<<

Daniel Hofer

Ein Literaturskandal wie er im Buche steht

Zu Vorgeschichte, Missverständnissenund medialem Antisemitismusdiskurs rund um Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers

DIPLOMARBEIT

zur Erlangung des akademischen Titels

Magister der Philosophie

Studium: Germanistik (Lehramt), Italianistik (Lehramt)

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Fakultät für Kulturwissenschaften

Begutachter: O. Univ.-Prof MMag. Dr. Friedbert Aspetsberger Institut: Germanistik September 2006 EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Schrift verfasst und die mit ihr unmittelbar verbundenen Arbeiten eigenhändig durchgefiihrt habe. Die daflir verwendete Literatur sowie das Ausmaß der mir im gesamten Arbeitsvorgang gewährten Unterstützung sind ausnahmslos angegeben. Das Schriftstück ist darüber hinaus noch keiner anderen Prüftingsbehörde vorgelegt worden.

(Daniel Hofer)

Maria-Saal, am t^.^- 700IQ EINLEITUNG 5

1 KLEINE CHRONOLOGIE EINER SKANDALISIERUNG 6

1.1 Kommentar ausgewählter Artikel 8 1.1.1 Der Stein des Anstoßes: Offener Brief Frank Schirrmachers 8 1.1.2 Marius Meilers Skandalisierungen 11 1.1.3 Gustav Seibt über die eskalationsreiche Beziehung zwischen Ranicki und Walser 13 1.1.4 Hubert Spiegel: Urteilsverfestigung 15 1.1.5 „Der Sieg des Kritikers" wie ihn Uwe Wittstock sah 17 1.1.6 Thomas Steinfeld über den publizistischen Skandal 18 1.1.7 Marius Meiler zum intellektuellen Zentrum Suhrkamp-Verlag 20 1.1.8 Joachim Kaisers Walser-Apologie 22 1.1.9 Die Enttäuschung des Marcel Reich-Ranicki: „Walsers Buch hat mich tief getroffen" 23

2 UND DIE ÖFFENTLICHKEIT: BIOGRAPHISCHE URSPRÜNGE DES ANTISEMTISMUSVERDACHTS 26

2.1 Die Verteidigung des nationalen Selbstbewusstseins 26

2.2 Friedenspreisrede und Walser-Bubis-Debatte 33 2.2.1 Ein Streit um die Erinnerung 44 2.2.2 Aktuelle Entwicklung 47

2.3 Literarisches 48 2.3.1 Ohneeinander 48 2.3.2 Ein springender Brunnen 52

2.4 Kritischer Kommentar 56

3 KOMPARATISTISCHE BETRACHTUNGEN: TOD EINES KRITIKERS IM WERKZUSAMMENHANG 58

3.1 Stilbeschreibung 58 3.1.1 Lexikalisch-semantische Ebene 60 3.1.1.1 Personenbezeichnungen 60 3.1.1.2 Bildlichkeit 63 3.1.2 Syntaktische Ebene 64 3.1.2.1 Redemodi 64 3.1.2.2 Rhythmuswechsel 67 3.1.3 Textebene 68 3.1.3.1 Ringkomposition 68 3.1.3.2 Zurückgenommenes Todesmotiv 72

3.2 Der Augenblick der Liebe 74

4 ANMERKUNGEN ZU STRUKTUR UND THEMATISCHEM GEHALT VON TOD EINES KRITIKERS 78

4.1 Quantitative Betrachtung als Annäherung an die Strukturschwerpunkte 78 4.1.1 Namens-und Schlüsselwortstatistik 78 4.1.2 Interpretation der Daten 79

4.2 Frauenflguren 81

4.3 Zum Bild von Literatur- und Medienbetrieb 87 4.4 Schlusswort 92

BIBLIOGRAPHIE 94 Textkorpus Martin Walser 94 Essays und Monographien 94 Zeitungsartikel 96 Einleitung

Im Jahr 2002 ging ein sturmartiges Rauschen durch den Blätterwald des deutschen Feuilletons, dessen Echo vier Jahre später auch hierzulande noch immer zu hören ist. Der Auslöser hierfür war allerdings nicht der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings, sondern der größte Literaturskandal der letzten Jahre irmerhalb des deutschsprachigen Raums, in dessen Zentrum Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers stand. Die Satire auf den im Roman bis zur Kenntlichkeit überzeichneten Kritiker Marcel Reich-Ranicki verwandelte sich in der Rezeption zu einem Antisemitismusskandal, der dazu geführt hat, dass der in der Vergangenheit bereits brüchig gewordene politische Ruf des deutschen Großschriftstellers in der Öffentlichkeit schwer beschädigt worden ist. Die vorliegende Diplomarbeit wagt den gedanklichen Schritt in die Medienarena und hat sich zum Ziel gesetzt, kritisch zu hinterfragen, inwieweit die Angriffe auf Martin Walser gerechtfertigt waren, beziehungsweise zu klären, wo dem Roman und seinem Autor unrecht getan wurde. Die gut dokumentierte öffentliche Diskussion rund um den inkriminierten Schlüsselroman soll zu diesem Zweck um eine literaturwissenschaftliche Perspektive ergänzt werden, um so nachträglich objektive Urteile möglich zu machen, die aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe nach wie vor dringend nötig erscheinen. Der vorgetragene wissenschaftliche Ansatz ist dabei breiter gefasst: Ausgehend von einem kommentierten Überblick über die an der Skandalisierung maßgeblich beteiligten Seiten des deutschen Feuilletons beschreibt die vorliegende Arbeit in der Folge den Tod eines Kritikers gleichsam umkreisend von den Rändern her, was als Reaktion auf das vielschichtige Phänomen des Skandals zu verstehen ist. Ein weiter rückwärtsgerichteter Blick in Martin Walsers literarische Vergangenheit beschäftigt sich zunächst mit der deutsch-jüdischen Thematik im Werk des Großschriftstellers, wobei eine biographisch orientierte Suche nach den Ursprüngen des Antisemitismusverdachts unternommen wird. Der darauf folgende Abschnitt untersucht mit Methoden der vergleichenden Literaturwissenschaft, in welchem Verhältnis der Tod eines Kritikers zu anderen Texten seines Autors steht. Der Fokus wird hier auf der Darstellung von Kontinuitäten im Werk Walsers liegen, was es möglich machen wird, vermeintlich skandalösen Momenten des Kritikerromans etwas gelassener zu begegnen. Im letzten Abschnitt wird die Perspektive abschließend noch einmal auf den Tod eines Kritikers verengt, um einige im Zusammenhang mit dem Skandal besonders relevante Aspekte des Buchs näher unter die Lupe zu nehmen. Den Fluchtpunkt der formal orientierten Betrachtungen bildet dabei der Literaturskandal, der allerdings nicht als vom Tod eines 6

Kritikers losgelöstes Phänomen thematisiert wird, sondern immer gemeinsam mit seinem literarischen Ursprung, als dessen facettenreicher Teilaspekt er gesehen werden muss.

1 Kleine Chronologie einer Skandalisierung

Der einleitende Abschnitt stellt eine kritische Auseinandersetzung mit der Skandalkonstruktion im deutschen Feuilleton und der medialen Rhetorik dar, derer sich die Literaturspalten der großen Tageszeitungen im Zuge der Auseinandersetzung rund um Tod eines Kritikers bedient haben. Ein Blick auf einen Artikel der Online-Ausgabe der Literarischen Welt ergänzt die Betrachtung um einen kurzen Ausflug in das Medium des Internets. Grundlage für die als repräsentativ erachtete Auswahl an Texten war dabei die Pressemappe, welche nach wie vor beim erhältlich ist. Als Kontrapunkt aus der Zeitschriftenwelt wurde zusätzlich der im Anhang verzeichnete Artikel Sigrid Löfflers verwendet, weil er eine am Skandalisierungsprozess relativ unbeteiligte Position vertritt. Fakt ist weiters, dass der wissenschaftlichen Arbeitsweise ein Geschwindigkeitsnachteil gegenüber der Zeitungspublizistik innewohnt, wodurch eine Einmischung in einen tagesaktuellen Diskurs zumeist von vornherein nicht möglich ist. Der folgende Punkt fingiert zum Zweck einer Einführung in das Thema eine derartige Intervention, wobei einige entscheidende Punkte allerdings noch ausgeklammert bleiben. Für die Überschriften der Unterkapitel wurden Zeitungsartikelüberschriften dem Erzählkonzept angepasst und verändert. Anhand der Autorennamen, der Verwendung der indirekten Rede und einer Kursivschrift-Zitierweise, die sich im Fall eines fehlenden Fußnotenvermerks immer auf den jeweiligen Artikel bezieht, sind übernommene Aussagen jederzeit auf ihren Urheber zurückzufiihren. Da keine unnötig große Anzahl an Fußnoten produziert werden soll, sind die Zitate aus Tod eines Kritikers ohne weiteren Hinweis direkt im Text durch in Klammem gestellte Seitenangaben belegt. Dieses Verfahren wird in der Arbeit auch an späteren Stellen zum Einsatz kommen, weim aus dem Kontext eindeutig klar ist, welchem Buch das jeweilige Zitat entnommen ist. Zur Steigerung der Übersichtlichkeit findet sich untenstehend eine chronologische Darstellung der kommentierten Artikel. 29.5.02 „Tod eines Kritikers. Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.", Frank Schirrmacher, FAZ 31.5.02 „Tod eines Autors. Eine erste Lektüre des neuen Romans von Martin Walser", Marius Meiler, FR „In Erlkönigs Armen sterben. Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki: Zur Geschichte einer an Eskalationen reichen Beziehung", Gustav Seibt, SZ 1.6.02 „Der Müll und der Tod. Martin Walser und die Gespenster der Vergangenheit", Hubert Spiegel, FAZ „Der Sieg des Kritikers. Literatur als geistiges Überlebensmittel: Marcel Reich-Ranicki, wie er wurde, der er ist", Uwe Wittstock, LW(o) 4.6.02 „Die Meute der Deuter. Der doppelte Skandal um Martin Walsers Manuskript", Thomas Steinfeld, SZ 5.6.02 „Unser schönster Bienenkorb. Kritische Theorie als Vademecum in Krisenzeiten: Der Suhrkamp Verlag berät über den Druck des Walser-Buches", Marius Melier, FR „Walsers Skandalen. Nicht antisemitisch, aber brillant, boshaft und hemmungslos", Joachim Kaiser, SZ 6.6.02 „Eine Erklärung. Walsers Buch hat mich tief getroffen", Marcel Reich-Ranicki, FAZ

Legende: FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR - Frankfurter Rundschau, SZ - Süddeutsche Zeitung, LW(o) - Literarische Welt (Online-Ausgabe) 1.1 Kommentar ausgewählter Artikel 1.1.1 Der Stein des Anstoßes: Offener Brief Frank Schirrmaciiers

Es stellt eine Binsenweisheit der Linguistik dar, dass sich die mündliche Kommunikationssituation von der schriftlichen unter anderem durch ihren weitaus geringeren Grad an Planbarkeit unterscheidet. Daneben spielt auch der Kontext, in dem die Kommunikation erfolgt, eine größere Rolle: Das zumeist vorbestimmte Beziehungsschema der Gesprächsteilnehmer erleichtert gedankliche Assoziationen und ermöglicht so ein elliptischeres Sprechen. Die Spontaneität auf der einen Seite, festgelegte Beziehungsschemata auf der anderen Seite, führen aber allzu häufig dazu, dass es unmöglich wird, die eigenen Ansichten ausführlich darzustellen. An diesem Punkt eröffnen sich die Vorteile des Mediums Schrift, dem die Planbarkeit immanent ist. Eine Textsorte hat sich immer schon als besonders geeignet erwiesen, persönliche Beziehungen in einem intimen Rahmen auszuverhandeln: der Brief.

So gut wie immer wenn Intimität ohne beiderseitiges Einverständnis öffentlich gemacht wird, entstehen Konfliktsituationen. Die Form des offenen Briefs trägt dieses Konfliktpotential schon von Anfang an in sich und ist somit eine a priori aggressive Textgattung, deren Mächtigkeit sich primär aus der Größe der Leserzahl des jeweiligen Erscheinungsortes ermitteln lässt. Es muss als zweifelhaftes Verdienst Frank Schirrmachers gelten, die Effizienz dieser Offensivpublizistik noch gesteigert zu haben. Sein Angriff auf Martin Walser steht ohne Beispiel in der deutschen Medienlandschaft da.' Die wahre Perfidie bei seiner Vorabverurteilung von Tod eines Kritikers liegt in der Tatsache verborgen, dass hier ein literarisches Werk regelrecht niedergeschrieben wurde, noch bevor dieses für andere Kritiker - geschweige denn auf dem Markt - erhältlich war. Der Gegenstand des Briefes war also durch die angepeilte Leserschaft nicht überprüftjar; sie wurde gezwungen, sich quasi blind dem Urteil des Vordenkers anzuschließen ... oder aber ist genau aus diesem Grund misstrauisch geworden wie etwa Thomas Steinfeld (-^ 1.1.6), der Schirrmacher vorwirft, den Journalistischen Erstschlag" erfunden zu haben. Als bestens geeignete ,Wunderwaffe' in diesem „Erstschlag" erweist sich das aus dem Zusammenhang (der in Walsers Buch tatsächlich größer zu sehen ist) gerissene Zitat: ,y4b heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen" (S. 10), ruft der erzürnte Hans Lach in Richtvmg Andre Ehrl-König und

' Vgl. Steinfeld wird so auf degoutante Weise zum Hauptverdächtigen für einen möglichen Mord am Kritiker, der in derselben Nacht von der öffentlichen Bildfläche verschwindet. Tatsächlich ist dieser Satz das dargestellte Extrem von Kontrollverlust seitens eines deutschen Intellektuellen, weil der Anklang an den Hitler-Jargon ganz bewusst forciert wird. Dennoch handelt es sich keinesfalls um eine antisemitische Entgleisung, sondern vielmehr um eine bewusste Provokation, was Martin Walser sogar noch betont, indem er das Zitat in seinem Roman mehrfach der Figur des Hans Lach nachsagen lässt, um ihr von Seiten der Medien antisemitische Tendenzen unterstellen zu lassen (S. 48, S. 144, S. 145). Dabei ist im Roman noch nicht einmal sicher, ob Hans Lach den Satz tatsächlich ausgerufen hat, Professor Silbenfuchs kann sich jedenfalls nicht daran erinnern. Lach diese Worte sagen gehört zu haben (S. 48). Der Zynismus, den Schirrmacher an den Tag legt („Welch ein Spaß, wenn man erfährt, daß diese Kriegserklärung an den Kritiker von einem Unschuldigen stammt!'') ist in seiner Schärfe auf keinen Fall vertretbar. Weiters insinuiert der Kursivdruck auch nicht, wie Fues meint, dass es sich um ein wörtliches Hitler-Zitat handelt.^ Der Kursivdruck dient vielmehr dazu, den Rang eines mediengemachten Zitats zu unterstreichen, denn bei der ersten Nennung des Satzes auf Seite 10 fehlt er noch! Schirrmacher hat auch dieses Detail übersehen, was als Beweis dafür gelten kann, dass sein rüdes polemisches Vorgehen keine angemessene Reaktion auf die Subtilität von Tod eines Kritikers ist. Blindlings errichtet er stattdessen sein Gedankengebäude, in dem für Martin Walser lediglich der Platz des Untermieters im Zimtner des Antisemitismus bleibt. Dabei übersieht der Zeitungsmann jedoch den größeren Zusammenhang der Mediensatire und reproduziert genau jene Mechanismen der Öffentlichkeit, welche sich im Buch letztendlich als verleumderische Spekulationen herausstellen. Sigrid Löffler hat richtig erkannt: „[...] Martin Walser analysiert genau jene medialen Prozesse der Ausschließung und Diffamierung, deren Opfer er [...] selbst geworden ist.''^ Steinfeld tappt nicht in die Falle des Autors, weil er den militärischen Jargon Hans Lachs nicht plump kritisiert, sondern durch seine Wiederaufnahme bei der Kritik an Schirrmachers Vorgehen (s.o.) Ironie beweist und sich auf der Höhe von Walsers Text bewegt. Ob nun das Verhalten Schirrmachers unwissentlich erfolgte, kann je nach Einschätzung seiner Kompetenz bezweifelt werden. Zumindest ist auch vorstellbar, dass durch den inszenierten Skandal auf Kosten Martin Walsers eine nachdrückliche Positionierung der FAZ im öffentlichen Antisemitismusdiskurs erreicht werden sollte und nicht zuletzt dürfte die Steigerung der Auflage ein angestrebtes Ziel des FylZ-Redakteurs gewesen sein. Dieser Aspekt wird auch von Stuart Parkes betont, der das Jahr 2002 als „annus

^ Vgl. Fues, S. 523. ^ Löffler 10 horribilis^' der deutschen Qualitätsblätter bezeichnet und vom „economic downturn'' und groß angelegten Jobstreichungen berichtet.'* Speziell die FAZ „was forced not only to cut jobs but also to abandon plans to increase its national profile by ceasing to publish its ,Berliner Seiten'.''^ In diesem Zusammenhang kommt Parkes zum Schluss: „Given the economic crisis, it does not seem totally unreasonable to assume that the media exploited to the full the Walser debate to maintain circulation.'"''^ Das Reizwort Antisemitismus dürfte fiir ein solches Vorhaben ziemlich erfolgversprechend erschienen sein, da Martin Walser sich ja bereits im Rahmen der ebenfalls breit ausdiskutierten Walser-Bubis-Debatte gegen derartige Vorwürfe zu verteidigen hatte (—>• 2.2). Dabei muss Schirrmacher klar gewesen sein, dass sein skrupelloses Vorgehen einen endgültigen Bruch mit Martin Walser bedeuten würde und insofern erscheint es gar nicht so unwahrscheinlich, hinter seinem offenen Brief als weiteres Motiv das machtbewusste Kalkül eines Interessenvertreters von Reich-Ranicki zu vermuten und den Artikel als Aufforderung an die Gefolgsleute aufzufassen, Walser ins gesellschaftliche Eck zu drängen. Der Antisemitismusvorwurf an den Schriftsteller wirkt auch deshalb ein wenig eigenartig, weil er aus der Feder eines Mannes stammt, der in seiner Laudatio auf Martin Walser im Anschluss an dessen Friedenspreisrede von 1998 noch gesagt hat: „ Will also einer geheilt werden von der Ansteckung durch die Ideologien, konsultiere er Walsers Literatur"^ Ein derartiger Wandel in Schirrmachers Einschätzung von Martin Walser ist daher auch ein ziemlich sicheres Indiz für weitere unausgesprochene persönliche Motive. Dabei erweist sich Schirrmacher zumindest als geschickter Rhetoriker. Bereits in der Einleitung baut er kurzzeitig Spannung auf, nur um sich im Folgenden von jeder Effekthascherei zu distanzieren: ,fhr neuer Roman wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis [...] Mittlerweile kenne auch ich ihn [...] Sie selbst haben uns, unspektakulär genug, die Fahnen gegeben''' Dabei unterstellt er Walser auch stillschweigend, die Zustimmung zur öffentlichen Anprangerung gegeben zu haben. Der Missbrauch des Vertrauensverhältnisses, das zwischen der Zeitung und dem Autor, dessen Werke von der FAZ bereits mehrfach vor der Erscheinung im Druck publiziert worden sind, bestanden hat, machte die Aktion fiir Walser verständlicherweise unangenehm. Zudem fühlte sich sein selbsternannter Kontrahent anscheinend so sicher in seiner Position, dass er nicht einmal offene Widersprüche scheute: Zuerst spricht Schirrmacher noch davon, dass er in der Lage sei, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden. Kurz darauf verweigert er Walser jedoch ziemlich

Vgl. „Tod eines Kritikers. Text & Context", S. 448. ^Ebd.Ebd. *Ebd.Ebd. Sonntagsrede, S. 51. 11 anmaßend die „Burgtore des Normativen''^ In dieser Handhabe der Dinge steckt tatsächlich eine Grundvoraussetzung für den Skandal verborgen, denn objektiv betrachtet stellt die Verwendung des abgeänderten Hitler-Zitates keinen Tabubruch dar, haben doch Kunst und Wissenschaft noch immer das Recht, Symbole der Nazizeit, etwa auch das Hakenkreuz, für ihre Zwecke zu verwenden, sofern diese nicht verfassungswidrig sind. Indem Schirrmacher nun dem Tod eines Kritikers seine Zugehörigkeit zum Bereich der Fiktion abspricht, versucht er, Martin Walser seines legitimen gesetzlichen Schutzes zu berauben. Dass Schirrmacher dabei eindeutig einen Akt der Willkür begangen hat, wird in Abschnitt 3.1 noch belegt werden.

1.1.2 Marius Meilers Skandalisierungen

Frankfurt scheint zur Zeit des Literaturskandals ein Auffangbecken für Walser-Gegner gewesen zu sein; denn auch die zweite dort ansässige Großzeitung hat sich der Medienattacke gegen den Autor angeschlossen. So schreibt Marius Meiler, dass „der Roman, eher die Novelle Tod eines Kritikers die Heftigkeit der Schirrmacherschen Vorwürfe voll rechtfertigt.^^^ Aufschlussreich sind die Skandaldefinitionen, die Meiler gibt: ,J)er Skandal ist, dass diesen Mordfantasien die Einfühlungsarbeit des Autors gilt.''' Dass man diesen Sachverhalt auch anders sehen kann, lässt sich am Beispiel zahlloser psychologisierender Kriminalromane zeigen, die wohl von kaum jemandem ob der darin entwickelten Auseinandersetzung mit dem Thema Mord als skandalös empfunden werden. Offenbar wurde aber im Fall von Tod eines Kritikers die Synchronisierung der Romanhandlung mit der außerliterarischen Welt als anstößig empfunden. Hier könnte man dagegen halten, dass Martin Walser immerhin fiktive Personenbezeichnungen verwendet, ganz im Unterschied etwa zum Skandalproduzenten Thomas Bernhard, dessen Namensgebungen oftmals weit weniger verschlüsselt waren (z.B. in Holzfällen). „Der Skandal ist, dass dieses eitle, unappetitliche Monstrum mit dem zotig sprechenden Namen Ehrl-König [...] verschwörungstheoretisch aufgeladen wird, als jemand, der alle Macht des Literaturbetriebs in perverser Weise auf sich konzentriert hat [...]" Wird hier etwa versucht, den Literaturbetrieb zu einem locus amoenus zu stilisieren, der gegen profane Machtinteressen immun ist? Vor dem Hintergrund dieser Denkfigur stellt es tatsächlich eine

Die Korrektur der Gattungsbezeichnung, die hier wohl als verbaler Seitenhieb verstanden werden muss, ist irrig. Der Tod eines Kritikers beginnt zwar novellentypisch mit einer besonderen Begebenheit, endet aber nicht mit der Rückkehr Ehrl-Königs. Der zusätzliche dritte Teil des Buchs gibt ihm Romanform - Vgl. Kreutzer, S. 199ff. 12

Ungeheuerlichkeit dar, eine literarische Gestalt derjenigen Person nachzubilden, welche die Integrität des Literaturbetriebs vor den femsehgierenden Augen aller so schändlich verletzt. Diese Gleichsetzung liefert Meiler anscheinend auch die nötige Rechtfertigung, den Tod eines Kritikers abermals zu skandalisieren. Es muss hier darauf hingewiesen werden, dass das für Walsers literarischen Stil typische Verfahren der Antonomasie (—» 3.1.1.1) im Kontext des Schlüsselromans zur sozialen Etikettierung wird, was natürlich als aggressive Geste aufzufassen ist, der sich Melier in Verteidigung Ranickis auch sofort entgegenstellt. Der Redakteur der Frankfurter Rundschau reitet seine Attacke gegen Walsers Roman insgesamt ziemlich vehement. Dabei bezieht er ganz klar Position für den Kritiker, was sich nicht zuletzt in der Überschrift seines Artikels widerspiegelt, die eine Umdeutung des Walser'sehen Romantitels darstellt. Die Identifikation der Wirklichkeit mit dem literarischen Konstrukt - fiihrt man sie logisch weiter - würde es aber anstandshalber erfordern, auch die Titulierung als „eitles, unappetitliches Monstrum''^ zurückzuweisen, was Meiler allerdings auslässt... „Der Skandal ist, dass nicht nur die jüdische Herkunft des Vorbilds die Folie ist, auf die solche Strukturen bezogen werden müssen [Kursivdruck des Wortes auch im Artikel], sondern auch ganz konkret im Text eine Rolle spielen.'' Wie noch näher gezeigt werden wird, ist die einzige tatsächlich wahrnehmbare Bedeutung, welche die jüdische Herkunft im Verlauf der Romanhandlung annimmt jene, zu zeigen, wie sich der Medienbetrieb auf dieses biographische Detail stürzt, welches im Zusammenhang mit dem oben zitierten an Hitler gemahnten Ausspruch vermeintlich skandalträchtig sein könnte. „Das Thema war jetzt, dass Hans Lach einen Juden getötet hatte.'' (S. 144). Erst nachdem Hans Lach sein später zurückgezogenes Geständnis gemacht hat, stürzt sich die Presse auf die Herkunftsdebatte und steigert so das Aufsehen, das rund um den Fall gemacht wird. Martin Walser musste parallel zu seiner Romanfigur Bekanntschaft mit der rufschädigenden Wirkung des Antisemitismusvorwurfs machen. Die im Buch vorhandenen Bemühungen das Thema zu entschärfen, werden dabei von Meiler entweder nicht wahrgenommen oder in geradezu perfider Weise schlichtweg übergangen. Tatsächlich heißt es nur wenige Zeilen nach obenstehendem Einleitungszitat: „Er, Rainer Heiner Henkel, werde sich allerdings nicht beteiligen an der Herkunftsdebatte. Die erinnere ihn peinlich an andere Zeiten. Egal, zur Schmähung oder zum Preis, er finde Herkunftsdebatten fies und obsolet." (ebd.). In diesen Sätzen deutet alles auf ein implizites Autorenstatement hin, mit dem man sich auf eine ernsthafte Weise auseinandersetzen sollte. Gründe dafiir, warum Marius Melier Walsers Immunisierungsstrategie nicht gelten lassen will, kann man auch in einer gekränkten Eitelkeit des F/?-Redakteurs vermuten, der da 13 schreibt: „Der Text erzwingt die Folgerung: typisch politisch korrekte und gleichzeitig skandalgeile Mediengesellschaft.'''' Skandalgeilheit will sich natürlich kein auf Seriosität bedachter Reporter vorwerfen lassen müssen. In diesem Punkt bekommt Meilers Polemik ein selbstentlarvendes Moment.

1.1.3 Gustav Seibt über die eskalationsreiche Bezietiung zwischen Ranicfii und Walser

Zwei Tage nach dem Schirrmacher'sehen Brief meldet sich die Süddeutsche Zeitung deutlich Walser-freundlicher als die FAZ zu Wort. Anstatt sogleich mit Verrissgebärden auf das neue Buch des deutschen Großschriftstellers zuzugehen, das zu diesem Zeitpunkt wie gesagt noch gar nicht veröffentlicht gewesen ist (und wohl auch der SZ nicht rechtzeitig zugänglich war), wählt Gustav Seibt bei seinem Beitrag zum Thema den Weg nach innen in die Medienarena, in der sich Walser und Ranicki bereits mehr als einmal gegenüber gestanden haben. Was Recherchearbeit und geschickte Montage ans Tageslicht befördern, ist einerseits äußerst aufschlussreich, wirft dabei aber neue Fragen auf: So hat Martin Walser schon einmal versucht den Kritiker Marcel Reich Ranicki in einem seiner Romane als Willi Andre König zu karikieren, „genannt ,Erlkönig\ weil in seinen Armen die Sprachkunstwerke sterben wie todkranke Kinder." Im Jahr 1993 hatte Walser die Fy4Z-Redakteure offensichtlich noch auf seiner Seite: Der Vorabdruck des Romans Ohne einander begann sogar - wohl in sehr provokativer Absicht - genau an Reich-Ranickis Geburtstag, erregte aber dennoch keinen größeren Anstoß. Nach Seibts Darstellung ließ sich der angegriffene Kritiker damals zu keiner persönlichen Stellungnahme hinreißen, sondern lieferte nur einen ganz allgemeinen Verriss des „plappernden'''' Walser. Abgesehen von Unterschieden in der Machtkonstellation innerhalb des deutschen Literaturbetriebs, die aus der Feme nicht zu rekonstruieren sind, muss man sich fragen, worin sich denn das Skandalpotential der beiden Walser-Romane nun bei allen Gemeinsamkeiten unterscheidet. Wie sehr diese ganz unterschiedlichen Reaktionen aus der abweichenden Struktur der zwei Texte heraus erklärbar sind, wird daher in einem späteren Abschnitt noch erörtert werden (—> 2.3.1). Ein nicht unwesentlicher Punkt soll jedoch bereits an dieser Stelle erwähnt werden: die Namensgebung. In den allermeisten Fällen liest man zuerst den Titel eines Buches, bevor man sich dessen Inhalt zuwendet. Aufgrund von Konventionen gelten Kürze und Prägnanz als die Hauptkriterien für diese Form des Paratextes, weswegen sie zumeist mit einfachen Reizwörtern gestaltet ist. Der Tod im Titel 14 liefert einen solchen Reiz, der als Leserlenkungsstrategie natürlich eine Provokation darstellt, die durch die Anspielungen auf die real existierende Person Reich-Ranickis im Verlauf der Handlung enorm aufgeblasen wird. Walser war sich dessen sicher zu jeder Zeit bewusst und wird aggressive Reaktionen auf seinen Text vermutlich vorhergesehen haben, dass er von der Art und Weise, in der diese Reaktionen tatsächlich erfolgten, überrascht wurde, ist allerdings nachvollziehbar. Das Vorgehen der Skandalmacher wird hier aus diesem Grunde noch mehrfach einen Kritikpunkt darstellen. Seibts Artikel beschreibt weiters eine ganz besonders effiziente Strategie Ranickis Walser sprachlich zu unterwerfen. „Die regelmäßig konstatierte Fallhöhe erlaubte es dem Kritiker, diesen Autor immer besonders tief fallen und besonders hart aufschlagen lassen zu können''^ Bei dieser rhetorischen Strategie gewinnt der Verriss des einzelnen Werkes an Wirkung, indem er im Kontrast zum Lob des Dichters an sich oder eines seiner anderen Werke gestellt wird. Dieses mechanische Machtinstrument Ranickis hat Walser erkannt; im Tod eines Kritikers versucht er sich daran, es auf parodistischem Weg zu einem zweischneidigen Schwert zu machen: Wenn er von „Ehrl-Königs SPRECHSTUNDEN-Eröffnung mit dem Jahr 2030, mit der Entlarvung der Mädchen ohne Zehennägel als einer drittklassigen Lach- Fälschung" (S. 98) spricht, imitiert er die Formel der Fallhöhe aufs Lustigste. Was dem Autor aber nicht so recht gelingen will, ist die Entschärfung eben dieser rhetorischen Strategie mit humoristischen Mitteln. Dafür nährt er die Verschwörungstheorie rund um den Literaturbetrieb, indem er seiner Kritikerfigur die Autorschaft obiger Eröffnung abspricht, diese „stamme noch aus RHH's [Rainer Heiner Henkels] Küche. Etwas sorgfältig Vernichtendes, das nicht ausschließlich von einem Superlativ der Hemmungslosigkeit lebte, das sei nicht Ehrl-König, sondern reiner RHIf^ (ebd.). Ranicki, sofern er sich mit der Kritikergestalt im Buch identifiziert, darf sich als bedingt einfallsreich angegriffen fühlen. Am Ende seines Artikels listet Seibt eine Reihe von Autoren (Eckhard Henscheid, Karl Heinz Bohrer und Peter Handke), die ebenfalls bereits Parodien auf Reich-Ranicki geschrieben haben, mit ihren Texten in der Öffentlichkeit allerdings keine so heftigen Reaktionen auslösten, wie das bei Walser der Fall war. Dabei wird auch Karl Heinz Bohrer zitiert, der Reich-Ranicki einmal „die Rache des polnischen Juden an den deutschen Spießern'' genannt hat. Der Kritiker-Star wurde in der Vergangenheit also bereits weit untergriffiger attackiert, als von Martin Walser. Trotzdem war es der Georg-Büchner-Preis-Träger von 1981, der des Antisemitismus verdächtigt wurde, was als Indiz für untergründige persönliche Kränkungen der am Skandal unmittelbar beteiligten Personen gelten kann. 15

1.1.4 Hubert Spiegel: Urteilsverfestigung

Martin Walser hat alles getan um seinen Roman gegen Anfechtungen abzusichern. Eine ganze literarische Verteidigungsanlage hat er rund um seine private „Mordfantasie" (Meiler) aufgebaut, um sie - für Kritiker möglichst unzugänglich - ausleben zu können: In Form einer mise en abyme doppelt er im Tod eines Kritikers wiederholt die Problematik der Identifikation des Autores mit seinem Werk und hat damit die Reaktion der Öffentlichkeit auf sein Buch weitsichtig vorausgesagt. Erzähltechnisch fiinktioniert das z.B. über ein Requisit: Mehrfach wird im Tod eines Kritikers aus dem vom Hauptverdächtigen Hans Lach geschriebenen Roman Wunsch, Verbrecher zu sein zitiert, wobei der ermittelnde Kriminalkommissar Wedekind wiederholt versucht, solche Zitate absurderweise als Beweise für die Schuld ihres Autors am Tod des Kritikers heranzuziehen. Der Erzähler geht nur scheinbar d'accord: „Um die Schuld oder Unschuld eines Schriftstellers zu beweisen, braucht man doch keine Indizien, die Bücher genügen.''^ (S. 122). Am zirkelhaften Ende des Romans steht jedoch bereits fest, dass der wortführende Michael Landolf und der zu Unrecht verdächtigte und inhaftierte Hans Lach ein und dieselbe Person sind. Sätze wie der eben zitierte werden so ad absurdum geführt und bezogen auf Skandalmacher erscheinen sie als worweggenommener Zynismus. Weiters schreibt sich Walser geistige Gefolgsleute herbei, die Hans Lachs Abneigung gegen den Kritiker teilen und so wohl als Signal in Richtung Ranicki fungieren.

• Olga Redlich: „Sie weiß, daß.Hans Lach niemanden umbringen kann. Trotzdem hat sie manchmal gehofft, er habe es getan. Er konnte es getan haben." (S. 170)

• Bernt Streiff: „Hans Lach habe es getan, er, Bernt Streiff, habe es immer nur tun wollen, immer nur daran gedacht, Tag und Nacht. Getan! Ja, in Gedanken! Echt Bernt Streiff, rumgemurkst bis zum Gehtnichtmehr, und der Lach geht hin, sticht zu, basta. Und er kommt frei. Hunderte werden bezeugen, daß die Gewalt von dem ausging, der dann das Opfer war. Hunder-te! [...]" (S. 80)

Dabei fehlt es von Seiten des Autors vielleicht ein wenig an Wertschätzung gegenüber diesen Figuren, beide sind nämlich nicht unbedingt als Entlastungszeugen zu gebrauchen. Zu allem Überfluss reproduziert Streiff sogar die Denkmuster der Lach-Gegner, indem er einen Ausschnitt aus Wunsch, Verbrecher zu sein zitiert, der seiner Meinung nach die (von ihm als heldenhaft empfundene) Täterschaft Lachs beweisen soll (S. 81). Die Textstelle ist dabei so vage, dass sie als Mordmotiv höchstens lächerlich wirkt. Die stilisierte Einfältigkeit, mit der Autor und Werk hier erneut gleichgesetzt werden, wird so dem gesamten Kulturbetrieb zugeschrieben, was die satirische Dimension des Romans zweifellos erweitert. Dabei wird 16 allerdings das Prinzip der Sippenhaftung angewendet, wodurch sich Walser seiner eben herbeigeschriebenen Gefolgsleute beraubt und im selben Atemzug den Angriff auf die Kritikergestalt verwässert, weil der von Selbstkritik begleitet wird. Die walsersche Immunisierungsstrategie ist zwar gut durchdacht, jedoch funktioniert sein mechanisches Theater nur innerästhetisch, das F^Z-Feuilleton lässt sich nämlich nur bedingt auf rationales Argumentieren ein. Vielmehr bedient sich die Medienattacke emotionaler Waffen; in Hubert Spiegels Artikel werden vielfach Moralkeulen geschwungen: „Ein Buch, das den zweiundachtzigjährigen Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki und seine Frau haßerfüllt karikiert, muß wissen, daß es mit den Stereotypen antisemitischer Klischees spielt.''^ Ganz deutlich muss hier angemerkt werden, dass hohes Alter und der Umstand eine Frau zu besitzen keine typisch jüdischen Eigenschaften darstellen, die durch eine Karikatur lächerlich gemacht werden könnten. Diese Attribute sind als Werbung des Redakteurs bei seinem Publikum aufzufassen, welche sich der Topoi von der Schwäche des Alters und der Frau bedient, um Mitgefühl zu heischen, und somit ein rein rhetorisches Element darstellt. Außerdem reicht nicht einmal der Umstand den Holocaust überlebt zu haben aus, eine Person lebenslang von ihren menschlichen Fehlem zu absolutieren, genau darauf läuft Spiegels Argumentation aber hinaus. Insgesamt gesehen wird so rund um Ranicki ein moralischer Schutzwall errichtet, der die Person des Kritikers beinahe unantastbar erscheinen lässt. Walsers resignierender Ausspruch, wonach der Kritiker unkritisierbar sei (-^ 1.1.3) wird hier nachvollziehbar. Hubert Spiegel hat den Exkurs in die Grauzonen der Antisemitismusproblematik gewagt und zitiert eine vergangene Polemik zwischen Theaterregisseur Peter Zadek und Rainer Werner Fassbinder herbei, in deren Verlauf sich Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod gegenüber Antisemitismusvorwürfen zu behaupten hatte. In einem Artikel über Walsers Buch kommt diese Montagepraxis einer Anklage gleich, weil ein Kurzschluss zwischen Fassbinder und Walser herauftieschworen wird. Spiegel belässt es aber nicht dabei, sondern betreibt rhetorisch geschickt eine Mehrfachargumentierung, die bei steigendem Bildungsgrad der Adressaten bekanntermaßen wirkungsvoller ist, als Schlagwortsalven. Dabei wird Walsers Geschichtsbewusstsein sogar gegen den Autor instrumentalisiert: Weil ,Ji4artin Walser weiß, daß die Kritik im Nationalsozialismus als jüdisch diffamiert und mundtot gemacht wurde", hätte er wohl gleich davon absehen sollen einen Kritiker mit jüdischem Hintergrund zu karikieren - auch wenn es ihm dabei um andere Dinge als die Herkunft gehen sollte. „In Walsers Sinne sind Gedanken Taten. Auch deshalb wiegt die Verwendung antisemitischer Klischees so schwer." Diese Schlussfolgerung wird erneut aus der Romanhandlung abgeleitet. 17 denn: „Um die Schuld oder Unschuld eines Schriftstellers zu beweisen, braucht man doch keine Indizien, die Bücher genügen." (S. 122, s.o.). Offenbar erfolgte das Vorgehen des Zeitungsmannes nach Schildbürgerart, indem die polizeiliche Drohgebärde „Alles was Sie schreiben, kann gegen Sie verwendet werden!" auf die literarischen Verhältnisse angewendet wurde. Und zwar mit aller Härte, denn „manifester Judenhass" ist für Sigrid Löffler „das am stärksten sanktionierte Tabu in unserer politischen Kultur. Jemanden dessen anzuklagen ist versuchter Rufmord; dessen überführt zu werden, kommt einem sozialen Todesurteil gleich.''''

1.1.5 „Der Sieg des Kritikers" wie ihn Uwe Wittstocff sati

Im Internet fühlten sich einzelne Walser-Gegner anscheinend weit besser vor den Augen einer kritischen Öffentlichkeit geschützt als in den großen Zeitungen. Auf den digitalen Seiten der Literarischen Welt wird der letzte Rest von Diskussionskultur einer einseitigen Anbiederung an Marcel Reich-Ranicki geopfert, die in ihrem beinahe pathetischen Grundtton an antike Heldenmj^hen erinnert. Dabei entsteht ein Bild von Ranicki, das nur so vor Superlativen strotzt, die sich zu einer großen Hyperbel verästeln. Stilistisch wird dabei jener Sprachduktus nachgeahmt, der Ranicki selbst in der Vergangenheit sooft zum Vorwurf gemacht worden ist, auch von Martin Walser (-^ 1.1.3). Da wird der Kritiker zum „Faktum der Literaturgeschichte''', zum „Megastar der deutschen Literaturkritik!''. Sein Werdegang wird als schicksalsbestimmt hingestellt, die Literaturkritik als Zufluchtsort und Gegenstück zum dämonischen Nationalsozialismus hochstilisiert: „[über MRR] Seine literarischen Kenntnisse waren es, die sein Selbstbewusstsein stützten, als er sich noch 1938 in Nazideutschland das Abitur ertrotzte.'' Nur wenige Zeilen später werden beinahe religiöse Dimensionen angedeutet: „Die Erinnerung an Handlungslinien großer Romane und Dramen waren es, zu denen er Zuflucht nahm, als er sich in einem polnischen Keller vor der deutschen Wehrmacht verbarg [...]" - hier wird die Literatur gar zu einer Gebetsform Ranickis hochstilisiert! Der Gipfel an versuchter Ausbeutung des Lesermitleids wird aber mit der Beschreibung der Folgewirkungen des Holocaust auf MRR erreicht: ,JVoch heute rasiert er [MRR] sich mehrfach täglich - weil manchen deutschen Soldaten bereits ein Bartschatten ausreichte, um Juden als kränklich zu betrachten und ins Gas zu schicken." Eine Anekdote, die unter anderen Umständen tatsächlich Bestürzung auslösen könnte, wird so aufdringlich als Ranicki- Immunisierung instrumentalisiert, dass echte Anteilnahme kaum mehr möglich ist. Wozu also dieses Schmierentheater? Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist eine andere Passage, wo die Rede davon ist, dass Ranicki tief geprägt sei durch die Jahre, in denen er Freiwild fiir 18 fanatische Rassisten gewesen war, auch wenn er selbst nur selten darauf zu sprechen komme. Tatsächlich war zwei Tage nach dem Schirrmacher'sehen Brief noch in keiner der in den Skandalisierungsprozess eingebundenen Zeitvmgen eine ausfuhrliche persönliche Stellungnahme Ranickis abgedruckt worden. Das war auch gar nicht notwendig, denn jeden Tag fand sich irgendein neuer Redakteur aus der „Chorknabenherde seiner Feuilletons''^ (S. 73), der bereitwillig zum Schulterschluss mit dem Kritiker antrat. Dieser konnte beruhigt und mehrfach durch seine Erfüllungsgehilfen gedeckt, noch eine Zeit lang im Schatten der Öffentlichkeit abwarten. Von Uwe Wittstock wird ihm dabei eine ganze Menge ,Honig ums Maul geschmiert'. Den karm der Kritiker wohl auch beinahe ungetrübt genießen, mag der Text auch noch so anfechtbar sein, er ist dem tendenziell noch immer als unseriös geltenden Medium Internet entnommen, von dem sich der arrivierter Kritiker im Zweifelsfall leicht distanzieren kann. Dieser Punkt gehört natürlich ins Reich der Mutmaßungen, wenn er auch einleuchtend sein mag. An anderer Stelle scheint die Ideologie hinter dem gezeichneten Ranicki-Bild dann aber auf verräterische Art und Weise durch die Lettern:

Denn natürlich zieht [...] Reich-Ranicki im Grunde jedes geschriebene literaturkritische Wort einem Dutzend in die Kamera gesprochener Sätze vor. Doch er weiß, dass er mit keiner gedruckten Rezension je einen so großen Einfluss ausüben kann wie mit einem effektvollen Auftritt im Studio.

Darin ist implizit ein Eingeständnis der geringen Qualität von Ranickis Femsehauftritten enthalten, das wahrnehmbare Ideologem hinter der Aussage kaim man daher auf die Formel „der Zweck heiligt die Mittel" bringen. Ranicki von der wissenschaftlichen Pflicht eines seriösen Kritikers entbinden zu wollen, sich für sein Tun rechtfertigen zu müssen, stellt eine peinliche Idealisierung der Kritikerunfehlbarkeit dar, sowie eine totale Unterwerfung unter die Zwänge des Femsehformats. Ein derart unkritisches Verhalten sollte für einen Publizisten eigentlich undenkbar sein.

1.1.6 Thomas Steinfeld über den publizistischen Skandal

Schon bei der Aufarbeitung des nicht gerade guten Verhältnisses zwischen Marcel Reich- Ranicki und Martin Walser zeigte sich die Süddeutsche Zeitung bemüht, ihre Auflage ohne direkte Teilnahme am inszenierten Skandal zu machen. Sie wählte den Blick von außen auf

^ Der Übertragungsvorgang aus dem Roman möge hier einmalig erlaubt sein, denn „Das ist ganz sicher: Ohne Witze zu machen, könnte ein Henker seine Arbeit nicht tun." (S. 157) 19 das Geschehen, der eher zur Verteidigung des Autors als des Kritikers geeignet schien. Mit Thomas Steinfelds Artikel wurde das Skandalwort auch in der SZ in eine Überschrift aufgenommen. Allerdings sieht Steinfeld den Skandal vor allem bei den Medien selbst. Schirrmachers Vorabvemichtung des Kritikerromans in Form eines offenen Briefs wird dabei auf das Schärfste verurteilt:

Nie zuvor hat jemand ein literarisches Werk schon vor seiner Veröffentlichung so spektakulär inkriminiert, wohl wissend, dass es Tage dauern muss, bis andere Rezensenten dieses Urteil überprüfen können - und Monate, bis die Leser jenseits der Branche ebenfalls dazu in der Lage sind.

Auf jeden Fall wurde ein publizistisches Forum genutzt, um Macht über eine Person mit beschränkterem Zugang zur Zeitungsöffentlichkeit auszuüben. Steinfeld bemerkt, dass der Schirrmacher'sehe Text die Evidenz des von ihm gefällten Urteils unterstelle. Suggeriert werde, dass sich demzufolge jeder Leser der Meinung des Anklägers anschließen müsse. Die Reaktionen auf den Text fielen freilich vielschichtiger aus: Der SZ-Redakteur listet mit Sigrid Löffler, Joachim Kaiser und Ruth Klüger drei namhafte Personen der deutschen Literaturkritik auf, die den Tod eines Kritikers nicht als antisemitischen Text verstanden haben. Trotzdem konstruierten die Walser-Gegner immer wieder ein antisemitisches Moment in ihren Rezensionen. Eine weitere Betrachtung der Argumentation Steinfelds verweist auf die möglichen Motive für ein solches Vorgehen: Einerseits wiege „der Vorwurf des Antisemitismus [...] offenbar so schwer, dass jedes Mittel zu seiner Ahndung bedenkenlos genutzt werden können soir\ andererseits ist „der Antisemitismus [...] an die Stelle gerückt, in [sie] der im älteren politischen Diskurs der Hochverrat und im älteren moralischen Diskurs das Obszöne stand.'' Es handelt sich also um ein höchst sensibles Thema, bei dem man sich nur allzu leicht in unlösbare moralische Diskussionen verstrickt. Genau deswegen ist die Polemik rund um den kolportierten Antisemitismus in Walsers Text bestens geeignet, von Schirrmachers unseriöser Medienattacke abzulenken. Wie gesagt gibt es Stellen in Tod eines Kritikers, die als Reizwörter in den Text geflochten sind, welche eine Antisemitismus- Debatte herausfordern, dabei vor allem aber als Köder für eine zu entlarvende Medienmaschinerie dienen; dazu später mehr. Dieses polemische Verfahren ist durchaus hinterfragbar, allerdings sollten sich seriöse Kritiker niemals so blindlings auf die hingeworfenen Textbrocken stürzen, wie es der F.,4Z-Redakteur getan hat. Schirrmachers Position als Chefredakteur hatte aber offenbar genug Machtpotential, um einen Versuch sich über die Entlarvungsmechanismen des Romans zu stellen realisierbar erscheinen zu lassen: Einerseits handelt er so zwar nach dem Diktat des Autors, andererseits kann er den kritisierten 20

Text als perfekte Camouflage nutzen, um seinen Skandal zu machen, wobei er als skrupelloser Regisseur der Antisemitismusdebatte auftritt. Unter Berücksichtigung der bisher behandelten Zeitungsartikel kann über seine Motive zwar weiterhin nur spekuliert werden, aber selbst eine Verschwörung des deutschen Kulturbetriebs, in deren Machtzentrum sich Reich-Ranicki befindet, ist in den Bereich des Möglichen zu rücken. Den spekulativen Beigeschmack einer solchen Denkweise durch wissenschaftlich fiindierte Aussagen zu ersetzen, wird somit zu einem erklärten Ziel dieser Diplomarbeit. Dabei soll nicht die von Thomas Steinfeld geforderte Korrektur der Asymmetrie des Legitimationsdrucks vorrangig sein, sondern eine kritische Beurteilung der literarischen Sachlage.

1.1.7 Marius Meiler zum intellektuellen Zentrum Suhrkamp-Verlag

Das Skandalpotential eines Schlüsselromans liegt in dessen Entschlüsselung verborgen, so Löffler. Anspielungen auf reale Personen werden wohl auch deshalb von den Betroffenen so ungern gesehen, weil der Autor ihnen in seinem fiktionalen Kosmos praktisch jede unerwünschte, unwahre oder ungeliebte Eigenschaft andichten kann, ohne dabei ehrlich sein zu müssen. Diese Technik spielt natürlich mit dem Glauben vieler Leser an den Aufdeckungscharakter solcher Texte und der Angst der Betroffenen vor eben jenem Vertrauen in den Autor. Im Tod eines Kritikers verwendet Walser nun diese Technik der Bezugnahme und erweitert sie noch um die Antonomasie, wodurch den einzelnen Figuren unmittelbar eine Charakterisierung aufgezwiongen wird, was zusätzlich angriffslustig wirkt. Im Folgenden finden sich einige Anmerkungen zur Namensgebung der Hauptfiguren: Die Bildung Andre Ehrl-König legt Deutungen in Richtung Marcel Reich-Ranicki natürlich nahe. Der französische Vorname sowie der doppelte Familienname parallelisieren augenscheinlich den real existierenden Kritiker. Zugleich ist die Bezeichnung Ehrl-König eine Anspielung auf das berühmte Goethe-Gedicht Erlkönig, wobei diese Namensgebung Ranickis bekannte Vorliebe flir Goethe konnotiert - oder aber auch als Ausdruck der Furcht vor dem Kritiker gelesen werden kann, einer Furcht vor demjenigen Literaturkritiker, der in Walsers Roman mit Sätzen wie, „Von Musik verstehen Sie nichts" (S. 74), Punkte im Kampf gegen Schriftsteller sammelt (^ 3.1.1.1). Der vermeintliche Mörder Hans Lach, der sich geständig zeigt, obwohl er unschuldig ist, trägt wohl einen Nachnamen, der auf seine ironische Geisteshaltung hindeutet. Femer kann diese auch auf sein Pseudonym, den Erzähler Michael Landolf, übertragen werden imd davon ausgehend auf eine nicht ganz ernst gemeinte 21

Erzählhaltung des Autors geschlossen werden. Die stabenden Nachnamen sind dabei wohl als sprachlicher Hinweise auf die gemeinsame Identität der beiden Figuren zu verstehen. Der Suhrkamp-Patriarch Siegfried Unseld wurde in Ludwig Pilgrim (Nachname dt. ,Pilger'), im Roman Leiter des PILGRIM-Verlags, erkannt. Wie das außerliterarische Vorbild ist auch die Romanfigur mit einer Schriftstellerin verheiratet, wobei die Ad-hoc-Assoziation zu Julia Pelz zwar das Tragen exklusiver Tierfellbekleidung ist, ironischerweise aber nichts mit dem knappen Schwarz zu tun hat, in das sich die ,Satumistin' zumeist kleidet. Ob sich Unselds Gattin Ulla Berkewicz durch eine dieser Attributzuschreibungen geschmeichelt gefiihlt hat, muss allerdings dahingestellt bleiben. An ihrem Beispiel lässt sich aber illustrieren, wie Martin Walser mit den Realitätsebenen spielt. Über Julia Pelz: „Sie weist [...] bei jedem Gespräch daraufhin, daß ihre Lyrikbände nicht bei ihrem Mann erschienen sind, sondern bei Suhrkamp." (S. 32). Tatsächlich veröffentlichte Berkewicz im Verlag ihres Mannes, hier verwendet Walser also offenbar ein Versatzstück aus der wirklichen Welt. Zugleich ist der PILGRIM-Verlag natürlich Suhrkamp nachgezeichnet, wodurch die Erwähnung des real existierenden Verlags im Buch zu einer Betonung der Fiktionalität wird. Nun ist der Suhrkamp-Bezug nicht ganz unwichtig, richtete sich die verdichtete Aufmerksamkeit des Walser-Skandals doch auch auf seinen Verleger. Denn: Suhrkamp gilt als Verlagshaus mit Tradition, wo nach wie vor Bücher von vielen namhaften Autoren verlegt werden (Martin Walser hat mittlerweile zum Rowohlt-Verlag gewechselt). Ob allerdings auch der Tod eines Kritikers veröffentlicht werden würde, war lange Zeit unklar, ging es doch, wie Marius Melier in der FR erläutert, nicht zuletzt darum „die ungeschriebene Präambel der Verlagsverfassung zu verteidigen, die da lautet, es dürfe nie ein antisemitisches Buch im Hause Suhrkamp erscheinen.^'' Der Antisemitismus-Vorwurf wird vor diesem Hintergnmd als eine für Walser verlagsexistenzbedrohende Waffe kermtlich. Dabei hatte der Schriftsteller das zusätzliche Pech, dass seine fiktive Welt vom realen Geschehen eingeholt worden ist: Sein Ludwig Pilgrim stirbt in Folge einer schweren Krankheit, welche zum Zeitpunkt der öffentlichen Diskussion mit einer „realen, ernsten Erkrankung des Suhrkamp Patriarchen zusammenfällt, die ihm ein Eingreifen in der Causa Walser unmöglich macht." Für Meiler ist dies „ein trauriger Zufall", der fiir den damaligen Verlagsleiter Günter Berg die „erste große Bewährungsprobe" darstellt. Für die Walser-Gegner ist das natürlich der perfekte Zeitpunkt, um einen Versuch zu starten, den ungeliebten Autor aus dem angeschlagenen Verlag zu drängen. Genau an dieser Art der Machtausübung - man entschuldige den Vorgriff - wird sich Marcel Reich-Ranicki nämlich am 6.6. versuchen, als er in der F.^Z erklärt: „[...] jeder

' Nur Monate später stirbt Unseld am 26.10.2002 22 soll lesen können, was Walser geschrieben hat und wie er es geschrieben hat. Ich bin aber entschieden dagegen, daß es im Suhrkamp Verlag erscheint.'' Der Skandal wird dabei als oberflächliches Symptom einer Verfallsgeschichte im Suhrkamp Verlag kenntlich.

1.1.8 Joachim Kaisers Walser-Apologie

Abermals ist es die Süddeutsche Zeitung, die sich auf die Seite Walsers schlägt. Joachim Kaiser ist dabei mindestens genauso Rhetoriker wie die F.^Z-Redakteure. Eingangs spricht er von den Kontrahenten Walser und Ranicki als seinen „Duz-Freund[en]" und lobt beide für ihr „Talent zu raumgreifender Tirade". Kaisers Artikel leistet einen versöhnlichen Beitrag in der Debatte, weil er abschnittsweise die persönlichen Standpunkte beiseite lässt und sich auf die Metaebene einer Medienkritik begibt. ,J)ie schrecklich vergrößernde und vergröbernde Funktion des Fernsehens, seine Autoren-Glück wie Verderben bewirkende öffentliche Macht [...]", schreibt Kaiser und bezieht sich dabei auf das Format Literarisches Quartett. Die Darstellung legt nahe, dass erst die Fernsehsendung den Rahmen für eine auf Rache sinnende Rezeption der Person Ranicki liefert. Dieser erste von drei Abschnitten des Artikels versucht somit eine gewisse Diskurshöhe einzuführen, die den zwischenmenschlichen Skandal der Betrachtung aus der Vogelperspektive zugänglich machen soll. Dann ist Schirrmacher an der Reihe. Dessen offener Brief konditioniere seine Leser zu unaustilgbarer selektiver Wahrnehmung. Der Konter des F^Z-Redakteurs auf den in der SZ laut gewordenen Vorwurf mit dem Verfahren der Vorabkritik Anstandsregeln der Presse verletzt zu haben, wird als vorgeschobener „moralischer Notstand' ausgewiesen. Diese Vorgehensweise lässt Kaiser nicht gelten und entlarvt sie als typologisch-bekannte Machtstrategie. „Auf diese Weise reagieren Herrschende oft. Falls sie zu befinden glauben, jemand habe die Regeln verletzt, ermächtigen sie sich, auch zu verletzen [...] Klingt nach Selbst-Justiz." Solche Feststellungen werfen natürlich ein schlechtes Licht auf die seriöse Seite der FAZ und so erscheint es logisch, dass der nächste wortmächtige Artikel zur Debatte nicht mehr von einem Redakteur der Kulturabteilung kommt, sondern die in Druck genommene, redigierte Fassung einer Femsehrede von Marcel Reich-Ranicki persönlich ist (^ 1.1.9). Im letzten Abschnitt seines Artikels spricht Kaiser Martin Walser ganz klar von allen Antisemitismus-Vorwürfen frei. Der unlautere Umgang der im Gefolge der FAZ befindlichen Presse mit diesem heiklen Thema stellt sich als Hauptkritikpunkt Kaisers dar. Um dieser Diskussion einen möglichst haltbaren Riegel vorzuschieben, klagt er sogar Walser effektvoll 23 an, während er ihn eigentlich gegen die schlimmste aller Anschuldigungen verteidigt. Nicht Antisemitismus sei Walsers Antrieb gewesen, „höchstens wilde{r\, vielleicht sogar mordlustige[r\ Hass." Ironischerweise verwendet er damit die gleiche doppelbödige Affirmationstechnik wie sie Rainer Heiner Henkel in Walsers Buch an den Tag legt, um seine Komplizenschaft mit Ehrl-König auf einen vermeintlich fragilen Untergrund zu stellen. „Alles, was er vortrug, wurde durch die Art, in der er es vortrug, sozusagen beschädigt, aber eben dadurch glaubhaft." (S. 105f). Die Walser unterstellte Mordlust ordnet der Autor selbst unter Verwendung des mehrfach vorgetragenen Satzes, „Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." (S. 87), ins Reich der Literaturtheorie ein. Dort ist sie kritisch hinterfragbar und kann so entschärft werden: ,f)er Satz ist richtig, kann ich sagen, als Satz in der Kunstwelt. In Wirklichkeit, unanwendbar." (ebd.). Was Walser an Kaisers Verteidigung mit besonderer Genugtuung wahrgenommen haben dürfte, ist weiters dessen Umdeutung der Fallhöhen-Formel {-^ 1.1.3). Der SZ-Redakteur schreibt sich zuerst einen Walser-kritischen Hintergrund herbei, „Walsers letzte Sachen waren mir ohnehin manchmal etwas maßlos vorgekommen", vor dessen Hintergrund das griffbereite Lob für Tod eines Kritikers gleich doppelt wirksam daherkommt. Rhetorik alleine gilt eben nicht als unlauteres Verfahren.

1.1.9 Die Enttäuschung des Marcel Reich-Ranicki: „Walsers Buch hat mich tief getroffen"

Acht Tage hat es gedauert, bis Marcel Reich-Ranicki das Forum der FAZ nutzt, um dort mit seinem ersten langen Artikel den von der Zeitung losgetretenen Skandal aktiv mitzugestalten. Der Zeitpunkt war sicherlich gut gewählt, suggeriert er doch einen gewissen Abstand zur ganzen Debatte. Dementsprechend fallt auch Ranickis Eröffnung aus, „ich würde gern über ein anderes Thema reden, aber mir bleibt nichts anderes übrig", beteuert er da. In weiterer Folge erinnert er an Walsers umstrittene Rede im Jahr 1998 anlässlich zu dessen Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels und weist darauf hin, dass er Walser damals vor allen Antisemitismus-Vorwürfen in Schutz genommen hat. Mit erhobenem sprachlichem Zeigefinger deutet der Kritiker aber darauf hin, dass die Rede seiner Meinung nach „missverständliche Formulierungen" enthalten habe." Diese unterschwellige Beschuldigung mündet in der Klimax einer offenen Verurteilung Martin Walsers: „Der

" Vgl. Walser-Bubis-Debatte, S. 324. 24

Verdacht, seine damalige Rede sei insgeheim antisemitisch gewesen, ist durch seinen neuen, schon von vielen gelesenen, aber eigentlich noch nicht veröffentlichten Roman leider bestätigt worden." Zwei Dinge sind an diesem Vorgehen bemerkenswert: die anspruchsvolle rhetorische Gestaltung und die Schärfe des Angriffs, der auch eine nachträgliche Verurteilung der Friedenspreisrede beinhaltet. Beide Punkte unterstreichen, dass Reich-Ranicki bei seiner Wortwahl sehr überlegt vorgegangen ist. Die Zurücknahme der Verteidigung in der Diskussion rund um Walsers Friedenspreisrede kann darüber hinaus als endgültiger Schlussstrich unter der persönlichen Beziehung zwischen Ranicki und Walser angesehen werden. Ein Grund dafür, wird genannt: „Die Mordphantasien in diesem Roman im Zusammenhang mit der Person des jüdischen Kritikers haben meine Frau und mich tief getroffen.''^ Ein Urteil über den tatsächlichen Wahrheitsgehalt dieser Klage kann hier natürlich nicht gefällt werden, der sprachliche Aufbau folgt jedoch erneut bekannten Mustern: Die herbeigeschriebene Komplizenschaft etwa, die Technik des Miteinbeziehens anderer Personen - im vorliegenden Fall der Ehefrau - in die eigene Argumentation, darf an dieser Stelle bereits als bekannt vorausgesetzt werden. Analog zu Hubert Spiegels rhetorischem Vorgehen handelt Ranicki, wenn er Mitleid suchend berichtet: „Wir sind in unserem langen Leben, wir sind jetzt zweiundachtzig Jahre alt, mit der Absicht, uns zu ermorden, hinreichend konfrontiert worden.''^ Hier zeigt sich Marcel Reich-Ranicki als geschickter Lobbyist, der an das Mitgefühl seiner Leser appelliert. Gleichzeitig greift er nicht nur Martin Walser und dessen Buch an, sondern zieht auch die Glaubwürdigkeit seiner Mitstreiter in Frage, was einem zur Entwaffnung gedachten Rundumschlag gleichkonimt. Bei den drei in dieser Arbeit kommentierten Artikeln der SZ sei ihm „nicht wohr. Ohne anklagen zu wollen [!] fiihrt er an, dass alle drei Redakteure unlängst noch im Feuilleton der FAZ beschäftigt waren und zwar als Untergebene von Frank Schirrmacher, welchen sie im Streit verlassen hätten. Den Hauptkritikpunkt an der Polemik gegen Walser bildet dabei die sprachliche hiszenierung, die immer wieder antisemitische Tendenzen in Walsers Roman unterstellt. Dieses Verhaltens wiegt deshalb so schwer, weil es zur „moralischen Achtung''^ (Löffler) Walsers auffordert und bei seiner Argumentation - dort wo sie tatsächlich wirksam wird - unterschwellig ad personam verfahrt. Einer Lesart wie sie Sigrid Löffler vorgeschlagen hat, jene als „Dokument der gekränkten, aber umso besesseneren Hassliebe eines Autors zu seinem lebenslangen Leibkritiker und Intimfeind"' verweigerten sich die Gegner Walsers offenbar. Für diese Lesart würde auch das Nebeneinander von ehrlicher Kritik (auch wenn sie beleidigend aufgefasst werden kann) und purer Boshaftigkeit im Tod eines Kritikers sprechen. Entsprechende Stellen sind beispielsweise: 25

• Julia Pelz: „Was ihm nicht gefiel, war schlecht. Und dafiir hat ihn die Chorknabenherde seiner Feuilletons verhimmelt. Seit dem muß man nichts mehr beweisen, nur noch sagen schlecht oder gut. Das hat er geschafft. [...] Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht, sagte sie. Die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral. Was mich nicht unterhält, ist schlecht.^^ (S. 73)

• Lucie B., Ehrl-Königs Lektorin: ,.4ber jetzt verlangt er, daß sie jedes Mal auch seine fi-üheren Bücher andauernd lobe. Das gehe zu weit. Sie weiß, daß seine Mutter ihn abgelehnt hat, weil er klein und häßlich war. Dafiir will er jetzt von jedem andauernd entschädigt werden.'''^ (S. 72)

Ohne die ,^ntisemitismus-Brille^' (Löffler) und als Zeugnisse einer nicht erwiderten Schriftstellerliebe gelesen, verschwindet der Skandal ziemlich rasch. Alsbald wird auch Löfflers Aussage verständlich, wonach Walser das anrüchige Genre des Schlüsselromans nicht beherrsche. Walsers Roman ist eben nicht bloß Abrechnung, sondern zugleich auch ein bewusst in Kauf genommener Verstoß gegen die Gruppenregeln im Literaturbetrieb. Er kann auch als Provokation gelesen werden, hinter der die kindliche Frage stehen mag: „Liebt ihr mich trotzdem?" Dieser Möglichkeit der Interpretation verweigerten sich die Walser-Kritiker jedoch und nutzten stattdessen medial verstärkte gruppendynamische Effekte, um den Schriftsteller anzugreifen. 26

2 Martin Walser und die Öffentlichkeit: Biographische Ursprünge des Antisemtismusverdachts

Der Schriftsteller Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Er macht 1946 das Abitur, studiert in Regensburg und Tübingen Literatur, Geschichte und Philosophie und promoviert 1951 bei Friedrich Beißner mit einer Dissertation über {Beschreibung einer Form). Noch während des Studiums heiratet er Katharina Neuner-Jehle, mit der er die Töchter Franziska Walser, Alissa Walser, Johanna Walser und Theresia Walser hat. In mehreren seiner Romane spielen Vater-Tochter- Beziehungen eine große Rolle, was auf ihren mitunter recht hohen autobiographischen Gehalt hinweist. Ab dem Jahr 1953 wird er regelmäßig zu den Tagimgen der Gruppe 47 eingeladen, wobei er 1955 für die Erzählung Templones Ende auch den Preis der Gruppe erhält. Unter den Auszeichnungen Walsers finden sich außerdem so renommierte Preise wie der Gerhart- Hauptmann-Preis (1962), der Georg-Büchner-Preis (1981), der Friedenspreis des deutschen Buchhandels (1998) und der Alemannische Literaturpreis (2002). Politisch wurde Walser immer links gesehen, galt in den siebziger Jahren sogar als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Es bleibt festzuhalten, dass Martin Walser sich nie politisch vereinnahmen hat lassen und sich stets seine intellektuelle Unabhängigkeit bewahrt hat, wodurch er allerdings immer wieder Kritiker gegen sich aufgebracht hat. Da ein häufig wiederkehrendes Thema seiner öffentlichen Überlegungen die Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war, fand sich Walser oft genug als Teilnehmer in tagespolitischen Debatten wieder. Da es sich hierbei um einen ziemlich diffizilen und komplexen Sachverhalt handelt, ist das folgende Kapitel der Diskussion rund um Martin Walsers öffentliche Auftritte im Zusammenhang mit der Deutschlandfrage und einem möglicherweise damit in Verbindung stehendem Antisemitismus gewidmet.

2.1 Die Verteidigung des nationalen Selbstbewusstseins

Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich Martin Walser so intensiv mit der Deutschlandfrage im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg befasst hat, denn dem Großschriftsteller ging es dabei immer auch um die Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Vergangenheit und den 27

Erlebnissen seiner Kindheit. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er im Alter von 18 Jahren als Flakhelfer und Martin Walser gehört somit der letzten Generation an, die kämpfend am Krieg teilgenommen hat. Insofern ist er auch Repräsentant der schuldbeladenen Zeit des NS-Regimes und seine Beschäftigung mit dieser Epoche kann als exemplarisches Ringen gesehen werden, ein von der deutschen Kollektivschuld belastetes Leben nach den barbarischen Ereignissen des Holocaust auf menschliche Art und Weise fortzufuhren. In seiner Position als führender Intellektueller hat er sich der schwierigen Aufgabe angenommen, bei der Arbeit an einer angemessenen Form des Erinnems an die Nazi verbrechen mitzuwirken, wobei er wiederholt seinen subjektiven Zugang zu diesem Problem betont hat. Im Lauf der Jahre hat Walser immer wieder seine Stimme in den öffentlichen Diskurs eingebracht, mitunter ohne Rücksicht auf den herrschenden Konsens, wodurch er mehrmals Kritik von linker Seite einstecken musste. Dies betrifft ganz besonders Walsers Umgang mit der deutschen Identität. Trotz den von Nazis begangenen Verbrechen gegen die Menschheit und insbesondere gegen Juden, wollte sich Walser seine Idee einer deutschen Nation nicht verbieten lassen, was er mitunter auch ziemlich direkt zum Ausdruck gebracht hat. So hat er am 25. September 1986 dem Schriftsteller Jochen Kelter in einem Gespräch, das im Südwestfunk übertragen wurde, entgegnet: ,Jch sage, das historisch Nationale ist mir wesentlich, und Sie sagen, das bedeutet für Sie nichts.'" Die emotionale Plattheit solcher Phrasen eines rhetorischen Schlagabtausches darf allerdings nicht über den sehr differenzierten Zugang Martin Walsers zu dieser über lange Jahre hochbrisanten Frage hinwegtäuschen. Im Anschluss an den Nazionalsozialismus schien es lange Zeit unmöglich, nationales Selbstbewusstsein zu artikulieren, ohne gleichzeitig in den Verdacht der Wiederbetätigung oder zumindest des Antisemitismus zu geraten. Es waren die Überlebenden des Holocausts, die immer auf seiner Unvergebbarkeit bestanden haben und an diesem Punkt hat auch Walser nie gerüttelt. In seinen essayistischen Betrachtungen war der Schriftsteller oftmals bemüht, sich auf die Seite der Opfer zu stellen, wobei er mit der Genauigkeit des Literaten verfahren ist, wenn er etwa den medialen Vergleich zwischen Holocaust und Dante'schem Infemo nicht gelten lassen will: „Die Menschen in Auschwitz wären grauenhaft überfragt gewesen, wenn sie einem durchwandelnden Dante hätten die Sünden aufsagen sollen, um derentwillen sie da gequält wurden.""^^ Wenn sich Walser doch einmal mit den Tätern beschäftigt, so berichtet er schon einmal davon, wie wichtig für diese Menschen eine Erklärung ihrer Taten sei.''' In derart vorgetragenen Anekdoten spiegelt sich die beinahe

'^ „Deutschländer oder Brauchen wir eine Nation? ", S. 272. '' „Unser Auschwitz", S. 189. '" Vgl. „Auschwitz und kein Ende", S. 228. 28 groteske Unfassbarkeit der Auschwitz-Erfahrungen, die im Nachhinein nicht einmal von darin involvierten Menschen ohne weiteres verstanden werden körmen. Zugleich enthält dieser Satz auch die für Martin Walser typische Reduzierung von geschichtlichen Ereignissen auf die Perspektive persönlicher Schicksale. Dass diese Vorgehensweise eine bewusste Wahl des am Bodensee lebenden Dichters darstellt ist nicht zuletzt deshalb unbestreitbar, da Walser selbst Auskunft über seine Methode gegeben hat, die am Historismus orientiert ist. Weil er es vermeiden möchte, in seinen Darstellungen der Vergangenheit bloß die gegenwärtig vorherrschende Meinung zu bestätigen, versucht er sich immer wieder an der möglichst urteilsfreien Rückschau in die Vergangenheit.'^ Dieser Versuch einer ideologisch möglichst unbelasteten Betrachtung der Vergangenheit, der seinen literarischen Niederschlag vor allem im autobiographisch gefärbten Roman Ein springender Brunnen gefunden hat, ist charakteristisch für Walsers ständiges Ringen um intellektuelle Unabhängigkeit. In ihr ist außerdem die Voraussetzung dafür zu suchen, dass Martin Walser sich dem Thema Auschwitz, das in diesem Zusammenhang immer als Symbol für die Naziverbrechen dient, von einer abstrakten, vermeintlich objektiveren und von moralischen Überlegungen unbelasteten Seite her nähern kormte, deim an Auschwitz hat Walser selbst nicht mitgearbeitet, weswegen er Unschuld für sich reklamiert: „Ich verspüre meinen Anteil an Auschwitz nicht, das ist ganz sicher. Also dort, wo das Schamgefühl sich regen, wo Gewissen sich melden müßte, bin ich nicht betrojfen."^^ Diese Aussage ist trotz all ihrer Direktheit kein Zeugnis eines Geschichtsrevisionismus, sondern Ausdruck einer extrem zur Schau gestellten Subjektivität Walsers. Ein Schriftsteller seines Formats weiß natürlich um die Gefahr des Missverständnisses solcher Aussagen; an anderer Stelle versucht er deshalb mit Nachdruck, seinen Standpunkt darzulegen. „Ich möchte immer lieber wegschauen von diesen Bildern. Ich muß mich zwingen hinzuschauen. [...] Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, daß ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue.^'^ Die zwei Essays Unser Auschwitz und Auschwitz und kein Ende, welche ihre Auseinandersetzung mit der wohl grausamsten Manifestation des Nazionalsozialismus im Titel tragen, sind persönliche Versuche sich von einer als belastend empfundenen Vergangenheit zu befi-eien, so weit es das immer wieder erforschte Gewissen zulässt. Eine psychologisierende Deutungsmöglichkeit dieses Verhaltens, die hier vorgeschlagen werden soll, ist jene als in Textform ausgetragener Generationenkonflikt, im Zuge dessen sich Martin Walser sich seine romantisierten Kindheitserinnerungen zurückerobern möchte, indem er implizit Anklage gegen seine Eltern

'^ Vgi. „Über Deutschland reden", S. 407. '* „Unser Auschwitz", S. 198. " „Auschwitz und kein Ende", S. 234. 29 erhebt, ihn in eine solch schreckliche Zeit wie die des Dritten Reiches hineingeboren zu haben. Die große Schwierigkeit in der kritischen Bewertvmg von Walsers Äußerungen zur NS-Vergangenheit und seinem mehrfach vorgetragenem Wunsch nach nationalem Selbstbewusstsein ist die Berücksichtigung dieses poetischen Moments, das etwa auch im Romantitel Die Verteidigung der Kindheit einen literarischen Ausdruck gefunden hat. Beim Lesen der beiden Auschwitz-Essays von Martin Walser fällt auf, dass das Thema einerseits auf einer ziemlich abstrakten Ebene ausverhandelt wird, andererseits immer das Einzelschicksal von Opfer, Täter oder Essayist als archimedischer Punkt angenommen wird. Trotzdem geht es in diesen beiden Texte nicht in concreto um die Darstellung von Einzelschicksalen; Walser bleibt also in dieser Beziehung unpersönlich. Hier einen möglichen Antisemitismus zu suchen wäre allerdings grundfalsch. Entscheidend ist der Standpunkt des Schreibers: Martin Walser nähert sich der Problematik aus seiner ganz klar akzentuierten Ego-Perspektive des deutschen Staatsbürgers, der die Schuld der Nazis anerkennt, sich selbst aber nicht davon betroffen wähnt. Mitleidsbekundungen mit den jüdischen Opfern sind dabei nicht unbedingt das Thema, Martin Walser blickt in die Zukunft und macht schon intellektuell Stimmung fur ein neues Deutschland. Aber Martin Walser ist auch der Autor des Textes Das Prinzip Genauigkeit, wo er seine intensive Lektüre der Tagebücher des Juden Victor Klemperers wiedergibt und mit viel Sympathie dessen Zerrissenheit während des Zweiten Weltkriegs schildert. Dazu der Autor:

Ich kenne keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur faßbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut. [...] alles, was ich bisher an Zeugnis oder Beschreibung der NS-Diktatur kennengelernt habe, ist mir weniger eindringlich vorgekommen als die Aufzeichnungen Victor Klemperers. Nirgends sonst habe ich den Verbrechersatus der damaligen Machthaber und Funktionäre so erleben und erkennen können wie in diesen Tagebüchern.

In seiner Auseinandersetzung mit der Biographie Klemperers kann man nicht nur einen sehr persönlichen Zugang Walsers zum Thema Judentum nachlesen, sondern auch ein intellektuelles Programm ausfindig machen, das Aufmerksamkeit verdient: in seiner Darstellimg Klemperers betont Walser zwar einerseits die Zerrissenheit des Professors zwischen seiner jüdischen Identität und seinem deutschen Nationalgefühl, hebt aber immer wieder Klemperers Nationalismus und Eigenschaften als typischer Deutscher hervor, wobei er zur Unterstreichung dieser Meinung das Urteil zitiert, das ein Benedetto Croce über Klemperer hatte.'' Der durch die geschichtlichen Ereignisse herbeigeflihrte schizophrene

'^ „Das Prinzip Genauigi

Zustand hat Klemperer gar einmal zu dem Ausspruch geführt: „Die Nazis sind undeutscK\ Die Leistung, die Walser durch das Zitieren solcher Aussprüche vollbringt, ist jene, dass er eine Möglichkeit aufzeigt, Deutschland als Nation getrennt von der nazionalsozialistischen Ideologie zu denken. Mehr noch: Walser hat sich an einer idealisierenden Konstruktion einer deutschen Nation versucht, in der für die Nazis kein Platz mehr ist. Dabei hat er schon sehr früh eine Pluralisierung des Geschichtsnarrativs befördert, welche erst Jahre später unter dem Etikett der kosmopolitischen Erinnerung einen dauerhaften Einzug in die historischen Debatten gefiinden hat. Die Theoretiker gehen dabei vom vermeintlichen Paradox aus, dass die Erinnerung an die Nation und ihr Reservoir an Chauvinismen zur Überwindung dieser politischen Organisationsform unbedingt notwendig ist.^' Genau an dieser Form der Erinnerung versucht sich Martin Walser wobei er diesbezüglich sogar als intellektueller Vorreiter gelten kann. Die Beschäftigung Walsers mit dem Konflikt zwischen gelebtem Judentum und der Bildung einer deutschen Nation ist ein rekurrentes Thema in seinen Überlegungen, wobei Martin Walser bereits gezeigt hat, dass er dabei vom Nationalsozialismus abstrahieren kann und seine Auseinandersetzungen auf einer breiter gedachten historischen Ebene anzulegen imstande ist: Eine seiner Liebeserklärungen hat Martin Walser schließlich der Paradegestalt des von unerwiderter Vaterlandsliebe gepeinigten Juden, Heinrich Heine, gewddmet, der die Zerrissenheit Klemperers vorweg genommen hat.^^ In seiner Heine-Deutung steht Walser schließlich ganz klar auf der Seite des Dichters, wohl nicht zuletzt deshalb, weil es ihm seine Standesehre als Schriftsteller so gebietet. Man darf weiters vermuten, dass Walser in Heine eine Identifikationsfigur und ein Vorbild gesehen hat oder wenigstens dessen geistige Komplizenschaft fiir sich beansprucht, denn seine ,Liebeserklärung' an Heine erfolgte in Form einer nachträglichen Aufnahme in den gleichnamigen Sammelband, dessen Titel bereits eine sehr hohe Wertschätzung zum Ausdruck bringt. Erneut wird damit deutlich, dass es zur Interpretation von Walsers Aussagen nötig ist, seine poetischen Gedanken und sein über die Jahre herbeigeschriebenes Rollenbild zu berücksichtigen, was der Georg-Büchner-Preisträger von 1981 im Übrigen auch von seinen Kritikern verlangt. Das für einen solchen Auftritt nötige dichterische Selbstbevmsstsein hat der deutsche Großschriftsteller wohl beim großen Goethe gefunden, dessen Credo „Wer mich nicht liebt, der darf mich auch nicht beurteilen''''

^^ Ebd. S. 579. ^' Vgl. „Erinnerung und Vergebung in der Zweiten Moderne", S. 464f. ^^ Vgl. „Heines Tränen". 31

Walser mehrfach in seinen Texten aufgegriffen hat und sicherlich auch für sich reklamieren möchte.'^'' Heinrich Heine ist nun deshalb ein gutes Beispiel sich an der Darstellung einer möglichen Vereinbarkeit von Judentum und Nationalbegriff zu versuchen, weil er Dichter war, was zumindest nach der damaligen romantischen Auffassung eine Antithese zur Heimatlosigkeit des Judentums darstellte, wie Walser richtig erkannt hat: „Dichter sind auf das Nationale strenger angewiesen als etwa Soldaten oder Generäle. Das Nationale ist das Element des Dichters."^'^ Im gleichen Essay zitiert Walser Heine, der eirmial gesagt hat: „ [...] ich weiß nur zu gut, daß mir das Deutsche das ist, was dem Fische das Wasser ist [...]". Heine hat bei seiner Geburt natürlich auch eine jüdische Identität mit auf seinen Lebensweg bekommen und hier ist auch eine der Ursachen der persönlichen Probleme des nach Frankreich emigrierten deutschen Dichters zu suchen. Die Entscheidung Heines, sich taufen zu lassen ist in diesem Zusammenhang nur als Zeichen für die Zerrissenheit seiner Situation zu deuten und stellte einen verzweifelten Problemlösungsversuch dar. Wie brisant das Judentum für die Nationalidee wirklich gewesen ist, darüber hat sich etwa Michel Foucault Gedanken gemacht: Er sieht im Juden eine Repräsentation von Staatsfluchten: das zirkulierende Geld, das Nomadentum, das Privatinteresse, die unmittelbare Beziehung zu Gott. Daher wirke der Antisemitismus im deutschen Denken des 19. Jahrhunderts auf Foucault wie eine groß angelegte Apologie des Staates.^^ Nun haben aber die Überlegungen zum Thema der Deutschen Nation, wie gesagt, über Jahre einen Kernpunkt des Essayisten Walser dargestellt, was sicherlich auf die Wahrnehmung seiner Einstellung zur NS-Vergangenheit abgefärbt hat. Judentum und national staatliche Ideologie sind zwei historisch so unterschiedliche Denksysteme, dass potentielle Missverständnisse beinahe unvermeidlich sind (im Übrigen sehen sich auch heute nach der Staatsgründung Israels nicht alle Juden als Zionisten). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Walser im Zuge der jüngeren Debatten rund um die Friedenspreisrede und den Tod eines Kritikers in die Nähe des latenten Antisemitismus gebracht werden konnte. Walser hat daneben auch relativ früh gegen die Teilung Deutschlands polemisiert. Entscheidend dabei in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass der deutsche Schriftsteller nie einem nazionalsozialistischen Reichsgedanken hinterhergetrauert hat und diesen auch nicht in idealisierter Form, das heißt ohne seine Holocaust-Folgen, imaginiert hat. Im Gegenteil: Martin Walser ist sogar so weit gegangen.

" Zitiert nach: „Hilfe vom Selbsthelfer. Ein Versuch über Goethe", S. 279 sowie Tod eines Kritikers, S. 51. ^"Ebd. S. 183. ^' Ebd. ^* Foucault, S. 223. 32 dem Nazionalsozialismus jeden Beitrag zur Schaffung einer deutschen Nation abzusprechen. So raisonnierte Walser in Ein deutsches Mosaik einmal über die Trennung Deutschlands nach dem Krieg: „Deutschland wurde als die Nation gespalten, als die es sich aufgespielt hatte, ohne sie Je wirklich gewesen zu sein."^^ Im selben Atemzug spricht er vom Dritten Reich als Talmis zur Blendung politischer Kräfte.'^^ Solche Aussagen machen klar, dass Walsers Denken auf keinen Fall nazionalsozialistisch oder faschistisch geprägt ist. Seine Überlegungen sind vielmehr ziemlich romantisch gefärbt und man möchte ihnen manchmal eine gewisse utopische Abgehobenheit unterstellen. Tatsächlich war Walser seiner Zeit um ein gutes Stück voraus: Nach der Lektüre seiner Essays bleibt der Eindruck, dass Walser nicht einfach die Romantik in der Gegenwart zu einem idealisierten Ende bringen möchte, sondern vielmehr das romantische Modell als brauchbaren Anknüpfimgspunkt seiner Überlegungen versteht. Diese sind dabei nicht so konservativ, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, denn schon 1963 träumt er von einer europäischen Gemeinschaft, die seiner Meinung nach nur aus gefestigten Nationen entstehen kann. „Je mehr Europa uns aufnimmt, desto angenehmer wird es, ein Deutscher zu sein.", hat er bereits zu diesem Zeitpunkt weitsichtig formuliert. Walsers Nationenbegriff versteht sich letztendlich als Voraussetzung für einen erträumten Mulitkulturalismus, beziehungsweise erscheint dem deutschen Intellektuellen ein notwendiges Betätigungsfeld, um im globalisierten Zeitalter nicht den Anschluss an bereits gefestigte staatliche Einheiten zu verlieren: „Die Nation ist im Menschenmaß das mächtigste geschichtliche Vorkommen, bis jetzt. Mächtig im geologischen, nicht im politischen Sinn. Die Nation wird sich sicher auflösen irgendwann. Aber doch nicht durch Teilung." Die wettbewerbsorientierte Zielsetzung von Walsers Polemik scheint hier ganz deutlich auf Der Gedankengang hat dabei zumindest europäische Dimensionen, denn die ,Vereinigten Staaten von Europa' können nur mit einem Deutschland Wirklichkeit werden, das seine unrühmliche Vergangenheit bewältigt hat. Ausgerechnet Frank Schirrmacher hat in seiner Laudatio im Anschluss an Walsers Friedenspreisrede den deutschen Schriftsteller noch als einen der wenigen „Realpolitiker der achtziger Jahre" gelobt, rriit den Worten: „Daß er die Nation rehabilitieren, die Inflationierung des Faschismus-Vorwurfs außer Verkehr setzen, das Geschichtsgefühl wecken wollte, geschah aus künstlerischer Notwendigkeit: es geschah, weil er sonst über sich selbst hätte lügen

T 1 müssen." Hält man sich diesen sicherlich sehr wohlüberlegten Satz vor Augen, nimmt es

^^ „Ein deutsches Mosaik", S. 92. ^' Ebd. ^'Ebd. S. 112. ^° „Über Deutschland reden", S. 426. •" Frank Schirrmacher, "Sein Anteil", in: Sonntagsrede, S. 46f. 33 doch sehr Wunder, dass ausgerechnet Schirrmacher in seiner Verurteilung des Romans Tod eines Kritikers Antisemitismusvorwürfe gegen Walser erhoben hat. Alles spricht dafür, dass sich der F^Z-Redakteur in seinem offenen Brief bewusst selbst verleugnet hat, um einen endgültigen persönlichen Bruch mit Walser einzuleiten. Ohne hier über mögliche Motive für dieses Vorgehen spekulieren zu wollen, ist die Skrupellosigkeit der Tat, bei der Urteile offenbar bewusst wider besseres Wissen gefallt wurden, in jedem Fall kritisch zu betrachten.

2.2 Friedenspreisrede und Walser-Bubis-Debatte

Wie bisher gezeigt wurde, hat sich Martin Walser wiederholt um einen angemessenen Zugang zum Themenbereich Judentum-Nazionalsozialismus-Holocaust bemüht und dabei einerseits sein eigenes Gewissen erforscht, andererseits immer schon zukünftige politische Entwicklungen mitbedacht und versucht, sie sinnvoll mit seinen moralischen Überlegungen in Einklang zu bringen. Diesen Versuch hat Walser auch im Jahr 1998 unternommen, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt und im Anschluss an die Verleihung eine Rede gehalten hat, die Ignatz Bubis, den mittlerweile verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, dazu veranlasst hat, Walser in der Folge als „geistigen Brandstifter'' zu bezeichnen. Vorweg: dieses Etikett ist nicht ganz frei von Ironie, da es Bubis war, der als einziger Zuhörer nicht applaudierte und sich auch nicht wie der Rest der Hörerschaft erhoben hat. Erst diese provokative Geste hat die öffentlich geführte Auseinandersetzung über eine angemessene Erinnerung an die Zeit der Nazis ausgelöst, die als Walser-Bubis-Debatte in die Geschichte des deutschen Kulturbetriebs eingegangen ist. Über mehrere Monate wurde Walser teilweise heftig angegriffen und musste seine Rede auch gegen den von Bubis geäußerten Verdacht eines latenten Antisemitismus verteidigen. Dem gegenüber stehen Verteidigungen Walsers gegen diesen schwerwiegenden Vorwurf durch Siegfried Unseld („[...] ich weiß, daß Martin Walser in Verstand und Herz an eine Symbiose des Deutsch-Jüdischen glaubt' ), Marcel Reich-Ranicki {„Martin Walser ist kein Antisemit. Noch einmal: Ein Antisemit ist Walser nicht." '*), Frank Schirrmacher {„Wenn es wirklich Walsers Ziel gewesen wäre, durch seine Friedenspreisrede das Vergessen zu empfehlen und

^^ Vgl. Walser-Bubis-Debatte bes. S. 251: „Walsers Rede hätte ohne die Intervention von Bubis nie eine vergleichbare Debatte ausgelöst. " " Ebd., S. 37. ^^ Ebd., S. 323. 34 das Wegschauen zu predigen, dann hätte er sich törichter nicht anstellen können."^^) und nicht zuletzt durch den damaligen Bundespräsidenten Deutschlands Roman Herzog („Martin Walsers Rede - man mag zu ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das Vergessen plädiert — hat eine wichtige Auseinandersetzung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das wohl auch.^'^^). Eine Vielzahl von Leserbriefen, die sowohl Walser als auch Bubis zugesendet bekommen haben, dokumentiert weiters, dass in der breiten Bevölkerung offensichtlich ein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit dem Thema vorhanden war. Als auslösender Reiz der Kontroverse fiingierte vor allem jener Abschnitt der Rede, der sich mit Walsers persönlichem Zugang zu Auschwitz beschäftigt:

Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.

Wie man an diesem Zitat sofort sehen kann, ist es absurd, von einem Geschichtsrevisionismus Walsers zu sprechen. In seiner Darstellung ist Auschwitz ein grauenhaftes Faktum der deutschen Vergangenheit. Walser fasst sich kurz, weil er dadurch betonen möchte, dass seine Meinung in diesem Punkt imumstößlich ist und keiner Klärung mehr bedarf. Da er sich im Zuge vergangener Publikationen wiederholt mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt und auch mehrmals Stellung bezogen hat, besitzt er ohne Zweifel ein gutes Recht, das Darstellungsmittel der Prägnanz in einer öffentlichen Rede zu verwenden. Weniger eindeutig ist die Verwendung des Verbs ,wegschauen' im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit, weil die Vokabel in diesem Kontext historisch belastet ist. Tatsächlich war im Dritten Reich das ,Wegschauen' an der Tagesordnung und eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass die Nazis ihre Verbrechen gegen Juden und andere Gruppen, die ebenfalls als Feinde des Regimes und seiner Ideologie des ,Herrenmenschentums' angesehen wurden - politische Gegner, Behinderte, Homosexuelle und Zigeuner - ungehindert durchfuhren konnten. Die Hellhörigkeit und Sensibilität Ignatz Bubis' an dieser Stelle ist nicht nur aufgrund seiner biographischen Erlebnisse als Inhaftierter des Zwangsarbeitslagers Tschenstochau gerechtfertigt, sondern auch aus intellektuellen Gründen - noch heute sind Wegschauen und Schweigen strukturelle Stützen von verbrecherischen Organisationen, weswegen hier Aufmerksamkeit geboten ist. Dennoch wurde Walser von Bubis unrecht getan, als ihm dieser

^^ Ebd., S. 436. '^ Ebd., S. 597. ^^ Sonntagsrede, S. 18. 35 in seiner am 9. November 1998 gehaltenen Rede zum Gedenken an die Schrecken der Reichskristallnacht unterstellte, für eine aus der Nazizeit bekannte Kultur des Wegschauens und des Wegdenkens zu plädieren.^^ Die Schwierigkeit von Walsers Friedenspreisrede, der Bubis hier aufgesessen ist, betrifft deren komplizierten Aufbau: der Großschriftsteller hat sich nämlich über weite Strecken seiner Rede eines poetischen Sprachgebrauchs bedient, in dem er vor allem über sein Seelenleben Auskunft gibt. Zudem reklamiert Walser mit dem legitimen Selbstbewusstsein des Friedenspreisträgers auch für sich, dass seine Texte über Deutschland und Auschwitz bekarmt sind. Wenn er davon redet, wie er anfange wegzuschauen, dann spricht er aus der Perspektive eines Mannes, der lange Zeit ganz bewusst hingeschaut hat. Hier einen Appell herauszuhören ebenfalls wegzuschauen, ignoriert außerdem die Textstruktur auf fatale Weise, denn es geht lediglich um die persönliche Rückschau eines Intellektuellen. Analysiert man den Text der Rede weiter, wird außerdem deutlich, dass das Wegschauen am ehesten auf die Medien und nicht auf die deutsche Vergangenheit bezogen werden kann. Relativ zu Beginn der Rede sagt Walser: ,Jch verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen wegzuschauen. Ich habe mehrere Zufluchtswinkel, in die sich mein Blick sofort flüchtet, wenn mir der Bildschirm die Welt als eine unerträgliche vorflührt."^^ Wieder trügt hier der erste Schein, denn auch in dieser Aussage wird das Wegschauen nicht empfohlen. Wiederum ist in diesem Satz keine Appellstruktur vorhanden, nicht einmal eine, die das Wegschauen als praktische Form der Medienkritik vorstellt. Erneut werden wir mit der Selbstdarstellung Walsers konfrontiert, der sich um die Mitteilung seiner persönlichen Betroffenheit bemüht. Diese Tiefenstruktur erklärt sich aus der Tatsache, dass Walser nur wenige Zeilen über dem zuletzt zitierten Satz auf einer Metaebene über die Zielsetzung seiner Friedenspreisrede reflektiert. Dort spricht er über seinen Wunsch, eine Rede zu halten, die nur Schönes beinhalte. Zugleich meint Walser zu wissen, dass von einem Friedenspreisträger Kritisches erwartet wird und so verwirft er seinen Wunsch. Die selbstreflexive Grundhaltung des Autors verleiht der ganzen Rede den Charakter einer Werkstattüberlegung, worauf bereits ihr Titel, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, anspielt. Dabei spricht Walser auch davon, dass er seine Schönheitsdarstellungen mit Geständnissen wie jenem seines Wegschauens rechtfertigen hätte müssen. Eine Kemaussage, die man inmitten dieser Selbstinszenierung des Autors festmachen kann, ist die, dass friedvolle Schönheit eine Illusion ist, die nur durch Wegschauen aufrechtzuerhalten ist. Wegschauen wird somit genau genommen sogar aufs

^* Vgl. Walser-Bubis-Debatte, S. 111. •' Sonntagsrede, S. 10. '" Ebd. 36

Äußerste kritisiert, zugleich aber als lebensnotwendig präsentiert. Es handelt sich daher um die Darstellung eines unlösbaren inneren Konflikts. Aus politischer Sicht ist diese Stelle allerdings vage, wenn nicht gar wertlos und die Kritik Marcel Reich-Ranickis, Walser habe als Redner versagt, weil er keinen empörenden Gedanken, dafür aber unklare und vage Darlegungen verwende, ist zumindest aus dieser Perspektive nicht ganz unrichtig.'*' Solche Zusammenhänge sind natürlich im Nachhinein und unter Zuhilfenahme der Textvorlage wesentlich leichter ausfindig zu machen, als das während des Vortrags möglich gewesen ist. Die wissenschaftliche Betrachtung hat glücklicherweise den Vorteil, von der unmittelbaren Wirkung der Rede zu abstrahieren und ihren eigentlichen thematischen Gehalt zu beurteilen, der nur über einen formal orientierten Metadiskurs fassbar wird. Was den kritischen Punkt des Vergessens betrifft, muss dabei festgestellt werden, dass sein Beitrag zum Entstehen der Walser-Bubis-Debatte in einem sprachlichen Missverständnis liegt. In seinen Betrachtungen über Auschwitz wehrt sich Walser weiters gegen die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.''^^ Wer mit Martin Walsers essayistischem Schaffen ein wenig vertraut ist, den verwundert es möglicherweise ein wenig, dass er sich pauschal gegen eine Instrumentalisierung von Auschwitz zu guten Zwecken wendet, denn der deutsche Großschriftsteller hat etwa in seinen Auseinandersetzungen mit historische Personen wie Heine oder Klemperer (s.o.) immer wieder sein idealistisches Programm befordert und sie so bis zu einem gewissen Grad instrumentalisiert; auch wird der Vorwurf der Instrumentalisierung zunächst ziemlich vage formuliert. Im Text lassen sich jedoch Motive für Walsers ablehnende Haltung ausfindig machen, wobei deutlich wird, dass er aufgrund persönlicher Erlebnisse zu dieser Wertung gelangt ist. Wie die gesamte Rede über weite Strecken einer Selbstbespiegelung gleicht, argumentiert Walser auch hier von einer sehr egozentrischen Warte aus, die allerdings in öffentliches Geschehen eingebettet ist: So wendet sich Walser gegen die frühere Verwendung von Auschwitz als Argument, um die deutsche Teilung als logische und einzig richtige Konsequenz aus den Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs zu begründen.'*^ Gegen diese Ansicht hat Walser in Essays und Reden mehrfach Stellung bezogen, wobei er sich damit beschäftigt hat, wie eine deutsche Nation modernen Zuschnitts vorstellbar wäre. Die Instrumentalisierung von Auschwitz berührt also in diesem Fall ein politisches Lieblingsthema Walsers, der mit seiner Friedenspreisrede auch öffentlich Rückschau hält. Der Adressatenkreis sind wiederum jene Personen, die mit den Gedanken des

•" Vgl. Walser-Bubis-Debatte, S. 324. ••^ Walser-Bubis-Debatte, S. 18. ••^ Vgl. Sonntagsrede, S. 18. 37 am Bodensee lebenden Dichters vertraut sind, was allerdings auch zur Folge hat, dass die Bedeutung von Walsers Rede an dieser Stelle nur im Kontext seiner Essays eindeutig ist, was Missverständnisse von vornherein begünstigt hat. Von einem pragmatischen Standpunkt aus muss man daher feststellen, dass die Friedenspreisrede Martin Walsers nicht durchgehend fur eine breite Öffentlichkeit geeignet ist, weswegen das Forum, das sie im Zuge der Walser- Bubis-Debatte in der gesamten deutschen Presse erhalten hat, nicht unbedingt vorteilhaft fur ihre Rezeption gewesen ist. Immerhin können kritisch erscheinende Stellen durch eine vertiefte Walser-Lektüre erhellt werden. Dagegen werden in der Argumentation von Matthias Lorenz, der sich in seiner Dissertation akribisch auf eine Diffamierung Walsers als Produzent eines literarischen Antisemitismus konzentriert, aus den Gedanken des Schriftstellers rund um die Instrumentalisierung vorschnell Beweise für dessen vermeintlich latenten Antisemitismus abgeleitet: „Fragt man, wem die Instrumentalisierung von Auschwitz nützt, so bleiben am Ende nur die Juden als Profiteure. [...] Der offene Nationalismus in Walsers Rede führt in den latenten Antisemitismus.'^"^^ Abgesehen von der Missachtung der Redestruktur besteht das gravierende Problem bei einer solchen Argumentation auch darin, dass sie selbst in antisemitischen Klischees verhaftet bleibt, weil sich ihr Autor als unfähig erweist, eine mögliche Instrumentalisierung von Auschwitz getrennt von jüdischen Aktanten zu denken. Die Aussage impliziert somit auch den Glauben Lorenz' an die Möglichkeit, dass Juden nachträglich von Auschwitz profitieren könnten. Die Abqualifizierung Walsers als Antisemit ist in diesem Zusammenhang nicht wissenschaftlich begründet, sondern als philosemitischer Reflex zu verstehen. Sehr aufschlussreich ist daher jener Exkurs, in dem sich der Autor dem Phänomen des Philosemitismus nähert: Das , Wohl verbal ten' Juden gegenüber wird als politisch verordnete Ideologie dargestellt, die zwar den Wiederaufbau einer politischen Kultur im Deutschland der Nachkriegszeit begünstigte, jedoch nicht unbedingt mit projüdischem Denken einherging - vielfach habe es sich wohl um eine Form des Opportunismus gehandelt.'*^ Der hauptsächlich im Rahmen einer Fußnote ausgebreitete Exkurs beinhaltet dabei überraschenderweise den Schlüssel zur Bewertung von Lorenz' Standpunkt, da der Autor selbst über weite Strecken seiner Arbeit philosemitische Denkmuster reproduziert. Im Haupttext beruft sich Lorenz außerdem auf Werner Bergmann und Rainer Erb, die im Phänomen des Philosemitismus keinen verkappten Antisemitismus sehen, darin jedoch den Versuch erkennen, die Schuldzumutung zu akzeptieren, indem man den

*'' Klaus Holz, „Ist Walsers Rede antisemitisch? ", in: Kultursoziologie 8, H.2, S. 192 zitiert nach Lorenz, S. 467, der sich dieser Schlussfolgerung anschließt. ^^ Vgl. Lorenz, S. 53f. 38

Kommunikationspartner (die jüdischen Opfer des Zweiten Weltkriegs) idealisiert.'** Die so erreichte Selbstpositionierung Lorenz' ist letzten Endes aber ein reines Konstrukt, da der Autor aufgrund seines jungen Alters weder die Zeit des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, was ihm ermöglichen würde, eine mögliche persönliche Schuld zur Diskussion zu stellen; er war noch nicht einmal während der Nachkriegszeit geboren, weswegen er auch kein authentisches politisches Motiv für seinen Philosemitismus besitzen kann. Seine Übernahme philosemitischer Denkweisen erweist sich bei näherer Betrachtung aber als notwendige Voraussetzung, um einen Antisemitismus in Walsers Texte hineinprojizieren zu können und ist daher der diffamierenden Grundhaltung seiner Arbeit geschuldet (beziehungsweise als deren Ursache zu sehen), die hauptsächlich aufgrund ihrer Materialfülle Beachtung verdient, im Übrigen aber sehr kritisch zu betrachten ist. Ein solcher herbeizitierter Philosemitismus stellt außerdem einen künstlichen Rückschritt in der Erinnerungskultur dar, da er an eine Ideologie anknüpft, die als kompensatorische Reaktion auf die Verbrechen gegen die Menschheit, die vom NS-Regime begangen wurden, zu verstehen ist. Eine wirkliche Normalisierung des deutsch-jüdischen Verhältnisses wird aber erst erreicht werden, wenn sowohl die antisemitische als auch die philosemitische Ideologie hinfallig geworden sind. Die ebenfalls von Lorenz geäußerte Vermutung, dass der gegenwärtige Diskurs über Juden und Antisemitismus [Walser ist hier als Bezugspunkt zu denken] um eine Überwindung des Philosemitismus bemüht sei"*^ würde ich mich hier teilweise anschließen, sehe sie unter dem eben genannten Gesichtspunkt aber weit weniger kritisch als Lorenz. Der entscheidende Punkt in dieser Frage ist wohl die Wahl des richtigen Takts gegenüber den Holocaust- Überlebenden (Weitere Überlegungen zum Taktgefühl vgl. 2.2.1): Eine philosemitische Einstellung wäre so lange angebracht, bis der letzte Zeitzeuge seine Erinnerungen an die Schrecken der KZs mit ins Grab genommen hat. Das früheste mögliche Datum für den taktvollen Beginn einer Normalisierung in der Beziehung zwischen Juden und Deutschen wäre demnach an den Generationenwechsel gebunden, stünde also kurz bevor. Der hier vorgetragene Exkurs zum Thema Philosemitismus muss als notwendige Voraussetzung für das Miteinbeziehen der Walser-kritischen Positionen aus Lorenz' Arbeit gesehen werden. Ebenso ist Lorenz' Beharren auf dem ausschließlich negativen Wert von jüdischen Klischeebildern (welcher Art auch immer diese sein mögen) kritisch zu sehen, da seine ikonoklastische Grundhaltung positive Funktionen wie jene einer leitmotivischen Charakterisierung schlichtweg negiert und mitunter stark paranoide Züge trägt: Lorenz kommt letztendlich zum Schluss, das Jüdische sei bei Walser als „autonome Kategorie der

46 Vgl. ebd., S. 54. " Ebd., S. 54. 39

Abwertung", die auch für nichtjüdische Figuren eingesetzt wird.'*^ In seiner Besprechung von Walsers Das Schwanenhaus wird klar, was sich Lorenz darunter vorstellt: Dort sieht er den nichtjüdischen Makler Jarl Fritz Kaltammer mit antisemitischen Klischees ausgestattet, die da wären: „mächtig", „intrigant", „sexuell anormal", „alterslos" und ,/remct\'^'^ Im Grunde erübrigt sich ein Kommentar dieses Vorgehens, denn wer diese Attribute als antisemitische Klischees begreift, ist entweder selbst in antisemitischen Denkmustem verhaftet oder versucht so krampfhaft eine Walser-kritische Position durchzuhalten, dass von Wissenschaftlichkeit keine Rede mehr sein kann. Man möge sich dieses Urteil im Hinblick auf die Diskussion literarischer Text Walsers in Abschnitt 2.3 und die Bewertung von Tod eines Kritikers im Gedächtnis behalten. Um noch einmal auf das Thema der „Instrumentalisierung von Auschwitz" zurückzukommen, sei darauf verwiesen, dass es ironischerweise Bundeskanzler Gerhard Schröder war, der demonstriert hat, wie man als Gegenwartspolitiker die Auschwitzerirmerung instrumentalisieren kann, als er aus diesem schrecklichen Faktum der deutschen Geschichte eine Legitimation für den Einsatz deutscher Soldaten im Kosovo abgeleitet hat.^'' Schröder Beispiel eines nichtjüdischen Profiteures ist möglicherweise dazu angetan, die Vorstellungskraft eines Klaus Holz oder Matthias Lorenz zu erweitem, kann aber zumindest als Beweis für das kritische Potential jener Stelle in Walsers Friedenspreisrede gelten, die hier zur Diskussion stand. Für Walsers Rede spricht außerdem, dass der Diskussionsprozess an sich zur Beschäftigung mit einem wichtigen gesellschaftlichen Thema angeregt hat, wie bereits Roman Herzog (s.o.) positiv betont hat. Wenn Walser dann davon spricht, dass er schon einmal dafür kritisiert woirde, dass in einem seiner in der NS-Zeit situierten Bücher Auschwitz gar nicht vorkomme und er deshalb in die Nähe der Verharmlosung, wenn nicht sogar der „sogenannten Auschwitzlüge" gebracht worden sei, dann schwingt in solchen Sätzen sicherlich eine persönliche Kränkung mit.^' Wie heikel das Thema wirklich ist, kann man aber etwa daran sehen, dass allein die anführungszeichenlose Verwendimg des Wortes „Auschwitzlüge" an anderer Stelle als Zeichen für das schlechte Niveau der Erinnerungskultur des Schriftstellers angesehen wird. Das vorangestellte „sogenannte" Walsers wird dabei als nur unzureichende

"* Vgl. ebd., S. 486. "' Ebd., S. 330. 50 Vgl. hierzu die Ausfuhrungen von Joachim Rohloff in: Ich bin das Volk, S. 9. Den Bezug zwischen diesem politischen Faktum und Walsers Friedenspreisrede stellt der Autor in seiner journalistisch-oberflächlichen Kritik an Walser allerdings nicht her. ^' Vgl. Sonntagsrede., S. 19. Der im Text nicht betitelte Roman, um den es sich hierbei handelt, ist Ein springender Brunnen, in dem Walser seine Kindheit in der NS-Diktatur beschreibt. Die Diskussion, die dieser Roman aufgrund des besonderen Zugangs zur darin geschilderten Zeit hervorgerufen hat, wird im Abschnitt 2.3.2 noch näher behandeh werden. 40

Abfederung des Begriffs verstanden und es werden auch Beispiele aus der weit rechts stehenden Presse zitiert, etwa die „Saufeder"-Kolumne der österreichischen Aula, wo diese Stelle in Walsers Text schamlos-fragend für die Einführung geschichtsrevisionistischer Untertöne vereinnahmt wird.^^ Es erscheint jedoch einigermaßen fragwürdig, aus der rezeptionsästhetischen Perspektive eine Kritik an Walser abzuleiten, da die Tendenz zu bewusstem Missverstehen in öffentlich geführten Debatten mit der Brisanz des Themas zunimmt. Die Aufregung rund um Walsers Rede kann auch als Folge einer ungemein hohen Diskussionsdynamik gesehen werden, welche letztendlich dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass sich die öffentlichen Bedeutungszuschreibungen, die Walsers Redetext erfahren hat, sehr weit von ihrem ursprünglichen Bedeutungspotenzial entfernt haben. Ein weiterer heftig diskutierter Abschnitt der Rede ist der folgende: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität Lippengebet.^'^^ Hier sind nun nicht mehr persönlicher Motive ausschlaggebend, sondern es geht ganz dezidiert um die Frage nach einer angemessenen Erinnerung an Auschwitz. Von einer Aufforderung zu vergessen kann gar nicht die Rede sein, vielmehr plädiert Walser für eine Form des Gedenkens, die nicht durch Autoritäten vorgeschrieben wird, sondern die in einer individuellen Überzeugung begründet sein muss. Dahinter steht auch eine indirekte Darstellung der Unfassbarkeit eines Verbrechens wie Auschwitz, der nach Walsers Meinung durch vorgefertigte, entpersonalisierte Erinnerungsformen nicht angemessen begegnet werden kann. Was hier paraphrasierend wiedergegeben wurde, ist auch in Walsers Formulierungswahl nicht allzu gespreizt und im Zusammenhang der sehr persönlich gehaltenen Rede durchaus kohärent. Allerdings ist bereits richtig bemerkt worden, dass gerade das Schlagwort der Moralkeule von Seiten der rechten bis rechtsextremen Presse dankend aufgenommen worden ist, weil es ihr ein Feld des Sagbaren eröffnet hat.^'* Die Friedenspreisrede und anschließende Walser-Bubis-Debatte war allerdings nicht das erste Mal, dass sich der rechte Rand der deutschen Presse auf Martin Walser berufen hat. Bereits seine Äußerungen zum Thema Deutschland sind - wenig überraschend - in nationalen Kreisen auf ein ebenso lautes wie unreflektiertes Echo gestoßen. Es muss Walser dabei zugute gehalten werden, dass er sich seine Ansichten von rechter Seite nie beeinflussen hat lassen. Bezeichnenderweise findet sich in der vom DISS (Duisburger Institut für Sprach- und

'^ Vgl. DISS, S. lOf. bzw. das Faksimile der „Saufeder"-Kolumne der November-Ausgabe der Aula von 1998 auf S. 53. ^^ Sonntagsrede, S. 20. Im Zuge des Vortrags in der Paulskirche verwendete Walser übrigens die Formulierung „ist von der Qualität des Lippengebets". ^''Vgl. DISS, S. 23. 41

Sozialforschung) herausgegebenen Dokumentation, welche ein Bild der Reaktionen auf Walsers Friedenspreisrede in der rechten Presse zeichnet, kein einziges Interview einer solcherart ideologischen Zeitschrift mit Walser selbst. Dessen Reaktion auf die Vereinnahmungsversuche von rechts war stets die Nichtbeachtung. In jenem von der FAZ organisierten Gespräch zwischen Ignatz Bubis, Salomon Korn, Frank Schirrmacher und Martin Walser, in dem Bubis letztendlich seinen Vorwurf der geistigen Brandstiftung zurückgenommen hat,^^ distanziert sich Walser ganz klar von dieser Sparte des Medienspektrums: ,Jch spreche nicht für die Nationalzeitung. Für mich existiert die Nationalzeitung nicht.""^^^ Die mit etwas Arroganz vorgetragene Abwehrhaltung, die ,Kein- Kommentar-Geste', muss einer so einflussreichen Persönlichkeit des kulturellen Lebens wie Walser sicherlich zugestanden werden, denn der permanente Bodensatz an Rechtsextremen ist in einer anderen Gedankensphäre angesiedelt als der Großschriftsteller. Im Grunde zeugt es von der Randstellung rechter Gruppierungen im Geistesleben Deutschlands, dass sie keine prominenten Vertreter in der Öffentlichkeit besitzen, die sich zu ihnen bekennen wöirden, weswegen sich jene Kreise auf Vereinnahmungsversuche von politisch tätigen Persönlichkeiten beschränken müssen. Neben Walser^^ wurde im Übrigen auch der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog während der Walser-Bubis-Debatte im klar antisemitisch ausgerichteten National Journal zum Gegner von Bubis hochstilisiert.^^ Der hetzerische und oft von martialischer Kriegsmetaphorik durchsetzte Ton, der sich mehr oder weniger deutlich ausgeprägt in allen rechten Zeitungen und Zeitschriften findet, ist dabei ziemlich selbstentlarvend: Das wiederholte Lob Walsers als Tabubrecher und Retter der freien Meinungsäußerung und die gleichzeitig durchgehende Schelte Bubis' werden so einhellig vorgetragen, dass für kritische Untertöne kein Platz mehr ist. Die öffentlich in den eher links einzuschätzenden Medien gefiihrte Diskussion, wo sowohl Walser als auch Bubis argumentierend für ihre Sicht der Dinge eintreten mussten, offenbart alleine aufgrund ihrer Dynamik ein höheres Niveau an Diskussionskultur. Diese ist in Wirklichkeit freier und weit weniger dogmatisch als jene auf zwanghaft lobende Vereinnahmungsversuche beschränkte Ausprägung eines Pseudodialogs in der rechten Presse, weil sie unterschiedliche Meinungen zulässt. Martin Walser hat im bereits erwähnten Gespräch mit der FAZ auch noch einmal zu

'^ Vgl. „Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung. Ein Gespräch", in: Walser-Bubis-Debatte, S. 438- 465. '^ Walser-Bubis-Debatte, S. 460. ^' Vgl. z.B. DISS, S. 49 (Faksimiles zweier Artikel aus der Deutschen Nationalzeitung. Der erste stammt aus der Ausgabe 8/99 [bei der Jahresangabe dürfte es sich um einen Druckfehler handeln] und trägt den Titel: „Bubis- Walser: Der Kampf geht weiter", der zweite ist mit „Bubis hetzt weiter gegen Martin Walser" überschrieben und stammt aus der Ausgabe vom 19. 2. 99). ^* Vgl. DISS, S. 78f (Abdruck der Datei dosis.htm, erschienen etwa im November 1998) 42 seinen Überlegungen rund um die deutsche Teilung Stellung bezogen und dabei seine Ansicht dargelegt, dass er dieses Thema nicht den Rechtsextremen überlassen habe wollen, weil jene es missbrauchen würden.^^ In dieser Aussage wiederum kann man erkennen, dass Walsers Position trotz seiner Beschäftigung mit tendenziell rechten Themen jener der Rechtsextremisten genau genommen diametral entgegensteht, was auch bedeutet, dass jeglicher Verdacht eines Gesinnungswechsels Walsers unbegründet ist. Als sprachliche Anmerkung zur Verwendung des Begriffs „Moralkeule'' sei noch darauf hingewiesen, dass Marcel Reich-Ranicki am 2.12.1998 in der FAZ sich einer ähnlichen Metaphorik bedient hat als er schrieb, Bubis besitze eine Pistole, die mit gefährlichen Vokabeln wie ,^ntisemitismus"' geladen sei.^° Wohl nicht zuletzt aufgrund der jüdischen Herkunft des Kritikers wurde dieser Ausspruch Ranickis im Unterschied zu den Aussagen Walsers von der rechtsextremen Presse nicht zitiert, um ihren Lieblingsfeind Ignatz Bubis anzugreifen. Durch seine nicht-jüdische Herkunft eröffnete Walser mit seinen Aussagen relativ zum Thema Judentum den rechtsextremen Medien erst die Möglichkeit zur Vereinnahmung. Das sagt aber weniger über die Gesinnung Walsers aus, als über die Denkweise seiner Vereinnahmer, die offenbar nach wie vor in Kategorien der pseudorassischen Herkvmft erfolgt, welche sicherlich in ihre Rezeption von Walsers Friedenspreisrede mit eingeflossen sind. Es ist weiters bemerkenswert, wie sehr die rechten Rezensenten den Aufbau von Walsers Rede als Ganzes ignoriert haben, beziehungsweise wie weit sie sich ideologisch verbiegen mussten, um ihre Deutung von Walsers Thesen zur Auschwitz-Erinnerung publizieren zu können: Martin Walser hat sich in seiner Ansprache nicht durchgehend eines poetischen Sprachgebrauchs bedient, sondern auch einen ganz gewichtigen politischen Appell formuliert, den er direkt an den bei der Rede im Publikum anwesenden deutschen Bundespräsidenten adressiert hat und der betrifft die Freilassung eines DDR-Spions, in dem Martin Walser einen „idealistischen Altachtundsechziger"' sieht. Diese Bitte wird sogar mit ziemlichem Nachdruck vorgetragen: relativ zu Beginn, wo sich Walser auch allgemein gegen eine gesetzliche Benachteiligung von Spionen des Ostens gegenüber jenen der ehemaligen BRD ausspricht^' und dann noch ein zweites Mal an prominenter Stelle, ganz zum Schluss der Rede, wo es heißt: ,^ch, verehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie doch Herrn Rainer Rupp gehen. Um des lieben Friedens willen.''' Dieses Plädoyer wird zwar von Walser heruntergespielt, indem der Autor innerhalb der Rede bereits Zweifel an dessen Wirksamkeit äußert, um auf diesem Weg das vorgetragene

^' Vgl. Walser-Bubis-Debatte, S. 455f. "Vgl. Ebd., S. 323. *' Vgl. Sonntagsrede, S. llff. " Ebd., S. 28. 43

Selbstgespräch konsequent durchzuhalten,^'^ aus ideologiekritischer Sichtweise müsste man aber zumindest anmerken, dass sich Walser hier für einen ehemaligen ,Kommunisten' stark macht, was eigentlich nicht im Sirm der rechten Lobredner Walsers sein kann. Als Konsequenz daraus erhalten ihre Vereinnahmungsversuche ein Moment der Willkürhaftigkeit vmd zum Pech von Martin Walser muss man festhalten, dass er selbst durch die rechten Medien ohne Rücksicht auf seine Person instrumentalisiert wurde. Erneut zeigt sich aber auch die Schwierigkeit des Redeaufbaus, hier in der Form einer Durchmischung von poetischem und politischem Sprachgebrauch. Je nach Interpretationsansatz kann man daran entweder eine schwierig nachzuvollziehende Kohärenz bemängeln, welche Missverständnissen Tür und Tor geöffnet hat oder aber das Niveau der intellektuellen Öffentlichkeit beanstanden, weil ein adäquater Umgang mit dem Text nur mühsam, wenn überhaupt, gefunden wurde. Dieser Umstand verwundert allerdings nicht, werm man sich noch einmal den sehr komplizierten Aufbau der Rede ins Gedächtnis ruft, der ein sehr gut ausgebildetes narratologisches Verständnis voraussetzt. An dieser Stelle sei auf die äußerst aufschlussreiche Analyse der Rede von Stefan Willer hingewiesen. Willer belegt überzeugend, dass Martin Walsers Friedenspreisrede einen Meinungen überspielenden Diskurs transportiert, wobei es gerade der Gestus der Selbstdistanzierung ist, der dabei im Widerspruch zum Gegenwärtigkeitsgestus öffentlicher Positionsnahme steht.^'* Dieses Verfahren machte das Verständnis von Walsers Rede zu einer anspruchsvollen Aufgabe für eine Zuhörerschaft, die es gewohnt ist, von einem Intellektuellen dessen Meinungen zu diesem oder jenen Thema gesagt zu bekommen. Walsers Rede geht jedoch über bloße Meinungsmache hinaus und verfolgt eine andere Stoßrichtung. Die Geringschätzung des Großschriftstellers all dessen was nur Meinung ist (Walser spricht schon einmal abwertend von „Meinungswegelagererri'' oder „M^inungspack^^^) hat ihren Ursprung im standpunktabhängigen Charakter von Meinungen. Im Folgenden eine Stelle, wo Walser seine Gedanken zu eben diesem Thema zu Papier gebracht hat:

Ich bin gegen den täglichen Meinungsbefall überhaupt nicht resistent. Man kann doch über eine Sache wirklich verschiedener Meinung sein. Das ist ja das Grundgesetz aller Demokratie. Es wird nur zu selten ausgedrückt, daß es, um verschiedener Meinung zu sein, nicht mehrerer Personen bedarf. Ich bin schon selber eine Demokratie. Jeder ist eine [...]

Vgl. Nolle, S. 268fF. Vgl. Wilier, S. 226 u. S. 230. 65 Zitiert nach: Nolle, S. 265. An dieser Stelle listet Volker Nolle auch noch weitere Beispiele für verbal ausagierte Aversionen Walsers gegenüber Intellektuellen auf. ^ „Meinungen über Meinungen", S. 774. 44

Anstatt mit seiner Friedenspreisrede Politik über Meinungen machen zu wollen und dabei nur eine Seite seiner Persönlichkeit zu Wort kommen zu lassen, hat Martin Walser die Paulskirchenrede dazu benutzt, eine tiefer gehende Gewissenserforschung vorzutragen. Dazu gehört, dass er sich anspielungsreich von den namentlich nicht genannten „Gewissensgrößen"^ Jürgen Habermas und Günter Grass abgrenzt, die sich seiner Meinung nach für das Gewissen der anderen verantwortlich fuhlen.^^ Walser will dem Einzelnen die Verantwortimg für sein Gewissen gleichsam rückerstatten und liefert mit dem Text der Rede zugleich ein Modell, wie er sich einen verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Gewissen vorstellt. Direkt nach dem Seitenhieb auf den „Denker" und den „Dichter" folgt der programmatische Satz: „Endlich tut sich eine Möglichkeit auf, die Rede kritisch werden zu lassen. Ich hoffe, daß auch selbstkritisch als kritisch gelten darf"^^ Walser wendet sich dabei nicht gegen den Standpunkt von Habermas oder Grass bezüglich der NS-Verbrechen, sondern gegen ihre aufklärerischen Methoden, denen er implizit Wirkungslosigkeit unterstellt - die im Übrigen auch als Grund für Walsers Ablehnung ritualisierter Gedenkformen zu sehen ist. Genau hier liegt die pragmatische Dimension von Walsers Rede und was Bubis betrifft, so hätte er Walser kaum gründlicher missverstehen können. Wie die große Anzahl an Leserbriefen belegt, hat die öffentliche Auseinandersetzung der beiden hat allerdings weit mehr Menschen zum Nachdenken über die deutsche Vergangenheit angeregt, als Walser gehofft haben kann und insofern muss seine Rede nachträglich als durchschlagender Erfolg bezeichnet werden. Walsers Pech dabei war nur, dass er für diese unerwartete Wirkung mit heftigen Anfechtungen seines intellektuellen Rufs zu kämpfen hatte, deren Nachhall ihn im Zuge des Skandals rund um den Tod eines Kritikers auf äußerst verletzende Art und Weise einholen sollte.

2.2.1 Ein Streit um die Erinnerung

Im Zuge der Walser-Bubis-Debatte traten zwei unterschiedliche Erinnerungsformen zutage: Ein allgemeiner Konsens, der auf konservative Weise dazu tendiert, Begriffe, die während des Nazionalsozialismus geprägt wurden, weitgehend zu tabuisieren und aus dem öffentlichen Sprachgebrauch fernzuhalten und der als öffentliches Selbstgespräch vorgetragene Versuch Martin Walsers eine Sprache zu finden, in der man auch über die Schattenseiten der

" Zu Grass' spätem SS-Geständnis vgl. Abs. 2.3.2 ^^ Sonntagsrede, S. 15. *' Vgl. Walser-Bubis-DebaUe. 45

Vergangenheit sprechen kann, wobei die Ursprünge dieses dichterischen Ausdrucksbedürfnisses in der Aufarbeitung der eigenen Biographie zu suchen sind. Dieser Drang etwas zu sagen, geht einher mit dem Anspruch, verstanden werden zu wollen, wobei Walser offensichtlich von seiner Zuhörerschaft eine moralische Unantastbarkeit für sich reklamiert hat, die er jener der Holocaustopfer gleichgestellt hat. Eine derartige Gerechtigkeitsauffassung ist zwar vom Standpunkt der unschuldigen Zeitgenossenschaft der Flakhelfergeneration aus nachvollziehbar vmd mag sogar dazu angetan sein, eine intellektuelle Diskursebene einzuführen, welche die politische Handhabe der Vergangenheit erleichtert, dennoch ist eine solch egozentrische Form des Erinnems eindeutig nicht mehr nur an den Opfern orientiert. In diesem Sinn war nicht die Frage nach einem latenten Antisemitismus des Friedenspreisträgers von 1998 der wahre Streitpunkt in der auf die Friedenspreisrede folgenden Debatte zwischen Walser und Bubis, hintergründig ging es vielmehr um die Wahl des richtigen Takts in der Erinnerung an die Shoa und die Klärung der Frage, ob die typisch walsersche Innerlichkeit eine angemessene Erinnerungsform darstellt. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung ist dabei sicherlich im Zusammenhang mit ihrem testamentarischen Moment zu sehen, denn 53 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Zahl der überlebenden Zeitzeugen bereits relativ gering geworden imd hat seither weiter abgenommen. Die Kontrahenten Walser und Bubis haben auf der öffentlichen Bühne das Drama eines Generationenwechsels vorgespielt, wobei Walser in die Rolle des Nachkömmlings, der sich gegen seinen Vater durchzusetzen versucht, gezwängt worden ist. Diese Konstellation ist nicht frei von Ironie, wenn man sich das Alter Walsers zu diesem Zeitpunkt vor Augen führt, aber auch die übrigen Protagonisten wie Roman Herzog, Marcel Reich-Ranicki oder Klaus von Dohnanyi, die im Zuge der Diskussion lautstark das Wort ergriffen haben, gleichen den Teilnehmern einer Altherrenrunde wie Rupprecht Podszun in der Süddeutschen Zeitung treffend bemerkt hat. Der Kolumnist hat dabei die nachfolgende Generation als eigentlichen Adressatenkreis der umkämpften Diskussion ausgemacht, der sowohl Walser als auch Bubis ihre Form des Erinnems an die NS-Zeit diktieren wollten. ^^ Martin Walser hat sich dabei für die Befreiung des Gewissens von staatlich verordneter Zwangserinnerung ausgesprochen, die seiner Meinung nach nicht geeignet ist, eine tiefer gehende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit voranzutreiben. Der Maßstab, den er dabei angelegt hat, ist jedoch nicht mehrheitstauglich: Seine Stellungnahme gegen den Bau des Holocaustdenkmals in Berlin etwa ist höchstens noch als ästhetische Kritik am Entwurf des

70 Vgl. Walser-Bubis-Debatte, S. 386fF. 46

Denkmals nachvollziehbar.^' Im Übrigen bleibt Walser zu sehr den eigenen biographischen Erfahrungen verhaftet, derm die ihm nachfolgende Generationen besitzen keine authentischen Erfahrungen an die NS-Zeit mehr und ihr Bedürfnis nach einer persönlichen Aufarbeitung dieser Zeit wird wohl kaum an jenes des Schriftstellers heranreichen und auch nicht dessen umfang und Qualität besitzen können. Martin Walsers Forderung nach einem entritualisierten und individuellen Erinnern trägt demzufolge stark utopische Züge. Unter Berücksichtigung der Forschungen Jan Assmanns, wo festgestellt wurde, dass ein an Personenberichte gebundenes kommunikatives Gedächtnis normalerweise nicht weiter als 80 Jahre zurückreicht, erhärtet sich dieses Urteil. Assmann spricht auch davon, dass es maximal drei bis vier Generationen sind, die aufgrund ihrer Zeitgenossenschaft für eine historische Schuld direkt verantwortlich gemacht werden können.^^ Die Errichtung eines artefaktgebundenen kulturellen Gedächtnisses ist daher unumgänglich, um dauerhafte Erinnerungsformen zu schaffen. Dabei muss man sich natürlich immer im Klaren darüber sein, dass die Authentizität der Erinnerung verloren geht und eine neue Form des Gedenkens an die Vergangenheit geschaffen wird. Unter diesem Blickpunkt beinhaltet die eben besprochene Stelle in Walsers Text die poetische Klage über den Verlust der unmittelbaren Eriimerung. Dem Bau des Denkmals fiir die ermordeten Juden Europas wurde im Übrigen 1999 vom deutschen Bundestag mit großer Mehrheit zugestimmt und das Mahnmal selbst wurde nach seiner Fertigstellung am 10. Mai 2005 in Berlin eingeweiht. Aus der Perspektive Walsers stellt das Denkmal wahrscheinlich eine Taktlosigkeit dar, da es neue Erinnerungsformen vorgibt, was im Gegensatz zu Walsers poetischem Unterfangen seine Kindheitserinnerungen betreffend steht. Ein solcherart angewendetes Genauigkeitsprinzip, dass auch von Seiten der Holocaustopfer geltend gemacht werden könnte, betrifft aber mittlerweile nur mehr die klein gewordene Gruppe der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. Eine am Majoritätsdenken geschulte Demokratiepolitik hat mit der Errichtung des Denkmals jedoch wohl den Adressatenkreis der jüngeren Generation im Auge gehabt, was eigentlich auch als Anzeichen dafiir zu verstehen ist, dass das Vergessen auf die Anliegen der Kriegsgeneration bereits begonnen hat.

" Vgl. Sonntagsrede, S. 20. '^ Vgl. Assmann, S. 50f. 47

2.2.2 Aktuelle Entwicklung

Was Walsers Idee einer modernen Deutschen Nation betrifft, kann man aus heutiger Sicht sagen, dass sie weitgehend Realität geworden ist. Auffalligerweise hängt das mit der 1998 gebildeten linken Rot-Grün-Regierung in Deutschland zusammen, die für viele überraschend einen deutlich nationalen Kurs gefahren war. Das war wohl nur deshalb möglich, da sich deren politische Vertreter als Spätgeborene in Bezug auf die Nazivergangenheit auf moralische Unbelastetheit berufen konnten, zudem waren Persönlichkeiten wie Joschka Fischer aktive Mitglieder der 68er-Studentenbewegung gewesen. Augenscheinlich sind hier Parallelen zur Einstellung Martin Walsers vorhanden, ein Nachteil erwuchs dem deutschen Großschriftsteller allerdings aus seinem Auftreten als einzelkämpfender Intellektueller: Im Unterschied zu den Politikern, die sich irmerhalb der Partei und der Koalition gegenseitig den Rücken stärken konnten, war Walser ständig gezwungen, sich öffentlich auf eigene Faust zu verteidigen. Obwohl er dabei auch öfters Hilfe von anderen namhaften Intellektuellen erhalten hat, ist es sicherlich sehr Kräfte raubend gewesen, in der Debatte rund um seine Friedenspreisrede zu bestehen. Eine vollständige Selbstverteidigung war bei einem so prominenten, diskussionsfreudigen und moralisch motivierten Widerpart wie Ignatz Bubis nicht möglich und trotz des eher versöhnlichen Ausgangs der Auseinandersetzung hat der politische Ruf des Schriftstellers alleine durch die Intensität der Debatte doch Risse bekommen. Aus heutiger Sicht könnte man Walsers aber auch als Vorreiter einer zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung ansehen, wobei er für diese Rolle mit dem teilweisen Verlust der politischen Unantastbarkeit seiner Person bezahlt hat. Diese Etikettierung stellt eine nachträgliche Wertung dar, die man aus linker Sicht der Fairness halber treffen müsste, wodurch zumindest die wiederholten ungerechtfertigten Stigmatisierungen Walsers als konvertierter Sozialist aufgehoben wären. Eine solche Reaktion würde aber noch immer am eigentlichen Kern der Friedenspreisrede vorbeigehen, denn diese muss wie gesagt weitgehend außerhalb politischer Kategorien verstanden werden. Im Übrigen zeigte sich das wiedererwachte Nationalbewusstsein der Deutschen nicht nur in intellektuell gefiihrten Diskussionen, sondern konnte am allerdeutlichsten während des massenkultvirellen Großereignisses der in Deutschland ausgetragenen Fußball- Weltmeisterschaft des Jahres 2006 beobachtet werden. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Gastgeberland ein bedenkenloser Nationalstolz in großem Stil ausgelebt und in massenmedialer Vervielfältigung zur Schau gestellt. Aus der weltoffenen Gastfreundlichkeit, die gegenüber Sportbegeisterten aus aller Welt an den Tag gelegt wurde, 48 haben die Veranstalter dann auch großen finanziellen Profit geschlagen. Man kann sagen, dass hier der Sport, der ja traditionell als Trägermedium nationaler Chauvinismen fungiert, tatsächlich grenzüberschreitend und global aufgetreten ist. Entscheidend war dabei nicht nur die gewinnbringende Vermarktung des Multikulturalismus, der einende Faktor in diesem Prozess ist das Geld selbst, das als unpersönliches Tauschmedium in der Lage ist, nationalistische Stereotypen in einem globalisierten Zusammenhang aufgehen zu lassen, in dem pluralistisch gedacht werden kann. Die Nähe der Juden zur Geldwirtschaft erscheint unter diesem modernen Gesichtspunkt als organisatorische Notwendigkeit, stellen die Juden doch den Archetyp des Kosmopolitischen dar.^^ Nun soll hier nicht der Globalisierung das Wort geredet werden, deren Schattenseiten allseits bekannt sind, es gilt jedoch zu zeigen, dass sich die sozialökonomischen Verhältnisse, wie sie heute in Deutschland herrschen, grundlegend von jenen Zuständen unterscheiden, die als Entstehungsbedingungen antisemitischer Ressentiments in der Vergangenheit eine Rolle gespielt haben. Es kann mit gutem Gewissen behauptet werden, dass die kapitalistische Gesellschaft der westlichen Welt derzeit keine Wiederholung des Holocaust beflirchten lässt.

2.3 Literarisches 2.3.1 Oline einander

Der Roman Ohne einander erzählt ungemein eindringlich von Vereinzelung und emotionaler Verwaisung innerhalb einer Familie und den daraus resultierenden erotischen Konsequenzen. Die Wirksamkeit, mit der die Thematik geschildert wird, ist dabei nicht zuletzt dem polyperspektivischen Aufbau des Romans geschuldet, der bei fortlaufender Handlung von der Sicht der Ehefrau Ellen zur Perspektive der Tochter Sylvi wechselt, um mit den Ausführungen des Ehemannes und Vaters Sylvio zu enden (Sohn Alf bekommt allerdings keinen eigenen Erzählteil). Der erste Abschnitt, der sich in den Redaktions- und Arbeitsräumen des „£).45"-Magazins abspielt, fiihrt dabei das Schlüssellochprinzip in Walsers Roman ein: der Name der Zeitschrift (ursprünglich DAS MAGAZIN DER MEINUNG) ist natürlich eine Anspielung auf die FAZ und die Vorlage für den dort arbeitenden Literaturkritiker Willi Andre König ist offensichtlich Marcel Reich-Ranicki {-^ 3.1.1.1). Diese Verweise auf die außerliterarische Realität wurden im Tod eines Kritikers weiter

" „Erinnerung und Vergebung in der Zweiten Moderne", S. 445ff. 49 entwickelt, weswegen Ohne einander mittlerweile als Ouvertüre zum neun Jahre später erschienen Kritikerroman gelesen werden kann. Von Interesse für die hier entwickelte Diskussion ist der erste Abschnitt von Ohne einander und zwar deswegen, weil er einen ziemlich umfangreichen Subtext enthält, welcher den Umgang mit dem Thema Judentum zvim Inhalt hat. Am Anfang der Handlung steht ein von Andre König verfasster Artikel, der nach Meinung des „DAS"-Chefs, des „Prinzen", den „Eindruck jüdischer Dominanz beim organisierten Verbrechen" (S. 14) erwecken könnte. Weil der Prinz zwar süchtig danach sei „als Kapitalist, Kommunist, Anarchist, Atheist, Nationalist, Militarist, Pazifist, Satanist, [...] verdächtigt zu werden", nicht aber in den „trivialsten und uninteressantesten Verdacht, den des Antisemitismus nämlich" geraten möchte, will er den Artikel zunächst streichen, tut dies aber nicht, nachdem Andre König ihm mitgeteilt hat, seine Großmutter mütterlicherseits heiße Hilde Wasserfall (vgl. S. 17). Allerdings wird Ellen beauftragt, eine positive Besprechung des Films Hitlerjunge Salomon als Auswiege für Königs Artikel über Benjamin ,Bugsy' Siegel und andere jüdische Gangsterlegenden wie Meyer Lansky, Lepke Buchhalter oder Samuel Bloom zu verfassen. Der Umgang mit dieser Stelle ist einigermaßen schwierig und man muss sich fragen, was Martin Walser dazu bewogen hat, das Motiv der jüdischen Mafiosi zu verwenden. Die einzig nachweisliche Funktion, die das „Kosher Nostra"-Motiv im Roman erfüllt, ist jene, am Beispiel der Reaktion des Prinzen den heuchlerisch wohlmeinenden Umgang innerhalb der Medienwelt mit dem Thema Judentum vorzufahren, dessen Ursprung nicht in Respekt oder Sympathie zu suchen ist, sondern im verlagspolitischen Kalkül. Im später folgenden Gespräch mit Ellen urteilt der sprachgenaue „Studienrat" Wolf Koltzsch über seine „D^5"-Kollegen: Außer Willi Andre König vmd ihm selbst seien alle in der „ß/(S"-Redaktion „sehr unsichere Antifaschisten" [...] „Das sind doch alles nur Philosemiten. Und Philosemiten sind, ich glaube, nach Kraus, Antisemiten, die noch nicht wissen, daß sie welche sind." (S. 52). Diese Aussage inkludiert zunächst eine Beanstandung des intellektuellen Niveaus innerhalb der Redaktion, mündet darm aber in einer Feststellung, die, liest man sie als fiktionalisierte Autorenmeinung, bedeutsam für ein Urteil über Walsers Umgang mit dem Problembereich der öffentlichen Thematisierung des Judentums nach dem Zweiten Weltkrieg ist: „[...] weil Willi [Andre König] kein Antisemit sei, traue er sich, die jüdische Prominenz der US- Gangsterwelt hervorzuheben. Und weil der Prinz ein Antisemit sei, habe er Angst, als solcher erkannt zu werden." (S. 52f) Dieser Vorwurf wird noch unterstrichen durch den Hinweis auf den „sexuell bezogenen Antisemitismus", in den der Prinz während privater Empfänge in seiner Bogenhausener Villa oftmals verfällt, was sich etwa in Witzen über die 50

Geschlechtsorgane männlicher Juden zeige (S. 53f). Auf diese Weise gelingt Walser die Schilderung einer Doppelmoral im Umgang mit dem Antisemitismus. Ein entscheidendes Detail in der Darstellung ist die Tatsache, dass Willi Andre König seine jüdische Großmutter offensichtlich nur erfunden hat, um den Artikel publizieren zu dürfen (S. 52). Wer wann als Antisemit erscheint, wird in Ohne einander somit nicht als Funktion einer tatsächlichen moralischen Einstellung dargestellt, sondern in Zusammenhang mit dem jeweiligen Image gebracht, wobei man an der Figur des Prinzen sehen kann, dass ein solches Image durchaus mit dem jeweiligen personalen Umfeld wandelbar ist. Der so eingeführte Relativismus im Umgang mit dem Thema Judentum muss als an die Medien adressierte Sozialkritik gelesen werden, welche die Hohlheit der Political Correctness vor Augen führt. Die Relevanz dieser Kritik zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie auch ein brauchbares Erklärungsmodell für die medialen Vorgänge rund um Schirrmachers Skandalisierung von Tod eines Kritikers abgibt. Dieser Kritik hat Martin Walser offenbar auch eine bei der Veröffentlichung des Romans wenig beachtete Provokation beigefügt: Wolf Koltzsch scheint von ihm nämUch offenbar absichtlich unter Verwendung antisemitischer Klischees gezeichnet worden zu sein: „kurze Beine'', „langer Oberkörper", „riesiger Kopf\ „schleichender Gang", „komischer Bart", „lauernde Haltung", „verlogener Blick" (vgl. S. 45f). Wulf D. Hund liefert Beispiele dafür, dass diese Eigenschaften zum Fundus der antisemitischen Unterstellungen gehören, ebenso die „Psoriasis" und der „Hand- und Fußschweiß" unter denen Koltzsch ebenfalls leidet.^'* In Walsers Text findet sich darüber hinaus ein entscheidender Hinweis dafür, dass er mit der Zeichnung von Wolf Koltzsch bewusst eine Fortschreibung antisemitischer Klischeebilder betrieben hat: Bei seinem Eintritt denkt sich Ellen: „Wenn sie hier Namen zu vergeben gehabt hätte, hieße der Alberich oder Mime. Daß das zwergenhaft Boshafte herausgekommen wäre." (S. 45). Laut Hund bezieht sich Walser hier auf die antisemitische Interpretation der aus dem Nibelungenlied bekannten Figur durch Richard Wagner. ^^ Dieser Verdacht ist nicht aus der Luft gegriffen, denn die einzigen zwei Sätze ihres Artikels, die Ellen nach 17 Stunden Arbeit zusammengebracht hat lauten: „Wagnerbücherautoren sollten miteinander in Urlaub fahren. Sie verstünden einander besser, als wenn sie mit ganz anderen Leuten [...] verreisten." (S. 61). Martin Walser scheint hier also tatsächlich eine antisemitische Folie verwendet zu haben. Zusätzliche Brisanz erhalten diese Schilderungen dadurch, dass Koltzsch Ellen zum Geschlechtsverkehr nötigt, nachdem er ihr bei der Fertigstellung ihres Artikels behilflich gewesen ist (vgl. S. 80f). In Ohne einander findet sich somit das Zerrbild einer jüdisch konnotierten Figur, die über eine blonde Deutsche herfallt, was auf den ersten Blick

''' Vgl. Hund, S. 220-222. "Hund, S. 219. 51 erschrecken mag, weil es sogar an die Ikonographie der antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer denken lässt, die im Dritten Reich sehr populär war. Walser bewegt sich an dieser Stelle von Ohne einander also in einem hochsensiblen Bereich und es verwundert ein wenig, dass dieser Aspekt des Romans bisher nicht ausgiebiger diskutiert worden ist. Kann man aber die eben skizzierte Stelle als Beweis für einen literarischen Antisemitismus Walsers heranziehen? Zur Klärung dieser Frage ist es notwendig sich zu überlegen, zu welchem Zweck der Friedenspreisträger Walser mit antisemitischen Klischees hantiert. Erst einmal ist klar, dass Walser keine antisemitische Propaganda nach Stürmer-WorhWd im Sinn gehabt hat; ein solcher Verdacht wäre schlichtweg lächerlich. Außerdem ist Wolf Koltzsch noch nicht einmal Jude, vom Versuch einer herabsetzenden Denunziation kann also nicht die Rede sein, zumal an Koltzsch abgesehen von seinem hässlichen Äußeren sein Intelligenz durchaus auch positiv hervorgehoben wird. Der entscheidende Punkt wurde bereits weiter oben in der Kritik einer verlogenen Moral im Medienbetrieb aufgezeigt. Offenbar war es Walsers Absicht, diese Kritik an ihrem Ursprungsort wirksam werden zu lassen, indem er mithilfe der Zeichnung seiner Wolf Koltzsch-Figur die vermeintlich übersensible Mediengesellschaft zu provozieren versucht hat. Der Beginn des Vorabdrucks von Ohne einander an Reich-Ranickis Geburtstag^^ würde zu einer solchen Art der Inszenierung passen. Beinahe ein wenig schauerlich mutet das offenbar bewusste Herbeizitieren überkommener Stereotype schon an, man muss allerdings festhalten, dass jede Kritik einer physiogonomischen Charakterisierung aufgrund der vermeintlich beleidigenden Wiederaufnahme antisemitischer Klischees von der Gültigkeit eben jener Klischees ausgehen muss imd auf diesem Weg die Wirksamkeit der Klischees weiter fortschreiben würde. Mit der Zeichnung seiner Wolf Koltzsch-Figur wollte Martin Walser offensichtlich solche Denkmuster als doppelbödig entlarven. Zu entscheiden, ob es sich dabei letztendlich um eine unnötige Taktlosigkeit, eine provokante Marketingstrategie oder eben doch um die längst fallige Kritik einer ungenauen Geisteshaltung gehandelt hat, sei an dieser Stelle denjenigen überlassen, die einen besseren Überblick über den deutschen Medienbetrieb in seiner Gesamtheit besitzen. Es muss hier aber noch darauf hingewiesen werden, dass das Spiel mit der Öffentlichkeit natürlich längst zum ästhetischen Repertoire des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss, was nicht nur den Autoren bewusst ist. Die Verweigerung einer Skandalisierung des Romans Ohne einander deutet darauf hin, dass Walsers offensichtlich vorhandener Wille zum Skandal möglicherweise durchschaut wurde und aus unbekannten Gründen niemand im deutschen Medienbetrieb Lust hatte, beim Spiel des Autors mitzumachen. Ganz anders im Fall von Tod eines Kritikers, der

^* Vgl. Seibt 52 eigentlich als Text über einen Skandal zu verstehen ist: Frank Schirrmacher hat das vermeintlich auf die Erregung medialen Ärgernisses zielende Angebot des Textes allzu schnell angenommen, wodurch Martin Walser quasi nachträglich zu seinem Skandal gekommen ist/' Dass der Autor im Feuilleton dabei relativ schlecht abgeschnitten hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Adressaten seiner Kritik durch Ohne einander vorgewamt gewesen waren imd bereits über vorgefertigte Antworten verfügten.

2.3.2 Ein springender Brunnen

Seinen wohl bemerkenswertesten Beitrag zur literarischen Erinnerung an die NS-Zeit hat Martin Walser 1998 ein paar Monate vor seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels mit dem Roman Ein springender Brunnen vorgelegt. Es handelt sich dabei um eine Art Autobiographie in literarischer Form, die allerdings nur den Zeitraum von 1932 bis 1945 erzählt, sich also dezidiert mit dem historischen Kapitel der deutschen Nazi- Vergangenheit beschäftigt, das der Autor in Bezug zu den Erlebnissen seiner Jugendjahre setzt. Erzählt werden dabei Ereignisse aus Walsers Schulzeit bis hin zu seinem kurzen Wehrdienst. Die Tatsache, dass Martin Walser seinen zweiten Vornamen Johann zur Benennung seines Protagonisten im Roman verwendet, suggeriert bereits eine große Nähe der fiktiven Handlung zur Biographie ihres Autors; die vorgegebene Authentizität ist daher ein ganz entscheidender Teil der Werkkonzeption. Das innovative Moment in der Poetik des Romans ist der Umgang mit der Vergangenheit: Im Rahmen dreier mit „Vergangenheit als Gegenwart" betitelter Kapitel, die jeweils die drei Hauptabschnitte des Romans einleiten, breitet der Autor seine Geschichtsauffassung aus. Der viel zitierte Anfang des Romans lautet dabei wie folgt:

Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Allerdings ist man dem näher als anderen. Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte. Als das war, von dem wir jetzt sagen, daß es gewesen sei, haben wir nicht gewußt, daß es ist. Jetzt sagen wir, daß es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen. (S. 9)

" Vgl. Borchmeyer, „Der Roman als Inszenierung seiner Wirkungsgeschichte" 53

Die dargestellte Erinnerung in Ein springender Brunnen versucht sich an der Umkehrung dieser Sätze: Walsers arbeitet sich an der Wiederherstellung der Perspektive seiner Kindheit ab, die er von nachträglichen Deutungen befreit präsentieren möchte. Ein solches Projekt setzt ein Bewusstsein für den interpretatorischen Charakter der Erinnerung voraus und versucht mit rekonstruierter Authentizität darauf zu antworten. Was dabei herauskommt, ist die Geschichte des eher durchschnittlich veranlagten jungen Johann, dessen Mutter aus wirtschaftlichen Gründen der Nazionalsozialistischen Partei beitritt und der sich selbst ziemlich ambivalent und durchaus mit Interesse gegenüber den Nazis verhält, mit denen er immer wieder zusammentrifft. Die Schilderung der schleichenden Machtübernahme durch die Nazionalsozialistische Partei ist dabei wie selbstverständlich mit der Jugend des Protagonisten verwoben: Johann konkurriert mit seinem Freund Adolf, dem Sohn eines Paradenazis, um das Zirkusmädchen Anita, verliert seinen im Krieg gefallenen Bruder und findet schließlich in Lena seine erste große Liebe. Der Roman wurde in der am 14.8.1998 ausgestrahlten Sendung des Literarischen Quartetts unter anderem dafür kritisiert, dass Auschwitz in ihm keine Rolle spielt,^^ Walsers jugendlicher Alter Ego ist in der Darstellung jemand, der von der Judenvernichtimg der Nazis nichts gewusst hat. Tatsächlich übt der Autor diesbezüglich keine Kritik im Roman, auch ist sein jugendlicher Protagonist keiner, der irgendwie Widerstand gegen das Eindringen der Nazis in die dörfliche Idylle leisten würde. Entscheidend bei der Bewertung von Ein springender Brunnen ist daher die Frage, wie man mit der darin geschilderten Perspektive eines Angehörigen der Tätergemeinschaft umgehen muss, die ja durchaus als Antwort auf die Überlebensberichte gleichaltriger jüdischer Opfer gelesen werden kann.''^ Sehr aufschlussreich ist die komparatistische Studie von Helmuth Kiesel, welche das Walser'sehe Erinnerungsmodell mit jenem von Günter Grass vergleicht, der in seinem weltberühmten Roman Die Blechtrommel ebenfalls aus deutscher Sicht eine Rückschau in die NS-Zeit schildert, deren autobiographischer Anteil allerdings weit geringer zu veranschlagen ist. Der Aufsatz verweist unter anderem auf die Bedeutung der unterschiedlichen Handlungsschauplätze: Allein die Frontstadt Danzig, in der während der ,Reichskristallnacht' mindestens drei Synagogen brannten, bietet als Schauplatz ungleich mehr Möglichkeiten zur Schilderung antijüdischer Naziverbrechen als das ländliche, größtenteils katholische Wasserburg. SO Die• allegorisch konstruierte Figur Oskar Matzerath wiederum ist bereits

'^ Worauf Walser wiederum im Rahmen seiner Friedenspreisrede Bezug genommen hat, indem er das Konzept der Perspektivität ins Spiel brachte - Vgl. Sonntagsrede, S. 19. '^ Vgl. Lorenz, S. 381 f. insbesondere Ruth Kiügers weiter leben. Eine Jugend wird dort als lohnender Anknüpfungspunkt hervorgehoben. ^''Vgl. Kiesel, S. 351. 54 aufgrund ihres Außenseitertums die personifizierte Subversion. Der Missklang seiner Blechtrommel vertont symbolisch den Rhythmus einer dissonanten Zeit und wird auf der Handlungsebene zum Mittel des Widerstands, wenn Oskar als störender Gegentrommler auf einer Naziparade auftritt.^' Zudem hat Grass seinen Protagonisten mit der Gabe der Voraussicht ausgestattet, die ihn schon früh das Kommen des „Gasmannes" ahnen lässt. Durch den Vergleich der beiden Romane wird deutlich:

Die Blechtrommel bietet wunschgeleitete und normenkonforme Erinnerung. Der Springende Brunnen hingegen bietet eine Erfahrung der NS-Zeit, die von den Normen der späteren, sensibilisierten Nachkriegszeit noch nichts [...] wissen will - und deswegen mit deren Bewusstsein kollidiert. [...] Der Springende Brunnen bietet realitätsorientierte und nicht normierte Erinnerung. Konkret: Während die Blechtrommel zeigt, wie man gerne gewesen wäre: hellsichtig und unangepaßt oder gar widerständisch, zeigt der Springende Brunnen, wie man tatsächlich war: ahnungslos und mehr oder minder begeistert.

Der dokumentarische Charakter im Springenden Brunnen wird allerdings im Kapitel „Das Wimder von Wasserburg" im Modus des Phantastischen gebrochen: Es wird erzählt, wie Johann mit dem Fahrrad seinem Schwärm dem Zirkusmädchen Anita ins benachbarte Dorf nachfahrt. Nach seiner Rückkehr nach Wasserburg erfahrt er, dass ihn niemand bis auf seinen Hund Teil vermisst hat, weil ein mysteriöser Doppelgänger derweil Johanns Tagwerk übernommen hat. Dieser Doppelgänger hat unter anderem einen Schulaufsatz über Heimat und Winnetou verfasst, der ein gewichtiges Urteil enthält: „Die weiße Rasse tut, als sei sie etwas Besseres. Solange sie andere Rassen vernichtet, ist sie etwas Minderes, ist sie schlimmer als jede andere Rasse." (S. 252). Eine solche Aussage hat ihren Ursprung zwar im nazionalsozialistischen Rassedenken, steht aber in scharfem Kontrast zur Überlegenheitsideologie der Nazis, was Johanns Lehrer natürlich zu einer Replik herausgefordert hat. Sein Doppelgänger hat aber offensichtlich das Wortduell mit dem Nazi- Lehrer gewonnen und sich dessen Respekt verdient; er erscheint somit als geistiger Widerstandskämpfer. Kathrin Schödel hat dazu treffend angemerkt: „Die anti-realistische ,Wunder'-Episode betont die Fiktionalität der Romanwelt. Zugleich entlarvt sie ironisch den Impuls, die eigene Biographie im Rückblick ,politisch korrekt' zu beschönigen."^^ Zieht man die Episode vom Rest der Handlung ab, bleibt unterm Strich die Selbstdarstellung Walsers als unschuldiges Kind in einer schuldbeladenen Zeit. Der sehr hohe autobiographische Gehalt des Springenden Brunnens lässt diesen Roman nicht zuletzt als literarisches Vermächtnis

" Vgl. ebd., S. 346f. *^ Ebd., S. 353. ^^Schödel, S. 316. 55 erscheinen. Walsers Versuch der Wiederherstellung seines jugendlichen Wissensstandes beinhaltet aber auch einen Verzicht auf das Wissen über die Naziverbrechen, welches sich mittlerweile im kollektiven Gedächtnis angesammelt hat, was deutlich macht, dass der Roman im Grunde nicht dialogbereit auftritt. Außerdem zählt die überwiegende Mehrheit der im Roman dargestellten Opfer von NS-Verbrechen (Oppositionelle, Homosexuelle, Behinderte, Soldaten) zur Gruppe der nichtjüdischen Deutschen und Lorenz geht soweit zu behaupten, dass der Roman geprägt sei von der Konstruktion einer deutschen Opferrolle. Es sei hier dahingestellt, inwieweit diese Betrachtung der Opfer der provinziellen Perspektive geschuldet ist. Dass der jüdische Viehhändler Wechsler den Krieg überlebt, ist aber kein Fall von Verharmlosung, sondern wird von Walser versöhnlich geschildert, denn immerhin nimmt er Stefan (vormals Adolf), den vaterlos gewordenen Sohn des Obemazis Brugger bei sich auf.^^ Fakt bleibt außerdem, dass am Bild der Nazis als Verbrecher nicht gerüttelt wird. Auch schildert der Roman mehr oder weniger subtile dafür in ihrer wirkungslosen Verweigerungshaltung umso realistischer wirkende Möglichkeiten des Widerstands - etwa in Form eines gegen die Nazis gerichteten Witzes^^ oder in Person der beständig unangepasst mit ,Jieil Hitler allerseits" grüßenden Frau Fürst (z.B. S. 276). Die Bedeutung des Romans ist auf der individuellen Autor-Ebene wohl im Akt des Konservierens zu suchen, im gesellschaftlichen Kontext trägt er zur Repluralisierung der NS-Erinnerung bei. Bezogen auf die Friedenspreisrede Walsers müsste man hinzufiigen, dass der Autor vom Bodensee auch eine Erinnerungsform jenseits der Fernsehbilder geschaffen hat. Der Roman ist weiters ein Monument der persönlichen Gewissenserforschung und ähnlich wie die Friedenspreisrede als konsequente Fortführung der literarischen Innerlichkeit Walsers zu lesen. Lorenz meint zwar in der Subjektivität der Erinnerung eine „Poetik der Verdrängung" eingeschrieben zu sehen,^^ viel eher erinnert der Roman aber an eine literarische Beichte. Zu einem derart katholisch geprägten Schreibakt hat sich - später als Walser - letztlich auch sein gleichaltriger Schriftstellerkollege Günter Grass entschieden, der in seiner Autobiographie bekundet, seinen Dienst als Panzerschütze bei der SS lange Zeit „aus nachwachsender Scham" verschwiegen zu haben, sich aber wie Walser an sein kindliches Bewusstsein zurückzuerinnern versucht und zugibt: „Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird unter

Vgl. Lorenz, S. 390f. Vgl. Ein springender Brunnen, S. 370f. Auch Helmut Kiesel sieht in dieser Begebenheit ein Zeichen für „Versöhnung" oder zumindest „den Willen zu einem neuen Miteinander" - Vgl. Kiesel, S. 356. ** Ebd., S. 379 - „Warum werde jetzt auf die Böden der Nachthäfen das Hakenkreuz gemalt, hieß damals die Frage, sagte Fritz, und die Antwort war: daß die Arschlöcher sehen, was sie gewählt haben. " "Vgl. Lorenz, S. 391. ** Grass, S. 127. 56 anderem die Waffengattung wichtig gewesen sein [...]" SO Sowohl Walser als auch Grass dokumentieren auf ihre Art das Verflihrungspotential des Nazi-Regimes, tun das im jeweiligen Werkzusammenhang aber auf gewissenhafte imd kritische Weise.

2.4 Kritischer Kommentar

Es kann gesagt werden, dass Judendarstellungen und die deutsch-jüdische Thematik in Martin Walsers Werk Tradition haben,^*^ was zunächst einmal als Zeichen für den Realitätsbezug und Aktualitätsgrad seiner Zeitromane, Essays und öffentlichen Reden zu werten ist. Aus dem schlichten Aufgreifen dieser Thematik durch den Autor die Diagnose eines literarischen Antisemitismus ableiten zu wollen, wäre grundfalsch, denn nichts spricht für eine Tabuisierung und Verbannung dieses Problemkreises aus der Literatur der Nachkriegszeit, im Gegenteil, nach den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs bedurfte es sicherlich des wiederholten Versuchs einer Aufarbeitung der Vergangenheit und einer erneuten Annäherung zwischen Täter- und Opfergesellschaft. Bei der Bilanzierung von Martin Walsers Beitrag zu diesem Annäherungsversuch darf nicht vergessen werden, dass der Großschriftsteller seine Dissertation über den damals noch weniger geschätzten jüdischen Autor Kafka abgefasst hat,^' die Publikation der Tagebücher Victor Klemperers entscheidend vorantrieb und sich nicht zuletzt um den Verlag von Ruth Klügers Autobiographie weiter leben. Eine Jugend bemühte. Walsers späterer Entschluss den Roman Ein springender Brunnen zu schreiben und so die literarische NS-Erinnerung um den Bericht eines Angehörigen der Tätergemeinschaft zu erweitem, ist demokratiepolitisch sicherlich wünschenswert gewesen, weil er so „die Zurückgewinnung eines Bezugs zur deutschen Geschichte in ihrer Komplexität' beßirdert hat.^^ Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bei einer anwachsenden Zahl solcher mehr oder minder fiktiven Berichte (zu nennen wäre hier gerade ob seines Bestseller-Status auch Bernhard Schlinks Der Vorleser^^) die nicht zu leugnende Gefahr eines Rückschritts in der Erinnerungskultur besteht, der dann erfolgt wäre.

''Ebd., S. 126. '" Hier sei noch einmal auf den sehr ausführlichen Katalog von Lorenz verwiesen. Leider geht der Autor wie gesagt ziemlich fahrlässig mit seinem Material um. " Hans Reiss bezeichnet Walser in seinem Aufsatz sogar als „Pionier der Kafka-Forschung" - vgl. Seelenarbeit an Deutschland, S. 261. ^] Van der Will, S. 285. '^ Eine detaillierte Besprechung des Romans unter dem Gesichtspunkt des darin enthaltenen Erinnerungsmodells leistet Kathrin Schödels Aufsatz. 57 wenn das zweifellos vorhandene „asymmetrische Opfer-Täter-Schema''^'* in Frage gestellt, nivelliert oder gar umgekehrt werden würde. Hier ist eine globalere, medienkulturelle Perspektive über einen längeren Zeitraum anzulegen, um gegebenenfalls mit einer entsprechenden Kritik auf eine solche Entwicklung reagieren zu können. Die Furcht vor einem derartigen gesellschaftlichen Trend darf allerdings nicht die Bewertung des einzelnen Kunstwerks beeinflussen, weil das unmittelbar negative Konsequenzen für die Freiheit der künstlerischen Rede nach sich ziehen würde. An dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass Martin Walser durchaus auch jüdische Figuren zeigt, die aufgrund (nachvollziehbarer) Ressentiments im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ein feindliches Verhalten gegenüber Deutschen an den Tag legen. Zu nennen ist hier etwa jene Episode im Schwanenhaus, wo Frau Reinhold berichtet, wie sie in Amerika aufgrund ihrer deutschen Herkunft von jüdischen Taxichauffeuren, Kürschnern und Ärzten teilweise aggressiv geschnitten wird.^^ Die Deutimg einer solchen Stelle als ein Mittel zur Konstruktion einer deutschen Opferrolle, hieße aber Äpfel mit Birnen vergleichen und Auschwitz endgültig zu banalisieren. In Anbetracht der Tatsache, dass Martin Walser nie an der Täterschaft der Nazis gerüttelt hat und die Verwendung von Auschwitz im Sinne einer Chiffre fur die vom NS-Regime begangenen Grausamkeiten betrieben hat, kann es nur seine Absicht gewesen sein, zu zeigen, dass es auch deutsche Opfer gegeben hat, beziehungsweise, dass es möglicherweise gerade jene unschuldigen Kinder einer schuldbeladenen Zeit (zu denen er sich offenbar selbst zählt) sind, die am stärksten unter nachträglichen Schuldzuweisungen zu leiden haben. Der Antisemitismusvorwurf an Walser erweist sich letztendlich als unbegründet, da der Schriftsteller meilenweit von antisemitischen Ideologien wie dem nazionalsozialistischen Rassenantisemitismus, Antizionismus oder auch einem katholischen Antijudaismus entfernt ist. Einen kritischen, mitunter auch polemischen Umgang mit dem Thema Judentum kann man Martin Walser zuschreiben, diskutabel ist dabei allerdings höchstens der Takt seines Vorgehens.

'"' Werner Bergmann, zitiert nach: Lorenz, S. 56. '^ Vgl. Schwanenhaus, S. 73ff. 58

3 Komparatistische Betrachtungen: Tod eines Kritikers im Werkzusammenhang

Noch in einem Interview, das Martin Walser dem Regionalblatt Kleine Zeitung gegeben hat und das in der Ausgabe vom 23. April 2004 abgedruckt ist, schildert der Schriftsteller voller Bestürzung, wie er nach der Diskussion um Tod eines Kritikers fiir eine Lesung in Göttingen Polizeischutz angeboten bekommen habe, weil aufgebrachte Jugendliche mit Transparenten, auf denen geschrieben stand „Deutschland denken heißt Auschwitz denken" gegen ihn demonstriert haben.^^ Die Bestürzung Walsers mündet letztendlich in einer Kritik des deutschen Autors an der Mediengesellschaft und an ihrer Pseudoinformation. Ein wenig Wehmut ist nachvollziehbar, wenn Walser anmerkt, dass er sich die Schlagwörter der Skandalmacher erneut aus dem Mund von Jugendlichen anhören musste, die keine Ahnung davon hätten, was er 40 Jahre lang geschrieben hat. Tatsächlich eröffnet erst der komparatistische Blick die Möglichkeit einer kritischen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Roman Tod eines Kritikers. Die oben vorgetragene Kritik der Zeitungsrhetorik hat den Skandal noch als Phänomen der Mediengesellschaft betrachtet und seine Entstehungsmechanismen beleuchtet. In diesem Abschnitt soll nun eine De- Skandalisierung mit literaturwissenschaftlichen Mitteln angestrebt werden, indem zunächst eine Analyse exemplarischer Stilmerkmale in Walsers Romanen vorgetragen wird. Auf diesem Weg soll gezeigt werden, dass es sich beim Tod eines Kritikers um einen typischen Walser-Text handelt, wodurch das Moment der Willkür in der Skandalerzeugung deutlich gemacht werden soll. Im Anschluss daran findet sich noch ein Werkvergleich zwischen Tod eines Kritikers und Walsers erstem bei Rowohlt veröffentlichten Roman Der Augenblick der Liebe, der in mancher Hinsicht einen literarischen Kommentar des Autors zum medialen Geschehen rund um seinen Vorgängerroman darstellt.

3.1 Stilbeschreibung

Die hier vorgetragene Diskussion stilistischer Elemente im Werk Martin Walsers basiert auf der Analyse eines Korpus von repräsentativen Texten, welche natürlich sämtlich in der

'® Vgl. „Ich trainiere, mich selbst zu erwürgen". Näheres zum Sachverhalt auch in Walser-Bubis-Debatte, S. 268f. 59

Bibliographie im Anhang verzeichnet sind. Zunächst einmal soll gezeigt werden, dass bestimmte stilistische Merkmale konstitutiv fur den Walser'sehen Erzählduktus sind. Durch die so getroffenen Verallgemeinerungen ist es möglich, einzelne Stellen im Tod eines Kritikers im Werkzusammenhang zu bewerten, wobei eine höhere Signifikanz der Aussagen als jene der Skandalmacher angestrebt wird. Die komparatistische Perspektive hat sich dabei als ideales Mittel erwiesen, am massenmedialenen, auf Augenblickswirksamkeit bedachten Kurzlebigkeitsdenken Kritik zu üben.

Am Beginn der Überlegungen steht natürlich die Frage, wie man denn Stil überhaupt definieren karm. Neben einer linguistischen Perspektive, die einzelne grammatische Merkmale untersucht, kommt eine literaturwissenschaftliche Sichtweise ebenso in Frage, wobei eine solche Betrachtung nicht zuletzt die verwendeten rhetorischen Gestaltungsmittel zu untersuchen hätte. Der Verweis auf die Rhetorik macht weiters klar, dass es daneben genauso gut möglich wäre, Stil in Kategorien zu beschreiben, welche sich mit den kommunikativen Aspekten der Texte befassen. Da hier keinem dieser Ansätze der Vorzug gegeben werden soll, musste die Arbeit anders strukturiert werden. Eine Hierarchisierung der Betrachtungen erfolgte zu diesem Zweck unter strenger Beschränkung auf ein formales Merkmal: ausschlaggebend war die jeweilige textuelle Ebene, der die einzelnen Stileme zugeordnet werden müssen. Deren Auswahl erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, will aber auf besonders markante Gestaltungselemente hinweisen, um zumindest die Umrisse eines stilistischen Profils des Autors Martin Walser zu zeichnen. Neben der Auflistung von Merkmalen war es dabei ein Hauptanliegen, immer auch Interpretationen der Sachverhalte mitzuliefem und so die Funktionen einzelner Stilfiguren ins Zentrum der Betrachtungen zu rücken. Bezogen auf den mehrfach öffentlich inkriminierten Tod eines Kritikers vermag die ästhetische Analyse einige an den Roman herangetragene Vorurteile durch das Einführen einer gewissen Diskurshöhe aus der Welt zu schaffen, was sie in die Lage versetzt, ein Kritikpotential zu entfalten, das nicht auf den fiktionalen Kosmos der Literatur beschränkt bleibt und die Grenzen einer werkimmanenten Betrachtung zu überschreiten in der Lage ist. 60

3.1.1 Lexikalisch-semantische Ebene 3.1.1.1 Personenbezeichnungen

In seinen literarischen Werken verwendet Martin Walser auffallend oft sprechende Namen, so genannte Antonomasien. Dieses aus der Rhetorik bekannte Stilmittel erfüllt bei Walser zumeist die Funktion einer Rollenbezeichnung. Welche Charaktereigenschaften hinter den Namen Zürn, Halm oder Kristlein stecken, ist in der Tat nicht besonders schwer zu erraten. Wer hinter diesen ziemlich einengenden Personenbezeichnungen Stereotype vermutet, liegt nicht ganz falsch, doch eine Simplifizierung der Sachverhalte vermeidet Walser schon indem er das literarische Spiel mit den Namen sehr komplex anlegt. Dazu muss man allerdings einigermaßen mit seinen Romanen vertraut sein, denn erst dann erschließen sich die intertextuellen Zusammenhänge, welche die Grenzen des einzelnen Werks durchlässig erscheinen lassen. Auffallend ist dabei die Tatsache, dass einzelne dieser Rollen in mehreren Romanen die Protagonisten stellen. Das so eingeführte Serialisierungsprinzip ist typisch für den Autor und hat auch literaturwissenschaftlich einen Niederschlag in Bezeichnungen wie Anselm-Kristlein-Trilogie (Halbzeit, Das Einhorn, Der Sturz) gefunden. Daneben sind auch die Bezeichnungen Helmut-Halm-Romane (Ein fliehendes Pferd, Brandung), Franz-Hom- Romane {Jenseits der Liebe, Der Brief an Lord Liszt) und Züm-Romane {Seelenarbeit (Xaver Zürn); Das Schwanenhaus, Jagd, Der Augenblick der Liebe (Gottlieb Zürn)) geläufig. Im stark autobiographischen Roman Brandung, welcher einen Amerikaaufenthalt Walsers an der kalifornischen Berkeley Universität literarisch verarbeitet und dessen Protagonist Helmut Halm beinahe verrückt vor Einsamkeit wird, erfährt der Leser etwa in Nebenbemerkungen von einem gewissen Meßmer, der eine Gegenfigur zum unsicheren Halm darstellt. Das Vorbild für diese Figur war wohl trotz abweichender Schreibweise jener Doktor Mesmer, der zur Zeit der französischen Revolution gelebt hat und mit dem unter anderem Hypnose oder so sonderbar klingende Dinge wie „animalischer Magnetismus" in Verbindung gebracht werden. Als ungemein schillernde Persönlichkeit ist er zu einer Fußnote in der europäischen Kulturgeschichte geworden, wobei erwähnenswert ist, dass die Etymologie des englischen Wortes mesmerizing auf Doktor Mesmer zurückgeht. Martin Walser wiederum hat ein Buch mit dem Titel Meßmers Reisen veröffentlicht, dass ähnlich wie Peter Handkes Das Gewicht der Welt voll von fragmentarischen Gedanken, psychologischen Betrachtungen, Aphorismen und Notizen ist, wodurch der Autor einige Einblicke in das vielschichtige Gewebe seiner Gedankenwelt freigibt. Dabei wird durch die Identifikationsfigur Meßmer mit künstlerischen Mitteln einerseits die notwendige Distanz zur Biographie Walsers hergestellt, andererseits 61 präsentiert Walser eine zweite Seite seiner Persönlichkeit, denkt man zurück an Brandung. Die Deutung der autobiographischen Anteile verändert sich also, je nachdem ob sie aus der Perspektive der Figur Helmut Halms oder jener Meßmers präsentiert werden. Durch die autobiographischen Bezüge nimmt die Walser'sehe Rollenprosa Züge einer literarischen Schizophrenie an, welche ein originelles Gestaltungsmittel darstellt, das die Einengung auf Stereotype verhindert und im Gesamtkontext die einzelnen Zuschreibungen wieder verrätselt, indem es eine fiktional-sekundäre Komplexität erzeugt. Andere Berührungspunkte mit der außerliterarischen Realität betreffen das Verhältnis von Martin Walser zu seinem größten Kritiker und Intimfeind Marcel Reich-Ranicki. In den zwei Romanen Ohne einander und Tod eines Kritikers hat sich Walser dem Genre des Schlüsselromans genähert und dabei den deutschen Literaturbetrieb und insbesondere Reich- Ranicki mit literarischen Mitteln angegriffen. Was seine Kritikergestalt betrifft, hat Walser im erstgenannten Roman die oben besprochene Technik der Typisierung um den Realitätsbezug erweitert: Der Dreifachname Willi Andre König, sowie der französische Ursprung von Andre sind ganz offensichtlich parallel zu Marcel Reich-Ranicki gestaltet, wodurch der Name der literarischen Figur zu Übertragungsvorgängen auf die außerliterarische Welt einlädt, wie sie für den Schlüsselroman typisch sind. Die Wahl des Nachnamens König unterstreicht zunächst den Rang des Kritikers in der „DJ5"-Redaktion. Diese positive Charakterisierung wird allerdings dadurch gebrochen, dass Willi König in der Branche nur Erlkönig gerufen wird, was den Prinzen zu einer Anspielung auf den „letalen Touch'''' des Kritikers bewegt.^^ Im Tod eines Kritikers führt Martin Walser dieses Spiel fort und entwickelt mit Andre Ehrl-König einen nom de guerre, der die Analogien zu Marcel Reich-Ranickis Namen sogar noch stärker hervortreten lässt und dabei den Anklang an die Ballade Der Erlkönig direkt in die Typisierung der Figur übernimmt. Ein Blick auf das Gedicht selbst zu werfen, ist dabei unumgänglich: Von Goethe ursprünglich als Auftaktarie zum Stück Die Fischerin geschrieben, schildert das Gedicht, wie der Erlkönig, der eigentlich ein Elfenkönig ist, auf magische Weise ein Kind in den Armen seines Vaters sterben lässt und in sein Zauberreich entführt:

Vgl. Ohne einander, S. 16. 62

J. W. Goethe, Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Krön und Schweif? - Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -

»Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.«

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht. Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. -

»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter fuhren den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstem Ort? - Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. -

»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! -

Dem Vater grauset's, er reitet geschwind. Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In semen Armen das Kind war tot. 98

Die Figurenkonstellation „Vater-Sohn-Erlkönig"' wird durch den Übertragungsvorgang auf die außerliterarische Welt zu „Dichter (Walser) - Werk (,Schöpfungen') - Kritiker (Ranicki)" wobei im Zuge dieser Deutung die Kritik als Akt der Tötung und räuberischen Aneignung erscheint. An der Umbenennung von König zu Ehrl-König kann man weiters eine Entwicklung im Verhältnis zwischen Walser und Ranicki ablesen, das von zunehmender

98 Quelle: Projekt Gutenberg-DE: http://gutenberg.spiegel.de/goethe/gedichte/erlkoeni.htm (17.9.2006) 63

Distanz und Abneigung geprägt ist. Ein Detail dabei ist der Rückgriff auf ein magisches Denken: der Kritiker als Elfenkönig wird zugleich mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Sollte diese Konnotation bewusst ins literarische Spiel gebracht worden sein, was man von einem Autor wie Walser eigentlich annehmen darf, ist auch eine gewisse Verzweiflung Walsers angesichts eines Feindes erkennbar, der scheinbar mit Zauberei operiert. Walser benutzt hier ein typisches Erklärungsmodell eines Unterlegenen. Außerdem enthält das Gedicht vom Erlkönig eine homoerotische Komponente, wodurch die Zurückweisung der Reich-Ranicki-Figur unterschwellig auch einen sexuellen Seitenhieb transportiert. Die Wahl der Erlkönig-Rolle ist natürlich auch ein kulturelles Zitat, das sich an den Adressatenkreis der literarisch versierten Leser richtet und somit auf ein ganz spezielles Publikum hin entworfen ist. Das macht die Namensgebung zu einem eindringlichen Fiktionalitätssignal, welches mitverantwortlich dafür ist, dass eine Anklage Walsers mit seriösen Mitteln eigentlich von vornherein unmöglich ist. Die Typisierung erscheint ebenfalls als Milderungsgrund und die Bezeichnung Andre König-Romane liegt nahe. Der Kritiker Marcel Reich Ranicki woirde erst kritisierbar, nachdem er zur Kunstfigur geworden war. Die wirkliche literarische Leistung Walsers darf man deshalb nicht im Austragen seiner Privatfehde suchen, sondern muss unter anderem in diesem Akt der Nachschöpfiing gesehen werden.

3.1.1.2 Bildlichkeit

Was die Bildlichkeit seiner Texte betrifft, muss man Martin Walser zunächst ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Kühne metaphorische Neubildungen, die (zumindest unter diesem Etikett) seit Harald Weinrich als Qualitätskriterium fiir literarisches Schreiben gelten, findet man generell nicht sehr gehäuft beim Georg-Büchner-Preisträger von 1981. Insgesamt kann man bei Walser von einem ziemlich nüchternen Stil sprechen, fiir den seine Schmucklosigkeit geradezu konstitutiv ist (im Bereich der Nominalkomposita finden sich allerdings nicht selten hochoriginelle Neubildungen). Der weitgehende Verzicht auf sprachliche Verzierungen, den Omatus der antiken Rhetorik, ist bei Walser nicht Anzeichen von geringer Kunstfertigkeit, sondern Methode, die ganz im Dienst der Inhalte steht: Die literarischen Welten Walsers sind nämlich zumeist sehr nahe an der Alltagswirklichkeit gebaut, wo es bekanntlich mehr prosaisch als poetisch zugeht. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es logisch, dass auch Walsers Protagonisten von ihrem Autor zumeist keine geblümte Sprache in den Mund gelegt bekommen, wenngleich sich der deutsche Schriftsteller bemüht, auch Gegenfiguren auftreten 64 zu lassen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der im Schwanenhaus beschriebene Makler Gottlieb Zürn, dessen Erfolglosigkeit im Berufsleben als Folge einer zu großen Liebesfahigkeit erscheint, die sich in seiner heimlichen Passion, dem Verfassen von Gedichten, widerspiegelt. Auf diese Weise rettet Walser die Poesie in sein Werk, wobei sie allerdings auch in ihrer Unvereinbarkeit mit der materialistischen Alltagswelt präsentiert wird - ein Thema, das mit Goethes Tasso in den Kanon der deutschen Literatur Einzug gehalten hat. Der Verzicht auf eine manierierte Bildlichkeit wird so zum Qualitätsmerkmal eines literarischen Realismus, bei dem das Lesevergnügen dem Anspruch Lebenswirklichkeiten mitteilbar zu machen untergeordnet wird. Diese sind voller Beziehungsfallen und Erwachsenenprobleme, welche mit viel Ernst ausdiskutiert werden. Humor zählt darum ebenfalls nicht zu den Hauptmerkmalen von Walsers Texten, was strukturell als Abwesenheit des Generationenkonflikts zu deuten ist, welcher traditionell als ein Auslöser für komödiantische Effekte fungiert. Trotz alledem wird man bei Walser auch auf der Suche nach ästhetischem Genuss fündig, allerdings muss man dafür die lexikalische Ebene verlassen und sich der Syntax zuwenden; mehr dazu im folgenden Abschnitt.

3.1.2 Syntaktische Ebene 3.1.2.1 Redemodi

Zweifellos ist Martin Walser ein Meister im Umgang mit der deutschen Sprache und ihren grammatikalischen Möglichkeiten, was sich unter anderem daran zeigt, dass seine Texte einen charakteristischen Tonfall mit sehr hohem Wiedererkennungswert besitzen. Dafür verantwortlich sind nicht unbedingt besondere Kermwörter oder ein Reichtum an sprachlichen Bildern, sondern vor allem seine syntaktischen Konstruktionen. Insbesondere die variantenreiche Verwendung der verschiedenen Redemodi ist typisch für Walser. Besonders der gekonnte Gebrauch der indirekten Rede ist ein hervorstechendes Merkmal in den Texten des deutschen Schriftstellers. Derartige Passagen schildern oft mehrere Sätze aus der Perspektive einer Figur in indirekter Rede, wobei häufig auf das redeeinleitende verbum dicendi verzichtet wird. Dieses Verfahren hat insgesamt einen ziemlich flüssigen Schreibduktus zur Folge, weil die szenischen Passagen einen stärkeren Erzählcharakter bekommen. Dafür mitverantwortlich ist, dass in der indirekten Rede der Anteil der Erzählerstimme höher ist als in der direkten Rede, wodurch eine Überblendung ähnlich wie 65

bei der erlebten Rede zustande kommt (man vergleiche den aussagekräftigeren englischen Terminus dual voice fiir erlebte Rede). Dabei wird die indirekte Rede vielfach auch an Stellen eingesetzt, wo normalerweise in direkter Rede erzählt werden würde. Zudem ist diese Art zu schreiben nicht alltäglich und stellt somit eine stilistische Duftmarke dar. Als weitere Stilfijnktion bringt die indirekte Rede im Vergleich zur ,Zitiertechnik' der direkten Rede eine größere Distanz in die Äußerungen der Figuren, der auch ein wenig das Prädikat ,vom Hörensagen' zugeschrieben werden kann. Wie bewusst Martin Walser diesen Effekt verwendet, kann man sehr schön im Tod eines Kritikers beobachten, wo besonders viele solcher Abschnitte zu finden sind. Mit literarischen Mitteln wird so das Gerüchtehafte der im Roman geschilderten Geschehnisse zusätzlich betont und die Form auf diese Weise dem Inhalt angeglichen: „Er fliege weg, sobald seine Unschuld erwiesen sei. Den Widerruf seines Geständnisses habe er mir auf Band gesprochen, und einiges mehr. Am wichtigsten sei ihm der Mani-Text. Den brauche er, sobald er hier rauskomme." Zum Vergleich noch eine Stelle aus Ohne einander: „Er wisse zwar, was Sylvi jetzt von ihm halte, aber darauf könne er keine Rücksicht nehmen. Zum ersten Mal sei er am 29. Juli vor drei Jahren, mit Sylvis Mutter aus München kommend, hier eingetroffen. [...] Er schwimme jeden Tag, wo er auch sei.''^ Wie man unschwer erkennen kann, handelt es sich hierbei um eine stark erotisch angehauchte Szene, die im Roman auch tatsächlich einen Geschlechtsverkehr zur Folge hat. In diesem Zusammenhang wirkt die durch die indirekte Rede eingebrachte Distanz zumindest auf den ersten Blick doch ziemlich befremdlich. Tatsächlich lässt sich hinter Walsers stilistischer Wahl wiederum ein durchaus methodisches Vorgehen ausmachen, denn der entsprechende Abschnitt des Buchs wird aus der Perspektive von Sylvi geschildert und die durch die indirekte Rede zum Ausdruck kommende Distanzgeste entspricht Sylvis Versuch der Distanznahme von Herrn Müller-Ernst, der sie gegen ihren Willen verführt. Weiters wird Sylvis Passivität durch die Ausführungen unterstrichen. Beinahe ein Kuriosum betreffend die indirekte Rede stellt deren Doppelung in einer einzigen Aussage dar: „Beide, Hans Lach und Ehrl-König, seien eins gewesen in Geschmeidigkeit, so dass er, Hans Lach, jetzt zu sagen versucht sei: Geschmeidigkeit sei bei ihnen beiden das alles andere Dominier ende.''^'^^ Hier wird ein Maximum an sprachlicher Distanz zum Ausdruck gebracht. Bei der Betrachtung des Inhalts wird auch deutlich, warum Walser an dieser Stelle so verfahren ist: Erstens stellt diese Aussage eine Gemeinsamkeit zwischen den

"^ Tod eines Kritikers, S. 141. 100 Ohneeinander, S. 116. '"' Tod eines Kritikers, S. 97. 66

Vertreterfiguren Reich-Ranickis und Walsers im Text her, welche durch allzu große Betonung in Form einer direkten Rede die untergründig vorhandene Sympathie für den Kritiker allzu sehr betonen würde. Zweitens wird hier auch eine gehörige Portion Eigenlob transportiert, die sich Martin Walser offenbar nicht verbieten lassen wollte. Durch die doppelte Distanzierung in indirekter Rede und die Tatsache, dass hier eine literarische Figur zu Wort kommt, ist es Martin Walser aber gelungen, eine sprachliche Situation zu schaffen, die den Anschein erweckt, das vorgetragene Eigenlob stamme in Wirklichkeit von einer anderen Person. Stellen wie diese erinnern daran, dass Walser auch ein raffinierter Rhetoriker ist, für den die sprachliche Unschuldsvermutung nicht geltend gemacht werden kann. Ein Recht auf Fairness bei der Bewertung seiner Texte muss man ihm jedoch zubilligen. Der rasche Wechsel der Redemodi bewirkt, dass die Walser-Texte ein sehr polyphones Gepräge bekommen, wodurch ihr Komplexitätsgrad enorm zunimmt. Es ist mitvmter nicht immer einfach oder auch nur eindeutig möglich, unter Zuhilfenahme von grammatischen Mitteln zu entscheiden, ob die Autorenstimme oder die einer seiner Figuren aktuell Übergewicht in der Satzaussage hat. Und selbst werm klar ist, dass eine der Figuren zu Wort kommt, bleibt oft noch unentschieden, welche. Stellenweise wird so das Lesen zu einem Versteckspiel, das ein listiger Martin Walser mit seinen Lesern betreibt. Es nimmt nicht Wunder, dass dieses Verfahren in Tod eines Kritikers stellenweise auf die Spitze getrieben wird. Der im Folgenden zitierte Abschnitt vermittelt einen Einblick in die Tatsache, dass es eine Hierarchie der Redeweisen zu geben scheint: Der erste Satz ist noch im epischen Präteritum geschrieben. Danach wechselt Satz für Satz die Redeweise: auf indirekte Rede folgt erlebte Rede und am Schluss der Passage steht ein elliptischer Satz ganz ohne verbale Elemente. Dieser Aufbau entspricht einer Art Klimax, deren Funktion die Wiedergabe einer gesteigerten Erregung ist. Schritt fiir Schritt wird der Leser dabei in die Perspektive der Figur Ehrl-Königs gezogen. Der Inhalt der Sätze füllt die formale Schablone allerdings mit der Selbstdarstellung Ehrl-Königs, die alles andere als freundlich zu bezeichnen ist, wodurch die Stelle einen ziemlich grotesken Eindruck hinterlässt. Auch dieser Effekt wird sicherlich bewusst eingesetzt, das dahinter stehende Ziel ist die bloßstellende Charakterisierung Ehrl- Königs, respektive Reich-Ranickis. Zu beachten ist auch hier die formale Vollendung in der Martin Walsers Angriffslust vorgetragen wird. Fraglich bleibt, ob die ästhetische Perfektion nicht ein wenig zu sublim fiir das Genre des Schlüsselromans ist, weil sie den literarischen Diskurs möglicherweise allzu schnell auf eine Höhe hebt, die eher zur Konfliktvermeidimg als zu ihrer Erzeugung angetan ist. 67

Diese Rolle spielte er auf jedem Photo mit seiner Mutter. Darum habe er doch den Kopf zur Seite hängen lassen, als gehorche der ihm nicht mehr ganz, und grinste. Dieses Grinsen sollte alles vernichten, was die Mutter an Bellezza darstellen wollte. Er, der geniale Kretin, sie die Klimtpuppe in der Stefangeorgepose. 1 CO

3.1.2.2 Rhythmuswechsel

Die syntaktische Grundform Walsers ist ein einfaches Satzgefüge, wobei zumeist höchstens zwei Konstituentensätze dem Matrixsatz untergeordnet sind. Martin Walser konstruiert seine Texte somit ziemlich nahe an der Parataxe und ist weit entfernt von der Periodenhaftigkeit etwa eines Thomas Bernhard. Vor diesem Hintergrund überrascht es ein wenig, wie flüssig die Romane Walsers vielfach zu lesen sind. Hierfür ist, wie bereits erwähnt, der originelle Gebrauch der Redemodi als ausschlaggebender Grund zu sehen. Der sprachliche Fluss Walsers wird aber an einigen Stellen abrupt durch elliptische Konstruktionen unterbrochen, was soweit gehen kann, dass einzelne Wörter durch Punkte, welche natürlich mit einer entsprechenden rhythmischen Pause einhergehen, voneinander abgetrennt werden: „Du bist der Mann, den ich begehre, nach dem ich verlange, von dem ich ein Kind will (oder zwei oder drei). Das wollte ich. Habe ich gewollt. Aus. Vorbei.'''^^^ Auf diese Weise erhalten einzelne Wörter oder Wortgruppen ein außergewöhnlich hohes Gewicht und ihre Inhalte werden besonders betont. Im eben zitierten Beispiel verstärkt die Ellipsenhaftigkeit den affirmativen Charakter der Aussage, die zum Unglück für Mani Mani nicht dem Mund seiner angebeteten Genevieve Winter, sondern lediglich seinem eigenen Wunschdenken entstammt. Es handelt sich dabei somit um ein schönes Beispiel für die subtile Ironie in Tod eines Kritikers. Außerdem vermittelt diese Form der fragmentierten Syntax eine große Nähe zur gesprochenen Sprache (der obige Satz ist Teil einer fiktiven Tonbandaufzeichnung) und ihrer Spontaneität, weswegen sie auch geeignet scheint, emotional besetzte Inhalte angemessen zum Ausdruck zu bringen. Im Fliehenden Pferd geht Walser soweit, eine sprachliche Formel zum Bestandteil eines Eherituals zu machen, wodurch die suggerierte Unmittelbarkeit wiederholbar wird: ,J^icht provozieren, sagte er und beugte sich über sie, küßte sie vorsichtig und sagte: Ach du. Einziger Mensch. Sabine.'^^^'^ Auch im nächsten Beispiel wird auf literarischem Weg Unmittelbarkeit simuliert; diesmal um eine Figur der Selbstkorrektur spontan und glaubhaft erscheinen zu lassen:

'"• Tod eines Kritikers, S. 107. '"^ Ebd., S. 166. '"^ Ein fliehendes Pferd S. 104. 68

Daumen und Zeigefinger spreizen sich zu einer edlen Gabel, in die man das vom Energischsein ermüdete Kinn legt, um den Blick einer nach unten wachsenden Weite zu überlassen, in der es keinen bestimmten Schmerz mehr gibt. Es entsteht ein dunkles Licht. Innen. Von innen.

Rhythmuswechsel erweisen sich somit ebenfalls werkübergreifend als eine Auffälligkeit im Stil Martin Walsers. Ihre Häufigkeit ist allerdings nicht übermäßig groß, wovon der Lesefluss von Walsers Texten merklich profitiert. Wo elliptische Rhythmuswechsel eingesetzt werden, wirken sie originell und erzeugen Abwechslung im syntaktischen Klanggewebe der Texte. Neben den bereits erwähnten funktional-stilistischen Aspekten stellt ihre sprachmusikalische Wirkung somit einen charakteristischen Bestandteil des Walser-Tons dar, wobei sie eine kontrapunktische Funktion übernehmen.

3.1.3 Textebene 3.1.3.1 Ringkomposition

Eine literarische Technik, die Martin Walser durch mehrfache Wiederholung in seinem narrativen CEuvre zu einem Bestandteil seines literarischen Stils gemacht hat, ist der zirkelfbrmige Schluss, bei dem Anfang und Ende des Romans zusammenfallen. Dabei wird am Ende der Geschichte der Wortlaut der Anfangssätze unverändert übernommen. Die Sätze sind zwar die gleichen aber niemals dieselben, denn sie haben über den Umweg einer Geschichte zu sich gefunden und dabei auch deren Bedeutungen in sich aufgenommen. Als erstes Beispiel zur Illustration dieses Gedankens, soll der Anfang von Brandung dienen:

Halm stand vor dem Spiegel im Bad, hatte das Rasieren hinter sich, konnte aber nicht außiören, sein Gesicht mit einer unauflösbaren Mischung aus Missgunst und Genuß zu betrachten. Halm wachte auch in den Ferien auf, als müsse er in die Schule, aber nachdem er aufgestanden war, tat es ihm gut, jede Bewegung ein bißchen verkommen lassen zu dürfen.

Der Einstieg ist denkbar banal: Dem Leser wird die Situation eines Lehrers vorgestellt, dem es auch in seiner Freizeit nur bedingt gelingt, die Spuren des Berufsalltags aus seinem Habitus fern zu halten. Diese Sätze sind sehr offen und allgemein gehalten und ermöglichen so gut wie jedem arbeitstätigen Menschen eine schnelle Identifikation mit dem Protagonisten. Im Zuge der Wiederaufnahme am Ende des Romans hat sich diese Situation aber drastisch gewandelt:

Das Schwanenhaus, S. 115. '"* Brandung, S. 7. 69

Er sagte so leise, daß nur er selber es hören konnte: Sabine. Sabine sagte sofort und zu laut: Ja. Er sagte, er müsse ihr etwas sagen. Sabine sagte: Ja. [...] Jetzt konnte er anfangen. Er fing an mit dem zweiten Ferientag, als er im Bad vor dem Spiegel stand, das Rasieren hinter sich hatte, aber nicht aufhören konnte, sein Gesicht mit einer unauflösbaren Mischung aus Missgunst und Genuß zu betrachten.'°'

Die Identifikation kann nun nicht mehr so unproblematisch wie zu Beginn ablaufen, da die Figur Helmut Halm durch die Ereignisse ihrer Geschichte eine ganz spezielle persönliche Biographie bekommen hat. Am raffiniertesten ist jedoch die Gestaltung der imterschiedlichen fiktionalen und realen Ebenen: Die erneute Verwendung der Anfangsszene durch den Protagonisten Halm, lässt ihn als sein eigener Er-Erzähler erscheinen. Dahinter steckt eine Distanzgeste Walsers, der so die Autorschaft an eine Figur seiner Dichtung abgibt. Dieser Kunstgriff hilft ihm, den autobiographischen Anteil des Romans zu verschleiern. Im selben Atemzug eröffnen sich aber auch schon wieder neue Möglichkeiten fiir biographische Interpretationen, denn die Worte Halms an seine Frau Sabine kennzeichnen die Geschichte als Mitteilungsversuch an die Ehefrau. Unter diesem Gesichtspunkt soll hier der Inhalt noch einmal gerafft werden: Der Roman erzählt unter anderem, wie Sabine ihren Mann aufgrund der schweren Krankheit ihres Vaters allein in Kalifornien zurücklässt. In der Folge gerät Halm ob der Abwesenheit seiner Frau und der ungewohnten Umgebung am Campus in eine schwere persönliche Krise, wobei der Protagonist stellenweise dem Wahnsinn nahe scheint. Wiederum verwendet Walser eine Figur der Selbstverdoppelung (—» 3.1.1.1), die Aufspaltung in „ER-Halm''' und ,JCH-Halm'' übernimmt in Brandung allerdings nicht die Aufgabe Biographisches zu verrätsein, sondern legt im Gegenteil Abgründe offen, die an die Darstellung einer realen Schizophrenie denken lassen. Im Kontext der Handlung wird daraus ein sehr intensiv geschilderter Liebesbeweis des Protagonisten an seine Frau, der in der biographischen Lesart zu einem Versuch Walsers wird, sich seiner eigenen Frau, Katharina Neuner-Jehle, mitzuteilen. Hinter einer solchen Deutung steht natürlich der poetische Verdacht, dass Walsers Motivation das Buch zu schreiben, die gleiche gewesen ist, wie jene seines Erzählers. Die eben vorgeschlagene Interpretation gewinnt intratextuell noch weiter an Bedeutung, denn Walser hat das Stilmittel des Zirkelschlusses bereits einmal in beinahe unverändertem Zusammenhang verwendet. In Ein fliehendes Pferd^^^ wird ebenfalls eine

'"'Ebd., S. 319. "** Immerhin schildert Martin Walser am Schluss des Springenden Brunnens auch die Anfänge seines literarischen Schreibens als Mitteilungsversuch an seine erste große Liebe Lena - vgl. hierzu S. 404. "" Im Übrigen ist die Novelle neben Selbstportrait als Kriminalroman eines von zwei Werken Walsers, die Aufiiahme in Reich Ranickis Kanon geflinden haben. Nachdem der Kritiker den Text am 24. Jänner 1978 in der FAZ bereits als Walsers „reifstes", „schönstes" und „bestes" Buch gelobt hatte (nachzulesen in „Sein Glanzstück" in: Reich-Ranicki, S. 75-79), kam der Kritiker wohl trotz aller persönlicher Aversionen nicht um eine solche ,Ehrung' umhin. 70

Episode aus dem Eheleben von Helmut Halm und seiner Frau Sabine geschildert, die mit folgenden Worten begirmt:

Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafes seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon}^

Auch hier beansprucht Halm am Schluss wiederum die Geschichte für sich, wobei dieser Eindruck durch sein Sprechen in der dritten Person über sich und seine Frau noch zusätzlich verstärkt wdrd:

Es tut mir leid, sagte er, aber es kann sein, ich erzähle dir alles von diesem Helmut, dieser Sabine. Nur zu, sagte sie, ich glaube nicht, daß ich dir alles glaube. Das wäre die Lösung, sagte er. Also bitte, sagte er. Es war so: Plötzlich drängte Sabine aus dem Strom der Promenierenden hinaus und ging auf ein Tischchen zu, an dem noch niemand saß.^^^

Der wiederholte Einsatz des Zirkelschlusses und die zweimal gleiche Personenkonstellation ergeben ein Stilfragment, das an ein Eheritual erinnert. Im letztgenannten, chronologisch älteren Beispiel, klingt außerdem der Verdacht durch, der Erzähler lüge zumindest teilweise. Die Akzeptanz dieses Sachverhalts wird dabei als Lösimg präsentiert und der Text somit ganz entschieden der Fiktion zugeordnet. Wer Walser ein wenig kennt, entdeckt darin eine Bezugnahme auf das große Vorbild Goethe, der von Martin Walser wiederholt als Harmoniehersteller gelobt worden ist, weil es dem Klassiker seiner Meinung nach immer wieder gelungen ist, in der Künstlichkeit seiner Literaturwelten lösbare Konflikte zu produzieren. Dieses Ideal einer Kunstwelt, in der Konflikte ohne Selbstbeschädigung lösbar sind, kommt auch in Tod eines Kritikers zum Ausdruck. Der Zirkelschluss übernimmt wiederum die Funktion, den Fiktionalitätsanspruch der Geschichte zu untermauern. Anfangs- und Schlusssatz sind identisch:

Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlasst fühle, nicht erwartet, muß ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint.

Ein paar Zeilen unterhalb steht auf der ersten Seite noch eine weitere Erklärung: „Ich muß das erwähnen, weil durch mein sonstiges Schreiben gefärbt sein kann, was ich mitteile über

"" Ein fliehendes Pferd, S. 9. '"Ebd., S. 151. "^ Vgl. „Goethes Anziehungskraft", speziell: S. 249ff. "^ Tod eines Kritikers, S. 9 u. 219. 71 meinen Freund Hans Lach. Beide, Hans Lach und ich, sind Schreibende." Am Schluss des Romans, wenn die Anfangszeilen wiederholt werden, ist dem Leser aber bereits klar, dass Hans Lach sich in Michael Landolf ein Pseudonym geschaffen hat und sich somit selbst erzählt. Damit ist ein Perspektivenwechsel von der dritten in die erste Person verbunden, der etwas eigenartig wirkt und die abermals eingeführte fiktionale Distanz Walsers zu seinem Werk sogar noch vergrößert. Abermals verwendet der Schriftsteller eine Figur der Selbstverdoppelung, wodurch die zentrale Rolle dieses Stilems in Walsers Werk erneut unterstrichen wird. Die Zusarrmienlegung von Anfang und Ende bewirkt in diesem Fall aber auch eine sonderbare Verrätselung des Romans, da der Schreibanlass vollkommen im Dimklen bleibt. Im Grunde werden alle Hypothesen, die man während der Lektüre des Romans über Hans Lach entworfen hat, durch dessen Bekenntnis, er selbst verberge sich hinter der Figur Michael Landolf, für nichtig erklärt, denn dadurch, dass Walser „eine Figur geschaffen hat, die den literarischen Schöpfungsakt als Fiktion in der Fiktion wiederholt, verwandelt sich die Wirklichkeit des Romans in eine Möglichkeit.''''^^ Der Roman kann in diesem Sinn als Allegorie des literarischen Schreibens aufgefasst werden. Das hat auch zur Folge, dass die Handlung von Tod eines Kritikers auf beinahe hermetische Weise gegen sprachliche Zugriffs- und Interpretationsversuche abgeriegelt erscheint. Eine werkimmanente Betrachtung stößt bei Tod eines Kritikers jedenfalls an ihre Grenzen und karm den Roman nicht ausreichend beschreiben. Die Funktion, welche die Zirkelschluss-Variante im Kritikerroman übernimmt, lässt sich in der Folge auf zweierlei Arten deuten: Einerseits kann darin eine Selbstimmunisierungsstrategie gesehen werden, die zwangsläufig jeden Kritikversuch, der die außerliterarische Wirklichkeit miteinbeziehen möchte, in die Nähe der Spekulation rückt. Im Werkzusammenhang kommt aber auch der oben erwähnte Konfliktlösungsgedanke ins Spiel. Dazu passt, dass Ehrl-König sich letztendlich als lebendig herausstellt. Diese versöhnliche Grundhaltung gehört aber eigentlich nicht ins Konzept eines Schlüsselromans, dessen Ziel gerade die Erschaffimg eines Konflikts ist. Bereits Sigrid Löffler hat ja formuliert, dass Walser dieses anrüchige Genre nicht beherrsche."^ Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass Walser vielleicht auch gar nicht die Absicht gehabt hat, einen lupenreinen Schlüsselroman vorzulegen. Die Kombination Ringkomposition- Perspektivenwechsel ordnet den Roman nämlich eigentlich in die Gattung der literarischen Selbstgespräche ein."^ Mit der Schöpfimg seiner mit Wirklichkeitsbezügen beladenen

"•'Ebd.,S.9. 115 Vgl. Fues, S. 521. "* Vgl. Löffler '" Vgl. a. Fues, der d(den Aufbau als Selbstgespräch auf den Seiten 526ff. seines Aufsatzes unter dem Aspekt der Realismuskonzeption Walsers diskutiert. 72

Möglichkeitswelt hat Martin Walser dabei eine Form gefiinden, seiner Phantasie in einer Weise freien Lauf zu lassen, die jeden Realitätsbezug in einer traumartigen Fiktion aufgehen lässt.

3.1.3.2 Zurückgenommenes Todesmotiv

Die Schlüsselstellen in den beiden Helmut Halm-Geschichten bilden jeweils die Sterbeszenen einer Hauptfigur: Im Fliehenden Pferd geraten Helmut Halm und sein Schulkamerad, Jugendfreund und Kommilitone Klaus Buch während einer Segelfahrt auf dem Bodensee in ein arges Unwetter. Als Halm meint, das Boot sei kurz vor dem Kentern, verliert er die Nerven und stößt Klaus Buch die Pinne aus der Hand, woraufhin dieser ins Wasser fallt und nicht mehr zu sehen ist."^ Der Sturm dient hier nur als auslösendes Moment, um die Aggressionen, die Halm die ganze Geschichte über gegen den jünger und viriler wirkenden Klaus Buch aufgebaut hat, an die Oberfläche der Handlung zu bringen. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Szene um eine Art Mord an einem gehassten, weil scheinbar überlegenen Konkurrenten. Wider alle Wahrscheinlichkeit lässt Walser seine Klaus Buch-Figur am Schluss der Novelle erneut auftauchen. Betrachtet man, wie sich die Ereignisse in der Folge entwickeln, muss man wohl annehmen, dass diese Deus-Ex-Lösung das Ziel verfolgt, die zwei Widersacher Halm und Buch ein letztes Mal in Kontrast zueinander zu stellen. Die Worte von Klaus Buchs Frau Helene lassen ihren Mann in strahlendem Glanz erscheinen: „Du, der du ein den Wellen Entkommener bist. Er besiegt jede Natur.''^^^^ Halm muss dagegen eine erneute Niederlage hinnehmen: „Wahrscheinlich hatte Klaus ihn in diesem Augenblick so durchschaut, wie ihn noch niemand durchschaut hatte. Und der, der ihn so durchschaut hatte, lebte." Das Todesmotiv wird also zurückgenommen, seine Verwendung im Text dient der Spannungserzeugung und Herstellung einer Klimax. Diese wirkt allerdings gerade dadurch konstruiert, dass sie im Dienst der mechanischen Funktion des Durchschauens steht, Gefühlsdarstellungen werden von Walser an dieser Stelle nicht vorrangig behandelt, wodurch der Tod zum hochartifiziellen Stilmittel verkommt. In Brandung ist der Schilderung des Beinahe-Todes von Helmut Halm nur wenig Platz gewidmet, dass ihr vom Autor dennoch ein großes Gewicht beigemessen worden ist, zeigt

^^^ Ein fliehendes Pferd, S. 120. '"Ebd., S. 146. '^"Ebd., S. 147. 73 sich aber an der Titelgebung des Romans. Halm, zum ersten Mal am Pazifik, wirft sich übermütig in die Brandung und wird prompt von einer drei Meter hohen Welle unter sich begraben. Nur mit Mühe entkommt er dem ,^usammnenstürzenden Kristallpalast" und damit dem Tod. Es fallt auf, dass der Tod wie in Ein fliehendes Pferd mit dem Element des Wassers in Verbindung gebracht wird. Dafür mögen biographische Fakten ausschlaggebend sein (Amerikaaufenthalt, Walsers Wohnsitz am Bodensee), gleichzeitig befinden wir uns aber natürlich in einer literarischen Kunstwelt. Eine solche kann immer auch anhand der konventionalisierten künstlerischen Symbolik interpretiert werden und hier zählt das Wasser zum Bereich der Liebesmetaphorik. Dieser Übertragungsvorgang scheint sinnvoll zu sein, wenn man sich die Erlebnisse von Helmut Halm beziehungsweise Klaus Buch noch einmal ins Gedächtnis bringt. Der erste leidet in der Feme an der Abwesenheit seiner Frau, der zweite an fehlender Freundschaft. Beide zerbrechen beinahe an ihren liebesbedingten psychischen Problemen, was eine Parallele im jeweils nur knapp gewonnenen Kampf gegen das nasse Element findet. Ganz ohne Wassersymbolik und Liebesthematik wird der kolportierte Tod des Kritikers geschildert, was bei dem konfliktreichen Verhältnis von Walser zu Reich-Ranicki nur wenig verwundert. Das ,Doch-nicht-tot-Motiv' ist auch in diesem Roman zentral und wird sogar zum Generator fiir die Handlung. Gleich zu Begirm wird geschildert, dass Hans Lach unter Mordverdacht ins Gefängnis gebracht worden ist. Er wird beschuldigt, den Kritiker Andre Ehrl-König aus Rache für den öffentlichen Verriss seines neuesten Buchs Mädchen ohne Zehennägel getötet zu haben. Alles was an Nachforschungen, Handlung und Erzählung im Buch folgt, dreht sich streng genommen um dieses eine Ereignis. Erst ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass Ehrl-König nicht tot ist, sondern lediglich einen heimlichen Ausflug mit Cosi von Syrgenstein unternommen hat, welcher somit der eigentliche Auslöser des Medienrummels um seine Person war. Für die von ihm stammenden Blutspuren war lediglich seine tropfende Nase verantwortlich. Dem Todesmotiv wird auf diese Weise wiederum seine latente Tragik genommen und letztendlich dient sein angetäuschter Einsatz dem leserleitenden Zweck einer Provokation. Der provokative Effekt wird in diesem Fall durch die Übernahme des Schlüsselreizes Tod in den Titel des Romans noch zusätzlich verstärkt. Wer sich mit Walsers Werk ein wenig befasst hat, dem müsste eigentlich bekannt sein, dass der Autor mitunter gewisse Skrupel hat, seine Protagonisten sterben zu lassen und lieber nur so tut als ob. Auch diese Feststellung erhärtet den Verdacht, dass Frank Schirrmacher ganz bewusst mit übertriebenem Ernst auf Walsers Spiel mit der Publikiimserwartung eingegangen ist, um so den Skandal rund um Tod eines Kritikers auszulösen. Abseits von dieser medialen Ebene, ist 74 die Autorenintention Walser erneut das Durchschauen. Raffiniert an der Darstellvmg im Roman ist, dass der Autor Walser mit Ehrl-König die seinem realen Gegenspieler Reich- Ranicki nachempfimdene Figur diesen Gedanken zum Ausdruck bringen lässt:

Erst als sie lasen und hörten und sahen, wie ihr Ausfelug von den Medien verarbeitet wurde, sei ihm die Idee gekommen, mitzuspielen, das heißt: jetzt nicht geleich wieder auftauchen! Zuwarten, die Sache sich entewickeln lassen, vielleicht werde sogar noch ein Lehrstück daraus. Und es sei eins geworden. Hauptdarsteller Hans Lach. Aber auch andere seine kenntelicher geworden, als sie ihm vorher gewesen waren.

3.2 Der Augenblick der Liebe

Zwei Jahre nach dem Skandal rund um den Tod eines Kritikers hat Martin Walser den Suhrkamp-Verlag, wo er von Beginn an seine Bücher verlegt hatte, wohl aufgrund von nachträglichen Querelen verlassen und publiziert seit 2004 bei Rowohlt. Eine Betrachtung seines ersten Romans nach dem Verlagswechsel, Der Augenblick der Liebe liegt nahe, wobei zu klären sein wird, ob Walser mit diesem Buch einen literarischen Neuanfang gewagt hat, noch einmal mit seiner Suhrkamp-Vergangenheit abgerechnet hat oder auf andere Art Stellung zu den Ereignissen rund um Tod eines Kritikers bezogen hat.

Von Neuanfang kann zunächst nicht die Rede sein. Der Augenblick der Liebe schreibt die Serie der Züm-Roman fort und variiert dabei mehrere altbekannte Walser-Motive: den Beinahe-Tod während eines Segelausflugs,'^^ vor allem aber sind es der Amerikaaufenthalt als Gastdozent und die Unfähigkeit des Protagonisten seinen Vortrag zu halten (S. 166f), welche an Brandung denken lassen. Im Unterschied zu Helmut Halm, der im Umgang mit Fran Webb ungeschickt agiert, ist Gottlieb Zürn jedoch erfolgreich, was die Affäre mit Beate Gutbrod betrifft. Der Roman kann durchaus als Transposition von Brandung gelesen werden, wobei Walser seinem neuen-alten Protagonisten diesmal das Liebesabenteuer im akademischen Milieu vergönnt. Dabei enthält der Roman an mehreren Stellen teilweise sehr deftig geschilderte Sexszenen, es fallt aber auf, dass die erotische Beziehung zwischen Gottlieb und der um viele Jahre jüngeren Beate für Walser-Verhältnisse wenig problematisiert

'^' Tod eines Kritikers, S. 181. '^^ Der Augenblick der Liebe, S. 39-43. Gottlieb rettet hier seine Frau aus dem Wasser. Das geschieht allerdings nur im Traum, den Gottlieb nach seiner Begegnung mit seiner späteren Geliebten träumt. Im Unterschied zur realistischen Darstellung männlicher Rivalität im Fliehenden Pferd wird das Motiv hier als Vorausdeutung auf das für die Eheleute Zürn gerade noch versöhnliche Ende der Affäre Gottliebs mit Beate Gutbrod eingesetzt. 75. wird. Die entscheidende Schwerpunktverschiebung liegt in der Wiedergabe des Vortragstextes (S. 114-131). Dessen Inhalt ist eine Auseinandersetzung mit den Gedanken des Philosophen Julien Offray de La Mettrie und stark vergröbernd karm man zusammenfassen, dass es im Vortrag um die Themen Erziehung als Ausbildung zum Gefangenen und Befreiung von dem Erziehungs-Nebenprodukt Schuldgefühle geht. Zürn schreibt den Artikel um die über La Mettrie dissertierende Beate zu beeindrucken, was ihm auch gelingt. Eine zweite, nostalgische Motivation ist die Erinnerung Züms an seine Affare mit der Theologiestudentin Gabriele, die sich in ihrer Begeistenmg für Gottliebs Aufsatz Vor Rousseau war La Mettrie in dessen Autor verliebte (S. 19ff). Die Schlüsselszene des Romans ist die Diskussionseröffhung des amerikanischen Universitätsprofessors Rick Hardy im Anschluss an den stellvertretend von Beate vorgelesenen Text. Hardy interpretiert Züms Text wie folgt:

Ein deutscher Intellektueller kommt an eine US-Elite-Universität und versucht unter dem Vorwand, er spreche über La Mettrie, den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln. [...] La Mettrie hat, als er die Menschheit von Schuldgefühlen befreien wollte, nicht an Völkermord gedacht, sondern an Ehebruch und dergleichen. Insofern ist der Coup, den ein konvertierter Altachtundsechziger hier zu landen versuche, fast schon jenseits des akademisch Tolerierbaren. (S. 168)

Diese Rede ist bemerkenswert, weil sie zwei wiederkehrende Elemente des Walser-Bildes reproduziert, das sich in der Zeit nach dem Skandal um Tod eines Kritikers vielfach in der Öffentlichkeit verfestigt hat: jenes des deutschen Intellektuellen, dem man misstrauen muss, weil er möglicherweise versteckten Geschichtsrevisionismus betreibt und jenes der vermeintlichen ideologischen Konversion. Die Replik Gottliebs erinnert weiters an Walsers öffentliche Selbstverteidigung - sie wird sachlich mit einem leicht beleidigten Unterton vorgetragen:

La Mettrie hat seine Gewissenskritik nicht für eine Gesellschaft geschrieben, die sich gerade in einen Völkermord verstrickt hat. Aber er hätte wahrscheinlich in seiner furchtbaren Nüchternheit, in der Beschreibung dessen, was das menschliche Gewissen zu leisten vermag, er hätte seine Gewissenskritik nicht von Grund auf anders geschrieben. Aber zweifellos kann ein Deutscher davon keinen sein Gewissen entlastenden Gebrauch machen. (S. 170)

Beachtenswert ist hier wiedemm die vom Völkermord unbeeindmckte Verteidigung des La Mettrie'sehen Gedankenguts, was wieder einmal Fragen bezüglich der Position Walsers zur NS-Vergangenheit aufwirft. Zur deren Klärung muss man einige Seiten später im Text nachschlagen. Auf den Seiten 183 und 184 findet sich die abschließende Fazit Züms: 76

La Mettrie behauptet, es gebe nichts Unmenschlicheres, nichts Lebensfeindlicheres als remords. Das würde natürlich auch für den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit gelten. Aber das hat er [Zürn] nicht gesagt. Er müßte dann nachweisen, daß es eine Schuld gibt ohne Schuldgefühle. Kein bisschen weglügen, nichts verkleinern, und trotzdem kein Schuldgefühl, kein remords. [...] Za Mettrie hatte keine Erfahrung mit dem Gedächtnis. Inzwischen wacht das Gedächtnis über das Gewissen. Ob das lebensfeindlich ist, ist dem Gedächtnis egal.

Zürn gesteht sich somit stellvertretend für seinen Autor ein, keine Möglichkeit gefunden zu haben, die seiner Meinung nach lebensfeindlichen Schuldgefühle zu umgehen. Walsers Züm- Figur beschreibt in dieser Reflexion ihre Kapitulation angesichts der Übermacht des eigenen Gedächtnisses und reiht sich somit trotz seiner erotischen Erfolge ein in die Reihe der scheiternden Protagonisten seines Autors. Als auffallige Veränderung gegenüber den früheren Werken Walsers ist der bilanzierende Grundton seines ersten Rowohlt-Romans zu nennen. Gottlieb Zürn ist mit seinem Autor alt geworden, sein großer Konkurrent Paul Schatz stirbt an einem Herzinfarkt, die vier Töchter haben geheiratet'^^ und die charakteristische Ringkomposition (—* 3.1.3.1) begirmt zwar bei der späteren Geliebten, vollzieht aber einen Personenwechsel und endet bei der Ehefrau. Dem Augenblick der Liebe merkt man seine Zugehörigkeit zum Alterswerk Walsers mehr als deutlich an, ebenso das Bedürfnis seines Autors Rückschau zu halten. Im Roman existiert eine Episode, wo Zürn sich mit einem Rabbi vergleicht, der seine Schuhe immer im Stehen angezogen hat, um zu überprüfen ob er noch jung sei (S. 235). Diese bemerkenswert harmlose Stelle fugt sich in eben getroffen Feststellung und macht deutlich, dass Walser offenbar genug von Antisemitismusvorwürfen hatte und einen Rückzug aus der Debatte anstrebte. Abschließend sei noch auf ein Detail in der Darstellung des Angriffs von Rick Hardy hingewiesen. Der erfolgt für den Protagonisten nämlich völlig überraschend und dürfte sich damit auf die Schirrmacher'sehe Skandalisierung von Tod eines Kritikers beziehen. Walser stattet Hardy dabei mit dem Motiv der Eifersucht aus. Der Professor Hardy, der Beate beinahe vergewaltigt hätte, aber skrupellos genug ist, das als Scherz abzutun und nicht belangt werden kann, intrigiert offensichtlich bewusst gegen Zürn, weil er in ihm einen Konkurrenten sieht (Einige Zeit nach seiner Heimreise erfährt Gottlieb in einem Brief schließlich von der Heirat Ricks mit Beate, die ihre Dissertation nicht zu Ende geschrieben hat.). Dieses Imaginieren eines persönlichen Motivs könnte bezogen auf Frank Schirrmachers Vorgehen eine rationalisierende und psychohygienische Funktion für Walser gehabt haben, denn wie sagt Bemt Streiff im Kritikerroman: „Der Schlag, für den man kein Motiv findet, der sitzt. Das ist

'^•^ S. 190 - „Errungen wurden ein Sphärist, ein Pastor, ein fahnenflüchtiger US-Farbiger und einer, der außer Alkohol alles verweigert." 77

der reine Schlag.''^ '* Wenn Tod eines Kritikers ein literarischer Angriff war, dann ist Der Augenblick der Liebe als nachfolgende Selbstverteidigung gegen einen überraschenden Konterschlag zu lesen. Die gemeinsame Lektüre der beiden Romane erhellt so die Dynamik der intellektuellen Kontroverse, welche das Ende von Martin Walsers Zeit bei Suhrkamp begründet hat.

'^'' Tod eines Kritikers, S. 85. 78

4 Anmerkungen zu Struktur und thematischem Gehalt von Tod eines Kritikers 4.1 Quantitative Betrachtung als Annäfierung an die Strukturschwerpuniite

Zur Methode: Gearbeitet wurde mit einer digitalisierten Version des Textes, welche in Form eines Word-Dokuments (.doc) vorlag. Die Zählung der einzelnen Namen und Schlüsselwörter kormte so automatisch durchgeführt werden. Variierende Flexionsänderungen woirden dabei berücksichtigt und in die Zählung übernommen. Getrennte Verwendungen von Vor- und Nachnamen, gleichnamige Ehefrauen (Nancy Ehrl-König, Erna Lach, Lydia Streiff) beziehungsweise Besitztümer (Schloss Syrgenstein), Pseudonyme (Michael Landolf), Akronyme (RHH, KHK), Doppelnamen (Mani Mani), Spitznamen (Silbenfuchs, Cosi, Madame) oder Namensändenmgen (Olga Redlich/Konnetzny) wurden allesamt als mögliche Problemfaktoren im Zuge der arithmetischen Auswertung berücksichtigt, weswegen die unten angeführten Zahlen verlässliche Werte darstellen sollten.

4.1.1 Namens- und Schlüsselwortstatistik

Andre Ehrl-König: 366 Erwähnungen Hans Lach/Michael Landolf: 326+18 Rainer Heiner Henkel/RHH: 27 + 83 Julia Pelz-Pilgrim: 73 Kriminalhauptkommissar Wedekind/KHK: 34 + 21 Professor Silberfuchs/,Silbenfuchs': 15 + 38 Bemt Streiff: 41 Mani (Mani Mani): 37 (62 - 25) Cosima ,Cosi' von Syrgenstein: 18 + 15 Nancy/Madame/Frau Ehrl-König: 6 + 17 + 4 Martha Friday: 28 Genevieve Winter: 27 Olga Redlich (Konnetzny): 25 Frau Lach/Erna: 11/12 Dr. Swoboda: 21 Ludwig Pilgrim: 20 Ilse-Frauke von Ziethen: 16 Lydia (Frau) Streiff: 10+1 Streiffs: 2 79

PILGRIM: 27 SPRECHSTUNDE: 25 Tod/tot: 30 + 6 Satum/satumisch: 15 + 8 Jude/jüdisch: 7 + 4

4.1.2 Interpretation der Daten

Bekanntermaßen erhalten statistische Daten erst durch eine entsprechende Interpretation einen Sinn. In diesem Zusammenhang sind Zahlen also keineswegs als objektive Größen zu denken, denn ihre Deutung kann je nach Betrachterstandpunkt variieren. Gerade bei literarischen Texten spielt der Kontext, in dem ein Wort auftaucht, eine entscheidende Rolle fur dessen Bedeutung. Die Aussagen, die im Folgenden angefiihrt werden, sind demnach sehr global gehalten und sollen lediglich als Ergänzung zu anderen Formen der Textanalyse dienen.

Durch einfaches Auszählen kann man etwa feststellen, dass der „Tod" beziehungsweise das Adjektiv „tot" zusammen insgesamt 36-mal im Roman auftauchen. Daran kann man sehen, dass dieses Thema tatsächlich in einiger Breite ausdiskutiert wird. Der Tod im Titel ist also nicht nur als aufmerksamkeitssteigemde Provokation aufzufassen. Die 27-malige beziehungsweise 25-malige Nennung des PILGRIM-Verlags beziehungsweise der SPRECHSTUNDE (Literarisches Quartett) lassen Rückschlüsse darauf zu, dass auch die Themen Literatur- und Medienbetrieb eine Hauptrolle im Roman spielen (-^ 4.2). Ganz anders verhält es sich mit dem Wörtern „Jude" und , jüdisch": lediglich 7 bzw. 4-mal werden sie im Text genannt, der Großteil davon sogar direkt hintereinander in einer einzelnen Passage (S. 144f). In diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass dem Thema im Roman selbst viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, als in der vom deutschen Feuilleton gefiihrten Diskussion. Die geringe Häufigkeit der Nennungen zeigt bereits, dass die Diskussion rund um den jüdischen Hintergrund Ehrl-Königs im Kontext des Romans betrachtet eine Randbemerkung darstellt, deren missbräuchliche Verwendung auf ungenaue oder skandallüsteme Rezensenten schließen lässt. Tatsächlich wird sogar ein so okkultes Motiv wie jenes des Satumismus ziemlich genau doppelt so häufig im Roman erwähnt wie jenes der jüdischen Herkunft Ehrl-Königs. In jenem kurzen Abschnitt von Tod eines Kritikers, der sich mit der Möglichkeit von Andre Ehrl-Königs jüdischer Herkimft und den daraus resultierenden Verschiebungen im Fall Hans Lach befasst, lässt Walser einen „D^5"-Redakteur zu Wort kommen, der es als Zeichen von Antisemitismus sieht, werm die Ermordung eines Juden moralisch schlimmer geahndet wird als die Ermordung eines NichtJuden und daher die 80

Behauptung aufstellt: „Fhilosemiten seien eben, wie bekannt, Antisemiten, die die Juden liebten.'' (S. 144). Wie schon in Ohne einander dokumentiert Walser seine kritische Position gegenüber dem Philosemitismus (-^ 2.2). Zugleich verweist er aber über die Plattheit des Behauptungssatzes hinaus, indem er die Aussage des „Z).4iS"-Redakteurs in der Folge theatralisiert: dem Redakteur Leder wird von den Feuilletons erklärt, „daß in Deutschland die Ermordung eines Juden doch wohl ein Faktum ganz anderer Art sei als in jedem anderen Land der Welt." (S. 145). Letztendlich lässt sich der Redakteur unter Vorbehalt überzeugen: „Wenn Ehrl-König ermordet worden wäre, weil [Herv. hinzugefugt] er Jude gewesen sei, hätten die anderen Recht. Aber es sei ja noch nicht einmal sicher, ob Ehrl-König Jude gewesen sei." (ebd.). Zudem war auch die Ermordung eine Farce. Um mit diesem Streitpunkt abzuschließen, sei nur noch gesagt, dass der im Tod eines Kritikers kurz angeschnittene Diskurs rund um den Antisemitismus als Gedankenspiel zu verstehen ist, welches den medialen Umgang mit dem Thema auf durchaus taktvolle Weise problematisiert. Eine genaue Lektüre der entsprechenden Stellen natürlich vorausgesetzt.

Bereits erwähnt wurde, dass die Namen in Walsers Texten generell eine bedeutsame Rolle spielen. Anhand der oben angeführten Häufigkeitsstatistik ist es möglich, sich ein Bild über die Gewichtung der einzelnen Figuren zu verschaffen. Am öftesten genannt wird dabei Andre Ehrl-König mit 366 Erwähnungen. Beinahe gleich häufig liest man von seinem Gegenspieler Hans Lach, beziehungsweise dessen Pseudonym Michael Landolf Alle anderen Personen werden gemessen an der Zahl ihrer Nennungen zu Nebenfiguren degradiert, wodurch eine Art Duellsituation entsteht. Der Roman erscheint so als fiktionale Projektionsfläche fiir den Konflikt zwischen den realen Personen Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser. Die Statik des Duells wird dabei vor allem durch die Figur Rainer Hainer Henkels aufgelockert, welche die einzige ist, die ebenfalls noch eine größere Anzahl an Nennungen aufweisen kann. Pate stand dabei Rhetorikprofessor Walter Jens, der als Mitglied der Gruppe 47 auch schriftstellerisch erfolgreich war. Der ehemalige Freund Reich-Ranickis wird im Tod eines Kritikers als ziemlich geheimnisvolle Figur geschildert: ein Gedichte verfassender Kunsthistoriker, Spinnenforscher und Einflüsterer Ehrl-Königs, der mit seiner Schwester Ilse- Frauke von Ziethen in „inzestuöser Josefs-Ehe" (S. 98) zusammenlebt und als moralische Instanz vom Hintergrund aus agiert. Betont wird diese Darstellung auch dadurch, dass Henkel nicht nur als Figur auftritt, sondern vor allem auch in den Berichten des Professor Silbenfuchs Erwähnung findet. Die Figur Rainer Heiner Henkel trägt entscheidend zum alles verrätselnden Grundton des Romans bei und nährt Verschwörungstheorien rund um den 81 deutschen Literaturbetrieb. Um das etwas martialisch erscheinende Bild des einseitig sekundierten Duells abschließend abzurunden, sei noch einmal auf ein statistisches Faktum verwiesen: mit Ausnahme von Julia Pelz-Pilgrim wird keine der Frauenfiguren im Buch besonders häufig genannt und allesamt sind sie an der Duellhandlung nicht beteiligt. Diese wird, wie gesagt, von den zwei großen Gegenspielern Hans Lach/Michael Landolf und Andre Ehrl-König getragen. Trotzdem sind es immer wieder die Frauenfiguren, die den Roman vorantreiben und neue Wendungen auslösen. Einzeln mögen die weiblichen Protagonistinnen zwar mitunter Nebenfiguren sein, in seiner Gesamtheit stellt das Personal an Frauenfiguren aber den entscheidenden Bezugsrahmen innerhalb des Romans dar.

4.2 Frauenfiguren

Den Ausgangspunkt einer sich an den Frauenfiguren orientierenden Lesart von Tod eines Kritikers soll hier der in der Bibliographie angeführte Artikel von Sibylle Duda darstellen. Die Autorin zeichnet in ihrem Text zuerst die einzelnen Frauengestalten aus Martin Walsers Roman nach, indem sie Romanzitate aneinanderreiht und entwirft im Anschluss daran eine Typologie der weiblichen Figuren. Duda nimmt dabei allerdings antisemitische Tendenzen im Kritikerroman als absolut gegebenes Faktum an, wobei sich diese Vorannahme und das letztlich sehr negative Urteil hinsichtlich der Frauendarstellungen wechselseitig verstärken. Dass der Artikel sehr tendenziös ausgefallen ist, erklärt sich natürlich bereits aus seinem sehr geringen Umfang, das abschließende Fazit, nach dem alle Frauengestalten im Roman mit dem männlichen Maßstab erotischer Anziehungskraft gemessen werden und, falls sie diesem Maßstab nicht entsprechen, lediglich eine in Kauf zu nehmende Nebensächlichkeit darstellen,'^^ ist zwar auf den ersten Blick nicht völlig unbegründet, greift aber in seiner plakativen Prägnanz eindeutig zu kurz. Diese Feststellung bietet kaum mehr Erkenntnisgewinn als die weiter oben vorgetragene quantitative Auszählung und reiht Dudas Text in die Rubrik Trivialfeminismus ein. Dennoch hat sich die von der Autorin aufgestellte Typologie als nützliches Instrument erwiesen, um eine differenziertere Betrachtung voranzutreiben. So ist es möglich, die zwei Hauptfiguren des Buchs indirekt anhand der mit ihnen in Verbindung stehenden Frauen zu charakterisieren. Durch diesen Zugang werden die Frauen

'" Vgl. Duda, S. 85. 82 zwar zunächst auf Stereotype reduziert, zugleich aber mit dem traditionellerweise männlich besetzten Attribut der fixen Persönlichkeit belegt, wohingegen die männlichen Kontrahenten sich über ihre jeweiligen Frauen definieren und nicht umgekehrt wie das üblicherweise für Frauen angenommen wird. Der hier vorgetragene Ansatz versucht sich eingangs also an einer teilweisen Dekonstruktion der Geschlechterstereotype, wodurch ein gender-sensibler Beitrag zur Debatte um Walsers Roman beigesteuert werden soll. Dabei fällt auf, dass jene Frauen, die aus Dudas Sicht am meisten dem Klischee des domestizierten Weibchens entsprechen, allesamt mit Ehrl-König in Verbindung stehen. Martha Friday, die „groteske Karikatur einer selbstbewussten, intellektuellen Frau" ist geladener Gast in der SPRECHSTUNDE, mit der „oberflächlichen High-Society-Pflanze, die nichts im Kopf hat" ist er verheiratet und die „kindhafte, verführerische und nicht ernst zu nehmende dafür sexuell verfügbare Blondine" Cosi von Syrgenstein ist seine Geliebte. Hans Lach/Michael Landolf dagegen interessiert sich mehr für die „Vollweiber": Olga Redlich {„Die schwangere Geliebte") auf der einen Seite und die Jenseits christlicher Ethik stehende" „Saturnistin" Julia Pelz, die gleichermaßen „Verderberin und Erlöserin" ist und von Duda mit dem Etikett „selbständige Frau" versehen wird. Daneben ist noch „die betrogene Ehefrau", Erna Lach, zu nennen deren ,J.eid sie alt und hässlich macht", der aber dennoch die Sympathie ihres Mannes gehört. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird deutlich, dass sich das Konfrontationsverhältnis zwischen Ehrl-König und Hans Lach bis in die Frauengestalten fortsetzt. Beachtenswert ist dabei, dass nicht der klassische Topos der beiderseits begehrten Frau als Streitobjekt bemüht wird, vielmehr wird über die Frauen eine Art Parteizugehörigkeit zxmi Ausdruck gebracht: oberflächliche High-Society auf der Seite Ehrl-Königs, intellektuell eingefärbte Erotik auf der Seite Hans Lachs (wobei für die Bartök übende Erna Lach tatsächlich nur mehr das Attribut intellektuell übrig bleibt). Diese Art von eingeschriebenem Lagerdenken macht die Konfrontation zwischen Autor und Kritiker zu einer Art Stellvertreterkampf für virtuelle Gegnerschaften, wodurch die Duellsituation bei genauerer Betrachtung an Dramatik gewinnt. Aus dieser Konstellation verwundert es nicht, dass den erotischen Beziehungen im Buch viel Platz zugestanden wird und tatsächlich entstammen neue Handlungen imd Peripetien innerhalb des Romans zumeist dem Bereich des Sexuellen. Immerhin erfährt der Leser von Tod eines Kritikers von Seitensprüngen der beiden Hauptfiguren, wobei der Ausflug Ehrl- Königs mit Cosi von Syrgenstein der eigentliche Auslöser für die Romanhandlung ist, denn er ist der Grund fur das plötzliche Verschwinden des Kritikers und das darauf folgende Geschehen. Hans Lach wiederum betrügt seine Frau sowohl mit Olga Redlich als auch mit

'^* Alle Bezeichnungen vgl. Duda, S. 84. 83

Julia Pelz, worin man auch eine Art sexuelles Konkurrenzverhalten sehen karm, das allerdings nur irmerhalb der eigenen Fraktion ausgetragen wird. Das Fehlen der beiderseits begehrten Frauenfigur zeigt allerdings, dass der eigentliche emotionale Berührungspunkt zwischen den beiden Duellanten nicht im Sexuellen selbst zu suchen ist. Immerhin wird Ehrl-König von Hans Lach in der Anzahl der Seitensprünge übertrumpft, wobei ungewiss bleiben muss, ob Walser tatsächlich solcherlei darstellerische Absichten beim Schreiben des Romans verfolgt hat - eine feministisch orientierte Kritik wäre aber durchaus in der Lage, ihm eine solche Motivwahl zu unterstellen. Viel weniger unzweideutig verwendet der deutsche Schriftsteller die Reaktionen der betrogenen Ehefrauen innerhalb seiner Angriffsstrategie. Im Falle der Madame spielt er sie sogar gegen ihren Marm aus: Im Zuge ihres Mordgeständnisses bezeichnet Nancy Ehrl-König ihren Mann nämlich als sexuellen Versager, als ,JVullbefriedigung schlechthin''^^^^. Da dieses Geständnis nur erfimden ist, zieht es zudem auch die Madame ins Lächerliche, die in ihrer Publicitygeilheit vorgefiihrt wird. In der Lesart als Schlüsselroman wird die in dieser Szene enthaltene Medienkritik mit einer unter der Gürtellinie gefiihrten Ad personam-Attacke verbunden, die als persönliche Beleidigung aufgefasst werden kann und daher möglicherweise einen entscheidenden Schlüssel zur abwertenden Rezeption des Romans durch Reich-Ranicki darstellt. Dafür spricht auch, dass der Kritiker in seinem FAZ-Kommentar zum Skandal vom 6.6.2002 nicht nur die eigene Betroffenheit zum Ausdruck gebracht hat, sondern auch die seiner Frau (-^ 1.1.9). Die doppelt betrogene Erna Lach dagegen wendet sich mit ihrer Trauer nicht an die Öffentlichkeit. Sie muss zusehen, wie sich ihr Mann immer weiter von ihr entfernt und flüchtet sich in ihr Klavierspiel. Das Fremdgehen ihres Marmes lässt diesen aus der hier fingierten Sicht eines feministischen Interpreten nicht wirklich sympathischer als Ehrl-König erscheinen, da die Identifikationsfigur des Autors ein Stück Selbstkritik zugeschrieben bekommt, weil ihre Darstellung in dieser Beziehung nicht besser ist als die ihres Kontrahenten. Vergleicht man außerdem die Seitensprungdarstellungen mit jenen im zweiten Andre König-Roman Ohne einander offenbart sich eine deutliche Entwicklung, denn dort ist es Walsers Alter Ego Sylvio, der von seiner Frau betrogen wird, wobei ihr Liebhaber auch noch Sylvios Tochter verführt (dafür allerdings von Walser mit dem literarischen Tod bestraft wird). Walser schreibt also jeweils vom Standpunkt einer sehr freizügigen Sexualmoral, die zwar einerseits nie in Frage gestellt wird, andererseits aber immer Verlierer kennt, die wie die Sieger beiderlei Geschlechts sein kötmen.

'" Tod eines Kritikers, S. 173ff. 84

Unter der hier vorgetragenen Perspektive erklärt sich der Eindeutigkeiten vermeidende Grundton in Tod eines Kritikers vor allem aus den eben erwähnten Seitensprüngen, die immerhin noch so weit es geht vor den eigenen Frauen geheim gehalten werden sollen. Bei genauerer Betrachtung enthält der Roman eine sich auffächernde Ehebruchsgeschichte: 1) Der Hans Lach zugeschriebene Mordverdacht kann als inszeniertes Ablenkungsmanöver Ehrl- Königs gelesen werden, welcher sich auf diesem Weg eine erotische Auszeit vom Berufsleben verschafft. Der Kritiker erscheint dabei als völlig öffentliche Person und diese Darstellung findet ihre Fortsetzung in der gleichfalls öffentlich inszenierten Wiederversöhnung Ehrl-Königs mit seiner Frau. Standesgemäß wird dieses Eheritual sogar im Femsehen übertragen.'^^ Ehrl-König benützt also die Öffentlichkeitsstiftenden Medien nicht nur beruflich, er gestaltet mit ihrer Hilfe auch sein Privatleben, welches so in einer Weise öffentlich gemacht wird, wie man es etwa von Kinostars kennt. 2) Die Schwierigkeit für Hans Lach seine Unschuld zu beweisen besteht darin, dass sein Alibi für die Nacht, in der Ehrl-König verschwindet, ebenfalls ein Seitensprung ist, den er natürlich vor seiner Frau geheim halten möchte. Lachs Partnerin beim außerehelichen Sexualverkehr, Olga Redlich, mit der er in der Vergangenheit bereits eine Affare gehabt hat, ist auch nicht ohne weiteres bereit, das Alibi an die Polizei auszuliefern, da sie sich mittlerweile in einer neuen Beziehung befindet, die sie nicht gefährden möchte (gegen Schluss des Romans heiratet sie jenen Jan Konnetzny sogar). Sämtliche Inszenierungen, denen man im Roman begegnet, werden also nicht als Selbstzweck vorgeführt; sie dienen allesamt als strategische Manöver im Liebeskampf, der in den Tiefenschichten des Romans als eigentlicher Motor der Handlungen angelegt ist. Das gilt auch für jenen Teil des Romans, der sich mit den Themen Identität, Ich- Verlust und Ich-Findung unter dem Gesichtspunkt von Dichtung vmd Wahnsinn, Genie und Irrsinn auseinandersetzt: An anderer Stelle ist bereits überzeugend dafür argumentiert worden, dass ein psychotischer Identitätsverlust Mani Manis als eingeschriebenes Motiv für die versuchte Vergewaltigung, wegen der er in die (auch real existierende) psychiatrische Klinik in Haar eingewiesen worden ist, im Roman vorhanden ist.'^^ Der Auslöser für sein Verhalten war indes seine Verliebtheit in die für ihn unerreichbare Femsehansagerin Genevieve Winter, welche im Roman typologisch jenes Fantasma perfekter Weiblichkeit repräsentiert, das in unserem Medienzeitalter auf allen Femsehkanälen zu finden ist. Die Möglichkeiten zur Medienkritik, die der Roman eröffnet, müssen daher notwendigerweise um erotische Kategorien erweitert werden. Der Tod eines Kritikers ist tatsächlich ein Liebesroman, dessen genrespezifische Raffinesse nicht zuletzt in der Darstellung der Medienmanipulation (der

'^'Vgl. Tod eines Kritikers, S. 182f. '^' Vgl. Schmitt, S. 222f. 85

Terminus ist hier wertfrei zu verstehen) als moderne Beziehungstechnik irmerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht besteht. Das betrifft nicht nur Ehrl-König: auch Hans Lach stößt mithilfe medialer Techniken in neue erotische Regionen vor. Anstelle des aktiven Spiels mit Femsehen und Zeitungen erweist sich für den Autor das von ihm geschriebene Buch Wunsch, Verbrecher zu sein als sehr nutzbringend im erotischen Spiel. 3) Wie man bei genauem Lesen der entsprechenden Stelle erfährt, wird das Verhältnis zwischen Lach und Julia Pelz von der Verlegergattin begonnen, die in Michael Landolf einen Geistesverwandten erkennt. Das geschieht ironischerweise, als sie versucht Michael Landolf die Schuld Hans Lachs vor Augen zu fiihren, indem sie einzelne Stellen aus dem Wunsch, Verbrecher zu sein zitiert. Im Anschluss daran eröffnet sie Michael Landolf: ,Ms ich das las, sagte sie, habe ich gewußt, daß wir zusammengehören, er und ich. Das ist die Beendigung der christlichen Finsternis.'"''^^'^ Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, dass Lach und Landolf ein- und dieselbe Person sind, ist das erotische Anbahnungsritual durch die Anrede von Julia Pelz in der dritten Person innerhalb der Textstruktur ziemlich gut getarnt, denn erst im dritten Teil des Buches {„Verklärung''^) offenbart Michael Landolf seine doppelte Identität. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich bereits mit Julia Pelz auf Fuerteventura, wo er eine erotische Auszeit vom Alltag verbringt, die im Grunde das Verhalten Ehrl-Königs parallelisiert. Ähnlich wie der Kritiker nach der Rückkehr von Schloss Syrgenstein bekennt sich auch Michael Landolf/Hans Lach im Telefongespräch mit seiner Frau ganz offen zu seiner Affäre: „Wer mich am meisten schütze, der habe mich. Zur Zeit. Und das sei jetzt Julia. Ich versprach Erna, immer wieder anzurufen.""^^^^ Den Schilderungen der Affare zwischen Hans Lach und Julia Pelz wird jedoch viel mehr Raum im Roman zugestanden, was sie im Gegensatz zur Affare Ehrl-Königs viel konkreter erscheinen lässt. Die Figur Julia Pelz ist auch deshalb nicht mit den anderen Frauengestalten zu vergleichen (wie bereits die arithmetische Analyse nahe legt), da sie außerhalb der Duellhandlung steht. Die Qualität von Tod eines Kritikers als literarisches Versteckspiel besteht nun vor allem darin, dass der Roman über die Konfliktbeziehung zwischen Autor und Kritiker hinaus verweist: Julia Pelz wird zum eigentlichen Fluchtpunkt der Handlung, wodurch Tod eines Kritikers wie gesagt um die Lesart als Liebesroman erweitert wird. In den Worten, welche die Verlegergattin an ihren Geliebten richtet, wird dabei rückblickend mit der Kriminalhandlung abgeschlossen: Jch habe mit dem Gedanken gespielt, Sie seien ein Werkzeug des Fälligen: ein Anfang der Ungerechtigkeit gegen die Ungerechten. Was soll man mit Gedanken machen als spielend

'^" Tod eines Kritikers, S. 69. '^' Ebd., S. 192. '" Ebd., S. 202. 86

Hierin ist auch der poetologische Kommentar des Autors zu sehen, der sich längst einer neuen Geschichte zugewandt hat. Tod eines Kritikers ist in diesem Sirm tatsächlich als endgültige Abrechnung mit Reich-Ranicki zu sehen, wobei die vorgeführte emotionale Distanz Walsers zu seinem Kontrahenten weit größer ist, als man eigentlich vermuten möchte. Walsers vermeintlicher Kritikerroman ist vieldimensional angelegt und es ist nicht möglich, über eine simple Genrebezeichnung einen angemessenen Zugang zum Buch zu finden. Der hochkomplexe Aufbau ermöglicht Walser den oben erwähnten Übergang zwischen Duellhandlung und Liebesgeschichte ohne jeden erzählerischen Bruch. Der Umstand, dass man sich als Leser im Ambiente eines Schlüsselromans bewegt, verleiht außerdem dem Verhältnis von Hans Lach und Julia Pelz eine ganz besondere Brisanz, denn unter Berücksichtigung der Realitätsbezüge wird im Tod eines Kritikers ein Seitensprung Walsers mit Ulla Berkewicz erzählt. Auch wenn dieser wohl nur in der Fiktion zustanden kam, beinhaltet der Roman zumindest eine literarische Liebeserklärung an Siegfried Unselds Gattin. Nun gehört es zu Walsers Phantasie, dass der Ludwig Pilgrim im Buch unter einer schweren Krankheit leidet, an der er gegen Schluss der Geschichte stirbt; Begräbnisszene imd Trauerrede Ehrl-Königs inklusive.'^^ Im Unterschied zum Kritiker endet der Roman für Ludwig Pilgrim somit wirklich tödlich. Dazu kommt noch Julia Pelz als dunkel gewandete Femme fatal, die ihren sterbenden Mann betrügt, dem sie nach eigener Aussage „einundzwanzig Jahre entsprochen hat, indem sie eine Liebe produziert hat, die es nicht gibt"} '* Wenn man nach einem persönlichen Grund für eine Skandalisierung'des Romans suchen möchte, dann muss man das wohl genau an dieser Stelle tun. Das Konfrontationsverhältnis zwischen Autor und Kritiker wäre dann als Täuschungsmanöver aufzufassen, welches von der literarischen Seitensprungphantasie mit der Gattin des Verlagschefs ablenkt. Auf die Realität übertragen körmte der Tabubruch innerhalb des Hauses Suhrkamp typologisch mit der Metapher des Vatermordes umschrieben werden. Allerdings wirkt die Vorstellung des erotischen Autoritätsdramas bezogen auf die beinahe 80-jährigen Aktanten ein wenig grotesk. Dass Martin Walser Trauzeuge bei der Hochzeit Siegfried Unselds mit Ulla Berkewicz war, nimmt zudem der literarischen Liebeserklärung einen Teil ihrer Brisanz. Bereits im Kommentar des Artikels, den Marius Melier in der Frankfurter Rundschau vom 5.6.2002 veröffentlicht hat, wurde aber darauf hingewiesen, dass der Suhrkamp Patriarch Siegfried Unseld im Mai 2002 bereits an jener schweren Krankheit laborierte, an der er am 26. Oktober 2002 sterben sollte (-^ 1.1.2). Die Schilderung von Ludwig Pilgrims Ableben im Tod eines Kritikers karm demnach durchaus als gröbere

'" Ebd., S. 141, S. 175. Begräbnis S. 179f. "•* Vgl. Ebd., S. 200. 87

Taktlosigkeit aufgefasst werden, dass Walsers Roman von der Wirklichkeit eingeholt worden ist, dürfte allerdings wohl zufallsbedingt sein. Auch wäre nur schwer nachzuvollziehen, dass Frank Schirrmachers heimlicher Vorwand zur Skandahsierung in diesem Romandetail zu suchen ist. Letztendlich bleibt die Seitensprungphantasie schlichtweg ein totes Motiv, das nicht als Erklärungsansatz für den Skandal geeignet ist. Die Frauengestalten erfüllen also innerhalb des Kritikerromans bedeutsame Rollen, als persönliches Motiv im Hintergrund der Skandahsierung kommen sie aber nicht in Frage.

4.3 Zum Bild von Literatur- und Medienbetrieb

Die Intellektuellen huren heute mit der Öffentlichkeit genauso wie vorher mit Gott. Wer das für einen Vorwurf hält, weiß nicht, was Gott war und was die Öffentlichkeit ist. {Tod eines Kritikers, S. 32)

Ich las jetzt die Zeitungen, als handelte alles, was da drin stand, von mir. Ich war verwickelt in ein Geschehen, das nichts so sehr war wie öffentlich. {Tod eines Kritikers, S. 178)

Tod eines Kritikers ist wahrscheinlich der bunteste Roman im Werk von Martin Walser. Vorgetragen als literarisches Selbstgespräch {-^ 3.1.3.1) vereint er Krimi-Farce, erotische Motive, Okkultes, ontologische Betrachtungen, eine psychiatrische Studie und humoristische Elemente, was ihn zu einem postmodemen Stück Literatur macht. Zudem hat der Roman Teile seiner eigenen Rezeption vorweggenommen, wodurch es ihm sogar gelungen ist. Anklänge an das prophetische Genre wachzurufen. Der wohl dominierende Aspekt dieses Romans ist jedoch die darin vorgetragene Literatur- und Medienbetriebssatire. Diese verfährt zunächst einmal ad personam, wobei der Kritiker Andre Ehrl-König in seinem Schalten und Walten beschrieben und einer kritischen Betrachtung zugänglich gemacht wird. Martin Walser erweist sich in diesem Zusammenhang als scharfer Beobachter, ausgestattet mit einem wachen Auge insbesondere für Selbstinszenierungen und den damit verbundenen Formen der Machtausübung. Ihm gelingt es dabei, Ehrl-König immer wieder und auf durchaus humoristische Weise in seiner anmaßenden Haltimg gegenüber der von ihm kritisierten 88

Literatur darzustellen: „Und noch nie, noch nicht ein einziges Mal sei ihm ein Literaturpreis verliehen worden, obwohl doch, was er für die deutsche Literatur getan habe, sich wirklich messen könne mit dem, was dieser und jener preisgekrönte Ich-Erzähler auf die Waage bringe.''^ (S. 49). Das entscheidende Detail in dieser Darstellung besteht darin, dass Ehrl- König, den Bemt Streiff schon einmal als „Großkasper'' (S. 88) bezeichnet, keinerlei humoristische Absicht mit dieser Aussage verfolgt hat, denn Silbenfuchs' ironische Entgegnung, er könne sich als Mitglied so vieler Jurys doch selbst einen derartigen Preis verleihen, wird vom Kritiker als persönliche Beleidigung aufgefasst (S. 49f). Ein weiteres Detail in der Zeichnung Ehrl-Königs betrifft die simple Art und Weise, in der der Kritiker seine Literaturbesprechungen abhält. Von „Superlativstilistik^'' (S. 98) ist da die Rede und von einer ,.4nlage zur Hemmungslosigkeit' (S. 99), die aus dem Kritiker einen „Drauflosvirtuosen" (ebd.) mache. Die in Berichtsform vorgetragene Kritik Walsers geht dabei immer wieder ins Detail. So wird Michael Landolf einmal von Julia Pelz erzählt, dass sie sich eine Reihe von Ehrl-Königs Stehsätzen notiert habe, die der Kritiker wiederholt als Zitate benützt, um mit ihnen im Gespräch Punkte zu sammeln. Darunter finden sich Sätze wie „Von Musik verstehen Sie nichts." oder „Die deutschen Dichter meinen immer, die Leute müssten deutsche Dichter lesen, weit gefehlt." (beide S. 74). Der bewusste Einsatz solcher mitunter recht eigentümlicher Killerphrasen wird so als Instrument der Gesprächskontrolle kenntlich, das in Verbindung mit den polternden Auftritten Ehrl-Königs ungemein effizient ist. Das repetitive Moment dieser Stehsätze unterstreicht dabei deren effekthaschende Tendenz. Die Wirksamkeit der Methode geht allerdings nicht nur zu Lasten der Originalität, sondern lässt den Kritiker in einem unseriösen Licht erscheinen. Eine solche Stoßrichtung verfolgen auch die Äußerungen, die Bemt Streiff im Telefongespräch mit Michael Landolf von sich gibt: „Er [Andre Ehrl-König] war nichts als seine Macht. [...] Theorielos und praxisfern. Man hat die Zitate gezählt, es sind dreiundzwanzig. Adieu." (S. 88f). Den Stand der Literaturkritik im Zeichen Ehrl-Königs sieht auch Julia Pelz ziemlich kritisch: „Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht, sagte sie. Die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral. Was mich nicht unterhält, ist schlecht." (S. 73). An dieser Stelle ist es an der Zeit, das unter Punkt 4.1.2 zu Veranschaulichungszwecken herangezogenen Duellschema noch einmal näher zu betrachten, wobei die weiter oben Rainer Heiner Henkel zugeschriebene Sekundantenrolle in den Fokus gerückt werden soll: Der Ghostwriter und große Einflüsterer hinter Andre Ehrl-König steht dem Verhalten des Kritikers nämlich naturgemäß weniger abgeneigt gegenüber als andere Figuren im Roman. Im Gegenteil: Henkel beansprucht ganz offen seinen Anteil am zweifelhaften Ruhm Ehrl-Königs, 89 dem er gedient habe, „So wie der Bildhauer dem Stein dient, aus dem er die Figur schlägt." (S. 108). Die Existenz einer solchen Gegenstimme innerhalb des vermeintlich einseitig Ehrl- König-kritischen Tenors ist als Zeichen für den umfassenden darstellerischen Anspruch Walsers zu verstehen. Erneut zeigt sich der hohe Komplexitätsgrad der Walser'sehen Prosa, dem die mediale Skandalrhetorik zu keiner Zeit gerecht werden konnte. Es ist zwar möglich, eine Kritik des Kritikers in den Roman hineinzulesen und in der Folge Position für oder gegen Walser zu beziehen, bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass der Roman sich ebenso um ein Einfühlen in die Perspektive des Kritikers bemüht. Im Zusammenhang mit der Lesart als Schlüsselroman ergibt sich so das rezeptionsästhetische Problem, dass Martin Walser mit einer Gattung spielt, welche bei seinem Publikum bestimmte Erwartungen wie etwa eine eindeutige Positionierung des Autors weckt, welche durch den Aufbau von Tod eines Kritikers aber nicht erfüllt werden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Identifikationsmöglichkeit mit Ehrl-König zu einer ambivalenten Darstellung der Kritikerfigur führt, die nicht mehr geeignet ist, Kritik am Literaturbetrieb zu entfalten - die „Hassliebe''\ von der Sigrid Löffler spricht, scheint tatsächlich ein angemessener Begriff zu sein, um Walsers Schreibhaltung zu etikettieren. Eine Betrachtungsrichtung, die sich an der Kritikerfigur orientiert, wird also feststellen müssen, dass Walser in seinen Schilderungen der

t -je „Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens''' letztendlich kritiklos- unverbindlich bleibt. Die Qualitäten von Tod eines Kritikers sind hauptsächlich darstellerischer Natur und müssen daher auf der formalen Ebene gesucht werden. Statt Gesellschaftskritik zu betreiben, bildet Martin Walser eine Literaturszene ab, als deren Gravitationszentrum der Kritiker Andre Ehrl- König erscheint. Interessanterweise ist er zwar die Person, die im Roman am öftesten genannt wird, an der Romanhandlung selbst hat er aber kaum einen Anteil.'^^ Fues meint in diesem Zusammenhang: „Der Roman versucht, den Tod eines Kritikers ins Mosaik eines Fernsehbildes zu erzählen, zugleich aber den Teppich des Erzählens im und gegen dieses Mosaik auszubreiten [...]". Diese Behauptung nimmt vorweg, dass im Kritikerroman der traditionell lineare Ablauf der Narration teilweise aufgelöst wird. Mit der Auslegung als Fernsehbild versucht Fues die physische Abwesenheit Ehrl-Königs in der Handlung assoziativ zur Medienthematik in den Griff zu bekommen, vergreift sich jedoch damit, denn der Tod eines Kritikers erzählt vielmehr ein Gewebe literarischer Stimmen. Führt man diese

'^' Auf diese Formel hat Martin Walser den Inhalt von Tod eines Kritikers im Interview mit Uwe Wittstock , das am 30.5.2002 in der Welt erschienen ist, verknappt. '^* Vgl. Fues, S. 520. '" Fues, S. 534. 90

Beobachtung fort, gelangt man schließlich zum zentralen Bauprinzip des Romans: dem Gerücht. Die mannigfaltigen Episoden, Anekdoten und Mutmaßungen rund um Ehrl-Königs Leben, welche Michael Landolf von den unterschiedlichsten Personen erzählt bekommt und als deren Medium er auftritt, sind dabei nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs - Kuriositäten, die wohl hauptsächlich der Unterhaltung dienen. Die häufige Verwendung der indirekten Rede erweist sich dabei als probates Gestaltungsmittel (—> 3.1.2.1). Um die Originalität Martin Walsers aber richtig beurteilen zu können, muss man sich auf die Textebene bewegen: Michael Landolfs Niederschrift des Szeneguts erfolgt ja gewissermaßen dem Hörensagen nach. Sein über das Buch verteilter Rechercheweg durch die Literaturbetriebsschickeria und dessen literarische Schilderung liefern somit eine allegorische Darstellung des sozialen Prozesses der Bildung von Gerüchten. In Form und Inhalt weist der Tod eines Kritikers eine Kohärenz auf, die vom hohen ästhetischen Anspruch zeugt, mit dem der Roman auftritt. Im Folgenden soll nun der Fokus auf die in den Roman eingeschriebenen Intertexte gerichtet werden: An erster Stelle muss dabei Der Wunsch, Verbrecher zu sein genannt werden. Wie bereits erwähnt, zitieren Figuren wie der KHK Wedekind oder Julia Pelz mehrfach aus diesem Sammelsurium von Notizen, weil sie irrtümlicherweise meinen, so Beweise für die Schuld Hans Lachs herleiten zu können. Abgesehen von seiner Funktion als Requisit, liegt es nicht zuletzt aufgrund seines doch beträchtlichen Umfangs nahe, den Wunsch, Verbrecher zu sein auch als eigenständigen Text zu betrachten. Daran ändert selbst die Tatsache nichts, dass er fragmentarisch und diskontinuierlich innerhalb von Tod eines Kritikers vorliegt - die sentenzenhafte Form von Wunsch, Verbrecher zu sein kontrastiert jedenfalls scharf mit der literarischen Großform des Romans. Es handelt sich definitiv um ein Stück Rollenprosa im Stile von Martin Walsers Meßmer-Bänden und ist auch als Variation der bekannten Walser- Figur der Selbstverdoppelung zu sehen. Weniger umfangreich, dafür umso zahlreicher vertreten sind andere Texte Hans Lachs: Zu nermen sind sein Versuch über Größe (S. 21f) und die zwei Ausschnitte aus seinem von Ehrl-König verrissenen Mädchen ohne Zehennägel (S. 45 bzw. S. 46f). Von Michael Landolf kann man im Kursivdruck lesen: Unter dem Titel 2084. Eine Notiz aus der Überlieferung des Zukünftigen (S. 202-207) eine groteske Dystopie über die Evolution der SPRECHSTUNDE zur GLÄSERNEN MANEGE, die sich im Titel an Orwells 1984 anlehnt. Außerdem findet sich noch eine Notiz aus seinem Projekt Von Seuse zu Nietzsche (S. 214f) im Roman. Die beiden realhistorischen Autoren kommen auch als Originalzitate vor und demonstrieren, dass Walser nicht nur eigene (Kurz-)Texte in seinem Kritikerroman schichtet. Es finden sich auch zwei Auszüge aus Predigten von Seuse (S. 58 u. 91

S. 213f), sowie das dem Schlusskapitel vorangestellte Nietzsche-Zitat „Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntnis auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist [...]" (S. 209). Daneben adressiert Hans Lach eine prominente Stelle aus Goethes Prometheus-G^Aich^}^^ an Ehrl-König (S. 44f) und bereichert den Roman so um ein weiteres Versatzstück aus der Literaturgeschichte. Neben Hans Lach/ Michael Landolf erheben auch noch andere Figuren aus Walsers Kunstwelt ihre literarischen Stimmen: Bemt Streiff etwa mit seinem Text Vorläufiger Nachruf auf Hans Lach (S. 87f), Julia Pelz in ihrem Manuskript über Satumismus (S. 200-202) und der psychotische Mani Mani in seinem Abschiedsbrief an Hans Lach (S. 194-197). Die hohe Zahl der Intertexte ist zunächst einmal als Zeichen für die ungemein ausgeprägte Literarizität von Walsers Roman zu sehen, dass sie zu einem Gutteil auch aus der Feder des Autors vom Bodensee stammen, belegt wiederum dessen Talent zur Vielstimmigkeit. Es wurde bereits angedeutet, dass der lineare Ablauf der Narration durch die eingeschobenen Literatur-Miniaturen inmier wieder gebrochen wird. Die Textstruktur nähert sich so einer Flächenhaftigkeit, die oben bereits mit der Metapher des Gewebes umschrieben worden ist. Die Erzählung der Literaturszene im Roman verästelt sich in einer Vielzahl von weiteren Texten, was sicherlich eine dem Soziotop angemessene Darstellungsform ist. Der Titel Tod eines Kritikers erweist sich zuletzt als Irreführung der Leser, denn in Wirklichkeit enthält der Roman eine Schilderung des Lebens in und durch Literatur. An dieser Stelle soll die Theorie aufgegriffen werden, dass es sich bei der Skandalisierung von Tod eines Kritikers durch Frank Schirrmacher um eine gemeinsam mit dem Haus Suhrkamp oder gar Martin Walser geplante Vermarktungsaktion zugunsten des Romans gehandelt habe. Dem muss entschieden widersprochen werden - wenn Schirrmacher aus marktpolitischem Kalkül gehandelt hat, dann ausschließlich im Hinblick auf die FAZ. Die Belege für eine solche Argumentation finden sich in der Struktur des Romans: Ehrl-König stirbt letztendlich doch nicht und der Roman erweist sich weniger als aggressiver Schlüsselroman, sondern vielmehr als formal anspruchsvolles Gesellschaftsportrait. Es wurde weiters bereits gezeigt, dass das Spiel mit der Öffentlichkeit ein integraler Teil von Tod eines Kritikers ist, weswegen man mit gutem Recht vermuten darf, dass Martin Walser seinen Roman auch im Hinblick auf dessen stückweise Veröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen hin konzipiert hat. Die häppchenweise Vorabveröffentlichung des Romans in der F^Z-jahrelang geübte Praxis des Blattes im Umgang mit Texten von Martin Walser - wäre

'^* „Ich kenne nichts Ärmeres / Unter der Sonne als euch, Götter! [...]" Der Text illustriert die ambivalente Haltung Hans Lachs gegenüber Andrö Ehrl-König wunderbar ironisch, zumal es die Vorliebe des Kritikers für Goethe mit in Betracht zu ziehen gilt. 92 bereits eine ideale Methode zur Spannungserzeugung, sowie eine sicherlich probate Vermarktungsstrategie gewesen. Diese Tatsache spricht dafür, dass die Aussage Günter Bergs, der Erscheinungstermin des Romans habe von August auf Juni vorverlegt werden müssen, um den Eindruck einer zynischen Marketingaktion zu vermeiden,' reaktiv hinsichtlich des Medienskandals zu sehen ist und Suhrkamp nicht an dessen Inszenierung beteiligt war. Wie bereits im Kommentar von Marius Meilers Artikel gesagt wurde, befand sich der Verlag zum Zeitpunkt des Skandals zudem in einer Phase des Umbruchs. Der Liste von wahrscheinlichen Motiven für das eigenwillige Vorgehen Schirrmachers muss in diesem Zusammenhang jenes der Kraftprobe der FAZ mit dem Haus Suhrkamp hinzugefügt werden.

4.4 Schlusswort

In der Diskussion der Hintergründe des Skandals rund um Tod eines Kritikers müssen letztlich Unbestimmtheitsstellen bestehen bleiben, denn die wissenschaftliche Methodik des Schlussfolgems und sprachlichen Probehandelns stößt dort an ihre Grenzen, wo es darum geht, die persönlichen Motive der in den Skandal involvierten Personen zu ergründen. Eine solche Recherche fällt ohnehin eher in den Zuständigkeitsbereich von Literaturpsychologen oder investigativ tätigen Journalisten. Immerhin konnte unter Anwendung eines Ausschlussverfahrens mit sprachlogischen Mitteln mehrfach gezeigt werden, welche Motive bei der Inszenierung des Skandals höchstwahrscheinlich keine Rolle gespielt haben, wodurch sich Spekulationen zumindest in Grenzen halten lassen. Besonders hervorzuheben an Tod eines Kritikers bleibt noch die Tatsache, dass der Roman im Zuge seiner Skandalisierung eine unmittelbare Wirkung in der Öffentlichkeit gezeitigt hat. In diesem Sirm gibt er ein schönes Beispiel dafür ab, wie Literatur auch im Femseh- und Multimediazeitalter noch gesellschaftliche Bedeutung erlangen karm, wenn sie sich als Teil des Medienzusammenhangs begreift. Daneben stellt der Roman ein ebenso eindringliches Beispiel dafür dar, dass öffentliche Bedeutungszuschreibungen mitunter ziemlich intuitiv und nicht auf Grundlage wissenschaftlicher Kriterien erfolgen. Was die Skandalisierung von Tod eines Kritikers anbelangt, wurde dabei der gesellschaftspolitisch hochbrisante Bereich des Antisemitismus angeschnitten, wobei im Rahmen dieser Arbeit gezeigt wurde, dass eine solche Etikettierung nur vom Standpunkt unzureichender, wenn nicht gar grundlegend falscher Interpretationen des Romans und seiner Vorgängertexte aus möglich war. Es wurde weiters kenntlich

'^' Vgl. Berg 93 gemacht, dass der Kritikerroman kein singuläres Ereignis in Martin Walsers Textproduktion darstellt, sondern als Kulminationspunkt eines von Kontinuitäten geprägten literarischen Werdegangs anzusehen ist und zwar sowohl stilistisch als auch thematisch. Bei einer Beurteilung von Martin Walsers Spätwerk wird der Tod eines Kritikers daher stets eine Hauptrolle spielen müssen. 94

Bibliographie

Textkorpus Martin Walser

Brandung, , Suhrkamp Taschenbuch, 1987.

Das Schwanenhaus, Suhrkamp Taschenbuch, 1982.

Der Augenblick der Liebe, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch, 2006 (© Rowohlt Verlag 2004).

Deutsche Sorgen, Frankfurt, Suhrkamp Taschenbuch, 1997. („Ein deutsches Mosaik", S. 90-112; „Unser Auschwitz", S. 187-202; „Auschwitz und kein Ende", S. 228-234; „Deutschländer oder brauchen wir eine Nation", S. 255-275; „Über Deutschland reden", S. 406-427; „Das Prinzip Genauigkeit", S. 565-592)

Ein fliehendes Pferd, Frankfixrt, Suhrkamp Taschenbuch, 1980.

Ein springender Brunnen, Frankfurt, Suhrkamp, 1998.

Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, Frankfurt, Suhrkamp, 1998.

Liebeserklärungen, Frankfiirt, Suhrkamp Taschenbuch, 1986. („Heines Tränen", S. 173-207; „Goethes Anziehungskraft", S. 237-259; „Hilfe vom Selbsthelfer. Ein Versuch über Goethe", S. 261 -279)

Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte, Frankfurt, Suhrkamp, 1997. („Meinungen über Meinungen", S. llA-116)

Meßmers Reisen, Frankfurt Suhrkamp, 2003.

Ohne einander, Frankfiirt, Suhrkamp Taschenbuch, 2002.

Tod eines Kritikers, München, List, ^2003 (© Suhrkamp Verlag 2002).

Essays und Monographien

ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, Beck, 1992.

BECK, ULRICH; LEVY, DANIEL; SZNAIDER NATAN, „Erinnerung und Vergebung in der Zweiten Moderne", in: BECK, ULRICH; LAU, CHRISTOPH (Hrsg.), Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfiirt, Suhrkamp (Edition Zweite Moderne), 2004, S. 440-468. 95

BORCHMEYER, DIETER, „Martin Walsers Tod eines Kritikers: der komische Roman als Inszenierung seiner Wirkungsgeschichte", in: DERS., KIESEL HELMUT (Hrsg.), Der Ernstfall, a.a.O., S. 46-68.

BORCHMEYER, DIETER; KiESEL, HELMUTH (Hrsg.), Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers", Hamburg, Hoffman und Campe, 2003.

DiETZSCH, MARTIN; JäGER, SIEGFRIED; SCHOBERT, ALFRED (Hrsg.), Endlich ein normales Volk? Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Eine Dokumentation, Duisburg, DISS, 1999.

DuDA, SIBYLLE, Frauengestalten in Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers", in: EvA RIEGER; HILTRUD SCHROEDER (Hrsg.), Diese Frau ist der Rede wert. Festschrift für Luise Pusch, Herbolzheim, Centaurus, 2004, 77-85.

FOUCAULT, MICHEI, Dispositive der Macht. Michel Foucault Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, Merve, 1978.

FuES, WOLFRAM MALTE, „Die Klinge des Saturn: Geschichte und Gegenwart von Martin Walsers ,Tod eines Kritikers'", in: Weimarer Beiträge 50, 2004, H. 4, 515-538.

GRASS, GüNTER, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen, Steidl, 2006.

HUND, WULF D., „Der scheußlichste aller Verdächte. Martin Walser und der Antisemitismus", in: KLOTZ, JOHANNES; WIEGEL GERD (Hrsg.), Geistige Brandstiftung. Die neue Sprache der Berliner Republik, a.a.O., S. 183-232.

KIESEL, HELMUTH, „Zwei Modelle literarischer Erinnerung an die NS-Zeit: Die Blechtrommel und Ein springender Brunnen'', in: PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S. 343-361.

KLOTZ, JOHANNES; WIEGEL, GERD (Hrsg.), Geistige Brandstiftung. Die neue Sprache der Berliner Republik, Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag, 2001.

KREUTZER, LEO, „Ein Roman und seine Doppelgänger. Sieben Anmerkungen zu Tod eines Kritikers"', in: BoRCHMEYER, DIETER; KIESEL HELMUTH (Hrsg.), Der Ernstfall, a.a.O., S. 192- 213.

LOSCH, BERNHARD, „Ehre, Satire und rechtliche Bedeutung. Medienfreiheit, Persönlichkeitsschutz und demokratische Öffentlichkeit. Ein juristischer Kommentar zu Martin Walsers Kritikerroman", in: BORCHMEYER, DIETER; KIESEL HELMUTH (Hrsg.), Der Ernstfall, a.a.O., S. 226-240.

LöFFLER, SIGRID, „Ein Skandal, der keiner ist. Martin Walsers ,Tod eines Kritikers' und die Kritik", in: Literaturen, Bd. 7/8, 2002, S. 136.

LORENZ, MATTHIAS N., ,.4uschwitz drängt uns auf einen Flecl^\ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart / Weimar, Metzler, 2005. 96

NOLLE, VOLKER, „Der Redner als Dichter und umgekehrt. Zu konzeptionellen Aporien in Walsers Friedenspreisrede", in: PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S. 259-280.

PARKES, STUART, „Tod eines Kritikers. Text and Context", in: PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S. 447-468.

PARKES, STUART; WEFELMEYER, FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective, (German Monitor No. 60, General Editor: Jan Wallace), Amsterdam / New York, Rodopi, 2004.

REICH-RANICKI, MARCEL, Martin Walser. Aufsätze, Zürich, Ammann, 1994.

REISS, HANS, ,„demonstrieren, was Gerüchte sind ...' Überlegungen eines Emigranten zu Martin Walsers Tod eines Kritikers'', in: BORCHMEYER, DIETER; KIESEL HELMUTH (Hrsg.), Der Ernstfall, a.a.O., S. 261-274.

ROHLOFF, JOACHIM, Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik, Hamburg, Konkret, 1999.

SCHIRRMACHER, FRANK (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte: Eine Dokumentation, Frankfurt, Suhrkamp, 1999.

SCHMITT, WOLFRAM, „Identität und Psychose: Ich-Findung oder Ich-Verlust? Psychiatrische Bemerkungen zum Tod eines Kritikers'', in: BORCHMEYER, DIETER; KIESEL HELMUTH (Hrsg.), Der Ernstfall, a.a.O., S. 214-225.

SCHÖDEL, KATHRIN, „Jenseits der political correctness - NS-Vergangenheit in Bernhard Schlink, Der Vorleser und Martin Walser, Ein springender Brunnen", in: Seelenarbeit PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S. 307- 322.

WILLER, STEFAN, „Öffentliche Rede als Inszenierung abwesender Autorschaft. Selbstverdoppelung und Selbstgespräch bei Martin Walser", in: PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S.225-240.

WILL, WILFRIED VAN DER, „Die Unausweichlichkeit der Provokation. Kultur- und literaturtheoretische Anmerkungen zu Martin Walsers Ein springender Brunnen imd zu seiner Friedenspreisrede", in: PARKES, STUART; WEFELMEYER FRITZ (Hrsg.), Seelenarbeit an Deutschland, a.a.O., S. 281-305.

Zeitungsartikel

BERG, GüNTER, „,Walser ist kein Möllemann der Literatur'. Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg sieht in Schirrmachers Vorwurf ,Boshaftigkeit'" (Interview mit Elmar Krekeler), in: Die Welt, 30. Mai 2002. 97

BOHRER, KARL HEINZ, „Grenzen der Korrektheit. Jürgen Habermas' politische Semantik", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Juni 2002.

HABERMAS, JüRGEN, „Tabuschranken. Eine semantische Anmerkung - für Marcel Reich- Ranicki, aus gegebenen Anlässen", in: Süddeutsche Zeitung, 7. Juni 2002.

KAISER, JOACHIM, „Walsers Skandalen. Nicht antisemitisch, aber brillant, boshaft und hemmungslos", in: Süddeutsche Zeitung, 5. Juni 2002.

MELLER, MARIUS, „Tod eines Autors. Eine erste Lektüre des neuen Romans von Martin Walser", in: Frankfurter Rundschau, 31. Mai 2002.

DERS., „Unser schönster Bienenkorb. Kritische Theorie als Vademecum in Krisenzeiten: Der Suhrkamp Verlag berät über den Druck des Walser-Buches", in: Frankfurter Rundschau, 5. Juni 2002.

REICH-RANICKI, MARCEL, „Eine Erklärung. Walsers Buch hat mich tief getroffen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 2002.

REEMTSMA, JAN PHILIPP, „18 - aha. Die Fälle Jürgen W. MöUemarm und Martin Walser: Die Elite und der Mob", in: Frankfurter Rundschau, 1. Juni 2002.

SCHIRRMACHER, FRANK, „Tod eines Kritikers. Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Mai 2002.

SEIBT, GUSTAV, „In Erlkönigs Armen sterben. Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki: Zur Geschichte einer an Eskalationen reichen Beziehung", in: Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2002.

SPIEGEL, HUBERT, „Der Müll und der Tod. Martin Walser und die Gespenster der Vergangenheit", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juni 2002.

STEINFELD, THOMAS, „Die Meute der Deuter. Der doppelte Skandal um Martin Walsers Manuskript", in: Süddeutsche Zeitung, 4. Jvini 2002.

WALSER, MARTIN, „,lch bin doch nicht wahnsinnig'. Martin Walser zum Vorwurf antisemitischer Tendenzen" (Interview mit Uwe Wittstock), in: Die Welt, 30. Mai 2002.

DERS., „Ich trainiere, mich selbst zu erwürgen" (Interview mit Werner Krause u. Hubert Patterer), in: Kleine Zeitung, 23. April 2004.

WITTSTOCK, UWE, „Der Sieg des Kritikers. Literatur als geistiges Überlebensmittel: Marcel Reich-Ranicki, wie er wurde, der er ist", (1. Juni 2002), in: http://ww^^^welt•de/daten/2002/06/01/06Qllw335289•htx?search=sieg+des+kritikers&search HILI=L (12.9.2004).