schilderungen in „Musarion“ nicht die Grenze des Anständigen, Zulässigen. Er bleibt diskret andeutend, als Phanias sich nachts im Mondschein zu Musarion aufs Zimmer schleicht und „das leichte Blut der Schönen“

531 Wie sich ‘Grazie’ bis ins kleinste Detail zeigt, wird auch daran deutlich, daß Wieland den Schauplatz in die Antike verlegte. Sicher ist, daß der Dichter auch mit „Musarion“ den Zeitgenossen den Spiegel vorhalten wollte. Dies tat er, indem er die Figuren, Namen und Schauplätze nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern aus dem alten Griechenland nahm. Damit wirken diese Requisiten wie ein Schleier, durch den er auf Zustände und Moralauffassungen des 18. Jahrhunderts aufmerksam macht. Vgl. das Orakel von Delphi, das in „Musarion“ in griechischer Sprache steht (HRA III/9, 100), während Wieland es in anderem Zusammenhang durchaus in deutsch schreibt und sogar erläutert (vgl. HRA V/14, 119). Auch für den Leser des 18. Jahrhunderts war es nicht selbstverständlich, daß er griechisch lesen konnte. Der Reiz lag und liegt in der Verbindung von dem griechischen Zitat mit „Chloens Arm“ (HRA III/9, 100). Es bleibt etwas Unaussprechliches, und dem Leser bleibt es überlassen, was damit gemeint sein kann. 532 Vgl. dazu „Harmonie des Styls“, „Schicklichkeit des Ausdrucks“ (H 1, 56). 533 HA 4, 319f. 534 Sengle, S. 285. 270 entflammt. Es wird in der gewagten Szene nicht die Grenze des Schicklichen überschritten: „Und als er sich durch das, was sie erlaubte, / Nach Art der Liebenden, zu mehr berechtigt glaubte“ (HRA III/9,86). Über die weiteren Versuche Phanias in dieser Richtung heißt es nur, „Was Amor nur vermag, um Spröde zu bezwingen, / Was, wie man sagt, schon Drachen zahm gemacht, / Die Künste, die Ovid in ein System gebracht, / Die feinsten Wendungen, die unsichtbaren Schlingen / Versucht er gegen sie, und keine will gelingen“ (HRA III/9,89). Wieland macht sich nicht eines Verstoßes gegen den guten Geschmack schuldig, aber gerade in dem harmonischen Spiel mit dem Leser zwischen Enthüllen und Verhüllen liegt der besondere Reiz, zeigt sich die Grazie. Manchmal gibt er vor, nicht zu wissen, „welche kleine Lücke“ entstanden sein kann, die plötzlich den „hohen Schwung“ von Theophron unterbrochen hat. Auch später wird vom „Zufall“ und vom Umstand gesprochen, der „an sich nur eine Kleinigkeit war“ (HRA III/9,56). Aus den Andeutungen kann der Leser ahnen, daß Musarions Brusttuch ein wenig verrutscht ist. Vor dem Anblick der Nacktheit würde Wieland davonlaufen. Da der Dichter das Sinnliche nicht unmoralisch findet, schildert er auch die sinnliche Liebe, allerdings mit Grazie, die jede Unanständigkeit im Keim erstickt. Er bleibt auch hier bei seinem Ideal der goldenen Mitte.

Wie die Grazien nicht selbstgenügsam sind, so kann auch von Wielands Sprachkunst erst Wirkung ausgehen, wenn er einen Leser hat535. Der Dichter will durch seinen spielerisch bewegten Erzählstil wirken. Das Ideal der Grazie ist bei allen stilistischen Bemühungen Wielands maßgebend. Die Erzählhaltung ist ihm wichtiger als die erzählte Handlung, d h. die Art und Weise, wie ein Werk zur Wirkung gebracht wird. „... die Wirkung des Werkes ist es, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, durch sie findet der Leser den eigentlichen Gehalt verwirklicht.. Schon... die Sprache, deren Grundfigur die Anspielung, deren Baugedanke die Vielschichtigkeit ist, verbietet ein Verweilen beim bloßen Text; nicht die vollendete Schönheit der Form, sondern der Reiz ist ihr Ziel und ihre wichtigste Eigenschaft“536. Er verfolgt mit den Wirkungen bestimmte Absichten. Da er an die ästhetische Erziehung des Menschen glaubt, bemüht er sich in allen Werken darum, nicht nur zu ergötzen, sondern auch zu unterrichten. Aber er erteilt der alten didaktischen Auffassung eine Absage537. Sein

535 Vgl. Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 123. Wie die Grazien durch die Mannigfaltigkeit der kleinen, immer wieder anderen Reize wirken, so besteht Wielands Charakterisierungskunst darin, durch verschiedene Auswahl, Zusammenordnung, Akzentuierung der einzelnen Erscheinungen eine große Mannigfaltigkeit und damit eine größere Wirkung zu erreichen, S. 262. 536 Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 28f. 537 Vgl. Friedrich Justus Riedel, der das Wesentliche in der Verlagerung des Wirkungsziels zum Ergötzenden, Gefallenden hin sieht und „wo das Gefällige der Erscheinungsweise des anmutig Schönen sich in die 271

Unterricht soll nicht in Form von Lehren an die Leser weitergegeben werden, sondern wie es in „Idris“ heißt, „Ergetzen ist der Musen erste Pflicht, / Doch spielend geben sie den besten Unterricht“ (HRA VI/17,16)538. Damit sind zwei Vorbilder Wielands angesprochen, denen er sich in vielem verpflichtet fühlte: Shaftesbury, der nach Absicht und intendierter Wirkung fragte539, und Horaz mit seinem Grundsatz „ridendo dicere verum“ (HRA II/4,11), d.h. lachend die Wahrheit zu sagen540. Die Menschen müssen „zur Wahrheit... gleichsam betrogen werden“541. Wielands Absicht war es zwar, die Leser zu unterrichten, zu bessern, aber es entspricht nicht dem Wesen der Grazien, dieses mit erhobenem Zeigefinger oder direkter Belehrung zu tun. Er will keine Moralpredigten halten542. Noch im Alter ironisiert er dieses Verfahren, indem er während der moralisierenden Vorrede zur „Wasserkufe“ den Leser einschlafen läßt. „Ihr nickt schon, wie ich seh’ - Ihr wollt (und das mit Recht), / Der Dichter soll, statt zu moralisieren / (Dies könnt ihr selbst, gut oder schlecht), / Euch, wie Homer, frisch in die Sache führen. / So hört denn an!“ - (HRA VI/18). Der Reiz des halb Verhüllten, des Schleiers, gilt auch für den Unterricht, das Belehren des Dichters. Die Wahrheit könnte sonst den Leser erschrecken. „Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist / (Nie, oder Götter nur) entkleidet überraschen“ (HRA III/9,7)543, heißt es in „Musarion“. Selbst Jacobi hat es empfunden, wie Wieland es unter dem Schleier der Kunstfertigkeit versuchte, sein Publikum zu bessern. „Ich habe es immer als ein Meisterstück Ihrer Kunst angesehen, daß Sie Ihre Leser in alle Irrthümer Ihres Helden mit zu verführen wissen. Man fällt in eine

Wirkungsweise des Gefallenden umsetzt“; zit. nach Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik, Bd. II: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, Berlin 1956, S. 246. 538 Zum Begriff des „Spiels“ bei Wieland (H 35, 115ff.).; vgl. Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 72ff.; Werner Schlotthaus: Das Spielphänomen und seine Erscheinungsweise in der Dichtung der Anakreontik, Diss. Göttingen 1957, S. 21ff.; Vgl. auch Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser, S. 50f. 539 Vgl. Hans-Heinrich Reuter, Die Philologie der Grazien, S. 74. Horaz’ „Ars poetica“ verbindet Wielands Rechtfertigung der von Shaftesbury übernommenen Methode, stets nach der Absicht des Dichters zu fragen, mit dem Hinweis, daß „gelehrte Commentatoren“ den wahren Weg nur darum verfehlen, weil sie für den guten Horaz zu gelehrt waren“. 540 Vgl. WA 1, 414 (Anm. zu S. 244). 541 Hans-Heinrich Reuter, Die Philologie der Grazien, S. 94. 542 Vgl. dazu den Vorbericht zu den „Beyträgen...“ von 1770 (AA I/6, S. 315): „Meine geringste Absicht ist, daß es euch amüsieren, meine vornehmste, daß es euch besser machen möchte“. Vgl. „Neuer Amadis“: „Wir folgen seinem (Horaz) Gesetz, den Scherz mit Sokratischen Lehren / Zu würzen - zwar nach unsrer Phantasie; / Allein wer läßt sich diese Freiheit wehren?“ (HRA II/5, 95). Vgl. „Sixt und Clärchen“ (HRA III/9, 192): Ergetzt es Euch, so hat der Dichter halb erreicht, / Was er dem Leser gerne gönnte; / Denn, glaubet mir, kein Märchen ist so seicht, / Aus dem ein Mann nicht weiser werden könnte“. 543 Vgl. die Vorrede zur Sammlung „Dschinnistan“, wo Wieland betont, daß seine Dichtart eine sehr gute Art sei, „gewisse Wahrheiten, die sich nicht gerne ohne Schleier zeigen, in die Gesellschaft einzuführen: oder solche, die in einem ernsthaften Gewand etwas Abschreckendes haben, gefällig und beliebt zu machen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: wer die Menschen von ihren Irrtümern und Unarten heilen will, muß seine Arzneien durch Beimischung irgend eines angenehmen Saftes oder geistigen Liquors angenehmer zu machen wissen; und man unterrichtet und bessert sie nie gewisser, als wenn man das Ansehen hat, sie blos belustigen zu wollen.... Diesem Grundsatz zufolge könnte die Dichtart... gewisser maßen eine Lehrart Sokratischer Weisheit werden“ (H 30, 7). 272

Schlinge, man glaubt sich herausgewickelt zu haben, und schon liegt man wieder in einer neuen. Vielleicht ist diese Methode die einzige, durch Erdichtungen zu bessern“544. Als Poet des 18. Jahrhunderts fühlt sich Wieland dem Horazischen Grundsatz verpflichtet: prodesse et delectare. Dabei ist zu beachten, daß er diesen Grundsatz nicht dadurch verwirklicht, daß er den Stoff durch eine schöne, überzeugende Gestaltung eingängiger macht, sondern die Dichtung soll als Dichtung gefallen, d. h. wirken545. Er möchte u. a. durch Grazie auf die „unteren Seelenkräfte“ wirken546. Das erreicht er vornehmlich durch kleine poetische Schönheiten, und zwar unmittelbar, nicht durch Beigabe oder Schmuck einer größeren dichterischen Komposition547. Auch in „Musarion“ strebt er ein wechselseitig sich relativierendes Ineinander von prodesse und delectare an. Er ist bestrebt, es in einem schwebenden Gleichgewicht zu halten, wie Musarion selbst dieses Gleichmaß von Vernunft und Herz anstrebt. Die Philosophie, die Musarion lehrt und die der aufmerksame Leser der Verserzählung entnehmen kann, wird weniger in direkter Schilderung und Aussage als vielmehr im „Gegeneinander verschiedener Positionen und deren wechselseitiger Relativierung und Korrektur sichtbar“548. Die belehrenden und zugleich unterhaltenden Aspekte in „Musarion“ sind in dieser Art spielerischer Vermittlung einer Aussage nicht mehr voneinander zu trennen. Das gilt für die stoffliche und gehaltliche Seite des Gedichts. Für ihn ist Grazie eine Möglichkeit, dem Auftrag der Göttinnen der Anmut entsprechend, seinen Werken Wirkung zu verleihen. Das erreicht er „hauptsächlich über die Einbildungskraft und alle andern sinnlichen Seelen-Kräfte und ist folglich geschickter, uns zu überraschen, zu rühren und zu bezaubern, als zu unterrichten und zu überzeugen“549.

Ein geeignetes Mittel sah Wieland darin, anstelle nüchterner Belehrungen die Gedanken mit Scherz und Ironie zu vermitteln. Hier sei auf die Verbindung von Ironie und Spiel, Bewegung, hingewiesen. Das war Wieland aber erst nach seiner inneren Krise möglich. Die Jugenddichtungen - und damit auch „Theages“ - zeichnen sich durch eine enthusiastische, unironische Idealisierung des Menschen, durch schwärmerische und unduldsame Verehrung

544Friedrich Heinrich Jacobi an Wieland am 30. 10. 1772, in: Friedrich Heinrich Jacobis auserlesener Briefwechsel, hg. Fr. Roth, 2 Bde., Leipzig 1825-27, Bd. 1, 86f. 545 Vgl. Gerd Matthecka, Roman und Romantheorie, S. 127. Wieland meint, der „Don Sylvio“ gehöre zu den Büchern, „die mit desto besserm Erfolg unterrichten und bessern würden, da sie blos zu belustigen scheinen“. Die sittliche Wirkung findet nicht durch Belehrung des Autors statt, sondern der Roman wirkt auf den Leser, indem er „sein Zwerchfell erschüttert“, ihn zum Lachen bringt. Der Leser befreit sich von einigen Mängeln, indem er sie im Roman belacht. Die sittliche Wirkung geht also vom Kunstwerk als Ganzem aus und Wieland war überzeugt, daß „diese heilsamen Kräfte wirklich in unserm Buch verborgen liegen“ (HRA IV/12, 8f.). 546 AA I/4, 334. 547Vgl. Wielands Anmerkungen zur Aeneis; AA I/4, 371. 548 Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser, S. 46f und 55f.; vgl. auch S. 162. 273 der Ideale aus550. „Der Scherz und die Ironie sind nebst dem ordentlichen Gebrauch der fünf Sinne immer als das beste Mittel gegen die Ausschweifungen angesehen worden“, schreibt er an Geßner551. Aber Wielands Ironie verwundet nicht552, wie etwa Lessings Ironie im „Anti- Goeze“553. Im heiteren Spiel der Ironie will er seine Wahrheiten vortragen554. Er nennt sie in einem Brief an Sophie La Roche im Zusammenhang mit der „schönen Griechin (Musarion)“ seine „Lieblings-Figur“. Sie sei zwar „ein ziemlich gefährliches Talent“, aber die Natur habe ihn „mit einem guten und redlichen Herzen begabt“. Sein Menschenhaß sei „nur gemacht“, er „liebe von Natur die Menschheit“ und wenn er „über die Gebrechen... und die Schwachheiten der andern spotte“, so geschehe das in freundlicher Absicht, ihnen scherzend heilsame Wahrheiten zu sagen, die man zuweilen geradezu nicht zu sagen“ wage555. Wieland stellt in „Musarion“ außer dem „attischen Salz“ auch „sokratische Ironie“ als Merkmale seines Stils heraus. Diese haben ähnlichen Wirkungen wie die Grazien, weil sie „mehr das allzustrenge Licht einer die Eigenliebe kränkenden oder schwachen Augen unerträglichen Wahrheit zu mildern, als andern die Schärfe ihres Witzes zu fühlen zu geben sucht“556. Daß gerade Ironie ein geeignetes Mittel für Musarion und Wieland waren, wird daran deutlich, daß Scherz den Ernst verhüllt und die Ironie ein Mittel ist, „zwischen den Extremen eine Vermittlung, eine schwebende, mittlere Lage zu halten, die Gegensätze zugleich im Blick zu bewahren... Das Positive spricht... durch das Negative hindurch. Deshalb büßt die Ironie niemals ihre Heiterkeit... ihre Versöhnlichkeit ein“557. Obwohl Ironie mehr ein inhaltliches, Grazie eher ein Formproblem ist, streben Musarion und Wieland nach Ausgleich der Gegensätze, nach Harmonie558. Wenn „Musarion“ manchmal mit dem literarischen Rokoko in Verbindung

549 AA I/4, 335: Äußerungen über die Rangfolge der Zwecke, 6. Kriterium der Dichtkunst; erst 1770 eingefügt. 550nach H. P. H. Teesing: Ironie als dichterisches Spiel, in: Ironie als literarisches Phänomen, hg. Hans-Egon Hass/Gustav-Adolf Mohrlüder, Köln 1973, S. 128. 551 Brief an Geßner vom 7. 11. 1764; AB I, 86. 552Vgl. E. A. Blackall, Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 311f.; er weist darauf hin, daß Wielands Sprache durch feine Ironie die letzte Feinheit und Eleganz erreiche und er sich „einem Ideal der Grazie einer bestimmten Zivilisation“ nähere. 553 Vgl. Lessing contra Goeze, in: Text und Kritik 26/27 (1975). 554 Wielands ironische Beweglichkeit ist des öfteren erwähnt worden; vgl. H. P. H. Teesing Ironie als dichterisches Spiel, S. 121ff.; vgl. Hans Heinrich Reuter, Die Philologie der Grazien, S. 74 und 63. Vgl. Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 151-161. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 38f.; Cornelius Sommer, Wielands Erzählhaltung in seinen späteren Versdichtungen, S. 402f. Marga Barthel, Das Gespräch, S. 108. Vgl. auch Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 114. Er nennt Wielands Prinzip des ridendo dicere verum eine anmutige Ironie, die entlarvt, ohne zu verletzen. Vgl. Alfred Anger, Reiz und Reizbegriff, S. 127. 555 Abgedruckt bei Gruber 51, 3. Buch, S. 403f. 556 HA 1, 320. 557 HA 1, 924. 558 Eine ähnliche Wirkung versprach sich Wieland von Musarions Humor und „Witz“ (HRA III/9, 10). Vgl. „Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, in: Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung, Hamburg 1949, Bd. 1, S. 471ff. 274 gebracht wird, so sei angemerkt, daß „sokratische Ironie“ und „attische(s) Salz“ kaum geeignet waren, sich dem Rokoko unterzuordnen559.

Im folgenden werden einige Beispiele für die Ironie in „Musarion“ gegeben. Phanias‘ Freunde werden bei einem „wilden Stiergefecht“ (HRA III/9, 45) überrascht. Ihre philosophischen Systeme lassen sich anscheinend nur handfest verteidigen. An anderer Stelle wird die Philosophie Theophrons in Verbindung mit Musarions Reizen genannt. Kleanth betrinkt sich, „Indeß, vertieft in Sinus und Tangenten, / Der Jünger des Pythagoras / Den wallenden Contour gewisser Sphären maß, / Woran die Lambert selbst sich übermessen könnten“. So wird eine Philosophie, die den „Tod der Sinnlichkeit“ (HRA III/9,57) fordert, der Ironie preisgegeben560. Eine ähnliche Verbindung wird bei Phanias hergestellt. Dieser schwärmerische Philosoph ist inzwischen durch Musarions Reize verwirrt; er drückt „ihr die runde Hand, / Und denkt, indem durchs steigende Gewand / Die schöne Brust sich bläht, ob diese halbe Sphäre / Der Pythagorischen nicht vorzuziehen wäre?“ (HRA III/9,34). Die Ironie dieses Vergleichs entsteht durch das scheinbar unbeabsichtigte Übersehen der Tatsache, daß die „Sphäre“ einmal metaphorisch und einmal als pars pro toto, aber bei letzterem Gebrauch in seinem Sinngehalt konkret gemeint ist. Gesteigert wird die Wirkung dadurch, daß die Überlegung als durchaus ernst dargestellt wird. Daß Wieland in „Musarion“ vor allem die „falschen“ Philosophen entlarvt, richtet er besonders gegen diese seine „sokratische Ironie“561. Feiner mutet die am Ende der Erläuterungen der „reizenden Philosophie“ an, wo der „Sittenrichter“ von „seinem Thron - im sechsten Stockwerk“ (HRA III/9,100) auf die Erde herabzuschauen scheint562. Der Scherz verhüllt den Ernst, aber der Leser muß auf der Hut sein. Die scheinbar spielerische Handhabung der Vergleiche, Kontraste, gibt dem ironischen Text etwas eigenartig Schwebendes. Ähnlich verhält es sich mit Wielands „spielerischer Erzählhaltung“. Da bereits in „Theages“ sich ein Erzähler in die Gespräche einschaltete, soll dieser Figur in „Musarion“ kurz Beachtung geschenkt werden. Neben den anderen sprachlichen Merkmalen läßt diese besonders den Wandel von den Jugend- zu den Graziendichtungen erkennen.

559 Vgl. WA 1, S. 913f. 560 Vgl. auch die Ironie, daß Wieland ausgerechnet den Gecken, mit dem Musarion sich in Athen vergnügt hatte, in Alexandrinern zu beschreiben beginnt: „Ein bunter Schmetterling, so glatt wie eine Schlange...“ (HRA III/9, 14). 561 Vgl. , daß der Stoiker Kleanth ausgerechnet betrunken in „Circens Stall“ gebracht wird (HRA III/9, 68). 562 Vgl. den komischen Effekt der Verdrehung eines bekannten Motivs. Als Phanias vor Musarion wegläuft, heißt es, „So schlüpft der keusche Oreade / Dem Satyr aus der Hand, der sie im Bad’ erschlich“ (HRA III/9, 11). Nachdem Phanias den weltlichen Sphären anscheinend entsagt hat, ist durch das bekannte Motiv die Ironie fast 275

In „Theages“ war ein Erzähler vorhanden, der neben den anderen Figuren sich in die „Gespräche“ einschaltete und mit den Personen in Dialoge eintrat. In der Verserzählung „bewegt“ sich der Erzähler anscheinend zwischen Stoff und Leser hin und her563. Zwar gibt es auch Dialoge zwischen den Figuren, aber die größere Wirkung erreicht der Erzähler dadurch, daß er sich dem Leser nähert, ihn anspricht564 und u. a. rhetorische Fragen stellt. „Sagt, Freunde, wenn.... ein Mädchen Euch erschiene, / ...sagt, liefet Ihr davon?“. Und er schließt die Frage an: „So lief denn Phanias?“; anschließend lobt er den Leser, daß dieser richtig geraten habe: „Das konntet Ihr errathen!“ (HRA III/9,10f). Obwohl der Leser an keiner Stelle die Gelegenheit hat, sich in das „Gespräch“ einzuschalten, entsteht der Eindruck, daß es sich um ein Frage-Antwort-Spiel handelt. Ein anderes Mal wird dem Leser die Entscheidung überlassen. „Ob die Philosophie des guten Phanias / Der schönen Nymphe gegenüber / Bey einem solchen Schmaus so gar gemächlich saß, / Läßt man dem Leser selbst zu untersuchen über“ (HRA III/9,51). Es sind nur spielerische Gesten, oder wie Barthel sagt, „kleine Geste(n) des Zur-Wahl-Stellens“565, die den Anschein erwecken, als ob erst durch die Mitwirkung des Lesers das Werk vollendet werden kann. So hätte ohne den Leser der Dichter fast vergessen, zu erzählen, was aus den beiden Philosophen geworden ist. „Und was / Ward aus dem Mann, der so gerne - Sphären maß?“. Als der Erzähler dieses nachträgt, „fragt“ der Leser: „Und Herr Kleanth?“ (HRA III/9,101). Wieder „antwortet“ der Erzähler. Zwar hat kein Leser die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder seine Meinung darzulegen, aber dadurch scheinen sich Fiktion und Wirklichkeit zu verwischen, man hat den Eindruck, sich zwischen beiden hin- und herzubewegen. Wielands Kunst ist es, zu verschleiern, daß er souverän den Stoff, die

schon zu deutlich. Weitere Belege für die Ironie vgl. Marga Barthel, Das Gespräch, S. 24f., 107. Vgl. auch Wolfgang Dittrich: Erzähler und Leser, S. 100f. 563 Es wurde schon darauf hingewiesen, daß in englischen und französischen Romanen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen, die Person des Erzählers sich in den Vordergrund schiebt; vgl. E. Kahler: Die Verinnerung des Erzählens. Neue Rundschau 1959, S. 117-220; V. Lange: Erzählformen im Roman des 18. Jahrhunderts, in: Anglia 76 (1958), S. 130-144. Dennoch war es Wieland, der diese Technik des Erzählens in das deutsche Schrifttum eingeführt hat. Brugger meint, Wielands Verserzählungen und Romane erweisen sich hierin als getreuer Spiegel der Epoche; Peter Brugger, Graziöse Gebärde, S. 1. 564 Hier sei auf die in der Wieland-Literatur betonte Technik der Leseransprache verwiesen: - Müller-Solger, Dichtertraum, S. 169. - Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 194ff. - Regina Schindler-Hürlimann, Wielands Menschenbild, S. 32f. - Wolfgang Preisendanz, Wieland und die Verserzählung, S. 30. - Cornelius Sommer, Wielands Epen und Verserzählungen, S. 145f. - Jürgen Jacobs, Der Roman der schönen Gesellschaft, S. 30ff. - Wolfgang Dittrich, Erzähler und Leser, S. 100ff. - Gerd Matthecka, Roman und Romantheorie, S. 141ff. 565 Marga Barthel: Das Gespräch, S. 43. 276

Form und den Leser566 beherrscht. Es ist ein Spiel zwischen All- und Unwissenheit des Erzählers. So kann dieser den Leser „beruhigen“, der sich um Phanias’ Flucht ans Meer zu sorgen scheint, daß dieser sich vielleicht in seinen „Nachen“ stürzen würde. „Seid unbesorgt! Er blieb / Am Ufer ganz gelassen stehen“ (HRA III/9,12). Grazie ergibt sich also auch im „Gespräch“, in der „Begegnung“, im „Ton“. Man nennt dieses Spiel mit dem Leser und die bewußte Ausrichtung auf einen Partner das „immanent Dialogische“567. Dieses Spiel soll sich auf den ideellen und realen Leser übertragen. Er soll nicht nur Zuschauer sein, sondern den Reiz spüren. Der Leser muß bereit sein, sich auf dieses Spiel einzulassen. Hier ist Zutritt nur für Mitspieler568. In „Musarion“ zeigt sich der Erzähler beweglicher als in „Theages“. Die Leseranreden häufen sich und sind variantenreicher, d. h. insgesamt ist anhand der erläuterten formalen und stilistischen Aspekte eine größere Gewandtheit, Beweglichkeit festzustellen.. Damit verbunden ist zugleich die größere Wirkung. Wenn man sich die Wirkungen auf die Zeitgenossen vor Augen führt, kann geschlossen werden, daß die Verserzählung auch durch die formale und sprachliche Gestaltung diese Wirkung erreichte. Das Werk hat „wesentlich zurückzutreten hinter der augenblicklichen Wirkung, die den Gehalt wie ein kunstvoll gewobener Schleier dem Empfänglichen entwickelt“569. Alles, was über die menschliche und die eigentliche Natur im Zusammenhang mit der Kunst erläutert wurde, läßt sich auch mit „Grazie“ verbinden570. Der enge Zusammenhang von Kunst und Natur ist auch in Wielands Sprache und Stil spürbar. Unter einer scheinbar natürlichen Anmut und ungezwungenen Leichtigkeit verbirgt sich eine große Kunstfertigkeit, die mit Virtuosität die Schwere des Stoffes aufhebt, das Anmaßende zurückdrängt und das bewußt Gemachte als ungekünstelten Ausdruck erscheinen läßt. Aber erst mit der Arbeit am „Cyrus“ begann Wieland, mit mehr Mühe und Sorgfalt zu schreiben. „Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Mühe mir der Styl und die Versification bei meinem Cyrus machen. Die Kinder des Geistes werden schnell und mit Vergnügen gezeuget; aber dann folget viel Mühe und Arbeit, sie zu bilden, zu poliren, und zur Reife zu bringen. Von dieser Mühe habe ich auf meine ehemaligen Werke sehr wenig verwandt“, schreibt er an Zimmermann571.

566 Es sei angemerkt, daß es bei Wieland den ideellen und realen Leser gab, auf den er wirken wollte; gemeint sind in seinen Werken vornehmlich die fiktiven oder intendierten Leser. Auch das gehört zur Grazie, daß man nicht genau weiß, welcher „Leser“ gemeint ist; vgl. Steven R. Müller: Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970, S. 89ff. 567 Marga Barthel. Das Gespräch, S. 38; vgl. auch S. 18. 568 Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 18. 569 Karl-Heinz Kausch, Die Kunst der Grazie, S. 42. 570 Sittliche Grazie, das Zeichen der ‘nahmenlosen Empfindung’ (HRA XIV/S4, 161) entspricht in der Dichtung die Grazie und Eleganz der Sprache; Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 122. 571 Brief von Anfang 1785 (AB I, 264f.). Zu Sprache und Stil vgl. auch Karl-Heinz Kausch, Das Kulturproblem, S. 120ff. („Die Grazie“). 277

Tatsächlich haftet „Musarion“ gegenüber den Jugenddichtungen ein Schein von Improvisation, Leichtigkeit, Einfachheit an. Auf diese „Leichtigkeit, der Grazie letzte Gunst“572, legt Wieland großen Wert. „Es kann nicht oft genug gesagt werden, wieviel bey allen Werken des Geistes auf die Sprache, auf die Ungezwungenheit und simple Nettigkeit des Ausdrucks ankömmt“573. „Musarion“ gibt dafür ein treffendes Beispiel, wie der Dichter die scheinbaren Zweifel des Phanias verdeutlicht, ob dieser die Zahl der Helden vermehren soll. Mit Fragezeichen, Gedankenstrichen und Hinweise auf Plutarch und (ungenannt) Horaz glaubt der Leser, an den Gedanken Phanias’ teilzunehmen. Es soll den Anschein haben, daß alles nicht die geringste Mühe kostet. Obwohl Wieland jede Zeile mit viel Sorgfalt be- und überarbeitete574, liegt ihm daran, so zu tun, als ob es nur spielerisch leicht dahin geschrieben sei. Die Kunst besteht darin, den „strengen Fleiß der Feile“ (HRA VII/21,166) zu verhehlen. Seiner sprachlichen Fähigkeiten war er sich wohl bewußt. Er warnt im Vorbericht zum „Neuen Amadis“ die „Ungeübten vor der Nachahmung, denn auch in der scheinbaren Willkür walte ein Gesetz, und ein anderes Mal „däucht“ es ihm, daß alle „Eigenschaften, ohne welche keine poetische Geburt lange leben kann..., ganz ausserordentlich unter uns vernachlässiget zu werden anfangen“575. Die Erfahrungen, wie schwer es war, so leicht zu werden, hat er in den „Briefe(n) an einen jungen Dichter“ (H 38,87f) verarbeitet, die er in den Jahrzehnten mit dem zeitgenössischen Publikum gemacht hat. In Versen ausgedrückt hat Wieland den Zusammenhang von Kunst und Natur bei Horaz gefunden, den er übersetzt hatte. „Man pflegt zu streiten, ob Naturkraft, oder / ob Kunst ein Dichterwerk vortrefflich mache? / Mir meines

572 WA 1, 756. Im Prolog zu „Clelia und Sinibald“ hat Wieland sein Dichtertum umschrieben. 573 Brief an Freiherrn von Gebler vom 5.9.1775 (DB II, 49f.). Vgl. auch an denselben vom 10.1.1773 (DB II, 16f.) und den Brief an J. K. Wezel vom 18. 12. 1773, den er mit deutlichem Bezug auf die eigene Arbeitsweise schrieb. Wieland empfiehlt darin, „zum ersten Aufsatz immer die Stunden der Laune abzuwarten und dann munter darauf los alles, was Ihnen einfällt, aufs Papier zu werfen. Hernach aber, bey kälterem Blute, hundertmal wieder zu überarbeiten was Sie geschrieben haben, und so lange zu feilen, bis alles teres atque rotundum ist, bis Sie sehen und fühlen, daß Sie allem ein Genüge gethan haben, was Horaz von Dichtern fordert, die nach dem lauten Beyfall der Welt und dem stillern aber desto schmeichelhafteren Beyfall der Leute von Geschmack streben“; Klassische Findlinge. Mitgetheilt von C. Schüddekopf, in: Freundesgaben für Carl August Hugo Burkhardt zum 70. Geburtstag, Weimar 1900, S. 94. 574 Davon legen zahlreiche Briefe Zeugnis ab. Vgl. S. Ch. A. Lütkemüller: Gespräche mit Wieland, in: Wilhelm Bode: Stunden mit Goethe, Berlin o. J., Bd. IX, Heft 2, S. 96. Brief vom 20. 11. 1779 an J. H. Merck, in: Briefe an Johann Heinrich Merck von Goethe, Herder Wieland und anderen bedeutenden Zeitgenossen, hg. Karl Wagner, Darmstadt 1835, S. 193. Brief an Sophie La Roche vom 14. 2. 1781 (DB I, 165). Brief an Gleim vom 20. 11. 1779 (AB II, 189). Goethe „Zu brüderlichem Andenken...“, Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 697. Beißner entdeckte 1937 ein Handbuch Wielands, durch dessen Edition er Einblicke in seine Arbeitsweise bekam. Friedrich Beißner: Neue Wieland-Handschriften, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1937, Phil.-hist. Klasse Nr.13, Berlin 1938. Vgl. auch HA 4 „Sendschreiben an einen jungen Dichter“ von 1782, S. 441ff. Vgl. auch Werner Bock, Die ästhetischen Anschauungen, S. 65. 575 „Zwar scheint sie (die Versart) beym ersten Anblick allzu frei zu sein, um dem Poeten die mindeste Mühe zu verursachen, aber Ungeübte, die ohne zartes Gefühl für Rhythmus und Harmonie sie nachzumachen versuchen 278

Orts scheint ohne reiche Ader / das strengste Studium, und ohne Kunst / das beste Naturell gleich unzulänglich: / Keins kann des andern mangeln: aber freundlich / vereinigt, glänzen beide desto mehr“.576. Es sollte der Eindruck entstehen, daß es sich um eine Gabe der Natur handelt; in Wahrheit ging es nicht ohne Hilfe der Kunst. Nur beide gemeinsam machen den „Glanz der Vollendung“ aus (HRA III/10,102), der den Leser fasziniert. Wie im Idealfall Kunst und Natur im Menschen zur Identität gelangen können, so wollte Wieland durch seine Sprachkunst den Anschein von Natürlichkeit erwecken, um damit - wie seine Grazien - wirken zu können. Daß „Musarion“ und die anderen Biberacher Werke gegenüber „Theages“ eine große Wirkung erlangte, lag auch an der Sprachkunst des Dichters, der „Grazie“ als sprachlichem Ausdrucksmittel. Es ist festzuhalten, daß nicht nur die Grazien von dem Prinzip des Maßes und der Mitte gekennzeichnet sind, sondern auch die Dichtung, eigentlich Wielands gesamte Existenz. Er warb für das Ideal der „reizenden Philosophie“. Dieses erreicht er wirkungsvoll durch die Darstellung oder die „Poesie des Stils“577. Sie ist ein Bekenntnis zu den Lehren der schönen Hetäre, ist selbst reizende Philosophie, repräsentiert die Idee der Anmut und des Maßes.

Wieland vermied tragische Stoffe, rohe Reize und ungehemmten Sinnengenuß, aber auch pathetische Askese und Schwärmerei. Was seine Grazien inhaltlich vertreten, findet seine Entsprechung in der Form und der verfeinerten, kultivierten Sprache der Verserzählung578. „Niemand kann die leichte Poesie..., die mit den Grazien scherzende Philosophie mehr lieben als ich... Es giebt Stunden, wo wir gerne mit der Laune in den Irrgärten der Phantasie herum schlendern, nur müssen Geschmack und Witz von der Gesellschaft seyn. Aber wie wenig haben wir noch in dieser Art“579. Wie der Dichter der Grazien auch das sinnliche Element in ihre Natur mit einbezieht, so verteidigt er auch die Darstellung der Sinnlichkeit. Er führt als Hauptgrund an, die Natur müsse in ihrer wahren Gestalt gemalt werden, also müsse er auch

wollten, möchten sich hierin betrogen finden. Alles in der Welt hat seine Regeln; und diese freie Versart hat deren vielleicht mehr als irgend eine andere“ (HRA II/4, Xf.). Vgl. dazu TM I (1773), 31ff.; auch AA I/21, 12f. 576 WA 3, 832 (Horazens Brief an L. Calpurnius Piso an seine Söhne). Noch an anderer Stelle kommt Wieland in diesem Zusammenhang auf Horaz zu sprechen; diese Ansicht läßt sich auch auf seine eigene Art zu dichten übertragen; vgl. seine „Theorie der Red=Kunst und Dicht=Kunst, AA I/4, 404. 577 Vgl. Friedrich Beißner, Poesie des Stils, S. 13f.; vgl. die Rezension von H. Wolffheim in: Euphorion 49 (1955), 245. 578 Vgl. dagegen Wielands Schüler Wilhelm Heinse, der sich u. a. im „Ardinghello oder Die glückseligen Inseln“ zu dieser Sinnlichkeit mit allen Konsequenzen bekennt; Walter Brecht hat dafür den „ästhetischen Immoralismus“ in der deutschen Literaturgeschichte geprägt; Walter Brecht: Wilhelm Heinse und der ästhetische Immoralismus, Berlin 1911. 579 TM I vom 1.1. 1773, S. 33. 279 liebenswürdige Sünderinnen wie Danae und Aspasia mit reizenden Farben schildern580. Aber wie seine Grazien die naive Sinnlichkeit verachten, so liegt ihm eine solche Darstellung fern. Er vertritt den Standpunkt, Sinnlichkeit kann sowohl in der Darstellung als auch in der Erscheinung durch Anmut und Grazie gemildert und verfeinert werden. Daß so etwas möglich war, daß die Kunst der Darstellung der Verdeutlichung und Wirkung bestimmter Ideen besser zu dienen vermag als die besten stofflichen Beispiele, hat Wieland am Phänomen der Tugend erläutert, und zwar in einer Anmerkung, mit der er eine von Bodmer beeinflußte Äußerung in „Theages“ bei einer späteren Bearbeitung zu korrigieren versucht. „Ein Gedicht, in welchem die Tugend in Beispielen sichtbar wird, kann auf zweierlei Art gute Wirkungen... thun: entweder durch die bloße Kraft der Beispiele selbst, und in diesem Falle kommt nichts auf die Rechnung des Dichters als die Wahl seines Stoffes...; oder durch den Reiz der Dichtkunst, d. i. die Schönheit des Gedichtes an sich selbst, und diese ist von der Wahl des Stoffes und der sittlichen Güte oder Nützlichkeit desselben unabhängig“ (HRA XIV/S4,159, Anm. 1).

Wielands Stärke liegt in der Kunst der Darstellung. Diese Tatsache erklärt, warum so „anspruchslose Gebilde wie ‘Musarion’ ... der Dichtungswissenschaft wertvoller sind als seine philosophischen Aufsätze und großen Problemdichtungen“581. Die Reize seiner Sprache, die „Grazie“, machen „Musarion“ zu einem Kunstwerk. Und in der erwähnten Anmerkung zu „Theages“ heißt es, diese „hat als solches seinen Zweck in sich selbst; es verdient diesen Namen nur oder ist nur alsdann, was es seiner Natur nach sein soll, wenn es schön ist...“. In „Musarion“ verbinden sich also „Lehre und Reiz, Weisheit und Schönheit ...(mit) dem Ideal der Grazie im Sinne von Shaftesburys ‘moral grace’, inward beauty’“.582

580 Vgl. Unterredungen zwischen Wieland und dem Pfarrer in XXX (HRA X/30, 428f.). Wieland wehrt sich ein Leben lang dagegen, daß er als Dichter der Sinnlichkeit abgestempelt wird, denn seine Zeitgenossen setzen Sinnlichkeit oft mit Wollust gleich. 581 Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 103. 582 Sengle, S. 205. 280

5.3 „Die Grazien“. Ein Gedicht in sechs Büchern

5.3.1 Entstehung des Werkes und gleichzeitige Arbeit an anderen Dichtungen

Die Grazien sind Wieland so nahe gekommen, daß es ihn drängte, „sie in ihrem wesen und all ihren beziehungen zu göttern und menschen in einem besonderen werke darzustellen, so wie wir am abschluss der früheren periode im Theages die sorgfältige schilderung eines gemäldes der Grazien finden, aus der sich ihre ganze eigenart ergeben sollte“583. Das Werk erschien 1770 in Leipzig im gleichen Verlag wie „Musarion“. Obwohl es in der Vorrede „An Danae“ heißt „Geschrieben im Jahr 1769“ (HRA III/10,1ff), wird es bereits 1766 in einem Brief an Geßner erwähnt, in dem Wieland von seinen dichterischen Plänen berichtet584. Zunächst sollen „Die Grazien“ wie „Musarion“ und das „Psyche“-Fragment als eine der „Komischen Erzählungen“ erscheinen, deren Inhalt ursprünglich weiter gefaßt war585. Aber sowohl die Verserzählung als auch “Die Grazien“ kommen als Einzeldrucke heraus. Teile des „Psyche“- Stoffes werden in anderen Werken verarbeitet, wie im Zusammenhang mit „Musarion“ erwähnt. Von dem, was bereits fertiggestellt war, „erhielten sich blos die Bruchstücke, welche theils in der Vorrede zur ersten Ausgabe der ‘Musarion’, theils als Anhang zur ersten Ausgabe der ‘Grazien’ (1770), theils im ‘deutschen Mercur’ (Mai 1774) bereits abgedruckt worden sind“ (HRA III/9,277f.), wie Wieland im Vorbericht zu „Bruchstücke an Psyche“ erklärt. Weisse hat im Winter 1768/69 eine Abschrift des „Psyche“-Manuskripts erhalten. „An Herrn Weisse“ ist auch ein Brief gerichtet, der der „Psyche unter den Grazien“ vorangestellt ist. Beide sind im Anhang zur Erstausgabe der „Grazien“ veröffentlicht586.

Schon durch den Titel stehen „Die Grazien“ neben Musarions Grazienphilosophie. Nicht nur inhaltlich besteht ein Zusammenhang zwischen beiden Werken, auch zeitlich liegen kaum zwei Jahre zwischen dem Erscheinen der Erstdrucke. In der Zwischenzeit schrieb er „Sokrates Mainomenos oder die Dialoge des Diogenes von Sinope“, später als „Nachlaß des Diogenes“ umbenannt, und die „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“. Beide Werke kamen ebenfalls 1770 heraus. Erwähnenswert sind noch „Combabus“ und „Der Neue Amadis“. An letzterem Werk arbeitete der Dichter seit 1768. Es erschien

583 Pomezny, S. 182f. 584 Brief an Geßner vom 29. 8. 1766 (DB I, 39); vgl. HA 5, 831, Nr. 57. Damit entfällt die Vermutung Pomeznys, daß Klotzens Werk „Über den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine“ von 1768 die Anregung gegeben hätte. 585 Vgl. Sengle, S. 176 und DB I, 19 (Brief Wielands vom 24. 9. 1764). 586 C. M. Wieland: Die Grazien, Leipzig 1770, S. 190ff. 281

1771. Thematisch lassen sich in diesen Werken gegenüber „Musarion“ keine grundlegenden Änderungen feststellen. 1769 erschien in Paris anonym das Sammelwerk „Les Graces“. Der Herausgeber soll A. G. Meusnier de Guerlon gewesen sein. Eventuell hat dieses Werk Wieland angeregt, das verlassene Thema noch einmal aufzugreifen“587. Allerdings sind hier schon aus zeitlichen Gründen Zweifel an dieser französische Quelle angebracht, denn Wieland arbeitete zwischen 1764 und 1769 an den „Grazien“, auch wenn sie erst 1770 erschienen.

5.3.2 Biographischer Hintergrund und literarische Einflüsse auf „Die Grazien“

Im Februar 1769 erhält Wieland nach langwierigen Verhandlungen einen Ruf als Professor der Philosophie an die Universität Erfurt. Gefördert wurde er dabei von Justus Friedrich Riedel, der ihm auch bei der Herausgabe von „Musarion“ behilflich war. Nicht ohne Einfluß war auch die Fürsprache, die von Warthausen an den kurfürstlichen Hof in Mainz ging, dem die Erfurter Universität unterstand. Anfangs scheint es so, als ob Wieland hier neue Lebens- und Arbeitsbedingungen finden würde, aber die Schwierigkeiten lassen nicht auf sich warten. Von einer Befreiung und einer „Steigerung des Lebensgefühls, das sich allmählich zum Optimismus hinneigt“588, kann keine Rede sein. Im Frühjahr 1771 überlegt sich Wieland, eine andere Stelle zu suchen, die er im September 1772 bei der Herzogin Anna Amalie in Weimar erhält. Seine Stimmung in Erfurt spiegeln die folgenden Briefe wider. Am 7. 7. 1770 schreibt er an Bodmer, er finde sich vor der „herkulischen Arbeit, die Barbarei, die Pedanterei, die Cacalen und den verwünschten Geschmack am Mittelmäßigen, die in dem nördlichen Teile von Deutschland noch herrschen, zu bestreiten“. Über Erfurt berichtet er am 27. 4. 1771 an Gleim: „Niemals, niemals, mein Freund, haben die Grazien dieses freudenleere Chaos von alten Steinhaufen, winklichten Gassen, verfallenen Kirchen, großen Gemüs-Gärten und kleinen Leimhäusern, welches die Hauptstadt des edlen Thüringerlandes vorstellet, angeblicket; daß Sie jemals, in der ungeheuren Ebene, ... getanzt haben sollten, daran ist gar nicht zu denken“589. Obwohl Wieland bei Erscheinen des Werkes schon in Erfurt lebt, hat er den größten Teil der „Grazien“ in den Biberacher Jahre geschrieben. So sind wohl eher Einflüsse aus den Warthauser Jahren in dieses Werk eingeflossen.

587 Vgl. Pomezny, S. 185. 588 Karl Gerke, Wielands „Aristipp“, S. 8f. 589 zitiert nach HA 2, 845. 282

Grundsätzlich wird in bezug auf Xenophon, Horaz und Lukian auf die Ausführungen bei „Musarion“ verwiesen, da „Die Grazien“ nur zwei Jahre später erscheinen. Alle drei genannten Dichter werden auch in dem Werk namentlich genannt, ohne daß zu erkennen wäre, daß sich Wielands Verhältnis zu ihnen gewandelt hätte. Bereits in der Vorrede „An Danae“ ist von den griechischen Grazien die Rede, den „Grazien, die.... den Xenophon schreiben.... lehrten“ (HRA III/10,6). An anderer Stelle werden die Grazien „Schutzgöttinnen der Sokratischen Schule“ genannt, die der Meister selbst in seiner Jugend gebildet habe. „Und welchem Sterblichen sind sie jehmals günstiger gewesen, als dem liebenswürdigen Xenofon? ihm, der die wahren Züge der sittlichen Grazie in seinen Werken so vollkommen ausgedrückt und in seinen Gedanken und Empfindungen, wie in seiner Schreibart, Wahrheit, Einfalt und ungeschminkten Anmuth so unverbesserlich vereinigt hat?“ (HRA III/10,97). Neben dem Stil ist von den sittlichen Grazien die Rede, die in den Werken Xenophons herrschen; sie sind zwar mit der hohen Tugend der früheren Zeit Wielands verwandt, weil es sich um dieselben Xenophonischen Gestalten handeln kann; aber diese werden, wie schon in „Musarion“, unter einem anderen Blickwinkel gesehen590. In Dichtungen wie „Musarion“ oder „Die Grazien“ ist die „Xenophonische Grazie“ eingeflossen591. Horaz wird dreimal genannt. Es sind die „Horazische(n) Satire“ und der „elegante(n) Ton“ (HRA III/10,111f.), was Wieland an diesem Dichter schätzt592; d. h. im Gegensatz zu „Musarion“ stellt Wieland in diesem Werk vor allem die philologischen Elemente an Horaz heraus. In bezug auf Lucian betont Geigenmüller, wenn Wieland in den „Grazien“ das Verhältnis des Griechenvolkes für den „Reiz im Kalamis“ (HRA III/10,99) rühmt, dann sei das „eine Erinnerung an das Lob, das Lucian der Sosandra des Meisters spendet“593. Und aus der verstohlenen Umarmung der artigsten unter den Grazien mit einem Faun läßt Wieland nicht nur den Genius der „Horazischen Satire“,

590 In demselben Sinn ist in der Abhandlung „Ueber den Charakter des Erasmus von Rotterdam“, die 1776 im „Teutschen Merkur“ (IV, 262-272) erschien, von den „Grazien des Geistes“ bei Xenophon die Rede, die mit einem hohen Grad von körperlicher Schönheit und Vollkommenheit, die den Helden bilden, in einem Subjekt zusammentreffen können (H 35, 334). 591 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 201. 592 Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 375. Er meint, „Die Grazien“ seien eine Dichtung des Übergangs, vom Geist der ‘Komischen Erzählungen’ zu Wielands gemäßigter Lebensphilosophie. In ihnen trete die Verbindung von Sokrates, Horaz und Lucian deutlich in Erscheinung. Am Schluß des 6. Buches stellt der Dichter die Frage: Was aus dem kleinen Impromptu, der Frucht der Liebe Thalias zu einem Faun geworden sei? Und die Antwort lautet: Es wurde der Genius der Sokratischen Ironie, der Horazischen Satire, des Lucianischen Spottes. Die Poesie und die Satire - aber die des feinen Spottes - verbindet sich in Horaz, und sei auch für die Dichtungen Wielands das grundlegende Element. Vgl. auch Sengle, S. 224, der darauf hinweist, daß Wieland zu gleicher Zeit, als er an den „Grazien“ arbeitete, in Erfurt Vorlesungen über Horaz hielt; vgl. dagegen die Annahme, daß dieses Werk größtenteils noch in Biberach geschrieben wurde; Kap. 4.3.2. dieser Arbeit. 593 Paul Geigenmüller, Lucian und Wieland, S. 38; vgl. zu Lucians Einfluß auf die „Grazien“ auch Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 382. 283 sondern auch den „Lucianischen Spottes“ (HRA III/10,112) entstehen. Für Xenophon, Horaz und Lucian lassen sich gegenüber „Musarion“ keine neuen Einflüsse nachweisen.

In der Biberach-Warthausener-Zeit kommt Wielands Weltanschauung zum Abschluß, wobei die Bekanntschaft mit französischer Kultur, Literatur und Lebensauffassung sein Weltbild vollendet. In „Musarion“ sind die wichtigsten Züge des Shaftesburyschen Einflusses bereits vereinigt. Obwohl der Dichter danach „Nachlaß des Diogenes“ und die „Beyträge“ veröffentlicht, lassen sich erst in den „Grazien“ deutlich erkennbare Spuren von Shaftesbury nachweisen. In den „Grazien“ schildert Wieland, wie die Menschen unter dem Einfluß der Göttinnen aus dem Stande der Natur zu feinerer Gesittung übergehen. Dieses deutet zwar nicht unmittelbar auf die Anregungen des englischen Moralphilosophen und seine „moral grace“ hin, aber ohne die Vertiefung und umfassende Bedeutung, die er dem Grazienbegriff gegeben hat, läßt sich dieses Werk in seinen wichtigsten Teilen nicht denken. Nach Shaftesbury macht erst der Geschmack am Schönen und das Gefühl für Anstand und Liebenswürdigkeit das Wesen eines Menschen vollkommen. Und so deutet „das feinere Gefühl des Schönen und Anständigen“ (HRA III/10,58), das Wieland als die Hauptaufgabe der Grazien ansieht, auf Shaftesburys „moral sense“, den Geschmack, hin. Es besteht kein Zweifel, daß in den „Grazien“ der Gedanken der ästhetischen Erziehung letztlich auf die Lehre dieses Moralphilosophen zurückzuführen sind594. Aber auch in Einzelheiten lassen sich seine Gedankengänge in den „Grazien“ verfolgen. So erteilt Wieland den Arkadiern im Naturzustand die „edleren Begriffe von einem gemeinsamen Besten“ und in Anklang an den Titel von Shaftesburys Tugendschrift sogar die Begriffe von „Tugend und Verdienst“ mit (HRA III/10,57). Gleichzeitig entsteht das Gedicht „Das Leben ein Traum“ (HRA III/9,215f.), das Einblicke in Wielands Grundüberzeugung von Ethik zur Zeit der Graziendichtungen gibt. In einem Gespräch zwischen einem Stoiker und Aristipp wird der Tugendbegriff erörtert. Nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung sollen schöne Seelen die Tugend fröhlich ausüben. Wie bei Shaftesbury kommt es darauf an, dem Innenleben eine schöne „inward form“ zu geben. „Die Tugend ist den schönen Formen gleich, / Die jungen Künstlern zu Modeln / Ein Polyklektus giebt: ‘Ihr Knaben hütet Euch, / Die Schönheitslinie nur ein Haar breit zu verfehlen!’ Sie hält in Allem Maß und Zeit; Dem strengen Recht vermischt sie Billigkeit“ (HRA III/9,228). Im Zusammenhang mit der Grazienphilosophie werden in „Die Grazien“ die äußerlich kenntlichen Beziehungen zu Shaftesbury spärlicher, dennoch hat Wieland bis

594Nach Grudzinski, S. 81f. Er betont, daß dieses der einzige Gedanke sei, der dem etwas schwächlichen Machwerk eine insgesamt höhere Bedeutung gebe. 284 zuletzt an der Lebensauffassung festgehalten, die der englische Moralphilosoph in ihm ausgelöst hatte595. Als Ziel des sittlichen Strebens wird ein harmonischer Ausgleich der sinnlichen und vernünftigen Natur des Menschen angestrebt. Das ist zugleich der Endpunkt, den Wieland mit seinen Graziendichtungen erreichen wollte.

In „Die Grazien“ wird Winckelmann sechsmal genannt (u. a. HRA III/10,22;44;60;89). Es wird darauf hingeweisen, daß die die idealistische Ästhetik der ‘Grazien’-Dichtung aus dem Jahre 1769/70 eine neue Begegnung mit der Kunstanschauung Winckelmanns einleitet596, die in den „Gedanken über die Ideale der Alten“ von 1777 die endgültige Formulierung findet597. „Der Gegensatz zwischen dem Wahlgriechen Winckelmann und dem kritischen Gräzisten Wieland ist unüberwindlich“598. Damit wird das Unterscheidende, die verschiedene persönliche Einstellung zum Griechentum charakterisiert599, andrerseits wird der gemeinsame „Kunstidealismus“ als das Verbindunde gesehen600. In „Die Grazien“ nähert sich Wieland zum einen der idealistischen Kunstanschauung Winckelmanns, zum anderen wählt dieser als einer der ersten den Begriff der „Grazie“ in der Abhandlung „Von der Grazie in den Werken der Kunst“ (1759)601. Obwohl Wieland früh mit Winckelmanns Ästhetik vertraut war, ist er

595Wolfram Buddecke, Wielands Entwicklungsbegriff, S. 128. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz; Monecke analysiert unter dem Titel „Grazie als Inbegriff von Wahrheit und Schönheit“, S. 121-147, das Gedicht „Die Grazien“, ohne auf Winckelmann einzugehen. 596 Müller-Solger, Dichtertraum, S. 191. Vgl. dagegen Sengle, S. 324f., der erst in der „Alceste“ (1773) eine neue Begegnung mit Winckelmann annimmt. Auf diese Stelle scheint sich R. Schostack zu beziehen, der feststellt, daß früherer Bewunderung bald eine Distanzierung gefolgt sei, die in den „Grazien“ offenkundig werde; R. Schostack: Wieland und Lavater, Diss. Freiburg 1964, S. 45. Vgl. dagegen Müller-Solger, Dichtertraum, S. 192, der darauf hinweist, daß Schostack damit das Verhältnis von Wieland und Winckelmann verfehle. 597 Diese Abhandlung gehört in die Reihe der Schriften, die von Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ (1755) abhängig sind. Vgl. Müller- Solger, Dichtertraum, S. 209ff., der mit der Analyse der „Gedanken über die Ideale der Alten“, die er für die bedeutendste ästhetische Schrift Wielands hält, die Darstellung seiner Kunstanschauung beleuchtet und damit notwendigerweise Gemeinsamkeiten und Gegensätze zwischen Wieland und Winckelmann erörtert. 598 Sengle, S. 325. Er meint, auch Wieland sei mit der Antike vertraut, kaum weniger als Winckelmann; jener wählte sich nur einen Ausschnitt aus ihr, doch sei es derjenige, in dem die Humanität geboren wurde, S. 191f. 599 Für Winckelmann stellen die griechischen Statuen und Bilder der griechischen Menschen vollendete, nicht überbietbare idealische, oder vielmehr schon ideale Schönheit dar, die das Maß für alle späteren Zeiten abgeben. Wieland besaß zwar auch eine Vorliebe für die Antike, aber er erkennt weder die griechische Lebensform, noch ihre Kunstwerke als absolute Norm an. „Ich habe einen so großen Begriff von den Vorzügen der alten Griechen, als nur irgend einer haben kann, der sich einige Mühe gegeben hat, sie kennen zu lernen. Zu jener Zeit, als meine Einbildungskraft über Musarion und Agathon brütete, schwärmte ich wohl selbst ein wenig über diesen Punkt. Allein ... warum sollt’ ich nicht bekennen, daß die Griechen durch längere und genauere Bekanntschaft vieles von ihren Vorzügen vor andern ältern und neuern Völkern in meinen Augen verloren haben?“ („Ueber die Ideale der griechischen Künstler“, HRA VIII/24, 151; zuerst erschienen im „Teutschen Merkur“ 1777, III, 121-169; 198-228; IV, 69-80 unter der Überschrift „Gedanken über die Ideale der Alten. (Veranlaßt durch das vierte Fragment im 3. Band der Lavaterischen Physiognomischen Fragmente.)“. 600 Sengle, 325. 601 Johann Joachim Winckelmann: Von der Grazie in den Werken der Kunst, in: Ausgewählte Schriften und Briefe, hg. Walther Rehm, Wiesbaden 1948, S. 46ff. Winckelmann zielte in der Kunstgeschichte auf die „hohe 285 nicht in der Lage, die Gedanken Winckelmanns in ihrem ganzen Umfang zu erfassen. Wielands „Theorie und Geschichte der Red=Kunst und Dicht=Kunst“ (1757) läßt eine Anlehnung an das Griechenbild der 1755 erschienenen „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ erkennen602. Auch die „Cyrus“- Vorrede bestätigt die neue Richtung (WA 4,824). Danach tritt der Einfluß Winckelmanns hinter dem „Prinzip der Laune“ zurück603. Erst in den „Grazien“ wird wieder von „unser(em) Winckelmann“ (HRA III/10,89) gesprochen. Darin „findet Wieland erneut den Anschluß an die klassizistische Bewegung“604. In den „Grazien“ erläutert der Erzähler, daß sich die „Mutter der Liebe und der Grazien.... nicht ohne eigenthümlichen Reitz denken“ lasse, aber, so meint er, „es ist dieser hohe Reiz, der (wie unser Winckelmann sagt) mehr mit den Augen des Verstandes unmittelbar erblickt, als durch die Hilfe der Sinne empfunden werden kann“. Danae bezweifelt das: „Wissen Sie auch, mein Herr, daß Sie und Ihr Winckelmann wirklich ein Wenig schwärmen, um nicht ein härteres Wort zu gebrauchen? - Ein Reiz, der an einer körperlichen Gestalt - idealisch oder nicht - mit dem Verstand unmittelbar erblickt werden soll, welch eine Forderung!“ Der Erzähler pflicht ihr zunächst bei. „Soll ich Ihnen die Wahrheit gestehen, Danae? Ich besorge selbst, Sie haben Recht“ (HRA III/10, 89f.). Nach diesem Vorbehalt glaubt er aber dennoch, Winckelmann zu verstehen, indem er sich zu seinen Anschauungen der höchsten Schönheit bekennt. „Aber es giebt Augenblicke, wo ich diese hohe unkörperliche Grazie (welche, wenn ich nicht irre, Winckelmann zuerst von den Grazien im gewöhnlichen Verstande unterschieden hat) wirklich zu empfinden glaube“605. Diesem Bekenntnis zur übersinnlichen Schönheit, das Wieland in „Musarion“ an Theophrons Philosophie verspottete606, steht entgegen, daß es noch keinen Künstler gegeben habe, die

Grazie“ des strengen und die „gefällige Grazie“ des schönen Stils; vgl. Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung, S. 144. 602 Vgl. AA I/4, 356, 364 und 370. Vgl. auch Sengle, S. 100f. 603 Müller-Solger, Dichtertraum, S. 191. Clark bestätigt diese Beobachtung, der das Verhältnis Wielands zu Winckelmann ab 1760 untersucht hat. Er stellt fest, daß Wieland den Idealismus und Enthusiasmus Winckelmanns im Grunde anerkannte, auch wenn er ihm nicht in allem folgen konnte, und daß seine Ablehnung vor allem den pathetischen Stil und den Absolutheitsanspruch der Schriften Winckelmanns betraf; William H. Clark, Wieland contra Winckelmann, S. 13. 604 Müller-Solger, Dichtertraum, S. 192. Zu Winckelmann-Reminizenzen in gleichzeitig erschienenen Werken vgl. u. a. Edith M. Harn: Wielands „Neuer Amadis“, Göttingen 1928, S. 42 und 99ff. Da sie in der ersten Fassung zahlreicher sind als in der Ausgabe von 1794, folgert die Verfasserin, daß das mit der Aktualität der Ermordung Winckelmanns 1768 zusammenhängt. Sie geht jedoch dabei nicht auf Parallelen in den „Grazien“ und anderen Werken der Zeit ein und sieht somit die neue Begegnung Wielands mit Winckelmann nicht im Zusammenhang mit seiner dichterischen Entwicklung. 605 Nach Bock liegt auch hierin nur eine scheinbare Übereinstimmung zwischen Wieland und Winckelmann, denn für diesen sei der Verstand die Fähigkeit eigenster künstlerischer Anschauung und Schöpfung, für Wieland aber das Vermögen, die Harmonie der Natur wahrzunehmen und mit ihr Kunst und Leben in Einklang zu bringen, S. 52 606 Vgl. HRA III/9, 55, wo Theophron sagt, das Schöne müsse vom Stoffe abgeschieden und nur in Urbildern erschaut werden. 286 ideale Schönheit Winckelmanns darzustellen; der Mann müsse noch geboren werden, dem „man zutrauen (könne), daß er den Charitinnen diese ideale Schönheit geben würde, von welcher Winckelmann mit einer Schwärmerei spricht“ (HRA III/10,43f.).

Die Bewegung von der sichtbaren Grazie zur unsichtbaren bzw. von den idealischen Bildern in der Dichtung zur Anschauung des Ideals ist auch ein Kennzeichen für Wielands Verhältnis zu Winckelmann. Während dieser in den antiken Kunstwerken ein Ideal hatte, das nicht mehr geboren zu werden brauchte, hält Wieland das Anschauen der Gegenstände, die nicht in der Natur sind, für Schwärmerei. Einerseits wird er als „unser Winckelmann“ bezeichnet (HRA III/10,89), andererseits spricht er von „Schwärmerey“ im Zusammenhang mit ihm (HRA III/10,44). Zwar gründet er wie Winckelmann seinen Schönheitsbegriff auf ein seelisch Höchstes, aber es ist nicht wie bei Winckelmann eine ureigene Geburt des menschlichen Innern, sondern Shaftesburys „innere Harmonie“. Es bleibt festzuhalten, daß sich Wieland zwar die Theorie Winckelmanns zu eigen macht und versucht, diese in den „Grazien“ auszuführen, dabei aber deutlich wird, wie fremd er im Innersten diesem blieb. Wieland konnte seiner ganzen Anlage entsprechend diesem Schriftsteller nicht in das Reich „unkörperlicher Grazie“ folgen (HRA III/10,90).

5.3.3 Name und Herkunft der weiblichen Figuren

Die „drei jungen Mädchen“, die in den „Grazien“ die Hauptrolle spielen, sind drei „Schwestern“ (HRA III/10,28) und heißen Aglaja, Thalia und Pasithea. Damit greift Wieland auf Namen aus der griechischen Mythologie zurück. Zwar behält er die unter anderem von Hesiod und Pindar gewählte Dreizahl bei, weicht aber von den herkömmlichen überlieferten Namen Euphrosyne, Aglaja und Thalia ab607. Statt Euphrosyne wählt er die Grazie Pasithea, die bei Homer eine Rolle spielte. Daß Wieland nicht zufällig diese Namen wählt, ist bekannt. Er verfolgt damit bestimmte Absichten. Der Grund für die Namenswahl könnte darin liegen, daß im letzten Buch der „Grazien“ die „Homerische verheiratung Pasitheas an den schlaf eine besondere rolle spielt“608. Es muß bezweifelt werden, daß das die einzig mögliche Erklärung ist. Schon in „Theages“ ist Pasithea „das Urbild aller....Grazien“ (HRA XIV/S4,164). In „Die Grazien“ fällt auf, daß Wieland für die „kleinste der Schwestern“ gewissen Sympathien hegt

607 Vgl. zu den Namen und deren Bedeutung Em. Braun, Griechische Götterlehre, 286ff. 608 Pomezny, S. 187. 287 bzw. sie auch im Gegensatz zu den beiden anderen häufiger erwähnt. Noch ehe sie namentlich genannt wird, ist es „die Kleinste“, die Amor entdeckt. Später sieht Pasithea Amors Bogen und den „Köcher voll kleiner goldner Pfeile“ (HRA III/10,29). Zum Schluß findet Pasithea den „reitzenden Genius“ (HRA III/10,107). An einigen Stellen wird sie „die sanfte Pasithea“ (HRA III/10,31), „die sanfteste unter den Grazien“ (HRA III/10, 118) oder „die kleine Unschuldige“ genannt. Während Pasithea und Aglaja vorschlagen, vor Amor zu fliehen, kann sich die „muntre Thalia“609 nicht entschließen, „den kleine Gott zu verlassen“ (HRA III/10, 31). Sie hat den Einfall, Amor mit Blumen zu binden. An anderer Stelle wird von Aglaja als der „schönsten unter den Grazien“ gesprochen (HRA III/10,84). Mit diesen Beispielen soll belegt werden, daß Pasithea in „Die Grazien“ durchaus mit der in „Theages“ vergleichbar ist. Obwohl die „holdseligen Mädchen“ (HRA III/10,40) meistens gemeinsam als einfach und natürlich geschildert werden, sind geringfügige Unterschiede unverkennbar. Da es in diesem Werk aber um den Einfluß der Grazien insgesamt geht, werden diese charakteristischen Züge nicht detaillierter ausgeführt. Auch in der Genealogie weicht Wieland von der allgemeinen antiken Überlieferung ab, wonach in der Regel Zeus als Vater der Chariten angesehen wird. Zwar liegen über die mütterliche Abstammung unterschiedliche Deutungen vor, die meisten Genealogien nennen aber Eurynome als Mutter. Der Erzähler sagt dagegen zu Danae, „Sie müssen von den Dichtern oft gehört haben, daß Venus die Mutter der Grazien sei; aber nicht jedermann kennt ihren Vater. Man hat verschiedentlich von der Sache gesprochen“ (HRA III/10,17). Wieland greift auf eine auch in der Antike wenig verbreitete und ungewöhnliche Abstammung zurück und macht Bacchus und Venus zu den Eltern der Grazien (HRA III/10, 24ff.)610. Diese „schienen ihm das, was er ihre Mysterien nannte, am wahrscheinlichsten... Sind Bacchus und Venus die Spender höchsten - sinnlichen - Freuden, so werden die Töchter von beiden zunächst auch nur in Beziehung auf diese stehen; ihr Werk ist die Verfeinerung und Veredlung desselben, wodurch sie dem geselligen Leben einen höheren Reiz und Wert verleihen“611. Manso versucht, diese Verbindung in ähnlicher Weise zu interpretieren612. Nach Wielands Grazienbild erscheint diese Erklärung möglich613, auch wenn der Erzähler die

609 Vgl. auch HRA III/10, 109: „Thalia, ... der Grazien munterste“. 610 Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon, Sp. 1176f. 611 Gruber 50, 436. 612 „Der Dichter, der die Grazien Töchter des Bacchus und der Venus nannte, wollte vielleicht nichts anders, als den auf so vielfache Weise vorgetragenen Gedanken ausdrücken, daß der schönste Reiz des Lebens, das, wodurch das Leben zum Leben werde, aus den wohlthätigen Geschenken des Gottes des Weins und der Göttin der Liebe hervorgehe, mit einem Wort, daß Wein und Liebe den Menschen witzig, geistreich und angenehm mache“; Johann C. Friedrich Manso, die Kunst zu lieben, 438. 613 Vgl. zu Genealogie auch Pomezny, S. 187, der aus der „Dissertation sur les Graces“ von Abbè Massieu, S. 12, zitiert. Darin heißt es, „dass sie die am allgemeinsten angenommene, wenngleich... die am wenigsten in den 288

Abstammung der Grazien als „Anekdote frisch von der Quelle“ bezeichnet (HRA III/10,17). Der Dichter gibt selbst den Hinweis, warum er auf die weniger bekannte Genealogie zurückgriff. „Töchter des frohen Bacchus und der zärtlichen Cythere, müßten sie ganz aus der art geschlagen sein, wenn sie unempfindlich gegen die Liebe sein könnten, die sie einflößen; und unter so vielen Göttern, Halbgöttern und Sterblichen, von denen sie jemals geliebt wurden, sollten wohl alle, Alle, nicht Einen ausgenommen, nur Platonische Liebhaber gewesen sein? - Es ist nicht wahrscheinlich!“ (HRA III/10,105f.).

Wenn man in bezug auf das Alter von der Mythologie absieht, in der die Charitinnen jung waren, so finden sich in „Die Grazien“ genügend Hinweise, daß es sich, wie bei Musarion, um junge Mädchen handelt. Als Amor erwacht, „fand er sich von drei jungen Mädchen umgeben, aber den artigsten, lieblichsten Mädchen, die er jemals gesehen hatte“. Sie wollten Blumen holen und Pasithea hüpfte „nach dem Orte, .. wo Amor schlief“ (HRA III/10,28). An anderer Stelle spricht Amor von „lieben Mädchen“ (HRA III/10,52)614. Aus dem weiteren Zusammenhang ergibt sich, daß es sich anfangs um „liebliche(n) Mädchen (handelt), in denen Alles, was naive Unschuld, gefällige Güte und frohe Heiterkeit Göttliches hat, wie in der Knospe eingewickelt lag“ (HRA III/10,48f.)615, d. h. man muß sich diese Mädchen im Übergang vom Kind zur Jungfrau vorstellen. Diese drei Mädchen, die nicht wissen, was ihre Mutter sagen wird, wenn sie mit Amor zurückkommen, leben auf dem Lande in einer „Hütte“ (HRA III/10,39,50). Ihre „vermeintliche Mutter“ (HRA III/10,29) ist die alte Schäferin Lycänion; sie wird „von den Grazien Mutter genannt“ und muß früher einmal schön gewesen sein, so schön, „als man sich die Amme der Grazien, von Venus selbst ausgewählt, vorstellen kann“. Aber diese Schäferin weiß nicht, daß „ihre Pflegekinder die Töchter einer Göttin“ sind (HRA III/10,51). Sie lebt mit dem alten Hirten Damöt in einer Hütte und „erzieht“ die Mädchen. Der Hinweise, daß die Eltern Schäfer(innen) sind, läßt den Schluß zu, daß die Grazien in einfachen, bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen sind und, ähnlich wie Musarion, keine besondere Ausbildung, wie Aspasia, erhalten haben. Es heißt, ihre Kindheit sei in „ländlicher Einfalt und Unwissenheit... dahingeflossen“ (H 11,180). schriften der alten begründete sei; er meint, dass man kaum einen der Grazien angemesseneren ursprung finden könne“. 614 Vgl. weitere Belege: „artige Mädchen“ (HRA III/10, 41); „die guten Kinder“; „Was für Mädchen sind das?“ dachte Amor (HRA III/10, 38); „Aber diese lieblichen Mädchen...“ (HRA III/10, 48). 615 Vgl. dazu „Theages“ (HRA XIV/S4, 161ff.). So hat Wieland sie schon im Fragment - wenn auch dort nicht so knapp - gekennzeichnet. Hier wie dort sind es heitere, lächlende Grazien, die „ganz blühend“ sind und „die aufrichtigste Unschuld, und eine naive Güte... athmet in ihren Mienen“. Während in „Theages“ die Anmut mit einer neuentfalteten Rosenknospe verglichen wird - „sie gleicht in ihrer ganzen Person einer frischen Rose, die 289

In Bezug auf Wielands Grazienbild hat sich das Erziehungskonzept gegenüber „Musarion“ nicht gewandelt. Bemerkenswert ist noch, wenn es von der Amme der Grazien heißt, „ihr Hirt war kein Sedalon, kein Pastorfido, auch kein Geßnerischer Daphnis; doch wich er dem besten Theokritischen Hirten nicht“ (H 11,175). Damit erläutert Wieland, was er meint, wenn er Danae verspricht, keine anderen als die „griechischen Grazien“ (H 11,154) zu besingen. Es sind noch die naiven Grazien, der Natur noch verbunden. Sie bewirken nichts anderes, als die in der Natur angelegte Harmonie unter den Menschen zu entwickeln.

5.3.4 Äußere Erscheinung der Grazien

Es wird nur auf die äußere Erscheinung der „naiven Grazien“ (HRA III/10,41) eingegangen, d. h. wie Wieland sie sich als arkadische Schäferinnen vorstellt, von denen im zweiten und dritten Buch die Rede ist. In dem Moment, in dem diese Mädchen „zu wahren Göttinnen erhöhet“ (HRA III/10,54) werden, lassen sich die Grazien nur noch durch ihre Einflüsse auf Menschen, Götter, Künste, Philosophie usw. beschreiben. Zwar haben diese göttlichen Grazien auch ihre Reize und werden, als sie sich unter die Schäferinnen mischen, als „reizend“ (HRA III/10,72), „von lauter Reizen schimmernd“ (HRA III/10,81) beschrieben, aber diese Göttinnen der Anmut „bewiesen ihr Dasein vielmehr durch die Reizungen, welche sie mittheilten, als durch ihre eigenen. Sie dachten weniger daran, selbst zu gefallen, als zu machen, daß ihre Gespielen gefallen mußten“ (HRA III/10,77); d. h. das durch Reize anziehende und Reize schenkende Wesen der Grazien offenbart sich erst in ihren Wirkungen. Wie Shaftesbury „inward form“ nimmt man die Grazien erst im Weiterwirken wahr. Von daher erscheint es gerechtfertigt, die Reize der Göttinnen als zu ihrem Wesen dazugehörig zu betrachten. Von den drei Schäferinnen, die bei Lycänion und Damöt aufwachsen, heißt es, daß sie „sich selbst noch unbekannt, Amor’s Beistand vonnöthen hatten, um die leichte Hülle, welche die arkadische Einfalt um sie geworfen hatte, abzustreifen und dem Gott der Liebe - seine Schwestern darzustellen“ (HRA III/10,41).Obwohl die Mädchen mit Reizen ausgestattet sind, kann der Erzähler ihre Gestalt nicht beschreiben. Dennoch läßt Wieland keinen Zweifel daran, daß die Grazien bekleidet sind. „Schöne, junge, wollustathmende nackte Mädchen sind darum noch keine Grazien. Sie können dazu erhoben werden“, d. h. die Grazien sind nicht nur

sich in der Morgendämmerung zu öffnen anfängt...“ - ist es in den „Grazien“ eine Knospe, die sich noch nicht entfaltet hat. 290

Göttinnen des sinnlichen Reizes. Höchstens einem Mann, der „Corregio’s Gefühl mit Raphael’s Geist“ vereint, könnte man zutrauen, „daß er den Charitinnen diese ideale Schönheit geben würde, ..., dieses Ueberirdische, ‘diese Einheit der Form, die wie ein Gedank’ erweckt und mit einem leichten Hauche geblasen schiene;’ - dieses Charakteristische endlich, dieses Seelenvolle, dies über ihre ganze Gestalt ausgegossene Lächeln, diesen unter ihr, wie durch einen dünnen Schleier, hervorscheinenden Geist der Anmuth und der Freude, der uns beim ersten Anblick empfinden machte, daß wir die Grazien vor uns sähen“. Aber bis dahin soll man sich die Grazien bekleidet vorstellen. Wieland empfiehlt der unidealischen Schönheit der Erdentöchter, sich des Schleiers zu bedienen“ (HRA III/10,43f.).

Auch die naiven Grazien waren wie arkadische Mädchen bekleidet, „nur artiger.... Es war nicht ein Blumenstrauß... an einen Busen gesteckt: es war ein Blumenstrauß, von der Hand einer Grazie an den Busen einer Grazie gesteckt. Es war das Zauberische - das Niemand nennen kann, wozu die empfindsamen Seelen einen eigenen Sinn haben“ (HRA III/10,42f.). Wie in „Musarion“ wird beschrieben, wie diese Grazien bekleidet sein sollen; weder in „gothischen(r) Schwulst“, noch „in „gewebte(r) Luft“, sondern „Dem leichten Silberduft / Glich ihr Gewand“ (HRA III/10,45). Bei dieser Beschreibung fällt auf, daß Wieland schon in „Theages“ die Bekleidung der Grazien des Gemäldes ähnlich beschrieben hat. „Ein sanft wallendes Gewand... umschattet gleich einer Silberwolke ihre keusche Schönheit“ (HRA XIV/S4,161). In der Vorrede zur 2. Auflage von „Musarion“ wird von einem „Schleier“ gesprochen, der „nicht eben siebenfach, / Doch auch so gläsern nicht wie coische Gewänder“ (HA 4,322) ist. Genauso sind die anderen arkadischen Mädchen gekleidet, als sie an Wettspielen um die Schönheit teilnehmen. Diese waren bisher „schön gewesen ohne sich ihrer Reitzungen bewußt zu seyn; oder, noch richtiger zu reden, ihre Schönheit hatte noch keine Reitzungen“ (HRA III/10,60). Inzwischen haben sich die Göttinnen der Anmut unter die arkadischen Mädchen gemischt, und sie werden sich ihrer Reize bewußt. Damit haben die jungen Schäferinnen auch eine „reizende“ Kleidung an. „Ein leichtes weißes Gewand, / Mit künstlichen Blumen bemalet / Von ihrer eigenen Hand, / Schien um sie her zu weben / Und stahl dem Auge nicht den lieblichen Contour. / Es glich dem Schatten nur, / Wodurch die Apellen den Reiz der schönsten Theile heben / Und Feuer und täuschendes Licht dem schönern Ganzen geben. Wie in „Musarion“ bereits angedeutet, übernehmen die langen Haare hier teilweise die Funktion der Bekleidung. „Ein Theil der Locken floß / Die schönen Schultern herab, ein Theil war aufgewunden, / Der Busen halb verhüllt, die schönen Arme bloß, / Und, ... ein Theil der Kleidung aufgebunden“ (HRA III/10,71). 291

Zwar hat sich Wielands Grazienbild teilweise gewandelt, aber die Bekleidung der Grazien ist dieselbe, die er in „Theages“ andeutungsweise beschreibt616. Obwohl er die Gestalt nicht beschreiben kann und er sich diese Schäferinnen nur bekleidet vorstellt, finden sich an einigen Stellen dennoch Hinweise auf ihr Äußeres, ihre Reize. So betont Amor, „Ihr seyd reitzend, Cytheren / Nicht einzig anzugehören“ (HRA III/10,33f.). Dabei meint der Gott alle drei. Auch an anderer Stelle wird hervorgehoben, daß sie sich so ähnlich sehen, daß man sie „Beym ersten Anblick... für drey Nachbilder des nehmlichen Urbildes“ (HRA III/10,28) hätte halten können. Deshalb findet Amor „alle drey so liebenswürdig, daß (er sich) ... nicht anders zu helfen weiß, als - ... euch alle drey zu lieben“ (HRA III/10,39). Diesen Zitaten muß entnommen werden, daß alle drei mit den gleichen Reizen ausgestattet sind. Wenn also Pasithea nur „mit halber Stimme“ ruft (HRA III/10,29), so gilt das auch für Aglaja und Thalia. Allerdings werden diese Reize meistens schon im Plural gebraucht. So spricht wieder Amor von „euern sanften Blicken“ (HRA III/10,40), und es ist ihm gleich, ob die Grazien seine goldenen Pfeile zerbrechen oder nicht. „Kann ich doch mit euern schönen Blicken / Statt der Pfeile meinen Köcher schmücken!“ (HRA III/10,34). Er verspricht sich von diesen Blicken wahrscheinlich ähnliche Wirkungen wie Musarion. Auch das Lächeln der Grazien wird betont. Mehrmals fragt „Thalia lächelnd“ (HRA III/10,36), und als sich die drei hinter einer Hecke vor dem schlafenden Amor verstecken, verrät „ihr Lachen“ sie (HRA III/10,33). Einen Hinweis, daß es sich noch um naive Grazien handelt, findet sich, als Amor einen Kuß von ihnen verlangt. Da überzieht sich Thalias „Gesicht mit der süßesten Rosenfarbe“ (HRA III/10,37). Zwar hat dieses Erröten gewisse Reize, aber es deutet in diesem Fall Verlegenheit an.

Den naiven Grazien mangelt es nicht an Reizen. Selbst Amor hat Schwierigkeiten, als er den Mädchen einen Namen geben will, ihre Reize darin auszudrücken. „O, wie nenn’ ich Euch, von Euern Blicken, / Euerm Lächeln, Allem, was Ihr seid, / Diese unnennbare Süßigkeit / Mit e i n e m Worte auszudrücken?“ Nach einigen Überlegungen meint er: „Ich nenn’ Euch G r a z i e n , Ihr holden Drei! / So soll Euch Gnid und Paphos nennen! / Und selbst Cythere soll erkennen, / Daß sie durch Euch allein der Herzen Göttin sei!“ (HRA III/10,47). Amor ist

616 Vgl. dazu die Auffassung Winckelmanns in der Abhandlung „Von der Gratie in den Werken der Kunst“: „Die Grazie erstrecket sich auf die Kleidung, weil sie mit ihren Geschwistern von altersher bekleidet war, und die Grazie in der Kleidung bildet sich wie von selbst in unserem Begriff, wenn wir uns vorstellen, wie wir die Grazien bekleidet sehen möchten. Man würde sie nicht in Galakleidern, sondern wie eine Schönheit, die man liebete, im leichten Überwurf kürzlich aus dem Bett erhoben wünschen“; Johann Joachim Winckelmann: Ausgewählte Schriften. Eingeleitet von Hermann Uhde-Bernays, Leipzig o. J., S. 78. 292 anfangs ein „kleine(r) Gott“ (HRA III/10,29), ähnlich naiv und einfältig, wie die arkadischen Mädchen. Als er in die Hütte des Schäfers kommt, scheinen es zwei Amorn zu sein, von denen abwechselnd die Mädchen und die Mutter sprechen. Obwohl er „lauter Reiz“ ist (HRA III/10,31), sagt Pasithea, daß er „der beste, freundlichste Amor von der Welt“ ist, nicht „der böse, ungestüme, wilde, / Der die Mädchen frißt! / Mütterchen, es ist / Ganz ein andrer, lachend, sanft und milde“ (HRA III/10,50f.). Hinter diesen Äußerungen verbirgt sich die naive Unschuld, die den Grazien zu diesem Zeitpunkt noch eigen ist. Noch sieht Amor nur „lieblich“ aus, aber die Amme warnt vor diesem „kleine(n) Drachen“ (HRA III/10,29). „Ihr denkt, er ist ein Kind / Und süßer Unschuld voll, wie Kinder sind? / Verlass’t Euch drauf! Er lockt Euch nur ins Netze!“ (HRA III/10,52). Mit fast denselben Worten beschreibt sich Amor in „Musarion“ selbst (HRA III/9,30). So wie Amor hier der Gott der Liebe ist, der die Sinnlichkeit, die bloße Erotik verkörpert, sind die drei Mädchen noch naive Grazien, Schäferinnen. Lediglich an einer Stelle wird Amor zweifelnd, „Was für Mädchen sind das? dacht’ er bey sich selbst, indem er Blicke auf sie heftete, mit denen er in das Geheimniß ihres Wesens dringen zu wollen schien“ (HRA III/10,38).

5.3.5 Wesen und Einfluß der Grazien

Wieland hat in „Die Grazien“ die Absicht, den Übergang des Menschen aus dem Naturzustand zur Stufe der verfeinerten Bildung zu beschreiben. Er zeigt, wie diese Göttinnen die Sterblichen aus dem dumpfen Triebleben zu erlösen vermochten. Auf der ersten Stufe befanden sich die Menschen im rohen Naturzustand, von der Natur nur angefangene Geschöpfe, die „mit Fellen bedeckt, in dunkeln Eichenhainen“ umherirrten (HRA III/10,10). Auf der zweiten Stufe zeigt er Menschen, wo „Freyheit und Überfluß des Nothwendigen... ihnen diejenige Art des Wohlstandes mit(teilte), welche die Grundlage der Glückseligkeit, aber nicht die Glückseligkeit selbst ist (HRA III/10,57). Ehe die Grazien ihren Einfluß auf die Menschen ausüben konnten, lebten sie „friedsam unter einander; die Nothwendigkeit hatte ihnen sogar die edleren Begriffe von einem gemeinsamen Besten, und dieses von Tugend und Verdienst gegeben; aber die Reitze der verfeinerten Geselligkeit.... kannten sie noch nicht“. Der Dichter schildert, wie Arkadien beschaffen war, bevor die Grazien „die ersten Wirkungen ihrer neuen Macht“ zeigen konnten. „Ihre Jünglinge waren noch wild, ihre Mädchen blöde. Die Liebe war bei ihnen wenig mehr als die Sättigung eines thierischen Triebes; ihre Seele war noch nicht zur Idee einer feinen, ausgesuchten Glückseligkeit aus der Wahl ihrer 293

Gesellschaft (...) erhöhet. Bei ihren Festen herrschte lärmende, zügellose Fröhlichkeit...“ (HRA III/10,57f.). Zu dieser Zeit waren sich auch die Grazien ihres göttlichen Standes noch nicht bewußt. Das arkadische Schäfervolk kannte nicht „das feinere Gefühl des Schönen und Anständigen, die edlere Liebe, die allein dieses schönen Namens würdig ist, den züchtigen Scherz und das witzige Lachen617 und diese liebliche Trunkenheit, welche die Seele nicht ersäuft, nur sanft begeistert, sie (...) in süßes Vergessen aller Sorgen einwiegt, ... und jeder zärtlichen Regung und schuldlosen Freude öffnet. Auf dieser Stufe konnte nur der Einfluß der Grazien helfen, denn ohne sie und „Amorn in ihrer Gesellschaft ist es selbst den Musen nicht gegeben, die Verschönerung des Menschen zu vollenden“ (HRA III/10,58f). Mit Amors Beistand wurden deshalb aus den naiven Mädchen griechische Grazien, Göttinnen der verfeinerten Sittlichkeit. „Das Irdische schien wie eine leichte Hülle von ihnen abgefallen zu sein. Namenlosen Reiz athmend, schwebten sie über dem Boden; in ihre Augen glänzte unsterbliche Jugend; Ambrosia düftete aus den flatternden Locken, und ein Gewand, wie von Zephyrn aus Rosendürftgen gewebt, wallte reizend um sie her“ (HRA III/10,54)618. Bemerkenswert ist, daß sich Wieland diese göttlichen Grazien nicht unbekleidet vorstellt. Aber sie sind nicht jene in der Antike ursprünglich verehrten Gottheiten. „Das, was die Töchter des jungen Bacchus und der lächelnden Cythere... zu Grazien machte, entschlüpfte der Nachahmung“ (HRA III/10,42). Es ist der „unbeschreibliche Reitz, der ihr ganzes Wesen ausmacht“ (HRA III/10,72). Schon bevor die Grazien zu Göttinnen erhoben wurden, verwandelte sich Amor unter ihrem Einfluß. Er spürte, daß sie keine gewöhnlichen Schäferinnen waren, obwohl diese „sich selbst noch nicht genug (fühlten), um Amor ganz zu verstehen“. Der Gott der Liebe wußte nicht, wie ihm geschah. „Er kannte sich nicht mehr, seitdem er bei diesen holden Mädchen war. Alle Schelmerei ging weg; er fühlte sich unfähig, ihnen einen ... Streich zu spielen“; er heißt, seine „Empfindungen verfeinerten sich und nahmen eine Farbe von Sanftheit und Unschuld an“ (HRA III/10,48). Als diese Mädchen zu Göttinnen wurden, erkannt er... das Geheimniß... (ihres) Wesens“. Die holden Grazien sind seine Schwestern (HRA III/10,54).

Unter dem Einfluß der Grazien treten auch die seelischen Eigenschaften Amors, d. h. der Liebe hervor, die sich mit den sinnlichen verbinden. Amor ist den Grazien nicht nur aus

617 Man vergleiche die Verbindung von Verstand und Herz. 618 Vgl. dazu die fast gleichlautende Stelle, wo sich die Göttinnen unter die Arkadier gemischt hatten, um auf dieses Schäfervolk einzuwirken und sich ausschließlich wieder als Göttinnen von ihnen entfernten: „Amor zeigte sich auf einer goldnen Wolke, von Zephyrn getragen; Gerüsche von Ambrosia wallten wie leichte Nebel von ihr herab. Der irdische Schleier, den die Grazien um sich geworfen hatten, fiel von ihnen ab. Leicht schwebend erhoben sie sich in ihrer eignen Gestalt, wahre Göttinnen, vom Boden zu Amorn auf“ (HRA III/10, 82f.). 294

Gründen des Zeitgeschmacks zugesellt. Er personifiziert das Element der Liebe, das zur Grazienkultur gehört619. Damit ist wieder der Vergleich zu den beiden anderen Werken möglich. Im Gegensatz zu „Theages“ wird in „Die Grazien“ dem Gott der Liebe kein Widerstand entgegengebracht. Unter dem Einfluß der Göttinnen der Anmut verkörpert Amor nicht mehr nur die sinnliche Liebe. Er kommt dem nahe, was Musarion unter der „Kunst zu lieben“ versteht. Während sie auf die sinnliche Liebe verfeinernd wirkt, wird in „Die Grazien“ der Einfluß der Göttinnen der Anmut in vielen Bereichen des menschlichen und göttlichen Lebens dargestellt. Doch zunächst ist es die Liebe, die unter dem Einfluß der Grazien kultiviert wird. Wieland widmet diesem Bereich ein ganzes Buch des Werkes. Bevor die Grazien sich als Göttinnen wieder unter die „arkadischen Schönen“ mischten, wußten diese Mädchen nicht, daß „große schwarze Augen / Zu etwas mehr, als in die Welt hinaus / Einfältiglich dadurch zu gucken, taugen“620. Die Menschen wußten auch noch nicht, daß durch leichtes Verhüllen der Reize die Sinnlichkeit angeregt werde, d. h. „wie man einen Blumenstrauß / Mit Vortheil an den Busen stecket, / Damit, durch eine kleine List, / Die Hälfte, die er nicht bedecket, / Mehr als das Ganze ist“ (HRA III/10,61)621. Erst unter dem Einfluß der Grazien gehen den Mädchen die Augen auf. „Der Wunsch, zu gefallen, hob jeden Busen und strahlte aus jedem Auge“ (HRA III/10,61). Phyllis ist eine schöne, aber unempfindliche Schäferin. Sie scheint kein Vergnügen daran zu haben, jemandem zu gefallen. Der junge Daphnis liebt dieses Mädchen bereits mehrere Jahre. Aber erst mit Amors Hilfe kann er seine „Blödigkeit“ (HRA III/10,65) überwinden. Auf der anderen Seite muß die Grazie Pasithea dem Mädchen Phyllis beistehen, um den nun feurigen Liebhaber in die Schranken zu weisen, ohne ihn abzuschrecken. „Und itzt, da, von Amorn angetrieben, der schöne Hirte die Knie des bebenden Mädchens mit zärtlichem Ungestüm umfaßte, ... glaubte die Grazie, daß es Zeit sey, ihrer ehemaligen Gespielin beizustehen“ (HRA III/10,65). Mit Amors und Pasitheas Hilfe war noch niemals „eine Schäferin in Arkadien so reizend gewesen, und noch kein Schäfer hatte empfunden, was der Jüngling empfand: die feurigste Liebe, von der zärtlichsten Ehrerbietung gefesselt“ (HRA III/10,66f.)622. Was hier an den Liebenden gepriesen wird, gilt als Wirkung der Grazien und darf diesen selbst zugeschrieben werden.

619 Vgl. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 123. 620 Vgl. „Don Sylvio“: „Sie schien nicht zu wissen, daß man die Augen.... auch zu etwas anderm als zum Sehen gebrauchen könne“ (HRA IV/12, 117); Vgl. Alfred Anger, „Reiz“ und Reizbegriff, S. 38. 621 Auch in der Theorie hatte diese Idee Eingang gefunden; vgl. Anton Raphael Mengs: Praktischer Unterricht in der Malerei, Nürnberg 1783: „Doch muss man wissen, daß durch kunstreiche Verhüllung einiger Theile die Schönheit und Grazie vermehrt wird; denn es ist ausgemacht, dass eine nicht ganz entblösste Brust viel schöner erscheint; und das nemliche ist, auch bei andern Theilen, die verdeckt mehr Reiz haben, als man sie ganz blos sähe“, S. 97. 622 Vgl. dasselbe Situationsschema in „Kokox und Kikequetzel“ (HRA V/14, 17ff.). 295

Man wird an Musarion und Phanias erinnert, wenn es heißt, „unfähig ihre liebenswürdige Schwachheit zu mißbrauchen, schien er keine größere Wonne zu wünschen, .... Als einen Blick, der ihm Gefühl gestand, Und einen Kuß auf ihre schöne Hand“. Fast gleichlautend sind auch die folgenden Worte: „Ein zärtlicher Blick und ein sanfter Druck seiner Hand gaben ihm die Antwort des gerührten Mädchens“ (HRA III/10,67; vgl. HRA III/9,96). In Daphnis Augen ist unter dem Einfluß der Grazien das Mädchen am schönsten, das er liebt; „...wie sollte sie, die ich liebe, nicht die Schönste in meinen Augen sein“ (HRA III/10,82).

In den beiden letzten Graziendichtungen hat Wieland deutlich gemacht, daß man so „liebt, wenn die Grazien mit Amorn die Herrschaft über unsre Herzen theilen“ (HRA III/10,67). In bezug auf die Liebe hat sich Wielands Grazienbild nur gegenüber „Theages“, nicht aber gegenüber „Musarion“ gewandelt. Für ihn bleibt in bezug darauf die in der Verserzählung gewonnene Grazienvorstellung bestehen. Aber nicht nur in der Liebe wirken die Grazien verfeinernd, auch „den Handlungen, dem Charakter und dem Leben eines weisen und guten Mannes... müssen die Grazien dieses Ansehen von zwangloser Leichtigkeit, diesen Glanz der Vollendung geben, der sie mehr zu Geschenken der Natur als zu Werken der Kunst zu machen scheint“ (HRA III/10,102)623, d. h. die Grazien dehnen ihre Einfluß auf das ganze menschliche Leben aus und verschönern nicht nur den Körper, sondern auch den Geist, die Talente (vgl. HRA III/10,99f.)

Im arkadischen Bereich waren Kunst und Natur identisch, wie bei den naiven Grazien. Unter dem Einfluß der Grazien sind die Sterblichen bestrebt, der Natur das Handwerk nicht „ängstlich nachzuäffen“, sondern sie „selbst zu übertreffen“, aber das Geheimnis, das sie dazu befähigt, ist der Natur selbst abgelernt, die darauf angelegt ist, sich im Kunstwerk zu vollenden. Wieland spricht von der „willigen Natur“ (HRA III/10,80)624. Von Bedeutung ist auch der Tanz in „Die Grazien“. Es ist der „Ausdruck der Seelenharmonie und (der) inneren Grazie“, im Tanz kommen „die Harmonie des Körpers und der Seele“ zum Ausdruck625. Die

623 Vgl. Walter Hinderer, Beiträge Wielands zu Schillers ästhetischer Erziehung, S. 380, der auf die Verbindung zu Schiller hinweist. 624 Daß zwischen den Grazien und der Kunst für Wieland ein enger Zusammenhang besteht, geht aus der Tatsache hervor, daß er in den „Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“ (1770) die Bedeutung der Kunst mit fast denselben Begriffen wie in den „Grazien“ beschreibt (HRA V/14, 56f.). Noch präziser wird festgestellt, daß die Ergänzung und Verschönerung des Menschen die eigentliche Aufgabe der Kunst sei. „Was die Kunst, oder, mit anderen Worten, was die vereinigten Kräfte von Erfahrung, Witz, Unterricht, Beispiel... an dem Menschen ändern können, sind weder Ergänzungen der mangelhaften Seiten oder Verschönerungen, welche letzteren... sehr wesentlich von bloßen Zierrathen verschieden sind“ (HRA V/14, 65). 625 August Langen: Der Wortschatz des 18. Jh., in: Deutsche Wortgeschichte, hg. F. Maurer/F. Stroh, 2. Aufl., Berlin 1959, S. 183. 296

Arkadier begannen ihre Wettspiele um die Schönheit mit einem Tanz. Auch die Schäferinnen tanzten später gemeinsam mit den Grazien. Durch ihren geheimen Einfluß „ergoß sich ein allgemeiner Geist von Wohlwollen und sanfter Fröhlichkeit über diese jungen Schönen aus. Ohne Eifersucht, ohne Begierde, vor andern bemerkt zu werden, schien eine jede stolzer auf die Reitzungen ihrer Gespielin als auf ihre eigene zu seyn“ (HRA III/10,77f.). Schon in der Antike wurde der Tanz mit den Charitinnen in Verbindung gebracht626. Auch in Arkadien wirkten die Grazien „Wunder“. Die Bewegungen des Tanzes befreien den Menschen von Zwang, er fühlt sich frei - zumal wenn dieser Tanz unter dem Einfluß der Grazien steht. „Ihr Tanz schien die unvorbereitete Eingebung einer naiven Freude, welche ihren Füßen und Armen Seelen gab, oder vielmehr durch alle ihre Bewegungen eine gemeinschaftliche Seele hauchte. So tanzten, umschattet von flatternder Gase... / Die Nymphen um ihre Gebieterin her“ (HRA III/10,78). Hier vollendet sich die Grazie in äußerer und innerer Harmonie. Bevor sich die Grazien unsichtbar machen, sagt Aglaja, „Niemahls werden euch die Grazien verlassen! Oft werden wir an Sommerabenden uns in eure frohen Tänze mischen; zwar euern Augen unsichtbar; aber an einem sanften Beben der Brust, an einem höhern Gefühl der seligen Triebe der Liebe und des Vergnügens, einander glücklich zu sehen, werdet Ihr unsre Gegenwart erkennen!“ (HRA III/10,84). Bei den Menschen werden also auch in Zukunft der Tanz und die Liebe unter dem Einfluß der Grazien stehen627. Aber nicht nur auf die Menschen wirken die Göttinnen, sie begleiteten auch ihre Mutter in den Olympus und die Götter „änderten sich durch den geheimen Einfluß der Charitinnen ... zu ihrem Vortheile“ (HRA III/10,92)628. So wirken sie unter anderem auf die Musen, die unter ihrem Einfluß ein milderes, heiteres Wesen annehmen und diese konnten nicht anders als unendlich viel dabei gewinnen; die „Ernsthaftigkeit hatte es wol vonnöthen, durch die Anmuth der Letzteren gemildert zu werden“. Gemeinsam veredeln die Musen und Grazien die Menschen, und jene hielten es für ein „edles und ... sehr anständiges Geschäft, auch die Freuden der Sterblichen zu verschönern“ (HRA III/10,94).

Ein wichtiger Gedanke in Wielands Grazienphilosophie ist, daß die Göttinnen die Künste befähigen, den Mythos zu reinigen und zu humanisieren, ihn „für ein sittlich und ästhetisch

626 Vgl. HRA III/10, 79, wo Wieland darauf anspielt, „Bey solchen Scenen war’s, wo in den goldnen Zeiten / Der Kunst ... / Den Zeuxis und Parrhasius / Die schöne Menschheit sich von ihren schönsten Seiten / Zu sehen gab“ 627 Vgl. auch HRA III/10, 93, wo die strenge Minerva unter dem Einfluß der Göttinnen dem Tanz der Musen und Grazien zusah. 628 Im „Verklagten Amor“ hat Wieland geschildert, wie es zugeht, wenn Amor und die Grazien vom Olymp verbannt sind (HRA II/5, 147ff.) 297 geläutertes Empfinden annehmbar, ja ergötzend zu machen“629. „Die Götter selbst, deren Sitten uns Homer nicht immer so fein und poliert vorstellt ... änderten sich durch den geheimen Einfluß der Charitinnen gar sehr zu ihrem Vortheile“ (HRA III/10,92). Das Abergläubige und Abgeschmackte kann durch sie ausgeschieden oder sublimiert werden. Auch mußten sich die Grazien erst mit den Musen vereinigen, „um Geschöpfe, welche die Natur nur angefangen hatte, zu Menschen auszubilden; sie die Künste zu lehren, die das Leben erleichtern, verschönern, veredeln“ (HRA III/10,16). Hier wird wieder der Zusammenhang von Kunst und Natur in der Erziehung. In „Die Grazien“ sind es die Göttinnen der Anmut, die zusammen mit den Musen diese Kunst vollbringen. Die Natur liefert nur den Entwurf und die Fähigkeit. Die Kunst muß das Angefangene vollenden. Die Natur verleiht dem Menschen zwar die Möglichkeit zum Sein, „aber ihre Ausbildung und Vollendung hat sie ihm selbst anvertraut. Ihm kommt es zu, was die Natur mangelhaft gelassen, zu verbessern, und seine Anlagen zu Kunstfertigkeiten zu erheben (HRA X/30, 169f.). Wieland betraut damit die Grazien. Besonders deutlich wird der Einfluß auf Venus. Dabei wird der Unterschied zwischen Schönheit und Anmut deutlich. Obwohl Grazie und Schönheit voneinander unterschieden sind, wird ihre enge Verbindung betont. Venus macht die Göttinnen der Anmut zu ihren Begleiterinnen. Um „sich zu der Fähigkeit sinnlicher Wesen her ab zulassen, bediente sie sich der Hülfe der Grazien“. Sie wollte nicht nur schön sein, sondern den „sterblichen Augen sichtbar werden“ (HRA III/10,91)630, d. h. ohne diese Göttinnen hat ihre Schönheit „noch keine Reizungen“ (HRA III/10,60). Der Reiz, der von der Schönheit in Bewegung ausgeht, ist unvergleichlich stärker als die bloß angeborene Vollkommenheit. So wird Venus „mit dem berühmten Gürtel umgeben, in welchen ... jeder anziehende Reitz und zärtliches Verlangen und das süße Liebkosen... eingewebt war“ (HRA III/10,91). In vielen Werken findet man Hinweise, in denen Wieland diese Reize über die bloß statische Schönheit stellt631. Er empfindet die bloße Schönheit als etwas Kaltes, Totes, die erst durch die Bewegung, Beseelung wirken kann.

629 Monecke: Wieland und Horaz, a.a.O., S. 124. 630 Vgl. HRA V/14, 333: „Venus selbst mußte von den Grazien angekleidet und geschmückt werden; - ein Bild, worein die Griechen eine große Wahrheit hüllten; Auch die kunstlosesten Töchter der rohen Natur fühlen dieß und haben ihre Grazien“ (Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts). 631 Vgl. dazu J. P. Uz: Ein leblos Auge rührt mich nicht, Kein blödes Kind kann mich gewinnen, Das reitzt so lang’ der Mund nicht spricht, Und eine Venus ists, doch ohne Charitinnen“; Uz: Sämtliche Poetische Werke in 6 Bde., hg. A. Sauer 1890, Th. II, S. 41. Vgl. auch „Idris“ (HRA VI/17, 264), wo es von der Liebe heißt, „Was sie gefährlich macht, ist nicht die Symmetrie / Der himmlischen Gestalt, der Glanz der schönsten Farben; / Die bloße Schönheit zeugt Bewundrung, Liebe nie, / Und läßt, auch wenn sie uns verwundet, keine Narben; / Der Geist, die Seele war’s, die ihr die Herzen ergießet, / Was Ihr nicht nennen könnt und tief empfinden müsset“. 298

Im Zusammenhang mit Petrarcas Laura wird der Unterschied noch deutlicher. „War es etwa die körperliche Schönheit seiner geliebten Feindin..., oder waren es nicht ‘die Augen, aus denen Amor Süßigkeit und Anmuth... zu regnen schien; - ... dieses Lächeln, welches einen Wilden hätte in Liebe zerschmelzen können, ... dieses reizende Erblassen..., dieser Gang ... eines himmlischen Wesens..., - mit einem Wort, ... (es war diese... sonst nie gesehene Anmuth’“ (HRA III/10,87). Erst durch die Reize wird die Schönheit anziehend. Dabei sind die äußeren Reize ein Spiegelbild der Seele, harmonisch miteinander verbunden. Nachdem die Menschen für die verfeinerte Sittlichkeit empfänglich wurden und „kein „Götterfest ohne ihre Gegenwart mehr vollkommen“ (HRA III/10,95) war, verbreiteten die Grazien ihren Einfluß auf Wissenschaften und Künste aus. Selbst die Tugend stand „unter ihrer Herrschaft“632. Nur unter den Händen der Grazien verlieren Weisheit und Tugend der Sterblichen „das Übertriebene und Aufgedunsene, das Herbe, Steife und Eckige, welches ebenso viele Fehler sind, wodurch sie, nach dem moralischen Schönheitsmaß der Weisen, aufhört, Weisheit und Tugend zu sein. Dies war es, was Musarion ihren Schüler lehren wollte; und sagen Sie, ... Danae, wie war es möglich, sie nicht zu verstehen?“ (HRA III/10,102). Monecke meint, es wäre vorschnell, hier von einer „Ästhetisierung des Sittlichen zu reden“. Zwar wird die Tugend ästhetischen Kriterien unterworfen, aber diese legitimieren sich dadurch, daß sowohl die Kunst als auch die Tugend auf ein gemeinsames Richtmaß bezogen seien: auf die Natur. Künstlichkeit wird ebenso abgelehnt wie starrer Moralismus. „Echte Kunst und echte Tugend wirken wie von der Natur selbst empfangen. Es ist deren Harmonie, die im einen wie im andern zum Ausdruck kommt“633.

Für „Die Grazien“ bleibt festzuhalten, daß Wieland nur in stofflicher Hinsicht Neues beigebracht hat, ohne daß in der Entwicklung seiner Auffassung eine neue Phase erkennbar wäre. Der Abschluß ist mit „Musarion“ schon gegeben. „Die Grazien“ brachten nichts Neues für die theoretische Grundlegung des Begriffs. Abschließend wird noch einmal auf die Zweiteilung des Grazienbegriffs in „Theages“ hingewiesen. Aspasia erscheint als die würdevolle, hohe und Pasithea als die einfache, naive Grazie. Die Göttinnen der Anmut haben sich auch in dieser Hinsicht gewandelt. In „Musarion“ fällt diese Zweiteilung weg. In „Die Grazien“ werden aus naiven Mädchen griechische Grazien, die gegenüber Aspasia ein Wesen haben, das an ihren Wirkungen deutlich wird. Wenn man allerdings die naiven Schäferinnen mit Pasithea gleichsetzt und die zu Göttinnen erhöhten Grazien mit Aspasia, dann kehrt

632 Hier wird der Einfluß Shaftesburys mit seiner Anwendung des Grazienbegriffs auf das sittliche Leben spürbar; vgl. Kap. 4.3.3. 299

Wieland unter diesem speziellen Blickwinkel zu den Anschauungen der Jugenddichtung zurück.

5.3.6 Schauplätze und Naturschilderungen

Für den ersten Teil des Werkes scherze Wieland zwischen mythologischen und rousseauistischen Motiven hin und her. Er könne sich nicht schlüssig werden, wie die Welt beschaffen sein müsse, in die die Grazien hinein geboren würden. Er brauche einen unschuldsvollen, naiven Menschheitsstand, das Goldene Zeitalter der Dichter, denn die Menschen, an denen die Grazien ihre „Künste der Verfeinerung der Sitten und des Geschmacks beginnen sollten, müßten bildungsfähig, einfältig und unschuldig gedacht werden634. Er entschließt sich für die mythologischen Elemente. Es ist bezeichnend, daß Wieland Arkadien, das Land der Idylle und des Schäferwesens, wählt, obwohl der eigentliche Sitz des Grazienkultes in Orchomenos in Böotien war. Im zweiten Teil ist der Schauplatz das antike Griechenland - wie in „Musarion“. Zwar erhebt der Dichter nicht, wie Winckelmann, die Forderung, diese Zeit und ihre Kunst zum alleinigen Vorbild zu nehmen, aber das Zeitalter von Perikles bis Alexander ist für ihn eine vor allen anderen begünstigte Epoche. Sie ist die unmittelbare Fortsetzung jener arkadischen Einfalt, jener glücklichen Menschheitsepoche, die von den Dichtern als das Goldene Zeitalter verherrlicht wurde635. Für Wieland ist Griechenbetrachtung das 4. Jahrhundert vor Christi der Höhepunkt der griechischen Kultur. In „Die Grazien“ sagt er darüber, „O Danae, welch ein Jahrhundert war diese in den Jahrbüchern der Menschheit ewig unvergeßliche Zeit von Perikles zu Alexandern! diese Zeit, von der man mehr als von irgend einer andern sagen kann, daß sie unter der Herrschaft der Grazien gestanden habe“. Was er daran besonders betont, ist die Entstehung von „Humanität und Urbanität“636. Es sind nur bestimmte Züge, die Wieland im Zusammenhang mit seinen Graziendichtungen an diesem „Sokratischen Jahrhundert“ (HRA

633 Monecke: Wieland und Horaz, S. 143. 634 Monecke: Wieland und Horaz, S. 121f. Er weist darauf hin, diesem Ansatz stehe entgegen, daß mit der Vorstellung des Goldenen Zeitalters eine „in sich ruhende Vollkommenheit verbunden“ sei, so daß für die Grazien eigentlich keine Entfaltungsmöglichkeiten zu finden seien; andererseits glaubte Wieland selbst nicht so recht an einen solchen Idealzustand. 635 Daß Wieland, wie auch andere Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, auf das antike Muster des „locus amoenus“ zurückgegriffen haben, hängt damit zusammen, daß die Schäferdichtung in erster Linie eine Darstellung des Goldenen Zeitalters in seiner Einfalt und Natürlichkeit war und der „locus amoenus“ durch Ungestörtheit und Muße, sinnliches Glück und sittliche Vollkommenheit, wirken sollte; nach Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis, S. 300f. 636O. Bantel, 39; vgl. dazu Hermann Müller-Solger, Der Dichtertraum, 193, der differenziert herausstellt, was Wieland an dieser griechischen Epoche interessierte. 300

III/10,98) herausstellt637. „O goldne Zeit, da noch sich schwesterlich umfaßt / Die Grazien und Musen hielten“ (HRA III/10,100). Im Werk selbst gibt er die Begründung, warum er dieses Jahrhundert zum Schauplatz seiner Dichtungen macht. Dabei darf nicht übersehen werden, daß er stets bemüht blieb, eine Verbindung zum 18. Jahrhundert herzustellen und es - wie in „Musarion“ - auch als „Schleier“ benutzte, um seinen Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten. In „Die Grazien“ tritt dieser Aspekt allerdings in den Hintergrund.

Bei den Naturschilderungen ist anzumerken, daß es sich um dieselbe „Bewegungs“landschaft handelt, die bereits in „Theages“ erläutert wurde. In „Die Grazien“ ist die Natur erst im zweiten Teil wirksam, und zwar als die Grazien zu Göttinnen erhöht waren und ihr Einfluß auf das arkadische Volk, die Künste, Wissenschaften usw. sichtbar wird. Wie in den beiden anderen Dichtungen wendet sich Wieland auch in „Die Grazien“ gegen „künstliche Symmetrie, die in groteske Formen verschnittenen Bäume und die in einem Punkt zusammenlaufenden, nach der Schnur gezogenen Hecken unsrer... Lustgärten“. In der Natur wird jenes Ebenmaß der Schönheit, das sich auf Symmetrie gründet, abgelehnt. Wie er sich die „lieblichen Gegenden des schönen Arkadiens“ vorstellt, beschreibt er im vierten Buch. „In Gegenden, wo die Natur vom Zwang der Regeln entbunden, / Als spielte sie nur, die großen Wunder gethan, / Wozu die Kunst noch nie den Schlüssel gefunden, / Und edel ohne Schwulst, harmonisch ohne Plan, / Den Reichthum mit Einfalt, den Reiz mit Majestät verbunden. / In stille Matten, an denen ein rieselnder Bach / Durch junge, durchsichtige Büsche sich windet“ (HRA III/10,56). Es fällt auf, daß sich Wieland die Landschaft Arkadiens auch ohne Hilfe der Kunst schon anmutig vorstellt. Aber ähnlich wie in „Theages“ kann diese Natur nicht auf die Menschen wirken. Es fehlt noch an Einwohnern, die ihrer würdig sind. Diente die Natur der Aspasia im Fragment nur als geistige Anregung, so haben in den „Grazien“ die Menschen ohne den Einfluß der Göttinnen der Anmut zunächst kein Empfinden für die Natur, weil sie „jenen unvollendeten Menschen (glichen), die, von Prometheus aus geschmeidigem Thon gebildet, auf den beseelenden Funken warteten (HRA III/10,56f.). Unter dem Einfluß der Grazien ändert sich das Wesen des arkadischen Volkes und damit ihr Verhältnis zur Natur. Wie in der Verserzählung werden durch die Göttinnen der Anmut die Natur, und sogar die „Hütte“ von Lycänion und Damöt, verschönt. Von der Natur heißt es, überall, „wo der Fuß der Grazien den Boden“ berührt, wachsen Rosenbüsche, „Myrtenhecken und Lauben von Jasmin“ (HRA III/10,84), und die Hütte des

637 Was er mit dem „Sokratischen Jahrhundert(e)“ meinte, erläutert er in den „Grazien“: „Da Filosophen, Künstler, Dichter, / Archonten, Priesterinnen, Richter / Die Macht der Grazien empfanden, / ... Geschmack mit 301

Schäferehepaares „verwandelte sich plötzlich in eine große Laube, deren Wände und Dach aus Myrten... dicht zusammen geflochten waren. Rings um hingen große Kränze von frischen Rosen, in Liebesknoten gewunden, an den Wänden“ (HRA III/10,53). Beide Belege sind nicht wörtlich zu nehmen. Es handelt sich um Allegorien. Wenn die Menschen unter dem Einfluß der Grazien stehen, empfinden sie, wie Phanias durch Musarions Gegenwart, sowohl die Natur als auch ihre Hütte schöner, feiner. Dazu gehört, daß Damöt und Lycänion glauben, durch Amor ihre „Jugend“ wiederbekommen zu haben. Hier ist es die Liebe, die sie unter Amor und den Grazien empfinden und sich dadurch verjüngt fühlen.

Die Natur ist also im zweiten Teil des Werkes eine Wunsch- und Ideallandschaft, die sich harmonisch dem scheinbar plan- und zwanglosen Spiel der Grazien anpaßt. Der Blick erfaßt bei dieser Landschaft dasselbe wie beim Tanz der Hirtinnen, dem die Grazien Anmut verliehen. „Die Augen schwammen, ergetzt, befriedigt, trunken von Lust, / Auf schönen Formen dahin, vergaßen sich im Schauen, / Und irrten von Reitz zu Reitz“ (HRA III/10,78). Wielands anmutige Landschaftsschilderungen haben sich seit der Jugenddichtung im Gegensatz zu seinen Göttinnen der Anmut nicht gewandelt, nur das Verhältnis des Menschen zu dieser Natur ändert sich unter dem Einfluß der Grazien. Die Natur ist in den späteren Graziendichtungen auf den Menschen bezogen.

5.3.7 Wirkungen auf Zeitgenossen

Die zeitgenössischen Wirkungen sind in keiner Weise mit denen von „Musarion“ vergleichbar. Allen Rezensionen ist zu entnehmen, daß „Die Grazien“, gemessen an der Verserzählung, ungleich schwächer sind. Beim Vergleich mit Wielands Meisterwerken sind „Die Grazien“ eine unbedeutende Leistung, „matte Salonkunst und..(verdient) nur in historischer Hinsicht, als Experiment des künftigen Singspieldichters, einige Aufmerksamkeit“638. Da beide Graziendichtungen innerhalb von zwei Jahren erschienen, blieb es nicht aus, daß sie miteinander verglichen wurden - zum Nachteil der „Grazien“. „Herr Wieland schreibt viel; es ist unmöglich, dass alles gleich gut sey. Mir scheinen diese Grazien mit vieler Nachlässigkeit gedichtet zu seyn, sowol im Plan, wie in der Einkleidung“, heißt es

jeder Lust verbunden / Und Lust an allem Schönen fanden“ (HRA III/10, 98f.). 638 Sengle, S. 207. 302 in dem Mauvillon-Unzer Briefwechsel639. Eine differenzierte Beurteilung erscheint 1772 in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“. Dieses Gedicht „unterscheidet sich von seinen übrigen durch eine etwas veränderte Manier, wozu ohne Zweifel der Gegenstand die Veranlassung gegeben. Es ist ein kleiner gefälliger Roman, dessen Erdichtung einnehmend, leicht und natürlich ist, und wo man keine fruchtbare Einbildungskraft, wenig Intrige und Ueberraschendes erwarten darf. Die Schreibart sowohl in den prosaischen als poetischen Theilen ist simpel und voll Anmuth.... Am Ende des ersten und sechsten Buches schimmern inzwischen einige Schilderungen hervor, die nur schwach angelegt sind, aber schon zu viel verrathen, als daß die Grazien sie gern sehen würden“. Diese Kritik richtet sich im folgenden weniger gegen den Inhalt, als vielmehr gegen die Form. „Bey den häufig unter die Prose gemischten Versen hat der V. etwas neues einzufügen gesucht, worüber wir unsre Gedanken sagen wollen. Mit den Vorzügen seiner neuen Versart haben wir uns noch nicht völlig bekannt machen können, weil der Exempel überhaupt zu wenig sind, um schon eine vollständige Theorie daraus zu abstrahieren... Die Neuerung besteht darinn, daß... unter die Jamben und Spondäen willkührlich Anapästen mischt; (wozu noch wohl ein Dactylus unter Spondäen kommt). Wir glauben nur selten eine gute Wirkung dieser Versart bemerkt zu haben, wenigstens scheint sie uns für Gedichte dieser Art nicht schicklich“. Des weiteren stellt der Rezensent fest, daß „die Leichtigkeit, die der V. etwa gesucht haben mag, ... ihn zu vielen Nachläßigkeiten verleitet“ hat640. Im Januar 1771 erscheint in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ eine anonyme Persiflage641. Darin nimmt der Verfasser „Die Grazien“ zum Anlaß, auch die anderen Dichtungen dieser Art zu kritisieren. Der anonyme Kritiker fürchtet um das moralische Wohlbefinden der Leser. Die Kritik richtet sich gegen den berühmten und viel gelesenen Autor Wieland, den Modeschriftsteller seiner Zeit, der nicht zu bemerken scheint, was er mit seinen Dichtungen anrichtet, denn er fühlt sich mißverstanden. Der Rezensent wirft Wieland vor, er leiste mit den häufigen erotischen Anspielungen seiner ‘Gemälde’ einer lüsternen Phantasie Vorschub und gefährde dadurch die Unschuld vor allem seiner jugendlichen Leser. Der Kritiker teilt Bedenken vieler literarischer Zeitgenossen, wie vor allem die Hainbündler, die in Wieland den ‘Franzosen’, d. h. den ‘Sittenverderber’ sahen642. Hier wird, wie bei der Verserzählung, Wielands Moralauffassung in Frage gestellt.

639 Leopold August Unzer: Ueber den Werth einiger Deutscher Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel zwischen Mauvillon und Unzer, Frankfurt/Leipzig 1771, S. 96 (Erstes Stück, 4. Brief). 640 AdB 1772, Bd. 16, 1. Stück, S. 194ff. 641 Göttingische Gelehrte Anzeigen vom 28. 1. 1771, St. 12, S. 102f. 642 Manfred Poitzsch: Zeitgenössische Persiflagen auf C. M. Wieland und seine Schriften, Frankfurt/Main 1972, 96ff. 303

Der Rezensent meint, in „Absicht auf die Moral wird von diesem Werk desto eher verspottet seyn hier etwas zu sagen. Da 164 S. erinnert wird, daß man in dieser Betrachtung die Musarion misverstanden habe. Ob die Grazien gefährlich sind? darüber eigentlich zu urtheilen, glaubt sich der Recensent nicht vollkommen geschickt“643. In dieser Rezension bleibt das Formale unbeachtet. Es ist bekannt, daß sich Wieland nur selten über gegen ihn gerichtete Angriffe erregte644. In diesem Fall aber ist er so gereizt, daß er sich in einem Brief an Jacobi dazu äußert. Er gesteht, daß er noch nie so verwundert gewesen sei, „als seitdem ich diesen Abend die niederträchtige Recension der Grazien... gelesen habe“645. Der Brief ist aufschlußreich, denn Wieland zeigt sich außerordentlich erregt und stellt Maßnahmen über die Identität des anonymen Verfassers der Persiflage an.

Während auch andere zeitgenössische Rezensionen überwiegend negativ gehalten sind, bekommt Wieland von Jacobi und Gleim Zustimmung. Als letzterer am 18. 10. 1770 erfährt, daß „Die Grazien“, die er schon im Manuskript gelesen hat, für ihn auf der Post lägen, konnte er die Zeit nicht erwarten, „bis der Postmeister aus der Kirche kam und sie ihm herausgab“646. Gleim muß daraufhin einen positiven Brief an den Autor gerichtet haben, denn bereits Mitte November 1770 bedankt sich Wieland bei ihm: „Mein liebster Gleim, für alles schöne, freundliche und enthusiastische, was Sie von meinen Gracien sagen, danke ich Ihnen in ihrem Namen und von ganzem Herzen. Ihr Beifall, Ihr Lob, ist Balsam für mein Haupt und Ambrosia für mein Herz“647. Das Exemplar, das der Buchhändler Reich für Jacobi mitgeschickt hat, wird diesem am 19. 10. 1770 durch drei Mädchen überreicht, welche dabei sprachen: „Die Grazien von Wieland sind erschienen: / Was sagen Sie von ihnen? / ‘Von Wielands Grazien? Man ist / In Ichrem Tempel dann, wenn man sie liest. / Man siehet sie Gottheiten sein und schüttet / Ganz ohne Furcht und Schüchternheit / Sein Herz vor ihnen aus

643 Göttingische Gelehrte Anzeigen vom 28. 1. 1771, St. 12, S. 103. 644 Meistens ignorierte er die Angriffe oder wartete ab. Im Falle von Goethes „Götter, Helden und Wieland“ ging er so weit, daß er diese umfassende Persiflage gegen sich wohlwollend-überlegen im „Teutschen Merkur“ rezensierte. Damit brach er der beabsichtigten Wirkung die Spitze ab. 645 Der Brief ist ohne Datum, er muß aber unmittelbar nach Erscheinen der Grazienkritik geschrieben worden sein, wie aus dem Inhalt hervorgeht, also etwa im Februar 1771. Der Brief befindet sich in der Universitätsbibliothek Freiburg und ist abgedruckt bei Victor Michel: C. M. Wieland, S. 489ff. 646 Wielands Werke, hg. H. Pröhle, Berlin/Stuttgart 1887, Bd. 1, S. 66 647 Dieser Brief Wielands an Gleim aus Erfurt vom 15. 11. 1770 ist abgedruckt bei Heinrich Pröhle: Lessing - Wieland - Heinse, Berlin 1877, S. 86. In dem Brief heißt es weiter: „Wollte Gott, daß ich bei den Orgien, welche Sie den Gracien zu Ehren in Ihrem Sanssouci angestellt haben, hätte zugegen sein können“. Zu Ehren von „Musarion“ hatte Gleim in seinem „Tempel der Musen und der Freundschaft“ ein Portrait Wielands aufgehängt. Vgl. Wilhelm Koerte: Johann Wilhelm Ludwig Gleims Leben. Aus den Briefen und Schriften, Halberstadt 1811, S. 445. Gleim schrieb auch über die Grazien: „Ihr Aristarchen schweigt von diesem Werke still! / Denn wer darüber richten will / Und glaubt, er habe guten Fug, / Der habe großen Geistes Gaben, / Er hat noch nicht genug: / Er muß die Grazien zu Freunden haben“, Pröhle: Lessing - Wieland - Heinse, 74f. 304 und bittet / Um ihre Liebenswürdigkeit“648. Diese beiden zeitgenössischen Dichter sind als einzige bekannt, die in dieser Weise ihre Zustimmung bekundeten, wobei nicht klar ist, inwieweit sie sich zu Form und Inhalt äußerten. Wenn man die Art und Weise der Aufnahme der „Grazien“ mit der von „Musarion“ vergleicht, könnte man an einen Kult, eine Verehrung denken, nicht aber an eine Beurteilung des Werkes. Obwohl Wieland über die Aufnahme durch beide Dichter erfreut ist649, paßt die Art und Weise nicht zu den Wirkungen seiner sonstigen Werke. Möglicherweise ist die von Mauvillon-Unzer gerügte „Nachlässigkeit“ im Plan auch von der Absicht des Dichters bedingt, den ganzen über die Grazien gebotenen Stoff zu umfassen650. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit die zeitgenössischen Rezensenten das Wesentliche der „Grazien“ erfaßten. Daß sie als Kunstwerk hinter der Verserzählung zurückstehen, geht aus den Wirkungen hervor. Weder das 18. Jahrhundert schenkte diesem Werk Beachtung, noch wurden „Die Grazien“ in den folgenden Jahrhunderten in der Forschung gewürdigt. Während dieses Gedicht bis heute unbekannt blieb, erschienen von „Musarion“1964 und 1979 Einzeldrucke651.

5.3.8 Ästhetische Gestaltungsmittel

5.3.8.1 Dichtungstheoretische Aspekte

Da das Werk nur zwei Jahre nach „Musarion“ erscheint und Wieland wahrscheinlich gleichzeitig an beiden Dichtungen arbeitete, ist eine dichtungstheoretische Neuorientierung unwahrscheinlich. Allerdings ist ein im Zusammenhang mit dem „Neuen Amadis“ eine größere Hinwendung zum Idealischen unverkennbar, die Wieland in einem Brief an Gleim betont. Er schreibt im Oktober 1769, also ein Jahr vor Erscheinen des Werkes, ich werde „nun der Hogarthischen Dichtart, wie ich sie nennen möchte, entsagen, und mich, wenn ich jemals wieder dichte, mehr meiner Neigung zum schönen Idealischen und meinem Herzen überlassen“652. Und im Februar 1770 spricht er von einem „prosaisch poetischen Ambigu,

648 Wielands Werke, hg. H. Pröhle, Bd. 1, S. 66. 649 In der Vorrede „An Danae“ ist Wieland „stolz darauf..., beide meine Freunde zu nennen, und es so gern der spätesten Nachwelt sagte, daß wenigstens drey Dichter in unsern Tagen gelebt haben, welche sich so liebten, wie die schwesterlichen Musen sich lieben“ (HRA III/10, 6). 650 Leopold August Unzer: Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter, a.a.O., S. 96. Vgl. auch WA 3, 870. 651 1964 erschien im Reclam-Verlag ein Einzeldruck als Taschenbuch, das Alfred Anger mit Erläuterungen und einem Nachwort herausgab; 1979 wurde eine durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe veröffentlicht. 652 Brief vom 2. 10. 1769 in: AB II, 333. 305 welches eine kleine Geschichte der Gratien werden soll“653. Tatsächlich können „Die Grazien“ als erste größere Darstellung dieser neuen „idealischen“ Richtung gelten. In dem Werk selbst heißt es, was können „wir Dichter nicht, wenn wir uns in den Kopf gesetzt haben, einen Gegenstand zu verschönern. / Auch, hätte nicht der Maler und Poet / das Recht, ins Schönre zu malen, / Wo bliebe die Magie des schönen Idealen, / Das Uebermenschliche, wovon die Werke strahlen, / Vor denen still entzückt der ernste Kenner steht? / Der Reiz, wozu die rohe Majestät / Und Einfalt der Natur das Urbild nie gegeben, / Die Danaen, die Galatheen und Heben?“ (HRA III/10,11)654. Im Vergleich zu der Verserzählung wird in den „Grazien“ das Idealische stärker betont wird, denn „der poetische Himmel (habe) ganz andere Gesetze des Wohlanständigen als diejenigen, wonach menschliche Sitten und Handlungen beurteilt werden“ (HRA III/10,3f.). Andererseits wird betont, daß dieses Werk in reinster Gestalt das darstelle, was nach Wielands eigener Auffassung „dichterisch“ ist. So würde dieses Gedicht „notwendig mißverstanden und gelegentlich auch kritisch zerzaust von Lesern, die künstlerischen Rang einseitig nach dem „Schwergewicht weltanschaulicher Problemfracht bemessen und also Wielands Bekenntnis, der Grazien letzte Gunst sei Leichtigkeit...., nur als beiläufig hingeplaudertes Bonmot zu nehmen vermögen“655. Wie in „Musarion“ möchte Wieland auch in diesem Werk seine erzieherischen Bemühungen verwirklichen. Ob es ihm allerdings gelungen ist, muß bezweifelt werden, angesichts der negativen Rezensionen und der Tatsache, daß es wenig beachtet wurde. In den „Grazien“ heißt es, die Dichter müßten „den Grazien das Geheimniß ab(lernen), zu gleicher Zeit zu unterrichten und zu gefallen“. Dieser Gedanke bestimmte in der Verserzählung die Grazie der Form und des Stils und in den „Grazien“ heißt es, daß die Dichtung aus den Händen der Grazien „die Blumen“ empfinden, womit die Musen der Philosophie „den steinigen Pfad der fliehenden Wahrheit bestreuen, / Und ... den Sterblichen sichtbar zu sein, / Das leicht gewebte Gewand, / Das unsrer Augen schont und unter schlauer Zierde / Nur das versteckt, was uns verblenden würde“ (HRA III/10,96). Wie in der Verserzählung soll auch hier das Unterrichten durch einen „Schleier“ erfolgen. Wieland sieht also den Zusammenhang von „Gefallen“ und „Unterrichten“ noch unter denselben Aspekten wie in „Musarion“.

653 Brief an Jacobi vom 22. 2. 1770; AB II, 350. 654 Diese Verse stammen aus einem Brief an Riedel vom 19. 8. 1768; DB I, 208, wo er sie seinem Freund in etwas abweichender Form mitteilte. 655 WA 3, 870; Nachwort des Herausgebers. 306

5.3.8.2 Formale Aspekte

Der Form nach ist das Werk abwechselnd in Prosa und Versen geschrieben656, „nach französischem Muster, das namentlich durch Chapelle, Bachaumont und Chaulieu in Aufnahme gebracht wurde.. Angeregt wurde Wieland vielleicht durch den Briefwechsel zwischen Gleim und Jacobi657. Daneben finden sich Hinweise auf Metastasios Arien. Es sind also einerseits französische Muster658, die Wieland vorschwebten, andererseits findet er bei Gleim und Jacobi ein Vorbild. Darauf beschränken sich in der Regel die Hinweise659. Es wird bedauert, daß Wieland in seinem Gedicht, „das er sonderbarerweise in vielen Briefen für wohlgelungen zu halten scheint, eine wenig erfreuliche Mode mitgemacht habe“. Lediglich Beißner660 und Sommer weisen darauf hin, daß Wieland auch unmittelbar auf die antike Kunstform der „Menippeischen Satire“661 zurückgegriffen haben könnte662, da u. a. Lukian, Varro und Seneca diese Form verwandten. In diesem Rahmen sei dahingestellt, welche Anregung am stärksten auf die Form der „Grazien“ gewirkt hat. Wieland kannte die antiken Autoren genauso gut wie die genannten französischen und deutschen Dichter. Aus der Zeit der Beschäftigung mit den „Grazien“ bekennt er seine Freude an der Stilform der Vermischung von Versen und Prosa. Zwar charakterisiert er in dem bereits erwähnten Brief an Jacobi vom 15. 11. 1770 dessen „Elysäischen Felder“. Aber es kann nicht bezweifelt werden, daß er damit auch seine „Grazien“-Dichtung meint. Mit „unbeschreiblichem Vergnügen sehe ich Ihren ‘Elysäischen Feldern“ entgegen... Ich liebe die Vermischung von

656 Anger nennt diese Vers-Prosa-Erzählungen eine „Sonderform der Rokokoerzählung, die sich in Deutschland erst relativ spät durchsetzte. Sie gewann ab 1759 mit Gerstenbergs „Tändeleyen“ in Deutschland an Bedeutung; vgl. Anger: Rokokodichtung und Anakreontik, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft in 25 Bde., hg. Klaus von See, Bd. 11: Europäische Aufklärung I, Wiesbaden 1974, S. 109. Auch in der Anakreontik war die Mischung aus Vers und Prosa ein bevorzugtes Stilmittel; vgl. Erich Petzelt: Der Einfluß der Anakreontik und Horazens auf Johann Peter Uz, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte NF VI (1893), S. 347: „Uz’ ‘Freundschaftsbriefe’ sind teils in einem Wechsel von Prosa und Versen geschrieben, wozu die französischen Anakreontiker, zuerst Chapelle und dann ... Chaulieu, die ursprünglichen Muster gegeben hatten. In Deutschland, wo diese Form in Wielands „Grazien“ die größte ihr mögliche Anmut erreichen sollte, hatten sie ... J. E. Schlegel, Giseke, Ebert, ferner Gleim u. a. m. ergriffen und Uz stellt sich mit seinen Briefen dem besten, was diesen gelang, an die Seite“. Vgl. Georg Ransohoff: Über J. G. Jacobis Jugendwerke, Diss. Berlin 1892, S. 14f. 657 die er in den „Grazien“ lobend als Graziendichter erwähnt (HRA III/10, 6); vgl. dazu den „Briefwechsel zwischen den Herren J. W. Gleim und J. G. Jacobi...“,, 1768. 658 Gruber 51, Drittes Buch, S. 455. 659 Vgl. Otto Güldenberg: Wielands komische Erzählungen, a.a.O., S. 7. Vgl. Sengle, S. 206. Vgl. H. Heckel: Zu Begriff und Wesen des literarischen Rokoko in Deutschland. Festschrift für Th. Siebs, Breslau 1933, S. 235. Vgl. auch Fritz Neubert: Die französischen Versprosa-Reisebrieferzählungen und der kleine Reiseroman des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur, Jena/Leipzig 1923, Supp. XI; zu Wieland S. 176ff. 660 WA 3, 870f. (Nachwort des Herausgebers). 661 Vgl. RE XXIX. Halbband „Menippos“ (10), Sp. 888-893. 307

Prosa und Versen. Sie scheint mir der Natur näher zu kommen, in erzählenden Gedichten, welche nicht in die heroische Klasse gehören, als lauter Verse, - man kann mehr Mannigfaltigkeit, mehr Musik hineinbringen, als bey einerley Versart; und man hat den Vortheil, nur das in Versen zu sagen, was wirklich in Versen gesagt zu werden verdient“663. Obwohl Wieland in dem Brief dieser Form Anerkennung entgegenbringt, bleiben „Die Grazien“ die einzige Dichtung, die in Versen und Prosa geschrieben wurde. Beißner gibt eine mögliche Erklärung, warum Wieland, „der feinsinnige Meister der Form und der Poesie des Stils“, für die „Grazien“ diese Form wählt. Diese Art Gedichte sind zu leicht, „um ohne heitere Aufhöhungen, durch sechs Bücher hindurch gleichförmig, im schweren ‘sermo pedester’ der Romanprosa zu marschieren, und zu harmlos-unpathetisch... für den Vers, für eine einzige durchgehende Form, wie sie sich für das gewaltige Heldengedicht schickt“664. Dem muß teilweise widersprochen werden, denn auch „Musarion“ ist in Versen geschrieben, obwohl der Stoff als „leicht“ gelten kann. Die anmutige Gestalt der „Grazien“ ist kaum aus dem Inhalt zu erklären, sondern das „Abwechseln im Grundcharakter der Verse (ist) nur von der Leichtigkeit des Stils her im Ganzen zu verstehen“665. Wie bereits betont, kann bei der in diesem Werk gewählten Form von einer großen Beweglichkeit gesprochen werden, durch die sich die Vermischung von Prosa und Vers auszeichnet. Wieland und Jacobi666 lernten, „ohne Anstoß, ohne Pause mitten im Satz von der Prosa in den Vers und wieder zurück in die Prosa zu gleiten“667. Wie bei allen Bewegungen handelt es sich auch hier zwar um ein „schönes, leichtschwebendes graziöses Spiel, aber der Dichter der Grazien weiß, daß er sich nicht „in alberne Tändelei“ verlieren darf668.

Wenn man von den Prosapartien absieht, so kann, wie in den meisten anderen Gedichten dieser Art, von einer bestimmten Versgestalt nicht gesprochen werden. Im Hintergrund steht „die Form der Mischung verschiedener langer jambischer Verse“, die aufgelockert wird durch viele zweihebige Senkungen669. An einer einzigen Stelle hat Wieland auch reimlose Verse

662 Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, S. 29 und 122f. 663 AB III, 14f. Dieser Brief ist das einzige Zeugnis, in dem er einen Ansatz zur theoretischen Unterscheidung in der verschiedenartigen Verwendbarkeit von Prosa und Versform macht; vgl. Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, a.a.O., S. 34. Sommer sucht nach einer Erklärung, warum Wieland einerseits dieser Form Anerkennung entgegenbrachte, andererseits sie nicht öfter verwandte. „Es liegt.... daran, daß der Dichter gerade mit seinem in dieser ‘Vermischung von Prosa und Versen’ stilistischen Gedicht ‘Die Grazien’ beschäftigt (war) und die lobende Anerkennung für die von Jacobi gewählte Form aus diesem Umstand zu erklären ist“, S. 34. 664 WA 3, 871 (Nachwort des Herausgebers). 665 Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, S. 122. 666 gemeint ist damit vornehmlich das Werk „Charmides und Theone“ von Jacobi. 667 Anger: Rokokodichtung und Anakreontik, S. 111. 668 WA 3, 871 (Nachwort des Herausgebers). 669Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, S. 123. 308 verwandt. Als sich die Grazien ihres göttlichen Standes noch unbewußt waren, fanden diese Mädchen Amor unter Blumen schlafen. „Diese Verse, zu denen nun die Dichtung tänzerisch aufsteigt, sind die einzigen reimlosen ...: es sind - in reizender und ... gewollter Mischung - Catullische und Sapphische Elfsilbler..., und alles, was diese beiden dichterischen Namen in sich schließen, ist in der Musik dieser Verse gegenwärtig“670. Andere weisen auf die Musikalität und Mannigfaltigkeit der Sprache hin und beziehen sich auf die Übergänge von Prosa und Vers. Der Gegenstand ist so leicht, daß die Prosa sich wie von selbst in die Musikalität der Versrede zu erheben scheint. Die Übergänge sind zum Teil bewußt zwanglos, unauffällig gestaltet.. Zwei Beispiele mögen dieses belegen. In der Vorrede spricht Wieland davon, daß die Grazien vor Danae keine Geheimnisse haben können, „... oder welche Sterbliche dürfte sich Hoffnung machen zu selbigen zugelassen zu werden, wenn diejenige nicht dazu berechtigt wäre, / Die, mit dem Gürtel der Venus geschmückt, / Die Seelen fesselt, die Augen entzückt. / Nein, Danae! wenn Ihrem Verlangen nicht genug geschieht, ... „ (HRA III/10,4). Und als Pasithea den Genius, dieses seltsame „Gemisch von Leichtigkeit und Anmuth“ findet, heißt es, „Mit süßer Bestürzung fand es Pasithea, da sie einst in einer Sommerlaube eingeschlafen war, beim Erwachsen, / So zärtlich und bekannt, / Als wären sie verwandt, / Auf ihrem Busen spielen / In seinen Rosen wühlen... „ (HRA III/10,110).

Auch in „Die Grazien“ kommt es Wieland weniger auf den Stoff als auf die Form an. Solche und ähnliche Stellen unterstreichen weniger die Punkte im Ablauf des Geschehen, sondern sie sind Ausdruck der Begeisterung. Zwar erreichen „Die Grazien“ weder an „Inhalt noch Form die ‘Musarion’“671, aber „wer wirklich zu lesen gelernt hat, wird in Wielands ‘Grazien’... den poetischen Sinn der Übergänge spüren ... die mitschwingenden Obertöne vernehmen“672 bzw. die „musikalische(n) Wirkung“ spüren673.

5.3.8.3 Wielands Stilideal

Was im Zusammenhang mit „Musarion“ über „Grazie als sprachliches Ausdrucksmittel“ ausgeführt wurde, gilt mit Einschränkungen auch für dieses Werk. Deshalb erscheint es

670WA 3, 872 (Nachwort des Herausgebers). 671 Hans Werner Seiffert: Der vorweimarerische Wieland, 185. 672 WA 3, 871 f. (Nachwort des Herausgebers). 673 Sommer: Wielands Epen und Verserzählungen, S. 125; Vgl. auch den Brief Wielands vom 21. 5. 1771, wo dieser von Hiller oder einem anderen Tonkünstler erfahren möchte, ob seine Arien in den „Grazien“ gelungen 309 gerechtfertigt, nur einige stilistische Besonderheiten der „Grazien“ herauszustellen674. Auffällig sind darin sowohl die Funktion der Danae als auch die an sie gerichtete Vorrede. Statt der sonst üblichen Leseranreden liegt der Reiz darin, daß der Leser den Eindruck bekommt, an einem „Gespräch“ zwischen Danae und dem Dichter teilzunehmen. Sie ist das in die Dichtung hineinfingierte Publikum, die dem Leser eindeutig als Fiktion in der Fiktion erkennbar bleibt675. Bereits in der Vorrede erweckt der Erzähler den Eindruck, nur dieser Dame die Geheimnisse seiner „geliebten Göttinnen zu verrathen“. Durch den Hinweis, er würde diese Geheimnisse nicht „vor profanen Augen“ (HRA III/10,4) aufdecken, der Leser aber an dieser „Unterhaltung“ teilnimmt, fühlt er sich in den intimen Gesprächskreis mit aufgenommen. Er wird auch in dem eigentliche Werk des öfteren daran erinnert, daß es sich immer noch um ein „Gespräch“ handelt. Fast am Schluß sagt der Erzähler zu Danae, „was könnte ich Ihnen.... noch Unterhaltendes... sagen?“ (HRA III/10,113). Die Funktion dieser Figur geht weit über die bloße Passivität der Leserinnen und Leser in anderen Dichtungen hinaus. Es sind gescheite Einwände, die Danae dem Dichter wie „Bälle“ zuwirft. Hier ist wieder das Moment der „Bewegung“ wirksam. Abwechslungsreich, d. h. beweglich sind die „Grazien“ also sowohl in der Form durch die Vermischung von Vers und Prosa, als auch im dialogischen Stil. Obwohl der Dichter darin allein das Wort hat, wirkt es auf anmutige Art beweglich, vor allem dadurch, daß er das, was Danae anscheinend zu sagen, zu fragen, zu erinnern und zu zweifeln hat, in lebendigem Ton gewissermaßen zitierend aufgreift“676. Dieses soll im folgenden an einigen Beispielen erläutert werden. Während Wieland weitschweifig erzählt, „das heißt ein wenig ausgeschweift, schöne Freundin“ (HRA III/10,12), werden entscheidende Partien der Geschichte nur angedeutet. Dinge, auf die der Leser vorbereitet war, werden kurz abgetan oder übergangen, meistens deshalb, um die Grenzen des Schicklichen nicht zu überschreiten. Als Bacchus und Cythere sich zum ersten Mal „den süßen Empfindungen“ überlassen und daraus, wie man später erfährt, die Grazien entstanden sind, zieht der Dichter „ein schönes, dicht verwebtes Rosengebüsch um das Gemälde“ (HRA III/10,25f.). Man könnte es mit dem bereits erwähnten Schleier vergleichen. Interessant ist dabei die Funktion von Danae. Der Autor erweckt den Eindruck, als würde er nur durch einen Wink von ihr davon abgehalten, diese Geschichte weiter zu erzählen. „Seyn seien und er wünsche, daß es ihm möglich wäre, die Kunst der Arie seinem „Liebling Metastasio abzulernen“; AB III, 21ff. 674 Dabei wird auf den Mangel an Forschungsliteratur verwiesen. Im Gegensatz zu „Musarion“ liegen für „Die Grazien“ keine Untersuchungen über den Stil vor. 675 Zwar wird in der Literaturgeschichte des öfteren die Gräfin von Wartensleben aus Mainz damit in Zusammenhang gebracht, aber Wieland schreibt am 2.2. 1770 an Jacobi, daß das Werke „an eine Dame“ gerichtet sei, „zu der ich, ich gestehe Ihnen, kein Original weiß“; WA 3, 873. 676 WA 3, 872f. (Nachwort des Herausgebers). 310

Sie ruhig, Danae! - Ich unterdrücke wirklich ein halbes Dutzend Verse, wiewol es vielleicht die schönsten sind, die mir jemals eingegeben wurden“. Hier unterbricht sich der Erzähler und man glaubt, die „Gedanken“ von ihm und Danae zu erfahren. „ ‘ und doch - wenn ich dächte, Sie glaubten, ich unterdrücke sie nur, weil es mir so bequemer sei“ -. Aber diese Möglichkeit verwirft er und wendet sich wieder an Danae. „Nein, nein! - ich glaube nichts zu Ihrem Nachteil; man kennt die Wärme Ihres Pinsels! Lassen sie immer“. Es wird der Eindruck erweckt, Danae sei ihm ins Wort gefallen und habe vorgeschlagen, das bereits erwähnte Rosengebüsch vor die weiteren Einzelheiten zu schieben. „Ihr Wink soll vollzogen werden Danae: hier steht es!“ (HRA III/10, 25f.). Damit endet das erste Buch.

Beliebt sind auch „Fragen“, die der Erzähler an Danae richtet, auf die er keine Antwort bekommt und auch nicht erwartet. „Was sagen Sie, Danae?“ fragt der Autor, als er von den glücklichen Menschen des Goldenen Zeitalters erzählt (HRA III/10,15). „Wollen Sie wissen, Danae, was aus diesem kleinen Impromptu der artigsten unter den Grazien geworden ist?“ (HRA III/10,112). Durch diese rhetorische Frage bekommt der Erzähler die Möglichkeit, die Geschichte genauer zu erläutern, denn Danae hat ihn anscheinend darum gebeten. Auch umgekehrt richtet Danae Fragen an den Erzähler. So möchte sie wissen, ob die Mädchen dem Amor glaubten, als er versprach, artig zu sein. „Und konnten... (sie) einfältig genug seyn, einen solchen Schwur verbindlich zu glauben?“ (HRA III/10,41). Später erinnert Danae den Erzähler, daß er ihr noch die Grazien genauer beschreiben wollte. „Aber wissen Sie auch, daß Sie mir noch ein Gemälde schuldig sind?“. Als der Erzähler die naiven Grazien zu „malen“ beginnt, fragt sie weiter: „Aber ihre Gestalt?“. Hier bittet der Dichter um Vergebung, „sie fordern mehr von mir, als ich leisten kann“ und er verweist auf die Grazienmalerin Angelika, die der Danae zeigen soll, wie die Grazien aussahen. Aber Danae ist anscheinend immer noch nicht zufrieden. „Sie waren also nicht - wie man sie gewöhnlich vorzustellen pflegt?“. Und der Erzähler antwortet, „Unbekleidet, meinen Sie? - Nein! Sie waren bekleidet“ (HRA III/10, 42). Dieser bewegliche Gesprächscharakter, der sich durch das ganze Werk zieht, wird schon in der Vorrede deutlich. Der Erzähler wird von Danae gebeten, ihr die Geschichte der Grazien zu erzählen. Das Besondere daran ist, daß diese Vorrede bereits ein Teil der Fiktion selbst ist, ähnlich wie die „Einleitung“ zu „Clelia und Sinibald“ (HRA VII/21,163f). Der Erzähler „bewegt“ sich zwischen Versprechen und Versagen des Wunsches hin und her. Alles wird nur angedeutet, um sogleich wieder halbwegs entzogen zu werden. „Ich weiß nicht, woher Sie es nehmen, schöne Danae, daß ich mehr von den Grazien wissen müsse, als ein andrer“ (HRA III/10,3). beginnt es. Zwar scheint einiges für die Annahme zu sprechen, aber durch den 311

Konjunktiv bekommt diese Tatsache wieder etwas Flüchtiges. Auch in der weiteren Vorrede bewegt sich der Dichter zwischen Zutrauen und Mißtrauen gegenüber der Erfüllung des an ihn gerichteten Begehrens; „... genug, Sie wollen es so“ fährt der Erzähler zwar anscheinend bereitwillig fort, aber im weiteren Verlauf verschiebt er die Frage auf eine ganz andere Ebene: „...und Sie bedienen sich eines meiner eigenen Grundsätze, um alle die Bedenklichkeiten zu vernichten, die ich mir darüber machen könnte, Ihnen ... die Geheimnisse meiner geliebten Göttinnen zu verrathen“ (HRA III/10,3). Diese „Bedenklichkeiten“ beziehen sich nicht mehr auf das Vermögen oder Unvermögen des Autors; unmerklich bezieht er sich auf das Geheimnis der Göttinnen, um alsbald aber wieder auf sein betontes Unvermögen zurückzukommen. „Nein, Danae! wenn Ihrem Verlangen nicht genug geschieht, so muß es blos daher kommen, weil ich mit diesen reizenden Gespielen Amor’s und der Musen nicht so vertraut bin, als es Ihnen beliebt vorauszusetzen“ (HRA III/10,4). Damit befindet sich der Autor nach langem Hin und Her wieder in der unentschiedenen Position des Beginns. Dieses „Spiel“ setzt er noch mehrmals fort, ohne sich bis zum Schluß festzulegen. Die Frage, ob der Autor in der Lage ist, die Geschichte der Grazien zu schreiben, bleibt letztlich auch dann noch unbeantwortet, als er sagt: „Stille, schöne Danae, Sie sollen alles wissen, was mir eingegeben werden wird“ (HRA III/10,9). Auch ein anderer Aspekt wird in dieser Vorrede deutlich. Der Erzähler glaubt, „die Geschichte der Grazien zu schreiben, setzt Offenbarungen voraus, die nur von ihnen selbst herrühren können“ (HRA III/10,8). Andererseits handelt es sich um ein „Gedicht“. Damit stehen Poesie und Wahrheit nebeneinander, zwischen denen sich der Dichter hin- und herbewegt. Insofern es „Geschichte“ sein soll, will der Autor darüber berichten; mehrfach wird erwähnt, daß es sich um „Geheimnisse“ handelt, die bisher noch nicht aufgedeckt worden sind. Andererseits sollen die „Mysterien“ (HRA III/10,4,104), in denen diese Geheimnisse aufbewahrt sind, nicht völlig zerstört werden. Damit breitet der Dichter über die Geschichte der Grazien, die er dann doch erzählt, einen Schleier. Hinzu kommt, daß er nur „mit flüchtigen Zügen“ den Einfluß dieser Göttinnen entworfen hat, denn die Grazien „hassen ein mühsames, nach der Lampe riechendes Werk“ (HRA III/10,102). Beide Elemente steigern die Aufmerksamkeit und reizen den Leser mehr, als wenn alles erzählt worden wäre, was letztlich aber gar nicht möglich gewesen wäre.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß „diese stofflich-inhaltlich ganz und gar anspruchslose Menippeische Satire... eine eigene Dignität durch die... feine ironische Brechnung in der steten dialogischen Hinwendung zu der schönen Danae (gewinnt). Das ist nicht bloß ... ein hinzutretender Einfall und unnützer Schnörkel, sie macht die harmlose Erzählung von den 312

Grazien graziös“677. Dennoch bleibt die Frage, ob die „Grazien“ vom Gegenstand her zu „leicht“ waren, als daß Wieland ihnen durch „Grazie“ und Formkunst die beabsichtigte Wirkung hätte geben können, und daß die Dichtung auch deswegen ein Rückschritt war, weil sie im „Unterschied zu der menschlichen Erzählung von ‘Musarion’ auf die mythologisch- allegorische Schäferdichtung zurückgriff. Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben. Festzuhalten bleibt, daß sowohl die Zeitgenossen als auch die folgenden Jahrhunderte diesem Werk so gut wie keine Beachtung schenkten - die von Wieland sicher beabsichtigte Wirkung blieb aus.

677 WA 3, 872 (Nachwort des Herausgebers). 313

6 Exkurs: Wieland und die griechischen Hetären

Im 18. Jahrhundert tritt neben das Ideal der tugendhaften Ehefrau und Mutter die gebildete, geistig freie Frau. Man beginnt, sich für die Hetäre zu interessieren, die dieses Ideal im Altertum verkörperte. Auch bei Wieland nimmt die durch Reiz, Anmut und Grazie gebildete Frau in der Gesellschaft eine wesentliche Stellung ein. Für ihn steht die geistige Selbständigkeit der Frau außer Frage. Wohl deshalb macht er Hetären zu Heldinnen seiner Romane678, ja er ist geradezu zum Dichter der großen Hetäre geworden679. Mit Aspasia, Danae, Lais, aber auch mit Musarion und den anderen Hetären gestaltet Wieland gebildete, selbstbewußte Frauen, die ihre menschlichen Fähigkeiten zu entfalten vermochten. Sie sind gleichberechtigte, harmonische Persönlichkeiten. Diese Hetären verkörpern später sein Grazienideal. Zur Bildung von Wielands eigener Lebensauffassung haben reifere Frauen, denen er nahestand, Wesentliches beigetragen. Das mag die Bedeutung erklären, die er ihnen als Dichter beimaß.

In diesem Exkurs werden einige Aspekte von Wielands Vorstellung dieser Hetären aufgezeigt, die in diesem Rahmen bedeutsam erscheinen. Trotz einer Beschränkung auf die drei großen Hetären Aspasia, Danae und Lais ist es möglich, die Wesenszüge auch auf andere, z. B. Musarion, zu übertragen. Nach Wielands Anschauungen konnten nur Frauen Liebe, Anmut und Toleranz verkörpern. Hierin seien sie dem Mann überlegen. „Ohne die Frauen, so meint Wieland, würden nur Extreme herrschen und die scheinbar als absolut erkannte (philosophische) Wahrheit mit Gewalt durchgesetzt werden“680, wie zum Beispiel Kleanth und Theophron in „Musarion“. Das Ideal dieser Frauen findet Wieland im antiken Griechenland681, d. h. Grazie, weibliche Anmut sind bei den Griechen am natürlichsten

678 Da nicht alle Romane, in denen Hetären eine bedeutende Rolle spielen, genannt werden können, sei hier auf einige Werke hingewiesen, z. B. die beiden unmittelbar nach dem „Aristipp“ erschienenen Erzählungen „Menander und Glycerion“ (H 10, 47ff.) und „Krates und Hipparchia“ (H 10, 88ff.); vgl. auch die Hetären Dioklea und Mamilia im „Peregrinus Proteus“ (H 21, 95f.); vgl. auch die „Thessalische Zauberin“ Chrysanthis im „Agathodämon“ (H 23, 56f.) 679 Sengle, S. 192. 680 Einleitung zu Wielands Werken in 4 Bde., Berlin 1964, Bd. 1, S. XXII. 681Hier sei die auch von Wieland im „Aristipp“ zitierte Abhandlung von Friedrich Jacobs „Beyträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, vornehmlich der Hetäre zu Athen“ (AM, hg. von C. M. Wieland 1793/99; II, 3, S. 127ff. und III, 1 und 2) erwähnt. Diese ist im Sinne Wielands und scheint auf seine Anregung geschrieben zu sein. Jacobs vertrat Wielands Ansicht, daß in Hellas Bildung nur bei den Hetären zu finden war, häusliche Tugend aber bei den Matronen. Vgl. dazu Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 280, und Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 85. Vgl. zu der Abhandlung die lobenden Worte Wielands gegenüber Böttiger vom 11. 9. 1798 (Böttiger 1839 II, 186). 314 entfaltet. In der Antike trat mit dem Übergang zum 4. Jahrhundert die Frau mehr in den Vordergrund. Es war aber nicht die Griechin im allgemeinen, die das Bild der Kultur mitbestimmte, im gesellschaftlichen Leben nahmen Hetären682 den ersten Platz ein, die sich die Bildung der Männer aneigneten und auch in einem sonst für die griechische Frau683 nicht üblichen freien Umgang mit Männern verkehrten. Dieses ist die Begründung Wielands, warum er bei der Darstellung gebildeter Frauen Hetären wählt. Die geistvolle und schöne Hetäre ist die Trägerin der Frauenemanzipation. Dieser Stand hatte aber nur in der hellenistisch-römischen Periode eine Bedeutung, wie Wieland sie ihr zuschrieb684. Deshalb hat er in seinen Romanen diese Zeit vor Augen, in der die Hetären eine bevorzugte Stellung einnahmen.

Bei Wieland findet man hauptsächlich zwei Typen weiblicher Figuren: die große Hetäre - z. B. Aspasia, Danae oder Lais - und das sentimentale Mädchen nach dem Typ der Psyche im „Agathon“. Erstere besitzen die Kunst, jeden Augenblick die größten Annehmlichkeiten zu geben, durch mancherlei Fertigkeiten um die Dinge des menschlichen Daseins den Schleier der Grazien zu weben. Das nahmen sie als ihr Recht in Anspruch. Damit wäre aber die Charakterisierung seiner Hetärenfigur nicht vollständig, denn sie hatten alle etwas gemeinsam mit den Psychegestalten: sie besaßen eine „schöne Seele“. In Wielands geistiger Welt konnten auch Hetären wie Aspasia oder Lais an der Tugend teilhaben. Ausdrücklich bemerkt Goethe, es hätte Wieland gefallen, „ohne Rücksicht auf weibliche Keuschheit, das Liebenswürdige einer Musarion, Lais, Phryne hervorzuheben, und ihre Lebensweisheit über die Schulweisheit der Philosophie zu erhöhen“685. Obwohl Wieland in „Theages“ die geistig aufgeschlossene Aspasia dem Titelhelden an die Seite stellt und er diesen Namen sicherlich nicht zufällig wählt, bringt er griechischen Hetäre in seiner Jugend noch wenig Verständnis entgegen, wie

682 Vgl. zu den griechischen Hetären den Art. „Hetairai“ in Paulys RE Bd. 8, Sp. 1331-1358. Vgl. dazu H. Herter: Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 3 (1960): „‘Hetäre’ (Gefährtin), gehobene Bezeichnung für die weibliche Prostituierte der Antike. Im Gegensatz zu den eigentlichen Dirnen umschreibt die Bezeichnung Hetäre den Typus einer in musischen Künsten gebildeten Halbweltdame, die sozial anerkannt war und mit bedeutenden Persönlichkeiten Umgang hatte und in Verbindung gebracht wurde“. 683 Die griechische Ehefrau hat an der Blüte der Kunst und Wissenschaft im Zeitalter des Perikles keinen vollen Anteil. Zur Geringschätzung dieses griechischen Frauentyps, auch in der Literatur, vgl. Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 5ff. 684 In den Romanen „Aristipp“, „Agathon“ und „Abderiten“ stellt Wieland die Epoche der griechischen Kultur dar, die als die wichtigste zu bezeichnen ist. „Es ist dies die Zeit der letzten Jahre des Sokrates und der ersten Jahrzehnte des beginnenden 4. Jahrhunderts, die Zeit, in der die Humanität und Urbanität, in der ein neues Lebensgefühl entstand, das die Menschen über die Grenzen der Polis hinausblicken ließ, in der die Frau wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft trat, in der die Kunst bewegter, lebendiger und vielgestaltiger wurde“, Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 283. 685 Goethes Werke (Artemis-Ausgabe), Bd. 12, S. 703. 315 mehrere negative Äußerungen über Lais beweisen686. Das ist verständlich, wenn man seine Tugendschwärmerei und sein Verhältnis zum Griechentum berücksichtigt687. Erst mit zunehmendem Alter gewinnt dieser Frauentyp mehr und mehr an Bedeutung.

Wie bei Wieland war Aspasia auch in der antike das Vorbild für alle späteren großen Hetären Ihr Haus war der geistige Mittelpunkt des Perikleischen Athen. Gerade diese Stellung des Hauses ist es, die Wieland betont und in verschiedenen Varianten dichterisch verarbeitet688. Im „Agathon“ ist Aspasia die Vertreterin einer auf ihren Einfluß stolzen und unabhängigen Frau, in deren Haus Danae erzogen wird. Sie ist eine reife Frau in der Blüte ihrer Schönheit und nimmt eine unabhängige Stellung ein. Wieland schildert das Leben der Aspasia. Es ist eine „Art Tempel aller Musen und Götter der Freude“ (HRA I/3,280), wie das Haus der Danae, in fast wörtlicher Übereinstimmung, (HRA I/1,196). Alkibiades bringt Danae zu Aspasia. In der Szene, in der Danae Aspasia vorgestellt wird, heißt es, „sie hatte in einer Gesichtsbildung, die ausdrücklich für die Majestät ihrer Figur gemacht war, etwas so unwiderstehlich reitzendes, und dieser forschende Blick war durch ein so einnehmendes Lächeln gemildert, daß es unmöglich war, sie ohne Liebe anzusehen“ (HRA I/3,271). Dieses Zitat, aber auch die folgende Szene lassen erkennen, daß sich, wie bei den Grazien, Antikes und Modernes vermischen, und daß sich bei Wieland die Vorstellung der Aspasia mit der geistreichen Frau des 18. Jahrhunderts vermengt. Aspasia unterrichtet die junge Danae in allen Künsten und möchte sie zu ihrem Ebenbild machen. Ihre Selbständigkeit und Bildung hat aber nur den Zweck, die Männer beherrschen zu können. Vor allem in der Liebe wollen sie erreichen, daß Vernunft und Sinnlichkeit gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Diese

686 Einmal entspricht die historische Lais in keiner Weise der Lais im „Aristipp“. Sie ist wie Danae eine Fortsetzung von Aspasia und wird von Wieland idealisiert. In „Timoklea“ heißt es, „und daher kommt es, daß eine Lais, oder andere Afterschönheiten von der betrügerischen Art, die unter einer schönen Larve ein verachtungswürdiges Gemüth verbergen, manchmal viel Zeit brauchen, bis sie ihre Schönheit zu Grunde gerichtet haben“ (HRA XIV/S4, 56). Vgl. dazu im „Anti-Ovid“, wo es heißt, der wahre Weise würde niemals eine Lais lieben, „die er liebt, wird keine Lais sein. Der äußere Reiz allein, die List verbuhlter Blicke / Nimmt sein verwahrtes Herz nicht ein“ (HRA XIII/S3, 25). Zum anderen darf man annehmen, daß sich der junge Wieland nicht gegen Lais allein wandte, sondern es ihm um das Prinzip ging. Er spricht sich gegen das Hetärenwesen im allgemeinen aus und auch gegen die großen Hetären, deren Fürsprecher er später geworden ist. Er konnte die Hetären damals noch nicht mit seiner strengen Tugend- und Moralauffassung in Einklang bringen. Bezeichnend für Wielands Wandlung ist, daß es während seiner Jugend tugendhafte Frauen waren, die sein Ideal verkörperten, z. B. Fania in den „Moralischen Briefen“ oder Clarissa von Richardson in „Theages“, während es später die Aspasien, Danaen und Lais’ waren; vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 274. 687 Bantel weist darauf hin, daß Wieland in der Jugend auch den Aristipp anders beurteile als später; so schätzte er auch Lais in seiner Jugend anders ein als im Alter, S. 275f. 688 Vgl. z. B. „Nachlaß des Diogenes“ (HRA IV/13, 125): „Die Perikles und Sokrates, die Weisesten und Besten zu Athen versammelten sich des Abends bei der schönen Aspasia. Man sprach von wichtigen Dingen, mit dem muntern Ton, der die Langeweile verbannt, und Kleinigkeiten wurden durch Witz und Laune interessant. Aspasia war die Seele der Unterredung. Die schönsten Ideen, die klügsten Anschläge wurden.... entworfen, 316

„Kunst“ der Liebe beherrschen nur Frauen, die Verstand, Seele und Herz gleichermaßen besitzen. Bei Wieland sind es vornehmlich die großen Hetären, die diese Kunst beherrschen689. „Ein solcher Standpunkt läßt den großen ‘Griechinnen’ die Freundschaft, die Abkehr von jeder Sinnlichkeit im Sinne von leidenschaftlicher Übertreibung, als die einzige Liebe von Dauer erscheinen“690. Ähnlich wie im „Agathon“ ist Aspasias Rolle im „Aristipp“. In einem Brief ist die Rede von dem Umgang des Sokrates mit der „berühmten Aspasia, der Juno dieses Attischen Jupiter“ (HRA XI/33,70). Und an anderer Stelle heißt es, „Aspasia ist unläugbar eine Frau von vieler und langer Erfahrung; von hohem Geist, großer Menschenkenntniß und feiner Lebensart“ (HRA XI/33,190). In den „Grazien“ ist die Wirkung der Schönheit, die auch für die Darstellung im „Agathon“ bezeichnend war, als das für Aspasia Bestimmende hervorgehoben. Durch den Einfluß der Grazien wurde Aspasia fähig, „Griechenland im Perikles du (sic!) beherrschen, und im Sokrates zu unterrichten? Und wie liebenswürdig müßten wir uns (wenn eine strengere Sittenlehre über diesen Punkt uns gerecht zu sein erlaubte) diejenigen unter den Schönen des Sokratischen Jahrhunderts vorstellen, welche in einem besondern Verstande als Priesterinnen der Grazien angesehen wurden?“ (HRA III/10, 97f.). Hier wird besonders die Grazie betont, mit denen Wielands Hetären ausgestattet sind. Eine Antwort auf die Frage, wie der Dichter zu der edleren Auffassung des Hetärenwesens kam, gibt er in der „Ehrenrettung der Aspasia“ (HRA VIII/24,303f.)691.

Im „Agathon“ ist Danae das Ideal der großen Hetäre, in ihr findet der Titelheld den Ausgleich zwischen Geist und Sinnlichkeit692. Die Ausbildung ihrer Seele und ihres Geistes hat sie im Hause der Aspasia erhalten (HRA I/1,192). Sie überragt durch ihre Bildung ihre Geschlechtsgenossinnen. Die Verbindung der Musen und Grazien mit Amor ist ihre Kunst. welche nur Erholung und Zeitvertreib zum Zwecke zu haben schiene; und oft fand Aspasia Mittel, entfernte Gemüter unvermerkt zu vereinigen oder kleine Mißverständnisse zu heben“. 689 Vgl. im „Agathon“, „Ohne Zweifel sind es Liebhaber, wie ... Agathon, welchen es zukommt über die ... Streitfrage einen entscheidenden Ausspruch zu tun; sie, welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres Gefühls eben so geschickt gemacht werden von den körperlichen, als durch die Zärtlichkeit ihres Herzens und durch ihren innern Sinn für das sittlich Schöne, von den moralischen Vergnügungen der Liebe zu urtheilen“ (HRA I/1, 269). 690 Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 40. 691 Diese Ehrenrettung entstand aus einem Widerspruch zu der Behauptung, Aspasia sei eine der größten Buhlerinnen des alten Griechenland gewesen, die im französischen „Cours d’amour“ aufgestellt wurde (deutsch: Geschichte berühmter Frauenzimmer, nach alphabetischer Ordnung, Leipzig 1772); vgl. Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 273. auch in den „Unterredungen zwischen W*** und dem Pfarrer von +++ (1775) setzte sich Wieland für die Wahrheit seiner Aspasien, Danaen und Musarien ein. „Sie sind in der Natur und sind keine Hirngespinste, wie mancher von Schulwitz frisch aufgeblasene Homunculus und mancher alte, halb kindische Hosenpauker wähnt, weil er in dem kleinen, meistens sehr unbedeutenden Zirkelchen seiner Bekanntschaften nichts dergleichen gesehen hat“ (HRA X/30, 470ff..) 317

Wenn sie Liebe schenkt, wird nur der Würdigste mit ihr ausgezeichnet. So ist die Sinnlichkeit durch die seelische und geistige Bildung der Frau in eine höhere Sphäre gehoben. Es ist die Verfeinerung der Liebe durch Grazien- und Musendienste, welche die Sinne, den Geist und das Herz zugleich bezaubert, und die auch Musarion lehrt. Im diesem Roman hebt Wieland an den Hetären, wie an den Grazien in dem gleichnamigen Gedicht, ihre Verdienste um die Kultur hervor. „Wo ist der wildeste Jüngling, den sie (Danae) nicht gesittet gemacht, wo ist der Verdienstlose, den sie nicht zu edlen Unternehmungen begeistert hätte? Wieviele Väter haben ihr die Tugend ihrer Söhne, wie viele Frauen das gute Betragen ihrer Männer zu danken! Wie manchen guten Bürger, wie manchen großen Mann hat sie seinem Vaterlande gegeben! Nur die Besten, nur die Verdienstvollsten und Vollkommensten konnten sich Hoffnung machen, jemals ihr Herz zu rühren“ (HRA I/3,306). Wieland gibt hier eine Entschuldigung dafür, daß er das Interesse auf eine Hetäre konzentriert. Aber nur in ihr konnte er eine geistig und seelisch hochstehende Frau darstellen, wie die Frau nur durch den freien Verkehr mit berühmten Männern die höchste Stufe einer verfeinerten Kultur erlangt, eine Ausbildung ihrer Anlagen, die sie zur höchsten Stellung befähigt - allerdings nur durch das Medium des Mannes. So kann die Frau, wenn sie mit ihrer natürlichen Schönheit und Bildung „Macht“ über den Mann erlangt, nur durch den Mann das Höchste erlangen. Deshalb muß sie es verstehen, ihren Liebesbezeugungen stets neuen Wert zu verleihen. Diese Kunst ist die „weibliche Sophistik“, die an allen großen Hetären zu beobachten ist, die Wieland schilderte693. Als Danae erstmals erwähnt wird, erfährt man einiges über den Stand der „Gesellschafterinnen“, wie die Griechen das Wort „Hetäre“ übersetzten. Dabei ist bezeichnend, daß der Dichter die großen Hetären mit den Sophisten vergleicht. „Diese (Hetären) waren damahls unter ihrem Geschlechte, was die Sophisten unter dem männlichen; sie standen auch in keiner geringen Achtung, und konnten sich rühmen, daß die vollkommensten Modelle aller Vorzüge ihres Geschlechts, wenn man die strenge Tugend ausnimmt, die Thargelien, die Aspasien, die Leontin, sich keine Bedenken machten, von ihrem Orden zu sein“ (HRA I/1,179). Danae lebte in Smyrna, im ionischen Gebiet Griechenlands, wie Aspasia, von wo aus das Hetärenwesen ins griechische Mutterland kam. Damit wird deutlich, in welchem Zusammenhang Wieland Danae sieht. Sie ist für ihn eine zweite Aspasia und damit eine Vertreterin jenes geistreichen und freien griechischen Stammes, aus dem meisten großen Hetären stammen. In Wielands großen hetären vereinigen

692 Siehe Sengle, S. 192. Nödl weist darauf hin, daß Danae vollkommene Schönheit, ihr Geist und der unwiderstehliche Zauber zu den Merkmalen dieser Frauengestalten gehörten, ebenso die Schilderung ihrer Liebe zu Agathon, S. 73. 693 nach Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 15f. 318 sich die Vorzüge einer feinen, geistigen Bildung mit weiblicher Schönheit. Auch Danae besitzt alle diese Vorzüge. Die „Geheime Geschichte der Danae“ im „Agathon“ ist zwar der Irrweg einer „schönen Seele“, der aber mit dem Schleier der Grazien umgeben bleibt. Das Grazienmotiv steht über der Lebensgeschichte, die Sinnlichkeit der Hetäre unter dem Gesetz der Schönheit. Schon von ihrer frühesten Jugend, sagt Danae, habe die Natur die Idee den Schönen in ihre Seele gezeichnet (HRA I/3,251). Für ihr Ideal seelischer Schönheit stehen die Pindarischen Grazien Pate, ihnen weihte sie sich als ihre Schutzgöttinnen (HRA I/3,253f.)694.

Auch Lais ist eine bekannte Hetäre des 4. Jahrhunderts, so wie sich Wieland sie vorstellt. Sie wurde für ihn das Ideal weiblicher Schönheit, die sich paart mit „geistigen Reizungen“ und mit „Lebhaftigkeit und Vielgestaltigkeit des Witzes“ verbindet (HRA XI/33,141). Allerdings ist Lais im „Aristipp“ idealisiert. Wie bei Aspasia gibt es auch von Lais zwei Hetären gleichen Namens. Wieland vereinigt beide historische Gestalten, um seiner Idee von der schönen, freien und gebildeten Frau die besonderen Wesenszüge zu geben695. Mit Lais zeigt sich die neue Einschätzung der Frau, die bei Aspasia ihren Anfang nimmt696. Lais versammelt gebildete Männer um sich, und in ihrem literarischen Kreis werden philosophische und andere Probleme des geistigen Lebens erörtert. Sie ist hierin, wie in ihrer sonstigen Zeichnung, eine Nachfolgerin von Aspasia. Lais ist wie Aspasia und Danae eine Hetäre in einem sozial aufgewerteten Sinn, „indem sie zwar das ‘System’ der Zeit für sich ausnutzen, aber nicht zum Zwecke des niedrigsten Genusses, sondern zu dem der sozialen Sicherstellung ihrer

694 Zum Hetärenwesen im „Agathon“ ein Vergleich zur Antike bei P. Groschwald: Das Bild des klassischen Altertums in Wielands Agathon, Diss. Gießen 1914, S. 41-51. 695 Von den historischen Gestalten stammt die ältere Lais aus Korinth; sie lebte zur Zeit des Peoloponnesischen Krieges; die jüngere ist 422 v. Chr. in Sizilien geboren; vgl. Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 4, Sp. 1166. Vgl. dazu Friedrich Jacobs: Beyträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, auf den auch Wieland im „Aristipp“ gelegentlich verweist. Dort sind die Nachrichten über Lais und ihr Verhältnis zu Aristipp gesammelt (Die Nachrichten über Lais im AH III, S. 173 ff; besonders über ihr Verhältnis zu Aristipp, S. 233ff.). Trotzdem ist das Verhältnis zu Lais von Wieland wesentlich positiver und menschlicher gezeichnet, als es in Wirklichkeit war; vgl. dazu Jacobs im AM II und III; vgl. auch Otto Bantel, Wieland und die griechische Antike, S. 264. 696 Warum Lais im „Aristipp“ eine besondere Rolle spielt, hat Wieland Lütkemüller gegenüber erklärt; abgedruckt bei Gruber 53, 279f. „Und was machte sie zu einer der merkwürdigsten Personen? Nicht sowohl Schönheit und Liebreiz! wie groß diese auch seyn mochten, sondern vielmehr eine Bildung und Liebenswürdigkeit, die noch außerordentlicher waren als jene. In ihr blühte für die gebildesten Griechen jener Zeit das Höchste und Vollkommenste schöner und holder Weiblichkeit. Ich weiß zwar, mit welchen Komplimenten ehrbare Matronen und gestrenge Sittenrichter über den Gebrauch, den ich von ihr mache, mich beehren werden. Sie werden pflichtschuldigermaßen zu bemerken belieben, daß mein Geist sich noch immer ... im Umgang mit Hetären gefalle, und daß ich vermuthlich bis zu meinem letzten Lebenshauche nicht müde werden würde, sie mit ihrem hetärischen Leben und Weben zu konterfeien. Aber es ist nicht meine Schuld, daß das klassische Griechenland auch seine Aspasia, Danae, Lais, Musarion und wenige ihres Gleichen hatte, und daß diese für die Geschichte der Menschheit ein größeres Interesse haben und behalten werden, als alle, die sich von Gott und der Tugend berufen glauben, das Verdammungs=Urtheil über sie zu sprechen. Es wird sich ... von selbst erhellen, daß ich bei dem, was mein Aristipp seyn und werden soll, der Lais gar nicht entbehren kann“. 319 unverwechselbaren Menschlichkeit, ihrer ihnen nur in dieser Form garantierten Freiheit“697. Wieland spricht im „Aristipp“ mehrfach das Hetärenproblem an. Es ist eine Betrachtung über die Unterschiede zwischen einer griechischen Matrone und einer Hetäre, wobei jene nur der Kindergebärung und dem Haushalt bestimmte Ehefrau der geistvollen Hetäre gegenübergestellt wird, mit der der Ehemann seine Zeit verbringt. „...wie könnt’ es anders sein, da unsre ehrbaren Frauen, von aller männlichen Gesellschaft zeitlebens ausgeschlossen und auf den Umgang mit ihren Mägden, Schwestern... eingeschränkt, aller Gelegenheit, sich zu entwickeln und die Eigenschaft, wodurch man gefällt und interessant wird, zu erwerben, schlechterdings beraubt sind?“ (HRA XI/33,158). Der Schritt führt weiter zur ausgesprochen gebildeten Hetäre, denn eine Frau muß, wenn sie gebildet sein will, notwendig zu den Hetären gerechnet werden und in diesem Zusammenhang werden Corinna, Sappho und Aspasia als ihre Vorgängerinnen genannt. Auch für Lais ist in geistiger Hinsicht die Männergesellschaft unentbehrlich. Gerade diese muß die einfache griechische Ehefrau entbehren: Lais ist gewillt, sich über das Vorurteil hinwegzusetzen und den Ruf der Hetäre in Kauf zu nehmen. Sie scheint erhaben über die Schwächen der Liebe und glaubt nicht, daß sie „jemals mehr Gewalt über sie erhalten werde, als sie ihr freiwillig einzuräumen für gut findet“ (HRA XI/33,144). Sie sagt, „ich liebe den Umgang mit Mannspersonen; aber als Männer sind sie mir gleichgültig. Ich kenne sie.... bereits genug, um die Stärke und den Umfang der Macht zu berechnen, die ich mir ohne Unbescheidenheit über sie zutrauen darf“ (HRA XI/33,161f.)698. Sie besitzt also auch jene weibliche Sophistik, die Wieland bei seinen Hetären besonders betont. Lais lebt nach dem Prinzip der Selbstbewahrung, d. h. auch in körperlicher Hingabe bewahrt sie sie selbst; sie ist nicht willens, sich dem Mann unterzuordnen und den Platz einzunehmen, den die Gesellschaft ihrer Zeit ihr zudachte. Ihre Lebensbereiche liegen nicht deshalb außerhalb der Gesellschaftsordnung, weil ihr Hetärentum sie zu einer Außenseiterin verurteilt und sie Opfer der Umstände geworden ist. Sie wählt das Hetärentum bewußt und vorurteilsfrei, weil es die einzige Lebensform ist, in der sie sich ihre Freiheit zu sichern glaubt. Und so fragt der Dichter, „hätte sie wol auf einem andern Wege, als den sie gegangen ist, zu derselben vollendeten Ausbildung und höchsten Verfeinerung aller ihrer Naturgaben gelangen können? und wär’ es nicht Schade, wenn sie nicht dazu gelangt wäre? Wahrlich, nur auf diesem Wege konnte sie werden, was sie ist, die Einzige in ihrer Art, die liebenswürdigste

697 Wolfgang Paulsen, Die emanzipierte Frau, S. 167. 698 Vgl. Max Dufner: „The Tragody of Lais in C. M. Wieland’s „Aristipp“, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Madison/Wisc., 52 (1960), S. 63-70. 320 und vollkommenste so wie die schönste und reizendste aller - Hetären“ (HRA XI/35,300)699. Zwar werden mit der Hetäre bei Wieland besonders die Probleme der Bildung und Erziehung des weiblichen Geschlechts angesprochen, denn diese Frauen stehen wie die Grazien im Dienste der ästhetischen Erziehung des Menschen; dennoch können in diesem Ausblick nur einige Aspekte über die weibliche Bildung erwähnt werden700.

Was das Recht der Frau auf Bildung, Aufklärung und Verfeinerung betrifft, so ergibt sich dieses für Wieland aus seinem Menschheitsideal, demzufolge beide Geschlechter auf der gleichen Kulturstufe stehen. Er legt der Frau sogar die Pflicht auf, nach seelischer Entwicklung zu streben, denn erst dann kann sie die wahre Gehilfin, Freundin und Ratgeberin des Mannes sein (H 35,232). Die freie Frau, die Hetäre, ist zwar für den Dichter die Vertreterin emanzipatorischer Bestrebungen, doch hat er die Rechte der Frau nicht so weit ausgedehnt, daß sie der Frau eine vom Manne unabhängige Stellung verschaffen können und sollen. Wie er sich die weibliche Bildung vorstellte, hat er 1786 in der Vorrede zu der von K. L. Reinhold herausgegebenen „Allgemeinen Damenbibliothek und in der Anzeige von Schillers „Historischen Kalender für Damen für das Jahr 1791“701 von Friedrich Schiller (H 35,238ff.) erläutert. Darauf wird in diesem Rahmen verwiesen. Seine Hetären nehmen nicht nur eine emanzipierte Stellung ein702, sie sind auch Erzieherinnen und Lehrerinnen, „Meisterin der weiblichen Sophistik, deren oberster Grundsatz es ist, im Manne den Feind zu sehen, insofern er immer nur seine eigenen Wünsche auf die kürzeste und billigste Art vom Weibe befriedigt sehen will“703. Auf Aspasia als Lehrerin und Erzieherin wurde bereits

699 Vgl. Paulsen, der fragt, was sich an Lebenseinsichten und -erfahrungen hinter der Gestalt der Lais verbirgt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß es sehr alte Einsichten seien, denn einerseits sei Lais als menschliche Möglichkeit bereits in Danae angelegt gewesen, nur daß für diese die Freiheit, die sie sich zusammen mit dem Hetärentum erworben hatte, noch keine höchsten Werte bedeutete, dem sie auch ihr Gefühlsleben bereitwilligst untergeordnet hätte. Es wäre für Danae am Ende des Romans mit Agathon kein großer Schritt gewesen, wenn sie sich entschlossen hätte, doch noch die Rolle einer griechischen Ehefrau zu übernehmen, die Lais für sich selbst folgerichtig ablehnt. Wenn die zu selbstloser Liebe und Hingabe unfähige geistreiche Hetäre schließlich doch noch von der Leidenschaft übermannt werde und an ihr zugrunde geht, ist das wie eine gerechte Strafe, die sich an sich selbst vollziehe. „Die Frau, die sich in unverkennbarer Hybris über die ihr von der Natur vorgeschriebenen Gesetze hinwegsetzt, muß dafür nicht nur mit ihrem Lebensglück, sondern auch mit dem Leben bezahlen“, S. 221f. 700 Es lag dem Aufklärer Wieland daran, sich um eine bessere Erziehung und Förderung der Bildungsmöglichkeiten des weiblichen Geschlechts zu bemühen; denn es lag im Glauben der Aufklärung an die Allmacht der Erziehung, wenn man hieraus die Mißstände der Ehe zu beheben trachtete. Man hatte im 18. Jh. bereits zahlreiche Beispiele für die Fähigkeit der Frau, eine höhere Bildung zu erwerben; vgl. Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 42ff. 701 TM 1791, I, S. 197-210. 702 Vgl. Wolfgang Paulsen: Die emanzipierte Frau in Wielands Weltbild, in: ders.: Die Frau als Heldin und Autorin, 1979, S. 153ff. Vgl. auch Wilhelm Nowack: Liebe und Ehe im deutschen Roman zu Rousseaus Zeiten 1747 bis 1774. Eine Studie zum 18. Jahrhundert, Bern 1906, S. 101f. Vgl. Gustav Wilhelm: Wieland über weibliche Bildung, Wien 1901 (Separatdruck). 703 Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 54. 321 eingegangen. Im „Aristipp“ ist Lais eine Lehrerin, die den Mädchen die Lehre von der weiblichen Sophistik beibringt. Sie klagt über die schlechte Erziehung der Frauen, die sie dem Mann zur Last legt. „Du weißt vermuthlich, wie wenig bei der Erziehung der griechischen Töchter in Betrachtung kommt, daß sie auch eine Seele haben, und daß die Seele kein Geschlecht hat. Sie werden geboren, um so bald als möglich Ehefrauen zu werden, und der Grieche verlangt von seiner ehelichen Bettgenossin nicht mehr Geist, Talente und Kenntnisse, als sie nöthig hat, um ... schöne Kinder zu gebären, ihre Mägde in der Zucht zu halten und die Geschäfte des Spinnrockens und Webstuhls zu besorgen. Ist sie überdies sanft, keusch und eingezogen, trägt sie, wie die Schnecke, ihr Gynäceon immer auf dem Rücken, und verlangt von keinem andern Manne gesehen zu werden, als von ihm, läßt sich an und von ihm Alles gefallen und glaubt in Demuth, daß es keinen schönern, klügern und bravern Mann in der Welt gebe als den ihrigen, so dankt er den Göttern, die ihn mit einem so frommen, tugendsamen Weibe beschenkt haben, ist höchlich zufrieden und hat wahrlich Ursache, es zu sein. Vor der Langenweile, die ihm eine so fromme und tugendreiche Hausfrau machen könnte, weiß er sich schon zu verwahren“ (HRA XI/33,157). Lais lehrt, wie die Frau die Macht ihrer Reize so verstärkt, daß sie den Mann damit beherrscht und ihrerseits Bedingungen stellen kann. Mit dieser Technik soll es den Mädchen gelingen, die Ehe zu erreichen. So kommen alle Schülerinnen der Lais zum Ziel. Musarion z. B. findet am Ende des Romans ein harmonisches Familienleben: Lais charakterisiert dieses Ideal, das Wieland vorschwebte (HRA XI/33,285f.). Zwar heiratet Musarion in der gleichnamigen Verserzählung nicht, aber wie sie ihrem Freund Phanias die Kunst zu leben und zu lieben lehrte, zeigt, daß sie schon bei Lais in die „Lehre“ gegangen sein mußte. Gegen diese Hetärengestalten richten sich die Angriffe der Zeitgenossen, die die erzieherische Wirkung verkannten. Sie liegt darin, daß bei diesem Frauentyp die harmonische Ausbildung von Körper und Geist erreicht ist. Die Betonung des ästhetischen Ideals vor dem ethischen, wie sie den Hetärengestalten zugrunde liegt, mußte einen derartigen Widerspruch herausfordern704. Die Frage der griechischen

704 Vgl. Wolfgang Monecke, Wieland und Horaz, S. 57. Die Hetärenphilosophie sei getragen vom Streben, in einen höheren Bereich der Werte jenseits bürgerlicher Norm vorzudringen. Diese Philosophie suche ihr Ziel zu erreichen, indem sie sittliche Werte ästhetisiert. Vgl. Johann Wilhelm Loebell, a.a.O., Bd. II, S. 339: „Uebrigens ist es ... Niemand zu verargen, der von keiner Darstellung dieser Art von Geschöpfen... etwas wissen will, als von einer ihnen den Stempel der Verachtung aufdrückenden. Wer es aber über sich gewinnen kann, einmal statt des strengen moralischen Standpunktes den rein ästhetischen einzunehmen, wird der großen Individualisierungskunst.... volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine Danae und seine Lais... sind (beide) griechische Hetären aus der Periode, wo die hohe Bildung in die ... Ueberfeinerung umschlug; aber außer ihrem Antheile an der Höhe dieser Bildung, ihrer strahlenden Schönheit und der zu ihrer Lebensweise nothwendig gehörenden Gefallsucht haben sie nichts miteinander gemein“. 322

Hetären wurde im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts besonders lebhaft erörtert und von den Romantikern fortgesetzt705.

Es ist festzuhalten, daß der Forderung nach harmonischer Einheit von Körper und Geist entsprechend Wieland seine großen Hetären gestaltet hat. Sie haben zur vollkommenen Schönheit noch eine „schöne Seele“. Ihr Geist ist so ausgebildet, daß sie ihren Verstand über alles schätzen und somit die Freundschaft über die Liebe stellen. Die Freundschaft ist die beständige Liebe, sie bleibt auch dann, wenn in der Liebe die Leidenschaft geschwunden ist. So finden diese Frauen das höchste Glück im Maßhalten, in der weiblichen Sophrosyne, auch wenn sie an ihrer vernunftmäßigen Gesinnung festhalten, nach der jedes Übermaß vermieden werden soll. Wielands große Hetären sind keine empfindsamen Damen des 18. Jahrhunderts. Die Empfindsamkeit mit ihrer bürgerlichen Moral mußte die hetärenmäßige Lebensart ablehnen. Sie sind Frauengestalten, die der aristipp-horazischen Lebensphilosophie des Dichters nahestehen und einen Ausgleich zwischen geistiger Bildung, anmutiger Schönheit und natürlicher Sinnlichkeit gefunden haben. Diese Hetären sind nicht nur Repräsentantinnen der Zeit des Übergangs vom 5. zum 4. Jahrhundert, sondern vertreten auch Wielands Grazienphilosophie. Und das heißt in den „Grazien“:

„Nur den Phrynen, den Glyceren und Laisen konnt es gehören, Euern (Grazien) Orgien würdig vorstehen; Ihnen, die zu Amors Künsten allen Das Geheimnis, selbst den Weisen zu gefallen, Euch in Paphos abgesehen“ (HRA III/10, 98)

705 Vgl. Lenz: Geschichte der Weiber des heroischen Zeitalters, 1700. Er behandelt den Stoff ausführlich, aber ohne Kritik. Zu den Romantikern vgl. u. a. Friedrich Schlegel: Ueber die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern, in: Jugendschriften, hg. Minor, Bd. 1m S. 32ff; vgl. auch Friedrich Schlegel: Ueber die Diotima, in: Jugendschriften, a.a.O., S. 46ff. Vgl. zu den Hetärengestalten bei den Romantikern Elisabeth Nödl, Frauengestalten, S. 86ff.; Otto Gerke, Wielands Aristipp, S. 36 323

ANMERKUNGEN

Während die Anmerkungen fortlaufend numeriert als Fußnoten unten auf der Seite erscheinen, werden die Belegstellen aus Wielands Werken direkt hinter das Zitat gesetzt. Zitiert wird bis auf wenige Ausnahmen wegen der Unvollständigkeit der historisch-kritischen Akademie-Ausgabe nach der Hamburger Reprint-Ausgabe (HRA). Dabei ist die römische Zahl nach dem „HRA“ der Teil der Ausgabe, die zweite (arabische) Zahl die Band-Angabe und die dritte die Seitenzahl (z. B. HRA X/30,116). Daneben werden einige Werke nach der Hempel-Ausgabe (H 40,110ff.) zitiert, wenn die Texte oder Textergänzungen in der Hamburger Reprint-Ausgabe fehlen.

Außerdem wurden folgende Ausgaben ergänzend zum Vergleich herangezogen:

Zu „Theages“ Sammlung einiger Prosaischer Schriften von C. M. Wieland, Zürich 1758, Erster Theil, S. 139ff.

C. M. Wieland. Werke in 5 Bänden, hg. Fritz Martini/Hans Werner Seiffert, München 1964-1968, Band 3, S. 167ff. („Hanser“-Ausgabe)

Zu „Musarion“ Erstdruck, Leipzig 1768

C. M. Wieland. Werke in 5 Bänden, hg. Fritz Martini/Hans Werner Seiffert, München 1964-1968, Band 4, S. 318ff. („Hanser“-Ausgabe)

Zu „Die Grazien“ Erstdruck, Leipzig 1770

C. M. Wieland. Ausgewählte Werke in 3 Bänden, hg. Friedrich Beißner, München 1964 ff., Band 3, S. 533 ff. („Winkler“-Ausgabe)

Die Literatur wird folgendermaßen zitiert: Titel, aus denen oft zitiert wird, sind in einem Abkürzungsverzeichnis erfaßt und erscheinen nur in dieser Form in den Fußnoten.

Werke oder Aufsätze werden mit Doppelpunkt vom Verfasser getrennt, vollständig mit Erscheinungsjahr und –ort angegeben, wenn aus ihnen erstmals zitiert wird.

Bei Wiederholungen dieser Titel werden nur Verfasser und Kurztitel, mit Komma voneinander getrennt, aufgenommen (ohne Erscheinungsort und –jahr). 324

Abkürzungsverzeichnis

AA Wielands Gesammelte Schriften, („Akademieausgabe)“, Hg. von der Kommission der Königlichen Preußischen Akademie der Wissen- schaften, (seit 1918: Preußischen Akademie der Wissenschaften; seit 1954: der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR), Berlin 1909ff.; römische Zahlen bezeichnen die Abteilung, arabische den Band.

AB Ausgewählte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde in den Jahren 1751-1810 geschrieben, und nach der Zeitfolge geordnet. 4 Bände, Zürich 1815f. (anonym hg. von Heinrich Geßner)

Anger, Alfred Anger, Deutsche Rokoko-Dichtung. Ein Forschungsbericht, in: Rokoko-Dichtung Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36 (1962), Teil I in H. 3, S. 430-480; Teil II in H. 4, S. 614-648

Böttiger 1838 Literarische Zustände und Zeitgenossen, in: Schilderungen aus K. A. Böttigers handschriftlichem Nachlasse, hg. von K. W. Böttiger, 2 Bde, Leipzig 1838 (Reprint Frankfurt/Main 1972)

Brückl Otto Brückl: Poesie des Stils bei C. M. Wieland. Herkunft und Bedeutung, in: Sprachkunst als Weltgestaltung. Festschrift für Herbert Seidler, hg. Adolf Haslinger, Salzburg/München 1966, S. 27-48

Erhart, Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Selbstaufaufklärung Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991

Ermatinger, Emil Ermatinger: Die Weltanschauung des jungen Wieland, Frauenfeld Weltanschauung 1907

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

GRM Germanistisch-Romanische Monatsschrift

Grudzinski Herbert Grudzinski: Shaftesburys Einfluß auf Wieland, in: Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte NF 34 (1913), Teil 3

Goethe Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke in 18 Bänden. (Unveränderter Nachdruck der Bände 1-17 der Artemis-Gedenkausgabe zu Goethes 200. Geburtstag, hg. Ernst Beutler, 2. Aufl., Zürich 1961ff.) Zürich/München 1971

Gruber : C. M. Wielands Lebens. Neu bearbeitet, mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands, Leipzig 1927/28 (Reprint Nördlingen 1984)

H Wielands Werke. Anonym hg. Heinrich Düntzer, 40 Bde. (in 16 Teilen), Berlin: (bei Gustav Hempel), o. J. (1879/80) 325

HA C. M. Wielands Werke in 5 Bänden. Auswahl mit Erläuterungen, hg. Fritz Martini/Hans Werner Seiffert, München 1964-1968 („Hanser“- Ausgabe).

Hass Neue Briefe C. M. Wielands vornehmlich an Sophie von La Roche, hg. von R. Hassencamp, Stuttgart 1894.

Höhle, Kolloquium Thomas Höhle (Hg.): Wieland-Kolloquium Halberstadt 1983. Protokoll Halberstadt 1983 des wissenschaftlichen Kolloquiums in Halberstadt am 29./30. 9. 1983 Aus Anlaß des 250. Geburtstags von Christoph Martin Wieland, Halle 1985

Höhle, Kolloquium Thomas Höhle (Hg.): Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und Halberstadt 1987 seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung. 4. Halberstädter Kollo- quium 1987. Kongreß- und Tagungsberichte der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale 1988

Horn C. M. Wielands Briefe an Sophie von La Roche nebst einem Schreiben von Gellert und Lavater, hg. Franz Horn, 1820.

HRA Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Leipzig (bei Göschen) 1794-1811 (Reprint hg. von der ‚Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur‘, Nördlingen 1984) (Hamburger Reprint- Ausgabe)

Martini, Wieland- Fritz Martini: Wieland-Forschung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Forschung Literaturgeschichte und Geisteswissenschaft 24 (1950), H. 2, S. 269- 280

MLN 99.3 (1984) Lieselotte E. Kurth/John A. McCarthy (Hg.): Christoph Martin Wieland 733-1813. Beiträge des Symposions zum 250. Geburtstag vom 1.-3.9. 1983 in Biberach/Riß (Sonderheft der „Modern Language Notes 99 Nr. 3 German issue, 1984, S. 421-705

Müller-Solger, Hermann Müller-Solger: Zu neueren Publikationen über Christoph Mar Publikationen tin Wieland (1970/1971). Ein Forschungsbericht, in: Archiv für das Stu- dium der neueren Sprachen und Literaturen 1924 = Bd. 209 (1972/73), Halbband, S. 98-112

Müller-Solger Hermann Müller-Solger: Der Dichtertraum. Studien zur Entwicklung Dichtertraum der dichterischen Phantasie im Werk Christoph Martin Wielands, Göppingen 1970

Oettinger Klaus Oettinger: Phantasie und Erfahrung. Studien zur Erzählpoetik Christoph Martin Wielands, München 1970

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VERSICHERUNG

Ich versichere an Eides Statt, daß ich die Dissertation selbständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt und alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten Schriften entnommen sind, als solche kenntlich gemacht habe.

Rastede im September 1999 366

Lebenslauf

Ich bin am 20. Oktober 1940 in Breslau/Schlesien geboren. Nach dem Schulbesuch und einer Verwaltungslehre beim Landkreis Ammerland in Westerstede heiratete ich im April 1963 und habe zwei Kinder.

Ab Sommersemester 1976 studierte ich in der Einphasigen Lehrerausbildung Germanistik und Textiles Gestalten (Lehramt Sek. II) an der Universität Oldenburg. Das Studium schloß ich 1983 mit dem Ergebnis „gut“ (1,5) ab. Bereits während meines Studiums beschäftigte ich mich schwerpunktmäßig mit der Literatur und Rhetorik des 18. Jahrhundert. Die ersten Studien zu Wieland gehen auf Seminare bei Prof. Dr. Ueding zurück. Von 1986 bis 1992 war ich Mitarbeiterin bei Professor Dr. Dyck, Arbeitsstelle Rhetorik der Universität Oldenburg. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte das Projekt „Quellenbibliographie zur Rhetorik, Epistolographie und Homiletik des 18. Jahrhundert“. Die Ergebnisse wurden unter dem gleichnamigen Titel in drei Bänden 1996 veröffentlicht. In den folgenden Jahre habe ich Rezensionen in „Rhetorik“. Ein internationales Jahrbuch, veröffentlicht, Forschungsartikel für das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“, hg. von Gert Ueding. geschrieben und Autoren-Artikel für das Literatur-Lexikon, hg. von Walther Killy, verfaßt.