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2017-08-29 12-14-23 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0270470364471364|(S. 1- 2) VOR3893.p 470364471372 Aus:

Boris Queckbörner Englands Exodus Form und Funktion einer Vorstellung göttlicher Erwählung in Tudor-England

September 2017, 598 Seiten, kart., Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3893-6

Die Überzeugung, von Gott erwählt zu sein, prägte die englisch-britische Geschichte nach- haltig. Doch wann und wie kam es dazu, dass sich diese Vorstellung so eng mit der engli- schen Identität verband? Boris Queckbörner analysiert den ideengeschichtlichen Entwicklungsprozess der engli- schen Reformation zwischen den Herrschaftszeiten Heinrichs VIII. und Elisabeths I. Der alttestamentliche Exodus fungierte hierbei als Orientierungswissen und argumentativer Bezugspunkt, um reformatorisches Gedankengut zu vermitteln. Vor allem ermöglichte das biblische Narrativ es, bestehende Wissensbestände und alte Gewissheiten zu diskursivie- ren, neu zu ordnen und darüber letztlich Innovationen zu schaffen und zu legitimieren. Die gesellschaftliche Verfestigung des Glaubens an die göttliche Erwählung Englands muss dabei als ein wesentliches Resultat dieser kontinuierlichen Verargumentierung angesehen werden.

Boris Queckbörner (Dr. phil.), geb. 1982, Historiker, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Kassel.

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2017-08-29 12-14-23 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 0270470364471364|(S. 1- 2) VOR3893.p 470364471372 Inhalt

Vorwort | 9

A. Einleitung | 11 1. Thema und Fragestellung | 11 2. Forschungsstand | 16 3. Aufbau der Studie und Vorgehensweise | 31 3.1 Theoretische Vorüberlegungen: Erwählung als ‚politische Idee‘ | 31 3.2 Das methodische Vorgehen | 42 3.3 Das Quellenkorpus und die frühneuzeitliche Öffentlichkeit | 50 3.3.1 Die Quellen | 50 3.3.2 Publizistik und vormoderne Öffentlichkeit | 54

B. Konstruktion einer ägyptischen Knechtschaft, Auszug aus ‚Ägypten‘ und die Erwählung des Königs (c. 1527 – 1538) | 65 1. Der von Gott erwählte Herrscher: Eine erste Annäherung | 65 2. The King’s Great Matter und die Suche nach Wahrheit | 73 2.1 Die Censurae und Determinations – Auf der Suche nach Determinanten | 80 2.2 Invicta veritas – Der Kampf um die richtige Wahrheit | 88 3. ‚Antiklerikalismus‘ und die englische Klerisei: Die Mosaische Unterscheidung in England | 93 3.1 Pardon of the Clergy | 94 3.2 Der englische ‚Antiklerikalismus‘ | 96 3.2.1 Der politische Einfluss des Klerus | 102 3.2.2 Reichtum und Dekadenz des geistlichen Standes | 110 3.2.3 Fegefeuer und Erlösung – Die sakrale Macht des Klerus | 118 3.2.4 Die soziale Stellung der Geistlichkeit | 126 3.2.5 Das ‚hohe Alter‘ antiklerikaler Kritik: Die Vereinnahmung des lollardischen Erbes | 136 3.3 Zusammenfassung | 147 4. Die Erwählung des Königs: Absicherung und Legitimation einer inno- vatorischen Politik | 148 4.1 Die Collectanea satis copiosa | 148 4.2 Der Act of Supremacy und die Institutionalisierung der königlichen Erwählung | 151 4.3 Die öffentliche Repräsentation des Königs als Gottes erwählter Herrscher | 155 4.3.1 Vom Byshop of Rome zum ägyptischen Pharao: Die öffentliche Zurücksetzung des Papsttums | 160 4.3.2 Vicarius Dei: Die Instituierung der königlichen Erwählung im öffentlichen Diskurs | 172 4.3.3 Die königliche Erwählung im Spannungsfeld zwischen David und Moses | 181 4.4 Zusammenfassung | 195 5. Kritik und Ausbau der königlichen Erwählung in zeitgenössischen Konflikten | 197 5.1 Die Pilgrimage of Grace | 199 5.2 Die äußere und innere Form der Pilgrimage | 203 5.3 Gemeinwohlschädliche Reformen: Die Themen der Pilgrimage of Grace | 212 5.4 Das Commonwealth und die königliche Erwählung: Die Entstehung einer neuen Heilsgemeinschaft | 226 5.5 Zusammenfassung | 241 6. Zwischenfazit: Ägyptische Knechtschaft und der Beginn des Exodus | 243

C. In der Wüste: Die frühen Regierungsjahre Eduards VI. (1547 – 1550) | 247 1. Ein neues Regime | 247 2. Das erwählte Volk in der Wüste: Philip Nicolls | 251 3. Das ‚Murren‘ in der Wüste: Die Prayer Book Rebellion | 266 3.1 Der historische Kontext | 269 3.2 Die Forderungen der Aufständischen und der Aufbau einer henrizianischen Tradition | 272 3.3 Zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens oder weiter ins gelobte Land? Reaktionen auf die Prayer Book Rebellion | 289 3.3.1 Die Stilisierung der Prayer Book Rebellion als Murren in der Wüste | 289 3.3.2 Der Weg aus der Wüste: Ablehnung ‚Ägyptens‘ und weitergehende Reformen | 299 3.4 Zusammenfassung | 317 4. Der Krieg mit Schottland und die Externalisierung der englischen Erwählung | 320 4.1 Die ‚britische Perspektive‘: Ein Erbe Heinrichs VIII. | 321 4.2 Ein britisches ‚Manifest Destiny‘: Die Externalisierung der englischen Erwählung | 329 4.3 Zusammenfassung | 348 5. Zwischenfazit: Ein Volk in der Wüste | 350

D. ‚Probleme in Kanaan‘: Irland und der Nine Years War (1594 1603) | 353 1. Der irische Kontext in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts | 353 2. ‚God is English‘: Englische Bundesvorstellungen unter Elisabeth I. als Grundlage der irischen Entwicklungen | 361 3. ‚To Fashion a Rebellion‘ – der Neunjährige Krieg aus katholischer Sicht | 377 3.1 Die Rolle des Papsttums: Der Heilige Kreuzzug | 382 3.2 Faith & Fatherland | 392 3.3 Verhandlungen mit Spanien | 399 3.4 Katholischer Exodus und die Suche nach einem Gott gesandten Erlöser | 402 3.5 Zusammenfassung | 415 4. ‚Probleme in Kanaan‘ – Irland und der Neunjährige Krieg aus englisch-protestantischer Sicht | 417 4.1 Irland als zweites Kanaan I: Das fruchtbare Land | 423 4.2 Irland als zweites Kanaan II: Die kanaanitischen Völker | 429 4.2.1 Der biblische Kontext | 431 4.2.2 Die kulturelle Andersartigkeit der Iren: Der englische Barbarendiskurs | 434 4.2.3 Die religiöse (kultische) Andersartigkeit der Iren: Katholizismus und Paganismus | 452 4.3 Der Bruch des Bundes: Alt-englische Degeneration und neu-englische Erwählungspolitik im Zuge des Neunjährigen Krieges | 462 4.3.1 ‚When gentlenesse preuaileth not, / then rigour taketh place‘: Radikale Reformpolitik | 473 4.3.2 ‚A God given just Occasion‘: Erwählungspolitik im Neunjährigen Krieg | 488 4.4. Zusammenfassung | 496 5. Zwischenfazit: Erwählunspolitik als Erneuerung des Bundes | 498

E. Schlussbetrachtung | 501

F. Anhang | 509 Abkürzungsverzeichnis | 509 Abbildungsverzeichnis | 510 Quellen | 510 Literatur | 531 A. Einleitung

1. THEMA UND FRAGESTELLUNG

„Seit dem späten Mittelalter oder der frühen Neuzeit gibt es im Westen eine charakteristische Methode, über politischen Wandel nachzudenken – ein Muster, das wir den Ereignissen in der Regel auferlegen, eine Geschichte, die wir einander weitererzählen. […] Dies ist keine Geschichte, die überall erzählt wird; sie stellt kein universelles Muster dar, sondern sie gehört dem Westen, insbesondere Juden und Christen im Westen, und ihre Quelle, ihre ursprüngliche Version, ist der Exodus Israels aus Ägypten.“1

Laut Michael Walzer bildet die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus ägypti- scher Gefangenschaft, ihre Wüstenwanderung, der Bund mit Gott sowie der Einzug ins Gelobte Land einen konstitutiven Bestandteil der europäisch-westlichen politi- schen Kultur.2 Die besondere Kraft des Exodus-Narrativs liege darin, dass es einen Emanzipationsprozess beschreibe, in dessen Zuge aus einer Schar entlaufener Skla- ven eine neue Gemeinschaft entstehe. Hierzu leiste die Erzählung einen wichtigen Beitrag, weil sie ein Reservoir an Bildern, Ideen und Wertorientierungen bereitstelle und damit eine Blaupause bilde, um das kollektive Handeln jener neu gebildeten Gemeinschaft mit einem Präzedens zu versehen und somit zu fundieren.3 Skadi Krause und Karsten Malowitz bemerkten in ihrer Auseinandersetzung mit den The- sen Walzers dazu:

„Was eine Gemeinschaft ist und sein will, hat einen Halt in den politischen Bildern und den mit ihnen verknüpften Wertorientierungen, über die sich die Handelnden definieren. Sie strukturie-

1 Michael WALZER, Exodus und Revolution, Frankfurt a. M. 1995, hier Nachdruck Frankfurt a. M. 1998, S. 141. 2 Jüngst hat Jan Assmann eine ähnliche These vertreten. Siehe Jan ASSMANN, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015. 3 Walzer betont in diesem Zusammenhang, dass das Exodus-Narrativ ein Präzedens für eine Politik ohne Präzedens in der Erfahrung der zeitgenössischen Akteure bilden konnte. Siehe WALZER, Exodus und Revolution, S. 99 sowie die Argumentation S. 92-106. 12 | ENGLANDS EXODUS ren gewissermaßen den Horizont, innerhalb dessen die Identität einer politischen Gemeinschaft gestiftet, diskutiert, bestärkt oder verändert wird.“4

Die vorliegende Arbeit widmet sich ganz in diesem Sinne dem Exodus des engli- schen Gemeinwesens, wie er unter Heinrich VIII. begonnen und seinen Höhepunkt mit der Vorstellung eines Bundes (covenant) zwischen England und Gott unter Elisa- beth I. gefunden hat. Innerhalb dieser Phase, die zwischen 1530 und 1603 angesetzt werden kann, kam es immer wieder zu Aneignungs- und Aktualisierungsprozessen des biblischen Exodus-Narrativs. So imaginierte zum Beispiel der Autor John Pylba- rough in einer Flugschift mit dem Titel „A commemoration of the inestimable graces and benefites of God“ von 1540 die Errungenschaften der unter Heinrich VIII. einge- führten Reformen in deutlicher Analogie zum israelitischen Exodus:

„And we newely adoptiue Israelites from the sayde thraldome of the sayd byshop, through the same worde also, no lesse wonderfully delyuered into great welthe and ioye by our most godly captayn the kynges highnes, then were our forefather Israelites from the captiuitie of the tyran- nous Pharao into the plesaunt land of promission by theyr holy prophete and leader Moyses.“5

Das Motiv des mosaischen Befreiers, der sein Volk aus einer päpstlichen Unterdrük- kung errettet, wurde in diesem Zusammenhang gerne mit der Veröffentlichung einer volkssprachigen Bibel in Verbindung gebracht.6 Deren Publikation setzten englische Reformatoren oftmals mit der Befreiung aus Ägypten gleich. In diesem Sinne muss auch die bildliche Darstellung des Durchzugs der Israeliten durch das Rote Meer in

4 Skadi KRAUSE / Karsten MALOWITZ, Michael Walzer zur Einführung, Hamburg 1998, S. 99. 5 John PYLBAROUGH, A commemoration of the inestimable graces and benefites of God […], London 1540 (STC2 20521/Bodleian Library), fol. Civv; zu Pylbarough siehe die Be- merkungen bei Alec RYRIE, The Gospel and Henry VIII. Evangelicals in the Early English Reformation, Cambridge 2003, S. 60f; James K. MCCONICA, English Humanists and Re- formation Politics under Henry VIII and Edward VI, Oxford 1965, S. 192. 6 Miles COVERDALE, Biblia. The Bible, that is, the holy Scripture of the Olde and New Te- stament, faithfully and truly translated out of Douche and Latyn in to Englishe, Antwer- pen[?] 1535 (STC2 2063/British Library), Widmung fol. iir-ivr, hier bes. fol. ivr. Der Druckort der Bibelausgabe ist nach wie vor umstritten. Ältere Arbeiten schwankten zwi- schen Marburg und Köln. Neuerdings wird verstärkt für Antwerpen plädiert. Siehe Guido LATRÉ, The 1535 Coverdale Bible and its Antwerp Origins, in: Orlaith O’Sullivan / Ellen N. Herron (Hgg.), The Bible as Book. The Reformation, London 2000, S. 89-102; Henry PARKER (Baron Morley), The exposition and declaration of the Psalme, Deus ultionum Dominus, London 1539 (STC2 19211/Bodleian Library), fols. Aiiir, Bivr-Bvv, Bviir, Ciiir; 2 Katherine PARR, The lamentacion of a synner, London 1547 (STC 4827/Cambridge Uni- r-v versity Library), fol. Dvi ; weitere Vergleiche dieser Art schildern John KING, Tudor Royal Iconography. Literature and Art in an Age of Religious Crisis, Princeton 1989, S. 74f und Brett FOSTER, „Types and Shadows“: Uses of Moses in the Renaissance, in: Jane Beal (Hg.), Illuminating Moses. A History of Reception from Exodus to the Renaissance [Commentaria 4], Leiden/Boston 2014, S. 353-406, hier S. 373-387; vgl. auch Abschnitt B, Kap. 4.3.3. EINLEITUNG | 13 der 1560 veröffentlichten Geneva-Bible interpretiert werden, wo das Motiv gleich drei Mal an exponierten Stellen auftaucht: Auf dem Titelblatt der Bibelausgabe, an der entsprechenden Stelle im Buch Exodus und nochmals zu Beginn des Neuen Te- staments.7 Über einen Entwicklungsprozess, der im Folgenden genauer untersucht werden soll, erreichte die Applikation von Motiven und Themen des Exodus-Narrativs unter Elisabeth I. schließlich einen Höhepunkt.8 Dominierend war hier die Vorstellung, dass England wie dereinst die Israeliten in einem Bund mit Gott stünde. Als Ausfluss dieser Ansicht können etwa all jene Postulate von Autoren wie , John Lyly oder auch angesehen werden, die erklärten: „God is english“.9 Dieses Diktum stellt dabei lediglich die pointierte Form eines weiteren zentralen Elements der Exodus-Erzählung dar: die Vorstellung eines Bundes mit Gott. In einer für die elisabethanische Zeit typischen Wendung verlieh zum Beispiel John Lyly die- ser Vorstellung Ausdruck, als er feststellte: „So tender a care hath HE alwaies had of

7 Siehe die Abbildungen in William WHITTINGHAM et al., The Bible and Holy Scriptures conteyned in the Olde and Newe Testament. Translated according to the Ebrue and Greke, and conferred with the best translations in diuers languges [Geneva Bible], Genf 1560 (STC2 2093/Henry E. Huntington Library), Titelblatt, fol. 30v und Titelblatt des Neuen Te- staments. 8 Für die elisabethanische Zeit ist zumindest die massenhafte Existenz von Exodus-Motiven gut belegt. Siehe u.a. Achsah GUIBBORY, Christian Identity, Jews, and Israel in Sevente- enth-Century England, Oxford 2010, bes. Kap. 1 & 2; Michael MCGIFFERT, God’s Con- troversy with Jacobean England, in: AHR 88 (1983), S. 1151-1174; Patrick COLLINSON, The Protestant Nation, in: Ders., The Birthpangs of Protestant England. Religious and cultural change in the 16th and 17th centuries, Basingstoke 1988, S. 1-27, hier S. 17-27; DERS., Biblical rhetoric: the English nation and national sentiment in the prophetic mode, in: Claire McEachern / Debora K. Shuger (Hgg.), Religion and culture in Renaissance Eng- land, Cambridge 1997, S. 15-45, wiederabgedruckt in: Patrick Collinson, This England. Essays on the English nation and commonwealth in the sixteenth century, Manchester/New York 2011, S. 167-192, hier S. 175f und passim; Alexandra WALSHAM, Providence in Early Modern England, Oxford 1999, S. 281-325; Peter E. MCCULLOUGH, Sermons at Court. Politics and religion in Elizabethan and Jacobean preaching, Cambridge 1998, S. 51-99; DERS., Out of Egypt. Richard Fletcher’s Sermon before after the Execution of Mary Queen of Scots, in: Julia Walker (Hg.), Dissing Elizabeth. Negative Representations of Gloriana, Durham/London 1998, S. 118-149. 9 John AYLMER, An harborovve for faithfull and trevve subiectes agaynst the late blowne blaste, concerninge the gouernme[n]t of vvemen, [London] 1559 (STC2 1005/Henry E. Huntington Library), fol. Pivv (Randglosse). Der angebliche Druckort Straßburg wird seit einiger Zeit in Zweifel gezogen. Siehe dazu Brett USHER, Art. „Aylmer, John“, in: ODNB, online-Ausgabe, Oxford 2008, URL: [14. 04.2017]; Parker schrieb in einem Brief an William Cecil: „Where Almighty God is so much English as he is […].“ Siehe Correspondence of Matthew Parker, Archbishop of Canterbury, comprising letters written by and to him, from A.D. 1535, to his death, A.D. 1575, ed. von John BRUCE, Cambridge 1853, S. 418f, hier S. 419; Lyly proklamierte: „The lyuing God is onely the Englysh God.“ Siehe John LYLY, Euphues and his England, Lon- don 1580 (STC2 17068/Folger Shakespeare Library), fol. Lliir. 14 | ENGLANDS EXODUS that England, as of a new Israel, his chosen and peculier people.“10 In einer anony- men Flugschrift von 1590 heißt es analog:

„[W]e must acknowledge, that as with Israel & Iudah, so with vs, the Lord hath dealt, to witte, that as the girdle cleaueth to the loynes of a man, so hath the Lord tyed him self to this whole nation, that we might bee his people.“11

Während die Tatsache, dass es im England des 16. Jahrhunderts zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten zur Aktualisierung von Teilen des Exodus-Narrativs kam, als unstrittig gelten darf, schließen sich in der Folge doch einige Fragenkomplexe an: 1.) Erstens ist zu fragen, welchen Stellenwert die handelnden Akteure dem Ge- dankengut im zeitgenössischen Kontext beigemessen haben. Damit zusammen hängt die Frage nach der Funktion, die die Verargumentierung12 von Teilen der Exodus- Erzählung in gesellschaftlichen Debatten und Auseinandersetzungen übernommen hat bzw. die ihr zugeschrieben wurde. Anders gefragt: Wie wurde das biblische Ma- terial eingesetzt, um welche Ziele und Interessen zu erreichen? Historisch zu über- prüfen wäre in diesem Zusammenhang die These Walzers, wonach der Traditionszu- sammenhang13 des Exodus als eine Art politisches Modell gedient haben könnte,

r 10 LYLY, Euphues, fol. Kkiii (meine Hervorhebung). Wie Clifford LONGLEY, Chosen People. The big idea that shapes England and America, London u.a. 2002, S. 84f an- merkt, war die Bezeichnung als chosen and peculiar people exklusiv für die Israeliten re- serviert. Vgl. etwa die Bibelstellen Exodus 19, 5-6, Dtn. 14, 2 oder Dtn. 26, 18-19. 2 11 ANON., The reformation of religion by Iosiah, London 1590 (STC 14815/Bodleian Li- brary), fol. Aiiv. Eine ausführliche Besprechung dieser Vorstellung unter Elisabeth I. fin- det sich in Abschnitt D, Kap. 2 dieser Arbeit. 12 Der Begriff wird im Folgenden im Sinne Ulrich Niggemanns verwendet, der darin ein Diskursphänomen sieht, das einerseits als Argument oder Rekurs in einer konkreten Dis- kurssituation verhaftet ist, andererseits aber auch auf die der konkreten Sprechsituation vorgelagerte Denkstruktur (also den Diskurs) zurückwirkt. Verargumentierung bezeich- net somit sowohl den Vorgang der Aneignung spezifischer Ideen, Bilder etc., als auch de- ren durchaus konstruktive oder innovative, argumentative Verwendung, die dann wieder- um Rückwirkungen entfalten konnte. Siehe Ulrich NIGGEMANN / Kai RUFFING, Ein- führung, in: Dies. (Hgg.), Antike als Modell in Nordamerika? Konstruktion und Verar- gumentierung 1763-1809 [HZ Beihefte N.F. Bd. 55], München 2011, S. 5-22, hier S. 16f. 13 Mit der Rede vom Traditionszusammenhang Exodus ist sowohl die eigentliche Erzählung im 2. Buch Mose als auch die Wiederaufnahme der Thematik in den folgenden Büchern des Pentateuchs sowie bei den Propheten gemeint. Siehe WALZER, Exodus und Revoluti- on, S. 18; Siegfried HERRMANN, Art. „Exodusmotiv I“, in: TRE 10 (1982), 732-737; Georg FISCHER / Dominik MARKL, Das Buch Exodus [Neuer Stuttgarter Kommentar Al- tes Testament 2], Stuttgart 2009, S. 25f; Simone u. Claudia PAGANINI / Dominik MARKL (Hgg.), Führe mein Volk heraus. Zur innerbiblischen Rezeption der Exodusthematik. Festschrift für Georg Fischer, Frankfurt a. M. u.a. 2004; siehe auch die Bemerkungen bei ASSMANN, Exodus, S. 13f & 21. EINLEITUNG | 15

über dessen Anwendung ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandlungsprozess (In- novation) initiiert bzw. propagiert werden konnte.14 2.) Zweitens sollte die Form stärker berücksichtigt werden: Wie Michael Walzer in seiner Studie sehr richtig angemerkt hat, handelt es sich im Gegensatz zu den zy- klisch aufgebauten Narrativen der antiken Welt im Fall des Exodus um eine progres- sive Erzählung.15 Gerade die immanente Entwicklungstendenz sei ihm zufolge aus- schlaggebend für die Kraft und Akzeptanz, welche das Exodus-Narrativ über die Zeit hinweg ausgezeichnet habe:

„Denn die Bewegung vom Anfang bis zum Ende ist der Schlüssel zu der historischen Bedeu- tung der Exodus-Geschichte. Die Kraft der Erzählung beruht auf ihrem Ende, obwohl es auch darauf ankommt, daß das Ende am Anfang als ein Bestreben, eine Hoffnung, ein Versprechen gegenwärtig ist. Was versprochen wird, unterscheidet sich radikal von dem, was ist, denn das Ende hat nichts mit dem Anfang gemein.“16

Hier stellt sich sodann die Frage, ob und ggf. wie die der Exodus-Erzählung eigenen Entwicklungspotentiale im England des 16. Jahrhunderts umgesetzt worden sind. Insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang, eventuelle Konstanten und Brüche in der Verargumentierung des Phänomens herauszuarbeiten, die durch eine Verände- rung des Kontextes hätten herbeigeführt werden können. Zu denken wäre hier u.a. an einen Wechsel des Herrschers/der Herrscherin, an einen Wechsel der Anwendungs- ebene (von innen- auf außenpolitische Ebene) oder auch an Einflüsse militärischer, ökonomischer, religiöser, ideeller oder sonstiger Art, die – von innen oder außen kommend – nachhhaltige Auswirkungen auf das Gemeinwesen hatten. 3.) Drittens muss auch über mögliche Folgen einer Verargumentierung von Tei- len des Exodus-Narrativs nachgedacht werden. Michael Walzer hat den biblischen Traditionszusammenhang des Exodus primär aus einer modernen, säkularen Perspek- tive analysiert und sich in diesem Rahmen vor allem auf die dem Gedankengut im- manenten Aspekte einer Befreiungstheologie sowie eines Kontraktualismus konzen- triert.17 Demgegenüber soll nachfolgend die These vertreten werden, dass die regelmäßige Verargumentierung des biblischen Exodus in den politisch-gesellschaft- lichen Debatten und Konflikten Tudor-Englands maßgeblich zur Entstehung und Verfestigung einer Idee göttlicher Auserwähltheit beigetragen hat. Der Traditionszu- sammenhang der Exodus-Erzählung fungierte meines Erachtens als eine Art Refe- renzrahmen, über den die zunächst abstrakte Vorstellung göttlicher Erwählung inkar- niert und in der Folge politisch nutzbar gemacht werden konnte. Wie argumentiert

14 WALZER, Exodus und Revolution, S. 16f sowie den Abschnitt Exodus-Politik, S. 141- 157; zu einem ‚innovativen‘ Modellbegriff für die Frühneuzeitforschung zuletzt Chri- stoph KAMPMANN et al., Einleitung, in: Ders. / Katharina Krause / Eva-Bettina Krems / Anuschka Tischer (Hgg.), Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovati- on als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 7-17; NIG- GEMANN / RUFFING, Einführung. 15 WALZER, Exodus und Revolution, S. 20f. 16 WALZER, Exodus und Revolution, S. 20. 17 Vgl. dazu etwa die einführenden Bemerkungen WALZER, Exodus und Revolution, S. 13- 20. 16 | ENGLANDS EXODUS werden soll, entwickelte sich aus diesem Prozess die ‚politische Idee göttlicher Aus- erwähltheit‘ im England des 16. Jahrhunderts. Den Prozess der Herausbildung dieser politischen Idee nachzuvollziehen und de- ren zeitgenössische Bedeutung für die Ordnung und Identität des englischen Ge- meinwesens besser zu verstehen, sind wesentliche Ziele der vorliegenden Arbeit. Ei- ne grundlegende Annahme besteht in diesem Rahmen darin, dass die Studie der zeitgenössischen Verargumentierung des alttestamentlichen Exodus hierzu einen wertvollen Beitrag leisten kann. Die am englischen Beispiel gewonnenen Erkenntnis- se könnten darüber hinaus aber auch neue Impulse und Ansatzpunkte für ähnliche Imaginationen göttlicher Erwählung bei anderen Gruppen und Gemeinschaften lie- fern und dadurch zum besseren Verständnis einer zentralen Idee führen – einer Idee, deren Anziehungskraft, Attraktivität und Geltung sowohl in historischer als auch in gegenwärtiger Hinsicht nicht zu leugnen sind.18

2. FORSCHUNGSSTAND

Eine Studie zum Themenfeld göttlicher Erwählung mit einem Schwerpunkt auf Eng- land profitiert einerseits enorm von zahlreichen Arbeiten, die vor allem im anglopho- nen Raum zu diesem Bereich veröffentlicht worden sind. Andererseits stellt die Fülle der Beiträge insofern ein Problem dar, das nicht alle Nuancen und Verästelungen der breiten Forschung zum Thema göttlicher Erwählungsvorstellungen im Rahmen eines Überblicks gleichermaßen gewürdigt werden können. Stattdessen sollen nachfolgend

18 Zur weiten Verbreitung der Vorstellung einer göttlichen Erwählung siehe u.a. die Sam- melbände von Alois MOSSER (Hg.), ‚Gottes auserwählte Völker‘. Erwählungsvorstellun- gen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte [Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte, Bd. 1], Frankfurt a. M. u.a. 2001 und William R. HUT- CHISON / Hartmut LEHMANN (Hgg.), Many Are Chosen. Devine Election & Western Na- tionalism, Minneapolis 1994; ferner Todd GITLIN / Liel LEIBOVITZ, The Chosen Peoples. America, Israel, and the Ordeals of Divine Election, New York u.a. 2010; LONGLEY, Chosen People; Christiane TIETZ, God’s own country – God’s own politics? Überlegun- gen zum Verhältnis von Glaube und Politik im letzten amerikanischen Wahlkampf, in: NZSTh 47 (2005), S. 131-153; Anthony D. SMITH, Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2003; Grahame DAVIES (Hg.), The chosen people. Wales and the Jews, Bridgend 2002; Conrad CHERRY (Hg.), God’s New Israel. Religious Interpreta- tions of American Destiny, überarb. und erw. Ausgabe, Chapel Hill/London 1998; Do- nald H. AKENSON, God’s peoples. Covenant and land in South Africa, Israel, and Ulster, Ithaca 1992; Simon SCHAMA, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988, bes. S. 112-143; Conor Cruise O’BRIEN, God Land. Reflections on Religion and Nationalism [The William E. Massey Sr. Lectures in the History of American Civilization, 1987], Cambridge (Mass.)/London 1988; DERS., Why do some nations still see themselves as the chosen people?, in: The Times, 25. Juni 1991, S. 14; siehe auch den Überblick bei Bruce CAUTHEN, Covenant and continuity: ethno-symbolism and the myth of divine election, in: Nations and Nationalism 10 (2004), S. 19-33 sowie die Rezension von Christian SCHRÖDER, Das Feuer des Glaubens. Wie Gotteskrieger ein Erdenreich erschufen, in: Der Tagesspiegel, 14. Januar 2013, S. 19. EINLEITUNG | 17 die Leitlinien der Kontroversen und Diskussionen skizziert werden, entlang derer sich die Forschung interdisziplinär und epochenübergreifend bewegt und denen daher auch für die vorliegende Arbeit ein besonderer Wert attestiert werden kann: Zum ei- nen betrifft dies die inhaltliche Bestimmung des Gedankengutes, das in der Regel als vormoderne Form des modernen Nationalismus interpretiert und damit als Weg- marke in einem Prozess der Modernisierung, der Herausbildung des modernen Na- tionalstaates und einer nationalen Identität gewertet wird. An dieser Perspektive wur- de inhaltliche Kritik geübt, die vor allem eine zu gradlinige und einseitig konstruierte Assoziation von Erwählungsmotiv, Protestantismus und nationaler Identität hinter- fragt.19 Stimulierend wirkte sich in diesem Bereich unter anderem die postmoderne und kulturwissenschaftliche Kritik an der klassischen Sozialgeschichtsschreibung sowie des damit oftmals verbundenen Modernisierungsparadigmas aus, das sowohl durch Prozesse außerhalb wie innerhalb der Wissenschaft seit den 1990er Jahren zu- nehmend kritisch gesehen und als übergeordnetes Orientierungswissen abgelehnt wurde.20 Zum anderen hat sich nicht zuletzt aufgrund der konstruktivistischen und kultur- wissenschaftlichen Durchdringung des Forschungsfeldes21 in den letzten Jahren eine

19 Wegweisend waren hier für den englischen Raum die Arbeiten von Patrick Collinson. Siehe u.a. COLLINSON, The Protestant Nation; DERS., A chosen people? The English Church and the Reformation, in: History Today 36 (1986), S. 14-20; zuletzt auch DERS., Biblical rhetoric; siehe ferner die Bemerkungen bei Tony CLAYDON / Ian MCBRIDE, The trials of the chosen peoples: recent interpretations of Protestantism and National identity in Britain and Ireland, in: Dies. (Hgg.), Protestantism and National Identity. Britain and Ireland, c. 1650 – c. 1850, Cambridge 1998, S. 3-29, hier S. 9-15. 20 Siehe allgemein dazu den informativen Beitrag von Riccardo BAVAJ, Modernisierung, Modernität und Moderne. Ein wissenschaftlicher Diskurs und seine Bedeutung für die hi- storische Einordnung des „Dritten Reiches“, in: HJb 125 (2005), S. 413-451, hier bes. S. 413-416, 418-432; einen wesentlichen Einfluss auf die Ablösung des klassischen Moder- nisierungsparadigmas hatten Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen, die i.d.R. unter dem Begriff der ‚Postmoderne‘ zusammengefasst werden. Einen ersten Überblick dazu gibt Ute DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frank- furt a. M. 2001, S. 150-167; Patrick BAUM / Stefan HÖLTGEN, Art. „Postmoder- ne/Postmodernismus“, in: Dies. (Hgg.), Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Žižek, Bochum/Freiburg 2010, S. 147-151; vgl. aber auch die Kritik von Theologie und Kir- chengeschichte an der klassischen Sozialgeschichte, zusammengefasst bei Craig KOSLOFSKY, ‚Kulturelle Reformation‘ und die reformationsgeschichtliche Forschung, in: Bernhard Jussen / Ders. (Hgg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600, Göttingen 1999, S. 18-22, hier S. 18-20. 21 Klassische Arbeiten in diesem Zusammenhang sind Benedict ANDERSON, Imagined communities. Reflections on the origins and spread of nationalism, London 1983; Eric HOBSBAWN / Terence RANGER (Hgg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983; zentrale Texte sind zudem ediert bei John HUTCHINSON / Anthony D. SMITH (Hgg.), Na- tionalism. Critical concepts in political science, 5 Bde., London 2000; einen guten Über- blick zu den verschiedenen Facetten des Konstruktivismus sowie dessen Bedeutung für die neuere Geschichtswissenschaft gibt Peter BURKE, Was ist Kulturgeschichte? [Lizenz- ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 532], Bonn 2005, S. 111-133. 18 | ENGLANDS EXODUS

Tendenz ergeben, Phänomene wie Nationalismus, nationale Identität und ihre jewei- ligen ideellen Ausprägungen in einem zeitlichen Rahmen zu situieren, der vom 8. bis zum 19. Jahrhundert reicht.22 Beide Bereiche spielen in der Historiographie zur Vorstellung göttlicher Erwäh- lung in England und deren konkreter Funktion eine wichtige Rolle. Als dominierend in der Forschung darf bis heute die von Historikern, Sozial- und Literaturwissen- schaftlern gleichermaßen getragene Ansicht gelten, dass im Zuge der Reformation Religion bzw. Konfession zu einer Art Funktionsäquivalent des modernen Nationa- lismus avanciert wären und gewissermaßen den ideologischen Überbau für einen Prozess der Modernisierung gebildet hätten.23 In dieser Lesart firmiert die Vorstel- lung einer göttlichen Erwählung zumeist als Ausdruck eines chauvinistischen Selbst- bildes, das England einen besonderen Platz im göttlichen Heilsplan zuweist und dar- aus ein Überlegenheitsgefühl, eine Einzigartigkeit (uniqueness) sowie ein spezi- fisches Sendungsbewusstsein ableitet.24

22 Siehe Adrian HASTINGS, The Construction of Nationhood. Ethnicity, Religion and Natio- nalism, Cambridge 1997, hier Reprint 1999, S. 35: „One can find historians to date ‚the dawn of English national consciousness‘ (or some such phrase) in almost every century from the eighth to the nineteenth.“; in der sozialwissenschaftlichen Nationalismus- Forschung hat sich eine Kontroverse zwischen sog. Primordialists und Modernists gebil- det. Während die Primordialists in variierenden Ausformungen für ein vormodernes na- tionales Bewusstsein bzw. einen vormodernen Nationalismus oder eine Nation plädieren, sieht die modernistische Fraktion diese Phänomene als Resultat genuin moderner Ent- wicklungen an. Eine Zusammenfassung der einzelnen Positionen liefert Colin KIDD, Bri- tish Identities before Nationalism. Ethnicity and Nationhood in the Atlantic World, 1600- 1800, Cambridge 1999, S. 1-6; ferner Harald GUSTAFSSON, The Eighth Argument. Iden- tity, Ethnicity and Political Culture in Sixteenth-Century Scandinavia, in: Scandinavian Journal of History 27 (2002), S. 91-114, hier S. 91-95; Walker CONNOR, When is a nati- on?, in: Ders., Ethnonationalism. The Quest for Understanding, Princeton 1994, S. 210- 226; Anthony D. SMITH, Nationalism in Early Modern Europe, in: H & T 44 (2005), S. 404-415. 23 Leitend war hier lange Zeit der Gedanke, dass „Religion a sixteenth-century word for na- tionalism“ gewesen sei, wie es einst Lewis Namier gesagt haben soll. Siehe dazu Chri- stopher HILL, Reformation to Industrial Revolution. A Social and Economic History, London 1967, S. 23, wo er diese mündliche Aussage Namiers zitiert; die neueren Ansätze in diesem Bereich seitens der Sozialwissenschaften fasst zusammen Rogers BRUBAKER, Religion and nationalism: four approaches, in: Nations and Nationalism 18 (2012), S. 2- 20. 24 Klassisch für diese Sichtweise ist die Studie von William HALLER, Foxe’s Book of Mar- tyrs and the Elect Nation, London 1963; in dessen Tradition stehen u.a. Liah GREENFELD, Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge (MA)/London 1992, hier Kap. 1: God’s Firstborn, S. 27-87; Philip S. GORSKI, The Mosaic Moment: An Early Modernist Critique of Modernist Theories of Nationalism, in: American Journal of Sociology 105 (2000), S. 1428-1468; Herbert GRABES, Elect Nation: Der Fundierungsmythos englischer Identität in der frühen Neuzeit, in: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 84-103; zuletzt Diana Muir APPELBAUM, Biblical nationalism and the sixteenth-century EINLEITUNG | 19

Diese Perspektive behandelt das Erwählungsmotiv als Teil einer modernisie- rungstheoretischen Erzählung, die im britischen Raum in Form der sogenannten Whig Interpretation of History lange Zeit dominierte.25 Das hauptsächliche Problem dieser Forschung bestand darin, dass sie sich nicht eigens der Analyse von religiösen Themen wie der Erwählungsidee widmete. Unter den Prämissen der Whig Interpreta- tion wurden solche Motive und Argumentationen nur insoweit behandelt und berück- sichtigt, wie sie als affirmierendes Beiwerk einer propagierten Aufstiegserzählung von Parlamentarismus sowie als genuin angelsächsisch eingeschätzter Tugenden wie Freiheit, Gleichheit oder optimistischem Fortschrittsglauben benutzt werden konnten. Sie fungierten damit lediglich als ein weiteres Mosaik in einem Gesamtbild, das im Rahmen einer teleologischen Geschichtskonstruktion vor allem dazu gedacht gewe- sen war, die normativen und identitären Prämissen und Ansprüche der eigenen Ge- genwart zu stützen.26 Der zeitgenössisch als irreduzibel einzuschätzende Charakter von Religion blieb dabei freilich weitgehend unberücksichtigt.27 Als repräsentativ für diese Tradition kann ein 1940 publizierter Aufsatz von Hans Kohn gelten, in dem er die wesentlichen Konturen der Whig Interpretation nach- zeichnete.28 Darin präsentierte er das 17. Jahrhundert als entscheidende Formierungs- phase, in deren Zuge England als moderne Nation geboren worden sei.29 Als wesent-

states, in: National Identities 15 (2013), S. 317-332; zu den ‚modernen‘ Ausprägungen siehe u.a. die Beiträge in HUTCHISON / LEHMANN (Hgg.), Many Are Chosen; CAUTHEN, Covenant and continuity; SMITH, Chosen Peoples; vgl. auch das Themenheft ‚Chosen Peoples‘ der Zeitschrift Nations and Nationalism, Band 9 (1999); aus historischer Sicht etwa Linda COLLEY, Britons. Forging the Nation 1707-1837, New Haven/London 1992, hier bes. S. 18-54; Margot C. FINN, An Elect Nation? Nation, State, and Class in Modern British History, in: JBS 28 (1989), S. 181-191. 25 Vgl. zur Whig Interpretation of History die Arbeit von Herbert BUTTERFIELD, The Whig interpretation of history, London 1931; zudem Geoffrey ELTON, Herbert Butterfield and the Study of History, in: HJ 27 (1984), S. 729-743; Keith C. SEWELL, The „Herbert But- terfield Problem“ and Its Resolution, in: JHI 64 (2003), S. 599-618; zuletzt gab es von Annabel Patterson einen Versuch, wesentliche Elemente der älteren Whig- Historiographie zu revitalisieren. Siehe Annabel M. PATTERSON, Nobody’s perfect. A new Whig interpretation of history, New Haven/London 2002. 26 Zu den teleologischen Implikationen der Whig Interpretation BUTTERFIELD, Whig inter- pretation, S. 3-5; ELTON, Herbert Butterfield, S. 731 & 735; SEWELL, The „Herbert But- terfield Problem“, S. 599f, bes. S. 599: „The term ‚Whig‘, as Butterfield used it in 1931, referred to the nineteenth-century school of historiography that praised ‚progress‘, ‚prote- stantism‘, and ‚liberty‘ and that generally attributed the triumph of such principles to the beliefs and activities of generations of Whig politicians.“ 27 Gerade dieser Kritikpunkt muss im Hinblick auf die zeitgenössische Bedeutung, die Reli- gion bzw. Konfession im Lebensvollzug der Menschen zukam, besonders betont werden. Siehe dazu etwa CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 5f sowie die zusammenfassende Kritik bei KOSLOFSKY, ‚Kulturelle Reformation‘, S. 18-20. 28 Hans KOHN, The Genesis and Character of English Nationalism, in: JHI 1 (1940), S. 69- 94. 29 Vgl. dazu die Darstellung KOHN, Genesis, S. 81-91 und das zusammenfassende Zitat S. 91: „The seeds of modern secular civilization were planted and nurtured in a primarily re- 20 | ENGLANDS EXODUS lichen Geburtshelfer sah er dabei die Idee der göttlichen Erwählung an, über die sich die neuen Ideale hätten verbreiten können.30 Das Vorbild für diesen „religiösen Na- tionalismus“ sei dabei der „alttestamentliche Nationalismus“ der Israeliten gewe- sen.31 Das Gedankengut bekam bei ihm in der Folge die Rolle einer nationalen Ideo- logie zugeschrieben, die den Revolutionären um Oliver Cromwell vorwiegend als mobilisierendes Element im Kampf für parlamentarische und individuelle Freiheits- rechte gedient habe. Besonders die Rolle Cromwells wurde an dieser Stelle herausgestellt: „He more than any other awakened the consciousness of the English people as the chosen people, a consciousness in which every Englishman was called to participate.“32 Gerade im Bemühen Kohns, das scheinbar weidlich zirkulierende, religiöse Ge- dankengut mit eher säkularen und fortschrittsorientierten Elementen in Einklang zu bringen, offenbaren sich zentrale methodische und epistemologische Probleme der älteren Forschung im Umgang mit dem Erwählungsmotiv: Grundlegend mangelt es seiner Studie an einer Analyse des Phänomens, die in der Lage gewesen wäre, die Bedeutung zu reflektieren, welche die Zeitgenossen selbst mit der Vorstellung ver- bunden hatten. Anstatt nach der historischen Wertigkeit oder der konkreten Funktion zu fragen, ordnete Kohn es in eine generelle Aufstiegserzählung ein, die einzig dar- auf abzielte, die ‚modernen‘ Züge der Revolution herauszustellen. Dabei ignorierte er jedoch den historischen Kontext sowie die Tradition, in der die Auserwähltheitsvor- stellung stand, weitgehend.33 Die Erwählungsidee wurde in diesem Zusammenhang lediglich als eine Art Katalysator betrachtet, der bei der Verbreitung neuer, moderner Ideale geholfen hätte.34

ligious revolution.“; Begriff und Einschätzung der „puritan Revolution“ übernimmt Kohn dabei von einem anderen Vertreter der Whig-Historiographie. Siehe dazu Samuel Rawson GARDINER, The First Two Stuarts and the Puritan Revolution 1603-1660, Lon- don 1876. 30 Vgl. KOHN, Genesis, S. 82, 85, 87f & 89f. 31 KOHN, Genesis, S. 81f; zur Ansicht eines ‚alttestamentlichen Nationalismus‘ auch Julius A. BREWER, The Authority of the Old Testament, in: Journal of Religion 16 (1936), S. 1- 9, hier bes. S. 2; O’BRIEN, God Land; zuletzt David ABERBACH, Nationalism and the Hebrew Bible, in: Nations and Nationalism 11 (2005), S. 223-242 und APPELBAUM, Bib- lical nationalism. 32 KOHN, Genesis, S. 88 sowie S. 87-91 zum Cromwell-Bild des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; siehe zum Cromwell-Bild der Zeit auch die diversen Beiträge in Roger C. RICHARDSON (Hg.), Images of Oliver Cromwell. Essays for and by Roger Howell Jr., Manchester/New York 1993. 33 Dass dies zuweilen Züge einer Panegyrik annahm, muss freilich auch vor dem aktuellen Hintergrund des deutschen Faschismus’ gesehen werden, gegen den sich die Propagie- rung der angelsächsischen Ideale richtete. Siehe Ken WOLF, Hans Kohn’s Liberal Natio- nalism: The Historian as Prophet, in: JHI 37 (1976), S. 651-672, hier S. 663-665. 34 Siehe insbesondere KOHN, Genesis, S. 82: „They were professed with the old religious fervor, clothed in the very words of the Old Testament, but they radiated the new light of rationalism and liberty.“; demgegenüber hat v.a. Blair Worden zahlreiche Studien vorge- legt, die sich mit der zeitgenössischen Deutung und Funktionalisierung des Themas im 17. Jahrhundert befassen. Siehe dazu die jüngst erschienene Zusammenstellung seiner EINLEITUNG | 21

Diese funktionalistische Sichtweise auf die Erwählungsvorstellung, sowie auf re- ligiöse Deutungsmuster der Frühen Neuzeit generell, tendierte dazu, die genuin reli- giösen bzw. theologischen Inhalte und Kontexte zu marginalisieren bzw. fast voll- ständig zu negieren. In ihrem Bedürfnis besagte Motive stets im Hinblick auf säkulare und moderne Entwicklungen zu lesen, brachten derartige Studien den Be- reich des Religiösen nahezu zum Verschwinden.35 Die Dominanz der Whig Interpre- tation führte also zu einer modernisierungstheoretischen Prägung des Themas, so dass es hier zu einer fundamental ahistorischen Behandlung kommen musste. Diese Form der Forschung zeigte im eigentlichen Sinne kein Interesse an den historischen Bedingungen und Ursachen der Formierung, Entwicklung oder Funktion von Deu- tungsmustern wie der Erwählung. Mit dieser Problematik korrespondiert ein mitunter fragwürdiges methodisches Vorgehen. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des marxistisch beeinflussten Histo- rikers Christopher Hill, die sich, wie Andreas Pečar zuletzt feststellte, erstaunlich gut in die grundsätzliche Whig Interpretation einfügten.36 Die in Großbritannien zeitwei- lig sehr starke marxistische Forschung hat sich im Bereich der Frühen Neuzeit vor al- lem mit dem Aufstieg der Gentry befasst. Sie wurde als neue „Klasse“ angesehen, deren vermeintlicher Durchbruch zur Herrschaft in der Mitte des 17. Jahrhunderts er- folgt sei.37 Hill widmete sich in diesem Zusammenhang ausgiebig den religiösen Vorstellungen der Gentry, die er unter dem Begriff des „Puritanismus“ zusammen- fasste und darin die leitende Ideologie einer progressiven, zur Herrschaft strebenden

wesentlichen Aufsätze in: Blair WORDEN, God’s Instruments. Political conduct in the England of Oliver Cromwell, Oxford 2012. 35 Vgl. dazu die Kritik bei CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 5f; siehe ferner Luise SCHORN-SCHÜTTE, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch- Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, S. 24-26; DIES., Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: GG 32 (2006), S. 273-314, hier S. 273-276 und DIES., Vorstellungen von Herrschaft im 16. Jahrhundert. Grundzüge europäischer politischer Kommunikation, in: Helmut Neu- haus (Hg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche [HZ Beihefte N. F., Bd. 49], München 2009, S. 347-376, hier S. 348, die eine ähnliche Kritik an modernisierungstheoretischen Annah- men in der deutschsprachigen Forschung vorbringt; ferner KOSLOFSKY, Kulturelle Re- formation, S. 18-20. 36 Siehe Andreas PEČAR, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und Eng- land zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534-1642) [Veröffentlichungen des Deut- schen Historischen Instituts London, Bd. 69], München 2011, hier S. 9. 37 Vgl. Richard H. TAWNEY, The Rise of the Gentry, 1558-1640, in: EconHR 11 (1941), S. 1-38; Christopher HILL, The English Revolution 1640. An Essay, 3. Aufl., London 1955; cf. PEČAR, Macht der Schrift, S. 9; Kritik am Konzept der Gentry als „Klasse“ übten etwa Lawrence STONE / Jeanne C. FAWTIER STONE, An open elite? England 1540-1880, Oxford 1984; zur Gruppe der marxistisch beeinflussten britischen Historiker siehe auch die Edition von David PARKER (Hg.), Ideology, absolutism and the English Revolution. Debates of the British Communist historians 1940-1956, London 2008 sowie Alastair MACLACHLAN, The rise and fall of revolutionary England. An essay on the fabrication of seventeenth-century history, New York 1996. 22 | ENGLANDS EXODUS neuen „Klasse“ sah.38 Analog zu Hans Kohn betonte er die Rolle, welche die Vorstel- lung einer besonderen Beziehung zu Gott als zentrales Element der neuen Ideologie für die Emanzipation der Gentry gespielt habe.39 In seinen Studien versuchte er die Entstehung dieser Ideologie bis zu den Anfängen der englischen Reformation zu- rückzuverfolgen und damit eine ideengeschichtliche Entwicklungslinie von ‚langer Dauer‘ herauszuarbeiten, die mit den sozialhistorischen Arbeiten zur Entwicklung der Gentry harmonierte.40 Hill schuf damit eine Perspektive, die wesentliche Setzun- gen der Whig Interpretation bestätigte und reproduzierte, und gleichsam dazu ten- dierte, die Entwicklungen des 16. Jahrhunderts vorrangig in ihrem Charakter als Vor- laufphase des Bürgerkriegs zu interpretieren, durch den sich moderne Ideale schließlich Bahn gebrochen hätten.41 Hills Arbeiten wurden allerdings teilweise heftig kritisiert, weil sie die Tendenz aufwiesen, einzelne religiöse Aussagen und Argumentationsmuster aus ihrem kon- kreten Verwendungszusammenhang herauszulösen und sie anschließend als Teil der postulierten Ideologie wieder zusammenzufügen. Diese Ideologie zeigte sich bei Hill als ein schichtengebundenes, kohärentes Phänomen, das vorrangig die grundlegende Erzählung des Aufstiegs der Gentry als progressive, der Moderne zugewandte Kraft stützen sollte.42 Als charakteristisch für diese Ideologie sah Hill die quasi natürliche

38 Siehe vor allem Christopher HILL, Intellectual Origins of the English Revolution – revisi- ted, 2., verb. Aufl., Oxford 1997; DERS., The English Bible and the Seventeenth-Century Revolution, London 1993; DERS., Antichrist in seventeenth-century England, 2., überarb. Aufl., London 1990; DERS., The World Turned Upside Down. Radical Ideas during the English Revolution, London 1972 sowie die dreibändige Edition seiner Schriften, er- schienen als DERS., The Collected Essays of Christopher Hill, 3 Bde., Brighton 1985-86. 39 Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit dem Thema bei Michael WALZER, Purita- nism as a Revolutionary Ideology, in: H & T 3 (1963), S. 59-90, die ihrerseits wiederum kritisiert worden ist. Dazu etwa PEČAR, Macht der Schrift, S. 10f; Walzer behandelt in seinem Beitrag auch die Thesen Max Webers zum Zusammenhang von Prädestinations- lehre, Arbeitsethik und Entstehung eines kapitalistischen Geistes im niederländischen Calvinismus. Siehe sein Standardwerk Max WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. von Dirk Kaesler, 4. Aufl., München 2013. Zuerst erschie- nen in zwei Teilen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 20/21 (1905). 40 Zum Konzept der „Langen Dauer“ Fernand BRAUDEL, Geschichte und Sozialwissen- schaften. Die lange Dauer, in: Ders., Schriften zur Geschichte, 2 Bde., Stuttgart 1992-93, hier Bd. 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen, Stuttgart 1992, S. 49-87. 41 Vgl. dazu auch die Kritik von Geoffrey ELTON, A High Road to Civil War?, in: Charles H. Carter (Hg.), From the Renaissance to the Counter-Reformation. Essays in Honour of Garrett Mattingly, London 1966, S. 325-347. 42 Siehe dazu den Kommentar bei Peter LAKE, Introduction: Puritanism, Arminianism and Nicholas Tyacke, in: Kenneth Fincham / Ders. (Hgg.), Religious Politics in Post- Reformation England. Essays in Honour of Nicholas Tyacke, Woodbridge u.a. 2006, S. 1-15, hier S. 2: „Hill’s was a narrative in which all sorts of progressive forces […] were associated, in one way or another, with puritanism“; cf. PEČAR, Macht der Schrift, S. 9f sowie die grundsätzliche Kritik von Michael Finlayson, der meinte, Puritanismus sei die Erfindung von Historikern, um die englische Revolution mit einer entsprechend revolu- tionären Ideologie auszustatten. Vgl. Michael FINLAYSON, Historians, Puritanism, and EINLEITUNG | 23

Allianz zwischen ‚dem Protestantismus‘ und der Vorstellung Englands als einer Na- tion an, wobei er ebenfalls auf eine genauere Untersuchung des konstatierten Ver- hältnisses verzichtete. Stattdessen war auch bei ihm die Vorannahme leitend, dass die frühneuzeitliche Religion mit dem Nationalismus der Moderne gleichgesetzt werden könne. In deutlicher Parallele zu Vertretern einer Whig-Historiographie firmierte so- dann auch bei Christopher Hill das Gedankengut göttlicher Auserwähltheit vorrangig als Katalysator von Prozessen und Entwicklungen, die auf die Moderne als wesentli- chem Bezugspunkt ausgerichtet waren.43 Die methodischen und epistemologischen Probleme der älteren Forschung setzen sich teilweise in neueren Publikationen zum Themenbereich fort. Vor allem sozial- und literaturwissenschaftliche Arbeiten neigen in diesem Zusammenhang dazu, vor- moderne religiös-konfessionelle Deutungsmuster wie das Erwählungsmotiv primär in einer modernisierungstheoretisch beeinflussten Sichtweise zu interpretieren. Zuwei- len kann hierbei – gewollt oder ungewollt – der Eindruck entstehen, als wären die Reformatoren des 16. Jahrhunderts nicht vorrangig an Glaubensfragen interessiert gewesen, sondern an der Schaffung einer modernen Nation! Dieser Eindruck ist da- bei vielfach Resultat einer mangelhaften historischen Kontextualisierung. Die getä- tigten Aussagen zu Form, Funktion und Entwicklung von Phänomenen wie der Er- wählung spiegeln derart oftmals nicht die zeitgenössischen Diskussionen und Kontexte wider, sondern sind Ausfluss einer selektiven, einseitigen und durch mo- derne Prämissen geleiteten Perspektive. In solchen Studien firmiert das Gedankengut der Erwählung in der Regel als chauvinistische, teilweise aggressiv-expansionistische Vorstellung, die eine einseitig positive Identifikation von Protestantismus und Nation suggeriert und in dieser Form eher an die Nationalismen der Moderne erinnert. Bezugspunkt dieser Ansätze ist häufig eine Arbeit des amerikanischen Puritanis- mus-Forschers William Haller.44 In seinem Spätwerk hatte dieser sich mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Protestantismus und elisabethanischem Nationa- lismus beschäftigt. Dabei war er auf die seiner Ansicht nach zentrale Rolle gestoßen, die John Foxes monumentale Heils- und Kirchengeschichte der „Acts and Monu-

the English Revolution. The religious factor in English politics before and after the Inter- regnum, Toronto 1983. 43 Siehe etwa den Beitrag Christopher HILL, The Protestant Nation, in: Ders., The Collected Essays of Christopher Hill, Bd. 2: Religion and Politics in 17th Century England, Brighton 1986, S. 21-36, hier v.a. S. 27-30; DERS., The English Revolution and patrio- tism, in: Raphael Samuel (Hg), Patriotism. The Making and Unmaking of British Natio- nal Identity, 3 Bde., hier Bd. 1: History and Politics, London/New York 1989, S. 159- 168; DERS., Protestantismus, Pamphlete, Patriotismus und öffentliche Meinung im Eng- land des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1996, S. 100-120 sowie sein Standardwerk The English Bible and the Se- venteenth-Century Revolution. 44 HALLER, Foxe’s Book of Martyrs and the Elect Nation; siehe zu Person und Werk Leonard J. TRINTERUD, William Haller, Historian of Puritanism, in: JBS 5 (1966), S. 33- 55. 24 | ENGLANDS EXODUS ments“ in diesem Kontext gespielt habe.45 Haller sah in Foxes Werk letztlich den ausschlaggebenden Faktor, der zur Durchsetzung der Selbstwahrnehmung Englands als der „Elect Nation“ geführt habe. Darunter verstand er die Vorstellung, dass das Land eine besondere Rolle im göttlichen Heilsplan spiele und von Gott aus der Mas- se der Nationen als Nachfolger der alttestamentlichen Israeliten auserwählt worden sei, um der Welt den wahren protestantischen Glauben zu bringen.46 In Hallers Elect Nation-Konzept verband sich diese Vorstellung mit den apokalyptischen und endzeit- lichen Mustern, die in Foxes Werk vorherrschend waren, und entwickelte sich vor dem Hintergrund der außen- und innenpolitischen Krisenjahre zwischen 1570 und 1590 zum dominierenden Interpretament der Konflikte mit Spanien und der Kurie, die als Kampf der erwählten Nation gegen die Heerscharen des Antichristen gesehen wurden. Sein Elect Nation-Konzept stand somit primär für eine positive Identifikati- on des englischen Protestantimus mit der Nation, die mit einem Auserwähltheits- und teilweise aggressiven Sendungsbewusstsein einherging.47 Obwohl Hallers Thesen in vielen Punkten vor allem von kirchengeschichtlichen und theologischen Studien zum 16. und 17. Jahrhundert kritisiert worden sind, blie- ben wesentliche Elemente seiner Konzeption der Elect Nation doch in Teilen der neueren Forschung bestehen.48 Als Arbeiten, die in der Tradition Halles stehen, kön-

45 Zur Lebzeit von erschienen vier Ausgaben der Acts and Monuments, die je- weils überarbeitet und um neues Material erweitert wurden. Siehe John FOXE, Actes and monuments of these latter and perillous dayes touching matters of the Church, wherein ar comprehended and decribed the great persecutions [and] horrible troubles, that haue bene wrought and practised by the Romishe prelates, speciallye in this realme of England and Scotlande, from the yeare of our Lorde a thousande, vnto the tyme nowe present. Ga- thered and collected according to the true copies [and] wrytinges certificatorie, as wel of the parties them selues that suffered, as also out of the bishops registers, which wer the doers therof, London 1563 (STC2 11222/Henry E. Huntington Library); weitere Ausga- ben im 16. Jhdt. London 1570, 1576 und 1583; zuletzt dazu Elizabeth EVENDEN / Thomas S. FREEMAN, Religion and the book in early modern England. The making of Foxe’s „Book of Martyrs“, Cambridge 2011; John KING, Foxe’s „Book of Martyrs“ and Early Modern Print Culture, Cambridge u.a. 2006; David LOADES (Hg.), John Foxe and the English Reformation, Aldershot 1997. 46 Vgl. dazu HALLER, Foxe’s Book of Martyrs and the Elect Nation, Kap. 7 sowie die exzel- lente Zusammenfassung bei TRINTERUD, William Haller, S. 51. 47 Siehe etwa HALLER, Foxe’s Book of Martyrs, S. 245 und passim; TRINTERUD, William Haller, S. 51-53; CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 10f; Andrew ESCOBEDO, The Book of Martyrs: Apocalyptic Time in the Narrative of the Nation, in: Prose Studies 20 (1997), S. 1-17, hier S. 4; Ronald G. ASCH, An Elect Nation? Protestan- tismus, nationales Selbstbewusstsein und nationale Feindbilder in England und Irland von zirka 1560 bis 1660, in: Mosser (Hg.), „Gottes auserwählte Völker“, S. 117-141, hier S. 120-125; Matthias POHLIG, Konfessionelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600 – Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: ARG 93 (2002), S. 278-316, hier S. 309. 48 Zur Kritik an Halles Werk siehe u.a. CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 10f; ASCH, Elect Nation, S. 121-123; Viggo Norskov OLSEN, John Foxe and the Elizabethan Church, Berkeley u.a. 1973; Katharine R. FIRTH, The Apocalyptic Tradi- EINLEITUNG | 25 nen etwa jene von Liah Greenfeld, Philip Gorski, Herbert Grabes sowie eine Reihe weiterer literatur- und sozialwissenschaftlicher Studien angesehen werden. Gemein ist ihnen die funktionalistische Perspektive auf die Prozesse der Frühen Neuzeit, wo- nach es bereits im 16. und frühen 17. Jahrhundert zur Entwicklung eines nationalen Bewusstseins bzw. eines frühmodernen Nationalismus unter Rückgriff auf die Vor- stellung einer Elect Nation gekommen sei. Über das Konzept wird dabei die Ansicht ventiliert, es habe nicht zuletzt vor der außenpolitischen Bedrohungslage eine eindeu- tige und positive Identifizierung des englischen Protestantismus mit einer vorgestell- ten englischen Nation gegeben.49 Diese Arbeiten wurden und werden vor allem durch die anfangs geschilderte Prämisse zusammengehalten, dass Religion bzw. Konfession ein vormodernes Äqui- valent für Nationalismus gewesen seien. In diesem Sinne avanciert die Reformation oftmals zum entscheidenden Ereignis in der Entwicklung eines nationalen Bewusst- seins und markiert gewissermaßen den Startpunkt für die Entstehung Englands als

tion in Reformation Britain 1530-1645, Oxford 1979, S. 106-110; Paul K. CHRI- STIANSON, Reformers and Babylon. English apocalyptic visions from the reformation to the eve of the civil war, Toronto u.a. 1978, S. 13-46; Richard BAUCKHAM, Tudor Apoca- lypse, Oxford 1978, S. 85-87; Anthony FLETCHER, The first century of English Prote- stantism and the growth of national Identity, in: Stuart Mews (Hg.), Religion and national Identity, Oxford 1982, S. 309-317, hier S. 309f; John KING, Fiction and Fact in Foxe’s Book of Martyrs, in: Loades (Hg.), Foxe and the English Reformation, S. 12-35; zusam- menfassend auch COLLINSON, A chosen people; DERS., John Foxe and national con- sciousness, in: Christopher Highley / John King (Hgg.), John Foxe and his World, Alder- shot 2002, S. 10-36, wiederabgedruckt in: Collinson, This England, S. 193-215; Jesse LANDER, „Foxe’s“ Books of Martyrs: printing and popularizing the Acts and Monu- ments, in: McEachern / Shuger (Hgg.), Religion and culture, S. 69-92, hier S. 70f. 49 Vgl. GREENFELD, Nationalism, Kap. 1; GORSKI, Mosaic Moment; GRABES, Elect Nation; APPELBAUM, Biblical nationalism; siehe auch den Überblick bei SMITH, Nationalism in Early Modern Europa, S. 407-410; obwohl er einige von Hallers Thesen kritisiert, folgt letztlich auch David Loades im Grunde diesem Muster. Siehe David LOADES, The Ori- gins of English Protestant Nationalism, in: Ders., Politics, Censorship and the English Reformation, London/New York 1991, S. 39-47; zu den literaturwissenschaftlichen Ar- beiten siehe etwa den Band von Ulrich BIELEFELD / Gisela ENGEL (Hgg.), Bilder der Na- tion. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäi- schen Moderne, Hamburg 1998; Herbert GRABES (Hg.), Writing the Early Modern English Nation. The Transformation of National Identity in Sixteenth- and Seventeenth Century England, Amsterdam/Atlanta 2001; Gillian BRENNAN, Patriotism, Power and Print. National Consciousness in Sixteenth-Century England, Cambridge 2003, hier bes. Kap. 7, S. 108-122; Claire MCEACHERN, The poetics of English nationhood, 1590-1612, Cambridge 1996; Richard HELGERSON, Forms of Nationhood. The Elizabethan Writing of England, Chicago/London 1992, hier Paperback Ed., Chicago/London 1994; Aleida ASSMANN, This blessed plot, this earth, this realm, this England. Zur Entstehung des eng- lischen Nationalbewusstseins in der Tudor-Zeit, in: Klaus Garber (Hg.), Nation und Lite- ratur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongres- ses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, S. 429-452. 26 | ENGLANDS EXODUS einer modernen Nation.50 Diese Fixierung und zeitliche Verortung wird seit einiger Zeit in Frage gestellt.51 Mediävistische Studien betonen in diesem Zusammenhang, dass es bereits zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert zur Entstehung einer Vorstel- lung von „Englishness“ gekommen sei, die als emotionale und ideologische Rah- mung eines englischen Kollektivs fungiert habe.52 Eine wesentliche Triebkraft hierfür sieht vor allem Patrick Wormald in der Vorstellung einer göttlichen Auserwähltheit, die als entscheidende Grundlage für ein frühes englisches Nationalbewusstsein ge- dient habe.53 Prägend für diese Vorstellung sei die Kirchengeschichte (Historia ecclesiastica gentis Anglorum) des angelsächsischen Benediktinermönchs Beda Ve- nerabilis gewesen.54 Dieser habe die Erzählung der alttestamentlichen Israeliten als grundlegendes Muster für seine eigene Darstellung benutzt und derart eine ideologi- sche Identifikation geschaffen, welche die ‚gens Anglorum‘ ebenfalls als ‚ein Volk‘ im Bund mit Gott – als ein „New Israel“ – imaginiert hätte.55 Obwohl das Konstrukt einer New Israel-Vorstellung im angelsächsischen Eng- land jüngst massiv kritisiert worden ist56, haben die mediävistischen Studien dennoch eine neue Perspektive auf einige der zentralen Grundannahmen der bestehenden For-

50 Vgl. CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 9-12; FINN, An Elect Na- tion, S. 184; COLLEY, Britons, S. 18-30. 51 Vgl. den Überblick bei Jonathan C. D. CLARK, Protestantism, Nationalism, and National Identity, in: HJ 43 (2000), S. 249-276, hier S. 265-270; John W. MCKENNA, How God became an Englishman, in: Delloyd J. Guth / Ders. (Hgg.), Tudor Rule and Revolution. Essays for G. R. Elton from his American friends, Cambridge 1982, S. 25-43; ferner Pa- trick WORMALD, Engla Lond: the Making of an Allegiance, in: Journal of Historical So- ciology 7 (1994), S. 1-24; DERS., The Venerable Bede and the „Church of the English“, in: Geoffrey Rowell (Hg.), The English Religious Tradition and the Genius of Anglica- nism, Oxford 1992, S. 13-32; DERS., Bede, the Bretwaldas and the Origins of the Gens Anglorum, in: Ders. / Donald Bullogh / Roger Collins (Hgg.), Ideal and reality in Fran- kish and Anglo-Saxon society. Studies presented to J. M. Wallace-Hadrill, Oxford 1983, S. 99-129; in der Tradition von Wormald auch HASTINGS, Construction, Kap. 2, S. 35- 65; SMITH, Chosen peoples, S. 115-118, 144f. 52 Vgl. CLARK, Protestantism, S. 265. 53 WORMALD, Engla Lond, S. 1-10; DERS., Bretwaldas; DERS., Venerable Bede, S. 23-28. 54 Einführend James CAMPBELL, Art. „Bede“, in: ODNB, online-Ausgabe, Oxford 2008, URL: [14.04.2017]. 55 Vgl. WORMALD, Engla Lond, S. 14; CLARK, Protestantism, S. 267; HASTINGS, Con- struction, S. 38, 42; das geprägte Schlagwort des New Israel wird inzwischen in vielen mediävistischen Arbeiten verwendet. Siehe u.a. Samantha ZACHER, Rewriting the Old Testament in Anglo-Saxon Verse. Becoming the Chosen People, London u.a. 2013, S. 24-34 und passim; Andrew P. SCHEIL, The Footsteps of Israel. Understanding Jews in Anglo-Saxon England, Ann Arbor 2004; Stephen HARRIS, Race and Ethnicity in Anglo- Saxon Literature, New York 2003, bes. Kap. 2; Nicholas HOWE, Migration and Mythma- king in Anglo-Saxon England, New Haven/London 1989, bes. Kap. 3; siehe auch die An- gaben bei George MOLYNEAUX, Did the English really think they were God’s Elect in the Anglo-Saxon Period?, in: JEH 65 (2014), S. 721-737, hier S. 722 und Anm. 5, der die Sache jedoch äußerst kritisch beurteilt. 56 Siehe MOLYNEAUX, God’s Elect. EINLEITUNG | 27 schung zu den Themen Erwählung und nationales Bewusstsein eröffnet. Vor allem die zeitliche Fixierung auf die Reformation als ausschlaggebendem Ereignis sowie die vielfach als natürliche Liaison dargestellte Verbindung von Protestantismus und nationalem Gedankengut wurden so in ein kritisches Licht gerückt. Adrian Hastings zum Beispiel hat vor diesem Hintergrund sehr deutlich betont, dass dem Protestan- tismus des 16. Jahrhunderts nichts genuin ‚Nationales‘ inhärent gewesen sei. Die Verbindung sei vielmehr größtenteils zufällig entstanden.57 Hastings hat damit einen Themenbereich problematisiert, um den es im Folgenden gehen soll: Die Frage, wie es konkret zum Zusammenwirken der Bereiche des Politischen und Religiösen ge- kommen ist? Unter welchen Umständen dies geschehen ist? Und welche Rolle die Vorstellung göttlicher Erwählung in diesen Prozessen spielte? Trotz aller Kritik im Einzelnen an den betreffenden mediävistischen Arbeiten ist es ihr Verdienst, eine zu einfach gestrickte Gleichsetzung von Religion bzw. Konfes- sion und Nationalismus hinterfragt zu haben. Die Forschung zu den frühneuzeitlichen respektive den modernen Ausprägungen der Erwählungsvorstellung werden dadurch zu einer bewussteren Reflexion angehalten, die vor allem jene Fragen nach dem Wa- rum und Wie der Verbindung stärker berücksichtigen muss. Freilich kann dies nur im Zuge einer historischen Kontextualisierung geschehen, die frei von funktionalisti- schen bzw. modernisierungstheoretischen Vorannahmen ist und den Eigenheiten der Zeit Rechnung trägt.58 Neben den Debatten um eine zeitliche Einordnung der Vorstellung göttlicher Er- wählung existiert eine fundamentale inhaltliche Kritik daran, welche konkrete histo- rische Form und Funktion dem Phänomen zugeschrieben werden kann. Während ein Großteil der bisherigen Forschung dazu tendierte, die Erwählungsidee im Sinne Wil- liam Hallers als ein chauvinistisches Selbstbild zu konstruieren, artikulierte vor allem Patrick Collinson Kritik an diesem Elect Nation-Konzept. Dessen Einwände müssen vor dem Hintergrund einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des elisabethanischen und jakobitischen Puritanismus gesehen werden – einem For- schungsfeld, in dem er lange Zeit der führende Experte gewesen ist.59 Seine haupt- sächliche Kritik bestand darin, dass er die weitgehend als unproblematisch dargestell- te, totale und eindeutig positive Identifikation von Nation und Protestantismus im Elect Nation-Konzept als unzeitgemäße Interpretation ablehnte. Sein Argument fußt dabei auf zwei Punkten: Auf der einen Seite schließt sich Collinson einer Kritik der Arbeit Hallers an, die diesem unterstellte, er habe die Intentionen von John Foxe missverstanden und ihn deshalb ungerechtfertigt zum Architekten eines nationalen

57 Vgl. HASTINGS, Construction, S. 55: „There was nothing inherently nationalist about Pro- testantism. The linkage was largely fortuitous.“ 58 Zu dieser Kritik auch GUSTAFSSON, Eighth Argument sowie MOLYNEAUX, God’s Elect für das Konstrukt des New Israel in mediävistischen Arbeiten. 59 Siehe u.a. Patrick COLLINSON, The Elizabethan Puritan Movement, London 1967; DERS., The Religion of Protestants. The Church in English Society 1559-1625, Oxford 1982; DERS., Godly People. Essays on English Protestantism and Puritanism, London 1983; DERS., The Birthpangs of Protestant England; zur Person Alexandra WALSHAM, Art. „Collinson, Patrick“, in: ODNB, online-Ausgabe, Oxford 2015, URL: [14.04.2017]. 28 | ENGLANDS EXODUS

Bewusstseins erklärt.60 Ausgangspunkt dieser Ansicht ist die Beobachtung, dass der von Foxe in seinem Werk entwickelte apokalyptische Rahmen primär eine universale Ausrichtung aufgewiesen hätte und daher nur schwerlich mit der von Haller konsta- tierten nationalen Perspektive vereinbar gewesen sei.61 Auf der anderen Seite formulierte Collinson eine zweite Kritik, die sich auf die seiner Ansicht nach insgesamt unverhältnismäßige Behandlung apokalyptischer und endzeitlicher Deutungsmuster in der Forschung zum elisabethanischen England be- zieht. Ihm zufolge habe die Untersuchung derartiger Muster eine „almost dispropor- tionate attention from cultural and intellectual historians“ erfahren, die zudem eher einer „arcane fascination“ geschuldet sei als der tatsächlich nachweisbaren Evidenz für deren Wirkung in elisabethanischer Zeit.62 In England sei in der Tat eine Vorstel- lung göttlicher Erwählung virulent gewesen; allerdings habe sich diese in dem weit- aus prominenteren „Israelite paradigm“ manifestiert, das für die Phase Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts als dominierendes Motiv angesehen werden sollte.63 Dieses Motiv identifizierte die Engländer mit den alttestamentlichen Israeliten, und schrieb ihnen auf diesem Wege implizit eine gewisse heilsgeschichtliche Sonderrolle zu. Freilich drückte sich diese Rolle nicht primär in einer nationalen Überhöhung aus, sondern sei vielmehr selbstkritisch, nach innen gerichtet und keineswegs trium- phalistisch gewesen.64 Die Grundlage dieser Vorstellung war der Glaube, dass Gott – wie ehedem mit den Israeliten – einen Bund mit dem englischen Volk geschlossen habe, der jedoch nur solange bestünde, wie das Gemeinwesen dessen Auflagen erfül- le. Die Erwählung Englands wurde also als hochgradig unsicher imaginiert, weshalb mit der Rekapitulation des Status’ in der Regel Selbstkritik und Aufrufe zur inneren Reform einhergangen seien.65 Die Arbeiten von Patrick Collinson, Michael McGiffert und anderen Forschern zum Israelite paradigm trugen zu einer nachhaltigen Unterminierung des klassischen Elect Nation-Konzeptes bei, das nun für die Tudor- und frühe Stuart-Zeit nicht mehr

60 Vgl. dazu etwa COLLINSON, The Protestant Nation, S. 14. 61 Siehe zu dieser Kritik u.a. COLLINSON, The Protestant Nation, S. 14; DERS., Chosen People, S. 20; DERS., Foxe and national consciousness, S. 193f und passim; ASCH, Elect Nation, S. 120-123; BAUCKHAM, Tudor Apocalypse, S. 87; FIRTH, Apocalyptic Traditi- on, S. 106-109; CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 12f; ESCOBE- DO, Book of Martyrs, S. 4f; LANDER, „Foxe’s“ Book of Martyrs, S. 70f. 62 Siehe dazu COLLINSON, Biblical rhetoric, S. 170; ähnliche Kritik in DERS., The Prote- stant Nation, S. 17; cf. POHLIG, Konfessionelle Deutungsmuster, S. 308. 63 Vgl. COLLINSON, The Protestant Nation, S. 17-27; DERS., Biblical rhetoric, S. 175f und passim; DERS., Chosen People, S. 18-20; zum Begriff des Israelite paradigm MCGIF- FERT, God’s Controversy. 64 COLLINSON, Biblical rhetoric, S. 175; DERS., The Protestant Nation, S. 18f; cf. POHLIG, Konfessionelle Deutungsmuster, S. 309; ABERBACH, Nationalism, S. 223-229. 65 In der Forschung werden diese Aufrufe häufig in Anlehnung an die alttestamentlichen Vorbilder als Hoseaden oder Jeremiaden bezeichnet. Siehe dazu MCGIFFERT, God’s con- troversy; COLLINSON, Biblical rhetoric; WALSHAM, Providence, S. 281-325 sowie zum Genre der Jeremiaden klassisch Perry MILLER, The New England Mind. From Colony to Province, Cambridge 1953, S. 27-39; Sacvan BERCOVITCH, The American jeremiad, Ma- dison (WI) 1978. EINLEITUNG | 29 vorbehaltlos als Ausdruck einer einseitig positiven Identifikation von Protestantismus und englischer Nation herangezogen werden kann.66 Vielmehr zeigen ihre Studien deutlich, dass das Verhältnis zwischen Glauben und nationalem Bewusstsein vielfach gebrochen war und zu einer durchaus kritischen Distanzierung von der eigenen Nati- on und Kirche führen bzw. bis zur Ablehnung beider reichen konnte.67 Diese Arbeiten stellen den ersten Versuch dar, das Gedankengut der Erwählung in seinem historischen Kontext zu analysieren. Insofern sind sie ein wesentlicher Entwicklungsschritt im Vergleich zu vielen sozial- und literaturwissenschaftlichen Beiträgen. Das Problem besteht bei ihnen allerdings darin, dass sie zumeist einen sehr eingeschränkten Fokus aufweisen, der trotz einer weitgehenden Kritik an der Arbeit von William Haller im Wesentlichen dessen zeitlichem Zuschnitt und teilwei- se inhaltlicher Strukturierung folgt.68 So dominiert immer noch eine Fokussierung auf das Werk von John Foxe, dessen Actes and Monuments in der Regel am Beginn der neuzeitlichen, englischen Erwählungsvorstellungen gesehen werden.69 Zusammen

66 Siehe auch die Ausführungen bei CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 12-15; ESCOBEDO, Book of Martyrs, S. 4f; ASCH, Elect Nation, S. 119-124; POHLIG, Konfessionelle Deutungsmuster, S. 309; für das 17. Jahrhundert nun die Studie von GUIBBORY, Christian Identity. 67 Vgl. dazu auch Patrick COLLINSON, The Cohabitation of the Faithful with the Unfaithful, in: Ole Peter Grell / Jonathan I. Israel / Nicholas Tyacke (Hgg.), From Persecution to To- leration. The Glorious Revolution and Religion in England, Oxford 1991, S. 51-76; zu den radikal-separatistischen Tendenzen auch Stephen BRACHLOW, The communion of the saints. Radical puritan and separatist ecclesiology, 1570-1625, Oxford 1988; ASCH, Elect Nation, S. 125. 68 Das Problem hierbei ist die Fixierung v.a. der britischen Wissenschaft auf die frühe Stuart-Herrschaft mit ihrem Höhepunkt des englischen Bürgerkrieges. Die elisabethani- sche Zeit wird in diesem Zusammenhang gerne als wegweisende Phase betrachtet. Ohne Zweifel gab es vielfältige Kontinuitäten und Versuche, Bezüge zur Herrschaft Elisabeths I. in späterer Zeit herzustellen. Allerdings darf diese zeitliche Einteilung nicht absolut ge- setzt werden, weil ansonsten größere Traditionszusammenhänge marginalisiert werden könnten. Vgl. zu dieser Problematik auch die Bemerkungen bei Philip CORRIGAN / Derek SAYER, The Great Arch. English State Formation as Cultural Revolution, Oxford 1985, S. 55f und das Zitat S. 55: „[F]or the Elizabethans, all history led up to them [den Stuarts – BQ]. For the Stuarts all roads finally led back to Elizabeth.“ Ein differenzierteres Bild der Bedeutung Elisabeths I. für eine politische Normbildung im 17. Jahrhundert gibt neu- erdings Kerstin WEIAND, Herrscherbilder und politische Normbildung. Die Darstellung Elisabeths I. im England des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2015. 69 Die Konzentration auf Foxes Werk ist ein klassisches Beispiel für eine Herangehenswei- se, die sich auf Kanon- bzw. Höhenkammliteratur beschränkt und deshalb von der Neue- ren Ideengeschichte explizit abgelehnt wird. Bei aller Bedeutung, die dem Werk im Ein- zelnen zugeschrieben werden kann, muss es doch in einen zeitlichen und textuellen Kontext eingebettet werden, um einen Eindruck der elisabethanischen Vorstellungen von Erwählung, Apokalypse etc. zu erhalten. Vgl. zur neueren Ideengeschichte u.a. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Ideengeschichte, Stuttgart 2010, S. 7- 42, hier S. 21f; Iain HAMPSHER-MONK, Neuere angloamerikanische Ideengeschchte, in: 30 | ENGLANDS EXODUS mit dem Regierungsantritt Elisabeths I. bildet es die Eckpunkte, von denen in der Folge die Geschichte englischer Erwählung primär als puritanische Auseinanderset- zung mit der anglikanischen Kirche, der inneren Verfasstheit des Gemeinwesens oder schubweise auftretenden, außenpolitischen Bedrohungen entworfen wird.70 Freilich bleibt bei dieser Perspektivierung offen, ob die in elisabethanischer Zeit vorherr- schende Form göttlicher Erwählungsvorstellungen als repräsentativ für die gesamte Tudor-Epoche angesehen werden kann; oder ob beispielsweise mit der puritanischen Interpretation bereits die gesamte Spannbreite der in der Zeit möglichen Bedeutun- gen abgebildet wird. Hier besteht die Gefahr, das Gedankengut der Erwählung auf eine spezifische Aneignungstradition zu reduzieren, ohne dabei allerdings die histori- schen Veränderungen des Gesamtphänomens zu realisieren, dessen Herkunft, Tradi- tionszusammenhang und zeitgenössische Funktion gleichsam unklar bleiben. Vor ei- ner derartigen Herangehensweise hatte bereits in den 1970er Jahren Franco Venturi gewarnt: „Das Risiko […] liegt darin, dass man Ideen untersucht, wenn sie bereits zu geistigen Strukturen geronnen sind, ohne im geringsten das kreative und dynamische Moment ihrer Geburt zu begreifen.“71 Für eine Untersuchung des Werdens der Begriffe und Ideen fehlt jenen auf die elisabethanische und frühe Stuart-Zeit fokussierten Arbeiten in der Regel jedoch die notwendige Blickrichtung, da ihr Interesse zumeist auf die kommenden Ereignisse des Bürgerkrieges gerichtet ist. So wichtig das Ereignis für die englische Geschichte und britische Historiographie auch sein mag, sollte hier nicht erneut der Fehler be- gangen werden, Entwicklungen der Tudor-Zeit einzig in ihrem Charakter als Vor- laufphase der englischen Revolution zu behandeln.72 Für das Studium der Erwäh- lungsvorstellungen muss es demgegenüber darum gehen, im Rahmen einer Neuperspektivierung des Themas Diskurstradition und Entwicklungskontext sichtbar

Joachim Eibach / Günther Lottes (Hgg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, 2. Aufl., Göttingen 2006, S. 293-306, hier S. 298f. 70 In diesen Zusammenhang ist auch die Debatte über die Frage einzuordnen, ob es eine kol- lektive Erwählung gegeben habe, oder ob lediglich Individuen von Gott erwählt (und auch verworfen) werden konnten. Siehe dazu u.a. den Beitrag von Theodore D. BOZEMAN, Federal Theology and the ‚National Covenant‘: An Elizabethan Presbyterian Case Study, in: Church History 61 (1992), S. 394-407 mit einem Überblick zur Debatte; vgl. auch Theodor MAHLMANN, Art. „Prädestination V“, in: TRE 27 (1997), S. 118-156, hier bes. S. 118-137. 71 Franco VENTURI, Utopia e riforma nell’Illuminismo, Turin 1970, S. 24, zitiert nach: Luise Schorn-Schütte, Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 3., rev. und erw. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, S. 541- 567, hier S. 562; ähnliche Kritik bei Günther LOTTES, „The State of the Art“. Stand und Perspektiven der „intellectual history“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn u.a. 1996, S. 27-45, hier S. 34. 72 Vgl. ELTON, High Road to Civil War, passim; eine ähnliche Kritik hinsichtlich der Be- handlung der anglikanischen Kirche äußerte George Bernard. Siehe George W. BER- NARD, The c. 1529 – c. 1642, in: Ders., Power and Politics in Tudor England, Aldershot 2000, S. 191-216, hier S. 191f. EINLEITUNG | 31 zu machen, innerhalb derer sich das Gedankengut bis zum Ende der elisabethani- schen Herrschaft entwickelt hat.

3. AUFBAU DER STUDIE UND VORGEHENSWEISE

3.1 Theoretische Vorüberlegungen: Erwählung als ‚politische Idee‘

Wenn von der Vorstellung göttlicher Erwählung als ‚politischer Idee‘ die Rede ist, so bedarf diese Bestimmung in zweifacher Hinsicht einer näheren Erläuterung. Im Fol- genden soll daher zunächst die theoretische Grundierung des Konzepts skizziert, be- vor darauf aufbauend das methodische Vorgehen und die Anlage der Arbeit erläutert werden. Der Kern des theoretischen Designs ist der politischen Theorie Ernesto La- claus und Chantal Mouffes entnommen, wobei anzumerken wäre, dass deren Kon- zept nicht eins zu eins auf vormoderne Umstände übertragen werden kann – was im Übrigen auch keinesfalls Ziel der Studie ist.73 Der Vorteil dieser Konzeption besteht darin, dass sie ihre Diskurstheorie vor dem Hintergrund eines konfliktbehafteten In- Beziehung-Setzens sozialer und politischer Kräfte entwickelt haben. Mit diesem An- satz kommen sie jüngeren Tendenzen in der Geschichtswissenschaft entgegen, die Fragen nach den Beziehungen zwischen institutionalisierten Ordnungen, zeitgenössi- schen Werthaltungen und Normgefügen untersuchen. Gerade in diesem Bereich wur- de zuletzt verstärkt der Art und Weise nachgespürt, wie Phänomene des historischen Wandels und der Kontinuität durch Prozesse außerhalb eines traditionell als politisch klassifizierten Feldes ausgelöst und befördert wurden.74 Die Vorstellung göttlicher

73 Ernesto LACLAU / Chantal MOUFFE, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekon- struktion des Marxismus, Wien 1991; einführend in die komplexe Theoriebildung La- clau/Mouffes: Andreas RECKWITZ, Ernesto Laclau: Diskurse, Hegemonien, Antagonis- men, in: Stephan Moebius / Dirk Quadflieg (Hgg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 2., erw. & aktual. Aufl., Wiesbaden 2011, S. 300-310; Martin NONHOFF (Hg.), Diskurs – ra- dikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chan- tal Mouffe, Bielefeld 2007; Jacob TORFING, New Theories of Discourse. Laclau, Mouffe and Žižek, Reprint Oxford u.a. 2003; Urs STÄHELI, Die politische Theorie der Hegemo- nie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in: André Brodocz / Gary S. Schaal (Hgg.), Po- litische Theorien der Gegenwart II, Opladen 2001, S. 193-223; Judith BUTLER / Simon CRITCHLEY / Ernesto LACLAU et al., Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheo- rie Ernesto Laclaus, hrsg. von Oliver Marchart, Wien 1998. 74 Dazu insbesondere Luise SCHORN-SCHÜTTE, Historische Politikforschung. Eine Einfüh- rung, München 2006, hier bes. S. 67-85; DIES., Gottes Wort, S. 13-15, 17-30; DIES., Vor- stellungen von Herrschaft, S. 348-353; DIES., Kommunikation über Herrschaft: Obrig- keitskritik im 16. Jahrhundert, in: Raphael (Hg.), Ideen, S. 71-108; DIES., Kom- munikation über Politik im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Forschungskonzept, in: Jahr- buch des Historischen Kollegs 2007, München 2008, S. 3-36; für den englischen Raum siehe Kevin SHARPE, Remapping Early Modern England. The Culture of Seventeenth- Century Politics, Cambridge 2000; DERS., Politische Kultur, Autorität und Schrift im England der Frühen Neuzeit, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturge- 32 | ENGLANDS EXODUS

Erwählung gehört meines Erachtens zu diesen Phänomenen, weshalb die Dis- kurstheorie von Laclau/Mouffe an dieser Stelle zu einem besseren Verständnis von deren historischer Bedeutung und Funktion im England der Tudor-Zeit beitragen kann. Die Rezeption der Kulturalistischen Wende75 in der Geschichtswissenschaft im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen hat dazu beigetragen, ein breiteres Ver- ständnis von Politik zu etablieren, das den Gegenstandsbereich dessen, was in unter- schiedlichen Zeiten als politisch bzw. dem Bereich des Politischen zugehörig emp- funden wurde, selbst historisiert und damit erweitert.76 Neben den vermeintlichen ‚hard facts‘ einer klassischen Politik- und Sozialgeschichtsschreibung konnten hier zahlreiche ‚weiche Faktoren‘ identifiziert werden, die beispielsweise im Sinne von Symbolen, Ritualen, Ideen und Mythen ihren Anteil an der Herstellung und Durch- führung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, also am Feld des Politischen, hat- ten.77 Entscheidend war die Erkenntnis, dass politische Einheiten und kollektive Ak- teure wie Nation, Volk, Kirche oder Staat letztlich nichts ‚Natürliches‘ oder ‚Un- hintergehbares‘ aufweisen, sondern handlungsleitende Fiktionen darstellen, die erst diskursiv hergestellt und durch Repräsentationsprozesse symbolischer, visueller oder sprachlicher Natur erfahrbar gemacht werden müssen.78

schichte des Politischen? [ZHF Beiheft 35], Berlin 2005, S. 149-188; vgl. auch die Anga- ben auf den folgenden Seiten. 75 Vgl. Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen- schaften, Reinbek bei Hamburg 2006; Silvia Serena TSCHOPP, Die Neue Kulturgeschich- te – eine (Zwischen-)Bilanz, in: HZ 289 (2009), S. 573-605; DIES., Einleitung. Begriffe, Konzepte und Perspektiven der Kulturgeschichte, in: Dies. (Hg.), Kulturgeschichte, Stuttgart 2008, S. 9-32; BURKE, Was ist Kulturgeschichte, S. 47-110; DANIEL, Kompen- dium. 76 Siehe inter alia Barbara STOLLBERG-RILINGER, Was heißt Kulturgeschichte des Politi- schen?, in: Dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte, S. 9-24; Achim LANDWEHR, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: AKG 85 (2005), S. 71-117; Thomas MERGEL, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28 (2002), S. 574-607; Ute DANIEL, „Kultur“ und „Gesellschaft“. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: GG 19 (1993), S. 69-99; SHARPE, Po- litische Kultur; DERS., Representations and Negotiations: Texts, Images, and Authority in Early Modern England, in: HJ 42 (1999), S. 853-881; DERS., Celebrating a Cultural Turn: Political Culture and Cultural Politics in Early Modern England, in: JEMH 1 (1997), S. 344-368; BURKE, Was ist Kulturgeschichte, S. 150-155. 77 Barbara STOLLBERG-RILINGER, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Be- griffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), S. 489-527; SHARPE, Re- mapping Early Modern England; Lynn HUNT, Symbole der Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989; zur Mythenforschung zuletzt Karl-Joachim HÖLKESKAMP, Mythos und Politik – (nicht nur) in der Antike. Anregungen und Angebote der neuen „historischen Politikfor- schung“, in: HZ 288 (2009), S. 1-50. 78 STOLLBERG-RILINGER, Kulturgeschichte, S. 14; Philipp SARASIN, Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der „imagined communities“, in: Ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 150-176; vgl. dazu bereits Michael WAL- EINLEITUNG | 33

Die diversen Ansätze und Schwerpunkte, die sich unter dem Etikett der Kulturge- schichte des Politischen versammeln, förderten vor allem die Ausweitung des Poli- tikbegriffs auf Phänomene und Prozesse, die zuvor als apolitisch oder bestenfalls vorpolitisch kategorisiert worden wären.79 In dieser Hinsicht trat neben das Ver- ständnis von Politik als einem routinisierten Vollzug von Herrschaft über bestehende Institutionen wie Parlamente, Gerichtshöfe oder andere administrative Instanzen eine Vorstellung des Politischen.80 Das Politische wird dabei als eine Kommunikations- form betrachtet, die die Grundlagen einer bestehenden Ordnung diskursiviert und damit beispielsweise auch die Existenz oder Bedeutung der genannten Institutionen hinterfragen konnte. Es handelt sich dabei um Kommunikation, in deren Zuge es zu einer „konflikthaften Verhandlung sozialer Kategorien und Beziehungen, von gesell- schaftlichen Deutungen und Identifikationen“ kommt.81 Die maßgebliche Definition des Politischen als Kommunikationsform lieferte der Bielefelder Sonderforschungs- bereich 584:

„Politisch ist Kommunikation dann, wenn sie (a) Breitenwirkung, Nachhaltigkeit und Verbind- lichkeit besitzt, beansprucht oder zuerkannt erhält, (b) Regeln des Zusammenlebens, Machtver-

ZER, On the Role of Symbolism in Political Thought, in: PSQ 82 (1967), S. 191-204, hier S. 194: „The state is invisible; it must be personified before it can be seen, symbolized before it can be loved, imagined before it can be conceived.“; Fiktion darf hier nicht ein- seitig als bloß erfunden missverstanden werden. Natalie Zemon Davis hat vielmehr dar- auf hingewiesen, dass man dem weiteren Sinn der lateinischen Wurzel fingere folgen sol- le, die das Bilden, Gestalten und Formen von Elementen meine. Siehe Natalie Zemon DAVIS, Fiction in the Archives. Pardon tales and their tellers in sixteenth-century France, Cambridge 1987, hier S. 3. 79 Zu einem klassischen Verständnis von Politik siehe etwa den Beitrag von Volker SELLIN, Art. „Politik“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch- sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Ko- selleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789-874; einen Unterschied macht bereits Ernst VOLL- RATH, Art. „Politik, das Politische“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 1047-1075. 80 Vgl. etwa Willibald STEINMETZ, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: Ders. (Hg.), »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 9-40; Achim LANDWEHR, Diskursgeschichte als Ge- schichte des Politischen, in: Brigitte Kerchner / Silke Schneider (Hgg.), Foucault: Dis- kursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 104-122; STOLLBERG- RILINGER, Kulturgeschichte, S. 13f; ferner Oliver MARCHART, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010; Chantal MOUFFE, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frank- furt a. M. 2007; Pierre ROSANVALLON, Pour une histoire conceptuelle du politique. Leçon inaugurale au Collège de France faite le jeudi 28 mars 2002, Paris 2003. 81 Gesa BLUM, Diskursiver Wandel und der Raum des Politischen, in: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 177-209, hier S. 183; ähnlich STOLL- BERG-RILINGER, Kulturgeschichte, S. 14. 34 | ENGLANDS EXODUS hältnisse oder Grenzen des Sag- und Machbaren thematisiert und (c) auf vorgestellte überindi- viduelle Einheiten Bezug nimmt oder sie implizit voraussetzt“82.

Dieses Konzept gibt eine a priori gefasste Vorstellung von politischen Prozessen auf und sieht stattdessen Politik im Sinne des Politischen als Effekt und Resultat von Konflikten über die diskursive Aushandlung von Fragen der Herstellung, Legitimati- on und Perpetuierung gesellschaftlicher Ordnung. Die Diskurstheorie Ernesto La- claus und Chantal Mouffes reflektiert nicht nur dieses konflikthafte In-Beziehung- Setzen von sozialen und politischen Kräften, sondern deutet zugleich darauf hin, dass Entstehung und Funktion von Ideen eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen. Folgt man ihren Ausführungen, können Ideen als organisierendes Zentrum einer An- sammlung von Diskursen bezeichnet werden. Diese Perspektive scheint auch einen Mehrwert für die Untersuchung der Idee göttlicher Erwählung zu enthalten, weshalb es zu klären gilt, ob sie als ein solch neu entstandenes, organisierendes Zentrum an- gesehen werden kann.83 Als Diskurs wird bei Laclau/Mouffe das prinzipiell kontingente In-Beziehung- Setzen einzelner Elemente über eine Differenzierung bezeichnet, die sich durch Arti- kulationen ausdrückt.84 Differenzierung meint hierbei zunächst den Akt, zwei Ele- mente als voneinander verschieden zu konstituieren, wodurch sie erst eine spezifi- sche Identität bekommen.85 Artikulation ist eine Praxis, die von den Akteuren immer

82 Vgl. dazu das Forschungsprogramm des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, einzusehen unter: [14.04.2017], hier S. 1. 83 Vgl. LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 150f sowie insbesondere: Ernesto LACLAU, Why do Empty Signifiers Matter to Politics?, in: Jeffrey Weeks (Hg.), The Lesser Evil and the Greater Good. The Theory and Politics of Social Diversity, London 1994, S. 167-178; auf deutsch erschienen als: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, in: Ders., Emanzipation und Differenz, übers. und hrsg. von Oliver Marchart, Wien 2002, hier Nachdruck 2010, S. 65-78; ein ähnlicher Ansatz wurde von literaturwissenschaftlicher Seite hinsichtlich der Analyse von Interdiskursphänomenen entwickelt. Siehe dazu Jür- gen LINK, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literari- scher Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hgg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 284-307; Rolf PARR, Diskursanalyse, in: Jost Schneider (Hg.), Methodengeschichte der Germanistik, Berlin 2009, S. 89-107, hier bes. S. 100-103. 84 LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 131, 141-152 zum Verhältnis Artikulation/Diskurs; Ernesto LACLAU, Discourse, in: Robert E. Goodin / Philip Pettit (Hgg.), A Companion to Contemporary Political Philosophy, Oxford 1993, S. 431-437; die Kontingenz dieses In- Beziehung-Setzens im Rahmen von Artikulationen betont STÄHELI, Hegemonie, S. 204. 85 Sinn wird hier als Folge von Differenz und Differenzierung betrachtet. Das heißt zwei Elemente werden miteinander in Beziehung gesetzt und als different konstituiert, woraus Sinn entsteht. Dazu auch Martin NONHOFF, Politische Diskursanalyse als Hegemonieana- lyse, in: Ders. (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie, S. 173-193, hier S. 175. EINLEITUNG | 35 wieder neu zu vollziehen ist.86 Dabei wirken einerseits die Strukturen des Diskurses auf die Praxis der Artikulation, welche andererseits selbst Bedeutung generiert, die den Diskurs grundsätzlich perpetuiert, oder auch von dessen Vorgaben abweichen kann. Gerade hier zeigt sich die aktive Rolle des Akteurs in der Reproduktion des Diskurses, da er zum Beispiel die Bedeutungsfülle von Begriffen ausschöpfen, sie kreativ nutzen und auf neue Kontexte übertragen kann, um dadurch abweichende In- terpretationen zu liefern respektive bestehende zu modifizieren.87 Mit Artikulation können dabei sowohl sprachliche wie auch nicht-sprachliche Akte gemeint sein.88 In- stitutionelle Komplexe werden dadurch ebenso zum Gegenstand eines relationalen Sinnzusammenhangs Diskurs wie etwa mündliche und schriftliche Kommunikation oder auch Praktiken des Umgangs mit Objekten.89 Gesellschaft bzw. der Bereich des Sozialen bestehen für Laclau/Mouffe demnach aus einer Agglomeration petrifizierter oder sedimentierter Diskurse.90 In dieser Form tritt auch bei ihnen der Diskurs als Vermittler zwischen einer an sich unzugänglichen Realität und dem Einzelnen auf, indem er diese Realität im Rahmen eines Diffe-

86 Wie RECKWITZ, Laclau, S. 303 anmerkt, existieren Diskurse für Laclau / Mouffe nur in der Praxis ihrer Artikuliertheit. Vgl. LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 127; dieser An- satz ist auch insofern klassischen Diskurskonzepten vorzuziehen, weil er den handelnden Subjekten eine aktive Rolle zuweist und sie nicht zu passiven Teilnehmern degradiert. Siehe dazu auch Cornel ZWIERLEIN, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denk- rahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland [Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayeri- schen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74], Göttingen 2006, S. 22f; der Frühneuzeit- Historiker Ulrich Niggemann gebraucht für diesen Vorgang den Begriff der „Verargu- mentierung“, der sich inhaltlich m.E. weitgehend mit dem Konzept der Artikulation deckt. Siehe NIGGEMANN / RUFFING, Einführung, S. 16f. 87 RECKWITZ, Laclau, S. 303; die Geschichtswissenschaft hat dies in den letzten Jahren bei- spielsweise unter der Perspektive untersucht, dass Innovation in der Frühen Neuzeit aus Tradition entstehen müsse. Siehe dazu SCHORN-SCHÜTTE, Gottes Wort, S. 14f; DIES., Vorstellungen von Herrschaft, S. 348-353; Robert von FRIEDEBURG / DIES., Einleitung. Politik und Religion: Eigenlogik oder Verzahnung?, in: Dies. (Hgg.), Politik und Religi- on: Eigenlogik oder Verzahnung? Europa im 16. Jahrhundert [HZ, Beihefte N.F., Bd. 45], München 2007, S. 1-12; Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN / Anja HALLACKER, Topik: Tradition und Erneuerung, in: Thomas Frank et al. (Hgg.), Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 15-27; ein klassischer Beitrag zu diesem Feld wäre etwa Jacques DERRIDA, Si- gnatur Ereignis Kontext, in: Ders., Die différance. Ausgewählte Texte, hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart 2004, S. 68-109. 88 Siehe Achim LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 76-78, 87f. LACLAU / MOUFFE geben damit also die Foucault’sche Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auf. 89 Vgl. LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 143-145; RECKWITZ, Laclau, S. 302f; TORFING, New Theories, S. 90f; Martin NONHOFF, Diskurs, in: Gerhard Göhler / Mattias Iser / Ina Kerner (Hgg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 65-82, hier S. 76f. 90 RECKWITZ, Laclau, S. 302; STÄHELI, Hegemonie, S. 197f. 36 | ENGLANDS EXODUS renzarrangements auf die eine oder andere Weise organisiert und mit Bedeutung ver- sieht. Ganz im Sinne Foucaults stellen Diskurse also auch bei Laclau/Mouffe Phä- nomene dar, die Aussagen über Wirklichkeit verknappen und lediglich einen Teil der insgesamt möglichen Artikulationen jeweils aktualisieren.91 Der verworfene bzw. ausgeklammerte Teil verschwindet indes nicht einfach, sondern bleibt als alternative Interpretation grundsätzlich bestehen. Die Tatsache, dass Wirklichkeit somit immer auch anders strukturiert und konstruiert werden kann, macht Diskurse zu hochgradig instabilen bzw. prekären Gebilden, die beständig reproduziert und in ihrer Beschaf- fenheit bestätigt werden müssen.92 Ihre Theorie dreht sich also im Kern um die Fra- gen, wie Sozialität und Ordnung her- und auf Dauer gestellt werden können, und wie diese Prozesse immer wieder durch Konflikte untergraben werden.93 Im Rahmen der Herstellung und Perpetuierung einer Ordnung kommen sodann Ideen ins Spiel, die als eine Art Knotenpunkt angesehen werden müssen, an dem ein- zelne (Spezial-)Diskurse oder „Sprachen“ zusammengebunden, aufeinander bezogen oder in eine sonstige, sinnvolle Beziehung gesetzt werden.94 Deren hauptsächliche Funktion besteht darin, die hergestellte Diskursformation oder -verschränkung zu re- präsentieren und sie damit auch politisch nutzbar zu machen.95 Durch diesen Vor- gang etabliert die Idee zugleich die Grenzen der jeweiligen Formation, konstituiert einen Horizont, der bestimmte Aussagen und Handlungen zulässt und andere aus- schließt, und generiert dadurch schließlich Sinn.96 Die so verstandene Idee schafft und transportiert mit anderen Worten eine spezifische Interpretation von Ordnung.

91 Michel FOUCAULT, L’ordre du discours, Paris 1972, dt.: Die Ordnung des Diskurses. In- auguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2007; LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, S. 72-75. 92 Vgl. LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 141-152; NONHOFF, Diskurs, S. 76; STÄHELI, Hegemonie, S. 199. 93 Luise Schorn-Schütte hat gerade diesen Aspekt des theoretischen Angebots von Laclau / Mouffe besonders hervorgehoben. Siehe SCHORN-SCHÜTTE, Politikforschung, S. 79. 94 Die enorme Bedeutung dieser Knotenpunkte für Vergemeinschaftunsprozesse hat zuletzt BLUM, Diskursiver Wandel, S. 181f betont; vgl. auch Lucian HÖLSCHER, Die Einheit der historischen Wirklichkeit und die Vielfalt der geschichtlichen Erfahrung, in: Ders., Sem- antik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 68-78, hier bes. S. 77f; ROSANVALLON, histoire conceptuelle, S. 13. 95 Stäheli spricht auch von einer den Diskurs organisierenden Perspektive, die damit erzeugt werde. Siehe STÄHELI, Hegemonie, S. 201. Gleichsam weist er daraufhin, dass es sich dabei um eine „imaginierte Einheit“ handele (S. 207), was die Knotenpunkte Laclau / Mouffes in die Nähe jener handlungsleitenden Fiktionen der Kulturgeschichte im Sinne von Nation, Staat, Volk, Rasse, Geschlecht etc. rückt. Vgl. dazu STOLLBERG-RILINGER, Kulturgeschichte, S. 14; siehe auch die Darstellung bei BURKE, Was ist Kulturgeschichte, S. 49, 93-96, 122-125 zur histoire de l’imagination sociale; SCHORN-SCHÜTTE, Politik- forschung, S. 83f. 96 Zur Sinnproduktion aus einer kulturtheoretischen Perspektive Andreas RECKWITZ, Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive: Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität, in: Bir- git Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 33-56. EINLEITUNG | 37

Wichtig erscheint, dass es in historischer Hinsicht eine Vielzahl solcher Knotenpunk- te geben konnte, die sowohl nebeneinander als auch in Spannung und Konflikt zuein- ander existierten, weshalb es prinzipiell auch eine Vielzahl von mehr oder weniger stark divergierenden Ordnungsentwürfen gab.97 Die Bildung und Durchsetzung solcher Ideen sind im Wesentlichen ein Ergebnis antagonistischer Auseinandersetzungen, die im Sinne der genannten Definition Phä- nomene des Politischen darstellen. In antagonistischen Konflikten werden die sozial sedimentierten Diskurse gewissermaßen reaktiviert und erneut zum Gegenstand ge- sellschaftlicher Aushandlungsprozesse gemacht. In ihrem Zuge entsteht ein Raum des Politischen, in dem bislang nicht hinterfragte und als ‚wahr‘ bzw. ‚natürlich‘ oder ‚alternativlos‘ angenommene soziale Strukturen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt und neu verhandelt werden müssen. Das Politische ist also der Ort der Verhandlung des Sozialen; als strukturierendes Element ist es damit gleichsam der Veränderungsfaktor des Sozialen.98 Nach Laclau/Mouffe zeichnen sich antagonistische Auseinandersetzungen im be- sonderen Maße dadurch aus, dass in ihrem Rahmen konkurrierende Interpretationen von Wirklichkeit interagieren, wobei keine davon einen prinzipiellen Vorrang vor den anderen beanspruchen kann. Die Entscheidung, welche Version letztlich institu- iert und welche verworfen wird, hängt nicht von objektiven Gegebenheiten ab, son- dern ist ein Akt der Macht.99 Diese Beschreibung antagonistischer Konflikte scheint für das 16. Jahrhundert in besonderer Weise auf die Reformation und deren unmittel- bare Folgen im Sinne einer Pluralisierung von Wahrheit zuzutreffen.100 Nicht nur

97 Siehe einführend in verschiedene Ordnungsentwürfe der Frühen Neuzeit Horst DREITZEL, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Ein- herrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln u.a. 1991; Quentin SKINNER, The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge u.a. 1978; für England u.a. John GUY, Monarchy and counsel: models of the state, in: Patrick Collinson (Hg.), The Sixteenth Century, 1485-1603 [The Short Oxford History of the Bri- tish Isles], Oxford 2002, S. 113-142; John F. MCDIARMAID (Hg.), The Monarchical Re- public of Early Modern England. Essays in response to Patrick Collinson, Aldershot 2007. 98 Siehe BLUM, Diskursiver Wandel, S. 192; Martin NONHOFF, Politik und Regierung: Wie das sozial Stabile dynamisch wird und vice versa, in: Stephan Moebius / Andreas Reck- witz (Hgg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008, S. 277- 294, hier S. 282; vgl. zur produktiven Kraft von Konflikten auch SCHORN-SCHÜTTE, Got- tes Wort, S. 18f, 21-23. 99 Vgl. Ernesto LACLAU, New Reflections on the Revolution of Our Time, London/New York 1990, S. 35: „The moment of antagonism where the undecidable nature of the alter- natives and their resolution through power relations becomes fully visible constitutes the field of the ‚political‘.“; DERS., Macht und Repräsentation, in: Ders., Emanzipation und Differenz, S. 125-149; LACLAU / MOUFFE, Hegemonie, S. 25 zur Ablehnung jeglicher Form von Essentialismus; LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, S. 86. 100 Die anwachsende Pluralität sowie die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungszwänge werden sehr schön dargestellt bei Ulinka RUBLACK, Die Re- formation in Europa, Frankfurt a. M. 2003; vgl. auch Diarmaid MACCULLOCH, Die Re- formation 1490-1700, München 2008, hier bes. Teil I; freilich beschränkte sich diese Plu- 38 | ENGLANDS EXODUS förderte sie konkurrierende Interpretationen der göttlichen Wahrheit zutage, sondern evozierte zugleich eine Art Entscheidungszwang zwischen den verschiedenen Ange- boten. Aufgrund der essenziellen Stellung, die Religion einerseits im Leben der Zeit- genossen und andererseits hinsichtlich der Aufrechterhaltung einer politisch-sozialen Ordnung einnahm, drohte die Pluralisierung von Gottes Wahrheit massive Konflikte auszulösen, wodurch Religion wieder zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und letztlich politischer Aushandlungsprozesse wurde.101 Die Reformation förderte mit anderen Worten die Reaktivierung des sedimentierten Diskurses Religion.102 Zu Recht ist daher jüngst die Rolle betont worden, die religiösen Argumentations- mustern sowohl in der Bedrohung als auch im Hinblick auf allgemeinverbindliche

ralisierung nicht auf den religiösen Bereich, sondern wurde flankiert durch eine umfas- sende Horizonterweiterung infolge der Wiederentdeckung der Antike sowie der Entdek- kung und zunehmenden Verflechtung mit einer außereuropäischen Welt. Siehe dazu zu- letzt KOHLER, Neue Welterfahrungen; Jan-Dirk MÜLLER / Wulf OESTERREICHER / Friedrich VOLLHARDT (Hgg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit [Pluralisierung & Autorität, Bd. 21], Berlin 2010. 101 Zur Stellung der Religion im Leben der Menschen RUBLACK, Reformation, S. 13-16; Keith THOMAS, Religion and the Decline of Magic. Studies in popular beliefs in sixteenth and seventeenth century England, Reprint London 1973, S. 25-50, 78-112; Margaret SPUFFORD, The importance of religion in the sixteenth and seventeenth centuries, in: Dies. (Hg.), The World of Rural Dissenters, 1520-1725, Cambridge 1995, S. 1-40; Peter DINZELBACHER, Religiosität: Mittelalter, in: Ders. (Hg.), Europäische Mentalitätsge- schichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 120-137; Arnold AN- GENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 4. Aufl., Darmstadt 2009; siehe fer- ner die stupende Studie von Eamon DUFFY, The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England c. 1400 – c. 1580, 2. Aufl., New Haven/London 2005, hier bes. Part I; Heiko A. OBERMAN, Reformation: Epoche oder Episode, in: ARG 68 (1977), S. 56- 109; KOSLOFSKY, Kulturelle Reformation, S. 18-20; MACCULLOCH, Reformation, S. 27- 64 betont zudem die Bedeutung der institutionellen Vermittlung durch die Kirche. 102 Daher kann man die Reformation auch als „diskursives Ereignis“ bezeichnen, in dessen Folge eine Neuordnung der Diskursformation notwendig wurde. Begriff bei LINK, Litera- turanalyse, S. 295; ähnlich Slavoj ŽIŽEK, Ein Plädoyer für die Intoleranz, 4., überarb. Aufl., Wien 2009, S. 29, 35-39, der dies als den Moment der „eigentlichen Politik“ be- zeichnet; freilich muss hier der ‚gemachte Charakter‘ des Ereignisses Reformation betont werden. Keineswegs dürfen od. sollen damit langfristige gesellschaftliche Wandlungs- prozesse negiert werden. Siehe dazu die Darstellung bei Olaf MÖRKE, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung [Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 74], 2., aktual. Aufl., München 2011, bes. S. 67-87; Stefan EHRENPREIS / Ute LOTZ-HEUMANN, Reformation und konfessionelles Zeitalter, 2. Aufl., Darmstadt 2008, S. 17-27; zur Kon- struktion der Reformation als Ereignis Marcus SANDL, Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation, Zürich 2011; Natalie KRENTZ, Auf den Spuren der Erin- nerung. Wie die „Wittenberger Bewegung“ zu einem Ereignis wurde, in: ZHF 36 (2009), S. 563-595. EINLEITUNG | 39

Prozesse der Herstellung, Sicherung und Legitimation politischer Herrschaft und ge- sellschaftlicher Ordnung zukam.103 Um einen bestehenden Antagonismus aufzulösen, bilden sich laut Laclau/Mouffe um spezifische Ideen herum hegemoniale Formationen, die aus der Durchsetzung ei- nes bestimmten Deutungsmusters (Idee) in Kombination mit der Führerschaft einer bestimmten Gruppe hervorgehen.104 Entscheidend ist, dass die propagierte Idee eine unhintergehbare, ‚wahre‘ Weltbeschreibung bzw. ein ‚richtiges‘ Verhalten repräsen- tiert, die sich mit dem Herrschaftsanspruch einer sich erst im Prozess der Hegemo- nialisierung bildenden Gruppe verbinden.105 Hegemonie bedeutet demnach, dass zu- nächst partikulare Ziele, Identitätsentwürfe und Deutungen mit dem Anspruch universaler Gültigkeit versehen und in der Folge mit der gesamten Gesellschaft iden- tifiziert werden.106 Im Zuge solcher Hegemonialisierungen kommt es sodann zur Umgruppierung und Neu-Verschränkung bestehender Diskurse, wobei nicht selten vormals prekäre oder ausgeschlossene Wissensbestände vor dem Hintergrund einer konkreten Problemkonstellation aufgewertet werden und eine Statusänderung erfah- ren.107

103 Siehe u.a. Luise SCHORN-SCHÜTTE, Gottes Wort, S. 13-30; DIES. / Sven TODE, Debatten über die Legitimation von Herrschaft: Politische Sprachen der Frühen Neuzeit. Einleiten- de Bemerkungen, in: Dies. (Hgg.), Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politi- sche Sprachen in der Frühen Neuzeit, Berlin 2006, S. 9-15; von FRIEDEBURG / SCHORN- SCHÜTTE (Hgg.), Politik und Religion; SCHORN-SCHÜTTE, Kommunikation über Politik im Europa der Frühen Neuzeit; eine besondere Form stellen in diesem Zusammenhang Studien zur „politischen Sprache“ des Biblizismus dar. Siehe dazu Andreas PEČAR / Kai TRAMPEDACH, Der „Biblizismus“ – eine politische Sprache der Vormoderne?, in: Dies. (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument [HZ Beiheft N.F., Bd. 43], München 2007, S. 1-18 sowie die Studie von PEČAR, Macht der Schrift. 104 Vgl. LACLAU, Leere Signifikanten, S. 70-77; NONHOFF, Diskurs, S. 76f; DERS., Politi- sche Diskursanalyse, S. 177; RECKWITZ, Laclau, S. 304f. 105 Auf die Tatsache, dass sich die Gruppe erst im Prozess der Durchsetzung einer spezifi- schen Idee zur Hegemonie etabliert, weist Hillis Miller nachdrücklich hin. Siehe J. Hillis MILLER, ‚Taking Up A Task‘. Moments of decision in Ernesto Laclau’s thought, in: Si- mon Critchley / Oliver Marchart (Hgg.), Laclau. A critical reader, London/New York 2004, S. 217-225, hier S. 218: „Laclau uses the term [Hegemonie – Anm. BQ] quite dif- ferently, to name the way a contingent group within a given society […] ‚takes upon it- self the task‘ of political emancipation from unjust ruling powers.“; ähnlich Jacques RANCIÈRE, Zehn Thesen zur Politik, Zürich 2008, S. 23-26; NONHOFF, Politische Dis- kursanalyse, S. 181-184. 106 Vgl. LACLAU, Leere Signifikanten, S. 70-77; BLUM, Diskursiver Wandel, S. 192; NON- HOFF, Diskurs, S. 77; in England geschieht dies v.a. durch die Verbindung mit einer Ge- meinwohlsemantik. Siehe dazu den luziden Beitrag der Early Modern Research Group, veröffentlicht durch Glenn BURGESS / Mark KNIGHTS, Commonwealth: The social, cultural, and conceptual contexts of an Early Modern Keyword, in: HJ 54 (2011), S. 659- 687. 107 Vgl. Michel FOUCAULT, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 246f, der herausstellt, dass dies nicht total gedacht werden darf. Mit dem Neuen gingen zugleich Phänomene der Kontinuität, Rückkehr oder Wiederholug einher. Ähnlich hat Luise 40 | ENGLANDS EXODUS

Im englischen Fall steht zu vermuten, dass die Idee göttlicher Erwählung als eine Reaktion auf die reformatorischen und generell neuen Entwicklungen der Zeit ent- stand, die Alfred Kohler zuletzt unter der Bezeichnung „neue Welterfahrungen“ zu- sammengefasst hat.108 Diese neuen Welterfahrungen manifestierten sich auf spezifi- sche Weise innerhalb Englands und verbanden sich mit den konkreten Problematiken des Königreiches. Hierdurch kam es letztlich auch dort zu einer Phase des Umbruchs und Wandels, in der alte Gewissheiten hinterfragt und neue Wege beschritten wur- den. Diese Situation bot Gelegenheit für Prozesse der Um- und Neu-Verschränkung von Diskursen, weshalb in diesem Zusammenhang zu fragen wäre, ob und ggf. wie die Idee göttlicher Erwählung als Grundlage von Hegemonialisierungsversuchen ein- gesetzt wurde. Des Weiteren gilt es zu klären, welche Auswirkungen eine derartige Inanspruchnahme auf die politisch-gesellschaftliche Ordnung des englischen Ge- meinwesens hatte. Hegemonien bestehen in der Regel aus einer Vielzahl unterschiedlicher Partikula- rinteressen und Ziele, die eines Einheit stiftenden Bandes bedürfen. In der Dis- kurstheorie von Laclau/Mouffe wird diese Wirkung durch die Abgrenzung zu einem verworfenen Außen geschaffen, das als Negation der angestrebten Ordnung imagi- niert wird. Dessen konstitutiver Wert besteht darin, dass es das differentielle System Diskurs mit einer ausgleichenden Wirkung (einer Logik der Äquivalenz) überformt, wodurch einzelne diskursive Elemente im Verhältnis zum Ausgeschlossenen als gleichwertig erscheinen. Innere Differenzen, wie zum Beispiel zwischen Herrscher und Beherrschten, Stadt/Land etc. lassen sich derart über die Identifizierung mit einer überformenden Idee wie beispielsweise der Nation und durch die Abgrenzung dieser zu einer anderen Nation nivellieren. Wichtig ist, dass die Unterschiede erst im Ver- hältnis zu dem jeweils als Außen konstruierten Gegenstück einer Idee als gleichran- gig erscheinen. Dieses Verhältnis bekommt in der Theoriebildung Laclau/Mouffes eine konstitutive Bedeutung zugewiesen, weil es ihrer Ansicht nach für die Kreation und Perpetuierung zentraler Ideen wie Nation, Zivilisierung usw. notwendig gewesen sei. Für die Untersuchung englischer Erwählungsvorstellungen eröffnet sich hier eine zweite wichtige Perspektive, indem zu klären wäre, was den zeitgenössischen Ge- genbegriff bzw. antagonistischen Gegenpol zur Idee der Erwählung bildete.109

Schorn-Schütte betont, dass in traditionalen Gesellschaften Veränderungen innerhalb be- stehender Traditionen geschehen müssten. Vgl. SCHORN-SCHÜTTE, Vorstellungen von Herrschaft, S. 348-353; DIES., Gottes Wort, S. 14f, 126-130; zum prekären Wissen zu- letzt Martin MULSOW, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neu- zeit, Berlin 2012, hier bes. S. 11-36. 108 Kohler fasst diese neuen Welterfahrungen in drei wichtigen Punkten zusammen, die sich selbstverständlich noch einmal auffächern. So nennt er als wesentliche Faktoren die eu- ropäische Expansion, die Bellizität Europas nach innen und außen sowie die Reformati- on. Vgl. KOHLER, Neue Welterfahrungen, hier etwa S. 20f. 109 Zumindest hinsichtlich etwaiger Feindbildkonstruktionen gibt es hier bereits zahlreiche Studien. Siehe inter alia Peter LAKE, Anti-popery: the Structure of a Prejudice, in: Richard Cust / Ann Hughes (Hgg.), Conflict in Early Stuart England. Studies in Religion and Politics 1603-1642, London/New York 1989, S. 72-106; Robert CLIFTON, Fear of Popery, in: Conrad Russell (Hg.), The Origins of the English Civil War, London 1973, S. 144-167; Carol Z. WIENER, The Beleaguered Isle. A study of Elizabethan and Early Ja- EINLEITUNG | 41

Im Gegensatz zu einer simplifizierenden, bipolaren Schematisierung, wie sie vor allem für anthropologische und literaturwissenschaftliche Konstruktionen der An- ders- und Fremdartigkeit kritisiert worden ist110, zeichnet sich der Ansatz von La- clau/Mouffe gerade dadurch aus, dass er keine einfache Abgrenzung beschreibt.111 Vielmehr betonen beide Autoren die prinzipielle Abhängigkeit einer Diskursformati- on (Idee) von dem jeweils Ausgeschlossenen, das in Form einer antagonistischen, d.h. hier vor allem: einer asymmetrichen Beziehung als radikales Außen in den inne- ren Debatten präsent bleibt. Die erfolgreiche Reproduktion und Stabilisierung einer Diskursformation in Gestalt einer spezifischen Idee hängt somit in fundamentaler Weise von der Konstitution dieses Außens ab, das immer auch mit reproduziert wer- den muss. Unter Umständen kann dies allerdings dazu führen, dass das Außen zu ei- ner Quelle von Faszination und Attraktivität avanciert und die Basis zur Formulie- rung konkurrierender Deutungs- und Wahrnehmungsmuster bildet.112 Hieraus können somit eventuell alternative Versionen von Wirklichkeit entwickelt werden, die zur Unterminierung bzw. zum vollständigen Umkippen der hegemonialen Formation führen. Gerade durch diesen Punkt vermag das theoretische Konzept von La- clau/Mouffe Politik und politisches Handeln als kontingente Phänomene zu entwer- fen, die beständig zwischen dem Versuch der Fixierung bestimmter Normen und Werte (Kontinuität) und deren fortwährender Herausforderung (Wandel) oszillieren. Die theoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sollen im Folgenden als Orientierung dienen, um eine neue Perspektive auf den zu untersu- chenden Gegenstand zu entwerfen. Angeregt durch ihre Ausführungen erscheint es lohnenswert, zum einen den Prozess der Etablierung bzw. Konstituierung der Erwäh- lungsvorstellungen als politischer Idee in den Blick zu nehmen. Zum anderen geben ihre Ausführungen auch eine konzeptionelle Richtung vor, die im Besonderen auf die zeitgenössischen Antagonismen als ausschlaggebende kontextuelle Zusammenhänge

cobean Anti-Catholicism, in: P & P 51 (1971), S. 27-62; William S. MALTBY, The Black Legend in England. The Development of Anti-Spanish Sentiment 1558-1660, Durham (NC) 1971; Martina MITTAG, Nationale Identitätsbestrebungen und antispanische Pole- mik im englischen Pamphlet 1558-1630, Frankfurt a. M. u.a. 1993; Colin HAYDON, ‚I lo- ve my King and my Country, but a Roman catholic I hate‘: anti-catholicism, xenophobia and national identity in eighteenth-century England, in: Claydon / McBride (Hgg.), Prote- stantism and National Identity, S. 33-52; Linda COLLEY, Britishness and Otherness: An Argument, in: JBS 31 (1992), S. 309-329; zuletzt Leticia ALVAREZ-RECIO, Fighting the Antichrist. A cultural history of anti-Catholicism in Tudor England, Brighton u.a. 2011; Arthur F. MAROTTI, Religious Ideology and Cultural Fantasy. Catholic and Anti-Catholic Discourses in Early Modern England, Notre Dame 2005, hier bes. Kap. 5; DERS. (Hg.), Catholicism and Anti-Catholicism in Early Modern English Texts, Basingstoke u.a. 1999. 110 Siehe etwa die Kritik bei CLAYDON / MCBRIDE, The trials of the chosen peoples, S. 7; ähnlich Marcus PYKA, Geschichtswissenschaft und Identität. Zur Relevanz eines umstrit- tenen Themas, in: HZ 280 (2005), S. 381-392, hier S. 385, 391. 111 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Problematik liefert etwa Alois HAHN, Die soziale Konstruktion des Fremden, in: Walter M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt a. M. 1994, S. 140-163. 112 Siehe RECKWITZ, Laclau, S. 306; ähnlich LINK, Literaturanalyse, S. 300; HAHN, Soziale Konstruktion, S. 151-156. 42 | ENGLANDS EXODUS hinweisen. Dieser zweite Punkt spiegelt sich sowohl im methodischen Zuschnitt als auch im Aufbau der vorliegenden Arbeit wider.

3.2 Das methodische Vorgehen

Das methodische Vorgehen richtet sich nach den Prämissen der Neueren Ideenge- schichte.113 Ihr Vorteil gegenüber einer klassischen Begriffsgeschichte besteht darin, dass die Neuere Ideengeschichte eine Betrachtung des Kontextes präferiert, wodurch mit dem Begriff verbundene Elemente und Assoziationen sichtbar gemacht werden können, die bei einer rein begriffsgeschichtlichen Fokussierung ansonsten ignoriert werden würden.114 Raingard Eßer warnte in diesem Zusammenhang zu Recht vor der Ausblendung von Entwicklungskontexten und spezifischen Diskurstraditionen, in denen Ideen zeitgenössisch verankert gewesen seien.115 Im Fall der Vorstellung gött- licher Erwählung ist es somit nicht ausreichend, lediglich die diversen begriffsge- schichtlichen Bedeutungen zu registrieren, die von Formen individueller Erwählung (Priester, Herrscher oder Propheten) bis hin zu kollektiven Vorstellungen reichen

113 Zur Neueren Ideengeschichte Anthony GRAFTON, Die Macht der Ideen, in: Ulinka Rublack (Hg.), Die Neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln, Frankfurt a. M. 2013, S. 446-475; STOLLBERG-RILINGER, Einleitung; SCHORN-SCHÜTTE, Ideen-, Gei- stes-, Kulturgeschichte; siehe ferner die Beiträge von Günther LOTTES, Luise SCHORN- SCHÜTTE, Raingard ESSER, Iain HAMPSHER-MONK und Robert JÜTTE in: Eibach / Lottes (Hgg.), Kompass, S. 261-317; Lutz RAPHAEL, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungs- kraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwer- punktprogramms, in: Ders. / Heinz-Elmar Tenorth (Hgg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesge- schichte, München 2006, S. 11-27; Dario CASTIGLIONE / Iain HAMPSHER-MONK (Hgg.), The History of Political Thought in National Context, Cambridge 2001; Herfried MÜNK- LER, Politische Ideengeschichte, in: Ders. (Hg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 103-131; Donald R. KELLEY, The Descent of Ideas. The History of Intellectual History, Aldershot 2002. 114 LOTTES, Neue Ideengeschichte, S. 264; dass Wert auf eine rigide Kontextualisierung ge- legt wird, ist wesentlich dem Einfluss bzw. der Rezeption der sog. ‚Cambridge School of History‘ zu verdanken. Siehe dazu die programmatischen Aufsätze von Quentin SKIN- NER, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: H & T 8 (1969), S. 3-53 und John G. A. POCOCK, The Concept of a language and the metier d’historien: some con- siderations on practice, in: Anthony Pagden (Hg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19-38; zur Cambridge School u.a. Olaf AS- BACH, Von der Geschichte politischer Ideen zur „History of Political Discourse“? Skin- ner, Pocock und die „Cambridge School“, in: ZPol 12 (2002), S. 637-667; Eckhart HELLMUTH / Christoph von EHRENSTEIN, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27 (2001), S. 149-172; Martin MULSOW / Andreas MAHLER (Hgg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010. 115 Raingard ESSER, Historische Semantik, in: Eibach / Lottes (Hgg.), Kompass, S. 281-292, hier S. 287; ähnlich bereits LOTTES, State of the Art, S. 33f. EINLEITUNG | 43 konnten.116 Das klassische Vorbild in diesem Bereich stellen die alttestamentlichen Israeliten dar.117 Freilich konnte deren Exempel auch dazu instrumentalisiert werden, um die kollektive Erwählung lediglich auf eine kleine Gruppe innerhalb eines größe- ren Verbandes zu reduzieren, die sich dann als ‚wahre Gläubige‘ vom Gros der Nicht- bzw. nur unzureichend Gläubigen abgrenzt. Gerade im Gefolge der Reforma- tion führte dies zur Entstehung zahlreicher ‚radikaler‘ Splittergruppen, die eine ex- klusive Beziehung zu Gott für sich in Anspruch nahmen.118

116 Siehe Horst SEEBASS, Art. „Erwählung I“, in: TRE 10 (1982), S. 182-189, hier S. 182f; Hans WILDBERGER, Art. „erwählen“, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Te- stament, 2 Bde., hrsg. von Ernst Jenni unter Mitarbeit von Claus Westermann, hier Bd. 1, 5. Aufl., Gütersloh 1994, Sp. 275-300, hier Sp. 281-283, 295f; Klaus SEYBOLD, Art. „Erwählung I“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Hans Dieter Betz et al., Bd. 2, 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 1999, Sp. 1478-1481, hier Sp. 1480; im Mittelalter wurden ausgefeilte Argumentationen entwickelt, um den jeweiligen Vorrang des weltlichen Herrschers oder des Papstes u.a. durch Rekurs auf den erwählten Status zu begründen. Siehe dazu klassisch Walter ULLMANN, Principles of Government and Poli- tics in the Middle Ages, 4. Aufl., London 1978; John N. FIGGIS, The Divine Right of Kings, Reprint der 2. Aufl., Cambridge 1922; Glenn BURGESS, The Devine Right of Kings Reconsidered, in: EHR 107 (1992), S. 837-861; zuletzt Andreas KOSUCH, Abbild und Stellvertreter Gottes. Der König in herrschaftstheoretischen Schriften des späten Mit- telalters [Passauer Historische Forschungen, Bd. 17], Köln u.a. 2011. Zu den Propheten und Prophetinnen siehe inter alia Bärbel BEINHAUER-KÖHLER, Art. 4 „Prophet/Prophetin/Prophetie I“, in: RGG , Bd. 6 (2003), Sp. 1692-1694; Jörg JEREMIAS, Art. „Prophet/Prophetin/Prophetie II“, in: Ibid., Sp. 1694-1699; Jürgen EBACH, Art. „Prophetismus“, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Karl-Heinz Kohl (Hgg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart u.a. 1998, S. 347- 359; Wassilios KLEIN, Art. „Propheten/Prophetie“, in: TRE 27 (1997), S. 473-476; zu den Prophetinnen im englischen Raum zuletzt Diane WATT, Secretaries of God. Women Prophets in Late Medieval and Early Modern England, Cambridge 1997; Rosalynn VOA- DEN (Hg.), Prophets Abroad. The Reception of Continental Holy Women in Late- Medieval England, Cambridge 1996; Nancy Bradley WARREN, Women of God and Arms. Female Spirituality and Political Conflict, 1380-1600, Philadelphia 2005. 117 SEEBASS, Erwählung I, S. 182, 186f; WILDBERGER, erwählen, Sp. 280f, 283-286; Ferdi- nand DEXINGER, Erwählung und jüdisches Selbstverständnis, in: Mosser (Hg.), ‚Gottes auserwählte Völker‘, S. 21-37; DERS., Art. „Erwählung II“, in: TRE 10 (1982), S. 189- 4 192; SEYBOLD, Erwählung I, Sp. 1479f; Christian LINK, Art. „Erwählung III“, in: RGG , Bd. 2, Sp. 1482-1489; GITLIN / LEIBOVITZ, The Chosen Peoples, S. 15. 118 In England während des 16. Jahrhunderts etwa die Anabaptisten und Freewillers. Siehe dazu Irvin B. HORST, The Radical Brethren. Anabaptism and the English Reformation to 1558, Nieuwkoop 1972; David LOADES, Protestant sectarianism in England in the mid- sixteenth century, in: The Church in a Changing Society. Conflict – Reconciliation or Ad- justment?, hrsg. von der Commission internationale d’Histoire Ecclésiastique comparée, Uppsala 1978, S. 76-81; Thomas FREEMAN, Dissenters from a dissenting Church: the challenge of the Freewillers, 1550-1558, in: Peter Marshall / Alec Ryrie (Hgg.), The Be- ginnings of English Protestantism, Cambridge 2002, S. 129-156; ferner BRACHLOW, Communion of Saints; das Etikett ‚radikal‘ muss primär als zeitgenössische Zuschrei- 44 | ENGLANDS EXODUS

Im Gegensatz dazu erscheint die Frage viel wichtiger, welche Akteure zu welcher Zeit wie auf eine bestimmte Form göttlicher Erwählung rekurrierten und welche Zie- le sie damit konkret verfolgten.119 Erst der Bezug zu einer politischen Praxis erlaubt in dieser Hinsicht eine Kontextualisierung, die nicht nur die Ausformung und An- wendung der Erwählungspolitik in ihren verschiedenen Formen erfasst, sondern auch konstruierte Übergänge oder Konflikte zwischen den einzelnen Ausprägungen reflek- tiert. Im Sinne der Neueren Ideengeschichte soll die Vorstellung göttlicher Erwählung deshalb nicht als starres Gebilde aufgefasst werden. Vielmehr muss zum einen der Prozess in den Blick genommen werden, wie aus einer allgemeinen Vorstellung eine genuin englische, politische Idee geworden ist. Erst hierdurch scheint ein tieferes Verständnis gewährleistet werden zu können, zu welchem Zweck sie hernach einge- setzt worden ist. Zum anderen gilt es zu berücksichtigen, dass diese neu geformte po- litische Idee selbst einem Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck ausgesetzt war. Angesichts dessen müssen die Prozesse des Wandels bzw. der Anpassung der Idee an wechselnde politisch-soziale Kontexte ebenfalls reflektiert werden.120 In diesem Zu- sammenhang kommt sodann den historischen Akteuren eine zentrale Bedeutung zu, deren Handeln zwar einerseits innerhalb der diskursiven Muster der Zeit stattfand, der Diskurs andererseits aber auch durch deren Zutun beeinflusst, abgeändert und kreativ genutzt werden konnte.121 Der Fokus der Arbeit muss folglich darauf gerichtet sein, den Entwicklungskon- text sowie die spezifische Diskurstradition auszuleuchten, in denen sich die Idee ge- bildet und ihre konkrete Wirkung entfaltet hat. Eine solche Untersuchung sollte ganz im Sinne eines Postulats der Neueren Ideengeschichte in der Lage sein, eine Verbin-

bung durch Obrigkeit und religiöse Gegner betrachtet werden, um diese Gruppen und ihre Ideen zu marginalisieren. Siehe dazu DAVIES, Religion of the Word, S. 67-86; Claus- Peter CLASEN, Anabaptism. A Social History 1525-1618, Ithaca 1972, S. 13f sowie durchaus provokant: Hans-Jürgen GOERTZ, Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen [Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 93], Göttingen 2007. 119 Analog zu Arno Strohmeyers Studie der ‚Widerstandssprache‘ soll der Fokus also auf die unmittelbare Praxis gelegt werden. Die Idee muss dort untersucht werden, wo sie geformt und eingesetzt wurde: beim Lösen konkreter politischer Konflikte. Siehe Arno STROH- MEYER, Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung. Widerstandsrecht bei den österrei- chischen Ständen (1550-1650) [Veröffentl. des Inst. für Europ. Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 201], Mainz 2006, S. 49. 120 Im Sinne Niklas Luhmanns stellt diese Herangehensweise die prinzipielle Kontingenz der Evolution von Ideen heraus und fragt vor allem danach, unter welchen Bedingungen eine bestimmte Interpretation der Erwählungsidee aufkam. Siehe dazu Niklas LUHMANN, Ideengeschichte in soziologischer Perspektive, in: Ders., Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2008, S. 234-256. 121 Cornel Zwierlein hat in seiner Studie zur Entstehung neuer „Denkrahmen“ im 16. Jahr- hundert betont, dass deren organisierende Funktion (also die Reichweite ihrer Ausdrucks- und Denkmöglichkeiten) letztlich an die Handlungen konkreter Akteure im Hinblick auf Problemlösungssituationen rückgebunden war. Siehe ZWIERLEIN, Discorso, S. 22f; vgl. auch die Angaben in Anm. 86 in diesem Abschnitt. EINLEITUNG | 45 dung „zwischen der Analyse der Konstitution und Konzeption von Ideen einerseits und ihrer Wirkungsmächtigkeit in gesellschaftlichen Prozessen andererseits“122 her- zustellen. Erst eine radikale Kontextualisierung im Sinne der Neueren Ideengeschich- te123, in deren Zuge der komplexe Wirkungszusammenhang zwischen „sozialen Si- tuationen, materiellen Bedingungen, lebensweltlichen Konstellationen einerseits und generalisierungsfähigen und generalisierten Gedankensystemen, Diskursen oder Denkgebäuden [andererseits]“124 reflektiert wird, kann derart Aufschluss über Rolle und Beschaffenheit der Vorstellung göttlicher Erwählung für das englische Gemein- wesen geben. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich in methodischer Hinsicht, konkrete Konfliktkonstellationen heranzuziehen, in denen das Gedankengut verargumentiert worden ist. Diese Konflikte erfüllen einen doppelten Zweck: Sie bieten auf der einen Seite einen klar abgrenzbaren Untersuchungszeitraum, der in dieser Gestalt die histo- rischen Rahmenbedingungen der Anwendung und Aktualisierung des Gedankengutes markiert. Von zentraler Bedeutung ist, dass es sich bei den ausgewählten Konflikten um Phasen handelte, in denen die Stabilität der Ordnung akut gefährdet war und es zu einem Aushandlungsprozess über grundsätzliche Fragen politischer Herrschaft gekommen ist.125 Erst im Konflikt offenbarten sich die gegensätzlichen Ordnungs- vorstellungen und wurden die beteiligten Parteien zur Legitimation des eigenen Vor- gehens gezwungen. Zeitgenössische Akteure rekurrierten im Zuge dessen entweder auf die Idee der Erwählung oder sie argumentierten bzw. agierten dezidiert gegen die Vorstellung und die sich daraus ableitenden Normen und Wertvorstellungen. Die Konflikte stellen in dieser Hinsicht also ein methodisches Hilfsinstrument dar, um das Phänomen in seinen Wechselwirkungen mit den sozialen Gegebenheiten zu stu- dieren.126 Auf der anderen Seite thematisieren die ausgewählten Konflikte zentrale Antago- nismen der Regierungszeiten Heinrichs VIII., Eduards VI. sowie Elisabeths I. und stellen somit in erster Linie Fallstudien dar.127 Dennoch besteht die Vermutung, dass

122 RAPHAEL, Ideen, S. 12. 123 Siehe zu dieser Forderung u.a. STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, S. 20-22; ASBACH, Cambridge School, S. 641-650; MULSOW / MAHLER, Cambridge School, S. 7-11; SKIN- NER, Meaning and Understanding, S. 57-63, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Ja- mes Tully (Hg.), Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge 1988, S. 29-67; HELLMUTH / von EHRENSTEIN, Intellectual History, S. 153, 155-157. 124 RAPHAEL, Ideen, S. 12. 125 Wie Tomáš Sedláček für die Analyse von modernen Ökonomien bemerkte, offenbaren häufig erst Phasen der Schwäche oder Krisenzeiten die grundlegenden Muster und Funk- tionsweisen. Siehe Tomáš SEDLÁČEK, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 267f. Ähnliches wird hier auch für die Analyse der Idee göttlicher Erwählung ange- nommen, die sich in ihrem Wesen demnach am deutlichsten in Phasen erhöhter Konflik- tivität und Krisenhaftigkeit offenbart. 126 Siehe dazu auch STROHMEYER, Konfessionskonflikt, S. 49f. 127 Gerade der Konflikt zwischen zwei normativen Systemen wird von Carlo Ginzburg etwa als wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Falls vom Beispiel oder Exempel ange- nommen. Siehe Carlo GINZBURG, Ein Plädoyer für den Kasus, in: Johannes Süßmann / 46 | ENGLANDS EXODUS die ausgewählten Fallbeispiele in der Gesamtschau die Veränderungen und unter- schiedlichen Entwicklungsstadien der Idee göttlicher Erwählung im nachreformatori- schen Tudor-England aufzeigen und damit als repräsentativ für das Thema gelten können. Fallstudien gehören spätestens seit der Kulturalistischen Wende wieder zum bevorzugten methodischen Instrumentarium der Historikerzunft.128 Vor allem wenn sich ein Untersuchungsgegenstand als zu umfangreich herausstellt, offerieren sie ei- nen probaten, arbeitsökonomischen Mittelweg. Allerdings können damit auch schnell epistemologische Probleme entstehen, wenn der hybride Charakter von Fallstudien nicht entsprechend reflektiert wird. So stellen sie dem Anspruch nach eine Kombina- tion aus erzähltem Einzelfall und dessen allgemeiner Bedeutung dar, wobei Letzteres, wie Johannes Arndt unlängst anmerkte, eigentlich eine interpretatorische Konstrukti- on ist.129 Gleichwohl könne seiner Ansicht nach der typische Charakter der ausge- wählten Fälle nicht restlos bewiesen werden, solange nicht doch der Gesamtgegen- stand bearbeitet würde. Angesichts dieser Problematik hat Johannes Süßmann drei Vorschläge gemacht, wie man das Besondere des Einzelfalls mit einer darüber hinausweisenden Interpreta- tion verbinden könne. Entscheidend ist für die vorliegende Arbeit sein dritter Punkt, wo er ausführt, dass sich etwas Dargestelltes erst durch den Vorgang der Darstellung als Fall von etwas erweisen könnte, wodurch Interpretation und Darstellung zusam- menfielen und im Grunde miteinander verwoben seien.130 Diese Sichtweise führt bei der vorliegenden Arbeit zu einer Gliederung und Perspektive, in deren Zuge sich der rote Faden, welcher die einzelnen Fallstudien zusammenbindet, aus einer narrativen Strukturierung ergibt, die von den zeitgenössischen Akteuren des 16. Jahrhunderts selbst betrieben worden ist.131 Ausschlaggebend erscheint hierbei, dass die Idee göttlicher Erwählung als konti- nuitättsstiftendes Element zwischen den Herrschaftszeiten Heinrichs VIII., Eduards VI. und Elisabeths I. präsentiert und eingesetzt worden ist. Zeitgenössische Akteure stilisierten in diesem Zusammenhang wesentliche Ereignisse und Prozesse der jewei- ligen Regierungszeit analog zum biblischen Exodus, wobei jeweils versucht wurde, an die Handlungen und Entscheidungen des Vorgängers anzuknüpfen. Hieraus ent-

Susanne Scholz / Gisela Engel (Hgg.), Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode [Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, Bd. 1], Berlin 2007, S. 29-48, hier S. 29f. 128 Siehe dazu die Bemerkungen von Johannes SÜßMANN, Einleitung: Perspektiven der Fall- studienforschung, in: Ders. / Scholz / Engel (Hgg.), Fallstudien, S. 7-27, hier S. 9. 129 Johannes ARNDT, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstel- lung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648-1750 [Veröffentl. des In- stit. für Europ. Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 224], Göttingen 2013, hier S. 41; ähnlich SÜSSMANN, Einleitung, S. 20. 130 SÜSSMANN, Einleitung, S. 20. 131 Vgl. zu diesem Vorgehen Stefan HAAS, Theoriemodelle der Zeitgeschichte, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: [14.04.2017], hier S. 8f; siehe auch die Bemerkungen bei Eckart CONZE, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschich- te“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53 (2005), S. 357-380, hier bes. S. 380, wo Conze die „Suche nach Sicherheit“ als ein passendes „Narrativ“ für eine moderne Poli- tikgeschichte der Bundesrepublik bezeichnete. EINLEITUNG | 47 stand letztlich eine Form der Kontinuitätsstiftung, die sich sukzessiv als ein sich ent- faltendes Narrativ analog zum alttestamentlichen Exodus der Israeliten darstellte. In- dem die Studie diese zeitgenössischen Versuche der Kontinuitätsstiftung aufgreift, betont sie auf der einen Seite die eminente Bedeutung, welche dem alttestamentli- chen Ideengut im Kontext der Zeit zukam.132 Auf der anderen Seite harmoniert dieser Zeitrahmen zwischen den ersten Reformmaßnahmen unter Heinrich VIII. im Gefolge der Scheidungsaffäre (um 1530) und dem Tod Elisabeths I. (1603) mit neueren An- sätzen von Teilen der englischsprachigen Forschung. Studien in diesem Bereich se- hen besagte Phase gerne als eine zusammenhängende Zeitspanne an („lange Refor- mation“), in der für das englische Gemeinwesen nachhaltige und wegweisende Entwicklungen stattgefunden haben.133 Angesichts dieser Sachlage erscheint es für den vorliegenden Fall legitim, über die Untersuchung einzelner Fallbeispiele einen Traditionszusammenhang englischer Erwählung zu konstatieren, der eine über die einzelnen Fälle hinausgehende Bedeutung für das Gemeinwesen anzeigt.134

132 Zur grundsätzlichen Bedeutung des Exodus-Narrativs WALZER, Exodus und Revolution; für das 17. Jahrhundert siehe John COFFEY, England’s Exodus: The Civil War as a War of Deliverance, in: Charles W. A. Prior / Glenn Burgess (Hgg.), England’s Wars of Reli- gion, Revisited, Farnham u.a. 2011, S. 253-280; Steven N. ZWICKER, England, Israel, and the Triumph of Roman Virtue, in: Richard H. Popkin (Hg.), Millenarianism and Messia- nism in English Literature and Thought 1650-1800 [Clark Library Lectures 1981-1982], Leiden u.a. 1988, S. 37-64; GUIBBORY, Christian Identity; John K. HALE, England as Is- rael in Milton’s Writings, in: Early Modern Literary Studies 2/2 (1996), Absätze 1-54, online-Ausgabe, URL: [14.04.2017]; eine entsprechende Studie für das 16. Jahrhundert ist dagegen ein Forschungsdesiderat. 133 Zur Vorstellung einer „langen Reformation“ siehe u.a. Nicholas TYACKE, Introduction: re-thinking the „English Reformation“, in: Ders. (Hg.), England’s Long Reformation 1500-1800, London 1998, S. 1-32; Christopher HAIGH, English Reformations. Religion, Politics and Society under the Tudors, Oxford 1993, S. 1-21 und passim; DERS., Success and Failure in the English Reformation, in: P & P 173 (2001), S. 28-49; Patrick COLLIN- SON, The English Reformation, 1945-1995, in: Michael Bentley (Hg.), Companion to Hi- storiography, London 1997, S. 336-360, hier S. 342 & 346-353; Martin INGRAM, The English Reformation in the Sixteenth Century: Major Themes and New Viewpoints, in: von Friedeburg / Schorn-Schütte (Hgg.), Politik und Religion, S. 129-161, hier S. 146- 153; zuletzt David AERS / Nigel SMITH, English Reformations, in: JMEMS 40 (2010), S. 425-438; Peter MARSHALL, (Re)defining the English Reformation, in: JBS 48 (2009), S. 564-586. 134 Angesichts dessen wurde die Regierungszeit Maria Tudors hier ausgeklammert. Während sich zwischen den Herrschaften Heinrichs, Eduards und Elisabeths deutliche Kontinu- itätsbestrebungen hinsichtlich des Erwählungs-Narrativs nachweisen lassen, bedeutete die Regentschaft Marias einen Bruch mit zentralen Kriterien desselben. Vor allem die Rück- kehr unter die Obhut des Papsttums stellte einen tiefen Einschnitt mit den unter Heinrich und Eduard etablierten Repräsentationsmustern dar, wodurch Maria und ihre Apologeten nicht in gleicher Weise an die Konstruktionen der Erwählungsidee anknüpfen konnten. Unter Elisabeth konnte Marias Herrschaftszeit sodann im Sinne des Exodus-Narrativs als ein Beispiel für die Rückkehr in ägyptische Gefangenschaft gewertet werden. Da diese Gefahr in elisabethanischer Zeit aber allenthalben thematisiert wurde und im entspre- 48 | ENGLANDS EXODUS

Vor diesem Hintergrund gliedert sich der Hauptteil der Arbeit in drei Abschnitte (B-D), die jeweils Phasen erhöhter Konfliktivität und Krisenhaftigkeit, also Antago- nismen im Sinne Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, darstellen:135 (1) Der erste Abschnitt (B) ist in zwei Hälften geteilt, die insgesamt den Zeitraum von circa 1527 bis 1538 umfassen. Im ersten Teil sollen Entstehung und Etablierung der Idee im frühneuzeitlichen England untersucht werden. Es wird in diesem Zu- sammenhang argumentiert, dass die Scheidungsaffäre Heinrichs VIII. den histori- schen Kontext bildete, in dessen Rahmen es zur Formierung des Gedankengutes ge- kommen ist. Die zentrale Frage in diesem Abschnitt richtet sich darauf, wie im Rahmen der Auseinandersetzungen des Königs mit der Kurie aus einer allgemeinen Vorstellung die politische Idee einer göttlichen Erwählung hervorgegangen ist. Der Konflikt eröffnete unterschiedlichen Akteuren und Akteursgruppen Mög- lichkeitsräume, um ihre eigenen Interessen und Ziele bestmöglich zu platzieren. Wel- che Akteure hier wie versuchten, die Konfrontation mit dem Papsttum auszunutzen, ist für die Entstehung des neuzeitlichen Vorstellungshorizonts der göttlichen Erwäh- lung von zentraler Bedeutung. Wie in diesem Abschnitt aufgezeigt werden soll, för- derte die Auseinandersetzung mit der Kurie die Umgruppierung und Neu- Verschränkung verschiedener Diskurse. Die grundlegende These an dieser Stelle be- läuft sich darauf, die Konstitution der Idee göttlicher Erwählung als Folge dieses Prozesses anzusehen, durch den die allgemeine religiöse Vorstellung mit anderen Worten eine nachhaltige Politisierung erfuhr. Dass dieser Vorgang keineswegs geräuschlos und ohne Widerstand vonstatten ging, soll im weiteren Verlauf des ersten Abschnitts aufgezeigt werden. Als Untersu- chungsrahmen dient dabei einer der zentralen Konflikte der 1530er Jahre. So wurden während der Pilgrimage of Grace (1536/37) eigene Strategien und Argumentations- muster entwickelt, die sich explizit gegen die Folgen der Instituierung jener politi- schen Idee göttlicher Erwählung in England richteten. Wie argumentiert werden soll, stärkte der Vorfall am Ende jedoch die Erwählungsidee, indem er zu einer Verfesti- gung und Weiterentwicklung derselben beitrug. Aus der Betrachtung der Zeit Hein- richs VIII. lassen sich schließlich spezifische Merkmale eines ‚henrizianischen Mo- dells‘ göttlicher Erwählung herausarbeiten, das in der Folge als Grundlage und Vergleichsfolie für die weitere Untersuchung dienen kann. (2) Der zweite Abschnitt (C) umfasst die Jahre 1547 bis 1550 und thematisiert damit eine Phase in der Regierungszeit Eduards VI., die sich vor allem durch einen Drang zu inneren Reformen und einer weitergehenden Protestantisierung des Landes auszeichnet. Die Aussicht auf umfangreiche innere Umwälzungen führte unter ande- rem zur sogenannten „Western“ oder „Prayer Book Rebellion“ (1549), in der sich die Ablehnung gegenüber neuen religiösen Vorgaben mit einer grundlegenden Abnei- gung gegen den eingeschlagenen Weg der Regierung des minderjährigen Königs verband. Die Erhebung fand dabei vor dem Hintergrund eines Krieges mit Schottland

chenden Kapitel gewürdigt wird, konnte auch in dieser Hinsicht auf eine eigenständige Behandlung der Zeit Maria Tudors verzichtet werden. 135 Der ausführliche Nachweis, dass es sich dabei um Antagonismen im Sinne Laclau / Mouffes handelte, kann an dieser Stelle nicht erbracht werden. Er erfolgt dagegen im je- weiligen Kapitel selbst, weshalb im Folgenden nur kurz die grundlegenden Konfliktlinien skizziert werden sollen. EINLEITUNG | 49 statt, den das eduardianische Regime von Heinrich VIII. geerbt hatte. In dieser Situa- tion innen- und außenpolitischer Spannungen kam es zur Aktualisierung der Idee göttlicher Erwählung. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie das Modell henrizianischer Erwählungt unter den veränderten Rahmenbedingungen der eduardianischen Herrschaft aufgenommen und reproduziert worden ist. (3) Den Abschluss des Hauptteils bildet eine Fallstudie zum elisabethanischen Vorstellungshorizont göttlicher Erwählung (Abschnitt D). Auf den ersten Blick scheint dabei die Wahl des sogenannten Neunjährigen Krieges (Nine Years’ War), der zwischen 1594 und 1603 in Irland stattfand, zu verwundern. Wie allerdings aus- führlich dargelegt werden wird, stellt der irische Raum in dieser Zeit einen hervorra- genden Untersuchungsgegenstand dar, weil sich hier die wesentlichen Konfliktmu- ster des ausgehenden 16. Jahrhunderts auf engstem Raum verdichteten und damit eine kompakte Analyse der Erwählungsidee zulassen. So versuchten die irischen Aufständischen im Zuge ihrer Erhebung an die konfessionellen Argumentationsmu- ster, und damit an die konfessionellen Konflikte, des Kontinents anzuknüpfen. Gleichzeitig boten sie das Irland der 1590er Jahre als lohnendes Ziel einer militäri- schen Intervention an, durch welche die englische Herrschaft über Irland beendet und England selbst hätte bedroht werden können. In diese außenpolitische Dimension mischte sich gleichsam eine ‚innenpolitische‘ Problematik, da es in Irland zwei Gruppen englischer Siedler gab, die sich konfessionell unterschieden und im Verlauf des 16. Jahrhunderts immer stärker voneinander abgrenzten. Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Bedrohungslage nach der Exkommunikation Elisabeths galt es besonders in Irland, wo die protestantischen Siedler eine Minderheit darstellten, ei- nen Modus des Umgangs mit der Situation zu finden.136 Das Beispiel Irlands erscheint auch deshalb geeignet, weil die Studie der Idee göttlicher Erwählung im irischen Kontext einen Beitrag zur andauernden Debatte um Status und Wahrnehmung der britischen Nachbarinsel verspricht. Bereits zeitgenös- sisch war demnach eine divergierende Perzeption Irlands zu beobachten, die zwi- schen den Zuschreibungen Kolonie und zweites Königreich der englischen Krone changierte. Diese Debatte setzt sich in der heutigen Forschung zu Irland fort, wobei ein grundlegendes Problem in der Perspektivierung des Themas besteht.137 So sehen

136 Die Situation ist in der Vergangenheit mehrfach mit einem „Apartheids-Regime“ vergli- chen worden. Siehe u.a. Nicholas CANNY, Protestants, Planters and Apartheid in Early Modern Ireland, in: IHS 25 (1986), S. 105-115; DERS., The Ideology of English Colo- nization: From Ireland to America, in: WMQ 3rd Ser., 30 (1973), S. 575-598, hier S. 580; Brendan BRADSHAW, Sword, Word and Strategy in the Reformation in Ireland, in: HJ 21 (1978), S. 475-502, hier S. 502. 137 Vgl. einführend Edward CAVANAGH, Kingdom or Colony? English or British? Early mo- dern Ireland and the colonialism question, in: Journal of Colonialism and Colonial Histo- ry 14,2 (2013), URL: [14.04.2017]. Diese Zeit- schrift erscheint ausschließlich online. Ferner Jane H. OHLMEYER (Hg.), Political thought in seventeenth-century Ireland. Kingdom or colony, Cambridge 2000; Nicholas CANNY, Kingdom and Colony. Ireland in the Atlantic world 1560-1800, Baltimore 1988; Karl S. BOTTIGHEIMER, Kingdom and colony: Ireland in the Westward Enterprise, 1536-1660, in: Kenneth R. Andrews / Nicholas P. Canny / Paul E. H. Hair (Hgg.), The Westward 50 | ENGLANDS EXODUS

Frühneuzeit-Historiker vor dem Hintergrund europäischer Entwicklungen vor allem die Probleme von Multiple Kingdoms bzw. von Composite Monarchies im anglo- irischen Verhältnis.138 Andere Forscher, welche die irischen Umstände primär im Kontext einer europäischen Expansion und einer atlantischen Perspektive betrachten, präferieren dagegen eher einen kolonialen Blick.139 Bislang gibt es im Grunde keinen Erklärungsansatz, der zwischen beiden Wahrnehmungen Irlands vermitteln könnte. Es steht zu vermuten, dass die Idee göttlicher Erwählung hier zu einem besseren Ver- ständnis beitragen könnte. Meines Erachtens reflektierte sie nämlich einerseits die ‚europäischen Probleme‘ des Multiple Kingdoms, versuchte diese andererseits aber in einer Art und Weise zu bearbeiten, die letztlich eher an eine zuweilen radikale Kolo- nialpolitik der Europäer in Übersee erinnerte. Abschließend ist zum Fallbeispiel Irland zu sagen, dass sich die Insel aufgrund ihrer Kleinräumigkeit und den politisch-sozialen Verhältnissen vorzüglich als Unter- suchungsobjekt eignet. Einschränkend muss gleichwohl angemerkt werden, dass sich die in Irland vorherrschende Idee göttlicher Erwählung zwar aus den in England zir- kulierenden Vorstellungen ableitete, im Rahmen der irischen Verhältnisse jedoch ei- ne eigene Prägung erfuhr. Beschlossen werden die drei Hauptteile jeweils von Zwischenfazits, in denen nicht nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse geliefert wird, sondern die gleich- falls dazu dienen, jene am konkreten Fallbeispiel erarbeiteten Formen und Interpreta- tionen der Erwählungsvorstellung auf eine generelle Betrachtungsebene zu heben. Hier ist mit anderen Worten der Ort, wo die einzelnen Entwicklungsstadien rekapitu- liert und in Verbindung zueinander gesetzt werden sollen.

3.3 Das Quellenkorpus und die frühneuzeitliche Öffentlichkeit

3.3.1 Die Quellen Der theoretische und methodische Zuschnitt der Arbeit hat letztlich auch Auswirkun- gen auf Auswahl und Benutzung der Quellen. Das Fundament der Studie bildet dabei ein Korpus publizistischer Quellen. Damit ist zunächst einmal ganz grundsätzlich ei-

Enterprise. English activities in Ireland, the Atlantic, and America 1480-1650, Liverpool 1978, S. 45-64. 138 Sehr schön wird dies deutlich bei Hiram MORGAN, Mid-Atlantic Blues, in: The Irish Re- view 11 (1991/1992), S. 50-55; zum Phänomen des Multiple Kingdoms u.a. Michael PERCEVAL-MAXWELL, Ireland and the Monarchy in the Early Stuart Multiple Kingdom, in: HJ 34 (1991), S. 279-295; Conrad RUSSELL, Composite monarchies in early modern Europe. The British and Irish example, in: Alexander Grant / Keith J. Stringer (Hgg.), Uniting the Kingdom? The Making of British History, London/New York 1995, S. 133- 146; zu den frühneuzeitlichen Kompositmonarchien nach wie vor John ELLIOTT, A Eu- rope of composite monarchies, in: P & P 137 (1992), S. 48-71. 139 Dazu einführend zuletzt Wolfgang REINHARD, Europa und die atlantische Welt, in: Ders. (Hg.), Weltreiche und Weltmeere 1350-1750 [Geschichte der Welt, Bd. 3], München 2014, S. 669-831; einen Überblick zur gegenwärtigen Forschung in diesem Bereich lie- fert Susanne LACHENICHT, Atlantische Geschichte. Einführung, in: Sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: [14.04.2017]; vgl. ferner die Ausführungen im Abschnitt D, Kap. 1. EINLEITUNG | 51 ne disperse Ansammlung gedruckter Medien bezeichnet, die sich in unterschiedliche Typen aufgliedern.140 Für das 16. Jahrhundert dominieren hier das einblättrige Flug- blatt141, die mehrblättrige Flugschrift142, das Buch143 sowie in Erweiterung dazu die

140 Siehe einführend Roger MÜNCH, Art. „Druckmedien“, in: EdN 2 (2005), Sp. 1151-1160 sowie Andreas WÜRGLER, Medien in der Frühen Neuzeit [Enzyklopädie Deutscher Ge- schichte, Bd. 85], 2., durchges. Aufl., München 2013, S. 7-64; für den englischen Raum zuletzt der Band von Joad RAYMOND (Hg.), The Oxford History of Popular Print Culture, Bd. 1: Cheap Print in Britain and Ireland to 1660, Oxford 2011; Jason MCELLIGOTT / Eve PATTEN (Hgg.), The perils of print culture. Book, print and publishing history in theory and practice, Basingstoke u.a. 2014. 141 Vgl. Wolfgang HARMS / Alfred MESSERLI (Hgg.), Wahrnehmungsgeschichte und Wis- sensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700), Basel 2002; Wolf- gang HARMS / Michael SCHILLING, Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Tradi- tionen, Wirkungen, Kontexte, Stuttgart 2008; DIES. (Hgg.), Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u.a. 1998; Michael SCHILLING, Bildpubli- zistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts bis um 1700, Tübingen 1990; Wolfgang BRÜCKNER, Art. „Einblattdruck“, in: EdN 3 (2006), Sp. 118-120; Werner FAULSTICH, Grundwissen Medien, 5., vollst. überarb. und erw. Aufla- ge, München 2004, S. 105-109; Wolfgang ADAM, Das Flugblatt als kultur- und literatur- geschichtliche Quelle der Frühen Neuzeit, in: Euphorion 84 (1990), S. 187-206; WÜRGLER, Medien, S. 18 & 100; zum englischen Raum nach wie vor Tessa WATT, Cheap Print and Popular Piety 1550-1640, Cambridge 1991; Leslie SHEPARD, The Histo- ry of Street Literature. The Story of Broadside Ballads, Chapbooks, Proclamations, News-Sheets, Election Bills, Tracts, Pamphlets, Cocks, Catchpennies and Ephemera, Newton Abbot 1973; zuletzt Angela MCSHANE, Ballads and Broadsides, in: Raymond (Hg.), Print Culture, Bd. 1, S. 339-362. 142 Siehe grundlegend Hans-Joachim KÖHLER, Die Flugschriften der frühen Neuzeit. Ein Überblick, in: Werner Arnold / Wolfgang Dittrich / Bernhard Zeller (Hgg.), Die Erfor- schung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland, Wiesbaden 1987, S. 307- 345; DERS., Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press / Dieter Stievermann (Hgg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit [Spätmit- telalter und Frühe Neuzeit, Stuttgart 1986, S. 244-281; DERS. (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit, Stuttgart 1981; DERS., Die Flugschriften. Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs, in: Horst Rabe et al. (Hgg.), Festgabe für Ernst Walter Zeeden, Münster 1976, S. 36-61; Hella TOMPERT, Die Flugschrift als Medi- um religiöser Publizistik. Aspekte der gegenwärtigen Forschung, in: Josef Nolte / Dies. / Christof Windhorst (Hgg.), Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit in Flugschriften und Kleinliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 211-221; Bernd MOELLER, Art. „Flugschriften der Reformationszeit“, in: TRE 11 (1983), S. 240-246; Johannes SCHWITALLA, Flugschrift, Tübingen 1999; WÜRGLER, Medien, S. 18 & 100f; siehe ferner die Ausführungen bei Volker LEPPIN, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luther- tum 1548-1618, Gütersloh 1999, S. 21-32; Thomas BROCKMANN, Die Konzilsfrage in den Flug- und Streitschriften des deutschen Sprachraums 1518-1563, Göttingen 1998, S. 24-40; für den englischen Raum Jason PEACEY, Pamphlets, in: Raymond (Hg.), Print Culture, Bd. 1, S. 453-470; Joad RAYMOND, Pamphlets and Pamphleteering in Early Mo- 52 | ENGLANDS EXODUS

Druckgraphik und Karte.144 In der vorliegenden Arbeit werden vor allem Flugschrif- ten und zu einem geringeren Teil Flugblätter behandelt. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass unter der Bezeichnung Flugschrift ein weites Feld unterschiedlicher literarischer Gattungen firmieren kann. So stehen auch im Folgen- den neben gedruckten Predigten, Streit- und Kontroversschriften, politischen und re- ligiösen Traktaten Bibelkommentare, Satiren und historiographische Texte.145 Was diese heterogenen Werke vereint, ist einerseits der erkennbare Versuch, an einer temporär entstandenen Öffentlichkeit zu partizipieren, die sich als Folge eines anta- gonistischen Konflikts etabliert hatte. In diesem Vorgang rekurrieren die herangezo- genen Schriften andererseits in der einen oder anderen Weise auf die Vorstellung

dern Britain, Cambridge 2003; Alexandra HALASZ, The marketplace of print. Pamphlets and the public sphere in early modern England, Cambridge 1997; Herbert GRABES, Das englische Pamphlet I. Politische und religiöse Polemik am Beginn der Neuzeit (1521- 1640), Tübingen 1990; Sandra CLARK, The Elizabethan pamphleteers. Popular moralistic pamphlets, 1580-1640, London 1983. 143 Erdmann WEYRAUCH, Art. „Buch“, in: EdN 2 (2005), Sp. 473-478; DERS., Das Buch als Träger der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution, in: Michael North (Hg.), Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln u.a. 1995, S. 1-13; Ute SCHNEIDER, Das Buch als Wissensvermittler in der Frühen Neuzeit, in: Johannes Burkhardt / Christine Werkstetter (Hgg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, München 2005, S. 63-78; WÜRGLER, Medien, S. 21-25; Stephan FÜSSEL, Gutenberg und seine Wirkung, 2. Aufl., Darmstadt 2004; einen Eindruck der neueren englischsprachigen Forschung zum Buch gibt John N. KING (Hg.), Tudor Books and Readers. Materiality and the Construction of Meaning, Cambridge 2010; siehe auch The Cambridge History of the Book in Britain, Bd. 3: 1400-1557, hrsg. von Lotte HEL- LINGA & Joseph B. TRAPP, Cambridge 1999 sowie Bd. 4: 1557-1695, hrsg. von John BARNARD / Donald F. MCKENZIE / Maureen BELL, Cambridge 2002; Andrew PETTE- GREE, The Book in the Renaissance, Paperback Ed., New Haven/London 2011. 144 Zu diesen erst seit einigen Jahren stärker von der allgemeinen Geschichtswissenschaft beachteten Quellen siehe WÜRGLER, Medien, S. 25-31, 110-122; zu den Karten u.a. Ute SCHNEIDER, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004; zur Druckgraphik Sibylle APPUHN-RADTKE, Art. „Druckgra- phik“, in: EdN 2 (2005), Sp. 1138-1150; für den englischen Raum zuletzt Malcolm JO- NES, The Print in Early Modern England. An Historical Oversight, New Haven/London 2010. 145 LEPPIN, Antichrist, S. 22; Daniel GUGGISBERG, Das Bild der „Alten Eidgenossen“ in Flugschriften des 16. bis Anfang 18. Jahrhunderts (1531-1712). Tendenzen und Funktio- nen eines Geschichtsbildes, Bern u.a. 2000, S. 17f; im Gegensatz zu Forderungen der Forschung werden hier die Publikationen der Regierung explizit miteingeschlossen, weil sie essenzieller Bestandteil der Gestaltung jener Idee göttlicher Erwählung im öffentli- chen Diskurs waren. Zum Problem des Ein- bzw. Ausschlusses von offizieller od. offiziö- ser Propaganda u.a. Femke DEEN / David ONNEKINK / Michel REINDERS, Pamphlets and politics: Introduction, in: Dies. (Hgg.), Pamphlets and politics in the Dutch Republic, Leiden/Boston 2011, S. 3-30, hier S. 12; MCSHANE, Ballads, S. 347-355; Kevin SHARPE. Selling the Tudor Monarchy. Authority and Image in Sixteenth-Century England, New Haven/London 2009, S. 98f. EINLEITUNG | 53 göttlicher Erwählung und leisten damit einen Beitrag zur Aktualisierung, Etablierung und Konsolidierung der Idee bzw. sorgen für deren Anpassung und Veränderung. Die publizistischen Medien waren somit der bevorzugte Ort, an dem es zur Ausbildung, Reflexion und Applikation der Erwählungsidee im Kontext der jeweiligen Konflikte kam. Der Flugschrift ist von Seiten der historischen Forschung zuletzt eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil geworden. Abseits der reformationsgeschichtlichen Ausein- andersetzung mit der Quellengruppe haben neuere Studien den generellen Wert früh- neuzeitlicher Flugschriften für diverse Fragestellungen erkannt, und damit begonnen, deren Analyse auf andere Zeitabschnitte und Themenfelder auszudehnen.146 Chri- stoph Kampmann betonte vor diesem Hintergrund etwa den besonderen Quellenwert von politischer Tagespublizistik im Allgemeinen und Flugschriftenliteratur im Be- sonderen, der primär darin liege, dass hier „jene Begriffe, Zielvorstellungen und Ar- gumentationsmuster verwendet“ würden, die zur „Einflußnahme, zur Werbung und auch zur Warnung bzw. Abschreckung in der politisch interessierten Öffentlichkeit“ geeignet erschienen.147 Die neuere Forschung versucht daher, Bedeutung und Relevanz von Flugschriften respektive der frühneuzeitlichen Publizistik insgesamt anhand ihrer Rolle in Kom- munikationsprozessen zu bestimmen. Sie grenzt sich damit von den wenig erfolgrei- chen älteren Ansätzen ab, diese Quellengattung einzig anhand formaler oder inhaltli- cher Kriterien zu definieren.148 Mit Ausnahme der Nichtperiodizität und einem

146 Siehe u.a. BROCKMANN, Konzilsfrage; Christoph KAMPMANN, Arbiter und Friedensstif- tung. Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn u.a. 2001; GUGGISBERG, Das Bild der „Alten Eidgenossen“; Ulrich ROSSEAUX, Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620-1626). Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 2001; WREDE, Das Reich und seine Feinde; Daniel BELLINGRADT, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches [Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 26], Stuttgart 2011; ARNDT, Herrschaftskontrolle; DERS. / Esther-Beate KÖRBER (Hgg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit 1600-1750 [Veröffentl. des Instit. für Europ. Geschichte Mainz, Beiheft 75], Göttingen 2010. 147 KAMPMANN, Arbiter, S. 5; das enge Verhältnis zu politischen Vorgängen betont PEACEY, Pamphlets, S. 461f, 466-469; RAYMOND, Pamphlets, S. 8f, 12-16, 26; ferner David ZA- RET, Origins of Democratic Culture. Printing, Petitions, and the Public Sphere in Early- Modern England, Princeton 2000, bes. S. 133-173. Zarets Ansicht, dass publizistische Medien eng mit politischen Vorgängen verbunden sein konnten, erscheint plausibel. Al- lerdings müssen seine Annahmen bezüglich einer öffentlichen Meinung und einer Öffent- lichkeit im habermas’schen Sinne mit Vorsicht behandelt werden. 148 Hans-Joachim Köhler hat bereits 1976 insgesamt 70 Definitionen und 22 Kriterien zur näheren Bestimmung von Flugschriften zusammengetragen. Siehe KÖHLER, Präzisierung, S. 41 und passim. Seitdem gab es eine Reihe weiterer Vorschläge, wobei aufgrund des disparaten Charakters der Quellengruppe sowie der unterschiedlichen Schwerpunkte und Herangehensweisen jener Disziplinen, die mit dem Medium zu tun haben, nicht zu er- kennen ist, dass es in absehbarer Zeit zu einer allgemein anerkannten Definition kommt. 54 | ENGLANDS EXODUS

Aktualitätsbezug sind im Grunde sämtliche Kriterien in der einen oder anderen Wei- se zurückgewiesen worden.149 Und selbst hierbei gibt es neuerdings Stimmen, die zumindest die grundsätzliche Nichtperiodizität des Mediums in Zweifel ziehen.150 Allein die Orientierung an aktuellen Begebenheiten scheint in der breiten Flugschrif- tenforschung weitgehend auf Konsens zu stoßen.151 Dieser Befund ist freilich nicht überraschend, korrespondiert doch die Aktualität in entscheidendem Maße mit der den Flugschriften sowie der Publizistik generell un- terstellten, kommunikativen Funktion. Obwohl auch hier Differenzen über Reichwei- te, Breite und Nachhaltigkeit der Wirkung von Flugschriften bestehen, zweifelt kaum jemand daran, dass die Quellengattung, wie auch die Publizistik allgemein, in einem spezifischen Verhältnis zu einer öffentlichen Meinungsbildung und/oder der Konsti- tution einer Öffentlichkeit stehen. Da letztlich der Wert publizistischer Quellen, ge- rade auch für die vorliegende Studie, maßgeblich von der Gestalt dieses Verhältnis- ses abhängt, muss dessen näherer Bestimmung größere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

3.3.2 Publizistik und vormoderne Öffentlichkeit Die historische Forschung hat sich gerade in den letzten Jahren vor dem Hintergrund einer intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen der Öffentlichkeit in zwei schein- bar unterschiedliche Richtungen entwickelt.152 Auf der einen Seite steht eine Heran-

Vgl. dazu auch SCHWITALLA, Flugschrift, S. 2-7; BELLINGRADT, Flugpublizistik, S. 11- 19 schlägt deshalb vor, den Begriff „Flugpublizistik“ als Injunktion zu behandeln. 149 In Anlehnung an BROCKMANN, Konzilsfrage, S. 25-27 sah bspw. KAMPMANN, Arbiter, S. 5 allenfalls in der Nichtperiodizität ein mögliches Abgrenzungskriterium; die Nicht- periodizität betont auch LEPPIN, Antichrist, S. 29 in seiner Definition von Flugschrift; siehe auch Harm van den BERG, Art. „Pamphlet“, in: Historisches Wörterbuch der Rheto- rik, hrsg. von Gerd Ueding u.a., Bd. 6, Darmstadt 2003, Sp. 488-495, hier Sp. 489f. 150 Dazu SCHWITALLA, Flugschrift, S. 5f. 151 Vgl. mit jeweils weiterführender Literatur BROCKMANN, Konzilsfrage, S. 25f und Anm. 42; KAMPMANN, Arbiter, S. 5; KÖHLER, Flugschriften, S. 52; Peter UKENA, Tagesschrift- tum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland, in: Elger Blühm (Hg.), Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung, München 1977, S. 35-53, hier S. 43; LEPPIN, Antichrist, S. 28f; SCHWITALLA, Flug- schrift, S. 6; Olaf MÖRKE, Pamphlet und Propaganda. Politische Kommunikation und technische Innovation in Westeuropa in der Frühen Neuzeit, in: North (Hg.), Kommuni- kationsrevolutionen, S. 15-32, hier S. 17; GRABES, Das englische Pamphlet, S. VIII; die Aktualität spielt auch in der Charakterisierung bei RAYMOND, Pamphlets, S. 4-25 eine zentrale Rolle; siehe ferner DEEN / ONNEKINK / REINDERS, Pamphlets, S. 12 & 24f; vgl. dagegen den Einwand von BELLINGRADT, Publizistik, S. 15, Anm. 34, der m. E. von BROCKMANN, Konzilsfrage, S. 26, Anm. 42. bereits entkräftet worden ist. 152 Siehe zur ersten Orientierung die einleitenden Ausführungen bei Gerd SCHWERHOFF, Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit – Perspektiven der Forschung, in: Ders., (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit [39. Kolloquium des Instituts für Vergleichende Städtegeschichte am 23. und 24. März 2009 in Münster], Köln u.a. 2011, S. 1-28; Susanne RAU / DERS., Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Dies. (Hgg.), Zwischen Gottes- EINLEITUNG | 55 gehensweise, die Öffentlichkeit als eine soziale Praxis bzw. ein kommunikatives Phänomen wertet. Derartige Studien haben den Vorteil, dass sie nicht auf spezifische ‚Massen‘- oder gedruckte Medien zurückgreifen müssen, um Entstehung und Funkti- on einer Öffentlichkeit oder öffentlichen Sphäre historisch untersuchen zu können.153 Auf der anderen Seite gibt es eine eher traditionelle Sichtweise von Öffentlichkeit, die deren Entstehung und Funktion eng an die Entwicklung neuer Techniken und Medien bindet. Obwohl sicherlich der Buchdruck und die von Wolfgang Behringer postulierte Kommunikationsrevolution154 mittel- und langfristig Auswirkungen auf Art und Weise der Konstitution und Form von Öffentlichkeit gehabt haben155, er- scheint für das 16. Jahrhundert eine Interpretation, die das Phänomen einzig aus der Perspektive der ‚neuen‘ Medien denkt, insgesamt an den historischen Umständen vorbei zu gehen.156

haus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit [Norm und Struktur, Bd. 21], Köln u.a. 2004, S. 11-52; Fridrun FREISE, Einleitung: Raumsemantik, Rezeptionssituation und imaginierte Instanz – Perspektiven auf vormoderne Öffentlich- keit und Privatheit, in: Caroline Emmelius / Dies. / Rebekka von Mallinckrodt et al. (Hgg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2004, S. 9-32 sowie die älteren Bestands- aufnahmen von Carl A. HOFFMANN, ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Kommunikation‘ in den For- schungen zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Ders. / Rolf Kießling (Hgg.), Kommunikati- on und Region [Forum Suevicum 4], Konstanz 2001, S. 69-110 und Heike TALKEN- BERGER, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsre- ferat 1980-1991, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft, Forschungsreferate 3. Folge (1994), S. 2-26. Ein neuerer Überblick ist da- gegen ein Desiderat. 153 Vgl. dazu u.a. den instruktiven Beitrag von Klaus OSCHEMA, Die Öffentlichkeit des Poli- tischen, in: Martin Kintzinger / Bernd Schneidmüller (Hgg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter, Ostfildern 2011, S. 41-86; siehe ferner den Band von RAU / SCHWER- HOFF (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne; Peter von MOOS, Das Öffentliche und Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Gert Melville / Ders. (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne [Norm und Struktur, Bd. 10], Köln u.a. 1998, S. 3-74; Wolfgang KASCHUBA, Ritual und Fest. Das Volk auf der Straße. Figurationen und Funktionen populärer Öffentlichkeit zwischen Frühneuzeit und Moder- ne, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kul- turforschung IV, Frankfurt a. M. 1992, S. 240-267. 154 Wolfgang BEHRINGER, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolu- tion in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003; DERS., Communications Revolutions: A Hi- storiographical Concept, in: German History 24 (2006), S. 333-374. 155 Siehe dazu etwa Rudolf Schlögls Ansatz, das Verhältnis von Öffentlichkeit (im Sinne Habermas’) und Medien als eine Zunahme an Reflexivität und Evolution des Mediensy- stems zu bestimmen. Rudolf SCHLÖGL, Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 35 (2008), S. 581-616. 156 Zur Kritik an einer zu einseitigen, mediengeschichtlichen Perspektivierung des Themas zulasten eines kommunikationsgeschichtlichen Ansatzes siehe etwa Volker DEPKAT, Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), 56 | ENGLANDS EXODUS

Im Gegensatz zu einem rein mediengeschichtlichen erscheint somit ein kommu- nikationsgeschichtlicher Ansatz den historischen Gegebenheiten, insbesondere dem Zusammenspiel von ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien, eher gerecht zu werden. Clemens Zimmermann, Andreas Würgler, Gerd Schwerhoff und andere Forscher betonten aus diesem Grund immer wieder die Notwendigkeit, in der Analyse von Öffentlichkeit die jeweiligen „Medienensembles“ (Zimmermann) zu berücksichtigen, die an einem gegebenen Ort zu einer gegebenen Zeit zusammenwirkten.157 Der kommunikations- geschichtliche Ansatz hat meines Erachtens auch Auswirkungen auf die Arbeit mit publizistischen Quellen. Wenn davon ausgegangen wird, dass Öffentlichkeit als ein kommunikatives Phänomen erst hergestellt werden muss, dann sollte an einer per se Medien wie Flugschriften unterstellten Funktion, Öffentlichkeit immer und auf jeden Fall zu generieren, gezweifelt werden. Nicht länger wäre hier die äußere Form der Schrift entscheidend, sondern vielmehr die jeweiligen Inhalte. Dies aber auch nur in- sofern, als dass die dargebotenen Inhalte innerhalb eines kommunikativen Aktes mit einem generellen Wert für die Belange einer Allgemeinheit identifiziert werden.158 Wolfgang Schmale hat diese Problematik zuletzt sehr schön herausgestellt. So betonte er, dass zwischen bloßen Nachrichten, die sich in sozialen Gruppen bis hin zur Größe des Gemeinwesens ausbreiten konnten, und Öffentlichkeit unterschieden werden sollte.159 Im Gegensatz zu Gelegenheitsnachrichten – wie beispielsweise des angeblichen Kannibalismus in Amerika – werde Öffentlichkeit durch ein Kontinuum von Themen gebildet, die ein soziales Kollektiv im Ganzen beträfen.160 In diese im-

Medien der Kommunikation im Mittelalter [Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 15], Stuttgart 2003, S. 9-48 sowie die Angaben in der folgenden Fußnote. 157 Siehe dazu Andreas WÜRGLER, Veröffentlichte Meinungen – öffentliche Meinung. Lo- kal-internationale Kommunikationsnetze im 18. Jahrhundert, in: Peter-Eckhard Knabe (Hg.), Opinion, Berlin 2000, S. 101-135; DEEN / ONNEKINK / REINDERS, Pamphlets, S. 10; Clemens ZIMMERMANN, Art. „Medien“, in: EdN 8 (2008), Sp. 223-243, hier Sp. 229f; WÜRGLER, Medien, S. 66f; SCHWERHOFF, Stadt und Öffentlichkeit, S. 21-23 sowie S. 9-18 zur räumlichen Dimension von Öffentlichkeit; für den englischen Raum gibt es seit einigen Jahren Studien, die den komplementären Charakter von Druckschriften, Handschriften und mündlicher Kommunikation wie Gerüchten oder Predigten untersu- chen. Siehe inter alia Ian GREEN, Orality, script and print: the case of the English sermon c. 1530-1700, in: Heinz Schilling / István György Thóth (Hgg.), Religion and cultural exchange in Europe, 1400-1700, Cambridge 2006, S. 236-255; DERS., Print and Prote- stantism in Early Modern England, Oxford 2000; Julia C. CRICK / Alexandra WALSHAM (Hgg.), The Uses of Script and Print 1300-1700, Cambridge 2004; Adam FOX, Oral and Literate Culture in England 1500-1700, Oxford 2000; zur Bedeutung von Gerüchten: Ethan H. SHAGAN, Rumours and Popular Politics in the Reign of Henry VIII, in: Tim Harris (Hg.), The Politics of the Excluded, c. 1500-1850, Basingstoke u.a. 2001, S. 30-66. 158 Der Punkt der Aufmerksamkeit, die erst infolge von Phänomenen wie Konflikten ent- stand, ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Zur theoretischen Reflexi- on siehe etwa Alois HAHN, Aufmerksamkeit, in: Aleida & Jan Assmann (Hgg.), Auf- merksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, S. 25-56. 159 Vgl. Wolfgang SCHMALE, Art. „Öffentlichkeit“, in: EdN 9 (2009), Sp. 358-362. 160 SCHMALE, Öffentlichkeit, Sp. 360. EINLEITUNG | 57 mer wiederkehrenden Themen, die sich etwa in Begriffen wie dem Commonwealth manifestierten, konnten mitunter „besondere Nachrichten“ integriert werden, die aber für sich genommen keinesfalls Öffentlichkeit hätten konstituieren können.161 Schma- le hat damit implizit und explizit entscheidende Hinweise zur Re-Konzeptualisierung von Öffentlichkeit gegeben. Aus seinen Bemerkungen lässt sich erkennen, dass nicht jeder Versuch der Weitergabe von Nachrichten oder Informationen – selbst wenn er über publizistische Medien erfolgt – automatisch zur Herstellung einer Öffentlichkeit führt.162 Damit sich eine Öffentlichkeit konstituiert, muss eine Nachricht oder Infor- mation mit einem Wert versehen werden, der von allgemeinem Interesse erscheint und als solcher anerkannt wird. Anders gesagt, muss also die Information oder Nach- richt zu einem Thema im öffentlichen Diskurs verwandelt werden, indem sie mit den zentralen Angelegenheiten und Belangen einer sozialen Gruppe oder eines Gemein- wesens verbunden wird.163 Ob eine derartige Operation erfolgreich war, zeigt sich letztlich an der Resonanz auf den versuchten Kommunikationsakt, an der überprüft werden kann, ob die ‚Thematisierung‘ einer bestimmten Information oder Nachricht gelungen und akzeptiert worden ist.164 Angesichts dessen muss grundlegend daran gezweifelt werden, dass der reine Akt des Publizierens Öffentlichkeit bereits herzustellen vermag, wie es in einer jüngeren Studie konstatiert wird.165 Freilich weist diese Perspektive gerade für die historische Forschung eine nicht zu unterschätzende methodische Problematik auf: So können für weite Teile der vormodernen Gesellschaft häufig konkrete Reaktionen auf die Veröffentlichung einzelner gedruckter Medien aufgrund fehlender oder verloren ge- gangener Überlieferung nicht verfolgt werden.166 Deshalb wählt die vorliegende Ar-

161 SCHMALE, Öffentlichkeit, Sp. 360. 162 So auch die Meinung bei Oliver MARCHART, Der Apparat und die Öffentlichkeit. Zur medialen Differenz von Politik und dem Politischen, in: Daniel Gethmann / Markus Stauff (Hgg.), Politiken der Medien, Freiburg/Berlin 2004, S. 19-37, hier S. 35. 163 Niklas Luhmann definiert Themen als Sinnkomplexe, „über die man reden und gleiche, auch verschiedene Meinung haben kann […]. Solche Themen liegen als Struktur jeder Kommunikation zugrunde, die als Interaktion zwischen mehreren Partnern geführt wird. Sie ermöglichen ein gemeinsames Sich beziehen auf identischen Sinn und verhindern das Aneinandervorbeireden“. Niklas LUHMANN, Öffentliche Meinung, in: Ders., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S. 2-28, hier S. 13. 164 Siehe zu diesem Vorgang exemplarisch Hubert KNOBLAUCH, Der Topos der Spiritualität. Zum Verhältnis von Kommunikation, Diskurs und Subjektivität am Beispiel der Religi- on, in: Reiner Keller et al. (Hgg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Emperie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 247-264. 165 Vgl. dazu Eva-Maria SCHNURR, Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Medienge- schichte des Kölner Krieges (1582-1590), Köln u.a. 2009, S. 35, Anm. 90: „Etwas zu pu- blizieren ist ein Akt der Kommunikation, der Öffentlichkeit bewusst herstellt.“; eine ähn- lich kritische Ansicht zur Funktion von Druckmedien scheint sich auch im Stufenmodell von Kai Nürnberger anzudeuten. Siehe Kai NÜRNBERGER, Die Kunst der Information. König Wilhelm III. und die Medien seiner Zeit, Heidelberg 2003, S. 97-107. 166 Freilich gibt es inzwischen eine Reihe exemplarischer Studien zu den Lese-, Rezeptions- und Verarbeitungsprozessen in der Vormoderne. Siehe u.a. Kevin SHARPE / Steven N. 58 | ENGLANDS EXODUS beit einen anderen Zugang, der die jeweiligen Konflikte ins Zentrum rückt. Im Hin- blick auf die Frage, wie man die Funktion bzw. den Status publizistischer Quellen als öffentlichkeitswirksame Texte methodisch überhaupt sichern kann, sind die ausge- wählten Antagonismen von besonderem Wert. Vor dem Hintergrund der neueren Überlegungen zum Phänomen der Öffentlichkeit kann nämlich davon ausgegangen werden, dass sich im Rahmen dieser Konflikte jeweils eine zeitgenössische Form von Öffentlichkeit gebildet hat. Diese Annahme ergibt sich, sobald man die neueren Er- kenntnisse zum Thema mit Studien, die Kommunikation im Raum des Politischen untersuchen, verbindet.167 Die im Gefolge jener Arbeiten vorgenommene Differenz zwischen der Politik und dem Politischen hat zugleich Auswirkungen auf die Kon- zeption einer vormodernen Öffentlichkeit, wenn man die Überlegungen zum Raum des Politischen als Kriterium für deren Konstitution und Charakteristik zugrunde legt. Nach Gesa Blum und anderen zeichnet sich der Raum des Politischen gerade dadurch aus, dass er von Konflikthaftigkeit geprägt ist. Es ist eine Sphäre, die sich immer dann konstituiert, wenn es zur Ausbildung konfligierender Weltdeutungsan- gebote kommt, die über die regulären politischen Instanzen nicht mehr verregelt oder deren Widersprüche nicht mehr invisibilisiert werden können.168 Dies ist der Mo- ment, in dem realisiert wird, dass die Dinge auch anders liegen könnten, wodurch bislang geglaubte und nicht hinterfragte Wahrheiten plötzlich kontingent erscheinen. Wie Oliver Marchart zusammenfassend dazu bemerkt hat, entspringt diese Erfahrung „nicht nur Momenten allgemeiner Krise, sondern im Besonderen Momenten des Konflikts, in dem das Aufeinanderprallen sozialer Kräfte Kontingenzbewusstsein er- zeugt“169.

ZWICKER, Introduction: discovering the Renaissance reader, in: Dies. (Hgg.), Reading, Society and Politics in Early Modern England, 3. Aufl., Cambridge 2005, S. 1-37; Gu- glielmo CAVALLO / Roger CHARTIER (Hgg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a. M./New York 1999, hier bes. Kap. 7-10; Roger CHARTIER, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u.a. 1990; DERS., The Cultural Uses of Print in Early Modern France, Princeton 1987; James RAVEN et al. (Hgg.), The Practice and Representation of Reading in England, Cambridge 1996; Lisa JARDINE / Anthony GRAFTON, „Studied for Action“: How Gabriel Harvey read his Livy, in: P & P 129 (1990), S. 30-78; Robert DARNTON, Leser reagieren auf Rousseau: Die Verfertigung der romantischen Empfindsamkeit, in: Ders., Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München 1989, S. 245-290; Natalie Zemon DAVIS, Buchdruck und Volk, in: Dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 210-249; Carlo GINZBURG, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del ‘500, Turin 1976, dt.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt a. M. 1979, hier 7. Aufl., Berlin 2011. 167 Siehe inter alia BLUM, Diskursiver Wandel; STEINMETZ, Neue Wege; LANDWEHR, Dis- kursgeschichte als Geschichte des Politischen; STOLLBERG-RILINGER, Kulturgeschichte; MERGEL, Überlegungen; ROSANVALLON, histoire conceptuelle; MARCHART, Politische Differenz. 168 Vgl. BLUM, Diskursiver Wandel, S. 188; ROSANVALLON, histoire conceptuelle, S. 30; MOUFFE, Über das Politische, S. 16; so auch MARCHART, Apparat, S. 30-33. 169 MARCHART, Politische Differenz, S. 80. EINLEITUNG | 59

Für die Konstitution und Charakteristik einer Form von Öffentlichkeit im 16. Jahrhundert können ähnliche Merkmale postuliert werden.170 Demnach zeichnet sich die Entstehung von Öffentlichkeit primär durch einen fundamentalen Antagonismus aus, in dessen Rahmen zentrale Fragen der Legitimität von Herrschaft, der Verge- meinschaftung sowie der Herstellung und Perpetuierung einer allgemeinverbindli- chen Ordnungsstruktur verhandelt werden. Diese Form der Öffentlichkeit darf jedoch nicht als stehendes Korrektiv staatlicher Handlungen im Sinne Jürgen Habermas’ ge- dacht, sondern muss als Manifestation eines Bruchs der Sozialität aufgefasst werden, der von den Zeitgenossen insgesamt als unnatürlicher Zustand betrachtet wurde und deshalb schnellstmöglich zugunsten der erneuten Herstellung von Eintracht und Harmonie überwunden werden sollte.171 Öffentlichkeit, die im Grunde die Vorausset- zung für den vielfach unterstellten Wirkungsgrad publizistischer Quellen darstellt, ist im 16. Jahrhundert – so kann resümiert werden – ein allenfalls temporäres Phäno- men, das nicht unabhängig von antagonistischen Konflikten existiert, sondern viel- mehr ursächlich mit ihnen zusammenhängt. Oliver Marchart bemerkte dazu:

„So gibt es nicht ‚die Öffentlichkeit‘, in der es zum Konflikt kommen kann oder nicht, die also unberührt davon wäre, was in ihr vorgeht, sondern Öffentlichkeit ist dort und nur dort, wo An- tagonismus ist – und umgekehrt produziert Antagonismus notwendigerweise Öffentlichkeit.“172

170 Wenn an dieser Stelle von ‚der Öffentlichkeit‘ die Rede ist, dann sind damit explizit nicht jene in der Forschung zuletzt mehrfach untersuchten und thematisierten ‚Öffentlichkei- ten‘ gemeint. Obwohl Forderungen und erste Ansätze bereits vorhanden sind, fehlt es bis- lang an einer grundlegenden theoretischen Aufarbeitung des Themas seitens der histori- schen Forschung, die etwa auch das Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit und den immer wieder postulierten (Teil-) Öffentlichkeiten reflektiert. Vgl. dazu u.a. die Forde- rung bei Karen LAMBRECHT, Kommunikationsstrukturen und Öffentlichkeiten in ostmit- teleuropäischen Zentren um 1500 – Forschungsstand und Perspektive, in: JbKG 2 (2000), S. 1-23, hier S. 2; die Kritik bei Franz MAUELSHAGEN, Öffentlichkeit und Vernetzung in Forschungen zur Vormoderne (Mittelalter und Frühe Neuzeit), in: Luisa Rubini / Alexan- der Schwarz (Hgg.), Stimmen, Texte und Bilder zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Bern u.a. 2009, S. 237-267 und Harold MAH, Phantasies of the Public Sphere: Rethinking the Habermas of Historians, in: JModH 72 (2000), S. 153-182 sowie den Beitrag von Arié MALZ, Der Begriff „Öffentlichkeit“ als historisches Analyseinstrument, in: Romy Günthart / Michael Jucker (Hgg.), Kommunikation im Spätmittelalter. Spielarten – Wahrnehmungen – Deutungen, Zürich 2005, S. 13-26; hilfreich zur Klärung des Pro- blems erscheinen zudem die Bemerkungen bei Oliver MARCHART, Kunst, Raum und Öf- fentlichkeit(en). Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie, in: Andreas Lechner / Petra Maier (Hgg.), Stadtmotiv, Wien 1999, S. 96-158, online unter URL: [14.04.2017]. 171 Vgl. dazu die Bemerkungen bei Peter LAKE / Steven PINCUS, Rethinking the Public Sphere in Early Modern England, in: JBS 45 (2006), S. 270-292, hier S. 289 und passim; eine ähnliche Version des Aufsatzes findet sich als Einleitung in Dies. (Hgg.), The poli- tics of the public sphere in early modern England, Manchester/New York 2007, S. 1-30. 172 Siehe MARCHART, Apparat, S. 35; ähnlich LAKE / PINCUS, Public Sphere, S. 289; LAM- BRECHT, Kommunikationsstrukturen, S. 4. 60 | ENGLANDS EXODUS

Die sich hier vorübergehend konstituierende Öffentlichkeit unterscheidet sich in ei- nem weiteren wichtigen Punkt von jener bürgerlich-räsonierenden Variante haber- mas‘scher Prägung, weil sie von den bestehenden Machtverhältnissen durchdrungen ist. Es muss geradezu als ein charakteristisches Merkmal aufgefasst werden, dass die verschiedenen Akteure versuchten, in dem hier stattfindenden Kampf um die Durch- setzung einer allgemeinverbindlichen Wahrheit die vorherrschenden Machtverhält- nisse, bestehende Konventionen und tradierte Wissensbestände oder ihren eigenen Status bestmöglich einzusetzen und zur Geltung zu bringen.173 Dazu konnten unter anderem Gemeinplätze wie das Commonwealth (im Sinne des bonum commune) die- nen, die im Grundsatz von keiner Seite angezweifelt werden konnten, den Akteuren gleichzeitig jedoch einen gewissen Spielraum eröffneten, um ihre eigenen Ansichten und Interessen zu artikulieren.174 Infolge der Reformation trat hier mit der ‚religiösen Wahrheit‘ ein weiterer Gemeinplatz hinzu, der zwar nicht den gleichen Kontext klas- sischer Tropen und republikanischer Tugenden evozierte, aber dennoch in essenziel- ler Weise die Wohlfahrt des Gemeinwesens adressierte.175

173 Dies kann auch im Sinne von Zensurmaßnahmen gesehen werden, die im England des 16. Jahrhunderts nicht nur von der Obrigkeit, sondern ab 1557 zum Beispiel auch von der Stationers’ Company durchgeführt worden sind. Vgl. etwa Annabel PATTERSON, Cen- sorship and Interpretation. The Conditions of Writing and Reading in Early Modern Eng- land, Madison (WI)/London 1984; Cyndia S. CLEGG, Press Censorship in Elizabethan England, Cambridge 1997; zur Stationers’ Company zuletzt Peter W. M. BLAYNEY, The Stationers’ Company and the printers of London 1501-1557, 2 Bde., Cambridge 2013; siehe zu den Unterschieden zwischen einer machtfreien Konzeption der Öffentlichkeit bei Habermas und einer von Machtverhältnissen durchdrungenen etwa MAH, Phantasies; MARCHART, Öffentlichkeit(en). Dies muss etwa im Gegensatz zu den Ausführungen von Maren RICHTER, „Prädiskursive Öffentlichkeit“ im Absolutismus? Zur Forschungskon- troverse über Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, in: GWU 59 (2008), S. 460-475 be- tont werden. 174 Wichtig war, dass eine legitime Sprecherposition erzeugt werden musste, um an den Auseinandersetzungen über grundlegende Fragen des Politischen in der entstandenen Öf- fentlichkeit partizipieren zu können. Die Inanspruchnahme bzw. der Rekurs auf solche Gemeinplätze ermöglichte respektive erleichterte in der Regel die Kreation einer derarti- gen Position. Siehe dazu LAKE / PINCUS, Public Sphere, S. 275-277; Conal CONDREN, Public, Private and the Idea of the ‚Public Sphere‘ in Early-Modern England, in: Intellec- tual History Review 19 (2009), S. 15-28; zur Notwendigkeit, legitime Sprecherrollen kreieren zu müssen, auch MAH, Phantasies, S. 164-168; zur Funktion des Common- wealth-Begriffs BURGESS / KNIGHTS, Commonwealth; Herfried MÜNKLER / Harald BLUHM, Einleitung: Gemeinwohl und Gemeinsinn als politisch-soziale Leitbegriffe, in: Dies. (Hgg.), Zwischen Normativität und Faktizität [Forschungsberichte der interdiszipli- nären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4], Berlin 2002, S. 9-30. 175 Vgl. LAKE / PINCUS, Public Sphere, S. 276f; CONDREN, Public Sphere, S. 23; RUBLACK, Reformation; zur Verbindung religiöser Argumentationsmuster mit grundlegenden Fra- gen politischer Herrschaft u.a. SCHORN-SCHÜTTE, Vorstellungen von Herrschaft; DIES. / TODE, Debatten; von FRIEDEBURG / DIES. (Hgg.), Politik und Religion; DIES., Kommu- EINLEITUNG | 61

Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung von Öffentlichkeit als eines genuin po- litischen Phänomens, das einen fundamentalen Antagonismus innerhalb des Ge- meinwesens anzeigt, bekommen letztlich auch die herangezogenen publizistischen Quellen ihre Relevanz.176 Als ein wesentlicher Bestandteil dieses Konflikts werden sie von obrigkeitlicher Seite, von Anhängern und Widersachern der jeweiligen Machthaber bzw. von Befürwortern oder Gegnern einer bestehenden Ordnung einge- setzt, um eine bestimmte Form der Sinnstiftung zu propagieren oder zu verteidigen. Sie dienen dazu, Orientierungswissen bereitzustellen, zu überzeugen und dabei gleichzeitig gegen anders gelagerte Deutungs- und Wahrnehmungsmuster zu polemi- sieren und diese im Diskurs zu diffamieren und diskreditieren. In diesen Quellen ma- nifestieren sich für die ausgewählten Zeiträume somit nicht nur die tagespolitisch ak- tuellen Debatten und Konflikte über zentrale Fragen der Vergemeinschaftung, sondern sie geben zugleich jene Argumentationsstrategien, Deutungs- und Wahr- nehmungsmuster wider, welche die an der Öffentlichkeit der Zeit partizipierenden Akteure selbst benutzt haben, um die bestehenden Grundsatzkonflikte zu lösen.177 Hier bekommen die ausgewählten publizistischen Medien ihre spezifische Relevanz, weil sie aktiv in einen aktuellen politischen Aushandlungsprozess involviert waren. In dieser Hinsicht waren sie Teil einer politischen Praxis, die darauf abzielte, den entstandenen Konflikt in der einen oder anderen Weise aufzulösen.

nikation über Politik; ferner PEČAR / TRAMPEDACH (Hgg.), Die Bibel als politisches Ar- gument; PEČAR, Macht der Schrift. 176 Bereits Richard Cole hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass ein Anstieg der Produktion bzw. des Verkaufs gedruckter Medien in Zeiten großer Spannung zu be- obachten sei. Siehe Richard G. COLE, The Reformation in Print: German Pamphlets and Propaganda, in: ARG 66 (1975), S. 93-102, hier S. 98; dieser Anstieg darf nicht nur, muss aber auch infolge einsetzender Propagandakampagnen gesehen werden. In der For- schung wird für dieses Phänomen zuweilen der Begriff der „Federkriege“ bzw. „Pam- phlet Wars“ gebraucht. Siehe dazu WÜRGLER, Medien, S. 128f; DEEN / ONNEKINK / REINDERS, Pamphlets, S. 5; RAYMOND, Pamphlets, S. 27 und Kap. 2 spricht sogar von „paper bullets“ hinsichtlich der Marprelate-Affäre; daneben sollte freilich berücksichtigt werden, dass Kriege und Konflikte nicht nur Anlass zu Propaganda boten, sondern auch ein grundlegendes Bedürfnis nach Information weckten, das von einem Markt bedient werden konnte. Den kommerziellen Charakter betonen u.a. BELLINGRADT, Flugpublizi- stik, S. 18; Johannes ARNDT / Esther-Beate KÖRBER, Einleitung: Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit 1600-1750, in: Dies. (Hgg.), Mediensystem, S. 1-23, hier S. 5; Peter BURKE, Wissen verkaufen: Markt und Druckgewerbe, in: Ders., Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001, S. 175-205; Craig E. HARLINE, Pamphlets, printing, and political culture in the early Dutch Republic, Dord- recht u.a. 1987, S. 78 & 105; wie freilich DEEN / ONNEKINK / REINDERS, Pamphlets, S. 20-22 betonen, mussten sich kommerzielle und politische Intentionen nicht ausschließen. So steht es außer Frage, dass sich auch in ‚Auftragsarbeiten‘ Stereotype und Argumenta- tionsmuster wiederfanden, die für propagandistische Zwecke benutzt werden konnten oder einer bestimmten Weltsicht entsprangen. 177 Die Quellen spiegeln somit nicht nur politische Prozesse wider, sondern sind selbst akti- ver Teil deren Gestaltung. 62 | ENGLANDS EXODUS

Die Idee göttlicher Erwählung entstand im Rahmen dieser Aushandlungsprozesse sehr wahrscheinlich als eine neue Möglichkeit, die Konflikte der Zeit zu bearbeiten und aufzulösen. Aus diesem Grund kam es im Rahmen der ausgewählten Antago- nismen immer wieder zu ihrer Heranziehung und Verargumentierung. Eine Auswer- tung der publizistischen Quellen verspricht in diesem Fall also Aufschluss über die zeitgenössischen Verwendungsweisen und Bedeutungszuschreibungen, die mit der Idee verbunden worden sind. Durch die chronologische Anordnung der Fallstudien sollen darüber hinaus die Veränderungs- und Anpassungsvorgänge reflektiert wer- den, denen die Idee aufgrund der fortschreitenden Zeit und eines damit potenziell verbundenen Lernprozesses ausgesetzt war. Um die Kontextualisierung der Idee im Rahmen der untersuchten Konfliktphasen zu vervollständigen, wurde neben dem publizistischen Material auch die Aktenüber- lieferung herangezogen. Einschränkend muss hier freilich gesagt werden, dass dies nur insofern geschah, als es unmittelbar zur Aufbereitung und zum besseren Ver- ständnis der konkreten Auseinandersetzung nützlich erschien. Auch wurden in die- sem Fall vorwiegend die edierten Aktenbestände konsultiert, wie sie sich unter ande- rem in den großen Reihen der Letters and Papers oder der diversen State Papers- Serien niederschlagen.178 Nur in Ausnahmefällen, wenn beispielsweise strittige, un- klare oder fehlerhafte Datierungen, Transkriptionen oder Zuordnungen in den ge- nannten Reihen vorlagen, wurde hier zusätzlich das einschlägige Archivmaterial be- nutzt. Eine Ausnahme bildet in gewisser Weise das letzte Fallbeispiel zu Irland. Bis ins 17. Jahrhundert hinein gab es auf der Insel kein nennenswertes Druckgewerbe; Irland war weitgehend geprägt durch eine mündliche Kultur, die allenfalls von Handschrif- ten flankiert wurde.179 Weder die gälischen Fürsten noch die verschiedenen engli- schen Siedler bemühten sich nachhaltig darum, die neue Technik des Buchdrucks einzuführen oder zu popularisieren. So mussten gedruckte Bücher entweder aus Eng- land oder vom Kontinent bezogen werden.180 Vor diesem Hintergrund ist festzuhal-

178 Siehe dazu die entsprechenden Hinweise in den einzelnen Kapiteln. 179 Marc CABALL / Andrew CARPENTER (Hgg.), Oral and Print Culture in Ireland, 1600- 1900, Dublin 2010; Marc CABALL / Kaarina HOLLO, The literature of later medieval Ire- land, 1200-1600: from the Normans to the Tudors, in: Margaret Kelleher / Philip O’Leary (Hgg.), The Cambridge History of Irish Literature, Bd. 1: To 1890, Cambridge 2006, S. 74-139; Raymond GILLESPIE, Reading Ireland. Print, reading and social change in early modern Ireland, Manchester/New York 2005, S. 26-51; Brian Ó CUIV, The Irish Langua- ge in the Early Modern Period, in: A New History of Ireland, Bd. 3: Early Modern Ire- land 1534-1691, hrsg. von Theodore W. Moody / Francis X. Martin / Francis J. Byrne, Neuauflage Oxford 2003, S. 509-545. 180 Robert WELCH, The book in Ireland from the Tudor re-conquest to the battle of the Boyne, in: Barnard / McKenzie / Bell (Hgg.), The Cambridge History of the Book in Bri- tain, Bd. 4, S. 701-718; Raymond GILLESPIE, Print culture, 1550-1700, in: Ders. / Andrew Hadfield (Hgg.), The Irish Book in English 1550-1800, Oxford 2006, S. 17-33; DERS., Reading Ireland, S. 55-74; DERS., The book trade in southern Ireland, 1590-1640, in: Gerald Long (Hg.), Books Beyond the Pale. Aspects of the provincial book trade in Ireland before 1850, Dublin 1996, S. 1-17; siehe auch den Eintrag „Publishing in Eng- lish“, in: The Oxford Companion to Irish Literature, hrsg. von Robert WELCH, Oxford EINLEITUNG | 63 ten, dass sämtliche publizistischen Werke, die dem irischen Fallbeispiel zugeordnet werden können, in England gedruckt worden sind. Daneben hat sich für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts im Hinblick auf den irischen Raum ein eigenes ‚Genre‘ gebildet, das sich mit den Problemen der Reorganisation, ‚Zivilisierung‘ und Refor- mation der autochthonen Bevölkerung befasst. Charakteristisch für diese Texte ist zum einen ihre stereotype Sichtweise der irischen Bevölkerung, die zumeist in pejo- rativen Beschreibungen und Bewertungen kulminiert.181 Zum anderen zeichnen sich diese Werke in formaler Hinsicht oftmals durch ihren Status als Manuskripte aus.182 Obwohl sie nicht gedruckt wurden, konnten diese Schriften doch einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und Deutung der irischen Verhältnisse ausüben.183 Zuweilen müssen deren Möglichkeiten, bestimmte Vorstellungen in einer spezifi- schen Schicht von Entscheidungsträgern sowie einer begrenzten Zahl weiterer Betei- ligter effektiv und nachhaltig zu propagieren, sogar höher eingeschätzt werden, als jene der Druckmedien.184 Die Gründe hierfür konnten verschiedener Art sein: Einer-

1996, S. 484f; Vincent KINANE, Art. „printing and publishing“, in: The Oxford Com- panion to Irish History, hrsg. von Sean J. Connolly, 2. Aufl., Oxford 2007, S. 486f. 181 Überblicke zu dieser Literatur finden sich bei Edward M. HINTON, Ireland through Tudor Eyes, Philadelphia 1935; David B. QUINN, The Elizabethans and the Irish, Ithaca 1966; Robert D. EDWARDS / Mary O’DOWD, Sources for Early Modern Irish History, 1534- 1641, Cambridge 1985; Andrew HADFIELD / John MCVEACH (Hgg.), Strangers to that Land. British Perceptions of Ireland from the Reformation to the Famine, Gerrards Cross 1994. 182 Vgl. WELCH, Book in Ireland, S. 710f; Andrew HADFIELD, Edmund Spenser’s Irish Ex- perience. Wilde Fruit and Salvage Soyl, Oxford 1997, S. 82 sowie die Anm. 107. 183 Das sicherlich herausstechende Beispiel hierfür ist Edmund Spensers A View of the Present State of Ireland. Das Manuskript wurde zwischen 1596 und 1598 fertiggestellt; im Druck erschien es jedoch zuerst 1633 in einer korrigierten Fassung zusammen mit zwei anderen Darstellungen. Dessen ungeachtet haben sich bis heute zahlreiche Manu- skriptkopien des Textes erhalten. Unter den Besitzern befanden sich auch Personen wie Arthur Chichester, Lord-Deputy of Ireland von 1604-1613 oder Robert Devereux, der zweite Graf von Essex. Siehe zu den einzelnen Manuskripten sowie zu Auszügen aus dem Text den Eintrag „Edmund Spenser, A View of the Present State of Ireland“, in: CA- TALOGUE OF ENGLISH LITERARY MANUSCRIPTS 1450-1700, betreut von Peter Beal, on- line unter URL: [14.04.2017], hier die Einträge SpE 45 bis SpE 64; ferner die Angaben bei Rudolf GOTTFRIED (Hg.), Spenser’s Prose Works [The Works of Edmund Spenser, A Variorum Edition, Vol. 10], 3. Aufl., Baltimore 1966, Ap- pendix III, S. 506-516; v.a. Nicholas Canny bescheinigt dem Werk von Spenser eine im- mense Wirkung auf die Herausbildung englischer Strategien im Umgang mit der irischen Bevölkerung. Siehe dazu nur Nicholas CANNY, Making Ireland British, 1580-1650, Oxford 2001, Kap. 1: Spenser Sets The Agenda; kritisch hingegen zeigt sich v.a. Ciaran Brady, was Stellung und Wirkung von Spensers Schrift angeht. Siehe dazu in Kurzform seinen Beitrag Spenser, Plantation, and Government Policy, in: Richard A. McCabe (Hg.), The Oxford Handbook of Edmund Spenser, Oxford 2010, S. 86-105, hier S. 102. Die Debatte zwischen Canny und Brady wird im Abschnitt D eingehender behandelt. 184 Vgl. dazu Harold LOVE, Scribal Publication in Seventeenth-Century England, Oxford 1993, hier bes. S. 177-191, der zudem betont, dass die Zirkulation von Manuskripten und 64 | ENGLANDS EXODUS seits ist in diesem Fall vermutet worden, dass eine vorwiegend handschriftliche Zir- kulation auf Befindlichkeiten der Regierung reagierte, die Publikationen zum iri- schen Raum und Konflikt nicht gerne sah und ab Mitte des Jahres 1599 offenbar so- gar unter Todesstrafe stellte.185 Andererseits schien sich das Medium auch anzubieten, weil darüber die teilweise radikalen und brutalen Vorschläge der Texte schnell, effizient und vor allem relativ kontrolliert an eine spezifische Adressaten- gruppe kommuniziert werden konnten, ohne dass die womöglich von einem breiteren Publikum als anstößig empfundenen Inhalte allgemein bekannt geworden wären.186 Besonders im irischen Fall ist daher das Zusammenwirken von handschriftlichen und gedruckten Texten zu berücksichtigen, über das erst ein adäquates Bild der engli- schen Wahrnehmung und Deutung der irischen Problematiken im Rekurs auf die Er- wählungsidee gezeichnet werden kann. *** Abschließend und kurz zusammengefasst kann also gesagt werden: Die Studie ver- sucht sich von einer vorgeprägten nationalen und modernisierungstheoretischen Per- spektive auf das Thema frei zu machen. Dabei scheint in grundlegender Hinsicht das methodische Instrumentarium der Neueren Ideengeschichte hilfreich, das in erster Linie eine radikale Kontextualisierung der zu untersuchenden Idee fordert. Die aus- gewählten Konfliktphasen sollen hier sicherstellen, dass diese Forderung auch hin- sichtlich der Relevanz der herangezogenen Quellen methodisch gesichert umgesetzt wird.

den darin präsentierten Ideen in einer bestimmten Gruppe zur Förderung eines Solidari- tätsgefühls beitragen könne; DERS., Oral and scribal texts in early modern England, in: Barnard / McKenzie / Bell (Hgg.), The Cambridge History of the Book in Britain, Bd. 4, S. 97-126, hier S. 105-112; ähnlich Michelle O’CALLAGHAN, Publication: Print and Ma- nuscript, in: Michael Hattaway (Hg.), A New Companion to English Renaissance Litera- ture and Culture, 2 Bde., hier Bd. 1, Malden (WI) 2010, S. 160-176, bes. S. 162-165; vgl. auch Henry R. WOUDHUYSEN, Sir Philip Sidney and the circulation of manuscripts 1558- 1640, Oxford 1996. 185 So schildert die Situation zumindest George Fenner in einem Brief vom 30. Juni 1599, in: Calendar of State Papers, Domestic Series of the Reigns of Edward VI., Mary, Elizabeth I. (James I.), preserved in the State Papers Department of Her Majesty’s Public Record Office, 12 Bde., London 1856-1872, hier Bd. 5: 1598-1601, London 1869, S. 225-227, hier S. 225: „It is forbidden, on pain of death, to write or speak of Irish affairs; what is brought by the post is known only to the Council.“ 186 Siehe dazu Andrew HADFIELD, Censoring Ireland in Elizabethan England, 1580-1600, in: Ders. (Hg.), Literature and Censorship in Renaissance England, Houndmills u.a. 2001, S. 149-164, hier S. 152-158; DERS., Spenser’s Irish Experience, S. 83f; so auch LOVE, Scri- bal Publication, S. 185; freilich konnten auch Manuskripte in einen Kreislauf des Kopie- rens und Wiederkopierens verwickelt werden, der eine Eigendynamik entwickelt und da- durch der Kontrolle des Autors entgleitet. Siehe dazu etwa das zeitgenössische Beispiel John Donnes bei Peter BEAL, John Donne and the circulation of manuscripts, in: Barnard / McKenzie / Bell (Hgg.), The Cambridge History of the Book in Britain, Bd. 4, S. 122- 126, hier S. 124; ein späteres Beispiel für diese Eigendynamik liefert Robert DARNTON, Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2002.