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MATTHIAS BEILEIN

Robert Menasses poetologisch fundiertes Engagement

Der österreichische Schriftsteller und Essayist Robert Menasse kommt 1954 in Wien zur Welt. Sein Vater Hans Menasse stammt aus einem jüdischen Elternhaus. Er wird von seinen Eltern Ende der 1930er Jahre im Rahmen des Refugee Children Movement nach England geschickt und kehrt nach dem Krieg nach Österreich zu- rück, wo er in den späten 1940er und in den 1950er Jahren ein erfolgreicher Fuß- baller beim First FC 1894 ist. In Wien lernt er seine erste Frau, Robert Menasses Mutter Hilda Boigner, kennen, von der er sich Anfang der 1960er Jahre scheiden lässt. Als Folge der Trennung seiner Eltern verbringt Menasse einen Teil seiner Schul- zeit als Internatszögling in Bad Ischl. Nach der Matura studiert er ab 1972 in Wien, Messina und u.a. Germanistik, Philosophie, Geschichte und Poli- tikwissenschaften. Während des Studiums entstehen seine ersten poetischen und essayistischen Texte, die in den Zeitschriften Neue Wege und Wespennest veröffent- licht werden; daneben engagiert sich Menasse in trotzkistischen Studentengrup- pen und als Mitherausgeber einer literarischen Wandzeitung, womit er für einiges Aufsehen sorgt, das bis in die Literatur nachwirkt: In Peter Henischs Roman Der Mai ist vorbei (1978), der die Studentenbewegung der österreichischen Nach- 68er-Zeit literarisch verarbeitet, tritt Menasse als der dichtende Kommunarde Jerusalem auf. Anfang der 1980er Jahre promoviert Menasse bei Wendelin Schmidt-Dengler mit einer Arbeit über Hermann Schürrer und den Typus des Außenseiters im öster- reichischen Literaturbetrieb. Danach verlässt er Österreich, um in São Paulo als Sprachlektor zu arbeiten und anschließend als Gastdozent Kurse über Philosophie und Literaturtheorie zu geben. Nebenher arbeitet er an verschiedenen literarischen Projekten, woraus schließlich sein erster Roman hervorgeht, der Ende der 1980er Jahre bei Rowohlt erscheint. Sinnliche Gewißheit wird in Österreich ein Erfolg. Größeres Aufsehen erregt er jedoch mit verschiedenen politischen und literaturthe- oretischen Essays, die zunächst in diversen österreichischen Zeitschriften erschei- nen und Anfang der 1990er Jahre als Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik gesam- melt in Buchform aufgelegt werden. Menasse kehrt nach Österreich zurück. Der Erfolg seiner nun rasch hinterei- nander erscheinenden Romane und sein Potential als kritischer Intellektueller, mit dem es ihm gelingt, diverse Debatten anzustoßen, sorgen dafür, dass er sich im Österreich Waldheims und Haiders schnell etablieren kann. 1995 eröffnet er den Österreich-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse und zählt spätes- tens seitdem zu den einfl ussreichsten Autoren der österreichischen Gegenwartslite- ratur.

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Obwohl Menasse einmal gesagt hat, er habe im Grunde keine Poetik1, hat er sich doch immer wieder zu poetologischen Aspekten seines Werks geäußert. Seine Anmerkungen zum ästhetisch-rhetorischen Hintergrund seines literarischen Schaf- fens sind freilich stets eingebunden in politisch-soziale Kontexte. Daher verraten Menasses Paderborner und Frankfurter Poetik-Vorlesungen viel über sein politi- sches Weltbild, gehen aber nur eher beiläufi g auf sein literarisches Werk ein. Dies ist weniger Ausdruck einer Abwehrhaltung gegenüber der poetologischen Refl e- xion, sondern vielmehr schon der Kern der eigenen Poetik, in der das Literarische an das Politische gebunden ist: Menasse vertritt eine konsequente Poetik der Zeit- genossenschaft, d.h. er versteht (wie etwa auch Balzac) die Literatur als Speicher- medium der eigenen Gegenwart für nachkommende Generationen, ohne sie damit auf einen platten Realismus reduzieren zu wollen. Daraus geht zweierlei hervor: Die in unserem Literatursystem dominanten auto- nomieästhetischen Wertmaßstäbe erscheinen Menasse als fragwürdig, denn er lehnt die jeder Poetik inhärenten normativen Setzungen ab, da sie, als Regeln ver- stetigt, die Beschreibung der Zeitgenossenschaft verhindern.2 Ferner zeigt Menas- ses Umgang mit den Konventionen der Textsorte ‚Poetikvorlesung‘, dass sich bei ihm essayistisches und fi ktionales Werk nicht voneinander trennen lassen, da sie beide im Zeichen seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart stehen und zwei Ausdrucksweisen einer faktualen Schreibstrategie sind, die sie in thema- tischer und auch stilistischer Hinsicht miteinander verknüpft.3 Ein Blick auf Menasses vorliegendes Werk soll dies im Folgenden verdeutlichen. Im Zentrum von Robert Menasses poetischem Schaffen steht die epische Groß- form. Neben den bislang erschienenen fünf Romanen und einer Sammlung mit Erzählungen hat Menasse lediglich einen kurzen Gedichtzyklus mit dem Titel Kopfwehmut (1989) und die beiden Theaterstücke Das Paradies der Ungeliebten (UA 2006) und Doktor Hoechst – Ein Faustspiel (UA 2009) veröffentlicht, die, ver- glichen mit der Rezeption seiner Prosaarbeiten, eher von marginalem Rang sind. Als Romancier debütiert Menasse 1988 mit dem die Trilogie der Entgeisterung eröffnenden Roman Sinnliche Gewißheit (eine überarbeitete Fassung erscheint 1996), dem 1991 Selige Zeiten, brüchige Welt und 1995 Schubumkehr folgen. Der 1991 erstmals veröffentlichte philosophische Essay Phänomenologie der Entgeiste- rung (1995 in Buchform gedruckt) ist ein die Romantrilogie vervollständigendes Seitenstück.

1 Wolfgang Neuber, „Die seltsame Lust an falschen Zusammenhängen“, in: Dieter Stolz (Hg.), Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“, Frankfurt/M., 1997, S. 292-304: 297 f. 2 Vgl. dazu Norbert Otto Eke, „‚Nichts, was einen Anfang hatte, ist unendlich.‘ Robert Me- nasses Arbeit an der Differenz“, in: Eva Schörkhuber (Hg.), Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse, Wien, 2007, S. 237-250: 238 f. 3 Vgl. dazu ausführlich Matthias Beilein, 86 und die Folgen. , Robert Menasse und im literarischen Feld Österreichs, , 2008, S. 130 ff.

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