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Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

ISSN - Stiftung ISBN ---- Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Rückkehr in die Fremde? Deutschland und seine Exilanten nach  kleine schriften 

Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Bernd Braun

Rückkehr in die Fremde?

Deutschland und seine Exilanten nach 

Heidelberg  DER AUTOR

Braun, Bernd geb. 1963; Prof. Dr. phil.; 1990 bis 1999 Museumspädagoge, seither Wissenschaft- licher Mitarbeiter der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

Bildnachweis Bild Umschlag und S. 5 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 6 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 10 (Bundesarchiv Koblenz, Bild 183-S65226), Bild S. 14 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bilder S. 16 und 17 (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Bild S. 18 (Bundespresseamt), Bilder S. 20 und 26 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 29 (Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft), Bild S. 32 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 36 (Archiv der Akademie der Künste, ), Bild S. 37 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 40 (Bundespresseamt), Bild S. 42 (Bundesarchiv Koblenz, Bild 183-S78110, Fotograf Walter Heilig), Bild S. 44 (Joseph-Wirth-Stiftung), Bild S. 45 (Bernd Haunfelder), Bild S. 47 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich- Ebert-Stiftung in ), Bild S. 49 (Ullstein-Bild), Bild S. 51 (Universitätsarchiv Frankfurt am Main), Bild S. 59 (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Bild S. 62 und 63 (Bundesarchiv Koblenz, Bild 183-A09004-0017-011, Fotograf Günter Weiß, und Bild 183-A0904-0092-002, Fotograf Heinz Koch), Bild S. 65 (Privatarchiv Jeff Carrier, Ispheming, Michigan/USA) und Bild S. 68 (Parlamentsarchiv des Deut- schen Bundestages).

Braun, Bernd Rückkehr in die Fremde? Deutschland und seine Exilanten nach 1945 (Kleine Schriften / Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte: Nr. 33)

© 2. Auflage 2020 Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Untere Str. 27 D – 69117 Heidelberg Tel.: (06221) 9 10 70 Fax: (06221) 91 07 10 Internet: http://www.ebert-gedenkstaette.de E-Mail: [email protected] Redaktion: Walter Mühlhausen, Bernd Braun Realisation: gschwend_grafik, Heidelberg, Ingo Preuß, Ladenburg | PreussType.com

Die Stiftung wird gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

ISNN 0940-4201 ISBN 978-3-92888-58-9 bei seiner Ankunft im Exil in New York im September 1939. Deutschland und seine Exilanten nach 

Der Hauptgrund für Erich Maria Remarques Verfolgung durch das NS-Regime: Sein Antikriegsroman und Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“, hier angekündigt in der spanischen Übersetzung „Sin novedad en el frente“ auf dem Umschlag der Zeitschrift „Novelas y Cuentos“.

8 Deutschland und seine Exilanten nach 

Rückkehr in die Fremde?

Deutschland und seine Exilanten nach 1945

In einem Interview zu seinem 70. Geburtstag am 22. Juni 1968 wur- de dem erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahr- hunderts, Erich Maria Remarque, unter anderem die Frage gestellt, warum er nach dem Ende der Hitler-Diktatur nicht nach Deutsch- land zurückgekehrt sei.1 Die Antwort von Remarque lautet:

„Es gibt keine Rückkehr aus dem Exil. Übrigens sind wir eine Emigrantengeneration – ob wir weggegangen oder zu Hause geblie- ben sind. Die Füße der einen trugen sie aus Deutschland hinaus, unter den Füßen der anderen ist Deutschland weggegangen.“2

Die Zeit, die einem in Mitteleuropa für einen Vortrag üblicher- weise zur Verfügung gestellt wird und selbst der erweiterte Umfang eines in Schriftform gegossenen Vortrages reichen nicht aus, um über die einzelnen Bestandteile dieses ungemein tiefgründigen Zi- tates von Remarque angemessen zu reflektieren. Geschweige denn reichte dieser vorgegebene Rahmen aus für einen Beitrag, der dem Thema „Deutschland und seine Exilanten“ auch nur annähernd ge-

1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die erweiterte und für die zweite Auflage leicht veränderte Fassung eines Vortrages, den ich am 3. November 2010 in der Reichspräsi- dent-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg gehalten habe. 2 Zitiert in: Erich Maria Remarque zum 70. Geburtstag am 22. Juni 1968, hrsg. vom Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1968, S. 7. Zu Remarque allgemein: Wilhelm von Sternburg, „Als wäre alles das letzte Mal“ – Erich Maria Remarque. Eine Biographie, Köln 21998.

9 Deutschland und seine Exilanten nach  recht werden kann.3 Es soll deshalb der Versuch unternommen wer- den, in zehn Punkten manche gängige Sichtweise auf das deutsche Exil zu hinterfragen, um so gleichzeitig den Blickwinkel zu weiten und zu schärfen.

1. Die Unvergleichbarkeit des Unvergleichbaren

Seit sich in der Menschheitsgeschichte Hierarchien herausgebildet haben, gab es einzelne Menschen und Gruppen, die mit den jewei- ligen Autoritäten in Konflikt gerieten und, um Leib und Leben zu schützen, ihre Heimat verlassen mussten. Dies war in der Antike so, im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit, im 19. und im 20. Jahrhundert, in allen Erdteilen und in allen Kulturkreisen. Und dies ist bis heu- te so geblieben. Auch während der Lektüre dieses Aufsatzes verlas- sen politische Flüchtlinge ihre Familie, ihren Geburtsort, ihr Land. Und obwohl sich die Einzelschicksale durch die Zeiten hinweg glei- chen und deshalb auch vergleichen lassen, sollte, ja darf der Ver- gleich nicht zu weit getrieben werden: Was sich zwischen 1933 und 1945 während der Hitler-Diktatur in Deutschland und in den von deutschen Truppen besetzten Ländern abgespielt hat, ist einmalig und unvergleichbar. Unvergleichbar in seiner territorialen, in seiner quantitativen, in seiner mörderischen Dimension, unvergleichbar in seinen Folgen für die Betroffenen, unvergleichbar in seinen Folgen für Deutschland wie für Europa, die wir noch heute tagtäglich spü-

3 Im Rahmen eines solchen Beitrages können nur ansatzweise Hinweise auf die Sekun- därliteratur gegeben werden. Erste Orientierung liefern: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hrsg. von Werner Röder und Herbert A. Strauss, München 1980ff.; Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, hrsg. von Claus-Dieter Krohne, Darmstadt 21988.

10 Deutschland und seine Exilanten nach  ren. Diese Unvergleichbarkeit gilt gerade und ganz besonders für das vorliegende Thema: das durch die so genannte „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten ausgelöste Exil Hunderttausender. Wer etwa die Verfolgung Andersdenkender in der NS-Zeit mit der Verfolgung Andersdenkender zu Zeiten der DDR oder in anderen aktuellen Diktaturen der Welt in einem Atemzug nennt, relativiert und ver- harmlost die Situation in Deutschland zwischen 1933 und 1945 in unerträglicher und nicht hinnehmbarer Art und Weise.

2. Die Fixierung auf Deutschland

Natürlich darf bei dem Thema „Deutschland und seine Exilanten nach 1945“ nicht übersehen werden, dass aus dem gesamten deut- schen Machtbereich, der sich – unter Einschluss der Verbündeten und der Marionettenregime – zeitweise vom Nordkap bis Nordafri- ka, von der Atlantikküste bis zum Kaukasus erstreckte, Menschen auf der Flucht waren. Nicht nur Deutsche, die ihr zunächst sicher ge- glaubtes Exilland wieder und wieder vor den heranrückenden deut- schen Truppen fluchtartig verlassen mussten, sondern Gefährdete aus allen Nationen Europas. Um nur ein einziges Beispiel zu nen- nen: Italien hatte 1938 nach deutschem Vorbild Rassegesetze ein- geführt. Im gleichen Jahr wurde der Physiker Enrico Fermi, der mit einer Jüdin verheiratet war, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Der bedeutendste italienische Physiker des 20. Jahrhunderts kehrte von der Nobelpreisverleihung in Stockholm am 10. Dezember 1938 nicht nach Italien zurück, sondern emigrierte mit seiner Frau und seinen Kindern in die USA.

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Zwei jüdische Flüchtlingskinder aus einem Kindertransport aus Hamburg bei ihrer An- kunft in Großbritannien im Dezember 1938.

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Und fast immer wird übersehen, dass umgekehrt Hunderttau- sende von Menschen ihre Heimat verlassen mussten, weil sie im Zwangsexil in Deutschland Zwangsarbeit verrichten mussten. Die- ser zumeist vergessene Aspekt, dass nicht nur Hunderttausende von Menschen aus Deutschland hinaus, sondern auch Hunderttausende nach Deutschland hineingetrieben wurden, ist erst durch die Ende der 1990er Jahre von der Politik aufgegriffene Entschädigung der Zwangsarbeiter und die dafür im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Er- innerung, Verantwortung, Zukunft“ ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt.4 Genauer müsste man von den Zwangs- arbeitern aus Mittel- und Osteuropa sprechen, denn den italieni- schen Zwangsarbeitern zum Beispiel wird eine Entschädigung bis heute unter Hinweis auf ihren Status als Militärinternierte verwei- gert.5

3. Der Fokus auf den Prominenten

„Denn die einen sind im Dunkeln/Und die andern sind im Licht/ Und man siehet die im Lichte/Die im Dunkeln sieht man nicht“, dichtete in der „Dreigroschenoper“ mit Bertolt Brecht einer der be- rühmtesten deutschen Emigranten. Natürlich liegt der Fokus der Wahrnehmung immer auf den prominenten Exilanten, obwohl nur eine verschwindend geringe Minderheit der politischen Flüchtlinge zu ihrer Zeit bekannt oder gar berühmt war. Die weitaus meisten der auf mindestens 500.000 geschätzten deutschsprachigen Emigranten standen nie im Rampenlicht, sondern gingen unspektakulären Be- rufen nach. Oder sie hatten noch gar keinen Beruf und standen erst am Beginn ihres Lebens wie die knapp 10.000 jüdischen Kinder, die zwischen der Reichspogromnacht 1938 und dem Kriegsbeginn am

13 Deutschland und seine Exilanten nach 

1. September 1939 mit den Kindertransporten nach Großbritannien in Sicherheit gebracht werden konnten.6 Wenn der Fokus zumeist und auch in diesem Beitrag auf den prominenten Flüchtlingen liegt, dann deshalb, weil man von den „einfachen“ Flüchtlingen bis heu- te immer noch viel zu wenig weiß. Es gibt vergleichsweise wenige schriftliche Dokumente, erst über die Aufzeichnungen mündlicher Erlebnisberichte und Interviews, die so genannte Oral History, las- sen sich viele Lebensschicksale nicht prominenter Flüchtlinge nach- zeichnen. Kommunale Forscher und Stadtarchive haben sich hier ebenso bleibende Verdienste erworben wie etwa die Aktion „Stol- persteine“ des Künstlers Gunter Demnig, der seit Mitte der 1990er Jahre vor dem letzten frei gewählten Wohnort eines NS-Opfers Ge- denksteine in das Pflaster einlässt. Bisher sind weit mehr als 70.000 Stolpersteine in Deutschland und 25 europäischen Ländern instal- liert worden (Stand Ende 2018). Jeder einzelne verlegte Stolperstein setzt Forschung auf lokaler Ebene voraus und regt gleichzeitig dazu an – ein Musterbeispiel dafür, was die Initiative eines Einzelnen be- wirken kann.7

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4. Der Fokus auf den jüdischen Exilanten

Aus ganz verständlichen Gründen liegt heute der Schwerpunkt der öffentlichen Wahrnehmung auf den Verfolgten und Exilierten jüdischen Glaubens. Es sei ausdrücklich wiederholt: aus völlig ver- ständlichen Gründen. Darüber sollte man die anderen Gruppen der Verfolgten und die anderen Gründe der Verfolgung allerdings nicht aus den Augen verlieren. Insgesamt gab es vier Hauptgruppen von Verfolgten, die ins Exil gingen: Kommunisten, Sozialisten, Pazifis- ten und Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung. Bis auf ganz vereinzelt bekannt gewordene Fälle sind Zigeuner, Sinti und Roma, nicht ins Exil gegangen. Allerdings ist über diesen Aspekt auch noch nicht ausreichend geforscht worden.8 Es gab neben den genannten vier Hauptgruppen aber auch Exi- lanten wie die beiden Reichskanzler Joseph Wirth und Heinrich Brüning, die im politischen Katholizismus verwurzelt waren; es gab Homosexuelle wie den Schauspieler Adolf Wohlbrück, der 1936 über Frankreich und Hollywood nach England emigrierte und dort aus Gründen der Aussprache seinen Nachnamen von Wohlbrück in Walbrook und seinen Vornamen aus Gründen, die man nicht extra erläutern muss, von Adolf in Anton änderte; es gab Exilantinnen wie die Schriftstellerin Irmgard Keun, deren Bücher deshalb verboten wurden, weil die Heldinnen ihrer Romane „Gilgi – eine von uns“ (1931) und „Das kunstseidene Mädchen“ (1932), ein in den Augen der Nazis zu modernes Frauenbild verkörperten;9 es gab Schauspie- lerinnen wie Lilian Harvey, die Deutschland verließ, weil sie jüdi- schen Freunden geholfen und sich damit verdächtig gemacht hatte; es gab binationale Autoren wie René Schickele und Annette Kolb, die Deutschland den Rücken kehrten, weil sie den deutschen Teil

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Plakat zu dem Film „The Adventures of Colonel Blimp“ 1943 mit Anton Walbrook (Adolf Wohlbrück) und Deborah Kerr.

16 Deutschland und seine Exilanten nach  ihrer deutsch-französischen Seele durch Hitler vergewaltigt sahen;10 es gab kuriose Fälle wie denjenigen des Sanitäters und Kriegskame- raden Hitlers, des späteren pazifistischen Schriftstellers Alexander Moritz Frey, dessen Leben alleine schon deshalb bedroht war, weil er die Wahrheit über so manche geschönte Heldentat des Diktators wusste.11 Es gab Männer wie den späteren SPD-Bundestagsabgeordneten Jakob Altmaier, über den Joseph Roth im Exil in Paris sagte, er trage gleich drei Kreuze: „Er ist ein Jud’, er ist ein Sozialdemokrat, und er ist ein Homosexueller.“12 Während also Jakob Altmaier gleich drei Verfolgungskategorien angehörte, gab es wieder andere Exilanten, die man mit keiner einzigen Verfolgungskategorie in Verbindung bringen kann und denen der Charakter der Diktatur ganz einfach zutiefst zuwider war. Zum Teil vermutet man nicht einmal, dass sie überhaupt im Exil gewesen sind oder hält sie irrtümlicherweise für Juden. Zu dieser Kategorie zählt etwa der Operettenkönig Robert Stolz, der nach dem so genannten „Anschluss Österreichs“ 1938 über Frankreich in die USA flüchtete und 1946 nach Wien zurück- kehrte.13

17 Deutschland und seine Exilanten nach 

René Schickele emigrierte bereits 1932 nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich. Im Januar 1940 starb er im Alter von nur 56 Jahren. 1956 wurden seine sterblichen Überreste auf den Friedhof seiner langjährigen Wahlheimat Badenweiler-Lipburg umgebettet.

18 Deutschland und seine Exilanten nach 

Annette Kolb 1954 in der Buchhandlung an der Brienner Straße in München. Die Tochter eines deutschen Gartenarchitekten und einer französischen Pianistin lebte wie ihr Freund René Schickele in Badenweiler. 1933 emigrierte sie nach Paris und 1941 in die USA. 1967 starb die 97-Jährige in ihrer Heimatstadt München.

19 Deutschland und seine Exilanten nach 

Jakob Altmaier (Porträt vom 22. Oktober 1953) gehörte von 1949 bis zu seinem Tod 1963 für die SPD dem Deutschen an. Er gilt als Initiator des deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommens von 1952.

20 Deutschland und seine Exilanten nach 

5. Der Fokus auf dem Exilland USA

Wenn wir heute an die deutschen Exilanten denken, dann haupt- sächlich an das Exilland USA. Sicherlich haben die USA neben dem späteren Staat Israel am meisten von dem Massenexodus deutscher und europäischer Flüchtlinge profitiert. Dass vor allem die USA zahl- reiche Wissenschaftler aller Sparten, Mediziner, Physiker, Atomphy- siker, Chemiker, Biochemiker usw. aufgenommen und ihnen umge- hend Wirkungs- und Forschungsmöglichkeiten eröffnet haben, hat jenen Vorsprung der USA als Wissenschaftsweltmacht begründet, den Europa und vor allem Deutschland auch durch noch so detailge- treue Imitation der US-amerikanischen Universitätsstrukturen und Studiengänge auf absehbare Zeit nicht werden einholen können. Durch diese Fixiertheit auf die USA wird aber übersehen, dass den deutschen Flüchtlingen faktisch jeder erreichbare Winkel der Erde als Exil diente. Kaum ein Exilant, der sich nur in einem einzi- gen Land aufhielt. Der Komponist Hanns Eisler, der nach dem Krieg die Nationalhymne der DDR komponierte, lebte in den 15 Jahren seines Exils in Österreich, Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Mexiko und den USA. Natürlich gab es bevorzugte unter den Exilländern: die Schweiz, Österreich bis zum Anschluss 1938 und Frankreich bis zum deutschen Einmarsch 1940 fungierten alleine wegen der Sprache und der geografischen Nähe als erste Anlaufstellen,14 bis zum Erlass eigener Rassegesetze im Jahr 1938 stand auch Italien Flüchtlingen offen.

21 Deutschland und seine Exilanten nach 

Erich Maria Remarque während seines Exils in den USA auf dem Titelbild der „Saturday Review of Literature“ anlässlich des Erscheinens seines Romans „Arc de Triomphe“ (1946).

22 Deutschland und seine Exilanten nach 

Die verfolgten Kommunisten emigrierten bevorzugt in die Sow- jetunion, in das britische Mandatsgebiet Palästina flüchteten nur jü- dische Flüchtlinge. Es gab auch berufsspezifische Fluchtländer, denn die Filmregisseure – Robert Siodmak, Detlev Sierck, Fritz Lang, Sa- muel genannt Billie Wilder und andere – versuchten in erster Linie, in ein Land mit einer florierenden Filmindustrie zu gelangen, also in die USA, genauer nach Hollywood. Nach Kriegsbeginn konnten sich die Exilanten, vor allem die nach Frankreich Geflüchteten, kein Exilland mehr aussuchen, sondern mussten froh sein, ein Visum, von wo auch immer, zu erlangen. Als Ergebnis waren deutschspra- chige Flüchtlinge über den gesamten Erdball verstreut. Die Exilfüh- rung der SPD amtierte zuerst in Prag, dann in Paris, schließlich in London. Der Parteivorsitzende Otto Wels, der am 23. März 1933 mit einer mutigen Rede im Reichstag die Ablehnung des so genann- ten „Ermächtigungsgesetzes“ begründet hatte, starb 1939 in Paris; Philipp Scheidemann, der am 9. November 1918 die Republik aus- gerufen hatte, ebenfalls 1939 in Kopenhagen.15 Der bisher einzige sozialdemokratische Ministerpräsident Bayerns nach dem Krieg, , überlebte in der Schweiz, der spätere Parteivor- sitzende in London, in Norwegen und Schweden, in der Sowjetunion und in Schwe- den, der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, in der Türkei. Der Berliner Prominentenarzt Hermann Zondek verließ Deutsch- land bereits am 11. März 1933 und wanderte über die Zwischensta- tionen Zürich und Manchester nach Palästina aus, wo er später in Israel bis zu seinem Tod 1979 zu den angesehensten Ärzten zählte.16 Sein international renommierter Berliner Kollege, der Chirurg Moritz Borchardt, der 1922 Lenin in Moskau operiert hatte und den ehemaligen Reichskanzler Hermann Müller 1931 nicht retten konn-

23 Deutschland und seine Exilanten nach  te, rang sich erst 1939 zur Emigration nach Argentinien durch. 1948 starb er just an seinem 80. Geburtstag in Buenos Aires.17 Der Frank- furter Dermatologe Oscar Gans widmete sich ab 1934 im indischen Bombay der Lepraforschung. In die als Opiumhöhle verrufene chi- nesische Hafenstadt Schanghai verirrten sich hingegen nur wenige Prominente, aber ca. 15.000 europäische Flüchtlinge überstanden dort den Zweiten Weltkrieg.18 Die Jahrhundertschauspielerin Tilla Durieux, die mit ihrem jüdi- schen Ehemann Lutz Katzenellenbogen aus Deutschland geflüchtet war, aber ihn damit letztlich nicht retten konnte, überlebte während des Zweiten Weltkrieges in Jugoslawien.19 Anna Seghers gelangte über Martinique nach Mexiko, wo sie ihren bedeutendsten Roman, „Das siebte Kreuz“, über die Märtyrer in den deutschen Konzentra- tionslagern 1942 auf Deutsch veröffentlichte; Hildegard Palm, die Ehefrau des Kunsthistorikers Erwin Walter Palm, flüchtete über Ita- lien, Großbritannien und die USA in die Dominikanische Republik, wo sie die ersten Gedichte zu schreiben begann und sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1954 aus Dankbarkeit gegenüber dem mehr als 13-jährigen Exil in der Karibik den Künstlernamen Hilde Domin zulegte.20 Und tatsächlich auf den am weitesten von Deutschland ent- fernten Punkt der Erde, nach Neuseeland, „auf des Erdballs letztes

17 Vgl. hierzu Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2,1, S. 133. 18 Vgl. Georg Armbrüster (Hrsg.), Exil Shanghai 1938–1947, Jüdisches Leben in der Emi- gration, Teetz 2000. 19 Vgl. Tilla Durieux, Eine Tür steht offen. Erinnerungen, Berlin 1971, besonders S. 262– 305. Diese Passagen über das Exil sind unverändert eingeflossen in die erweiterte Auto- biographie von Tilla Durieux, Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen, München/ Berlin 51979. 20 Vgl. Ilka Scheidgen, Hilde Domin. Dichterin des Dennoch, Lahr 22006; Marion Tausch- witz, „Dass ich sein kann, wie ich bin“. Hilde Domin. Die Biografie, Heidelberg 2009.

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Inselriff“, wie er es selbst genannt hat, verschlug es 1938 den Lyriker und Anhänger von Stefan George, Karl Wolfskehl.21 Bereits im ita- lienischen Exil 1934 hatte Karl Wolfskehl sein Bekenntnis zur ver- lorenen Heimat in dem großen Lebenslied „An die Deutschen“ nie- dergelegt und in den berühmten Vers ausklingen lassen: „Wo ich bin, ist deutscher Geist!“ Wenn man dieses Zitat heute eher mit in Verbindung bringt, dann deshalb, weil Thomas Mann es bei seiner Ankunft im Exil in den USA 1938 medienwirksam verwende- te, „entwendete“ wäre vermutlich zutreffender formuliert.

6. Der Fokus auf den Schriftstellern

Unter den prominenten Flüchtlingen vor der NS-Diktatur nehmen die Schriftsteller einen Sonderstatus ein. Sie stehen fast immer im Mittelpunkt des Interesses und dominieren in der Wahrnehmung über alle anderen Berufsgruppen, selbst über die berühmten Schau- spieler. Dies hat mehrere Ursachen: Das unabhängige Wort, der kri- tische Geist wurde und wird seit jeher von autoritären Herrschern als gefährlich eingestuft. Unter den prominenten Exilierten waren und sind deshalb immer und in vorderster Front Schriftsteller und Journalisten anzutreffen: Von dem römischen Dichter um die Zei- tenwende Ovid, der in der Verbannung am Schwarzen Meer starb, über den italienischen Nationaldichter Dante Alighieri, der 1302 in Florenz zum Tod durch Verbrennen verurteilt worden war und sich dieser Strafe, wen wundert es, durch die Flucht entzogen hatte, bis zu Alexander Solschenizyn und Salman Rushdie. Auch der wohl be-

21 Vgl. Friedrich Voit, Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005.

25 Deutschland und seine Exilanten nach  rühmteste deutsche Emigrant aller Zeiten war ein Dichter: Heinrich Heine. Mit Heinrich Heine hängt auch der zweite Grund zusammen, warum der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung auf den exilierten Schriftstellern liegt. Keiner anderen Berufsgruppe gegenüber wurde die tödliche Bedrohung durch das NS-Regime so deutlich vor Augen geführt wie den Dichtern und Autoren durch die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Da sich das prophetische Wort von Heine aus seiner Tragödie „Almansor“ (1823) – „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ – im 20. Jahrhundert, in Deutschland innerhalb weniger Jahre erfüllen sollte, steht die Bücherverbrennung symbolisch für den von Anfang an erkennbaren, todbringenden Charakter der Hitler-Diktatur.22 Und drittens haben die Schriftsteller in Memoiren und Romanen, in Erzählungen und Gedichten ihre Erfahrungen im Exil vielfach be- schrieben und reflektiert. Autobiographische Quellen von Vertretern anderer, zumal nicht-akademischer Berufssparten sind leider sehr viel spärlicher gesät. Aus diesem letzten Grund, dass die Schriftsteller nicht nur Zeugen des Exils waren, sondern hiervon auch in vielfältiger Form Zeugnis ablegten, werden sie in diesem Beitrag überproportio- nal erwähnt.

7. Das Exil als Zeit des Leidens

In der historischen Wahrnehmung hat sich eine sehr spezifische Sichtweise auf das Exil durchgesetzt, die ebenfalls eng mit den

22 Vgl. zu den Biografien der verbrannten Schriftsteller: Jürgen Serke, Die verbrannten Dichter. Berichte, Texte, Bilder einer Zeit, Weinheim 1978, Neuauflage 2003; Volker Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher, Köln 42008.

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Schriftstellern zusammenhängt, da sich diese Berufsgruppe durch ihre Verbundenheit mit dem deutschen Wort am wenigsten in den Exilländern integrieren konnte: das Exil als Zeit des Leidens. Er- schütternde Zeugnisse hierfür stellen gerade die Selbstmorde promi- nenter Dichter und Denker im Exil dar: Kurt Tucholsky, Ernst Weiß, Walter Hasenclever, Walter Benjamin, Ernst Toller oder . Solche Akte individueller Verzweiflung sind nicht zu kritisie- ren. Aber bereits viele Zeitgenossen konnten den Freitod von Stefan Zweig im Februar 1942 nur schwer nachvollziehen, denn er lebte in Petropolis in Brasilien in Sicherheit und in materiellem Wohlstand. Lässt sich die von Stefan Zweig als ausweglos empfundene Lebens- situation wirklich mit derjenigen von beispielsweise Joachim Gott- schalk vergleichen, dem erst am Beginn einer großen Karriere ste- henden UFA-Schauspieler, der sich ein Vierteljahr vor Stefan Zweig zusammen mit seiner Frau Meta und dem erst 8-jährigen Sohn Mi- chael in Berlin das Leben genommen hatte, weil er gegenüber dem Druck des NS-Regimes, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, keinen anderen Ausweg wusste?23 Bei einem Zeitzeugengespräch im Goethe-Institut in Paris äußer- ten sich am 15. Dezember 1989 sieben weniger prominente Teilneh- mer zu ihren Erfahrungen während der Emigration. Dabei urteil- te der Frankfurter Kommunist jüdischer Herkunft Peter Gingold, seit 1933 im Exil in Frankreich und später in der Résistance aktiv, rückblickend: „Emigration, das war fürchterliches Elend“. Und bei gleicher Gelegenheit erinnerte sich der Kunsthistoriker und Sozial- demokrat Klaus Berger, seit 1933 in Frankreich, seit 1941 in den USA: „Die Realität war, jedenfalls für Leute wie mich, doch so, dass

23 Vgl. Ulrich Liebe, Verehrt, Verfolgt, Vergessen. Schauspieler als Naziopfer, Weinheim/ Basel 2005, S. 62–95 (Joachim Gottschalk). Das Schicksal von Joachim Gottschalk und seiner Familie war Vorlage für den DEFA-Film „Ehe im Schatten“ (1947), der mit über 12 Millionen Zuschauern der erfolgreichste Film der Nachkriegszeit war.

27 Deutschland und seine Exilanten nach 

Porträtpostkarte mit Originalunterschrift von Joachim Gottschalk.

28 Deutschland und seine Exilanten nach  das Exil die elendste Zeit meines Lebens war. Ich weiß noch, wie schwer es war, besonders die ersten Jahre, die nächste Hotelrech- nung zu zahlen. Ich habe es nie zu einer eigenen Wohnung gebracht, immer nur in kleinen Hotelzimmern gelebt. Gute und schlechte Zei- ten wechselten sich ab.“24 Gewiss eine Zeit des Leidens war das Exil etwa für den Startenor Joseph Schmidt, der im September 1942 il- legal aus Frankreich in die Schweiz geflüchtet war und nun in dem Land, in dem er noch wenige Jahre zuvor gefeierte Konzerte gegeben hatte, in dem seine Schallplatten noch täglich im Rundfunk gespielt wurden, nun in ein Internierungslager gesperrt wurde. Zwei Mo- nate später starb Joseph Schmidt im Alter von erst 38 Jahren, weil ihm eine angemessene medizinische Versorgung verweigert worden war.25 Peter Gingold hingegen ist 2006 in Frankfurt am Main im Alter von 90 Jahren verstorben, Klaus Berger im Jahr 2000 in Paris im Alter von 98 Jahren. Es geht bei diesem sehr heiklen und leicht misszuverstehenden Punkt nicht darum, die existenziellen Nöte vieler Exilanten zu ver- harmlosen und etwa in den Chor derjenigen nach 1933 in Deutsch- land Verbliebenen einzufallen, die dem Exil ein luxuriöses Leben unter der Sonne Südfrankreichs vorgeworfen hatten. Ganz im Gegenteil. Aber mindestens genauso als Fehlurteil abzulehnen ist die Selbsteinschätzung des über Frankreich in die USA geflüchte- ten Philosophen Ludwig Marcuse in seinen unter dem Titel „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ erschienenen Lebenserinnerungen über

24 Zitiert in: Hélène Roussel und Lutz Winckler, „Die Historiker müssen das alles jetzt ausgraben“. Gespräch mit Klaus Berger, Ruth Fabian, Peter Gingold, Helmut Hirsch, Julia Marcus, Amalie und Theo Pinkus, in: Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945. Essays zu Ehren von Ernst Loewy, hrsg. von Thomas Koebner und Erwin Rotermund, Marburg 1990, S. 139–150, Zitate S. 139 und 141. 25 Vgl. zu Joseph Schmidt: Alfred A. Fassbind, Joseph Schmidt. Ein Lied geht um die Welt – Spuren einer Legende. Eine Biographie, Zürich 1992.

29 Deutschland und seine Exilanten nach  das Exil: „Auch wir saßen in einem Konzentrationslager; wir konn- ten nicht mehr frei denken, wir waren fixiert“.26 Die Realität in den deutschen Konzentrationslagern war eine andere. Für den anarcho- sozialistischen Lyriker und Essayisten Erich Mühsam, der nicht mehr davon berichten konnte, weil er bereits im Juli 1934 im Kon- zentrationslager Oranienburg ermordet worden war. Oder für den national-konservativen Schriftsteller Ernst Wiechert, der sich in den Augen des NS-Regimes unter anderem durch seine mutige Rede vor Münchner Studenten 1935 „Der Dichter und die Zeit“ und seinen Protest gegen die Inhaftierung des evangelischen Pfarrers Martin Niemöller verdächtig gemacht hatte.27 Am 6. Mai 1938 wurde Ernst Wiechert verhaftet, zunächst ins Gestapogefängnis in München ver- bracht und dann im Juli/August im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Propagandaminister Joseph Goebbels notierte am 4. Au- gust 1938 in sein „Tagebuch“: „Vernehmungsprotokoll von dem so- gen.[annten] Dichter Wiechert gelesen. So ein Stück Dreck will sich gegen den Staat erheben. 3 Monate Konzentrationslager. Dann wer- de ich ihn mir persönlich kaufen.“28 Die angekündigte Begegnung

26 Ludwig Marcuse, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiografie, Zürich [1988], S. 208. 27 In seiner Rede im Auditorium Maximum der Universität München am 16. April 1935 hatte Ernst Wiechert jedem, der hören wollte, mitgeteilt, dass Deutschland dem Unter- gang geweiht sei: „Ja, es kann wohl sein, dass ein Volk aufhört, Recht und Unrecht zu unterscheiden und dass jeder Kampf im ,Recht‘ ist, aber dieses Volk steht schon auf einer jäh sich neigenden Ebene, und das Gesetz seines Unterganges ist ihm schon ge- schrieben. Es kann auch sein, dass ein Volk aufhört, gut und böse zu unterscheiden. Es kann dann sein, dass es noch Gladiatorenruhm gewinnt und in Kämpfen ein Ethos aufrichtet, das wir ein Boxerethos nennen wollen. Aber die Waage ist schon aufgehoben über diesem Volke und an jener Wand wird die Hand erscheinen, die Buchstaben mit Feuer schreibt.“ Und da Ernst Wiechert um die politische Brisanz dieser und anderer Stellen seiner Rede wusste, fügte er noch hinzu: „Ich weiß nicht, ob ich in zwei Jahren zu Ihnen wieder werde sprechen dürfen.“ Ernst Wiechert, Der Dichter und die Zeit, Zürich 1945, S. 26 – 28. 28 Joseph Goebbels, Tagebücher, Band 3: 1935–1939, hrsg. von Ralf Georg Reuth, Mün- chen/Zürich 1992, S. 1247f.

30 Deutschland und seine Exilanten nach 

Porträt von Ernst Wiechert. Der aus Ostpreußen stammende Schriftsteller ging 1948 in ein verspätetes Exil in die Schweiz, wo er 1950 im Alter von 63 Jahren an einem Krebsleiden starb.

31 Deutschland und seine Exilanten nach  fand dann am 29. August 1938 statt. „Ich lasse mir den Schriftsteller Wiechert aus dem K. Z. vorführen und halte ihm eine Philippika, die sich gewaschen hat. Ich dulde auf dem von mir betreuten Gebiet keine Bekenntnisfront. Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. Der Delinquent ist am Schluss ganz klein und erklärt, seine Haft habe ihn zum Nachdenken und zur Erkenntnis gebracht. Das ist sehr gut so. Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernich- tung. Das wissen wir nun beide.“29 Nach dem Ende seiner Haftzeit, die ihn fast umgebracht hätte, schrieb Ernst Wiechert unter Lebens- gefahr eine bedrückend-eindrückliche Schilderung seiner Erlebnisse in Buchenwald nieder, vergrub das Manuskript im Garten und ver- öffentlichte es nach Kriegsende unter dem Titel „Der Totenwald“.30

29 Ebenda, S. 1262. 30 Es hat wohl selten einen dümmeren, die Grenzen der Verleumdung überschreitenden Lexikoneintrag gegeben wie denjenigen über Ernst Wiechert von Ernst Klee, Kultur- lexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2009, S. 597. Klee stützt sich auf eine negative Äußerung Thomas Manns über Wiechert. Vgl. hingegen das Urteil von Carl Zuckmayer (Geheimreport, hrsg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön, Göttingen 32002) aus dem Exil über Wiechert: „Einer der besten und tapfersten von allen in Deutschland verbliebenen Schriftstellern. […]Grosser überzeu- gungsstarker Charakter. Wiechert wird einer der berufensten Sprecher und Vertreter des anständigen und wertvollen Deutschen sein, und, falls er das Hitlerende überlebt, vor allen Dingen von der Jugend in Deutschland gehört werden.“ (S. 23).

32 Deutschland und seine Exilanten nach 

Gewiss lebte die Lyrikerin Else Lasker-Schüler im Exil in der Schweiz und vor allem in Palästina ab 1939 unter sehr eingeschränk- ten materiellen Bedingungen (wie übrigens bereits während der 1920er Jahre), aber die Kinderbuchautorin Else Ury, deren „Nest- häkchen“-Romane wohl jedes Mädchen der 1920er und 1930er Jahre kannte, war aus Rücksicht auf ihre hochbetagte und pflegebedürfti- ge Mutter nicht emigriert und deshalb auch 1938 von einem Besuch bei ihrem Neffen in London nach Berlin zurückgekehrt.31 Als Fran- ziska Ury schließlich im April 1940 mit 93 Jahren starb, war eine Flucht für ihre Tochter nicht mehr möglich. Zwei Jahre und neun Monate später wurde die mittlerweile 65-jährige Else Ury deportiert und unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau am 13. Januar 1943 ermordet. Hilde Domin hat das Exil als „die Extrem- erfahrung der conditio humana“ definiert.32 Die Extremerfahrung des Menschseins hat Else Ury durchlitten, nicht Else Lasker-Schüler. Was unabdingbar Not tut, ist Differenzierung. Das Exil stellte für viele, nicht für alle, eine extrem schwierige Lebensphase dar, es bot zwar keine Garantie auf Leben, aber es war, und gerade dieser As- pekt sollte nicht vergessen werden, für viele die einzige Alternative zum sicheren Tod.

33 Deutschland und seine Exilanten nach 

Titelbild des dritten Bandes „Nesthäkchen im Kinderheim“ aus der zehnbändigen Nest- häkchen-Reihe von Else Ury, hier in einer Ausgabe von 1925.

34 Deutschland und seine Exilanten nach 

8. Die künstlerisch/moralische Bewertung des Exils

Und Differenzierung tut auch Not bei der künstlerisch/moralischen Bewertung des Exils. Hier ist vielfach die Sichtweise anzutreffen, dass die Elite ins Exil gegangen sei, während nur zweit- oder dritt- klassige und noch dazu moralisch fragwürdige Gestalten in Deutsch- land geblieben seien. Keiner anderen Berufsgruppe gegenüber wurde dieser Vorwurf so laut erhoben wie gegenüber den Schriftstellern. Angeheizt wurde diese Debatte bereits im August 1945 durch einen berühmt gewordenen Wechsel Offener Briefe.33 Der nationalkon- servative Autor Walter von Molo, Verfasser historischer Romane und Biografien, hatte Thomas Mann am 13. August 1945 zur Rück- kehr nach Deutschland aufgefordert. Nur fünf Tage später hatte der Schriftsteller Frank Thieß in einem Artikel mit dem Titel „Die In- nere Emigration“ einen neuen Begriff in die Debatte geworfen und das Vorhandensein von zwei „Emigrantenlagern“ reklamiert, deren Vorrang den in Deutschland Verbliebenen gebühre, die nicht „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragö- die“ zugeschaut, sondern sie hautnah durchlebt hätten. Daneben polemisierte Thieß auch gegen Thomas Mann persönlich, indem er dessen Radiobotschaften „Deutsche Hörer!“ als überflüssig charak- terisierte: „Ich glaube, es war schwerer, sich hier eine Persönlich- keit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden, welche die Tauben im Volke ohnedies nicht vernahmen, während wir Wissenden uns ihnen stets um einige Längen voraus fühlten.“34

35 Deutschland und seine Exilanten nach 

Im Oktober 1945 hatte Thomas Mann dann Walter von Molos Auf- ruf unter dem unmissverständlichen Titel „Warum ich nicht zurück- kehre!“ zurückgewiesen. In diesem Offenen Brief verstieg sich Tho- mas Mann zu dem Satz: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.“35 Gerade dieser Satz löste wütende Gegenpolemiken aus, etwa des früheren Reichskunstwarts der Weimarer Republik Edwin Redslob, der im „Berliner Tagesspie- gel“ nach der Nennung einiger aus seiner Sicht untadeliger Literaten Thomas Mann die deutsche Staatsbürgerschaft ein zweites Mal ent- zog: „[…] all dieses lebendige Wirken, durch das Deutschland wei- terlebte und sich ein Recht auf die Zukunft erwarb, wird nun vom Schreibtisch eines einst deutschen Schriftstellers, auf den die warme Sonne Kaliforniens scheint, als befleckt erklärt!“36 Neben dieser maßlosen Kritik Redslobs (und manch anderer) lös- te Thomas Manns Äußerung aber auch eine Bibliografie der Würt- tembergischen Bibliotheksgesellschaft aus: „ein Überblick über das, was bei uns in der Zeit von 1933 bis 1945 an gültiger Literatur, ge- schaffen aus unbestechlicher Geisteshaltung, erschienen ist“.37 Einmal abgesehen davon, dass das Einstampfen von Büchern ge- nauso eine Form der Vernichtung darstellt wie das Verbrennen von Büchern und selbst Thomas Manns eigene Bücher noch einige Jahre nach 1933 in Deutschland erscheinen konnten, so steht außer Zwei- fel, dass zahlreiche in Deutschland verbliebene bedeutende Autoren wie Ricarda Huch oder Marieluise Fleißer, Hans Fallada oder Erich Kästner keine Anhänger, sondern Gegner des NS-Regimes waren. Und selbstverständlich bleibt Gerhart Hauptmann einer der bedeu- tendsten deutschen Dramatiker – trotz seines Liebäugelns mit dem

36 Deutschland und seine Exilanten nach 

Nationalsozialismus.38 Zwei Beispiele für während der NS-Zeit erschienene Bücher, die es unter gar keinen Umständen verdient hätten eingestampft zu werden, sollen kurz erwähnt werden. Der uckermärkische Journa- list und als Verfasser sozialkritischer Dramen bekannt gewordene Schriftsteller Ehm Welk hatte am 29. April 1934 in der Sonntags- zeitung „Die Grüne Post“ aus dem Hause Ullstein unter dem Titel „Herr Reichsminister, ein Wort, bitte!“ einen Offenen Brief an Joseph Goebbels gerichtet und darin die auf Konformität gerichtete Presse- politik des NS-Regimes kritisiert.39 Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Ehm Welk wurde am 5. Mai 1934 in das Konzentra- tionslager Sachsenhausen eingeliefert, die „Die Grüne Post“ für drei Monate verboten. Überraschenderweise wurde Welk bereits nach wenigen Tagen wieder entlassen, allerdings mit der Auflage, mehr als das, mit der Drohung, sich nicht mehr politisch zu äußern. 1937 erschien Ehm Welks berühmtestes Buch „Die Heiden von Kumme- row“, das durch seine populäre Verfilmung im Jahr 1967, eine seltene Kooperation beider deutscher Staaten, noch bekannter geworden ist. Der Roman lag mit 730.000 verkauften Exemplaren auf dem drit- ten Platz der zwischen 1933 und 1945 gedruckten belletristischen Werke nach dem Roman „Anilin“ von Karl Aloys Schenzinger, der die Entdeckung des gleichnamigen Farbstoffs durch den Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge schildert, und dem ganz den national- sozialistischen Literaturvorstellungen entsprechenden Buch „Barb. Der Roman einer deutschen Frau“ der fränkischen Autorin Kuni

38 Vgl. zu den zwischen 1933 und 1945 in Deutschland publizierenden Autoren: Hans Sarkowicz/Alf Mentzer, Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon, Hamburg/Wien 2000. 39 Vgl. Konrad Reich, Ehm Welk. Der Heide von Kummerow. Die Zeit, das Leben, Ros- tock 2008, wo auf den S. 185–187 der Offene Brief an Goebbels abgedruckt ist.

37 Deutschland und seine Exilanten nach 

Aufnahme des Journalisten und Schriftstellers Ehm Welk bei seiner Einlieferung in das KZ Oranienburg am 5. Mai 1934.

38 Deutschland und seine Exilanten nach 

„Die Heiden von Kummerow“, Titelbild der Originalausgabe von Ehm Welks Roman aus dem Jahr 1937.

39 Deutschland und seine Exilanten nach 

Tremel-Eggert.40 Die „Heiden“ spielen zur Zeit des Wilhelminis- mus, können aber ebenso gut als Gegenentwurf zur aktuellen Lage der 1930er Jahre gelesen werden, etwa wenn Kantor Kannegießer seine Schüler ermahnt: „Ich sage euch, der Geist wird doch siegen, ganz gewiss immer dann, wenn sich ihm ein ehrliches Herz zuge- sellt. Und ganz bestimmt dann, wenn dazu auch noch Mut kommt. Nicht bloß der Mut, der dreinschlägt, sondern auch der Mut zum Be- kennen. […] Der Mensch, der nach dem Großen strebt, kennt über- haupt nicht Feind und Freund. Wie er auch nicht nach Armen und Reichen unterscheidet. Er kennt bloß schlechte und gute Menschen, aber die soll er nicht danach richten, wie sie zu ihm sind, sondern ob sie anderen Gutes oder Böses tun.“41 Soweit das in schlichte Worte gefasste humanistische Programm des Dorfschullehrers in Kumme- row. Als der Kuhhirte Krischan, der in der sozialen Hierarchie des Dorfes ganz unten angesiedelt ist, wegen fehlender Papiere in die Mühlen der Justiz gerät, nimmt der Erzähler eindeutig Stellung und spricht von der „furchtbaren Maschine“ der irdischen Gerechtigkeit. Die Dorfbewohner, die Krischan nicht beistehen, begehen eine der größtmöglichen Sünden, „die da ist die Verleugnung des lebendigen Herzens vor der toten Gewalt.“ 42 Fast alle Honoratioren des Dorfes Kummerow – der Schulze, der Pastor, der Polizist – sind Figuren von fragwürdiger Autorität. Die Hoffnung liegt auf der Jugend in Gestalt des Bauernsohnes Martin Grambauer und seiner von seinem Vater vorgelebten Menschlichkeit und Solidarität, auch mit den Außen- seitern der Gesellschaft. Die Einwohner von Kummerow glauben traditionell nicht an die Vorgaben von oben, sie sind – wie schon der Titel sagt – Heiden.

40 Vgl. Christian Adam, Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin 2010, S. 168ff., 87ff. und 271ff. 41 Ehm Welk, Die Heiden von Kummerow, Berlin 1937, S. 195f. 42 Ebenda, S. 290.

40 Deutschland und seine Exilanten nach 

Ein zweites vor dem Einstampfen unbedingt zu bewahrendes Buch ist der 1935 erschienene Roman „Der Großtyrann und das Ge- richt“ des baltendeutschen Autors Werner Bergengrün, dessen erster Satz lautet: „Es ist in diesem Buche zu berichten von den Versuchun- gen der Mächtigen und von der Leichtverführbarkeit der Unmäch- tigen und Bedrohten.“ Angesiedelt in der fiktiven mittelalterlichen Stadtherrschaft Cassano in Norditalien, schildert der Roman einen Mordfall, dessen Aufklärung der Großtyrann ultimativ einfordert. Bei der Suche nach dem Schuldigen werden sämtliche Wertmaßstä- be außer Kraft gesetzt, Zeugen werden bestochen, Falschaussagen erkauft, eine junge Selbstmörderin, ein sterbenskranker Edelmann derjenigen Tat bezichtigt, die in Wirklichkeit der Großtyrann selbst verübt hat. Man kann die Romanhandlung als Parabel auf die „Nacht der langen Messer“, die Beseitigung von Regimegegnern während des so genannten „Röhm-Putsches“ im Jahr 1934, lesen, zumal sich der Großtyrann zu seiner über- und außerhalb des Gesetzes stehen- den Gottgleichheit bekennt, die vom Erzähler als „fast wahnwitzig erscheinende Selbstüberhebung“ gekennzeichnet wird.43 Trotz dieser unübersehbaren Anspielungen konnte der Roman erscheinen, zwei Jahre später wurde Werner Bergengrün dann aber aus der Reichs- schrifttumskammer ausgeschlossen.44 Es gilt also, sich vor Pauschalurteilen zu hüten, das Exil, die in- nere Emigration gab es nicht, sondern individuelle Einzelschicksale mit Gemeinsamkeiten, aber auch mit gravierenden Unterschieden. Nicht alle exilierten Dichter sind heute zu Unrecht vergessen, wenn man die literarische Qualität zum Maßstab nimmt, und selbst, wenn man die persönliche Integrität als Messlatte anlegt, versagten sogar

43 Ebenda, S. 237. 44 Vgl. Werner Bergengrün, Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940 bis 1963, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger und Sylvia Taschka, München 2005.

41 Deutschland und seine Exilanten nach 

Porträt von Werner Bergengrün aus dem Jahr 1954.

42 Deutschland und seine Exilanten nach  einige der 1933 verbrannten Dichter, wie Volker Weidermann in sei- ner Kollektivbiografie „Das Buch der verbrannten Bücher“ gezeigt hat, Dichter, die sich dem NS-Regime andienten und später ungehin- dert publizieren konnten.45

9. Die Rückkehr aus dem Exil

Wenn wir von Rückkehr aus dem Exil sprechen, dann müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass nur eine winzige Minderheit der Exilierten nach 1945 nach Deutschland und Österreich zurückkehr- te bzw. sich hier dauerhaft niederließ.46 Vor allem den Heimkehrern der ersten Stunde bot sich das Bild eines amputierten, in Besatzungs- zonen zerstückelten und zerstörten Landes, das mit demjenigen der Weimarer Republik nur noch wenig gemeinsam hatte. Alfred Döblin, der Autor von „Berlin Alexanderplatz“, kam in französischer Uni- form bereits im November 1945 nach Baden-Baden zurück. In seiner Reisebeschreibung „Schicksalsreise“ lesen sich seine Eindrücke stel- lenweise wie diejenigen eines Entdeckungsreisenden, der zum ers- ten Mal seinen Fuß auf ein bislang unerforschtes Territorium setzt.47 1953 verließ Döblin, angewidert von den restaurativen Tendenzen, Deutschland zum zweiten Mal und ließ sich in Paris nieder. Nicht willkommene Remigranten waren auch die beiden Zent-

45 Vgl. Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher [wie Anm. 22] mit den Beispielen Ernst Glaeser (S. 57–60), Erich Ebermayer (S. 159–163), Max Barthel (S. 217–219) oder Hanns Heinz Ewers (S. 219–224). 46 Genaue Zahlen der Emigranten wie der Remigranten gibt es bis heute nicht. Bereits 1978 schätzte Alfred Kantorowicz, Politik und Literatur im Exil. Deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus, Hamburg 1978, die Zahl der geflüchteten „Dichter, Schriftsteller und Publizisten deutscher Sprache“ auf „weit über zweitausend“ (S. 19). 47 Alfred Döblin, Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Solothurn/Düsseldorf 1993.

43 Deutschland und seine Exilanten nach 

Alfred Döblin am 9. Februar 1948 vor dem Marmorhaus in Berlin, wo er an einer Dis- kussionsveranstaltung zum Thema „Der Mensch und die Gesellschaft in der Kunst“ teil- genommen hatte.

44 Deutschland und seine Exilanten nach  rumskanzler der Weimarer Republik, Joseph Wirth und Heinrich Brüning, deren Mitarbeit in der neugegründeten CDU unerwünscht war. Während Joseph Wirths Rückkehr aus seinem Exil in Luzern in seine Vaterstadt Freiburg im Breisgau von den französischen Besat- zungsbehörden bis 1948 hinausgezögert wurde und ihm die Auszah- lung seiner Reichskanzler- und Ministerpension, die ihm die NS-Be- hörden entzogen hatten, auch von der Bundesrepublik Deutschland bis zu seinem Tod 1956 verweigert wurde, ging Heinrich Brüning, der sich im Adenauer-Deutschland isoliert und missverstanden fühl- te, 1955 zurück in sein Exilland, die USA, wo er 1970 als letzter noch lebender Reichskanzler der Weimarer Republik in Norwich/Ver- mont verstarb.48 Sollten auf Seiten der CDU mit Wirth und Brüning zwei populäre Altreichskanzler als potenzielle Konkurrenten um politische Ämter neutralisiert werden, so lag die Motivlage für die Ausschaltung der Emigranten innerhalb der SPD anders. Der cha- rismatische Wiedergründungsvorsitzende drängte die noch lebenden Führungspersönlichkeiten der Weimarer SPD ins Abseits, weil er sie der Mitschuld am Untergang der ersten deutschen Demokratie bezichtigte. Der hochrangigste Exilant, der unter dieser Isolierung zu leiden hatte, war der frühere preußische Ministerpräsi- dent Otto Braun, der aus seinem Schweizer Exil nicht nach Deutsch- land zurückkehrte und bis zu seinem Tod 1955 im Tessin lebte.49 Viele der wenigen Europa-Heimkehrer unter den auf mehr als 2000 geschätzten emigrierten deutschsprachigen Schriftstellern wie Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Hermann Kesten oder Erich Maria

48 Vgl. Ulrike Hörster-Philipps, Joseph Wirth 1879–1956. Eine politische Biografie, Pa- derborn 1998; Herbert Hömig, Brüning. Politiker ohne Auftrag, Paderborn u. a. 2005, Peer Oliver Volkmann, Heinrich Brüning (1885–1970). Nationalist ohne Heimat. Eine Teilbiografie, Düsseldorf 2007. 49 Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main u. a. 1977, besonders S. 836–849.

45 Deutschland und seine Exilanten nach 

Altreichskanzler Joseph Wirth während seines Schweizer Exils auf dem Balkon seiner Wohnung in Luzern.

46 Deutschland und seine Exilanten nach 

Ein Bild mit Symbolcharakter für viele heimgekehrte Exilanten: Der ehemalige Reichs- kanzler Heinrich Brüning sitzt vor einer Reise in die USA auf gepackten Koffern.

47 Deutschland und seine Exilanten nach 

Remarque mieden Deutschland und bevorzugten statt dessen die Schweiz, die von den drei großen deutschsprachigen Ländern am wenigsten vom Nationalsozialismus infiziert und von den Kriegs- folgen am wenigsten berührt worden war.50 Erich Kästner charakte- risierte die Schweiz in diesem Zusammenhang ironisch-treffend als „Kulturschutzpark Europas“.51 Und nicht wenige der wenigen Heim- kehrer kamen, wenn überhaupt, nur zum Sterben nach Deutschland zurück, etwa der in den USA bereits schwer erkrankte Komponist Paul Abraham, Schöpfer der Operetten „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“, dessen Übersiedlung 1956 nach Hamburg durch Spendensammlungen finanziert worden war. Die in die Bundesrepublik Deutschland remigrierten Literaten gerieten innerhalb ihrer Zunft in eine doppelte Isolation. Es herrsch- te nicht nur eine fast unüberwindbare Sprachlosigkeit zwischen den Altersgenossen der äußeren und der inneren Emigration, sondern die nachgewachsene Autorengeneration, die sich in der „Gruppe 47“ zusammenfand, hatte nur wenig Verständnis für die Literatur und den Lebenshintergrund der Älteren. Besonders unter den Remigran- ten gab es viele Schriftsteller, die große Probleme damit hatten, Ver- lage zu finden, die ihre neuen Bücher druckten oder die alten bzw. in der Emigration bei Exilverlagen publizierten neu auflegten. Irmgard Keun, die 1940 mit falschen Papieren illegal in das Deutsche Reich zurückgekehrt war, konnte nach 1945 nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Sie wurde alkoholkrank und lebte von 1966 bis

50 Hermann Kesten gab 1964 einen Sammelband heraus, in dem neben ihm 34 weitere Autoren die Gründe für ihre Nichtrückkehr schilderten: Ich lebe nicht in der Bundes- republik, München 1964. Vgl. Peter Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985. 51 Zitiert in: Sven Hanuschek, Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Käst- ners, München/Wien 1999, S. 346.

48 Deutschland und seine Exilanten nach 

Zwei Preußen in Hamburg: Otto Braun und sein ehemaliger Innenminister Carl Severing als Gäste auf dem SPD-Bundesparteitag 1950.

49 Deutschland und seine Exilanten nach 

1972 in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses in Bonn. Erst Ende der 1970er Jahre wurde Irmgard Keun wieder ent- deckt und fand in den drei Jahren bis zu ihrem Tod 1982 eine wenn auch sehr späte Anerkennung. So gab es insgesamt nicht sehr viele geglückte Remigrationen: zum Beispiel Hilde Domin, die in ihrer alten Universitätsstadt Hei- delberg zur Grande Dame der deutschen Nachkriegslyrik aufstieg und die der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer 1971 mit dem programmatischen Beinamen „Dichterin der Rückkehr“ be- zeichnet hatte;52 oder der erwähnte Dermatologe Oscar Gans, der Bombay zugunsten der Universitätshautklinik in Frankfurt am Main verließ und dort 1950/51 als Dekan der medizinischen Fakultät und 1953/54 als Rektor der Universität fungierte;53 oder Bertolt Brecht, dem in Ost-Berlin mit dem Berliner Ensemble und dem Theater am Schiffbauerdamm für einen Dramatiker geradezu ideale Arbeitsbe- dingungen geboten wurden. Während der bedeutendste deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts jedoch mit nur 58 Jahren starb, lässt sich an den Lebensspannen von Oscar Gans (1888–1983) und Hilde Domin (1909–2006) ablesen, wie viel Leben, wie viel Kreativi- tät durch den NS-Terror vernichtet bzw. durch das Exil geschenkt wurde: Nimmt man 1943, das Todesjahr Else Urys, als Maßstab sind es 40 bzw. 63 Jahre. Remigranten wie Bertolt Brecht oder Arnold Zweig, der Autor des „Sergeanten Grischa“, der sich in Palästina nie eingelebt hatte, oder Anna Seghers verloren allerdings durch ihre Rückkehr aus dem Exil

52 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke 9, Ästhetik und Poetik II, Hermeneutik in Vollzug, Tübingen 1993, S. 323. 53 Vgl. den Nachruf auf Oscar Gans in: „Der Hautarzt“ 34 (1983), S. 527f.; allgemein: Sven Eppinger, Das Schicksal der jüdischen Dermatologen Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2001.

50 Deutschland und seine Exilanten nach 

Irmgard Keun liest am 5. März 1980 aus ihrem 1936 im Exil entstandenen Roman „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“.

51 Deutschland und seine Exilanten nach  die eine Hälfte ihres Vaterlandes, denn durch ihre Entscheidung für einen Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik wur- den sie in der Bundesrepublik Deutschland erneut geächtet und als „Handlanger des Bolschewismus“ stigmatisiert. Die offizielle Hal- tung der Bundesregierung hatte am prägnantesten Außenminister formuliert. Das Auswärtige Amt hatte 1957 dem Schauspielhaus Bochum die für ein Gastspiel in Paris notwen- dige finanzielle Bürgschaft verweigert. Auf dem für Paris geplanten Programm hatte auch Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ gestan- den. Auf Nachfrage der SPD bekannte Außenminister von Brentano im Deutschen Bundestag, dass bei der Ablehnung der Bürgschaft politische Motive den Ausschlag gegeben hätten, da – so Brentano wörtlich –: „die späte Lyrik des Herrn Bert Brecht nur mit der Horst Wessels zu vergleichen“ sei.54 Brechts Verleger Peter Suhrkamp wies diesen Vergleich mit dem zum Märtyrer des NS-Regimes stilisierten SA-Führer in einem Offenen Brief am 18. Mai 1957 unter Hinweis auf Brechts Gegnerschaft zum Nationalsozialismus empört zurück. Brentano antwortete ebenfalls in einem Offenen Brief am 31. Mai 1957, in dem es unter anderem heißt: „Herrn Brecht kam es doch offenbar nur darauf an, die Unfreiheit des Dritten Reiches durch die Sklaverei des Bolschewismus, die Schändung des Rechts im Natio- nalsozialismus durch die Herrschaft des Verbrechens im Kommunis- mus zu ersetzen.“55 Selten entlarvt Sprache so wie in diesem Fall. Die DDR war demnach für den deutschen Außenminister des Jahres

54 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Legislaturperiode 1953f., Stenographi- sche Berichte, Band 36, 208. Sitzung vom 9. Mai 1957, S. 11995. Vgl. allgemein: Stephan Buchloh, „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, Frankfurt am Main 2002. 55 Die beiden Offenen Briefe von Peter Suhrkamp und Heinrich von Brentano sind abge- druckt in: Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der europäischen Integration, hrsg. von Roland Koch, München 2004, S. 278–282.

52 Deutschland und seine Exilanten nach 

Der Dermatologe Oscar Gans in seiner Amtszeit als Rektor der Universität Frankfurt am Main.

53 Deutschland und seine Exilanten nach 

1957 das im Vergleich zum Nationalsozialismus weitaus schlimmere Regime. Dieses Zitat Brentanos ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass der Antikommunismus als einziges Element der nationalsozia- listischen Ideologie den Zusammenbruch 1945 überlebt und nahtlos Einzug in die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, zumin- dest während der 1950er und 1960er Jahre, gehalten hatte.

10. Die Emigranten – Fremde im eigenen Land

Warum so wenige politische Flüchtlinge nach 1945 nach Deutsch- land zurückkamen, lässt sich relativ einfach erklären: Ursache war das politische Klima der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland. Und dieses Klima war gekennzeichnet durch eine erschreckende Kontinuität von Protagonisten und An- hängern der NS-Diktatur in allen relevanten Bereichen der Gesell- schaft und gleichzeitig eine erschreckende Geschichtsverdrängung und selbst bei Nicht-Nationalsozialisten einen empörenden Mangel an Sensibilität im Umgang mit den Opfern und Verfolgten. Einige wenige eindrucksvolle Beispiele aus den 1950er Jahren mögen als Beleg dienen. Am 30. Mai 1952 stellte Rose Hilferding, die Witwe des im Fe- bruar 1941 in Gestapo-Haft in Paris umgekommenen ehemaligen Finanzministers der Weimarer Republik, Rudolf Hilferding, einen ersten Antrag auf Entschädigung.56 Sie selbst hatte unter abenteuer- lichen Umständen in die USA flüchten können, wo sie als Psycho-

56 Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Entschädigungsbehörde, Akte Nr. 67.001 Dr. Rudolf Hilferding; Nachlass Rose Hilferding im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn.

54 Deutschland und seine Exilanten nach  therapeutin in einer Klinik in Boston arbeitete, aber mittlerweile mit 67 Jahren an die Grenzen ihrer Kräfte stieß. Da die Antragstellerin die erforderlichen Dokumente – Geburtsurkunden, Trauschein und, man glaubt es kaum, den Totenschein ihres Mannes – nicht beibrin- gen konnte, wurde die Ausstellung eines Erbscheins verweigert. Da- mit lag das Entschädigungsverfahren insgesamt auf Eis, weshalb sich Rose Hilferding Anfang Dezember 1952 in einem Schreiben an Bun- deskanzler wandte und ihre Tochter Elisabeth an Bundespräsident . Bundeskanzleramt und Bundes- präsidialamt schalteten daraufhin den Regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter ein, der beim Leiter des Entschädigungsam- tes die Auszahlung eines ersten fünfstelligen Vorschusses erreichte. Die bisherige Verzögerung wurde mit dem Hinweis begründet: „Der Bearbeiter der Sache ist leider über die Persönlichkeit der Antrag- stellerin nicht unterrichtet gewesen.“ Es dauerte über fünf Jahre, bis ab 1. August 1957 eine Hinterbliebenenrente in Höhe von 528 DM gewährt wurde, die allerdings bereits ein Jahr später auf 328 DM abgesenkt wurde, weil Rose Hilferding mittlerweile aufgehört hatte zu arbeiten und rund 150 Dollar US-Renten bezog. In einem Brief an Theodor Heuss bekundete Rose Hilferding ihr Unverständnis da- rüber, dass ihr bisheriges US-Arbeitseinkommen nicht, ihre wesent- lich geringere US-Rente aber auf ihre deutsche Entschädigungsrente angerechnet wurde, weshalb ihr nun deutlich weniger Einkommen zur Verfügung stand. Außerdem wies Rose Hilferding auf ihre ange- schlagene Gesundheit hin, die durch den Tod ihrer einzigen Tochter Elisabeth an Lungenkrebs zusätzlich beeinträchtigt worden sei. Die- ser Brief zeigte offensichtlich keine Wirkung, denn die Rentenkür- zung wurde nicht zurückgenommen. Auch die Entschädigung für das von den Nationalsozialisten in Berlin und Paris beschlagnahmte Vermögen Rudolf Hilferdings ließ weiter auf sich warten, da zu den fehlenden Dokumenten ein weiteres Hindernis hinzugetreten war:

55 Deutschland und seine Exilanten nach 

Wie so vielen Flüchtlingen hatten die NS-Behörden auch Rudolf Hilferding die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er starb als Staatenloser in Paris, weshalb, so die Argumentation der deutschen Behörde, nicht deutsches, sondern französisches Erbrecht anzuwen- den sei, mithin nicht Rose Hilferding, sondern ihr Stiefsohn aus der ersten Ehe Rudolf Hilferdings alleine erbberechtigt sei. Diese Erb- streitigkeit blieb bis zum Tod Rose Hilferdings am 15. März 1959 ungelöst. Seit der ersten Antragsstellung waren fast sieben Jahre ver- gangen. Diese Entschädigungs- und Wiedergutmachungsakten stellen ein Spiegelbild für das politische und gesellschaftliche Klima der 1950er Jahre dar. Während sich in diesem Bereich die deutsche Bürokra- tie und die deutsche Politik als hypergründlich und als wenig mit- fühlend gegenüber den Opfern erwiesen, war man an anderer Stelle weitaus großzügiger. Als 1954 der ehemalige Reichsaußenminister und „Reichsprotektor von Böhmen und Mähren“, Constantin von Neurath, aus Alters- und Gesundheitsgründen vorzeitig aus der Haft im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau entlassen wurde, sandten ihm sowohl Bundeskanzler Adenauer als auch Bundesprä- sident Heuss Glückwunschtelegramme. Heuss gebrauchte dabei die Formulierung: „Mit freudiger Genugtuung habe ich heute früh die Mitteilung gelesen, dass das Martyrium dieser Jahre für Sie ein Ende gefunden hat.“57 Da dieses Mitgefühl der höchsten Staatsrepräsen- tanten der Bundesrepublik Deutschland für etlichen, auch interna- tionalen Wirbel sorgte, verzichtete man bei künftigen Entlassungen von Kriegsverbrechern aus Spandau auf ähnliche Solidaritätsbekun- dungen, allerdings nur auf der höchsten Staatsebene. Großadmiral Erich Raeder, der im Nürnberger Kriegsverbrecher-

57 Zitiert in: Joe Heydecker/Johannes Leeb, Der Nürnberger Prozeß. Neue Dokumente, Erkenntnisse und Analysen, Köln 1979, S. 505.

56 Deutschland und seine Exilanten nach  prozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, wurde 1955 ebenfalls aus Gesundheitsgründen vorzeitig entlassen. Die Ehren- bürgerwürde der Stadt Kiel, die Raeder 1945 aberkannt worden war, wurde ihm im Frühjahr 1956 mit der Begründung erneut verliehen, der Aberkennung 1945 habe ein Verfahrensfehler zugrunde gele- gen.58 Es war nicht die Stadt Kiel, die diesen Skandal korrigierte, sondern Raeder selbst, der nach sechs Wochen auf die Ehrenbür- gerwürde verzichtete. Zusammen mit Raeder war auch die Ehrenbürgerwürde von Kiel aberkannt worden. Allerdings nicht Paul von Hindenburg, der noch heute in der Kieler Ehrenbürger- liste verzeichnet ist und nach dem bis heute unzählige Straßen in Deutschland benannt sind. Als Raeder 1960 starb, hielt Karl Dönitz, sein Nachfolger als Chef der Reichsmarine und Hitlers als Staats- oberhaupt, die Grabrede. Den Grabredner Dönitz, der in Nürnberg zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, hatte der erste Inspek- teur der Bundesmarine Friedrich Ruge vorgeschlagen. Ebenfalls 1955 wurde Dr. Franz Nüßlein als nicht amnestierter Kriegsverbrecher von der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben.59 1947 war der ehemalige Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt an den Sondergerichten Brünn und Prag we- gen seiner Beteiligung an mehr als 900 Todesurteilen zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Eines dieser 900 Opfer war die Opernsän- gerin Marianne Golz gewesen, die am 8. Oktober 1943 wegen „Sa- botage und Begünstigung von Reichsfeinden“ hingerichtet worden war. Drei Tage vor ihrer Hinrichtung hatte Marianne Golz an Franz

58 Auf diesen Skandal hatte schon Erich Maria Remarque in seiner Besprechung „Seid wachsam!“ zum Film „Der letzte Akt“ (1956) hingewiesen, abgedruckt in: Erich Maria Remarque – Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966, hrsg. und mit einem Vorwort von Thomas F. Schneider, Köln 1998, S. 99. 59 Vgl. Melissa Müller/Christoph Partsch, „Denn das sind Sie: ein Mörder“. Der Fall des Diplomaten Franz Nüßlein zeigt: Die NS-Geschichte des Auswärtigen Amtes muss dringend aufgeklärt werden, in: „Die Zeit“ Nr. 5 vom 26. Januar 2006.

57 Deutschland und seine Exilanten nach 

Nüßlein geschrieben: „Überlegen Sie es sich, wegen solcher Dinge an Frauen zum Mörder zu werden. Denn das sind sie: ein Mörder und noch dazu ein Frauenmörder!“ Unmittelbar nach seiner Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1955 trat Franz Nüßlein in den Dienst des Aus- wärtigen Amtes ein und erhielt für seine Haftzeit in der Tschechoslo- wakei Haftentschädigung. Er amtierte unter anderem als deutscher Generalkonsul in Barcelona und starb als Mittneunziger im Jahr 2003. Der hymnische Nachruf auf Nüßlein in der Hauszeitschrift des Auswärtigen Amtes löste denjenigen Skandal aus, der Außenmi- nister Joschka Fischer veranlasste, ehrende Nachrufe auf ehemalige NSDAP-Parteimitglieder in Zukunft zu untersagen und eine Unter- suchungskommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes einzusetzen. Die ehemaligen Nationalsozialisten in Diensten des Auswärtigen Amtes wurden, wie Franz Nüßlein, bei Auslandseinsätzen bevorzugt in die arabischen Staaten, in das Spanien General Francos oder in die von den USA installierten Militärdiktaturen oder Pseudodemo- kratien Lateinamerikas beordert. Vielleicht ist es so zu erklären, dass Josef Mengele, der Mörder im Arztkittel in Auschwitz-Birkenau 1956 nach der Rückkehr aus einem Skiurlaub in der Schweiz nach Argentinien auf seine falschen Papiere und seinen bisher benutzten Decknamen verzichtete und in der deutschen Botschaft in Buenos Aires einen deutschen Reisepass auf seinen Namen Josef Mengele beantragte und auch erhielt.60 Dieses demonstrative Wegsehen selbst bei führenden NS-Verbre- chern war von der Politik bereits im Jahr 1952 sanktioniert worden. Der Bundestag debattierte am 22. Oktober 1952 über den Bericht

60 Vgl. Sven Keller, Günzburg und der Fall Josef Mengele. Die Heimatstadt und die Jagd nach dem NS-Verbrecher, München 2003, besonders S. 51–53.

58 Deutschland und seine Exilanten nach  eines Untersuchungsausschusses, der die Durchsetzung des Auswär- tigen Amtes mit ehemaligen Nationalsozialisten geprüft hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass ab der Ebene der Referenten auf- wärts zwei Drittel der leitenden Mitarbeiter des Außenministeriums ein NSDAP-Parteibuch besessen hatten.61 In seinem Redebeitrag versuchte Konrad Adenauer, der in Personalunion auch das Außen- amt verwaltete, zunächst den Konflikt mit dem Hinweis ins Lächer- liche zu ziehen, dass weder der Außenminister noch der Staatssekre- tär (Walter Hallstein) PGs gewesen seien.62 Anschließend trachtete er danach, die Debatte mit dem Satz zu beenden: „Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen“.63 Also bereits im Oktober 1952 sollte ein Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gezogen werden. Und die exilierten Schriftsteller? Dass man sie für den ethisch- moralischen Wiederaufbau der zerstörten Heimat für entbehrlich hielt, zeigt anschaulich der 1952 erschienene Bildband „Das Geisti- ge Gesicht Deutschlands“.64 Neben einer philosophisch-historischen Standortbestimmung Nachkriegsdeutschlands als Einleitung enthält der Band 80 Porträtaufnahmen von Künstlern verschiedener Spar- ten, Politikern, Kirchenvertretern und Wissenschaftlern, wobei – so der Klappentext – nur „eine Auswahl unter den typischen Gestalten getroffen werden“ konnte. Unter den 80 Abgebildeten ist kein ein- ziger Emigrant. Unter den 13 aufgenommenen Schriftstellern finden sich zwar mit Erich Kästner, Werner Bergengrün, Reinhold Schnei-

61 Vgl. Hans-Jürgen Döscher, Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Ade- nauer zwischen Neubeginn und Kontinuität, Berlin 1995. 62 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Bonn 1953, S. 10720–10750, Zitat S. 10734f. Das Protokoll vermerkt nach dieser Äußerung „Große Heiterkeit“. 63 Ebenda, S. 10736. 64 Das Geistige Gesicht Deutschlands, photographische Bildnisse von Erich Retzlaff u.a., Text von Hanns-Erich Haack, Stuttgart 1952.

59 Deutschland und seine Exilanten nach  der und Gertrud von Le Fort vier herausragende Vertreter der In- neren Emigration, aber daneben der offenbar unvermeidliche Ernst Jünger und der glühende Nationalsozialist Emil Strauß. Die wenigen Remigranten kehrten mit einer die Grenzen der Nai- vität überschreitenden Erwartungshaltung nach Deutschland zu- rück. Als der aus Würzburg stammende Leonhard Frank, mit seinen Romanen „Die Räuberbande“ (1914), „Das Ochsenfurter Männer- quartett“ (1927) oder „Von drei Millionen drei“ (1932) sowie seinem Drama „Karl und Anna“ (1929) einer der meist gelesenen Autoren der Weimarer Republik, 1950 aus dem Exil in den USA heimkehrte, machte er zunächst die schmerzhafte Erfahrung, welchen Bruch mit der Vergangenheit die zwölf Jahre Diktatur bewirkt hatten. In sei- nen 1952 erschienenen Memoiren, in denen er sich selbst „Michael“ nennt, schildert Frank seine Überfahrt von New York nach Le Hav- re an Bord der „Flying Enterprise“ und seine Ernüchterung, als er in Aachen zum ersten Mal wieder deutschen Boden betrat und in einem Buchladen nach seinen Büchern fragte: „Der junge Buchhändler kannte die Titel der Bücher nicht, er kannte nicht Michaels Namen. Ein deutscher Buchhändler wusste nichts von Michael, der kurz vor der Abreise von New York seine Bücher hinter dem Schaufenster einer Buchhandlung in der Fifth Avenue gesehen und auf der ‚Flying Enterprise’ einen Passagier be- obachtet hatte, der in die Lektüre der französischen Ausgabe von ‚Karl und Anna’ vertieft gewesen war. Im Land seiner Sprache waren Michaels Bücher verboten und verbrannt. Die deutschen Leser bis zu vierzig Jahren kannten nichts von ihm. Über Michael hatte Hitler gesiegt.“65 Keine Empfangskomitees, keine offenen Arme – statt dessen wur- den die Remigranten vielfach diskriminiert und diskreditiert. Der

65 Leonhard Frank, Links wo das Herz ist, Berlin 22009, S. 241f.

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Porträt des Würzburger Schriftstellers Leonhard Frank.

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Linkssozialist und Pazifist Frank machte es sich nicht leicht, denn er ließ sich nicht in der DDR nieder, sondern lebte bis zu seinem Tod 1961 in München. Als im Stadttheater Würzburg anlässlich seines 70. Geburtstages 1952 sein Drama „Karl und Anna“ aufge- führt wurde, eine Dreiecksgeschichte um einen Kriegsheimkehrer nach dem Ersten Weltkrieg, verlangte das bischöfliche Ordinariat Würzburg die Absetzung wegen der „sexuell schwülen Atmosphäre des Stücks“, das als „unsittlich und die Volksmoral zersetzend“ ab- zulehnen sei.66 Man merkt an diesem Zitat: Das politische System hatte sich geändert, die Sprache noch nicht. Nach dem Tod Leon- hard Franks 1961 weigerte sich der Würzburger Stadtrat nach kon- troverser Debatte, eine Straße nach dem berühmten Schriftsteller zu benennen, da Frank auch Ehrungen aus der DDR erhalten hatte, darunter den Nationalpreis I. Klasse und die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Als „Ersatz“ taufte man einen Abschnitt des Mainufers in Würzburg „Leonhard-Frank-Promena- de“. Dort stand und steht bis heute kein einziges Haus: eine sehr deutsche Form der Ehrung.67 Eine andere Form der Ehrung stellt die Verleihung des Bundes- verdienstkreuzes seit 1951 dar. Welchem deutschen Schriftsteller wurde wohl bis heute die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes verliehen, das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband? Nicht Thomas Mann, natürlich nicht Bertolt Brecht, natürlich nicht Anna Seghers, natürlich nicht dem Pazifisten Erich Maria Remarque, fast möchte man sagen natürlich keinem Exilanten, sondern im Jahr 1985 ausgerechnet dem Verherrlicher des Krieges, bekennenden

66 Zitiert in Erwin Rotermund, Leonhard Frank im Nachkriegsdeutschland (1950–1961), in: Rückkehr aus dem Exil [wie Anm. 24], S. 67–81, Zitat S. 76. 67 Vgl. Leonhard Frank und Würzburg. Ein Schriftsteller und seine Heimatstadt. Zum 30. Todestag am 18. August 1991; hrsg. von der Universitätsbibliothek Würzburg, be- sonders S. 36.

62 Deutschland und seine Exilanten nach 

Antisemiten und Gegner der Demokratie Ernst Jünger.68 Remarque hat zwar auch das Bundesverdienstkreuz bekommen, aber mehre- re Kategorien darunter. Und Remarque wurde zwar die Ehrenbür- gerwürde seiner Wohngemeinde Porto Ronco im Tessin verliehen und des benachbarten Ascona, aber nicht diejenige seiner Heimat- stadt Osnabrück. Als Ernst Jünger am 17. Februar 1998 im Alter von 102 Jahren starb, war es der Deutschen Post möglich, innerhalb von zwei Monaten ein Sonderpostwertzeichen aus dem Boden zu stampfen, das bereits am 22. April verausgabt wurde. Dass sich der Geburtstag von Erich Maria Remarque im selben Jahr, am 22. Juni 1998, zum 100. Mal jährte, hatte die Deutsche Post übersehen oder ignoriert. Bis heute ist Remarques Konterfei auf keiner deutschen Briefmarke erschienen. Kaum ein anderer deutscher Autor hat sich so intensiv mit dem Krieg, auch dem Zweiten Weltkrieg, und der Emigration auseinan- dergesetzt wie Erich Maria Remarque. Sein KZ-Roman „Der Funke Leben“ von 1952 wurde von Teilen des deutschen Feuilletons massiv abgelehnt.69 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ urteilte: „KZ- Gemälde eines Nicht-dabeigewesenen für Nicht-dabeigewesene“. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ sprach von „einem beschämenden Buch“, mit dem sich Remarque „schuldig“ gemacht habe. In der Ak- tuellen Bilderzeitung Düsseldorf warf man dem Autor „dumpfe Res- sentiments“ und eine „abscheuliche Verunstaltung seiner ehemali- gen Heimat“ vor, gespeist aus einem „unbändigen Hass auf alles, was mit Deutschland zusammenhängt“. Erich Maria Remarque hätte allen Anlass zu „dumpfen Ressen- timents“ gehabt, denn seine jüngere Schwester Elfriede war am

68 Vgl. zuletzt die durchaus wohlwollende Biografie von Helmuth Kiesel, Ernst Jünger – Die Biographie, München 2007. 69 Vgl. die Pressestimmen im Anhang zu Erich Maria Remarque, Der Funke Leben, hrsg. von Tilman Westphalen, Köln 1998, S. 394–396.

63 Deutschland und seine Exilanten nach 

In der DDR gab es keine Bedenken, Straßen nach Leonhard Frank zu benennen wie hier im Jahr 1962 in Ost-Berlin oder mit der zusätzlichen biographischen Tafel in Leipzig (r.).

64 Deutschland und seine Exilanten nach 

65 Deutschland und seine Exilanten nach 

29. Oktober 1943 verhaftet und noch am selben Tag vom Volksge- richtshof als „ehrlose fanatische Zersetzungspropagandistin unserer Kriegsfeinde“ zum Tod verurteilt worden.70 Sechs Wochen später, am 16. Dezember 1943, wurde die vierzigjährige Elfriede Scholz in Berlin-Plötzensee enthauptet und ihre sterblichen Überreste an unbekanntem Ort verscharrt. Zum Verhängnis waren der in Dres- den lebenden Damenschneiderin denunzierte Äußerungen gewor- den, dass der Krieg verloren sei. Das Urteil hatte der Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler persönlich gesprochen und da- bei ausgeführt: „Ihr Bruder ist uns leider entwischt. Sie aber werden uns nicht entwischen!“ Erst zweieinhalb Jahre später, am 11. Juni 1946, erreichte Remarque die Nachricht von der Ermordung seiner Schwester, woraufhin er im folgenden Monat mit ersten Vorarbeiten an seinem KZ-Roman begann. Neben dem Ton der negativen Kritiken über „Der Funke Leben“ sticht eine positive besonders ins Auge. Der ehemalige KZ-Insasse Ben Ephraim lobte in der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“: „Die Ehre der deutschen Schriftsteller ist wieder- hergestellt. Denn endlich hat das Grauen der deutschen Konzentra- tionslager seinen Einzug auch in die deutsche Literatur gefunden. Geschrieben von einem Deutschen, von Erich Maria Remarque – und wie geschrieben! – liegt jetzt das vielleicht stärkste aller bisher in der Welt erschienenen KZ-Bücher vor.“ Wen wundert es angesichts der zitierten negativen Kritiken, deren stärkster Vorwurf derjenige der Emigration war, dass Erich Maria Remarque nicht nach Deutschland zurückkehrte und dass er sich nicht um die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft bemühte, die ihm 1938 von den Nationalsozialisten aberkannt wor-

70 Vgl. Elfriede Scholz, geb. Remark. Im Namen des Deutschen Volkes. Dokumente einer jus- tiziellen Ermordung, hrsg. von Claudia Glunz und Thomas F. Schneider, Osnabrück 1997.

66 Deutschland und seine Exilanten nach 

Erich Maria Remarque mit seiner zweiten Frau Paulette Goddard 1961 in seinem Haus in Porto Ronco im Tessin.

67 Deutschland und seine Exilanten nach  den war. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft wurde nach 1945 nicht automatisch als nationalsozialistisches Unrecht rückgängig gemacht, sondern konnte nur über einen individuellen Antrag auf Wiedereinbürgerung revidiert werden. Dies empfand nicht nur Erich Maria Remarque als Zumutung: „Ich bin damals zum Weltbürger gemacht worden – gegen meinen Willen. Jetzt bin ich ein Weltbürger – mit Willen!“71 Während auf der einen Seite gefordert wurde, einen politischen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen und im übrigen völlig zu Recht die These von der deutschen Kollektivschuld zurück- gewiesen wurde, stellte man auf der anderen Seite die Emigranten unter antipatriotischen Generalverdacht und unter verstärkten Recht- fertigungsdruck. In der Formel „Herr Brandt alias Frahm“, mit der im Bundestagswahlkampf 1961 der Kanzlerkandidat der SPD demontiert werden sollte, erfuhr diese Vorgehensweise ihre perfideste Zuspitzung. Die Emigranten galten als die neuen vaterlandslosen Gesellen. Bereits 1947 hatte der Satiriker Walter Mehring die künftige Haltung Deutsch- lands gegenüber seinen Exilanten mit dem bitterböse-sarkastischen Worten prophezeit: „Man wird es uns nie verzeihen, dass wir uns nicht haben erschlagen oder ein bisschen vergasen lassen.“72 Die Strategie der Ausgrenzung der Emigranten bei gleichzeitiger Einbindung vie- ler Träger des NS-Regimes aus der zweiten und dritten Reihe diente vordergründig dem Machterhalt und wurde durch die Ergebnisse der Bundestagswahlen 1953 und 1957 eindrucksvoll bestätigt; andererseits lag ihr aber auch die Überzeugung zugrunde, dies sei der beste oder zumindest einzig gangbare Weg, um die Abermillionen Mitglieder der NSDAP und die noch größere Zahl der Anhänger Hitlers in das neue

71 Heinz Liepman, Remarque und die Deutschen. Ein Gespräch mit Erich Maria Re- marque (1962), in: Erich Maria Remarque – Ein militanter Pazifist [wie Anm. 58], S. 110–117, Zitat S. 113. 72 Zitiert in: Text und Kritik, Band 78, Walter Mehring, München 1983, S. 51.

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demokratische System zu integrieren. Erkauft wurde dieser Weg in die „geglückte Demokratie“ der Bundesrepublik Deutschland, wie sie seit kurzem gerne apostrophiert wird,73 durch den Verzicht auf eine tra- gende geistige Fundamentierung. Dass eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung allein kein staatliches System dauerhaft tragen kann, wur- de dann in den Eruptionen der späten 1960er Jahre deutlich; dass auch Geschichtsverdrängung nicht dauerhaft funktionieren kann, diese Er- kenntnis rückte seit der Zäsur des ersten Auschwitz-Prozesses, der von 1963 bis 1965 vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main stattfand, immer wieder, befreiend und schmerzlich zugleich, in das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, zuletzt durch die aktuelle Untersuchung über die Verstrickungen des Auswärtigen Amtes.74 Abschließend: Was bleibt zu tun? Wiedergutmachung gegenüber den Exilanten ist nicht mehr möglich, denn diese Generation ist nicht mehr am Leben. Bei einer der letzten Gelegenheiten, einem Exilanten den ihm gebührenden Respekt zu erweisen, hat der Deutsche Bun- destag im Jahr 1994 ein geradezu peinlich berührendes Schauspiel ab- geliefert. Der 81-jährige Schriftsteller Stefan Heym war bei den Bun- destagswahlen im Oktober 1994 als parteiloser, aber von der PDS unterstützter Kandidat im Wahlkreis Berlin-Mitte/Friedrichshain an- getreten und hatte das Mandat knapp gewonnen. Ihm fiel damit die (bis 2017) traditionsgemäß dem ältesten Abgeordneten zustehende Aufgabe zu, als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des 13. Deutschen Bundestages am 10. November 1994 zu leiten. Um dies in letzter Minute zu verhindern, wurden Stasi-Vorwürfe gegen Stefan Heym lanciert, die kurz nach dem 10. November als haltlos zurück-

73 So der Titel der Gesamtdarstellung von Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. 74 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.

69 Deutschland und seine Exilanten nach 

Stefan Heym während seiner Rede als Alterspräsident des Deutschen Bundestages am 10. November 1994.

70 Deutschland und seine Exilanten nach 

genommen werden mussten. Stefan Heym hielt eine sehr versöhnli- che Rede, in der er ausdrücklich sein Schicksal als Emigrant erwähnte und ein berühmtes Gedicht eines nicht minder berühmten Emigranten in Gänze zitierte: Die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht.75 Trotzdem reagierte das Auditorium überwiegend mit eisiger Ablehnung. Erst- mals wurde der Abdruck der Rede eines Alterspräsidenten im Bulletin der Bundesregierung unterbunden. An Stefan Heyms Beisetzung, der am 16. Dezember 2001 starb, nahmen dann Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse teil. Der Umgang mit Stefan Heym steht symbolisch für den Umgang mit den Exilanten: wenn überhaupt, wird ihnen Anerkennung erst posthum gezollt. Das Erbe der Exilanten verpflichtet. Deutschland ist heute gegen- über echten politischen Flüchtlingen ein sehr verschlossenes Land. Er- innert sei nur an Edward Snowden. Darüber hinaus ist Erinnerung die zentrale Aufgabe. Erinnern, wieder und wieder erinnern: erinnern an die Opfer, erinnern an die Täter, erinnern an die vielen kleinen Helden, die Verfolgten geholfen haben, die Verfolgte nicht denunziert haben.76 Jeder Einzelne für sich kann den deutschen Exilanten, sofern es sich um Schriftsteller, Sänger oder Komponisten handelt, heute ein Heimat- recht in seinem Bücherregal oder in seiner CD-Sammlung gewähren. In jeder deutschen Stadt gäbe es die Möglichkeit zum Beispiel die Stra- ßen- oder die Schulnamen zu überprüfen, es sind noch immer viel zu viele Straßen nach Generälen und Feldherren benannt, die andere in den Tod geschickt haben, anstatt nach Menschen, die Widerstand ge-

75 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 13. Legislaturperiode 1994f., Stenographi- sche Berichte, Band 1, 1. Sitzung vom 10. November 1994, S. 1–3. Die autobiografische Passage in der Rede Stefan Heyms lautet: „Das Reichstagsgebäude, in dem wir uns heute befinden, brannte. Ich selber habe den Brand gesehen. Kurz darauf musste ich Deutschland verlassen und sah es erst in amerikanischer Uniform wieder – ein Über- lebender – und kehrte Jahre später dann in den östlichen Teil des Landes, in die DDR, zurück, wo ich auch bald in Konflikt mit den Autoritäten geriet.“ Ebenda, S. 1. 76 Die Ende Oktober 2008 eröffnete „Gedenkstätte Stille Helden“ in Berlin ist ein erster Anfang, an dieses vergessene Kapitel der Widerstandsgeschichte zu erinnern. Vgl. den Katalog zur Dauerausstellung der „Gedenkstätte Stille Helden“, Berlin 2008.

71 Deutschland und seine Exilanten nach 

leistet haben oder Opfer geworden sind. Aber Erinnerung allein reicht nicht aus, Wachsamkeit ist ebenso notwendig. Ein Beispiel mag genügen: Der Präsident der Arbeitsgemeinschaft baden-württembergischer Wasserkraftwerke, Manfred Lüttke, hatte im Juli 2008 den von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer als „ganz gewöhnlichen Landesverräter“ bezeich- net. Nach der „Entschuldigung“, ihm sei „ein saublöder Spruch raus- gerutscht“, wurde Lüttke auf dem Verbandstag im November 2008 mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt. Erst als das Karlsruher Amts- gericht im Januar 2009 eine Geldstrafe von 3000 Euro gegen Lüttke verhängte, verließ er am 27. Januar 2009 seine Partei, die sich zu einem Parteiausschlussverfahren nicht hatte durchringen können.77 Um es abschließend noch einmal eindringlich zu wiederholen: Wachsamkeit ist notwendig, wie dieses und viele andere Beispie- le, nicht zuletzt die beschämende Wahl der NPD in einige deutsche Landtage nach der Jahrhundertwende oder die einschlägige Propa- ganda im Internet, zeigen. Wer die Hitler-Diktatur als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ oder das Holocaust Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet, der stellt keine Alternative für Deutschland dar, sondern eine Bedrohung unserer mühsam errunge- nen Erinnerungskultur. Das Schlusswort gebührt deshalb einem Emi- granten. Der letzte Vers von Bertolt Brecht aus dem „Arturo Ui“, dem Drama um den Aufstieg Hitlers, hat nichts von seiner Relevanz verlo- ren: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.

77 Zu diesem Vorfall sind zahlreiche Presseartikel erschienen, z. B.: „Lüttkes NS-Äu- ßerungen. Politiker und Kirchenvertreter empört“, in: „Stuttgarter Zeitung“ vom 7. November 2008“; „Die CDU ist Lüttke los. Chef des Wasserkraftverbandes kommt Parteiausschluss wegen Bonhoeffer-Schmähung zuvor“, in: „Badische Zeitung“ vom 28. Januar 2009.

72 Deutschland und seine Exilanten nach 

Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

Die Stiftung zu Ehren von Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) wurde am 19. Dezember 1986 durch einen Beschluss des Deutschen Bundesta- ges errichtet. Die bundesunmittelbare Stiftung öffentlichen Rechts hat laut Ge- setz die Aufgabe, „das Andenken an den ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu wahren und einen Beitrag zum Verständnis der deutschen Geschichte seiner Zeit zu leisten“. Die Gedenkstätte wurde am 11. Februar 1989, dem 70. Jahrestag der Wahl Eberts zum Reichspräsidenten, eröffnet. Herzstück ist die kleine Wohnung, in der Friedrich Ebert als Sohn eines Schneidermeisters am 4. Februar 1871 ge- boren wurde. Daneben zeichnet eine 2007 komplett neu gestaltete Daueraus- stellung unter dem Titel „Vom Arbeiterführer zum Reichspräsidenten – Fried- rich Ebert (1871–1925)“ den Weg des sozialdemokratischen Parteiführers an die Spitze der Republik nach. Mit einem vielschichtigen Veranstaltungsangebot hat sich das Friedrich- Ebert-Haus in der Pfaffengasse 18 als ein lebendiger Lernort deutscher De- mokratiegeschichte etabliert. Das findet seinen Ausdruck in einer stetig wachsenden Zahl von Besuchern, in der anerkannten Forschungs- und Pub- likationstätigkeit sowie in der Vielzahl und Bandbreite ihrer politisch-histori- schen Bildungsaktivitäten, vor allem mit Schülerinnen und Schülern. Die Be- sucherzahlen der Gedenkstätte haben sich mit rund 70.000 pro Jahr auf hohem Niveau eingependelt.

73 kleine schriften kleine schriften

Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

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