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David Murray Ein ‚volles Lied‘.Übertragung undKlang am Beispiel der geistlichen Lieder des Mönchs vonSalzburg

1Einleitung

Neunundvierzig geistliche Lieder werden dem Mönch vonSalzburgzugespro- chen.¹ Die Lieder,die am Hof des SalzburgerErzbischofs Pilgrim II. vonPuchheim (reg.1365–1396) entstanden, stellen eines der wichtigsten Korporareligiöser Lieder des deutschen Spätmittelalters dar.² Sie bestehen zu fast gleichen Teilen ausÜbersetzungen lateinischer liturgischer und Sequenzen aufder ei- nen Seite sowie Eigendichtungen des Mönchs ohne direktelateinische Vorlageauf der anderen. Fast alle Lieder sind mit musikalischer Notation überliefert.Wie bei deutschsprachigen geistlichen Liedern allgemein häufig der Fall, scheint ihr künstlerischer Anspruch in der Forschung vonanderen Aspekten gewissermaßen überschattetzuwerden. Die Fragenach der möglichen liturgischen Nutzung solcher Liederhat zum Beispiel vonder ästhetischen Untersuchung des Reper- toires abgelenkt.³ Die Stellungder geistlichen Lieder ausdem Mönch vonSalz- burg-Korpus in der Forschung wird auch durch das weitgehende musikwissen- schaftlicheDesinteresse an der spätmittelalterlichenMonophonie geprägt.⁴ Die Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft hat eher den weltlichen Liedern des

 (Dieser Beitrag entstand im Kontextdes ERC-Projekts ,Music and Late Medieval European Court Cultures‘ an der Universität Oxford. Das Projekt wirdvon dem ERC im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogrammes ‚Horizont 2020‘ gefördert (Fördervertrag Nr.669190). Neben den HerausgeberInnen möchteich HenrikeLähnemann, Olivia Kobiela und Mai-Britt Wiechmann für ihre freundliche Anregungund sprachlichen Hinweise danken.) Vgl. grundlegend Wachinger: Der Mönch vonSalzburg. Wachingerhat mehrere der Lieder ausdem zentralen Mönch vonSalzburg-Korpus ausgeschieden; vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg. ZurÜberlieferung,S.119–137.Zur Identitätsfrage, vgl. Die weltlichen Lieder,S.1–8.  Zu Pilgrim vonPuchheim,vgl.Klein; zum erzbischöflichen HofSalzburgsvgl. Schneider,bes. S. 71– 83.  Zumeventuellen liturgischen Gebrauch der SalzburgerLieder,vgl. zuletzt Kraß, S. 218. Obwohl Johannes Janota 1968 verweigerte, volkssprachlichen geistlichen Liedern die Möglichkeit litur- gischen Gebrauchs strictu sensu einzuräumen, habenjüngere Forscher die Lieder als allgemein „gottesdienstlich“ charakterisiert.Vgl. Janota und Rosmer:Der Mönch vonSalzburgund das la- teinische Lied.  Eine wichtige Ausnahme hier ist die Arbeit vonStefan Engels;vgl. Engels.

OpenAccess. ©2020David Murray, publiziertvon De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der CreativeCommons Attribution 4.0 International. https:// doi.org/10.1515/9783110666816-006 64 David Murray

Korpus gegolten, soweit diese zu den frühesten überlieferten Belegen der nicht- liturgischen Mehrstimmigkeit im deutschsprachigen Raum zählen.⁵ Dement- sprechend ist die Musik der ausschließlich einstimmigen geistlichen Lieder sei- tens der Forschung nur selten gleichberechtigt behandeltworden, obwohl sie die Entstehung, Überlieferung und das ‚Leben‘ der Lieder weitgehend mitbestimmt. DieserBeitrag zielt deswegen daraufab, das Klangliche engereinzubeziehen, indem er die geistlichen Liederdes Mönch vonSalzburg-Korpusals musikalisch- textliches Gesamtkunstwerk untersucht.Damit möchte ich überdie Dichotomie vonSprache und Musik hinausgehen, die aufdie verankerteAuffassung zurück- geht,dass Musik vorder Renaissance weder als künstlerischer Ausdrucknochals semantisch befrachtet betrachtet werden könne.⁶ Nurder Text eines Liedes habe einen feststellbarenSinn, während seine Melodie letzten Endes ‚blind‘ sei.⁷ Die vermeintliche Kluft zwischen Sprache und Musik verhindert also den ganzheit- lichen Blick aufdas geistliche Lied im Einzelnen und das geistliche Singen im Allgemeinen.⁸ Im Mittelalter schlossdie musica mundana fast selbstverständlich die menschliche Stimme ein. Die untrennbareVerbindungaus Stimme, Wörtern und Melodie wird beispielsweisevon Eustache Deschamps belegt,indemerdie Fähigkeit eines princedupuy,den Text vonder Melodie abzulösen, um ein Lied niederzuschreiben, als besonders bemerkenswert qualifiziert.⁹ Neuere Entwicklungeninder Musik-und Literaturwissenschaft lassen jedoch vermuten, dass ein einheitlichererAnsatz zum mittelelterlichenLiedmöglich ist. Aufder einenSeite hat Wulf Arlts Plädoyer,sowohl der Melodie wie auch dem Text semantischen Wert beizumessen, Anlass für eine Handvoll Versuche in diese Richtung gegeben.¹⁰ Andererseits hat Markus Stock anhand der Lieder Gottfrieds vonNeifen einen radikalen Wandel in der Poetik des dreizehnten Jahrhunderts nachgewiesen.¹¹ Stockzufolge benutzt Gottfried Schlüsselwörter,ohne sich aus- schließlich aufderen Semantik zu beziehen. Klang und Inhalt bilden demzufolge

 Vgl. etwa Welker.  Den angeblich minderen Sinngehaltder vormodernenMusik betont bspw.LudwigFinscher; vgl. Finscher,S.15.  Zur ‚Blindheit‘ der Musik im Allgemeinen, vgl. Zumthor,S.145.  Hier sei daran erinnert,wie die eigene Sprache die Auffassungeines Phänomens prägt.Wo das Deutsche eine klare Trennungzwischen dem einzelnen „Lied“ und der breiteren Kategorie des „Gesangs“ als die Produktedes Verbums „singen“ macht,sind diese aufEnglisch mit demselben Wort „song“ bezeichnet; sie sind dementsprechend vielleicht einfacher als Teile eines Groß- phänomens aufzufassen.  Haug,S.62f.  Vgl. Arlt und, später,Schadendorf und Kandler.  VglStock. Ein ‚volles Lied‘. 65 eine gemeinschaftliche Botschaft.¹² Auch in der Mönch-Forschung hat Dagmar Hirschbergs Aufsatz zu Dy (W5) überzeugend dargelegt,welch funda- mentaleBedeutung Melodie, Klang und musikalische Gestaltungfür die Kom- position eines Lieds als klingende Einheithaben.¹³ Der Terminus ‚Klang‘ hat in der neueren germanistischen Forschung und vor allem in Untersuchungen zum deutschen Minnesang eine gewisse Konjunktur.Er ist besonders wichtig im Kontext des geistlichen Liedes, weil er eine Brücke zwischenden üblicherweise separat konzipiertenElementen der Liedkunst schlägt.Klangproduktion und -rezeption erfolgensowohl auftextliche wie auch aufmelodisch-musikalische Weise. Diese neuere Forschungstendenz betont den wichtigen aber flüchtigenBeitrag des Klanglichen zum Sinngehalt der mittelal- terlichen Lied- bzw.Dichtkunst.¹⁴ Susanne Köbele fasst dies so zusammen: „Klangkunstwerke sind aufeine analytisch nur schwer fassbareWeise vonSe- mantikentlastet, ohne athematisch, asemantisch oder gar Unsinn zu sein“.¹⁵ Köbeles Aufsatz spiegelt in dem Sinne die zeitgleiche Blütedes breiteren inter- disziplinären Diskurses der Sound Studies wider.¹⁶ Die gängige Auffassung des Klangsindieser germanistischen Forschungsströmungbleibt jedoch weitgehend sprachlich orientiert.¹⁷ Beieinem grundsätzlich textbezogenen Ansatz bleiben Faktoren wie Klang und Musik und ihr Anteil am Erleben und Erinnern eines Liedes weitgehend unberücksichtigt.Erlebnis ist vonentscheidender Wichtigkeit im Bezugauf das gesungene Lied.¹⁸ Singenimpliziert nämlich viel mehr als an- dere Kunstformen einen tief ruhenden Einklang mit dem Körper, der sich der üblichen wissenschaftlichen Analyse entzieht.¹⁹ Vordiesem Hintergrund können Wert und Sinn einesLiedesimEinzelnen und der gesamten Singkultur einer Gemeinschaft im Allgemeinennicht ohne Weiteres aufeine objektive Größe re- duziert werden.²⁰ Die Irreduzibilität der Bedeutung eines Liedeslässt sich auch für die geistliche Kultur des Mittelalters im Ganzen vorbringen, und sie wird in

 Stock, bes. S. 199f.  Vgl. Hirschberg.  Vgl. Köbele, Braun und Schneider: Poetik des Klangs;dies.:Erliez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn.  Köbele, S. 319.  In der Mediävistik außerhalb der Germanistik,vgl.Dillon, Williamson.  Eine wichtige Ausnahme bildet die Studie vonCaroline Emmelius.  Im Folgenden gehe ich davonaus,dass alle besprochene Lieder fürs Singen konzipiert waren.  Vgl. Gibbs,S.2:„People’ssubjective,felt experiences of their bodies in action provides part of the fundamental groundingfor languageand thought.[…]Wemust not assume cognition to be purelyinternal, symbolic,computational,and disembodied, but seek out the gross and detailed ways that languageand thoughtare inextricablyshaped by embodiedaction“.  Zumthor,S.133. 66 David Murray manchen Zusammenhängen zunehmend anerkannt.²¹ Andreas Haug betont z.B. die „Abstimmungder melodischen Parameter des Lieds mit dem in ihm besun- genen Gegenstand, die seinästhetisches Format bestimmt“.²² Gerade diese wie auch andere noch subjektivere Abstimmungen untermauern die Kohärenz und Einheitlichkeit eines Liedes. Das sinnstiftende und sinntragende Potenzial des Klanglichen darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden.²³ Vordiesem Hintergrund bieten die verschiedenen Übersetzungen, die in den geistlichen Liedern des Mönches vonSalzburghervortreten, ein vielverspre- chendes Feld, um die unterschiedlichen Achsen der mittelalterlichen Liedkultur zu untersuchen, die Wert und Sinn transportieren können. Die Liedersind bislang nur aufden textlichen Sinngehalt gelesen worden. Um die Vielfalt klanglicher Sinnstiftunginden Übersetzungen des Mönchs-Korpus vorzuführen, werden im Folgendendrei Beispiele diskutiert.Sie weisen jeweils eine besondere Beziehung zwischendem Mönchs-Lied und seiner Vorlageauf. Im ersten Fall lässt sich an der Übersetzungdes Avevirginalis forma die untrennbareBeziehung zwischen stimmlichen Klängen, Text und Melodie ablesen und wie diese die spätere Überlieferung prägt.Inder zweiten und dritten Gruppe wende ich mich einer anderen Art vonklingender bzw.musikalischer Übertragungzu, nämlich der Kontrafaktur der Sequenz Mundi renovatio und den vermutlichen Kontrafakturen aufdie Lieder Sehtandie heide Gottfrieds vonNeifen und Mich jâmert ûz der mâze Wernhers vonHohenberg. Insgesamt veranschaulichen diese Stücke, wiedie Melodie und die akustischen Elemente eines Liedes zu einemeinheitlicheren Verständnisdes Lebens und möglicherweise auch der Wirkungdes volks- sprachlichengeistlichen Lieds führen können.

2Die swär in dewtsch-Lieder

Mein erstes Beispiel könnte man in Anlehnung an die Rubrik, die sich in der vermutlich ausdem Kloster Tegernsee stammenden Handschrift A(München, BSB, Cgm. 715) findet,als ein swär in dewtsch-Lied bezeichnen. Mit diesem Titel versieht der Rubrikator des Überlieferungsträgers vier deutsche Lieder (G 7, G26, G 39 und G47), die in Formulierung,Konstruktion und anderen Elementen der la-

 Den Erlebnisraum besser in die mediävistischeForschungeinzubinden war eins der Haupt- ziele des Projekts ,Experience of Worship in latemedieval Cathedral and Parish Church‘ an der Universität Bangor; vgl. Harper und www.experienceofworship.org.uk (25. April 2019).  Haug,S.101.  Neben Arlt, vgl. Fassler,bes. Kap. 12 und 13,zum Bedeutungspotenzial des Viktorinischen Sequenzenrepertoires. Ein ‚volles Lied‘. 67 teinischen Vorlageäußerst genaufolgen.²⁴ Die Kunstfertigkeit dieser textgetreuen Übersetzungenist bereits vonGunther Bärnthalerund Ingo Reiffenstein kom- mentiert worden.²⁵ Bärnthalerhat die Lieder, die ihre lateinische Vorlageformal und stilistisch genauer wiedergeben, vonanderen abgegrenzt,die formal freier aber inhaltlich präziser sind. Die letztgenannte Gruppe sollteden Text also einem lateinunkundigen Publikum eröffnen. Die swär in dewtsch-Liedtexte beweisen hingegen sowohl die Hochschätzungvon sprachlicherund formaler Virtuosität als auch das Bemühen des SalzburgerDichters, das lateinische Lied in seiner komplexen Gesamtheit zu übermitteln. Paradebeispiel für diesen übersetzungs- technischen Ansatz ist das Avebis grüßt, megdlich forme (G5), eine Verdeutschung vonJakobs vonMühldorf Sequenz Avevirginalisforma (Anal. hymn. 54,Nr. 243, S. 379 – 382).²⁶ Die Übertragung weist systematische und abgestufteÜbernahmen ausdem Lateinischen auf. Ichzitiere den Text der stilistisch äußerst anspruchs- vollen lateinischen Sequenz, den die Handschrift Aals ein swäres Latein be- zeichnet,nach der Handschrift München, BSB, Cgm. 716, fol. 90v–94r.Daneben gebe ich Burghart Wachingers Ausgabeder Übertragung des Mönchs nach der Handschrift U(Berlin,SBB, mgo137,fol. 158v–160v)wieder.²⁷

Ave, virginalis forma, Ia Ave bis grüßt,megdlich forme, Deitateplena norma, der gotheit ervoltenorme, Agni Syon templum. lammesSion tempel. Botrus cipri balsamatus, Ib Bintrub cyper balsam-tüftet, Austropneumatis perflatus die gots geist süß hat erlüftet In pacis exemplum. in frides exempel.

Cherenumen in prophetis, IIa Clar grüßt volgeist in propheten, Vere lumen, pax in metis, garsüßtvol- leist,frid in steten, Regnans virtus alma. blünder iugent palme. Dei caritateculta, IIb Der göt- li- chen schön ein zirde, Spei claritatefulta, gernöt-li- chen frönsin wirde, Pregnans mirtus palma. gründertugent galme.

 Die G-Nummern beziehen sich im Folgenden aufdie Ordnung der geistlichen Lieder des Mönchs in Spechtlers Ausgabe; vgl. Die geistlichen Lieder.  Vgl. Bärnthaler und Reifenstein. Vgl. auch März zur Ut queant laxis-Übersetzung, Das hell aufklimmen deiner diener stimmen (G 47).  Zu Jakobvon Mühldorf, vgl. Die geistlichen Lieder,S.17f.  Wachinger: Der Mönch vonSalzburg. ZurÜberlieferung,S.140 –144; die Verseinteilung des lateinischen Textes ist hier an den deutschenText angepasst. 68 David Murray

Engadinavitis mitis, IIIa Engadi beschnitten sitten Precium in margaritis, winreb, lust in margaritten, Casta generacio. küscher küsche küsch geburd. Forma que senile yle IIIb Forme, die materge erge Esse duxit ad subtile braht in höhster wesen kerge. Noysveneracio. götliche wird, eihtsiht wurd.

Gabaon in victoria, IVa Gabaon der stat sigeswunne, Sol lucens in gloria, sighaftiger sigessunne Iosuevictoris. Josue des kempfen. Honor thronigracie, IVb Höhstewirdder gnaden throne, Eous in facie, sonn in mittel brehndem frone Cornuti lictoris. Moisi on tempfen.

Iaspidina preclaritas Va Jaspis du stein, den der gloubhat Quam fides polivit, reinlich gepoliret. Aspidina disparitas des slangesschein mit brödem rat Quam numquam attrivit, den hat nie vergiret, In cor Evesata. der in Eveherz gespan. Karissimadeliciis Vb Karissima, liebst aller lieb, Affluens natura, wünschelflußnaturen, Clarissi[m]e viciis die reinste, ja on sünden stieb, Est palme statura din palm den figuren Tuasimilata wolsich zugelichen kan.

Leonis voxmox suscitans VIa Lebendigle- schre,der uns tunget Nos ab Adeclade vonAdame schame. Fenicis fos nos renovans des fenix glut frut uns junget Aletali mali vontödlichem krichen, Primevoprohemio das vonerst her uf uns doß. Maceria qua latuit VIb Megdlich steinwant,stant nam in dir Pellicanus sanus pelicanesane, Unicornis vis patuit einhurnessin in fluchtesgir Mortis virgo pirgo todes freide, meide Tuocastogremio. zart,indiner küschen schoß.

Noemi sine mara, VIIa Noemi du bist,die schön, on bitter gar; Clara cara gnara Sara, paradysus zwar war Sar klar; par-adise, In qua deus homo visus in dem gotmensch komzuwise Expers omnis criminis. fri voraller sünden spür. Orthodoxa fermata, VIIb Ordens rechte firmunge der trinitat, Nata grata data rata sata soli ratstat,pfat,sat.nat-ürlichen Regens cardines ac poli, erdund himelechs dir wichen, Stupor Dagonliminis. schrickt uf Dagonunder tür. Ein ‚volles Lied‘. 69

Porta clausa quam transivit VIIIa Port vercluset,die durchsleiche De Bosraformosus, vonBosrader schöne. Cuius pausa te sancivit, rein dich puset sin umbreiche, Ut flos fructuosus esses daz ein blum in fröne Fragrans omnia. du werstbrehnder selikeit. Quis appendit terre molem VIIIb Quis werhengetanerd laste Digitis tris dei? gots drien vingern einer? Qui comprendit patris prolem? iht wer fenget vaters glaste? Dic omater spei: osprich, muter reiner ‚Sancta egodomina‘. hoffnung: ‚ich frau, frauund meit‘.

Rubus moyisi fiscella, IXa Rötend Moisi stud, zistel, Incombustusinprocella, unverprant,inder werlde mistel- Mundi nans immobilis. flut die schwam on sünden rür. Splendor patris et figura, IXb Schin des vaters und figure, Factor factus creatura, schöpfer wart din creature, Tuavirgo nobilis. edle magt megdlicher kür.

Tu,caritatemedia, Xa Turechterlieb mit reiner mitt Thronus es constratus, bist ein thron bestrete. Tu cosmitollens tedia, du hast der werlde treg verquitt, Noe demonstratus, Noe zeichen stete, Pacetipus Iridis. fridlich regenbog, erkant. VirgoMaria domini Xb VraumagtMari, des herren Sabbaoth electa, Sabaoth erkesen. Tu unica spes homini du winrebonalles werren, Mentumquedelecta, menschen hoff, süß wesen. Iacob strophe viridis. Jacob list din kind ervant.

Xpisti Iesu mater,ave, XIa Xpisti Jhesu muter grüßig, Mortis anxioma grave wenn des todes not unmüßig Dum advenerit,dasuave mit uns werd, so tu schwer büßig. Vesper,reos ad conclave sur we mach uns,muter,süßig Collocans yerarchicum. in den thrönenseraphi. Yesse virga veni veni, XIb Yesse fron gert,kum,kum schiere. Duc in Bethel ductu leni für hin z’ Bethel uns zu dire, Ubi psallunt quarter seni. do da singent sehsstund viere Sense novalaude pleni altherren. eia, da ziere Euphonosseraphicum. uns in chören ierarchi. 70 David Murray

Zelotem deum patrem ora, XII Zart guldin, gotvater flege, Nato iube sine mora, schaff mit gotsun durch vermege, Amborum flamen implora, gotirbeider geist erwege, Ut uniti sint in prora, daß er ein des schiffes pflege Dum transimus rubrum mare. durch des wilden merestrone, Illic, iacob stella, clare, do lücht Jacobssterne frone, Ut possimus transfretare daß wir himelschiffen schone Tecum leti post examen. vorgericht in dinem namen. Fiat,fiat,Amen, Amen. das gescheh, das! Amen. Amen.

Neben der unvermeidlichen Übernahme vonEigennamen wird hier eine be- trächtliche Anzahl vonSubstantivendirekt übernommen (vgl. z.B. in Versikel I: forme, norme, tempel und exempel). Ebenfalls werden an anderen Stellen, auch wo es keinenAnlass in der Vorlagegibt,latinisierende Lexeme in den deutschen Text aufgenommen (z. B. materge IIIb, figuren Vb). Weiterhin bemüht sich der Autor,die Phoneme seiner lateinischen Vorlage akribisch wiederzugeben. In seiner wegweisenden Studie ‚VomKult zur Kunst‘ hat Bruno Quast diese Bewahrung vonVokalen ausder lateinischen Vorlageals „Positionalität“ bezeichnet.²⁸ Dieser poetische Ansatz seiein Versuch, den Körper des rituellen bzw.liturgischen Textes unangetastet zu bewahren und weiterzu- tradieren. Quastbetont damit den unschätzbaren Stellenwert der Ganzheitlichkeit eines LiedesimRahmen der mittelalterlichen religiösen Kultur.Sowirddas abecedarische Raster von Avevirginalisforma sorgfältigst übernommen, auch wenn das zur direkten Übernahme vonWörtern ausdem Lateinischen (Karissima, Vb)führt.Ineinem seltsamen Fall wird das lateinische Wort mit einem deutschen verdoppelt(Quis wer hengt an erd last,VIIIb). Diese Akribie als rein textbezogenzu betrachten, missachtet aber die eigentlichenCharakteristikaeines Liedes, denn bei einemLied handelt es sich nicht nur um ein rein textliches Objekt,sondern um die gesungene Verwirklichung des Textes in einer bestimmten Aufführungssi- tuation. Diese kontextbedingteperformative Verwirklichung einschließlich der Gesten des Vortragenden nennt Paul Zumthor das œuvre.²⁹ WesentlicherBe- standteil des œuvres ist neben einem Rezipienten also auch die Melodie. Im Fall des Avevirginalis forma trägt die ausgeschmückte Melodie erheblich zum ge- samtheitlichen Erlebnis des Liedes bei.Die Interaktion vonsprachlichem und musikalischem Schmuck führtzueinem mehrdimensionalen Bedeutungspoten- zial, das sich gutamBeispiel des siebten Doppelversikels des Avegrüest pist veranschaulichen lässt.Hier werden mit besonderer Feinheit die Vokale des raf-

 Quast,S.154–166,hier S. 164.Quast bespricht auch die SalzburgerÜbersetzung des Hymnus Ut queant laxis (G 47), S. 146 – 154.  Zumthor,S.92–94. Ein ‚volles Lied‘. 71 finierten lateinischen Vorlagentextes in die Volkssprache überführt.³⁰ Diese sind im folgendenAbdruckfett gesetzt:

Noemi sine mara Noemi du bist,die schön, on bittergar; Clara cara gnara sara Paradysus zwarwarSarklar; par-adise, Inqua deus homo visus in dem gotmensch komzuwise Expers omnis criminis fri voraller sünden spür. Orthodoxa fermata Ordens rechte firmunge dertrinitat, Nata grata data rata sata soli ratstat, pfat, sat, nat- ürlichen Regens cardines ac poli erd und himelechs dir wichen, Stupor dagonliminis schrickt uf Dagonunder tür.

Mit Blick aufdie Melodie wird aber deutlich, dass der Text nur die halbeSache ist, denn zum einen ergänzt die melodische Form die textlichen Verzierungen und zum anderen unterstreicht sie die Simplizität der absichtlich monoton gehaltenen Textformulierungen. Ichgebe die Melodie nach der Handschrift E(Wien, ÖNB, Cod. 4696,ff. 159r–167r)wieder:

Notenbeisp.1:Ave, grüest pist, magtleich forme,VersikelVII nachHs. E Anmerkung: Hs. Elässt im viertenVers des VII. Versikels die Notenreihec–a–g–b–aaus (vgl. Vers 8unten zu ‚und‘). Hs. A, die melodisch weniger zuverlässig ist,lässt dieses Melisma auch beiseite, aber versetzt die Notenreihee–d–c–eauf der erstenSilbevon ‚sünden‘ um eine Quinte nach oben.

 ZurPoetik des Avevirginalis forma,vgl. Szövérffy,S.62. Er beschreibt diese Sequenz als ein Beispiel der „mehr oder wenigermanieristischen Leichdichtung“. 72 David Murray

Augen- bzw.ohrenfälligindiesem Doppelversikel ist alsodie ungebrochene Verbindungder längeren Melismen am Ende des vierten und achten Verses, zu denen Paradysus und visus erklingen, mit einem einzigen Vokal. Im zweiten Vers des Versikels hingegen ist die Texturder Melodie syllabisch, und eine ganze Reihe vonVokalen wird genauwiedergegeben (zwarwarSarklar; par-adise und rat stat, pfat, sat, nat- ürlichen,VIIa,2 bzw.VIIb,2). Als Ganzes betrachtet stellt Ave grüest pist ein schönesBeispiel für die kompositorischen Möglichkeiten dar,die dem Lieddichter zur Verfügung standen. Die engeund grundlegende Beziehung zwischender musikalischen Faktur eines Liedes und der Übertragungsarbeit kann also nicht genugbetont werden. Diese swär in dewtsch-Stücke stellen alsonichtnur Übertragungen eines Textes oder seines Inhaltsdar,sondern auch die Übertragung jenes klingenden Erlebnisses bzw.jener körperlichen Handlung, die diesem Erlebnis zugrunde liegen. Sie reagieren damit aufdie Grundprinzipien der Vorlage, denn sowohl das Avevirginalis forma im Einzelnenwie auch die Sequenzenform im Ganzen,die sich ausder Verlängerung und Verzierung des letzten As des Alleluia entwickelte, beruht aufder Tragkraft klingender Vokale. Sie bewahren also nichtnur das ri- tuelle, textliche Objekt,sondern auch dessen tiefere handlungsbezogene Be- deutsamkeit.Wie schon angedeutet,kann dieser Wert nur im Rahmender Per- formanz und damit physisch entfaltet werden. DieseKörperlichkeit liegt dem gemeinschaftsstiftenden Sinn des rituellen Singens zugrunde, seiesimKontext des physisch kommunalen Singens oder in dem Bewusstsein, das ein Lied von anderen Menschen, die zwar körperlich nichtanwesend, aber spirituellverwandt sind, gesungen wird.³¹ In diesem Sinne sind swär in dewtsch-Lieder, die ein nicht klerikales Publikum fernhalten zu wollen scheinen, in der Tatradikaler ,demo- kratisierend‘ als rein text-bzw.inhaltsorientierte Übersetzungen. Denn der Ver- such in den swär in dewtsch-Liedern, geistliche Liederals klingende Einheiten weiterzutradieren, eröffnet einem lateinunkundigen Publikum ein Erlebnis,das dem ursprünglichen Lied viel nähersteht als in den Liedern, die allein den Inhalt übermitteln.

3 Mundirenovatio unddie mittelalterliche Kontrafaktur

Man muss aber auch über die Ganzheitlichkeit des einzelnenLieds hinausblicken. Eine bestimmte Melodie hat in der Erfahrung des Rezipienteneine kaum ablös-

 ZurRolle des klingenden Körpers in der geistlichen Gemeinschaft,vgl. Jones, S. 235f. Ein ‚volles Lied‘. 73 bare Beziehung zu einembestimmtenLiedtext.Die mittelalterliche Liedkunst war aber kein statischesFeld, und Dichter scheutensich nicht,metrische Raster und Melodien aufzunehmen. Die Ganzheitlichkeit eines einzelnen Liedeswar also langfristignicht unantastbar.Wie der Fall von Avegrüest pist veranschaulicht hat, ist es unmöglich, die einst in sich geschlossene Liedeinheit im Nachhinein in Musik und Text zu teilen, ohne dass dies zwangsläufigeSpuren im jeweils an- deren Bestandteil hinterließe. Vordiesem theoretischen und praktischen Hinter- grund muss man daher auch die beliebte kompositorische Praxis der Kontrafaktur betrachten. In der Kontrafaktur werden neue Texte komponiert,die einer schon bestehenden Melodie zugeordnet werden. Damit wird dem Dichter bzw.Kompo- nisten ein breites Feld für inhaltliche Bezugnahmen und Anspielungeneröffnet.³² Vonder Rezipientenseite ausbetrachtet,überträgt die Melodie also bestimmte Resonanzen einer vormals geschlossenen Liedeinheit aufeinenneuen Zusam- menhang.Welche Resonanzen dabei genauauf das neue Lied übertragen werden, hängt in hohem Maße vomindividuellen Zuhörer,seiner Erfahrung und seinen Kenntnissen ab.³³ In diesem Sinn entziehen sich die Beweggründefür die Kon- trafaktur oft den Normen wissenschaftlicher Analyse. Gleichesgilt auch für die Beurteilung, ob ein Versuch Neues zu Altem zu setzen erfolgreich war,dadies ebenfalls nur vomeinzelnen Rezipienten beurteiltwerden kann. Unter diesem Blickwinkel nahm das Lied Sälig sei der selden zit (G 17)inder Forschung eine problematische Stellung ein. Das Lied ist in drei vonacht Hand- schriften unter der Melodie des Mundi renovatio (Anal. hymn. 54,Nr. 148, S. 224– 227) überliefert.Esknüpftjedoch textlich nicht direkt an die Sequenz an. Hans Waechter und Franz Viktor Spechtler nennendas Stück in ihrer Musikausgabe daher „eine freie Dichtung aufdie Ostersequenz“.³⁴ Die Ostersequenz, die wahr- scheinlich im Pariser Viktoriner-Kloster entstand, war in Salzburgund dem süd- ostdeutschen Raum vorallem in einer fragmentierten Version bekannt.³⁵ Sie be- schreibt die AuferstehungChristi anhand vonFrühlingsmetaphorik (im zweiten Versikel heißt es etwa ResurgentiDomino, Conresurgent omnia). Im Gegensatz zum Mundi renovatio ist das Sälig sei der selden zit ein Lobpreis aufdie Gottesmutter als

 Vgl. Gruber, der Interaktionen im Rahmen der Kontrafaktur zwischen Dichtern romanischer Sprachen als grundsätzlich wettbewerbsorientiert auffasste.  ZurFrage mehrerer überlappendenRezipientenkreise eines Liedes, vgl. Murray.  Waechter,S.250.  Vgl. AH 54,S.226.Sie war auch Objekt einer wahren Übersetzung im Mönch vonSalzburg- Korpus (G 28, Aller werlde gelegenhait). Zu G28wie auch der Übersetzung Oswaldsvon Wol- kenstein, vgl. Straub. 74 David Murray

Vermittlerin der Ostergeschehnisse. Ichgebe den Text nach Spechtlers Ausgabe wieder.³⁶

ISälig sei der selden zeit, an der all mein frewdeleit, wann der liebe Jesus Christ vondem toderstanden ist. alle dingk vernewet sind, judengelaub der ist nu plint; sei gelobt,der magdekind.

II Christen und die kristenhait habeningot sicherhait; wer hie klagtsein missetat und in frewden lebt noch rat, der hat dort voraller not. frid uns vorder helle tot und auch speis mit der engelbrot.

III Himmel tuer in offen ist, sehent sie an underfrist Jesum und die mueter sein, die trait himmelischen schein, wenn in ir verslossen lag aller engelostertag; niemant sie volloben mag.

IV Sie ist aller engellob, sie ist der sterenvon Jacob, grüener pusch, der nie verpran. Salomon der weise man geleichet sie zu seinem thron und zu der gerten hern Aaron, und zwelf stern leuchten in irerkron.

VDaniel sach einen pergk, einen stain an mannes werk, Gedeon zaigtuns sein fel und sein porten Ezechiel, David mit der herphen sein lobt mit mir die frawen mein, lob sei ir vonmir gesait, gelobt sei all ir wirdikait.

 Edition:Spechtler,Die geistlichen Lieder,S.206–208. Ein ‚volles Lied‘. 75

Der Text weist hier eine gewisse Leerstelle auf, insofern Maria erst nach den ersten beiden Doppelversikeln, die zum einendie Auferstehungund den Frühling be- tonen und zum anderen das Heil für alle Gläubigebehandeln, in Erscheinung tritt.Der Betende muss aufden dritten Versikel warten, bis Jesu[s] und die mueter sein endlich auftreten. Erst dann widmen sich der vierte und fünfteVersikel der Mutter Gottes.Wie vielfältigdie sich daraus ergebenden Zuschreibungsmöglich- keiten waren, spiegeltsich in der handschriftlichen Überlieferungdes Lieds wi- der,insbesondere in den Rubriken, die dem Säligsei der selden zeit vorausgehen.

Hs. SiglumRubrik Notation

A München, BSB, Zw Ostern Ja Cgm. ,fol. r

B München, BSB, Vonvnnser lieben frawe(n) die Sequenczn zw Ja Cgm. ,fol. r Österleicher czeit

C München, BSB, Vonvnser fraue(n) zu der österlich(e)n czeit – (Reg) Cgm. ,fol. r

C München, BSB, Vonvnser lieben frawn zw der osterlicher zeit Ja Cgm. ,fol. v

D Wien,ÖNB, Cod. , Vonunser frawen Ja fol. r

F Wien,ÖNB, Cod. , Se(quitur) de b(ea)ta v(ir)gi(n)e p(salmus) pasca sub Nein fol. r melodia mundyr(e)nouacia

G München, BSB, Vonvns(er) lieb(e)n frawn zw ost(er)lich(er)zeyt Nein Clm. ,fol. r

J Wien,ÖNB, Cod. , Vonvnns(er) lieben frawn zü osterlich(er) zeit Nein fol. v

E München, BSB, Mvndi Renouacō Nein Cgm. /b, fol. v m Graz, UB ,fol. v [keine Überschrift] Nein

N München, BSB, Mundi Nein Clm. ,S.

Die unterschiedlichen Verknüpfungen, die die Rubrikenbezeugen, lassen sich in vier aufteilen. (1) Hs. Abezieht sich direkt aufOstern und verzichtet damit aufweitere Spezifikationen. (2)Hss. BCGJ nennen Ostern zusammen mit Maria und entsprechen damit eher der Hervorhebung der Gottesmutterim volkssprachlichen Text.(3) Hs.D,die berühmte Mondsee-WienerLiederhand- schrift,geht mit dem Vermerk unser frawen einen Schritt weiter und verdrängt 76 David Murray jeden Hinweis aufOstern. Diese drei möglichen Auffassungen des Sälig sei der selden zeit spiegeln eine langsame Verschiebung des Fokus vonder Auferstehung Christi aufseine Mutter hin wider.³⁷ Etwas anders sind hingegen die Hss. Eund N gelagert,die explizit aufdie lateinische Formvorlagehinweisen. Aufdie Frage, ob die beiden Vermerke als einfache Erinnerungen an die Melodie zu betrachten sind, kommeich gleich zurück. Die Rubrik in Hs. Fbringt die Tendenzen zu- sammen, einerseits die Anwendungder Sequenzexplizit zu erklären und ande- rerseits nur aufdie melodischeVorlagehinzuweisenund damit die österliche Verwendungdes Lieds festzustellen. Die letztgenannten Hss. FEN sind somitein sprechendes Beispiel für die virtuelle Mehrstimmigkeit,die durch die Kontra- faktur zustande kommt.³⁸ Gleichzeitig ist die virtuelle Mehrstimmigkeit aber auch eine Voraussetzung der Kontrafaktur,denn wenn auch nur ein Teil des Publikums nicht fähiggewesen wäre, die ursprüngliche lateinische Sequenzbeim Erklingen des Sälig sei der selden zeit auch inhaltlich ‚mitzuhören‘ und ‚mitzudenken‘,dann wäre das kompositorische Verfahren zwecklos gewesen.³⁹ Besonders augenfällig an der Ostersequenz Sälig sei der selden zeit ist,dass der SalzburgerDichter sie als Basis für eine Meditation aufdie alttestamentari- schen Vorversprechungen der Jungfrau Maria auswählt. Ostern ist nämlich in erster Linie die Feier der Erfüllungder göttlichen Prophezeiung.Dass die Got- tesmutter,die nur am Rande der biblischen Ostererzählungsteht,hier in den Vordergrund gerücktwird, ist ein typisches Beispiel für die langsame Verschie- bung des Fokus,die prägend für die Entwicklungder mittelalterlichen geistlichen Kultur ist.⁴⁰ So besteht die zweiteHälfte der deutschen Sequenz größtenteils aus einer Reihe marianischer Attribute: brennender Dornbusch (IV,3,vgl. Ex. 3,2– 4); Thron Salomos(IV,5,vgl.Cant.3,7)oder stain ane mannes werk (V,1– 2, vgl. Dan. 2,34). WieSpechtler in seiner Ausgabezeigt,sind diese Sinnbilder feste Bestandteile eines beliebten und oft benutzten Motivrepertoires des Salzburger Dichters.⁴¹ Der Grad der Personalisierungsteigt erst in den letzten vier Versen des Liedes an:

David mit der herphen sein lobt mit mir die frawen mein,

 Zu ,Aufmerksamkeitsverschiebungen‘ in der mittelalterlichen Dichtungwie auch in der me- diävistischen Forschung, vgl. Braun.  Zur ‚virtual polyphony‘,vgl.Deeming, S. 67.  Behr,S.98.  Fassler,S.5,beschreibt die mittelalterliche Liturgie treffend als „agreat wheel turningslowly, just behind “.  Die geistlichen Lieder,Anmerkungen, S. 206–208. Ein ‚volles Lied‘. 77

lob sei ir vonmir gesait, gelobt sei all ir wirdikait.(V, 5 – 8)

Wo im restlichen Text die Aussagen auseiner unbestimmten Perspektive kamen, wird hier die Ich-Perspektive angenommen und die Figurdes Komponisten nachdrücklich betont.Der Hinweis aufKönig David, seinen Gesang und sein Harfenspiel unterstreicht ebenfalls die Musikalität der Sequenz. Es spricht für sich selbst,dass diese Persönlichkeit,der biblische Sänger par excellence, gerade hier in den Vordergrundtritt,woder Sequenztext die Ich-Perspektive explizit an- nimmt. Die implizite Identifizierung des Dichters erklärt vielleicht auch die sonst überraschende Bezeichnung dieses Liedes als psalmus in der Hs. F. Die Tendenz zur Personalisierung in Sälig sei der selden zeit hat einigeAbschreiber anschei- nend dermaßen irritiert,dass all mein frewde (I,2)inden Hss. AGmdurch all unser frewd ersetzt wurde. DieIch-Aussagen im letzten Versikel blieben hingegen un- angetastet,dawohl erkannt wurde, dass die Abweichungbeabsichtigtwar. Wienotwendigesist, Mundi renovatio unter Sälig sei der selden zait mitzu- hören und sogar mitzufühlen,wird deutlich in der ausführlichen Rubrik der Hs.F.: Sequitur de beata virgine psalmus pasca submelodia mundy renouacia [sic]. Dieser Überlieferungsträger weist nämlich keine musikalische Notation auf. Der Schreiber hat sich folglich nicht aufdie Melodie stützen können,umdem Rezi- pienten die Totalität des Liedes vorzuführen.Wohl ausdiesem Grunde werden die meisten der zwanzig geistlichen Liederinder Handschrift mit lateinischen Ru- briken versehen, die sie entweder als submelodia oder secundum textum klassi- fizieren.⁴² Der zweiteFall fokussiert eher aufdie genaue Wiedergabe des textli- chen Inhalts,der erste Fall hingegenorientiert sich vorallem an der Melodie der Vorlageund rekurriert aufsie als sinnstiftenden Bezugspunkt.⁴³ Die Kontrafaktur baut nämlich wesentlich aufdem Bedeutungspotenzial der Melodie auf, die aber – wie das Klangliche im Allgemeinen – der Nachweltund der Forschung nicht immer einsichtig ist.Wieder handelt es sich um eine Überbrückung der EllipsezwischenText und Klangraum,die sich der Theorie entzieht. Eine attraktive theoretische Antwort aufdiese kritische Diskrepanz hat Susan Sontag 1964 im Schlusswort ihres Aufsatzes ‚Against Interpretation‘ angeboten. Sie diskutiert die Nutzbarkeit der althergebrachten Hermeneutik als Herange- hensweise an die Kunst der Nachkriegszeit und schlägt vor, einen Neuansatz zu wagen, der vondem Konzept der Erotik ausgeht.Indem Sontag die Sinne und das

 Achtzehn der Lieder stammen ausdem Mönch vonSalzburg-Korpus.Zweiunter ihnen (G13: Mittit ad virginem und G28: Mundi renovacio)sind neben den VerdeutschungenOswalds von Wolkenstein überliefert.  ZurDeutungder secundum textum und sub melodia-Etiketten, vgl. März, S. 296. 78 David Murray

Erlebnis des Rezipienten in den Vordergrund rückt,ist ihr Ansatz auch gutauf das geistliche Lied als Gesamtphänomen übertragbar.

What is importantnow is to recover our senses.Wemust learn to see more, to hear more, to feel more. […]The aim of all commentary on art now should be to makeworks of art – and, by analogy,our own experience – more, rather than less realtous. The function of criticism should be to show how it is what it is, even that it is what it is, rather than to show what it means. In placeofahermeneutics we need an erotics of art.⁴⁴

DiesesPlädoyerfür eine Erotik der Kunst hat wohl zum Boom der Sound Studies in den letzten Jahren beigetragen. In gewisser Hinsicht reformuliert SontagsAppell aber nur einen seit der Antike existierenden ästhetischen Diskurs,dem die Ter- mini dulcedo bzw. suavitas zugrundeliegen, für die Moderne. Die ,Süße‘ als höchstes ästhetischesZiel bzw.preisendes Attribut ist ein roter Faden, der sich durch die Gedankenweltdes gesamten Mittelalters zieht.⁴⁵ Beide Ansätze reprä- sentieren nämlich den Versuch, in der Kunstkritik einenPlatz zu schaffen für Dinge, die zwar kaum zu erfassen sind, sich aber gleichwohl harmonisch in einen Gesamtzusammenhang einfügen. Die Tatsache, dass diese ‚Süße‘ nur schwer zu fassen ist,macht sie zum idealen Sinnbild des kaum analysierbaren Beitragsder Melodie zu einemLied bzw.zum Gesang im Allgemeinen.Auch dies ist keine neue Idee.Die dulcedo wurdebereits seit dem neunten Jahrhundert mit der musikali- schen Aufführung und besonders mit dem Singen verbunden. Aurelianus Reo- mensishat etwa im fünften Kapitel seiner Musica disciplina den Anklang von mel in melodia hervorgehoben: Eufonia est suavitas vocis, haec et melos asuavitate vocis et melle dicta est, unde et melodia dicitur.⁴⁶ Ebenfalls treffend ist eine Be- merkungBernhards vonClairvaux, die die stimmliche Süße explizit aufdas geistlichen Singenbezieht: Iesus mel in ore, in aure melos,incorde iubilus.⁴⁷ So- wohl in der jüngeren wie auch der älteren Auffassung steht die sinnliche Kohärenz eines künstlerischen Produkts im Vordergrund. Es ist die Harmonie (im übertra- genen Sinne),die den Erfolgund damit den Wert eines Liedes ausmacht.Dabei kann sie zugleich wesentlich zum religiösen Wert des jeweiligenLiedes beitragen. Unter diesem Blickwinkel wende ichmich wieder dem Sälig sei der selden zeit zu. In diesem Fall mündet die Entscheidung, einen neuen Liedtext überdie Gottesmutter zu komponieren und ihre Rolle in der Ostergeschichte mithilfe der Melodie einerbekannten Sequenz neu zu deuten, in eine neue Liedeinheit sowie in eine verschobene Vorstellungvon Maria. Die Bausteine dieser neuen Verbin-

 Sontag, S. 14 (Hervorhebungder Autorin).  Vgl. Carruthers.  Aurelianus Reomensis,Kap.5–6, S. 69.  Bernhardvon Clairvaux: 15.6,1:86. Ein ‚volles Lied‘. 79 dungwaren aber ausdrücklich nicht miteinemintellektuellen, sondern mit einem affektivenWert beladen.MargotFassler hat dargelegt, wie entscheidend das Ge- webe melodischer Wiederholungenund Variationen zwischeneinzelnen Se- quenzen für ihren Wert als System war.⁴⁸ WieFassler anhand des viktorinischen Sequenzenrepertoires demonstriert,waren diese Beziehungennicht nur musi- kalisch bedeutend, sondern hatten auch gemeinschaftsstiftende Kraft und spie- gelten die Ordensgeschmeinschaft als Körperwider.⁴⁹ Diese Beziehungenver- deutlichen eindrucksvoll die Rolle, die emotionale Assoziationen in der mittelalterlichenLiedkultur hatten. Eng mit Melodie und Klang verbunden,un- termauerten sie die ‚Süße‘ und damitden Wert einesLieds.

4Kontrafakturen weltlicher Vorlagen

Als letzten Schritt ziehe ich einen Fall heran, in dem es keine erkennbare Bezie- hung zwischendem SalzburgerLied und dem Text seiner vermuteten melodi- schen Vorlagegibt.Diese weicht nicht nur im Inhalt ab, sondern gehört auch zur Gattung des weltlichenLieds. WieGisela Kornrumpf aufgezeigt hat,ist Maria pis gegrüsset (G 12) – eine strophenweise Auslegung des AveMaria – eine Kontra- faktur des einstrophigenMinnelieds Wernhers vonHohenberg Mich jamert ûz der mâze (SMS XXVI, 4).⁵⁰ Angesichts der eingangsbesprochenen wissenschaftlichen Gewohnheit,Text und Musik strikt auseinanderzuhalten, könnteman dazu nei- gen, Maria pis gegrüsset als treffendes Beispiel für eine unüberbrückbare Kluft im Herzen der Liedkultur zu betrachten. Das muss aber nicht unbedingt der Fall sein. Die suavitas, die als Leitziel des mittelalterlichenKunstwerkes im Allgemeinen und des Liedes im Besonderen aufgefasst werden kann, erlaubt nämlich groß- zügigen Raum für signifikante Unterschiede. Sie kann nicht nur als schön abge- stimmte Süßigkeit verstanden, sondern auch als Salz beschrieben werden.⁵¹ Hier handelt es sich nicht um die willkürliche Heranziehung einer beliebigen ‚schönen‘ Melodie, sondern um ein Kunstwerk, das seine Wirkungaus dem dichten Netz- werk der Liedkunst bezieht. DiesesNetzwerk schließt sowohl Weltliches wie auch Geistlichesein, und dieser Brückenschlagist besonders prägnant im Fall des SalzburgerKorpus, das,

 Fassler,S.300: „[…]the entireinterrelated complex resonated with ahost of associations. A mind which contained all threesequences [sc. Dulce lignum, Laudes crucis und Zima vetus]would hear all threeofthem each time anyone of them was sung“.  Fassler,S.267– 269.  Wachinger: Der Mönch vonSalzburg.Zur Überlieferung,S.127,Anm. 11.  Carruthers, S. 1000f. 80 David Murray wie eingangsbemerkt,amHof des anscheinend nicht übermäßig frommen Erz- bischofs Pilgrim II.vonPuchheim enstand.⁵² Dies lässt sich gutanhand der Lieder Magd hochgeporn (G 20)und In gotes namen (G 38) darlegen.⁵³ Das erste ist ein Mariengebet ausder Wir-Perspektive.Jede Strophe fokussiert eine bestimmte Szene ausder Heilsgeschichte, und alle Strophen schließen mit einer Anrufung Mariens. Das Stück ähnelt somit insgesamt der lateinischen Hymnendichtung. Das zweiteLied, ebenfalls ausder Wir-Perspektive verfasst,ist eine lehrhafte Auflistung der eucharistischen Mysterien und betont die Notwendigkeit,ein gutes und reines Leben zu führen, um sælde erlangen zu können. Gisela Kornrumpfhat daraufaufmerksam gemacht,dass beide Liederdasselbe metrische Raster wie Gottfrieds vonNeifen Sehtandie heide (KLD 15,XX) aufweisen.⁵⁴

AAbA a- b- a- b a-a-c a- b- a- b a-a-c d- e d- e- d- e d- e- c

Die KolmarerLiederhandschrift nennt dieses Raster dez muches hoffdon (Mün- chen, BSB, Cgm4997, fol. 645r)und unterstützt damit die Erwartungeiner Melodie ausdem weltlichen Bereich. WieStefan Rosmer jedoch kürzlich dargelegt hat,ist die melodische Form des Liedes (AABA)eher der lateinischen Liedkunst als den Meisterliedern oder dem Minnesang verwandt.⁵⁵ Er demonstriert,wie die D-f Harmonik des Stegsmit der C-g Harmonik der Stollen kontrastiert und dass sich der Melodieanfang am achten Psalmtonorientiert. Diese beiden Charakteristika wie auch die Einheitlichkeit der Melodie weisenauf eine ursprünglich klerikale Herkunft hin. Der wahrscheinliche Ausgangspunkt war also vermutlich nicht das bekanntevolkssprachliche Lied. Entweder gabeseine andere Vorlageoder eine lateinische Zwischenstufe oder die Melodie ist speziell für das Magd hochgeporn und das In gotesnamen komponiert worden. Im ersten Fall würdesich also der Versuch bemerkbar machen, die Resonanzen eines wohl lateinischen Liedes auf den neuen Liedtext des Mönchs zu übertragen. Im zweiten Fall (wenn die Melodie eine Komposition des Mönchs war)hieße das, dass der Mönch die Resonanzen einer ganzen Liedtradition aufein bestehendes Raster übertragen wollte. In jedem Fall sind die Melodie und der Einsatz vonAnklängen durch den Mönch integraler Bestandteil der kaleidoskopischen – oder besser kaleidophonischen – Darbietung

 Zumerzbischöflichen Hof, vgl. Rosmer:Höfische Liedkunst im Kloster,und Schneider, S. 77–90.  Editionen: Die geistlichen Lieder:G20,S.215–218; G38, S. 296–300.  Kornrumpf: Bespr.zuWalther Röll, S. 19.  Ichmöchteandieser Stelle meine Dankbarkeit an Herrn Rosmer ausdrücken, der mir freundlicherweise einen Einblick in seine Monographie gegeben hat. Ein ‚volles Lied‘. 81 dieser Lieder.Esist dementsprechend Rosmers große Leistung,die Liederaus dem Mönch vonSalzburg-KorpusimKontext einer breiten und bunten Liedkunst darzustellen, die weit überdie weltlich-geistliche Grenze hinausgeht und in einer reinen Textanalyse verlorengegangenwäre.⁵⁶ DieserbreiteHorizont lässt sich ebenfalls am Beispiel des Maria pis gegrüsset veranschaulichen, das, wie bereitserwähnt,auf eine weltliche Formvorlagezu- rückgeht.Das Lied teiltnämlich die ‚ungewöhnliche‘ Strophenform mit dem einstrophigenMinnelied Wernhers vonHohenberg Mich jâmert ûz der mâze, das ausdem frühen vierzehnten Jahrhundertstammt.⁵⁷

Mich jâmert ûz der mâze 1 nâch der vil lieben vrouwen min. gotalle die verwâze, durdie ich schiuhen muoz ir wîplîch zartez bilde 5 ir mündel rât, ir wengel schîn: sol mir daz wesen wilde, dâ bî ir friuntlich gruoz, ir kinne, ir kel, ir goltvar hâr, ir hende, ir arme blanc, 10 ir lîp, ir nas,irougen klâr, sol ich daz lange mîden, sô muoz ich kumber lîden und wirde an fröiden kranc. (SMS XXVI, 4)

Die BeziehungzwischenMaria und dem wîp mit dem zarten bilde ist nur ober- flächlich: Die Charakteristikader lieben vrouwen werden etwas unsystematisch vorgeführt,und das Lied könntevielleicht als Bitte um weiblicheIntervention beschrieben werden. Die suavitas und der Genuss dieser Liederfußen aber vor allem aufden Sinnen und erst danach aufdem Intellekt.⁵⁸ Hören wir alsozuerst der Melodie zu. Ich gebe Text und Melodie nach der Handschrift Dwieder, aufder Spechtler seine Ausgabeaufbaut.

 Haug,S.99, vermutet ähnliche Übereinstimmungen zwischen den geistlichen und jetzt ver- lorenen weltlichen Liedern Peter Abaelards.  Schiendorfer,Sp. 938.  Carruthers, S. 999,betont die mittelalterliche Auffassung, derzufolge die Ästhetik zwischen der sinnlichen und der intellektuellen Ebene vermittelte. 82 David Murray

Notenbeispiel2:Maria pis gegrüsset (G12) in Text und Musik nach Hs. D

II Genaden hast du funden,  die Eva uns verlorenhat, gib wider,frau, zu stunden, wann unser ist dein fund. durch uns pist gereichet das gotdurch dich tut und auch lat,,  das nieman dir geleichet, das ist an dir wolkund. du hast genad auch und gewalt mit uns zu aller frist, dein zärtleich junkfräulich gestalt  sol uns genad erwerben, erwend uns ewigssterben seind du genädigpist. Ein ‚vollesLied‘. 83

III Got ist mit dir verainet,  das er dem sünder zürnet nit, den dein genad wolmainet, darumb warderdein kint. wie oft wir sünd begingen, das wir denn durch dein fleglich pit  genad vonimenpfingen, die niemand an dich fint. owie gar selig küssen drukt dein mund an kindleins mund, do er sich an dein brüstlein smukt  und saugtandeinem herzen. man in an kindlich scherzen, sprich: ‚pis mit in all stund‘.

IV Du pist ob allen weiben gesegnet,das die warhait muss  das wunder vondir schreiben, das muter magt mag sein und wort zu fleisch ist worden, da prach an dir der englischgruss den natürlichen orden,  das nie an weib wardschein. dein vater ist dein kind mit recht, das wold gotsein durch dich, der edlist herr ist worden knecht, der für uns hat geliten,  durch den, frau, wir dich piten: gesegn uns ewiklich.

V Deins leibes frucht geseget ist,Jesus Christ,der cih verparch zu dir vil rainer meget,  der uns durch dich erlost. du pist fraualler engel, der trinitat ain edler sarch, der selikait umbvengel, des sünder höchster trost.  dich pitt die ellen christenhait in disem jamertal, gib uns zu deiner frucht gelait, das wir in gotesnamen zu himel varen, amen,  in aller heiligen zal.

Die Melodie von Mich jamertûzder mâze ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie hat erstens eine außergewöhnlich breite Spanne von A bis d‘,die auch extrem 84 David Murray tief beginnt: Töne unter c treten im sonstigen Mönchs-Korpus sehr selten auf. Auffällig ist zweitens ihre Konstruktion ausleicht variierenden und mehrmals wiederkehrenden Einheiten. So tritt beispielsweise eine Variation der Melodie des Verses 3(γim Schema unten) fünfmal hervor.Inden Versen 4und 8endetdie Notenfolge jeweils um eine Quarte und Quinte höher und erscheint letztlich in vereinfachter Form im letzten Vers der Strophe. Die Wiederholungder Melodie des zweiten bzw.vierten Verses (β im Schema unten) um eine Sexte höher im Abge- sang trägt ebenfalls zur Einheitlichkeit der Melodie bei. Die Explikation eines Verses des AveMaria,die in jeder Strophe erfolgt,führt also musikalisch nicht weit vomkanonischen Ausgangspunkt weg.Sie entspricht aufdiese Weise dem wiederkehrenden c-Reim,der die Stollen zusammenbindet.Die einheitliche Struktur der Melodie mit ihrer progressivenWiederholungeignet sie besonders gutfür die piae exercitiae.

Stollen  Stollen  Abgesang

Vers   

G a b a c d e d c f  g f  h‘  h‘  g

Wernher a‘ b a‘ c d‘ b d‘ c e f e  g‘  g‘ f

Melodie αβγγ’ αβγγ’β’δβ’εζγ’ Die suavitas der neuen Liedeinheit im Korpus des Mönchs vonSalzburgliegt also in der Zusammensetzung vonElementen, die die Charakteristikades Vorlagelieds neu werten und erfolgreich ausnutzen kann. Dies geschah nicht nur im Salzburger Fall, sondern mehrfach in der langen Geschichte dieses Rasters und der ver- wandten Melodie. Das metrische Raster von Mich jâmertûzder mâze bzw. Maria pis gegrüsset kommtinzwei anderen Fällen ebenfalls vor: in drei SprüchenimSt. Marienthaler Psalter,die wohl vonWernher stammen, und in zwei Mariengebeten ausdem Thurgauer Kloster St.Katharinenthal, die in der ersten Hälftedes 14.Jahrhunderts entstanden.⁵⁹ Dieser Beispielfall steht damit metonymisch für die komplexeSinnstiftunginder mittelalterlichen Liedkunst,deren Motor überwie- gend musikalisch war.

 ZurDatierungdes St.MarienthalerPsalters, Kornrumpf: Drei unbekannteSangsprüche, S. 87. Die Mariengebetesind ediert worden in Kornrumpf: VomCodex Manesse,Bd. 2, B. 8. I-II. Ein ‚volles Lied‘. 85

5Fazit. Ein ‚volles Lied‘

Nach den vorausgehenden Analysen ist es wenigüberraschend, dass der Mönch in der dritten Strophe von In gotes namen (G 38) das Gehör als herausragenden und glaubwürdigsten Sinn preist.⁶⁰

Griff, plikchund smekchen, versuechen in dem mund wil gothie nicht endekchen, wann uns villeicht würdchundt in der fromerschrekchen: gehort allein sol klekchen Für allen zweifel gar. Das gotvolstrekchen Wilseine wort all stund, chain zweifel las erstrekchen den sin im herzengrunt, falsch las dich nicht hekchen, die worhait sol dich wekchen, nim der bezaichungwar. vier sin betören TetJacob Ysaac zwar, doch gabgehören den segen sunderbar, darinn las dich nicht stören verzweifel noch gevar, so wil dich gotenbören in seiner engel chören bei seiner gothait chlar.

Ichhabeversucht zu veranschaulichen, wie das Gehör auch in Analyse und In- terpretation der leitende Sinn sein sollte. Lauscht man nämlich aufmerksamer, kann mandas hören, was ich als ein ‚volles Lied‘ bezeichnen möchte.⁶¹ Ichhabe diesen Beitragmit einem Übertragungsverfahren eröffnet,das den Abstandzwi- schen Sprache, Melodie und Klang genaudort überbrückt,woder körpernahe Wert der erklingenden Handlungsitzt.Das ‚volle Lied‘ beschränkt sich nicht nur aufsein hermeneutisches Potenzial, sondern schließt im Sinne vonSusan Sontag auch den ‚erotischen‘ Wert seiner Form und seiner geistigen und klingenden Kontur mit ein. In meinem zweiten Beispiel – Mundi renovatio – wurden Sprache

 Die geistlichen Lieder,S.297 f.  Vgl. Stock. 86 David Murray und Melodie voneinander abgekoppelt, damitder Dichter einenneuen Konnex zwischenMaria und Ostern erstellen konnte. Dieser Konnex verlässt sich aufdas Rüstzeugder Melodie für seine neue komplexeBedeutung. Das ‚volle Lied‘ bedeutet also, dass man Text und Melodie nicht als separate Eigenheiten auffasst,sondern seine lebensweltlich verwurzelteExistenz als Teil einer oder mehrerer klanglicher Traditionenmiteinbezieht.Das ‚volle Lied‘ schließt (wie Zumthors œuvre)ebenfalls seine Verwirklichung in der Aufführung ein und berücksichtigt auch das Netz der Resonanzen und Anklänge, die im Rezipientenausgelöst werden. Das habe ich mit meinem dritten Beispiel vorge- führt.Wer Lieder im eigentlichenSinne als Lieder behandeln will, muss ein breites Spektrum an Elementen einbeziehen, die aufgrund ihrer Flüchtigkeit und sub- jektivenNatur oft nur schwer greifbar sind. Der Versuch lohnt sich aber,wenn dadurch das Lied in seiner Fülle zum Erklingen gebracht werden kann.

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