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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...... 3 2 Heimatbegriff außerliterarisch ...... 5 2.1 Heimat im Wörterbuch ...... 5 2.2 Räumliche und soziale Bedingungen ...... 6 2.3 Heimat als Utopie...... 8 3 Heimatliteratur...... 13 3.1 Heimatkunstbewegung...... 14 3.2 Blut-und-Boden-Literatur...... 17 3.3 Heimatroman...... 18 3.4 Gattungsproblematik ...... 19 4 Anti-Heimat-Literatur ...... 20 4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945...... 20 4.2 1960er & 1970er Jahre ...... 22 4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur...... 25 4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur ...... 26 4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence...... 28 5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv ...... 34 5.1 Exkurs: Funktion von Motiven für die Literatur ...... 34 5.2 Heimkehrmotiv ...... 37 6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fasching“ von Gerhard Fritsch ....42 6.1 Späte Anerkennung ...... 42 6.2 Heimkehr eines Deserteurs...... 44 6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs...... 51 7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein.“ – „Der Emporkömmling“ von Franz Innerhofer...... 54 7.1 Teil vier einer Trilogie?...... 54 7.2 Heimkehr als letzter Ausweg...... 58 8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von Robert Menasse...... 66 8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman...... 66 8.2 Heimkehr als Regression ...... 68

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9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von Peter Zimmermann...... 77 9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans...... 77 9.2 Suche nach der Stille ...... 78 10 Funktionen des Heimkehrmotivs ...... 87 10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs...... 89 10.2 Heimat – eine Utopie?...... 96 10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?...... 100 10.4 Ausblick...... 102 11 Bibliographie ...... 104 11.1 Primärliteratur...... 104 11.2 Sekundärliteratur...... 104 11.2.1 Rezensionen ...... 112 11.2.2 Internet ...... 114 Anhang...... 115 Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007...... 115 Abstract...... 120 Lebenslauf ...... 122

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1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Werken eines Genres, das mittler- weile beinahe vollständig von der Bühne der österreichischen Literatur ver- schwunden ist. Die Anti-Heimatliteratur beziehungsweise Anti-Heimat-Literatur durfte sich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts über ihre größten Erfolge freuen. Mittlerweile ist der Begriff mit einer Aura des Antiquierten und Unzeitgemäßen behaftet und wird meist nur in abwertender Absicht verwendet. Dabei nimmt die Anti-Heimat-Literatur eine wichtige, wenn nicht sogar die wich- tigste Position in der österreichischen Gegenwartsliteratur ein. Anti-Heimat- Literatur hat in hohem Ausmaß auf historische und aktuelle politische und ge- sellschaftliche Entwicklungen in Österreich Bezug genommen und diese kritisch beleuchtet. Diese Arbeit soll auch ein Beitrag dazu sein, dass dieses Genre nicht völlig in Vergessenheit gerät. Im Zentrum der Arbeit steht das Heimkehrmotiv, das sich auf den ersten Blick nicht unbedingt in Verbindung zur Anti-Heimat-Literatur bringen lässt. Denn tat- sächlich ist es das Fluchtmotiv, welches weitaus häufiger zur Verwendung he- rangezogen wird. Von dieser Beobachtung ausgehend soll untersucht werden, ob und wie das Heimkehrmotiv kompatibel zur Anti-Heimat-Literatur ist. Dabei ist es wichtig, auf die inhaltlichen und auf die formalen Besonderheiten des Mo- tivs einzugehen. Motive haben generell eine Funktion als Inhalts- und auch als strukturierte und strukturgebende Einheiten, sie entfalten ihre Wirkung auf zwei verschiedenen Ebenen. Das Heimkehrmotiv findet sich in der Literaturgeschichte immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten. Als eine der ältesten und bekanntesten Heim- kehrergeschichten sei die Odyssee von Homer erwähnt. Darin und auch in vie- len anderen Werken steht die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat im Vordergrund. Umgelegt auf das Genre der Anti-Heimat-Literatur stellt sich die Frage, wie sich diese Sehnsucht mit einer Gattung, die tendenziell eine kritische Haltung zur Heimat einnimmt, vereinbaren lässt. Eine Heimkehr in die Anti- Heimat kann nur schwer entsprechend den herkömmlichen Verläufen der klas- sischen Heimkehrergeschichten entsprechen. Deshalb soll in dieser Arbeit un- tersucht werden, ob sich für die Verwendung des Motivs in der Anti-Heimat-

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Literatur ein eigenes Schema definieren lässt. Eine rein textimmanente Interpre- tation würde jedoch zu kurz greifen. Deshalb steht zu Beginn der Arbeit ein the- oretischer Teil, der dazu beitragen soll, möglichst viele relevante Aspekte in die Analyse einzubringen. Zuallererst ist es notwendig, auf die Aspekte Heimat und Identität einzugehen, da diese in enger Verbindung zum Heimkehrmotiv stehen und auch wichtige Themen in der Anti-Heimat-Literatur sind. Zu diesem Zweck werden in Kapitel zwei verschiedene Konzepte zum Thema Heimat präsentiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Der Heimatbegriff unterzog sich im Laufe der Zeit einem vielfachen Wandel und wurde leider sehr oft auch zu ideologischen Zwecken missbraucht. Ein Wandel des Heimatbegriffes auf gesellschaftlicher Ebene findet immer auch eine Ent- sprechung in der Literatur, da diese wesentlich von aktuellen Entwicklungen beeinflusst wird und diese auch widerspiegelt. Diese Verbindung wird versucht in Kapitel drei, welches sich mit der Heimatkunstbewegung, der Blut-und- Boden-Literatur und dem Heimatroman der Nachkriegszeit beschäftigt, nachzu- zeichnen. Erst aus dem Verständnis der problematischen und auch miss- bräuchlichen Verwendung des Begriffes in der Literatur kann sich das Ver- ständnis für die Entstehung der Anti-Heimat-Literatur als spezifisch österreichi- sches Genre herausbilden. Kapitel vier schließlich widmet sich der Anti-Heimat- Literatur, skizziert deren Entwicklung und stellt ein umfassendes Konzept dazu vor. Den letzten Abschnitt des Theorieteils bildet Kapitel fünf, das sich mit Über- legungen zur Motivforschung und zum Heimkehrmotiv beschäftigt. Dieses Kapi- tel ist eine wichtige Voraussetzung für eine fundierte Interpretation, welche in den darauf folgenden vier Abschnitten stattfindet. Es wird jeweils ein Werk pro Kapitel unter Einbeziehung von Forschungs- und Rezeptionsgeschichte genau- er analysiert. Die ausgewählten Werke spannen einen zeitlichen Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart und repräsentieren jeweils verschiedene Phasen der Anti-Heimat-Literatur. Im abschließenden Kapitel zehn werden die Erkenntnisse der Einzelanalysen zusammengefasst, anhand konkreter Leitfra- gen zueinander in Beziehung gebracht und zu Grundaussagen über das Heim- kehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur formuliert.

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2 Heimatbegriff außerliterarisch

Betrachtet man den Begriff „Heimat“ aus diachroner Sicht, so lässt sich un- schwer erkennen, dass dieser Terminus im Laufe der Zeit einem vielfältigen Wandel unterzogen wurde. Rüdiger Görner etwa bezeichnet in diesem Zusam- menhang Heimat als „chamäleonhaftes Gebilde“1. Im Rahmen der Arbeit wird der Wandel des Heimatbegriffs ab dem Aufkommen der Heimatkunstbewegung untersucht. Mit dieser Strömung lässt sich eine zunehmende ideologische Auf- ladung des Begriffes feststellen, die wesentliche Auswirkungen bis in die Ge- genwart zeigt und Voraussetzung für das Verständnis der Entwicklung, die in Österreich gegen Ende der 1960er Jahre einsetzt, ist. Abseits der Literatur war das Thema Heimat ab den 1970er Jahren wieder sehr gefragt. Zahlreiche Pub- likationen beleuchteten die Thematik aus psychologischer, irrationaler, territoria- ler, historischer, sozialer, kultureller, biologischer, anthropologischer, ideologi- scher oder nostalgischer Sicht und trugen zur Renaissance eines Begriffes, der Ende des 18. Jahrhunderts bereits als veraltet galt, bei.2 Einen Überblick über einige wichtige Theorien soll dieses Kapitel geben.3

2.1 Heimat im Wörterbuch

Das Wort „Heimat“ existiert nur im deutschen Sprachraum und lässt sich schwer in andere Sprachen übersetzen.4 „Heimat“ leitet sich von den mittel- hochdeutschen Wörtern „heimuot(e)“, „heimōt(e)“, „heimōde“ und „heimüete“ ab. Die althochdeutschen Entsprechungen lauten „heimōti“, „heimuoti“, „eimōdi“. Die damalige Bedeutung war ungefähr „Stammsitz“. Das Wort war ur-

1 Görner, Rüdiger: Einführendes. Oder: Verständigung über Heimat. In: Ders. (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992, S. 11 – 14, S. 14. 2 Vgl. Polheim, Karl Konrad: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 15 – 21, S. 15 – 16. 3 Eine ausführliche, wenn auch mittlerweile etwas veraltete, Zitatensammlung zum außerliterari- schen Heimatbegriff gibt Müller. Vgl. Müller, Carola: Der Heimatbegriff. Versuch einer Antholo- gie. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der ös- terreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 207 – 256. 4 Vgl. Bienek, Horst: Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch? In: Ders. (Hg.): Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München: Hanser 1985, S. 7- 8, S. 7. 5 sprünglich ein Neutrum.5 Jakob und Wilhelm Grimm definieren Heimat als „das land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden auf- enthalt hat“6, sie merken ferner an, dass „selbst das elterliche haus und be- sitzthum“7 so heißen können.

2.2 Räumliche und soziale Bedingungen

Heimat umschrieb also zuerst einen konkreten Raum, welchem der Mensch zu- geordnet ist. Dieses Territorium ist Identifikations-, aber auch Schutz- und Akti- onsraum: „Das Territorium als ein konkreter und selbst geschaffener Raumaus- schnitt mit fließenden Grenzen ist also gewissermaßen die conditio sine qua non zum Ablauf der Territorialität, die die Bedürfnisse Sicherheit, stimulierende Aktivität und Identifikation befriedigt.“8 Heimat darf aber keineswegs als ein rein geographisches Phänomen definiert werden, denn die Befriedigung der oben genannten Bedürfnisse ist Teil des menschlichen Sozialisationsprozesses, der unter spezifischen kulturellen Bedingungen stattfindet. Das räumliche Element ist dabei eine Voraussetzung.9

Andrea Bastian nähert sich in ihrer umfassenden Untersuchung dem Heimat- begriff von unterschiedlichen Seiten. Dabei trifft sie eine wesentliche Unter- scheidung zwischen räumlicher und sozialer Kategorie. Erstere wird definiert als Raum im Sinne von Wohnraum und/oder Landschaft, also als Territorium im Sinne von Greverus. Der Territoriumsbegriff erstreckt sich hier von kleinen Ein- heiten wie dem Haus, bis hin zu einer (regional-)geographischen Ebene und kann sich auch auf einen Staat beziehen. Es lässt sich nachweisen, dass das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, als ein zentrales Element von Heimatgefühl, durch Raumgebundenheit befriedigt wird. Territorialität ist eine

5 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von El- mar Seebold. /New York: Walter de Gruyter 2002, S. 402. 6 Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 10. München: dtv 1984, S. 866. 7 A. a. O. 8 Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Hei- matphänomen. Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 25. 9 Vgl. Prahl, Eckhart: Das Konzept „Heimat“. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen der 70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke Martin Walsers. Frankfurt/Main: Peter Lang 1993, S. 16. 6 anthropologische Konstante.10 Dies bestätigt auch Greverus, die es als absolut notwendig erachtet, dass sich der Mensch aktiv einen Raum aneignet, ihn ges- taltet und dadurch zur Heimat macht. Dieses Territorium wird in weiterer Folge zum soziokulturellen Bezugsraum, in dem Identität erfahrbar wird. Der Raum ist Voraussetzung für materielle Existenzsicherung und gesellschaftliche Integri- tät.11 Die soziale Kategorie benennt Bastian mit dem Terminus „Gemeinschaft“ und subsumiert darunter auch gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Aspekte wie etwa Traditionen und Rituale.12 Eine Reduzierung des Heimatbegriffs auf die territoriale Komponente greift also zu kurz. Unwidersprochen benötigt der Mensch einen konkreten Raum, der Si- cherheit, Identität, aber auch Stimulation bereitstellt, ohne die soziale Kompo- nente ist der Heimatbegriff jedoch zu kurz gefasst. Erst durch soziale Bezie- hungen und Interaktionen erhält der geographische Raum die nötigen emotio- nalen Bindungen.13 Eine gelungene Primärsozialisation bedeutet stabile, positi- ve emotionale Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen, die Grundlage der späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Doch nicht nur die Primärsoziali- sation ist ausschlaggebend für das Entstehen eines Heimatgefühls, auch nach- folgende Sozialisationsinstanzen, von der Schule über den Freundeskreis bis hin zum Berufsleben sind von konstitutiver Bedeutung. Räumliches und sozia- les Element dürfen also nicht als voneinander getrennt betrachtet werden:

Das Territorium dient gleichzeitig der sozialen Bindung wie der sozia- len Distanzierung. [...] Ein gesichertes Territorium, auf das man im- mer wieder zurückkehren kann, mit seinen verschiedenen Funkti- onsorten und Ruhepunkten [...] dient der Kanalisierung des eigenen Verhaltens. [...] Soziologisch gesehen ist jedes Territorium sozusa- gen Interaktionsraum. Es erweist sich als soziokultureller Bezugs- raum, in dem Identität [...] erfahrbar wird.14 Greverus betont die Wechselwirkung zwischen der Gruppe und den einzelnen Individuen: „Identität ist ein reziprokes Verhältnis zwischen den Menschen eines

10 Vgl. Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in ver- schiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Max Niemeyer 1995, S. 49 – 55. 11 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979, S. 28 – 32. 12 Vgl. Bastian 1995, S. 25. 13 A. a. O., S. 37 – 40. 14 Bastian 1995, S. 71. 7

Raumes: die Gruppe gibt dem Einzelnen Identität und die Einzelnen bestätigen die Identität der Gruppen.“15 Das Zusammenwirken von räumlicher und sozialer Kategorie evoziert im Menschen jene Emotionen, die man als Heimatgefühle oder Heimatverbundenheit bezeichnen kann: Geborgenheit, Sicherheit, Zuge- hörigkeit, Vertrautheit und Anerkennung.16 Defizite können durch Bindung an die Heimat kompensiert werden, wie Parin anmerkt. Für ihn hat „Heimat die Be- deutung einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträg- liche Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken…“17 Neben die- sen positiven Emotionen kann die Bindung an den Lebensraum Heimat jedoch auch negative Auswirkungen auf das Individuum haben. In diesem Fall wird Heimat als Enge, Zwang und Gefangensein erlebt.18 In der Anti-Heimat- Literatur etwa lässt sich tendenziell eine derartige negative Beschreibung der Heimat feststellen.

2.3 Heimat als Utopie

Heimat sei „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“19, schreibt und kaum ein wissenschaftliches Werk oder ein Ar- tikel zum Thema Heimat verzichten auf dieses Zitat. Meist steht es am Schluss der Ausführungen, ein Verweis auf die Schwierigkeit des Unterfangens, Heimat zu definieren. Nähert man sich dem Heimatbegriff von einer mehr philosophi- schen, denn kulturanthropologischen Seite, so muss man in der Romantik be- ginnen: „Wohin gehen wir?“ – „Immer nachhause!“, fragten und antworteten die Romantiker. In dieser Aussage manifestiert sich der Lauf des Lebens als stän- dige Suche nach Heimat.

15 Greverus 1979, S. 57. 16 Diese emotionalen Elemente sind anthropologische Grundbedürfnisse, die in jedem Men- schen vorhanden sind. Vgl. Bastian 1995, S. 43 und S. 72. 17 Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposium der Internationalen Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache in Wien zum Thema „Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er.“ Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1996, S. 18. 18 Vgl. Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüche oder komple- mentäre Motivkonstellationen menschlichen Handelns? In: Geographie heute 100 (1992), S. 30 – 44, S. 30 – 32. 19 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Band 5. Kapitel 43 – 55. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 1628. 8

In einem Essay greift Bernhard Schlink eine Thematik auf, die Jean Améry be- reits in den 1960er Jahren behandelt hat: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, lautete der Titel von Amérys Essay.20 Beide nähern sich dem Hei- matbegriff von der Erfahrung des Exils, dem Gegenbegriff zur Heimat.

Exil bedeutete ursprünglich eine räumliche Trennung von der Heimat durch Ver- treibung oder andere Notsituationen, meist unfreiwillig. Améry war selbst ein Opfer der Judenvertreibung des Nationalsozialismus. Das Verlassen der Hei- mat geht immer einher mit der Erfahrung der Entfremdung, im Exil gelten ande- re Gesetze, denen sich der Exilant unterordnen muss. Schlink erweitert den Begriff des Exils zu einem metaphorischen. Für ihn ist das Exil eine Metapher für die Erfahrung der Entfremdung, die jedoch nicht an eine räumliche Kompo- nente gebunden ist.21 Die Erfahrung des Exils kann auch ohne räumliche Ver- änderung gemacht werden. Schlink nennt als Beispiele etwa die Angehörigen von Minderheiten oder auch Frauen, die sich in einer männerdominierten Ge- sellschaft wie im Exil fühlen.22 Es gab eine Zeit, in der die Erfahrung des Exils für viele Intellektuelle durchaus prägend war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Heimat ein belasteter Begriff, Exilanten des Krieges wurden von den Daheim- gebliebenen oftmals als Vaterlandsverräter betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt war der Exilbegriff in intellektuellen Kreisen positiver besetzt als der Heimatbegriff, er signalisierte Weltoffenheit und Universalität.23 Auch Améry weiß die Exiler- fahrung durchaus zu schätzen, er betont die Bereicherungen und Chancen, die Öffnung der Welt, welche die Heimatlosigkeit bieten kann.24

Eine deutsche Umfrage ergab, dass Heimat für 31 Prozent der Befragten der Wohnort, für 25 Prozent die Familie, aber nur für elf Prozent das Land selbst ist. Aus diesem Ergebnis folgert Schlink, dass „das Land als Nation nach wie vor historisch diskreditiert ist, um den Platz der Heimat unverfänglicheren und au-

20 Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.): Jean Améry. Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 86 – 117. 21 Vgl. Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 8 – 11. 22 A. a. O., S. 7. 23 A. a. O., S. 13 – 15. 24 Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 94.

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ßerdem näheren, überschaubareren, ausfüllbareren Orten zu überlassen.“25 Durch die Kriegsschuld war die Nation als Heimat kein Thema mehr, wenn man an Heimat dachte, orientierte man sich an kleineren oder abstrakteren Begriffen. Diese Erfahrungen von Orten der Heimat werden jedoch erst aus der Distanz gemacht. Erst der Mangel macht die Bedeutung von bis dahin Selbst- verständlichem klar: „Die Heimaterfahrungen werden gemacht, wenn das, was Heimat jeweils ist, fehlt oder für etwas steht, das fehlt.“26 Aus der Distanz sind es vor allem Erinnerungen und Sehnsüchte, die das Heimatbild ausmachen. Améry setzt Heimat mit Sicherheit gleich, das Exil evoziert ihn ihm das Gefühl des Torkelns über schwankenden Boden.27 Ähnliches meint auch Schlink, wenn er vom Recht auf Heimat als elementarem Menschenrecht spricht, und sich da- bei auf einen Ort bezieht, an dem der Mensch rechtlich anerkannt und ge- schützt leben und arbeiten, sowie Familie, Freunde, Erinnerungen und Sehn- süchte haben kann.28 Für Schlink ist das Heimweh das eigentliche Heimatge- fühl. Heimat manifestiert sich also nicht im Konkreten und ist folglich ein Nicht- Ort, eine Utopie: „Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerun- gen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach dem, was vergangen und verloren ist [...] Heimat ist ein Ort nicht als der, der er ist, son- dern als der, der er nicht ist.“29 Auch Améry beschäftigt sich mit der Heimwehproblematik, in seinem Fall der Sehnsucht nach einer eigentlich verachtenswerten, nationalsozialistischen Heimat: „Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen ist.“30 Doch nicht nur für räumlich von ihrer Heimat getrennte Menschen ist Heimat ei- ne Utopie. Auch wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang am selben Ort ge- lebt hat, ist dieser Ort als Heimat für ihn Utopie, denn dieser Ort beinhaltet nicht nur die Erinnerungen an konkrete vergangene Geschehnisse sondern dazu

25 Schlink 2000, S. 23. 26 A. a. O., S. 24. 27 Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 95 – 96. 28 Vgl. Schlink 2000, S. 47. 29 Schlink 2000, S. 33. 30 Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 102. 10 noch alle vergangenen Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte und trägt somit die Utopien des gesamten Lebens.31 Die Heimat der Vergangenheit, egal ob real oder von Träumen und Sehnsüchten dominiert, ist unwiederbringlich, „weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlore- nen Zeit ist.“32 Somit erhält der Heimatbegriff auch für Améry einen utopischen Charakter: „Es gibt keine ´neue Heimat`. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furcht- losigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen.“33 Auch für Schlink gibt es nur zwei Orte, denen er das Potential, Heimat zu vermitteln, zugesteht: „de[r] Ort der Geburt und de[r] Ort der Kindheit. Sie werden die Orte bleiben, an denen sich Heimatgefühl, Heimaterinnerung und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“34

Améry und Schlink entwickeln ihre Thesen von ähnlichen Standpunkten aus: Améry aufbauend auf seinen eigenen Exilerfahrungen und Schlink auf einem metaphorischen Exilbegriff. Auch die Schlussfolgerungen der über drei Jahr- zehnte auseinander liegenden Essays weisen starke Ähnlichkeiten auf: Heimat konstituiert sich durch Vergangenes, Erinnerungen, Projektionen und durch Mangel. Somit wird Heimat zu einer Utopie. Der Blick aus der Ferne in die Hei- mat, aus der Gegenwart in die Vergangenheit, wirkt oft verklärend. Einig sind sich beide Verfasser darin, dass ein geographisch definierter, überschaubarer Raum als Voraussetzung für das Entstehen von Heimatgefühl notwendig ist. Darin bestätigt sich einmal mehr die These von Greverus über Territorialität als anthropologische Konstante.

Die Kindheit spielt in allen vorgestellten Konzepten eine wichtige Rolle. Beson- ders aus der Ferne betrachtet, erscheint die Welt der Kindheit oft als verklärte Idylle, deren Rückeroberung ein lohnenswertes Ziel darstellt. Selbst wenn die Kindheit nur ein Mindestmaß an Geborgenheit und Heimat geboten hat, aus

31 Vgl. Schlink 2000, S. 34. 32 Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 87. 33 A. a. O., S. 97 – 98. 34 Schlink 2000, S. 49 – 50. 11 zeitlicher und räumlicher Distanz betrachtet, tendiert der Mensch zu einer posi- tiveren Sicht der vergangenen Zeit.35 Dass aber eine Rückkehr in die Welt der Kindheit nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Kindheit ist ein unwiederbringli- cher Abschnitt im Leben des Menschen, durch die voranschreitende Zeit und die damit einhergehenden Veränderungen, sowohl der Umgebung, als auch des Menschen selbst, endet eine Rückkehr oft in Enttäuschung. Wohl aber wird in der Heimat der Kindheit der Grundstein für die menschliche Identitätsentwick- lung gelegt. Eine Heimat zu haben, irgendwo daheim zu sein, ist ein elementa- res menschliches Bedürfnis. Wie sich die Suche nach Heimat beim Einzelnen gestaltet und wovon der Erfolg letzten Endes abhängt, lässt sich nicht verallge- meinern: „Heimat ist demnach kein festschreibbarer kollektiver Wert, sondern ein offenes System, das vom einzelnen Individuum im fortschreitenden Prozess der Identitätsfindung erworben und modifiziert wird.“36

Ob tatsächlich die Kindheit als einzige Heimat bezeichnet werden kann, darf hinterfragt werden. Wahrscheinlicher ist schon die These, dass die Fähigkeit, sich aufgrund der in der Kindheit erworbenen Konzepte neue Lebensräume als Heimat anzueignen, eine wichtige Voraussetzung für jeden Menschen ist. Spe- ziell in der heutigen Gegenwart, die ein Höchstmaß an Mobilität bietet und auch verlangt, und vor dem Hintergrund immenser Migrationsbewegungen werden an das Heimatkonzept des modernen Menschen völlig neue Anforderungen ge- stellt. Die obigen Erörterungen zu außerliterarischen Heimatkonzepten bilden den Hintergrund für den zweiten, analytischen Teil dieser Arbeit. Sie sind bei der Analyse stets im Auge zu behalten. Das nächste große Kapitel widmet sich nun dem Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur, wobei der Schwerpunkt auf Österreich gelegt wird. Da Literatur immer auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse widerspiegelt und thematisiert, werden diese selbstver- ständlich miteinbezogen werden.

35 Vgl. Fetscher, Iring: Heimatliebe – Brauch und Missbrauch eines Begriffes. In: Görner, Rüdi- ger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. Mün- chen: Iudicium 1992, S. 15 – 35, S. 15 – 16. 36 Prahl 1993, S. 37. 12

3 Heimatliteratur

Der Heimatbegriff ist quer durch alle Epochen der Literaturgeschichte vertreten. Man könnte etwa mit der Romantik beginnen, denn sie „bringt das Thema Hei- mat in seiner gängigsten literarischen Bedeutung hervor: Heimat als emotional aufgeladener Begriff, der mit Natur und ländlichem Leben zusammenhängt und Stimmungen wie Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Ab- gesichertheit assoziieren läßt.“37 Im folgenden Abschnitt erfolgt eine Konzentration auf die jüngere Vergangen- heit, konkret mit Beginn der Heimatkunstbewegung als erste den Heimatbegriff in der Literatur ideologisierende Strömung38, da hier die Grundsteine für das problematische Heimatverständnis der Anti-Heimat-Literatur gelegt wurden. Von der Heimatkunstbewegung war es nur ein kleiner Schritt zur national- sozialistischen Blut-und-Boden-Literatur, und in weiterer Folge zum Heimatro- man der Nachkriegszeit, der als Resultat einer Verweigerung der Aufarbeitung der Hitlerjahre gesehen werden kann. Nicht explizit eingegangen wird auf die Dorfgeschichte. Sie

findet sich schon in den Formen der Idylle und setzt sich zu Beginn der 20. Jhs in der sogenannten ´Heimatkunst` und später in der ´Blut-und-Boden`-Literatur des III. Reichs, unter anderen Vorzeichen in der sozialistischen Landliteratur, ja selbst im trivialen Heimat- und Bergroman der Romanheftserien fort. Sogar in den gegen die traditi- onelle Heimatdichtung gerichteten Ansätzen der Gegenwartsliteratur klingen Elemente der D[orf]G[eschichte] an. Eine exakte Begriffsbe- stimmung oder gar Abgrenzung gegen andere epische Formen der Dorfdichtung ist schwierig.39

Diese Gattung in ihren verschiedenen Spielarten hat zwar quer durch alle Gen- res Verbreitung gefunden, in Bezug auf die ideologische Aufladung des Hei-

37 Bastian 1995, S. 180. 38 Vgl. Charbon, Remy: Heimatliteratur. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Lite- raturwissenschaft. Band 2. Berlin: de Gruyter 2000, S. 19 – 21, S. 20. 39 Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976, S. 20. Zur Ausprägung der Dorfge- schichte in der neueren österreichischen Literatur siehe auch Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke – Einschnitte – Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001, S. 439 – 448. 13 matbegriffes aber keine wesentliche Rolle gespielt und ist somit für die vorlie- gende Arbeit von geringer Relevanz.

3.1 Heimatkunstbewegung

Zeitlich verorten lässt sich die Heimatkunstbewegung in den beiden Jahr- zehnten vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit einem Hö- hepunkt in den Jahren 1900 bis 1904.40 Als einer der wichtigsten Vertreter die- ser Strömung gilt, neben Friedrich Lienhard und Julius Langbehn, Adolf Bartels. Neben seinem Eintreten für die Heimatkunstbewegung (er war es auch der den Begriff Heimatkunst geprägt hat), kann er auch als Begründer einer völkischen, antisemitischen Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet werden.41 Dieses Faktum sei deswegen gleich zu Beginn hervorgehoben, da es sehr schön dar- stellt, in welcher Ecke die Heimatkunstbewegung zu verorten ist. Als Antwort auf die Wirklichkeitsdarstellung des Naturalismus und Gegenbewegung zur Moderne gedacht, war die Heimatkunstbewegung darauf ausgerichtet, „die ge- samte Kultur auf eine landschaftsbedingte und stammesorientierte Grundlage zu stellen.“42 Die Vertreter der Heimatkunstbewegung sahen die Einheit und Kultur des deutschen Volkes bedroht: „Wir verlangen [...] eine machtvolle Volkskunst für die Nation; voll Unerschrockenheit, Glut und Größe, mit würdigen Gegenständen, getragen von der Eigenart unserer Gaue, auf dem Boden unse- rer Landschaften, von der Kühnheit echten Deutschtums durchlodert…“43

In der Heimatkunstbewegung manifestiert sich zum ersten Mal ein Denken und Agieren in Gegensatzpaaren, eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die gesellschaftliche Realität. Die Heimatkunstbewegung unterteilt in gute und böse, in gesunde und kranke Elemente. Die Großstadt fungiert als Ort der Dekadenz, als sozialer

40 Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literaturso- ziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett 1975, S. 13. Von 1900 – 1904 erschien auch die Zeitschrift „Heimat“, herausgegeben von Friedrich Lienhard und Adolf Bartels. 41 A. a. O. 1975, S. 40. 42 Rossbacher 1975, S. 13. 43 Wachler, Ernst, zit. n. Rossbacher 1975, S. 28. 14

Sumpf und als abzulehnendes Sinnbild für Industrialisierung.44 Opposition gegen den technischen Fortschritt, sowie gegen die Wissenschaft und Intellek- tuelle stellen weitere Punkte im Programm der Heimatkunstbewegung dar. Heimatkunst war eine konservative Antwort auf die zunehmende Industrialisie- rung und Verstädterung der Moderne und der damit einhergehenden Zunahme der Komplexität des Lebens: „In den Gegensätzen von einer durch Normeinheit geschlossenen Gemeinschaft gegenüber einem durch Normenvielfalt charakte- risierten städtisch-internationalen Weltbürgertum wurde Heimat als natürlich und authentisch gewachsene Zugehörigkeit Deutscher zu ihrer Nation gefei- ert.“45 Die österreichische Variante der Heimatkunst bezeichnet Rossbacher als „Pro- vinzkunst“. Zu den erfolgreichsten Vertretern dieser Strömung zählen Karl Hein- rich Waggerl, Paula Grogger oder Richard Billinger, auch Peter Rosegger schrieb, zumindest phasenweise, im Sinne der Heimatkunstbewegung. Die österreichische Variante der Heimatkunst trat zeitlich etwas später auf und ist gekennzeichnet durch einen starken katholischen Akzent.46 Ein zentrales Begriffspaar in der Heimatkunst stellt die Unterscheidung von gesund und krank dar, wobei krank oft in der Komplementärform entartet ver- wendet wird. Wenn auch die Dichotomie gesund – krank nicht von der Heimat- kunstbewegung in die Literatur eingeführt wurde, so ist doch die biologisierende Verwendung der Termini deren zweifelhafter Verdienst.47 Der Dichter erhält

als geistiger Führer und erzieherische Persönlichkeit die Aufgabe, das Volk in gesunde Bahnen zu leiten; die Poetisierung der Wirklich- keit gründet in einem ethischen Prinzip, sie verklammert die Elemen- te Volk, Stamm, Rasse, Nation, Heimat und Natur zu einem Ganzen, das – vordergründig betrachtet – im Bauerntum bereits verwirklicht ist.48

44 Paradoxerweise agierten wichtige Vertreter der Heimatkunstbewegung von der ihnen ver- hassten Stadt Berlin aus, da sie dort in den Genuss der besten Produktions- und Distributions- bedingungen kommen konnten. 45 Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation. München: Iudicium 1999, S. 23. 46 Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Die Literatur der Heimatkunstbewegung um 1900. In: Plener, Pe- ter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches Institut 1997, S. 109 – 120, S. 109 – 111. 47 Vgl. Rossbacher 1975, S. 53. 48 Hein 1976, S. 112. 15

Der gesunde Bauer steht in der Heimatkunst dem kranken Städter, Intellektuel- len oder Fremden gegenüber. Wie eine Gesundung des deutschen Volkes zu geschehen habe, erklärt folgende Aussage des Heimatkunsttheoretikers Ernst Wachler: „Die Mittel, die die Gesundheit, Schönheit und Kraft der Deutschen aufs höchste steigern, können nur bestehen in der Reinigung des Volkstums, der Ausscheidung oder der Aufsaugung des Fremden, Vernichtung des Entarte- ten.“49 Entsprechend dieser Philosophie lässt sich als beliebtes Motiv in vielen Werken die Gesundung kranker Menschen beobachten. Hauptfigur ist dabei oft ein kranker, reicher, eventuell adeliger Mann, der von der Großstadt aufs Land zieht, in der Hoffnung dort gesund zu werden. Die Landschaft, die Kräfte des Volkstums und vielleicht noch ein hübsches, natürliches Mädchen bewirken die Genesung.50 Sehr oft ist es auch ein Heimkehrer, der das Lob des Dorfes aus- spricht und die Gegensätze zwischen Stadt und Land hervorhebt:

Die Konnotationen spielen in den Bereich des Wiedergewinnens, der schrittweisen Wiederaneignung von ehemals Gehabtem und Unver- ändertem. Längere Abwesenheit bringt zudem häufig die Jugendper- spektive ins Bild. Wesentliche Komponenten eines so gesehenen Heimatdorfes sind: die Suggestion von Einheit und Geschlossenheit, aber ohne Enge; […] weiters Rauch, Herd, Nestwärme, Nahrung: das alles sind Attribute eines Ortes, an dem gut sein ist.51

In Anlehnung an die Unterscheidung, die Bastian getroffen hat, kann man den Heimatbegriff der Heimatkunst als primär räumlichen definieren. Der „Aspekt von Schollenverhaftetheit“52 steht im Vordergrund, der Bereich der Gesellschaft ist ausgeklammert, das Regionale und Dörfliche ist dem Sozialen vorgelagert: „Eine wahre Heimat hat der Mensch erst, wenn er Grundbesitz und insbesonde- re Landbesitz hat.“53 Diese Verbindung von Heimatgefühl mit einer primär räumlichen Fixierung imp- liziert natürlich eine Ablehnung weniger stark verwurzelter Individuen. Fremden und Wandernden wird mit Misstrauen und Ablehnung begegnet. Wer von au- ßerhalb kommt, also der „outgroup“ angehört, hat es schwer, sich in das festge-

49 Wachler, zit. n. Rossbacher 1975, S. 54. 50 Vgl. Rossbacher 1975, S. 54. 51 Rossbacher 1975, S. 141. 52 A. a. O. 1975, S. 106. 53 Langbehn, Julius, zit. n. Rossbacher 1975, S. 108. 16 fahrene Gefüge der ländlichen „ingroup“ einzufügen. Territoriumsfremde müs- sen sich doppelt anstrengen, um Zugang zur alteingesessenen Dorfgemein- schaft zu erlangen.54 Im Gegensatz zur Ideologie der nationalsozialistischen Literatur legt die Hei- matkunstbewegung ihren Schwerpunkt auf regionale Besonderheiten. Jede Re- gion beziehungsweise jeder „Stamm“ soll mit seinen spezifischen Merkmalen in einem gesamtdeutschen Gebilde vertreten sein. Ziel ist es, „jedem Stamm sei- ne Stufe im Akkord des deutschen Geisteslebens zuzuweisen“55, die jeweiligen Regionen sollen in ihrer Gesamtheit die Zimmer des autarken „ganzen Hauses“ Deutschland sein.56 Die Verbundenheit aller Deutschen sollte durch die be- wusste Einbeziehung auch der an den Rändern gelegenen Region gefördert werden.57

3.2 Blut-und-Boden-Literatur

Die obige Einführung in das Programm der Heimatkunst lässt unschwer erken- nen, dass hier die Grundlage für die Literatur der nationalsozialistischen Propa- gandamaschinerie gelegt wurde. Schon die Verwendung von Wörtern, wie etwa „Entartung“, „Gau“, „Scholle“, etc. verweist auf die Nähe zum national- sozialistischen Sprachgebrauch. Dementsprechend ist der Übergang von der einen in die andere Strömung ein fließender. Nach 1918, im Zuge einer all- gemeinen, kriegsbedingten völkisch-patriotischen Haltung radikalisiert sich auch die Heimatkunstbewegung, anstelle von idyllisierten Außenseitern oder Dorfori- ginalen steht der Bauer in einer heroisierten Form im Mittelpunkt der Romane. Damit wurde die Heimatkunstbewegung endgültig zum Wegbereiter für die Blut- und-Boden-Literatur der Nationalsozialisten.58 Der Heimatbegriff, der in der Heimatkunst noch im Regionalen verhaftet war, soll auf den gesamten Staat ausgedehnt werden. Für die Nationalsozialisten ist die heimatliche Basis der Heimatkunst zu schmal. Hermann Löns, dessen Werk „Der Wehrwolf“ (1910)

54 Vgl. Rossbacher 1975, S. 188. 55 Rossbacher 1975, S. 50. 56 Vgl. Rossbacher 1975, S. 111. 57 Vgl. Strzelczyk 1999, S. 22. 58 Vgl. Rossbacher 1975, S. 14. 17 das Ende der Heimatkunst und den Beginn der Blut-und-Boden-Literatur mar- kiert formuliert dies so: „Die Kunst, die nur Heimatkunst ist, ist kleiner Art; hohe deutsche Kunst ist alldeutsch.“59 In der Blut-und-Boden-Literatur erreicht die Ideologisierung von Heimat ihren Höhepunkt. Elemente wie Heroisierung des Bauerntums und Abwertung der städtischen Unkultur werden beinahe unverändert von der Heimatkunst über- nommen.

3.3 Heimatroman

Sowohl in der Heimatkunst, als auch in der Blut-und-Boden-Literatur des Natio- nalsozialismus war der Roman die mit Abstand häufigste formale Gattung. Noch Jahrzehnte nach Kriegsende erfreuten sich Heimatromane großer Be- liebtheit. Der Heimatroman bedient sich gewisser Schemata, die mehr oder we- niger stark variiert werden. Wesentlichste strukturelle Merkmale sind unreflek- tiertes lineares Erzählen über längere Zeitspannen, die Darstellung des ländli- chen Raumes/Dorfes/Bauernhofes als geschlossener, gesellschaftsautarker Raum, ein weitgehender Verzicht auf psychologische Analysen, Addition und Kumulation von Schicksal, sowie starre ingroup-outgroup-Konstellationen.60 In einem falschen Heimatverständnis liegen auch die Wurzeln des Chauvinismus begründet. Eine Identifikation mit einer (angepassten) Mehrheit, die sich haupt- sächlich über räumliche Kriterien von anderen Gemeinschaften abgrenzt, bei gleichzeitigem schwach ausgeprägtem Selbstbewusstsein des Einzelnen, führt zu einer Angst gegenüber Fremdem, als deren unmittelbarer Ausdruck die Xe- nophobie gesehen werden kann.61 Es ist genau dieses Verständnis von Heimat, das in der traditionellen Heimatli- teratur propagiert wird. Die Heimatliteratur lobt das beschränkte Leben des Ein- zelnen, nicht den individualisierten und emanzipierten Menschen. Das Thema einer gescheiterten Individualisierung wird oft mit dem Motiv des Heimkehrers

59 Löns, Hermann, zit. n. Rossbacher 1975, S. 126. 60 Vgl. Rossbacher, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 117 – 120. 61 Vgl. Frisch, Max: Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises. In: Ders.: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben und mit einem Nach- wort versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 365 – 373, S. 371. 18 verknüpft. Warnungen vor der Annahme individualisierender Attitüden werden durch die Bekehrung des Heimkehrers bestätigt. Durch ihr offensichtliches Scheitern in der Fremde beweist die Figur des Heimkehrers, dass jeglicher Ver- such einer Emanzipation ein Irrweg ist. Nur in der (entindividualisierten) Schick- salsgemeinschaft eines Volkes (wobei es nicht wichtig ist durch welche Charak- teristiken sich diese Gemeinschaft definiert) lässt sich Heimat finden. Aufbau- end auf diesen Überlegungen lässt sich auch die Technik- und Fortschrittsfeind- lichkeit der Heimatliteratur erklären, denn Technik und Fortschritt werden als Hilfsmittel für Individualisierungsprozesse angesehen.62

3.4 Gattungsproblematik

Als literaturwissenschaftlicher Terminus wird die Bezeichnung Heimatliteratur erst ab den 1970er Jahren verwendet.63 Üblicherweise werden die Strömungen der Heimatkunstbewegung, der Blut-und-Boden-Literatur, sowie der Dorfge- schichte unter dem Sammelbegriff Heimatliteratur subsumiert. Charbon etwa definiert Heimatliteratur als „Sammelbegriff für Texte, in denen eine herkunfts- bezogene Perspektive vorherrscht und eine zumeist ländliche Welt durch vor- wiegend realistische Darstellungsweisen thematisiert wird.“64 Von Wilpert sieht die Heimatliteratur als einen wertungsfreien Oberbegriff für alles literarische Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, einer bestimmten Landschaft, ihrer Menschen, sowie des ländlichen Gemeinschaftslebens.65 So- wohl Charbon, als auch von Wilpert zählen die kritische beziehungsweise Anti- Heimatliteratur ebenfalls zur Gattung der Heimatliteratur. Donnenberg unterscheidet zwischen Heimatliteratur im weitläufigen, engeren und engsten Sinn. Heimatliteratur im weitläufigen Sinn bezeichnet jene Werke, die das Land oder den Ort, in/an dem man geboren ist, und deren identitätsbil- dende Faktoren zum Thema haben. Im engeren Sinn lässt sich von Werken

62 Vgl. Kiss, Endre: Der grosse Konflikt in der Modernisation. Die Quelle der neuen Probleme der Heimat. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches Institut 1997, S. 31 – 51, S. 39 – 51. 63 Vgl. Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19. 64 Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19. 65 Vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 1989, S. 363. 19 sprechen, die vom Erlebnis einer bäuerlich-ländlichen beziehungsweise klein- städtisch-provinziellen Welt geprägt sind und diese als überragenden Wert dar- stellen. Als Heimatliteratur im engsten Sinn wird die Heimatkunst bezeichnet.66

Die oben genannten Kategorien sind also als Strömungen innerhalb der Hei- matliteratur zu bezeichnen, wobei das Risiko, dass der Begriff der Heimatlitera- tur durch diese Erweiterungen unscharf wird, bedacht werden muss. Anderer- seits trägt diese Tatsache den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung. Etwa ab den 1960er Jahren setzt eine neuere, kritische Auseinan- dersetzung mit dem Thema Heimat in der Literatur ein. Die Heimatliteratur er- weitert thematisch und strukturell ihren Spielraum, die Grenzen zu anderen Gat- tungen, etwa zur Arbeiter- oder Frauenliteratur werden durchlässiger. Weiters lässt sich ein Verschwinden der Polarität Stadt-Land beobachten, auch Stadt- romane können Heimatliteratur sein.67

4 Anti-Heimat-Literatur

4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945

In diesem Abschnitt soll die Verwendung des Heimatbegriffs in der österreichi- schen Literatur in ihren unterschiedlichen Stadien skizziert werden. Die Situati- on im Nachkriegsösterreich ist dabei genauso von Bedeutung, wie die Entwick- lung in späteren Jahrzehnten. In der vorliegenden Arbeit werden exemplarisch Texte aus vier Jahrzehnten behandelt werden, deshalb ist es wichtig, einen dia- chronen Überblick zu geben. Was Strzelczyk in ihrer Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland konstatiert, kann ohneweiters für auf die Situation im Nachkriegsösterreich um- gelegt werden:

66 Vgl. Donnenberg, Josef: Heimatliteratur in Österreich nach 1945 – rehabilitiert oder anti- quiert? In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 39 – 68, S. 41 – 42. 67 A. a. O., S. 51. 20

Nach 1945 war es die heimatliche, private Idylle, aus der die Spuren des durch Deutsche [beziehungsweise Österreicher, Anm. d. Verf.] geschehenen ´Un-Heimlichen` weitgehend getilgt waren und in der die Kriegsaufbaugeneration Zuflucht suchte und fand. Die Betrieb- samkeit des wirtschaftlichen Wiederaufbaus richtete sich gegen die psychisch belastende Aufarbeitung des Dritten Reichs. Große Teile der Nachkriegsgeneration flüchteten sich in die [...] Heimatfilme [...] in denen Heimat als von sozialen, historischen und ideologisch- politischen Konflikten unberührt bewahrt wurde.68

In den Nachkriegsjahren wurden etliche Werke ehemals nationalsozialistischer Schriftsteller neu aufgelegt, Beispiele für diese „Holzwegliteratur“69 wären etwa Karl-Heinrich Waggerl, Josef Weinheber oder Georg Oberkofler. Waggerl, schon 1934 erster Preisträger des Staatspreises für Literatur, avancierte zu ei- nem der erfolgreichsten und populärsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Seine singuläre Stellung im österreichschen Literaturbetrieb skizziert Zier sehr tref- fend:

[E]in Mann, [...] der heute längst als Säulenheiliger der Verklärungs- industrie etabliert ist, der in Kitsch-Großveranstaltungen zur Vor- weihnachtszeit das Harmoniebedürfnis braver Mittelstandsalphabe- ten in Heile-Welt-Inszenierungen auszubeuten verstand, mit schma- len Büchern mehreren Lehrergenerationen als Weiser aus der Wes- tentasche diente, von betulichen Tanten reflexartig beim ersten Schneefall für gefährdete Neffen und Nichten erstandene Erbau- ungsliteratur produzierte, und der einer der wenigen wirklichen Long- seller-Autoren der österreichischen Literatur geworden ist.70

Die Belastetheit der Heimatdichter tat deren Beliebtheit keinen Abbruch, seitens der konservativen Kulturpolitik wurde unter dem Motto der Kontinuität versucht, diese Schriftsteller als Beispiele für innere Emigration zu legitimieren und zu re- habilitieren.71

68 Strzelczyk 1999, S. 26. 69 Sebald, W. G.: Einleitung. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Litera- tur. : Residenz 1991, S. 11 – 16, S. 14. 70 Zier, O. P.: Region und Heimat, Widerstand und Widerstände. Literatur der „Europa-Sport- Region“. In: Literatur und Kritik 307/308 (1996), S. 37 – 43, S. 38. 71 Vgl. Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. : Rodopi 1991, S. 1 – 2. 21

4.2 1960er & 1970er Jahre

Bedingt durch die nationalsozialistische Vereinnahmung war der Heimatbegriff nach 1945 zwar ein belasteter, an einer Aufarbeitung war jedoch vorerst nie- mand interessiert, ganz im Gegenteil herrschte noch lange Zeit ein idyllisches, verklärendes Österreichbild in Literatur und Film vor. Der Heimatroman wurde von der literarischen Szene entkanonisiert und in die Schublade der Triviallitera- tur abgeschoben, eine kritische Aufarbeitung der ideologischen Implikationen fand trotzdem oder gerade deswegen über einen längeren Zeitraum nicht statt. Die ersten Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung traten erst circa zwanzig Jahre nach Kriegsende zutage. Nachdem die Gattung der Heimatlitera- tur in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in progressiven literarischen Kreisen nahezu keine Rolle gespielt hatte, konnte man nun langsam unter einer neuen Generation von Nachkriegsschriftstellern Tendenzen zur kreativen und kritischen Auseinandersetzung mit den Themen und Motiven der traditionellen Heimatliteratur bemerken.72 Bis zum Aufkommen dieser Welle waren kritische Reflexionen über die Provinz und/oder die nationalsozialistische Vergangenheit äußerst dünn gesät. Als erster Anti-Heimatroman gilt Hans Leberts „Die Wolfs- haut“ aus dem Jahr 1960. In diesem Roman verdrehen sich zum ersten Mal die typischen Elemente des Heimatromans ins Negative, werden „die Kulissen ge- wendet“73, der Blick auf das österreichische Heimatbild als „potemkinsche[n] Veranstaltung“74 frei. Das Dorf – im Heimatroman noch ein Hort der Geborgen- heit – wird zu einem Ort des Unbehagens und des Verbrechens. An die Stelle der idyllischen Gegenwart treten die Schatten der Vergangenheit. Die Natur er- weist sich als feindselig den Menschen gegenüber. Neben Lebert sind noch Thomas Bernhards „Frost“ (1963), Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) und Gerd Jonkes „Geometrischer Heimatroman“ (1969) als Anti-Heimatromane der sechziger Jahre zu nennen.

72 A. a. O., S. 4. 73 Zeyringer 2001, S. 167. 74 Sebald, W. G.: Damals vor Graz – Randbemerkungen zum Thema Literatur & Heimat. In: Görner, Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahr- hundert. München: Iudicium 1992, S. 131 – 139, S. 132. 22

Sieht man also von den oben erwähnten Werken ab, so dauert es bis zum Ende der 1960er Jahre, bis sich eine neue Herangehensweise an das Thema Heimat konstituiert. Für W. G. Sebald setzt eine Gruppe von Schriftstellern, die sich in Graz (Forum Stadtpark, gegründet 1959) formierte, eine wichtige Zäsur. Stilis- tisch äußerst heterogen, von experimentellen bis hin zu realistischen Erzähl- techniken, geformt, war den Schriftstellern gemeinsam, dass sie der Nach- kriegsgeneration angehörten und vorwiegend aus ländlichen Gebieten stamm- ten. Diese Gruppe, als deren Vertreter Sebald unter anderem Peter Handke, Helmut Eisendle, Gert Jonke, Wolfgang Bauer oder Alfred Kolleritsch, den Be- gründer der 1960 gegründeten Zeitschrift „manuskripte“, nennt, erarbeitete „ein ästhetisches Programm, das den Österreich-Mythos desavouierte und die Hei- mat als eher unheimliche Gegend erscheinen ließ.“75

Was davor an Heimat in der Literatur beschrieben wurde, entstammte einer Schreibtradition, welche die österreichische Heimat abseits jeder Kritik und Realität darstellte. Die Grazer Autoren betrieben die Durchbrechung des fal- schen Mythos vom österreichischen Vater- und Heimatland: „Der faschistische Terror war von Anfang an mit Familie und Heimat verbunden gewesen und dort, im sogenannten Schoß der Familie und in der heimatlichen Enge hielt er sich auch weit über seine Zeit hinaus.“76 Es ging den Autoren um eine Literatur, die den ländlichen Raum nicht mehr als Idylle darstellen wollte und alle Klischees der traditionellen Dorf- und Ländlichkeitsromantik drastisch demontierte.77 Das Land als locus amoenus, als „Wunschbild“ wird vom „Schreckbild“ Land abge- löst.78 Österreich präsentierte sich diesen Autoren als eine Antiheimat, nur durch Schreiben schien ein Loskommen davon möglich. Wenn Sebald anmerkt, dass der alte Geist keineswegs ausgestorben ist „vielmehr ein ungeheuer zä- hes Nachleben noch führt in diesem harmlosen Land, das von denen, die es heute beschreiben, nicht umsonst immer wieder empfunden wird als ein Haus

75 Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132. 76 A. a. O., S. 135. 77 Vgl. Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur in Österreich. Zur literarischen Heimatwelle der siebziger Jahre. In: Modern 15/2 (1982), S. 1 – 11, S. 1 – 2. 78 Vgl. Heydemann, Klaus: Jugend auf dem Lande. Zur Tradition des Heimatromans in Öster- reich. In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Traditionen in der neueren österreichischen Literatur. Zehn Vorträge. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1980, S. 83 – 97, S. 94. 23 voller monströser Schrecken“79, so bezieht er sich in erster Linie auf die Wald- heim-Affäre im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes von 1986. Aber auch heute noch trifft diese Aussage zu, wenn man die politische Entwicklung Öster- reichs in den letzten Jahren betrachtet. Am rechten Rand der politischen Land- schaft angesiedelte Parteien spielen nach wie vor eine nicht unwesentliche Rol- le in der Politik, und nicht zuletzt zeigen die Reaktionen anlässlich des Todes von Kurt Waldheim im Juni 2006, wie gespalten das Verhältnis der Österreiche- rinnen und Österreicher zu ihrer Vergangenheit noch immer ist. Die ersten Anti- Heimatschriftsteller ebneten den Weg für eine nachfolgende intensive literari- sche Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit und Realität: „Erst durch das gnadenlose Aufdecken des unrealistischen Heimatbildes in der Literatur der Vergangenheit wurde es möglich, daß in den 80er Jahren jene lite- rarische Welle einsetzen konnte, die sich auf eines der dunkelsten Kapitel der österreichischen Geschichte, den Nationalsozialismus, konzentrierte.“80 Die Lis- te der österreichischen Anti-Heimat-Dichter ist lang, als prominentestes Mitglied der Grazer Gruppe sei Peter Handke erwähnt. Nachdem er in den 1960er Jah- ren mit sprachkritischen Werken, wie etwa Kaspar (1968), erfolgreich für Aufse- hen gesorgt hatte, war es sein Roman „Wunschloses Unglück“ (1972), der für die Entwicklung der Anti-Heimatliteratur von großer Bedeutung wurde. Oft auch unter der Bezeichnung „Neue Innerlichkeit“ oder „Neue Subjektivität“ kategori- siert, ebnete er den Weg für Schriftsteller wie Franz Innerhofer oder Gernot Wolfgruber, welche zugleich als die wichtigsten Vertreter der Anti- Heimatliteratur gelten. Speziell auf Innerhofer übte „Wunschloses Unglück“ gro- ßen Einfluss aus.81

79 A. a. O., S. 134. 80 Ziegler, Wanda: Heimat in der Krise. Der Versuch einer interdisziplinären Annäherung an den "Heimat"-Begriff mit dem Schwerpunkt: "Salzburger Heimatliteratur". Salzburg: phil. Dipl. 1995, S. 193. 81 Vgl. Frank, Peter R.: Heimatromane von unten – einige Gedanken zum Werk Franz Innerho- fers. In: Modern Austrian Literature 13/1 (1980), S. 163 – 175, S. 165. 24

4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur

Heimat wurde wieder zu einem aktuellen Thema in der deutschsprachigen Lite- ratur, auch in Österreich, wo von Anfang an eine klare Abgrenzung von her- kömmlichen Zugängen vorhanden war. Eine der gängigsten Definitionen von Anti-Heimatliteratur stammt von Jürgen Koppensteiner:

Als Anti-Heimatliteratur ist jene Heimatliteratur zu verstehen, in der man zwar wohl die Gestalten und Requisiten der traditionellen, oft sentimental-kitschigen Heimatliteratur findet, also Bauern, Knechte und Mägde, den Bauernhof, das abgelegene Tal, Berge, Bäche, den Wald usw., die aber keine Heimatbezüge im traditionellen Sinn auf- weist. Es geht also nicht um die Liebe zur Heimat, um die Harmonie des ländlichen Lebens, um Brauchtum oder um Abwehr einer feindli- chen, meist städtischen Gegenwelt. Anti-Heimatliteratur will vielmehr negative Zustände in der Heimat, im ländlich-bäuerlichen Milieu auf- decken. Sie richtet sich dabei keineswegs gegen Heimat; sie setzt nur einen anderen Heimatbegriff voraus.82

Diese Definition geht von einem sehr engen Gestaltungsspielraum aus. Streng genommen dürfte beispielsweise nicht einmal Franz Innerhofers zweiter Roman „Schattseite“ als Anti-Heimatroman bezeichnet werden, ganz zu schweigen vom Werk Gernot Wolfgrubers, das durchwegs im kleinstädtischen Milieu angesie- delt ist. Koppensteiners Definition wird von Andrea Kunne grundsätzlich akzep- tiert, da sie in ihrem Konzept ebenfalls eine sehr rigide Auffassung von Anti- Heimatliteratur vertritt. Sie spricht in ihrer Darstellung des transformierten Hei- matromans von der dritten Phase der Heimatliteratur. Durch die innovierende Funktion der Verfremdung des Tradierten, Umfunktionierung bekannter Formen und Hinzufügung neuer Elemente wird eine Erneuerung des Genres bewirkt. Kunne unterscheidet dabei zwischen zwei unterschiedlichen Ansätzen: eine ge- sellschaftskritische, realistische Darstellungsweise auf der einen, sowie eine experimentell-postmodernistische und antinarrativ ausgerichtete Variante auf der anderen Seite.83

82 Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman „Schöne Tage“. In: Die Unterrichtspraxis 14 (1981), S. 9 – 19, S. 10. 83 Vgl. Kunne 1991, S. 12 – 16. 25

Problematisch an Kunnes Ansatz sind die sehr eng gefassten Auswahlkriterien und die teilweise willkürlich erscheinende Selektion der Werke, die sie als für ihr Konzept kompatibel erachtet. Das Konzept des transformierten Heimatromans exkludiert einen Großteil der gemeinhin unter der Bezeichnung Anti-Heimat- Literatur bezeichneten Werke.84

4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur

Franz Innerhofer und die nachfolgenden Autoren präsentierten ihre Werke auch zum richtigen Zeitpunkt. Wesentliche Veränderungen im Bereich des Agrarsek- tors (Motorisierung, Infrastrukturausbau, etc.) und damit einhergehende soziale Umschichtung beziehungsweise ein Aufbrechen althergebrachter Strukturen, sowie ein verstärktes Interesse des Kulturmarktes am Landleben waren aus- schlaggebend für eine intensivere Beschäftigung mit dem Leben in ländlichen Gebieten: „In einem nunmehr ungefährlich scheinenden Rückblick konnte man sich im Entsetzen über das Gewesene mit dem ruhigen Gewissen der kritischen Ansicht ausbreiten und in der anheimelnden Gewißheit zurücklehnen, daß in den jetzigen ´modernen Zeiten` ja alles besser sei...“85 In den 1970er Jahren feierte die Anti-Heimatliteratur ihre größten Erfolge und wurde auch außerhalb Österreichs begeistert rezipiert. Wie jede literarische Strömung nach einiger Zeit in Frage gestellt wird, musste sich auch die Anti- Heimatliteratur Kritik gefallen lassen. 1982 spricht Koppensteiner vom Tod des Genres:

Vom Thema her – das läßt sich schon jetzt sagen – hat sich die Anti- Heimatliteratur totgelaufen. [...] Letzten Endes sind die Autoren den- selben Fehlern verfallen, die sie der traditionellen Heimatliteratur vorwerfen. Sie operieren nämlich im Grunde genauso mit Klischees, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen.86

84 Zur Kritik an Kunnes Modell vgl. Aspetsberger, Friedbert: Unmaßgebliche Anmerkungen zur Einschränkung des literaturwissenschaftlichen „Heimat“-Begriffs. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches Institut 1997, S. 53 – 85, S. 55 – 57. 85 Zeyringer 2001, S. 165. 86 Koppensteiner, in: Modern Austrian Literature 15/2 (1982), S. 8. 26

Ein ähnliches Urteil fällt Karl-Markus Gauß:

Die ´Antiheimatliteratur`, der die neue österreichische Prosa von Hans Lebert bis Franz Innerhofer einige ihrer besten Werke ver- dankt, hat die heile Welt als würgende Enge, als Zwangsordnung kenntlich gemacht. Mittlerweile aber ist die Antiheimatliteratur längst selbst zur literarischen Lüge verkommen, ein anspruchslos ins Leere surrender Mechanismus, der dem alten Kitsch der Verklärung nur mit dem schwarzen Kitsch der Denunziation zu begegnen weiß.87

Diese Aussagen sollten nicht unwidersprochen stehen gelassen werden. Defi- niert man Anti-Heimatliteratur so, wie es Koppensteiner getan hat, dann mag seine Behauptung zutreffen, da eine derart eng gefasste Klassifizierung zum einen keinen Spielraum für Variationen lässt und zum anderen den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen nicht Rechnung trägt. Die Anti-Heimatliteratur erweiterte ihren Spielraum. Anti-Heimatromane der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart thematisieren Fragen wie Umwelt, Tourismus, Ausverkauf der Heimat oder Rassismus und haben sich dement- sprechend hinsichtlich ihrer Vielfalt weiterentwickelt. Sowohl Koppensteiner als auch Gauß gehen von einer veralteten Begriffsbestimmung beziehungsweise unterschiedlichen Definitionen, aus. Anti-Heimat-Literatur wie sie etwa Robert Menasse versteht, behandelt mehr als Bauern und deren Gesinde. An dieser Stelle scheint es an der Zeit, auf das Definitionsproblem der Anti-Heimatliteratur einzugehen.

Mit dem Erscheinen von Franz Innerhofers „Schöne Tage“ (1974) beginnt der Hype um die Anti-Heimatliteratur. Andere Bezeichnungen für dieses Genre gibt es etliche, so manche Literaturwissenschafter und -kritiker haben eigene Ter- mini entwickelt. Walter Weiss etwa spricht vom „problematisierte[n] Heimatro- man“88, Schmidt-Dengler von der „Anti-Idylle“89, Mecklenburg unterscheidet, nicht ganz nachvollziehbar, „Anti-Heimatliteratur“ und „radikale Anti-

87 Gauß, Karl-Markus: Der Rand in der Mitte: Die Chronik einer Heimat. In: Die Zeit (Sonderbei- lage Literatur) 4.10.1996, S. 12. 88 Weiss, Walter: Zwischenbilanz. In: Schmid, Sigrid/Weiss, Walter (Hg.): Zwischenbilanz. Eine Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Salzburg: Residenz 1976, S. 11 – 32, S. 24. 89 Schmidt-Dengler, Wendelin: Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der neueren österreichischen Prosa. In: Literatur und Kritik 40 (1969), S. 577 – 585, S. 577. 27

Heimatliteratur“.90 Solms verweist auf die mögliche unterschiedliche Schreib- weise mit einem oder zwei Bindestrichen:

´Anti Bindestrich Heimat Bindestrich Literatur`: das wäre nach mei- nem Wortverständnis eine Literatur, die gegen das Heimatgefühl oder die Sehnsucht nach Heimat gerichtet ist. [...] ´Anti Bindestrich Heimatliteratur in einem Wort`: das wäre eine Literatur, die sich nicht gegen Heimat, sondern gegen die traditionelle Heimatliteratur wen- det und die damit womöglich zu einem neuen Verhältnis zur Heimat beiträgt.91

Anti-Heimatliteratur knüpft in ihren Stoffen an die traditionelle Heimatliteratur an, die Tendenz ist jedoch entgegengesetzt. Im Gegensatz zur Heimatliteratur, die sich bis zu heutigen Zeit nur wenig bis gar nicht weiterentwickelt hat, lässt sich im Bereich der Anti-Heimatliteratur eine kontinuierliche Themenexpansion fest- stellen. Dies macht die Definition á la Koppensteiner obsolet. Robert Menasse hat sich intensiv mit der österreichischen Anti-Heimatliteratur beziehungsweise Anti-Heimat-Literatur auseinandergesetzt und dazu ein neues Konzept entwi- ckelt.

4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence

„Österreich ist eine Nation, aber keine Heimat.“92 Diese These untermauert Ro- bert Menasse mit der Erwähnung einer empirischen Studie, die den Österrei- cherinnen und Österreichern zwar ein sehr großes Nationalgefühl, im Gegen- satz dazu aber überraschenderweise sehr geringes kollektives Identitätsgefühl bescheinigt. Zwar haben die Österreicherinnen und Österreicher ein durchwegs starkes Nationenbewusstsein entwickelt, allerdings

90 Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. Mün- chen: Iudicium 1986, S. 66 – 67. 91 Solms, Wilhelm: Zum Wandel der „Anti-Heimatliteratur“. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): We- sen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 173 – 189, S. 173. 92 Menasse, Robert: Das Land ohne Eigenschaften. Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ih- rem Verschwinden. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigen- schaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 29 – 120, S. 94. 28

ohne all die realen Konsequenzen, die ein entwickeltes, positiv be- setztes Nationalgefühl gemeinhin hat: Es ist offenbar historisch zu jung, inhaltlich zu dürftig, insgesamt zu abstrakt, als daß es Identität, Geborgenheit, Heimatgefühl vermitteln und verwurzeln hätte können. Die Meinungsumfragen zeigen daher auch, daß, außer der abstrak- ten Angabe der eigenen Nationalität, keiner verbindlich zu sagen weiß, was Heimat ist.93

Menasse sieht diese Besonderheit in der wechselvollen Geschichte des Lan- des, das als Großmacht unter der Herrschaft des Kaisers, als Bestandteil des Deutschen Reiches und als kleine, unbedeutende, am Verhandlungstisch ent- standene Republik innerhalb kurzer Zeit mehrmals seine Identität wechseln musste, begründet:

Diese Widersprüche haben sicherlich damit zu tun, daß das österrei- chische Nationalgefühl kein über längere Zeit historisch gewachse- nes ist, sondern, wie wir bereits gesehen haben, erst sehr spät und dann sehr forciert durchgesetzt wurde. Es ist daher extrem arm an konkreten und eindeutig bewußten inhaltlichen Bestimmungen: die beiden einzigen sind wesentlich der Staatsvertrags- und der Neutrali- tätsmythos, die ja die einzigen integrativen und identitätsstiftenden Erfolgserlebnisse von vier Generationen von Österreichern sind.94

Nun wäre einzuwenden, dass die Entwicklung von regionaler Identität und posi- tivem Heimatgefühl nicht notwendigerweise mit von institutioneller oder staatli- cher Seite propagierten Ideologien zusammenhängt. Gerade für Österreich konstatiert Menasse jedoch eine Entwicklung, die „eine genuine, selbst- verständliche, gewissermaßen ´automatische` Entfaltung von Heimatgefühlen zerstörte.“95

Heimat war problematisch geworden nach 1945, denn das neue, wieder aufge- baute Österreich hatte mit dem alten nur wenig gemeinsam, der einsetzende Wirtschaftsaufschwung in Zuge des Marshall-Plans und die damit verbundene Transformation von einer Agrar- in eine Industrie- und Dienstleistungsgesell- schaft, ließen keinen Platz für eine Identifikation mit der Heimat. Hinzu kam die drückende Kriegsschuld, denn auch wenn sich Österreich gern als Opfer Hitler-

93 A. a. O., S. 95 – 96. 94 A. a. O., S. 95. 95 A. a. O., S. 96. 29 deutschlands sieht, so steht doch längst außer Frage, dass die österreichische Bevölkerung in nicht unbeträchtlichem Ausmaß an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges beteiligt war. Verdrängung der Vergangenheit, der eigenen wie der kollektiven, war also angesagt. Die Schatten des Nationalsozialismus reichten tief in die ländlichen Gebiete hinein. Man war zu sehr damit beschäftigt die ei- genen Identitäten zu verschleiern oder zu wechseln, als dass man sich mit dem Aufbau von Heimatgefühlen beschäftigen konnte. Österreich war ein Staat auf der Landkarte, zustande gekommen am Verhandlungstisch, aber als Heimat ta- buisiert. Anschließend daran setzte die, schon nach dem Anschluss 1938 be- gonnene, Vermarktung des Landes als Tourismusregion voll ein, Heimat wurde zu einer „Event-Landschaft“96. Zwar brachte der Tourismus Wohlstand in bis da- to rückständige Regionen, zerstörte aber vollends die Identität der dort leben- den Menschen.97

In literarischer Hinsicht fehlten der österreichischen Generation von Nach- kriegsschriftstellern die Vorbilder. Viele von Österreichs renommiertesten Na- men waren im Exil verstorben (Robert Musil, Franz Werfel) oder kehrten nach Kriegsende nicht mehr nach Österreich zurück (Hermann Broch, ). Institutionen und Autoren wie die Gruppe 47 oder Wolfgang Borchert in Deutschland gab es im Nachkriegsösterreich nicht.98 Angesichts dieser Ent- wicklungen scheint es für Menasse nur logisch, dass „in Österreich mit der so- genannten ´Anti-Heimat-Literatur` eine im internationalen Vergleich völlig ei- genständige, neue literarische Gattung entstanden ist: Österreich ist die Anti- Heimat par excellence.“99 Menasse ist der erste, welcher der österreichischen Anti-Heimat-Literatur den höchsten Stellenwert einräumt: „Aber die Anti-Heimat-Literatur ist nicht nur eine eigenständige österreichische Gattung, sie ist vor allem auch die wichtigste, die dominanteste Form der Literatur in der Zweiten Republik.“100

96 Aspetsberger, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 65. 97 Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 94 – 101. 98 Vgl. Olson, Michael P.: Robert Menasse`s Concept of Anti-Heimat Literature. In: Daviau, Donald G. (Hg.): in Literature. Riverside: Ariadne Press 2000, S. 153 – 165, S. 155 – 156. 99 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101. 100 A. a. O. 30

Schon W. G. Sebald stellte fest, dass „die Beschäftigung mit der Heimat über alle historischen Einbrüche hinweg geradezu eine der charakteristischen Kon- stanten der ansonsten schwer definierbaren österreichischen Literatur aus- macht.“101 Menasse konkretisiert diese These, indem er die negative Beschrei- bung der Heimat als Merkmal der wichtigsten österreichischen Gattung hervor- hebt. Auch Meyer-Sickendiek äußert sich ähnlich:

...so dürfte es in der Tat schwer fallen, eine vergleichbare Akkumulie- rung düsterer, schrecklicher und grausamer Phantasien in anderen ´Nationalliteraturen` auszumachen. [...] Die Identifikation der öster- reichischen Heimat als einer beklemmenden Atmosphäre latenter Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozia- listische Gesinnung [...] ist [...] das relativ konstant bleibende Thema dieser Anti-Heimatromane.102

Die Darstellung des Ländlichen und Dörflichen steht im Zentrum der österrei- chischen Literatur nach 1945. Den Unterschied zu anderen Nationalliteraturen ortet Menasse in der Tendenz der Darstellung:

Realistische Beschreibungen des dörflichen und ländlichen Lebens in bestimmten Regionen, abseits trivialer Klischees und verlogener Idyllen, gibt es natürlich auch in der Weltliteratur – allerdings mit dem Unterschied, daß diese Literatur ein nicht nur realistisches, sondern am Ende auch wesentlich ein positives Bild der beschriebenen Hei- mat evoziert.103

Er nennt auch die wichtigsten Österreicher, die seiner Ansicht nach die Gattung herausgebildet und weiterentwickelt haben: Hans Lebert, Gerhard Fritsch, Peter Handke, Thomas Bernhard, Gert Jonke, Alfred Kolleritsch, Alois Brandstetter, Gernot Wolfgruber, Max Maetz, Peter Turrini, , Marie-Thérèse Kerschbaumer, Wilhelm Pevny, Michael Scharang, Franz Innerhofer, Norbert Gstrein, Klaus Hoffer, Josef Winkler und Marianne Gruber.104 Diesen 19 Namen wären natürlich noch etliche andere hinzuzufügen, darunter auch Menasse selbst, wie noch zu sehen sein wird.

101 Sebald, in: Ders. 1991, S. 11. 102 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen eines Phantasmas der 80er. In: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31.7.2007. 103 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101. 104 Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 101. 31

Menasse unterscheidet drei Phasen der Anti-Heimat-Literatur: als erste Phase benennt er jene der Konstituierung der Gattung, wobei vor allem der Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit im Vordergrund steht. Hans Lebert und Gerhard Fritsch werden hier genannt. Danach schreiben jüngere Autoren, meist ohne eigene Kriegserfahrungen, über den Alltagsfaschismus in der Provinz. Wenn auch dabei nicht direkt auf die nationalsozialistische Vergangenheit re- kurriert wird, so schildern Autoren wie Franz Innerhofer oder Gernot Wolf- gruber doch auch die Kontinuität althergebrachter Strukturen. Als letzte Phase sieht Menasse die Thematisierung des touristischen Ausverkaufs und die gro- teske Verlogenheit der Fremdenverkehrswelt, wie sie etwa von Elfriede Jelinek („Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“, 1985) oder Norbert Gstrein („Einer“, 1988) be- schrieben wird.105

Ein letztes Mal sei noch Menasse zitiert, der noch einmal erklärt, warum Öster- reich die mustergültige Anti-Heimat ist und welchen Beitrag die Literatur dabei leistet:

In der österreichischen Literatur ist es aber so, daß jede Destruktion von Klischees und Idyllen sofort zur völligen Destruktion jeglichen positiv besetzten Heimatgefühls führt: Werden die Kulissen der Hei- mat, weil man in ihnen nicht zu Hause sein kann, zerstört, dann ist überhaupt nichts mehr da, worin man sich heimisch fühlen könnte. […] Das Beste, was die Literatur der Zweiten Republik hervorge- bracht hat, beschäftigt sich mit dem Desaster der Provinz, auf eine Weise, daß wir über den Entwicklungsbogen von der Nazi-Zeit bis zum zerstörerischen Massentourismus der heutigen Tage von dieser Literatur anschaulicher informiert werden, als es der dürren Abstrakt- heit soziologischer Untersuchungen möglich ist.106

Robert Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur ist wesentlich weiter ge- fasst als ältere Beiträge zu diesem Thema, etwa von Koppensteiner oder Kun- ne. Menasse entwickelt aufbauend auf historischen und gegenwärtigen Beson- derheiten das Bild einer Nation ohne Heimat. Als Nationalliteratur definiert er eben jene Werke die sich mit dieser nicht vorhandenen Heimat, der Anti- Heimat, auseinandersetzen. Diese Anti-Heimat ist für Menasse nicht auf den

105 A. a. O., S. 102 – 103. 106 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101 – 102. 32 ländlich-dörflichen Raum beschränkt, sondern umfasst im Wesentlichen das gesamte Staatsgebiet mit Ausnahme Wiens als einziger echter Großstadt. Die- ses „flache Land“ – Menasse übernimmt dabei eine abwertende Bezeichnung der Großstädter für die Provinz – ist der Schauplatz für die bedeutendsten ös- terreichischen Anti-Heimat-Romane.107 So wie sich die österreichische politische und gesellschaftliche Landschaft über die Jahrzehnte verändert hat, so veränderte sich auch die inhaltliche Form der Anti-Heimat-Romane. Trotzdem überwiegen die Gemeinsamkeiten, die Schilde- rung einer Existenz als Leibeigener auf Hof 48 wie bei Franz Innerhofer unter- scheidet sich bei näherer Betrachtung nicht so sehr von der Beschreibung einer gescheiterten Existenz in einem Tiroler Fremdenverkehrsort etwa bei Norbert Gstrein. Die Strukturen, die den jeweiligen Sozialsystemen zugrunde liegen, sind dieselben. Gemeinsam haben die österreichischen Anti-Heimat-Romane die Kritik an Österreich, den Versuch die festgefahrenen Strukturen offen zu le- gen und den Blick hinter die Kulissen freizumachen. Wenn man mit Menasse von Österreich als einer Anti-Heimat sprechen kann, dann muss die Anti- Heimat-Literatur in gewisser Weise als die österreichische Nationalliteratur be- zeichnet werden. Im Gegensatz zu Stimmen, die den Tod der Anti-Heimat- Literatur verkündet und diese als eine Ansammlung von Klischees charakteri- siert haben, erkennt Menasse, dass es nicht um eine bloße Darstellung von ne- gativen Tatsachen geht, ohne Alternativen aufzuzeigen:

Austria`s problem, Menasse summarizes, is ultimately the complete destruction of its authenticity. The project of Menasse and like- minded Austrians is to render and reflect these realities, all the while striving for Sein […] and not Schein […] for naturalness and not fa- çade – in short to bring Austria back into Austrian Literature and in so doing, to depict the protagonists and experiences with which readers everywhere can empathize.108

Die Leistung Menasses besteht darin, ein äußerst umfassendes Konzept der österreichischen Anti-Heimat-Literatur unter Einbeziehung geschichtlicher, poli- tischer und gesellschaftlicher Gegeben- und Besonderheiten vorgelegt zu ha- ben. Durch seine Thesen erhält die österreichische Anti-Heimat-Literatur jenen

107 Vgl. Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 158. 108 Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162. 33

Stellenwert zurück, der ihr schon aberkannt wurde – „to render and reflect these realities […] to bring Austria back into Austrian Literature“, und somit Österreich mit Hilfe der Literatur wieder zu einer Heimat zu machen, diesen Anspruch stellt Menasse an die Literatur. Die Bezeichnung „Anti-Heimat-Literatur“ wird ab nun durchgehend verwendet. Dies bedarf einer Begründung: natürlich kann Koppensteiner Recht gegeben werden, wenn er feststellt, dass die Anti-Heimatliteratur als Antithese zur kon- ventionellen Heimatliteratur gesehen werden muss. Menasses Anti-Heimat- Begriff umfasst selbstverständlich auch den in älteren Beiträgen verwendeten Terminus. Darüber hinaus inkludiert Menasses Definition jedoch auch jene Werke neueren Datums, die von engen und veralteten Definitionen nicht erfasst werden. Während eine Definition wie jene von Koppensteiner, hauptsächlich auf literarischen Vergleichen, nämlich der Gegenüberstellung zur traditionellen Heimatliteratur, beruht, erweist sich Menasses Konzept durch Analyse gesell- schaftlicher, politischer und geschichtlicher Faktoren als wesentlich fundierter. Anti-Heimatliteratur umfasst nicht das gesamte Gebiet der österreichischen An- ti-Heimat-Literatur. Als Abschluss des theoretischen Teils soll nun noch auf das Heimkehrmotiv, dessen Analyse im Zentrum der Arbeit stehen wird, eingegangen werden.

5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv

5.1 Exkurs: Funktion von Motiven für die Literatur

Gleich zu Beginn erscheint es notwendig, ein paar Worte über die Verwendung von Motiven in der Literatur zu verlieren. Schon die etymologische Herleitung vom lateinischen „movere“ verweist auf die Funktion, zu begründen, zu bewegen und Relationen herzustellen.109 Ein Motiv

109 Vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke 1995, S. XVI. 34 kann definiert werden als „[k]leinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierba- res intertextuelles Element eines literarischen Werks.“110 Beller bezeichnet das Motiv kurz und prägnant als „eine die epische oder dramatische Handlung aus- lösende Situation.“111 Motive können auf inhaltlicher Ebene unterteilt werden in Situations-, Typus-, sowie Raum- und Zeitmotive. Formal lässt sich eine Unter- teilung in Kernmotive, die einem Text den Zusammenhalt geben, Rahmenmoti- ve, die die Textstruktur erweitern und Füllmotive, die nicht fest mit dem Stoff verbunden sind, vornehmen.112 Tritt ein Motiv mehrfach in einem Text in glie- dernder und akzentuierender Weise auf, so spricht man von einem Leitmotiv, dieses muss aber nicht notwendigerweise identisch mit dem vorherrschenden Motiv im Text sein.113 Das Motiv ist ein inhaltsbezogenes Schema, das nicht an einen historischen Kontext gebunden ist. Dadurch ist es für die Gestaltung von Ort, Zeit und Figuren frei verfügbar. Durch diese Ungebundenheit grenzt sich das Motiv von anderen Kategorien des Inhalts, wie etwa dem Stoff oder dem Thema ab. Der Stoff definiert sich dadurch, dass er aus einem komplexeren Sinnzusammenhang besteht, der durch zeitliche, räumliche und personale Fak- toren festgelegt ist. Vom Thema grenzt sich das Motiv durch einen höheren Grad an Konkretheit ab. Ein und dasselbe Motiv kann verschiedenen Stoffen angehören und auch mehrfach beziehungsweise in Verbindung mit anderen Motiven in einem Werk auftreten.114 Es ist daher angebracht, Motive nicht nur als Inhalte und Bedeutungen zu ver- stehen, sondern auch als strukturierte und strukturgebende Einheiten, die in vielfältigen kulturgeschichtlichen Verflechtungen stehen und den Kunstcharak- ter der Literatur wesentlich mitbestimmen.115 Besondere Bedeutung kommt Mo- tiven zu, wenn man die historische Komponente berücksichtigt. Das Motiv kann, auch wenn es aus dem konkreten Textzusammenhang herausgelöst ist, in der

110 Drux, Rudolf: Motiv. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissen- schaft. Band 3. Berlin: de Gruyter 2000, S. 638 – 641, S. 638. 111 Beller, Manfred: Stoff, Motiv, Thema. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörg (Hg.): Literaturwis- senschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2004, S. 30 – 39, S. 32. 112 Vgl. Weidhase, Helmut: Motiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hg.): Metzler Lite- raturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990, S. 312. 113 Vgl. Schönhaar, Rainer: Leitmotiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990, S. 264. 114 Vgl. Drux, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 638. 115 Vgl. Beller, in: Brackert/Stückrath (Hg.) 2004, S. 36. 35

Tradition weiter bestehen. Das Motiv besteht nicht nur als Einzelelement, son- dern auch als in sich schlüssiges Relationsfeld, in der Überlieferung fort. Motive werden im kollektiven Gedächtnis der Rezipienten aufbewahrt und können da- durch zu jeder Zeit neu belebt werden. Dieses, die Zeiten überdauernde, Fort- bestehen von Motiven im Gedächtnis der Menschen begründet sich auch da- durch, dass Motive auf sehr anschauliche und präzise Weise typische mensch- liche Verhaltensmuster oder Situationen darstellen. Bei Motiven handelt es sich also um schematische Muster von (arche)typischen Eigenschaften und wieder- kehrenden Situationen im menschlichen Leben. Ein Motiv weckt im Rezipienten die Erinnerung an eine bekannte Situation oder Verhaltensweise, im Zuge des Rezeptionsprozesses erfolgt eine Neubewertung, die gespeichert und auf diese Weise weitergegeben wird.116 Jedes Motiv besitzt also im kollektiven Gedächt- nis der Menschheit eine schematische Repräsentation, die durch fortlaufende Verwendung im Laufe der Zeit neu bewertet, modifiziert und abgespeichert wird. Motive können charakteristisch für das Werk einzelner Autoren oder Epo- chen sein, dieselben Motive kommen aber auch in unterschiedlichen Sprach- räumen parallel vor. Deshalb ist die Motivforschung auch zu einem wichtigen Arbeitsfeld komparatistischer Studien avanciert. Diese, die Kulturen übergrei- fende, Präsenz von Motiven ist ein weiterer Beweis für die Repräsentation exis- tentieller, kollektiver Vorstellungen und Verhaltensweisen.117

Darüber hinaus lassen sich in Anlehnung an die Typologie von Daemmrich/ Daemmrich118 folgende wichtige erzähltechnische Funktionen von Motiven fest- stellen:

o Schaltfunktion: im chronologischen Aufbau eines Textes treten Motive an Gelenksstellen auf und steuern die Informationsverarbeitung im Wahr- nehmungsvorgang. Sie gewährleisten die Übertragung der Information von einer Schicht beziehungsweise von einer Bedeutungsebene zur nächsten. Somit sind Motive linear im Text geordnet und auch als Schal- ter auf der Achse der Sinngehalte verteilt.

116 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. XV – XVI. 117 A. a. O., S. XI – XII. 118 A. a. O., S. XVIII – XX. 36

o Spannungsfunktion: Motive sind leicht fassbar und beleuchten in kon- zentrierter Funktion komplizierte Situationen und Verhaltensweisen. In Verknüpfung mit anderen Figuren, Situationen oder Themen bezie- hungsweise gegensätzlichen Motiven sind sie jedoch auch verantwortlich für den Aufbau eines Spannungsbogens. Es entstehen Erwartungen, die eine intensivere geistige Auseinandersetzung mit dem Werk bewirken. o Schemafunktion: da Motive als Muster im kollektiven Gedächtnis reprä- sentiert sind, erleichtert ihre Verwendung den Zugang zum Text. Motive bieten Orientierung und die Möglichkeit, das Verhalten der Figuren vor- auszusagen. o Verflechtungsfunktion: indem sie ein Netz von Beziehungen, das die Auf- nahme und Verarbeitung abstrakter Informationen erleichtert, herstellen, leisten Motive einen wichtigen Beitrag zur thematischen Organisation des Textes. o Gliederungsfunktion: in ihrer Rolle als Bedeutungs- und Strukturträger lö- sen Motive Handlungen aus, verweisen auf Ereignisse oder verknüpfen Erzählstränge. Zusätzlich helfen sie, Verhaltensweisen und Charakterei- genschaften zu verdeutlichen. Dies alles führt dazu, dass die Struktur des Textes verfestigt wird. o Deutungsfunktion: Motive kennzeichnen existentielle Grundsituationen. Diese können an eine konkrete Figur (z. B.: Odysseus) oder auch nur an einen bestimmten Typus (z. B.: der Heimkehrer) geknüpft sein. Ferner verdichten sie soziale Anliegen oder entschlüsseln kollektive Vorstellun- gen oder Wünsche.

5.2 Heimkehrmotiv

Die Untersuchung des Heimkehrmotivs scheint sich bis dato nur geringer litera- turwissenschaftlicher Beachtung erfreut zu haben. Dabei stellt die Heimkehr ein Ereignis dar, das im Bewusstsein der Menschheit seit jeher repräsentiert ist. Heimkehr ist ein präsentes Thema in der Weltlitera- tur, man denke nur an Odysseus, als den wohl berühmtesten Heimkehrer der

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Literaturgeschichte, oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lu- kasevangelium. Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in Deutschland das Entstehen einer eigenen Heimkehrerliteratur beobachten, die sich mit den Bemühungen der heimgekehrten Soldaten um eine Rückkehr ins zivile Leben beschäftigt. Grundsätzlich lassen sich in Bezug auf die Verwendung des Heimkehrmotivs zwei einander entgegen gesetzte Tendenzen erkennen. Zum einen kann eine bevorstehende oder beabsichtigte Heimkehr einen festen Orientierungspunkt bieten, der zur Selbstbesinnung anregt. Die Aussicht auf eine Rückkehr sichert die Identität des Heimkehrers, verleiht Zuversicht und sorgt für Ruhe und Zu- flucht vor der bedrohlichen Welt. Die zweite Variante des Heimkehrmotivs nimmt die Rückkehr (beispielsweise aus Studium, Verbannung oder Emigration) zum Anlass, Umwelt und Gesellschaft kritisch zu beleuchten beziehungsweise mit den in der Heimat Verbliebenen abzurechnen.119 Im Spannungsfeld zwi- schen diesen beiden Ansätzen bewegen sich auch die Protagonisten der für diese Arbeit ausgewählten Werke. Wenn auch die historische Präsenz des Motivs außer Frage steht und Motive weder an bestimmte Stoffe oder Genres gebunden sind, so erscheint dessen Verwendung im Genre der Anti-Heimat-Literatur doch etwas verwunderlich, wenn nicht paradox. Die Heimkehr des Protagonisten widerspricht der Grund- tendenz der Anti-Heimat-Literatur, ist diese doch vorrangig durch eine Flucht- tendenz gekennzeichnet. Heimat wird gesehen als „Maske eines sozialen Or- tes, aus dem es wegzugehen gilt.“120 Dazu sei verwiesen auf das Schicksal Holls bei Franz Innerhofer oder jenes der Protagonisten in den Romanen Ger- not Wolfgrubers, deren Bestrebungen darauf abzielen, der einengenden und to- talitären ländlich-provinziellen Lebenswelt zu entfliehen. Die Werke Gernot Wolfgrubers, eines der bedeutendsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur, kön- nen als beispielhaft für diese Tendenz gesehen werden. Bei Wolfgruber steht der Wunsch nach Veränderung im Zentrum der Romane. Die Hoffnungen, die an ein Entkommen aus der gegenwärtigen Lebenssituation gekoppelt sind, ba-

119 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 188 – 189. 120 Zeyringer 2001, S. 166. 38 sieren oftmals auf Illusionen und unrealistischen Träumereien. Die Realität sieht anders aus und so scheitert das Vorhaben des Verlassens der Heimat. Innerho- fers Werk durchzieht tendenziell eine Suche nach einer neuen Heimat fernab der ursprünglichen. Immerhin gelingt es Holl, sich von seinen Wurzeln loszusa- gen, in der Erzählung „Der Emporkömmling“ erfolgt eine temporäre Rückwen- dung zur Heimat, was einen Sonderfall in Innerhofers Werk darstellt. Die Heim- kehr stellt somit ein interessantes Alternativmodell zur Fluchttendenz im Anti- Heimatroman dar und soll auf den folgenden Seiten genauer analysiert werden.

Viel näher liegt die Verbindung des Heimkehrmotivs mit der traditionellen Hei- matliteratur. Das Heimkehrmotiv kann, mit Donnenberg, als Teilaspekt der Hei- matthematik beziehungsweise die Heimatthematik als Teilaspekt der Heimkeh- rerproblematik bezeichnet werden.121 Innerhalb der Heimatliteratur spielt das Motiv der Heimkehr eine nicht unbedeutende Rolle. Heimat konstituiert sich da- bei oft durch die Abgrenzung gegenüber Fremden. Als solche sind auch Heim- kehrer zu bezeichnen. Des Weiteren werden Heimkehr und Heimkehrer in der Heimatliteratur dazu verwendet, das positiv besetzte Bild des Dorfes zu verstär- ken und die Fremde negativ darzustellen. Die Heimkehr fungiert als Schaltele- ment zwischen zwei Milieus, dem der Fremde und dem der Heimat. Dadurch wird es möglich, beide Welten zu vergleichen. Der Status als Heimkehrer stellt die Protagonisten den Daheimgebliebenen gegenüber. Diese Verschiedenheit birgt naturgemäß ein gewisses Konfliktpotential in sich. Die Heimkehr ist Ausdruck einer Suche und Sehnsucht nach Heimat. Eine Heimkehr lässt darauf schließen, dass der Heimkehrer seine Heimat noch nicht gefunden hat. Während im Heimatroman der Handlungsverlauf mehr oder we- niger vorgezeichnet und mit einem guten Ausgang zu rechnen ist, stellt sich die Frage, wie es damit im Anti-Heimat-Roman bestellt ist. Den Charakteristiken des Genres entsprechend, dürfte ein positiver Abschluss des Heimkehrprozes- ses, eine gelungene Integration in die Gesellschaft, nicht stattfinden, da sich der Anti-Heimat-Roman dadurch ad absurdum führen würde. Im klassischen Heimkehrerroman werden die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit in der Fremde und die Zeit nach der Heimkehr ausführlich geschildert. Dement-

121 Vgl. Donnenberg, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 43. 39 sprechend erstreckt sich der Roman über eine längere Zeitspanne. Die Ab- schieds- und Wiedersehensszene sind wichtige Momente im Handlungsverlauf. Ebenso große Berücksichtigung erhält die Krise des Protagonisten, die zur Heimkehr führt, sowie die Schilderung der Veränderungen, die während der Abwesenheit stattgefunden haben. Die klassische Heimkehrergeschichte ist ei- ne in sich geschlossene Erzählform, die mit der Lösung der Probleme des Heimkehrers und der Wiederaufnahme in die Gemeinschaft endet.122 Die Themen Identitätskrise und Suche nach Heimat sind eng mit dem Heim- kehrmotiv verbunden. In der Anti-Heimat-Literatur steht jedoch primär eine an- dere Thematik im Vordergrund, welche Meyer-Sickendiek weit gefasst als „Identifikation der österreichischen Heimat als einer beklemmenden Atmosphä- re latenter Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische Gesinnung“123 festgelegt hat. Es stellt sich daher auch die Frage, in welchen Bezug das Heimkehrmotiv zu diesem Kontext gesetzt werden kann.

Hier endet der erste Teil dieser Arbeit. Im Vordergrund stand zum einen ein Überblick über verschiedene Konzepte von Heimat. Dies ist kein leichtes Unter- fangen, da das Konzept Heimat in erste Linie ein, wie Parin anmerkt, „obligat individuelles Phänomen“124 zu sein scheint, und somit für jeden Menschen an- dere Vorstellungen impliziert. Trotzdem konnten einige Grundbedingungen festgelegt werde, ohne die Heimat nicht möglich zu sein scheint, die aber noch lange keine Garantie dafür sind. Zweiter wichtiger Punkt war die Darstellung des Wandels des Heimatbegriffes in der österreichischen Literatur, vor allem in der Literatur nach 1945. Ein durch die Geschichte äußerst belasteter Begriff wie Heimat und ein ebenso belastetes Genre wie die Heimatliteratur machten es notwendig etwas weiter auszuholen, um die Geschichte der Anti-Heimat-Literatur verstehen zu können. Mit Robert Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur wurde gezeigt, dass diese nach wie vor einen wichtigen Stellenwert in der österreichischen Literaturlandschaft

122 Vgl. Khan, Charlotte: Studien zum Motiv der Heimkehr: „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“ von Miroslav Krleža und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke in einer vergleichenden Betrachtung. Innsbruck: phil. Dipl. 1992, S. 134 – 136. 123 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007. 124 Parin 1996, S. 17. 40 einnimmt. Ebenso vonnöten war ein theoretischer Exkurs zur Motivforschung im Allgemeinen und zum Heimkehrmotiv im Besonderen, da die Heimkehr im Zent- rum des nun folgenden Teiles stehen wird. Dieser beschäftigt sich mit ausgewählten Werken der Anti-Heimat-Literatur. Gemeinsam ist diesen Werken die Rolle des Protagonisten als Heimkehrer. Dieses verbindende Element soll auch als Ausgangspunkt für die Suche nach Kontinuitäten und Unterschieden in der Anti-Heimat-Literatur zwischen 1967 und 2006 dienen. Es stellt sich die Frage, welche erzähltechnischen Funktionen dem Motiv zuteil werden und welche spezifischen Eigenheiten sich aus der Mo- tivverwendung für das Werk ergeben. Gemäß der Beschaffenheit von Motiven als sowohl strukturgebende, wie auch inhaltsbezogene Einheiten, werden diese beiden Ebenen bei der Interpretation berücksichtigt.

Zur Werkauswahl: Mit Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) steht eines der zent- ralen Werke aus der Zeit des „problematisierten Heimatromans“125 bezie- hungsweise aus Phase eins nach Menasse am Beginn des Analyseteils. Es folgt mit „Der Emporkömmling“ (1982) von Franz Innerhofer eine Erzählung des bekanntesten Vertreters der Anti-Heimat-Literatur. „Der Emporkömmling“ wird in Beziehung zu den vorhergehenden Werken Innerhofers gesetzt und ist sowohl Phase zwei als auch Phase drei zuordenbar. Robert Menasses „Schubumkehr“ (1995) beschäftigt sich unter anderem mit Tourismus und Fremdenfeindlichkeit und fällt in Phase drei. Als jüngstes und vielleicht düsterstes Werk beschließt „Das tote Haus“ (2006) von Peter Zimmermann diese Arbeit.

125 Weiss, in: Schmid/Weiss (Hg.) 1976, S. 24. 41

6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fa- sching“ von Gerhard Fritsch

6.1 Späte Anerkennung

Gerhard Fritsch verfasste neben zahlreichen Gedichten, Hörspielen und kurzen beziehungsweise nicht abgeschlossenen Prosawerken zwei Romane und war als Herausgeber der Zeitschriften „Wort in der Zeit“ und später „Literatur und Kritik“ eine der zentralen Figuren des österreichischen Literaturbetriebes. Sein erster Roman „Moos auf den Steinen“ (1956) brachte ihm euphorische Kritiken und großen Erfolg bei der Leserschaft. Elf Jahre danach folgte mit „Fasching“ sowohl inhaltlich, als auch formal, die „reine Negation“126, von „Moos auf den Steinen“.127 „Fasching“ war das Produkt intensiver, von zahlreichen unabge- schlossenen Vorarbeiten begleiteter, Bemühungen die allgemeine Krankheit der 1950er Jahre mit den Symptomen Positivität, Verbindlichkeit und Romantisie- rung zu überwinden.128 Mit Verwunderung und Unverständnis begegneten Kritik und Publikum dem Roman. Man hatte sich eine Fortsetzung von „Moos auf den Steinen“ erhofft und wurde brutal vor den Kopf gestoßen. „Fasching“ wurde überwiegend nega- tiv rezensiert und verkaufte sich äußerst schlecht.129 Die Geschichte eines min- derjährigen Deserteurs (und als solcher eines Verräters), der eine Stadt vor dem Untergang bewahrt, trotzdem oder gerade deswegen denunziert wird und mit seiner Heimkehr an den von ihm Geretteten zugrunde geht, widersprach der

126 Menasse, Robert: Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von Gerhard Fritsch. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigen- schaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 209 – 224, S. 219. 127 Hierzu sei angemerkt, dass eine kritische Lektüre von „Moos auf den Steinen“ sehr wohl auch Passagen enthält, die sich als kompromisslose Kritik an Österreich und seinem Umgang mit der Vergangenheit deuten lassen. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin: „Modo Austriaco“ – Ger- hard Fritsch und die Literatur in Österreich. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 25 – 33, S. 32. 128 Vgl. Wolfschütz, Hans: Von der Verklärung zur Aufklärung. Zur Entwicklung Gerhard Fritschs. In: Literatur und Kritik 12 (1977), S. 10 – 19, S. 13. 129 Für einen Überblick über Rezensionen und Kritiken vgl. Alker, Stefan: Das Andere nicht zu kurz kommen lassen. Werk und Wirken von Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007, S. 169 – 177. 42

Strategie des Verdrängens, wie sie in weiten Teilen der Bevölkerung und auch im Literaturbetrieb praktiziert wurde. Die Kontinuitäten, die in „Fasching“ aufge- zeigt wurden, waren nicht jene, von denen man nach dem Krieg träumte. Viele Jahre später setzte allmählich eine Relektüre des Romans ein und erst in den letzten Jahren wurde dem Gesamtwerk Fritschs und somit auch „Fasching“ die Aufmerksamkeit zuteil, die es sich schon viel früher verdient hätte. Es ist den Ereignissen im Präsidentschaftswahlkampf 1986 zu verdanken, dass „Fa- sching“ erstmals wieder verstärkt rezipiert wurde. Im Zuge der Waldheimaffäre gewann der Roman an Aktualität, das Thema der Pflichterfüllung in der Deut- schen Wehrmacht wurde wieder in der Öffentlichkeit präsent. Wenn Kurt Wald- heim im Fernsehen beteuerte, nur seine Pflicht getan zu haben, wie viele ande- re Österreicher auch, so war dies haargenau die Rhetorik eines Lois Lubits in „Fasching“: „Wir, die wir unsere Pflicht getan haben, sind und bleiben Kamera- den, die wissen, wofür und warum es gilt, wachsam zu sein, auf Posten zu ste- hen, jeder wo er steht.“130

Robert Menasse setzte sich intensiv mit Leben und Werk von Gerhard Fritsch auseinander und bemühte sich um eine Neuauflage von „Fasching“, die schließlich 1995 bei Suhrkamp erschien. Menasse verfasste das Nachwort da- zu. Für Menasse ist der Transvestismus die durchgehende Metapher in „Fa- sching“. Felix, der Deserteur in Frauenkleidern, musste den Stadtbewohnern als Karikatur ihres eigenen Transvestismus, ihrer Wandlung von zumindest natio- nalsozialistischen Mitläufern zu vermeintlich vorbildhaften Demokraten erschei- nen. Die Desertion und die Rettung der Stadt stellten einen Verrat an der Ideo- logie, der man insgeheim noch anhing, dar.131 Dass Fritsch damit einen wunden Punkt getroffen hatte, zeigen die Reaktionen die auf das Erscheinen des Romans folgten. Dieser geht jedoch über eine rein auf Österreich bezogene Lesart hinaus:

Mit dem Transvestismus als durchgehendem Motiv in ´Fasching` hat Fritsch eine große Metapher nicht nur für das österreichische, son-

130 Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 99. Im Folgenden zitiert als FA. 131 Vgl. Menasse, Robert: Auf diesem Fasching tanzen wir noch immer. In: Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 241 – 249, S. 243. 43

dern schlechthin für das menschliche Wesen in großen sozialen und politischen Umbruchzeiten geschaffen, das stimmige und leider blei- bende Psychogramm für all jene, die, wenn in den Geschichtsbü- chern von ´Untergang` die Rede ist, nicht untergehen, und das sind eben Menschen, die die Systeme überleben.132

Mit dem Ankauf des Nachlasses von Gerhard Fritsch durch die Wiener Stadt- und Landesbibliothek im Jahr 2004 konnte eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor in Gang gesetzt werden. Aus der Aufarbei- tung dieses Nachlasses resultiert Stefan Alkers Monographie „Das Andere nicht zu kurz kommen lassen“ (2007). Darin betont Alker unter anderem die sexuelle Komponente in „Fasching“ und begründet diese Tatsache mit Fakten aus Fritschs Biographie.133 Es war auch diese stellenweise sehr explizite Schilde- rung von Sexualität, die in den 1960er Jahren bei allen Kritikern auf Ablehnung und Empörung stieß, wobei nicht erkannt wurde, dass dieses Strukturelement in enger Verbindung zur faschistischen Thematik steht.134 Durch die erstmalige ausführliche Fokussierung auf das sexuelle Element durch Alker wird eine wei- tere Relektüre ermöglicht.

6.2 Heimkehr eines Deserteurs

„Fasching“ ist erzählerisch sehr ambitioniert gestaltet. Innerhalb des Romans lassen sich drei Ebenen feststellen. Die beiden Handlungsebenen sind durch eine zeitliche Distanz voneinander getrennt. Ebene eins behandelt die Zeit von Felix´ Flucht zu Silvester 1944 bis zur sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Ebene zwei setzt ein mit der Rückkehr in die Stadt und endet vier Tage später in den Turbulenzen des Faschingsballes. Wie in einem Film laufen die Erinne-

132 Menasse, Robert: Wir machen die Musik. In: Fritsch, Gerhard: Katzenmusik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 109 – 126, S. 117. Auf die Allgemeingültigkeit des in „Fasching“ dargestell- ten gesellschaftlichen Modells hat bereits Baumann hingewiesen, gleichzeitig jedoch einen spe- zifischen Österreichbezug negiert. Vgl. Baumann, Ingo: Über Tendenzen antifaschistischer Lite- ratur in Österreich. Analysen zur Kulturzeitschrift „Plan“ und zu Romanen von Ilse Aichinger, Hermann Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko und Hans Weigel. Wien: phil. Diss. 1982, S. 333. 133 Vgl. Alker 2007, S. 141 – 280. Schon Baumann hat in seiner Dissertation darauf hingewie- sen, seine Analyse jedoch mit dem Schwerpunkt auf Faschismus und Antifaschismus verfasst. Vgl. Baumann 1982, S. 320 – 348. 134 Vgl. Garscha, Beatrix: Obdachlose Helden: Defizite der österreichischen Identität. Faschis- mus im österreichischen Roman nach 1945. Wien: phil. Diss. 1997, S. 44 – 46. 44 rungen vor Felix´ geistigem Auge noch einmal ab. Die beiden Erzählstränge werden verbunden durch eine reflektorische Ebene, wobei sich die Grenzen am Ende des Romans auflösen, der Erzählstrang geht nahtlos in die Reflexion über. Somit endet der Roman in der absoluten Gegenwart, im Versteck unter Raimund Wazuraks Schreibtisch. Da der Roman nicht einer linearen Anordnung folgt, sondern sich die Abschnitte abwechseln, erschließen sich Zusammen- hänge und Parallelen erst im Verlauf der Lektüre. Insgesamt gibt es sieben Ka- pitel, dazu einen reflexiven Teil zu Beginn. Die in Großbuchstaben gedruckten ersten zwei bis drei Wörter der Kapitel verweisen auf Felix´ Rolle in der Stadt- gemeinschaft: „Da war er – noch immer gefangen – ohne es zu wissen – rechtskräftig verurteilt – als grösste Gefahr – für die Bewahrung – aller echten Werte.“ Erzähltechnisch besteht „Fasching“ aus „einem einzigen inneren Mono- log, der überwiegend erzählerisch und nur zum kleinen Teil – wie es dem Mo- nolog an und für sich entspräche – reflexiv bestimmt ist.“135 Die Besonderheit dieses Monologs besteht darin, dass „Felix in den Erzählabschnitten die distan- zierende Perspektive der 3. Person wählt. Damit wird er zum distanzierten Be- obachter und Kommentator seiner eigenen Handlungen, wobei er von außen gleichsam sich selbst zusieht.“136 Der Monolog erinnert dadurch stark an die Form des Berichtes.

„Fasching“ ist ein Roman, der von Beginn weg zu einem ständigen Hinterfragen des Heimkehrmotivs zwingt. Das Motiv dient in diesem Fall nicht dazu, eine komplizierte Situation zu vereinfachen, sondern zusätzliche Fragen aufzuwer- fen. Während Felix die Heimkehr, der klassischen Motivkonzeption entspre- chend, mit dem Wunsch nach Ruhe und Aufnahme in die Gemeinschaft verbin- det, stellt sich angesichts der Vorgeschichte und der Struktur der ingroup schon sehr bald die Frage, wie dies gelingen soll. Denn im Gegensatz zum Protago- nisten wird dem Rezipienten, trotz der komplexen erzählerischen Struktur, die bewirkt, dass sich die Handlung erst nach und nach erschließt und anfangs vie- le Zusammenhänge im Verborgenen bleiben, bald klar, dass Felix nicht nur in eine fremde Heimat, sondern in eine feindliche Anti-Heimat zurückkehrt. Je

135 Baumann 1982, S. 321 – 322. 136 Schimpl, Karl: Weiterführung und Problematisierung. Untersuchungen zur künstlerischen Entwicklung von Gerhard Fritsch. Stuttgart: Heinz 1982, S. 65. 45 mehr sich dieser Schleier lüftet, desto rätselhafter erscheinen aber auch die Gründe für Felix´ Rückkehr. Auch angesichts der Krise des Heimkehrers (keine familiären und finanziellen Ressourcen, keine Ausbildung, lange Gefangen- schaft) kann die Heimkehr objektiv nicht schlüssig begründet werden. In „Fa- sching“ erscheint die Rückkehr schon von vornherein als ungeeignetes Mittel zur Bewältigung der Krise, das Heimkehrmotiv kann also keine Hilfe bei der Er- schließung des Textes leisten. Die Widersprüchlichkeiten setzen sich auch in Bezug auf die Figur des Heimkehrers fort. Typische Heimkehrer sehen anders aus. Die Bewertung der Hauptfigur stellt eine große Herausforderung für den Leser dar, denn Felix ist keine ausschließlich positiv gezeichnete Figur, was die Identifikation mit ihm erschwert. Sein Verhalten evoziert Protest und Ablehnung. In Raimund Wazurak hat Felix ein Spiegelbild, das auf die Unmöglichkeit seines Unterfangens hinweist. Raimund ist selbst ein Außenseiter in der Stadt, kein Einheimischer und mit dem Stigma der Homosexualität behaftet. Er hat sich je- doch mit der Gesellschaft arrangiert beziehungsweise deren Unterwerfungs- wünschen bereitwillig Folge geleistet, indem er die ihm zugedachte Rolle erfüllt. Aus seiner Existenz lässt sich der einzig mögliche Verlauf einer dauerhaften Heimkehr deuten: „Backe links und Backe rechts darbieten, die Schläge gehen in Tätscheln über, der Argwohn in Wohlgefallen, alle Gegensätze in die große Synthese.“137 In Raimunds Phrasen versteckt sich implizit der Hinweis auf die Kontinuität der alten Verhältnisse: „...aber es hat keinen Sinn in alten Wunden zu stochern, Lubits und Wahrhejtl haben sich geändert, in sich gegangen ist Plabutsch, ge- läutert sind sie wie ich, sie wollen ihre Ruhe haben wie wir.“138 Raimunds Ratschläge kann der Rezipient nur als Warnungen auffassen, Felix selbst ver- sucht diese zu befolgen und läuft blindlings ins offene Messer. Auch im wissenschaftlichen Diskurs wurde die Frage nach Felix´ Persönlichkeit ausführlich erörtert. Es mag zutreffen, dass Felix in Bezug auf die erste Hand- lungsebene durchaus heldenhafte Züge trägt, wie Garscha in ihrer Analyse feststellt, die Felix als Helden, der bis zum bitteren Ende Widerstand gegen die faschistische ingroup leistet und dadurch seine innere Identität bewahrt, klassi-

137 FA, S. 224. 138 FA, S. 14. 46 fiziert.139 In Zusammenhang mit der Heimkehr sind heldenhafte Momente je- doch nicht mehr vorhanden, die fallweise Auflehnung gegen die Stadtbevölke- rung lässt sich eher als verzweifelter Versuch einer Abwehr physischer Bedro- hungen, denn als heldenhafte, von antifaschistischer Ideologie angetriebene Handlung sehen (Bevor sich Felix beispielsweise am Faschingsball gegen die Attacken wehrt, verhält er sich einen ganzen Abend lang passiv und lässt die Demütigungen über sich ergehen). Erst im Nachhinein reflektiert er seine Stra- tegie der „ehrliche[n] Anbiederung“140 und erkennt sich als „Opportunist in der Grube, der sich für das darüber befindliche wackelige Häuschen und dessen Besitzerin zu allem hergibt, sich vielleicht sogar um die Mitgliedschaft beim Ka- meradschaftsverein bewürbe,...“141 Während der kritisch-reflexive Prozess erst am Ende der Heimkehr einsetzt, zeigt sich davor ein wesentlich anderes Bild des Protagonisten: „Ich will Ruhe, ich bin zehn Jahre in Russland gewesen, ich will heiraten“142, wünscht sich Fe- lix, und an anderer Stelle: „Ich möchte ja Kleinbürger werden, Fotograf, sonst nichts.“143 In Passagen wie diesen lässt sich wenig Heldenhaftes finden, gegen Ende zeigt Felix bereits Ansätze, Werte und Ideologie der ingroup zu überneh- men: „...in Treue fest wie noch nie, er gehörte her, er gehörte dazu,...“144 Für Berger ist die Geschichte Felix´ die Geschichte eines moralischen Verfalls:

Die Substitution des ethischen Humanismus, mit dem er handelnd als Deserteur und Widerstandskämpfer angetreten war, durch die scheinbar überlegene und abgeklärte moralische Haltung des Heim- gekehrten, der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt, erweist sich in der Grubensituation als Haltlosigkeit.145

Louis vereint die beiden Pole, indem sie Felix sowohl opportunistische, als auch revoltierende Züge zuerkennt. Auf die Rezeption bezogen, bedeutet dies, dass

139 Vgl. Garscha 1997, S. 103 – 104. 140 FA, S. 221. 141 FA, S. 145. 142 FA, S. 166. 143 FA, S. 146. 144 FA, S. 224. Unschwer lässt sich hier ein intertextueller Verweis auf den Wahlspruch der Waf- fen-SS erkennen: “Meine Ehre heißt Treue”. 145 Berger, Albert: Überschmäh und Lost in Hypertext. Eine vergleichende Re-Lektüre von Ger- hard Fritschs Romanen „Moos auf den Steinen“ und „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 57 – 77, S. 74. 47 der Leser gezwungen ist, in seiner Bewertung ständig zwischen den beiden Po- len zu wechseln. Felix kann nicht als Typus mit überschaubaren, klassifizierba- ren Eigenschaften definiert werden, vielmehr zwingt er zu einem ständigen Ver- schieben und Revidieren der Perspektiven, was dazu animiert, von vor- schnellen Bewertungen abzusehen und die eigene Wahrnehmung permanent zu hinterfragen.146 Louis hat nicht Unrecht, wenn sie sich ausschließlich auf die erste Handlungsebene beziehen würde. Denn da war Felix sowohl Opportunist als auch Held, er nutzte die Gelegenheit, in Frauenkleidern den Krieg zu über- leben und warf seine Partisanenträume über Bord, und er rettete die Stadtbe- völkerung durch die Überwältigung des Kommandanten. Als Heimkehrer je- doch, und hier zeigt sich die kontrastierende Funktion des Motivs, ist Felix we- der Held noch Opportunist. Als Heimkehrer ist Felix einzig davon geleitet, eine Heimat zu finden und bereit, dafür auch Opfer in Kauf zu nehmen. Mit der Rückkehr in die Stadt ergreift er keine günstige, sondern die einzige Möglichkeit sein Ziel zu erreichen und wählt die Strategie der Anbiederung, da er sich von dieser die Bewältigung seiner Krise erhofft. Der Heimkehrer agiert mehr prag- matisch denn opportunistisch und glaubt bis zuletzt an seinen Erfolg, seine ver- zweifelte Situation versperrt ihm den Blick auf die Realität. In „Fasching“ erhält das Heimkehrmotiv eine neue Bedeutung. Die Fragen, wa- rum Felix heimkehrt und wie er einzuordnen ist, werden nicht beantwortet. Her- kömmliche Muster können nicht herangezogen werden, um die Rezeption zu erleichtern. Die literaturwissenschaftlichen Diskussionen zeigen, dass sich die- se Fragen bis heute nicht eindeutig beantworten lassen. Nach dieser Darstellung der widersprüchlichen Aspekte des Motivs nun zur Analyse der Struktur- und Verlaufsebene.

In Bezug auf die strukturelle Funktion des Heimkehrmotivs fällt die Verknüpfung mit der reflexiven Ebene auf. Felix´ prekäre Situation in seinem Versteck re- spektive Gefängnis ist als direktes Resultat seiner Heimkehr zu verstehen. Die Heimkehr hat ein Handlungsgefüge ausgelöst, das in einer ausweglosen Situa- tion endet. So fragt sich Felix auch: „Soll ich vor zwölf Jahren beginnen und

146 Vgl. Louis, Raffaele: Das ausgesetzte Urteil. Eine poetologische Lektüre von Gerhard Fritschs Roman „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schrift- steller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 111 – 131, S. 120 – 121. 48 mich in diesem Loch zum ersten Mal verstecken lassen, soll ich vor vier Tagen ankommen, der dringenden Einladung folgend, den Fasching mitzumachen?“147 Felix erkennt die Parallelen zwischen den beiden Handlungsebenen, die er lan- ge nicht wahrhaben wollte. Die Flucht vor zwölf Jahren und die Heimkehr vor vier Tagen führten zu ähnlichen Ergebnissen. Motive wie die Heimkehr haben die Funktion, zwei Ebenen zu kontrastieren. Diese Verwendung bezüglich der Figur des Heimkehrers selbst wurde weiter oben schon dargelegt. Auch die beiden Handlungsebenen werden rückblickend von der Reflexionsebene aus kontrastiert beziehungsweise in diesem Fall paral- lelisiert. Denn im speziellen Fall von „Fasching“ verschwindet die Polarität zu- sehends, es kommt zu einer Angleichung von Vergangenheit und Gegenwart. Die Ursache liegt darin begründet, dass schlicht und einfach keine Veränderun- gen stattgefunden haben. Der Heimkehrer findet ein in personeller und ideolo- gischer Hinsicht unverändertes System vor. Zwar erstrahlen die Fassaden der Häuser in neuem Glanz und wurde das Gasthaus von Reichs- in Doppeladler umbenannt, hinter den Kulissen herrscht jedoch nach wie vor der alte Geist, der für Feiglinge und Vaterlandsverräter kein Verständnis aufbringt.

Felix´ Situation als heimgekehrter Deserteur löst permanent Ereignisse aus, die stets demselben Muster folgen. Das Wiedersehen mit dem Kollektiv der Klein- stadt (im Roman im Wesentlichen repräsentiert durch deren Honoratioren) folgt, basierend auf der klassischen ingroup-outgroup-Konstellation, einem Schema, das nur hinsichtlich der Intensität des Unterdrückungsprozesses eine Steige- rung erfährt. Baumann hat dabei drei zur Anwendung kommende Mechanismen definiert: die Demütigung, die Verleumdung, sowie körperliche und seelische Folter.148 Anhand des Beispieles der Demütigung soll exemplarisch gezeigt werden, dass diese Mechanismen in fester Verbindung mit der Heimkehr ste- hen und eine wichtige strukturierende Rolle übernehmen. Die Demütigung zeigt sich im Gelächter, das Felix bei jeder Begegnung mit der Stadtbevölkerung begleitet. Leitmotivisch zieht sich dieses Lachen durch den Roman. Das Motiv der Heimkehr als Auslöser von Prozessen, an deren Ende

147 FA, S. 10. 148 Vgl. Baumann 1982, S. 341. 49 das Gelächter als Form der Unterdrückung steht, bildet eine sich wiederholende textliche Einheit. Kurz nach der seiner Ankunft begegnen Felix und Raimund der Faschingskommission, die sich aus der Prominenz der Stadt zusammen- setzt. Während Felix den Hut zieht, erwidert die Kommission diesen Gruß nicht und verharrt in Schweigen. Als die beiden ins Haus treten, bricht „die Kommis- sion in Gelächter aus, exakt einsetzendes Gewieher, Gegluckse, Gegacker.“149 Ebenso bei der Führung durch das Heimatmuseum, bei der Felix gefoltert und genötigt wird, eine Erklärung zu unterschreiben, in welcher er jegliche Beteili- gung an der Rettung der Stadt dementiert: „Oben stand Hilga, neben ihr Rade- gund Plabutsch, Umrisse vor einem Fenster. Gelächter. Er richtete sich auf, grüßte.“150 An anderer Stelle ist es Raimund, der Felix, nicht zum ersten Mal, vorwirft, selbst Schuld an der ungünstigen Entwicklung zu sein: „Du hast mich desavouiert. Ich habe deine Verdienste gerühmt, mich überall um deine Aner- kennung bemüht, ungeachtet des Gelächters, ich hätte sie durchgesetzt, und du!“151 Dieses Lachen definiert die feindliche Grundhaltung, die Felix entgegen- schlägt. Doch selbst mit zunehmender Steigerung der Demütigungen missdeu- tet Felix seine Situation, ja er selbst stimmt in das Lachen ein, als er in sein Ver- steck hinuntersteigt:

Ich habe gelacht und sie [Vittoria, d. Verf.] hat gelacht, ich höre uns noch lachen, beide ein einziges Gelächter, ich sehe sie noch lachen, oben, plötzlich hoch über mir, lachend habe ich mich in der Grube zurechtgesetzt, lachend hat sie gesagt, hier findet dich keiner, la- chend habe ich gesagt, vergiß mich nicht.152

Die obige Passage ist zugleich der Beginn des Romans, der Verlauf der Hand- lung wird also schon zu Beginn angedeutet, das Ende vorweggenommen. Dies erschließt sich jedoch erst im Laufe der Lektüre.

Die Analyse hat die besondere Funktion des Heimkehrmotivs in „Fasching“ ge- zeigt. Die Motivation zur Heimkehr ist nicht nachvollziehbar, der Verlauf jedoch folgt einem klaren Schema und offenbart die Parallelen zur ersten Handlungs-

149 FA, S. 13. 150 FA, S. 150. 151 FA, S. 171. 152 FA, S. 7. 50 ebene. Die durch die komplexe formale Struktur und die atypische Ausgangssi- tuation entstandene Verwirrung wird durch einen schematischen Ablauf struktu- riert, was den Zugang zum Text erleichtert, ohne den Spannungsbogen zu zer- stören. Dies ist insofern beachtenswert, da in der Regel gerade die unter- schiedlichen Lösungsmöglichkeiten für die Spannung verantwortlich sind, hier jedoch aufgrund der Bedingungen, unter denen sich die Heimkehr vollzieht, ei- ne positive Bewältigung der Krise der Hauptfigur a priori ausgeschlossen wer- den kann. Im Spannungsfeld zwischen den Themen Auflehnung und Anpas- sung beziehungsweise Freiheit und Begrenzung strukturiert das Motiv von Be- ginn an den Handlungsverlauf in Richtung Anpassung (in Form von Felix´ Be- mühungen sich anzubiedern) und Begrenzung (die in der aussichtslosen Schlusssituation gipfelt). In Bezug auf die Typologie nach Daemm- rich/Daemmrich steht zu Beginn die erste Variante im Vordergrund. Felix strebt nach Ruhe und Harmonie und bemerkt nicht, dass ihm diese Ziele verwehrt sind. Mit Fortlauf des Romans ergibt sich für den Leser ein zunehmend negati- ves Bild einer seit den nationalsozialistischen Tagen kaum veränderten Gesell- schaft. In Felix selbst jedoch hat sich durch seine Zeit in der Fremde, entgegen der herkömmlichen Charakterentwicklung des Heimkehrers, die Fähigkeit zu kritischer Reflexion nicht verstärkt, sondern abgebaut beziehungsweise hat die Verzweiflung den Blick auf die Realität getrübt. Er orientiert sich mit gutem Glauben an der von Raimund, der sich als ebenfalls ortsfremder Außenseiter mit der ingroup arrangiert hat, empfohlenen Strategie, die auch ihm am Nütz- lichsten erscheint. Dass es zu einer exakt konträren Entwicklung kommt, zeich- net sich schon sehr bald ab, Felix erkennt die Fakten aber erst, als es zu spät ist und er dem Tod ins Auge sieht.

6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs

In „Fasching“ ergibt sich ein neues Muster der Heimkehrsituation, das zwar An- leihen bei der traditionellen Heimatliteratur oder dem Heimkehrerroman nimmt, in seiner Gesamtheit jedoch einzigartig ist.

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Zusammenfassend noch einmal die Schwierigkeiten, die sich dadurch für die Rezeption ergeben: durch die nicht schlüssige Begründung der Heimkehr wird gleich zu Beginn die Interpretation erschwert. Die Charakterisierung des Heim- kehrers erlaubt es nicht, diesen zu kategorisieren. Herkömmliche, im kollektiven Gedächtnis der Rezipienten abgespeicherte Heimkehrsituationen können nicht auf die vorliegende Konstellation angewendet werden. Der (schematische) Ver- lauf der Heimkehr (gezeigt anhand der durchgehenden Koppelung an das Ge- lächter) und Felix´ (schematisches) Handeln sind nicht kongruent. Felix´ Cha- rakterisierung lässt kaum Identifikation mit ihm zu, aber noch weniger gelingt dies bezüglich der ingroup. Die durch die Heimkehr bewirkte schonungslose Darstellung der Stadtbevölkerung, welche die österreichische Gesellschaft und damit auch die Rezipienten repräsentiert, zeigt verdrängte Kontinuitäten und unbequeme Wahrheiten, dies bewirkt Proteste und Widerstände.153 In diesen Besonderheiten mag auch die Ablehnung begründet sein, die der Roman nach seinem Erscheinen hervorrief. Die traditionelle Heimatliteratur war erfolgreich, weil sie den von der Leserschaft in sie gesetzten Erwartungen ent- sprach. Die Handlungsverläufe waren schematisiert, die handelnden Personen eindeutig definiert und die Grenzen zwischen Gut und Böse genau gezogen. „Fasching“ hingegen ließ sich nicht einordnen, enttäuschte die Erwartungshal- tungen, überforderte durch seine Struktur und provozierte durch die Thematik.

Wie Jauß in seinen Überlegungen zu einer rezeptionsästhetischen Grundle- gung der Literaturgeschichte bemerkt hat, weckt jede Rezeption eines neuen Werkes Erinnerungen an schon Gelesenes und evoziert durch vertraute Merk- male oder implizite Hinweise Erwartungen an den weiteren Handlungsverlauf. Das Vorwissen des Lesers präformiert den Erwartungshorizont, der an das neue Werk gesetzt wird. Das neue Werk kann die Erwartungen erfüllen, es kann aber auch zu einer Variation oder Korrektur der durch Gattungs- Stil- oder Formkonventionen geprägten Annahmen kommen.154 Jauß erwähnt als Beispiel dafür „Don Quijote“ von Cervantes. In diesem Werk wird der Erwartungshori-

153 Interessanterweise ist auch Johann Unfreund, die Hauptfigur in Hans Leberts „Die Wolfs- haut“, ein Heimkehrer. 154 Vgl. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Wilhelm Fink 1975, S. 126 – 162, S. 131 – 132. 52 zont der beliebten und weit verbreiteten Ritterromane evoziert und in weiterer Folge parodiert.155

Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwar- tungshorizont und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstma- lig ausgesprochener Erfahrungen einen ´Horizontwandel` zur Folge haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum der Reaktionen des Publikums und des Urteils der Kritik (spontaner Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, all- mähliches oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständli- chen.156

Bei einer sehr großen ästhetischen Distanz kann es sehr lange dauern, bis das Werk in den Erwartungshorizont des Publikums eingegangen ist. Werke mit ge- ringer ästhetischer Distanz werden unverzüglich von einer breiten Leserschicht akzeptiert. „Fasching“ war seiner Zeit voraus beziehungsweise waren Publikum und Kritik leider noch nicht in den 1960er Jahren angekommen. Man erwartete sich eine Fortsetzung des zehn Jahre zuvor erschienenen Romans „Moos auf den Steinen“. Sowohl in inhaltlicher, als auch formaler Hinsicht, dies gilt auch besonders für das Heimkehrmotiv, sprengte „Fasching“ die bisher herrschenden Grenzen. Die innovative Verwendung des Motivs bedeutete vor dem Hinter- grund traditioneller Heimatliteratur und in Anbetracht des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit einen radikalen Bruch mit den bisherigen literarischen Konventionen, durch die komplexe formale Struktur wurde die in- haltliche Negation der gewohnten Erfahrungen verstärkt. Erst Jahre später konnte „Fasching“ unvoreingenommen rezipiert und in seiner Bedeutung für die österreichische Literatur erkannt werden. Der Erwartungshorizont des Publi- kums hatte sich verändert, „Fasching“ wurde zu einem Teil des literarischen Kanons. Jauß meint, dass die ästhetische Distanz „in dem Maße verschwinden kann, wie die ursprüngliche Negativität des Werkes zur Selbstverständlichkeit geworden und selbst als nunmehr vertraute Erwartung in den Horizont künftiger ästhetischer Erfahrung eingegangen ist.157 Dass die Diskussion über den Ro- man noch immer anhält, etwa in Bezug auf die Bewertung der Hauptfigur, und

155 Vgl. Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 132. 156 Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 133. 157 A. a. O., S. 134. 53 um neue Aspekte (Sexualität) erweitert wird, spricht für dessen große ästheti- sche Distanz. In den 1970er Jahren avancierte die Anti-Heimat-Literatur zum wichtigsten literarischen Genre in Österreich, „Fasching“ muss als Wegbereiter dieser Entwicklung gesehen, als einer der ersten Romane in der „literarischen Reihe“ (Jauß) dieses Genres. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit einem Werk des renommiertesten Anti- Heimat-Dichters der oben genannten Zeitspanne.

7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein.“ – „Der Emporkömmling“ von Franz In- nerhofer

7.1 Teil vier einer Trilogie?

Nachdem Franz Innerhofer mit der „Wucht der Authentizität“158 seines Debüts „Schöne Tage“ (1974) einen unerwartet großen Erfolg verbuchen konnte, war der Erwartungsdruck seitens der Kritik, seine weiteren Veröffentlichungen betreffend, sehr groß. Es folgten „Schattseite“ (1975) und „Die großen Wörter“ (1977). Den hohen Erwartungen konnte Innerhofer nicht gerecht werden, von Werk zu Werk mehrten sich kritische Stimmen und negative Rezensionen. In seinen ersten drei Romanen zeichnet Innerhofer den Weg des Protagonisten Holl vom Leibeigenen auf dem „Bauern-KZ“ seines Vaters über seine Lehre und Übersiedlung in die Stadt bis hin zum Studium an der Universität nach. Der Weg heraus aus der Enge der bäuerlichen Unterdrückung hin zum Intellektuel- len gestaltet sich äußerst schwierig und ist von Rückschlägen begleitet. Im letz- ten der drei Romane kommt die Enttäuschung in besonders klarer Form zum Ausdruck. Auch die Welt der Wissenschaft, der universitäre Betrieb, lassen den

158 Greiner, Ulrich: Ein Alleingang, der Größe hat: „Schöne Tage“, „Schattseite“ und „Die großen Wörter“. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits, Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979, S. 108 – 121, S. 113. 54

Suchenden nicht fündig werden. Holl wird auch in der Stadt, in der Welt des Geistes und der Kultur nicht heimisch. Innerhofers Werk wird tendenziell auf seine ersten drei Romane reduziert, wo- bei auch hier auf ein fallendes erzählerisches Niveau verwiesen wird. „Schöne Tage“, „Schattseite“ und „Die großen Wörter“ werden als „(Holl-)Trilogie“ be- zeichnet. Das restliche Werk Innerhofers stieß bei der Kritik, wie auch bei der Leserschaft, nur mehr auf geringe Zustimmung. Franz Innerhofer wurde von der Literaturkritik und den Medien genauso schnell fallengelassen wie er hochgeju- belt worden war. Dass ihm in seinen späten Jahren oft mit einer gewissen Vor- eingenommenheit begegnet wurde, ist, auch wenn die wechselhafte Qualität seiner Werke außer Frage steht, bedauerlich. Des Weiteren zu bedauern ist die teilweise äußerst schlampige und oberflächliche Weise, in welcher bisweilen Tatsachen verdreht werden. So wird in der Zeitschrift Wespennest behauptet, „Die großen Wörter“ sei in der ersten Person geschrieben159, an anderer Stelle heißt der Protagonist von „Der Emporkömmling“ Karl Lambrecht160, ein Rezen- sent behauptet, dieser Lambrecht kehre auf den Hof seines Vaters zurück, wäh- rend es sich um das Haus der Mutter und seines Stiefvaters handelt. Schrott verzichtet von vornherein darauf, sich in dieser Angelegenheit festzulegen und zieht beide Varianten in Erwägung, obwohl sie ihre Arbeit zum Thema der Funktion der Schauplätze bei Franz Innerhofer verfasst hat.161 In diesem Sinne soll mit der nachfolgenden Analyse der Erzählung „Der Empor- kömmling“ der Versuch einer Neubewertung vorgenommen werden, wie sie sich Zier wünscht: „Aber vielleicht wird eine neue Generation von Kritikern und Literaturwissenschaftlern sich einmal unvoreingenommen dieses Teils des lite- rarischen Werkes von Franz Innerhofer annehmen und zu anderen Sichtweisen und Einschätzungen gelangen.“162

159 Vgl. Freund, Jutta: Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. In: Wespennest 53 (1983), S. 43 – 44, S. 43. 160 Vgl. Schwarz, Waltraut: Franz Innerhofer – Das Ende einer Anklage. In: Zeman, Herbert (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880 – 1980). Teil 2. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 1167 – 1183, S. 1175. 161 Vgl. Görtz, Franz Josef: Odyssee oder Holzweg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.10.1982, S. 26, sowie Schrott, Regine: Auf der Suche nach Heimat. Die Funktion der Schau- plätze bei Franz Innerhofer. Wien: phil. Dipl. 1995, S. 136 – 137. 162 Zier, O. P.: Im Kampf mit dem Wort um das Wort. Frank Tichys Innerhofer-Biografie. In: http://www.biblio.at/rezensionen/details.php3?mednr%5B0%5D=luk2004606&anzahl=1, 31.7.2007. 55

Bei näherer Beschäftigung mit Innerhofers Schaffen steht außer Frage, dass „Der Emporkömmling“ als Fortsetzung der vorangehenden Trilogie gelesen werden muss, da die Erzählung auch explizit darauf Bezug nimmt. Eckhart Prahl analysiert die Holl-Trilogie und weist auf die Fortsetzung durch Innerho- fers Erzählung „Der Emporkömmling“ hin, ohne diese jedoch in seine Analyse mit einzubeziehen.163 Auch Johannes Birgfeld, dessen Arbeit aus dem Jahr 2002 den bisherigen Endpunkt der Innerhoferforschung markiert, bemerkt diese Engführung aufgrund der beinahe ausschließlichen Konzentration auf die ersten drei Romane, was ihn nicht davon abhält, sich in weiterer Folge gleichfalls nur mit der Trilogie zu beschäftigen.164 Waltraut Schwarz spricht unter Einbezie- hung der Erzählung „Der Emporkömmling“ davon, dass diese „Tetralogie ein autobiographischer Bildungs- und Entwicklungsroman ist.“165 Regine Schrott bezieht in ihre Arbeit zur Funktion der Schauplätze bei Innerhofer auch den „Emporkömmling“ sowie den letzten großes Roman „Um die Wette leben“ (1993) mit ein und spricht folgerichtig von einer autobiographischen Penta- logie.166

In Innerhofers viertem längerem Prosawerk findet eine Rückorientierung in die Heimat, beziehungsweise in die Welt der Arbeiter, statt. Der Protagonist Hans Peter Lambrecht hofft, durch eine Rückkehr zu seinen Wurzeln zu sich selbst finden zu können. Als biographischer Zwilling Holls erzählt nun Lambrecht in der Ich-Form auf 130 Seiten von seiner Rückkehr in das Haus der Kindheit und die Welt der Arbeiter. Der abermalige Wechsel der Erzählperspektive von der dritten Person in „Die großen Wörter“ zur ersten Person mag analog zum sel- ben Wechsel von „Schöne Tage“ zu „Schattseite“ begründet sein: „Das Ich hat sich herausgearbeitet, und nun muß es sich auch präsentieren: als Ich.“167 So wie Holl in „Schattseite“ der väterlichen Zwangsherrschaft auf Hof 48 entflieht,

163 Vgl. Prahl 1993, S. 81 – 95. 164 Vgl. Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit ei- ner Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt/Main: Peter Lang 2002, S. 9. 165 Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1177. 166 Vgl. Schrott 1995, S. 169. 167 Lüdke, Martin W.: Franz Innerhofer. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegen- wartsliteratur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik 1987ff. 45. Nachlieferung 1993, S. 1 – 9, S. 5. 56 bewältigt Lambrecht seine Krise durch eine Rückkehr aufs Land und findet, zu- mindest zwischenzeitlich, wieder zu sich selbst. „Der Emporkömmling“ wurde überwiegend negativ rezensiert, fast immer auch an seinen Vorgängerwerken gemessen und als minderwertig eingestuft. Am Positivsten äußerst sich Michael Skasa: „Innerhofers ´Emporkömmling` ist ein schön und aufregend ehrlicher Bericht [...] [i]n warmen, leuchtenden Bildern und in genauer Sprache, so fremd und schön wie irgendeine angegilbte Erzählung Kafkas, und doch spürt man, daß jedes Wort die heutige Wirklichkeit be- schreibt...“168 Vorsichtig wohlwollend das Urteil in den Salzburger Nachrichten: „Franz Inner- hofer hat wieder Tritt gefaßt, es ist wieder mit ihm zu rechnen.“169 Der Rest der Rezensionen, von denen nur einige hier wiedergegeben werden können, kann der Erzählung wenig bis gar nichts Positives abgewinnen. Freund bedauert, die Erzählung sei „allzu peripher und gelegentlich ohne Belang“170, vernichtend fällt Janetscheks Kritik aus, er bemängelt die „Plumpheit des sprachlichen Aus- drucks“171, die oft nicht „einer unfreiwilligen Komik“172 entbehre, die Erzählung bleibe im „sprachlich Verschwommenen“173 und wirke „demgemäß wenig glaub- haft“174, er rät Innerhofer „mit neuen Veröffentlichungen zuzuwarten, bis er sich wieder im Vollbesitz seiner sprachlichen Ausdruckskraft befindet.“175 Für Fetzer stellt sich die Frage, ob alles so ernst gemeint ist, oder ob es sich um eine zyni- sche Karikatur einer Bildungsgeschichte, wie sie die vorhergehenden Romane waren, handelt. Die Herrschaft über die Sprache hat Innerhofer, seiner Meinung nach, jedenfalls verloren.176 Ganz anderer Meinung ist Görtz, der sicher ist, dass alles „unglaublich zynisch – und unglaublich naiv zugleich [...] tatsächlich

168 Skasa, Michael: Nachrichten von Stirn und Faust. Franz Innerhofers Rückkehr zu den Arbei- tern. In: Süddeutsche Zeitung 285 (1982), o. S. 169 Thuswaldner, Werner: Leben Arbeiter das wahre Leben? Franz Innerhofers Erzählung „Der Emporkömmling“ erschienen im Residenz Verlag, Salzburg. In: Salzburger Nachrichten 11.12.1982, S. 27. 170 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 44. 171 Janetschek, Albert: Franz Innerhofer. Der Emporkömmling. In: Literatur und Kritik 181/182 (1984), S. 81 – 82, S. 82. 172 A. a. O. 173 A. a. O., S. 81. 174 A. a. O. 175 A. a. O., S. 82 176 Fetzer, Günther: Die Herrschaft über die Sprache verloren. In: Mannheimer Morgen 26.11.1982, o. S. 57 so gemeint war und verstanden werden will“177, jedenfalls sollte sich Innerhofer „nach diesem Buch mit dem Schreiben viel Zeit lassen.“178 Von Matt kritisiert vor allem die verfälschende Pauschalerhöhung des Arbeiterstandes und die gleichzeitige Abwertung der Intellektuellen.179 Solms fragt in seiner Gegenüber- stellung von „Schöne Tage“ und „Der Emporkömmling“, ob Innerhofer in letzte- rem Werk nicht eine zu unkritische Stellung zur Arbeitswelt bezieht bezie- hungsweise ob die Erzählung nicht eigentlich schon ein Heimatroman eines ehemaligen Anti-Heimat-Autors ist?180 Das folgende Kapitel soll auch zur Klärung dieser Frage verhelfen.

7.2 Heimkehr als letzter Ausweg

Die Erzählung betrachtet rückblickend die Geschichte einer Heimkehr auf Zeit. Hans-Peter Lambrecht selbst berichtet über sein Unterfangen, in sein ange- stammtes Milieu zurückzukehren. Im linearen Handlungsverlauf nimmt das Heimkehrmotiv eine strukturierende Funktion ein. Die Heimkehr als ein Situati- onsmotiv unterteilt die Erzählung in ein Vorher und Nachher, verknüpft aber auch diese beiden Handlungsstränge. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Schil- derung der Ereignisse nach der Heimkehr. Warum die Zeit davor nicht berück- sichtigt wird, liegt einerseits in Innerhofers vorher veröffentlichten Werken, an- dererseits in den Charakteristiken des Genres begründet. Die „Holl-Trilogie“ schildert genau diese Periode von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter, Anti-Heimat-Literatur konzentriert sich auf die Darstellung der Heimat. Die Beweggründe für das Verlassen von Stadt und Universität werden aber in der Erzählung angeführt. Es ist eine schwere Identitätskrise, die Lambrecht zum Entschluss bringt, sich wieder als Arbeiter zu versuchen. Kontrastiv stehen ein- ander die negative Darstellung der Studienzeit („Selbst das Gebäude der Arbei- termittelschule hatte ich wenigstens noch gehaßt, aber von den Gebäuden der Universität, die ich mit ungeheurem Interesse betreten hatte, blieb nichts zu-

177 Görtz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.10.1982, S. 26. 178 A. a. O. 179 Matt, Beatrice von: Rückkehr zu den Arbeitern. Franz Innerhofers neuer Roman. In: Neue Zürcher Zeitung 8.12.1982, S. 39. 180 Vgl. Solms, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 178. 58 rück. Keine Reue, kein Haß, kein Bedauern.“181) und die hoffnungsfrohe Projek- tion auf das Arbeitsleben gegenüber („Du mußt dir deine Hände zurückerobern. Die Hände sind dein Ausweg. Nur über sie kannst du vielleicht zu dir finden.“182). Diese beiden Pole stehen auch in Verbindung mit den Gegen- satzpaaren Begrenzung und Freiheit. Der Student Lambrecht denkt in seinem bis „zum Ersticken vollgeräumt[en]“183 winzigen Studentenheimzimmer an „Tod, Untergang und Selbstmordvorhaben“184, während der Arbeiter Lambrecht nach einer kurzen Arbeitsperiode resümieren kann: „Es ging mir inzwischen schon so gut, daß ich mich einen glücklichen Menschen nennen durfte.“185 Somit ist der Entschluss zur Heimkehr als einer Möglichkeit zur Findung beziehungsweise Wiederfindung der eigenen Identität schlüssig begründet. Die Heimkehr präsen- tiert sich hier als eine spannungsgeladene, existentielle Grundsituation, die in dieser oder ähnlicher Form im Gedächtnis der Rezipienten verankert ist und dementsprechende Assoziationen evoziert. Darauf nimmt auch Lambrecht Be- zug, wenn er den Vergleich mit Homers Helden strapaziert:

Die geistige Odyssee eines Arbeiters lag vor mir ausgebreitet. Eine ungeheure Müdigkeit überkam mich, wenn ich an die Naivität, den Eifer und die viele Zeit dachte, die ich aufgewandt hatte, um die Ge- heimnisse der Geisteswissenschaft aufzuspüren. [...] Über sieben Jahre hatte diese Odyssee gedauert. Über sieben Jahre hatte ich gebraucht, um herauszufinden, daß ich einem aufwendigen Leichen- begängnis gefolgt war.186

Auch das Motiv des verlorenen Sohnes, der mittellos in den Schoß der Familie zurückkehrt, klingt hier an, die weitere Entwicklung bricht jedoch mit dem klas- sischen Motivverlauf. Lambrechts Heimkehr folgt einem anderen Schema, das zugleich auch die Hoffnungen, die mit dem Entschluss zur Heimkehr verbunden waren, zerstört. Die Heimkehr vollzieht sich auf mehreren Ebenen: es kommt zu einem Wiedersehen mit der Familie, zu der Lambrecht vor etlichen Jahren alle Kontakte abgebrochen hat, Lambrecht wird konfrontiert mit der Dorfgemein-

181 Innerhofer, Franz: Der Emporkömmling. Salzburg: Residenz 1982, S. 14. Im Folgenden zi- tiert als DE. 182 DE, S. 9. 183 DE, S. 12. 184 DE, S. 10. 185 DE, S. 68. 186 DE, S. 23 – 24. 59 schaft, die ihn als Fremden betrachtet, und nicht zuletzt steht der Protagonist vor der Herausforderung, wieder im Arbeitsleben Fuß zu fassen. Zu keinem der drei Milieus hat Lambrecht eine besondere Beziehung. Durch den langen Zeit- raum der Abwesenheit veränderten sich naturgemäß die Verhältnisse. Der Heimkehrer befindet sich weniger in der Rolle eines verlorenen Sohnes, als vielmehr in der eines fremden Neuankömmlings. Die Schilderung der Veränderungen sind fester Bestandteil der Heimkehrsze- nen in Familie und Dorf. Der Heimkehr kommt auch hier wieder eine kontrastie- rende Funktion zu. Aus der Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Heimat der Kindheit und Heimat der Jetztzeit resultieren konflikthafte Situatio- nen. Denn eine Heimkehr ist stets verbunden mit Erinnerungen an die vergan- gene Zeit, diese sind zusätzlich oft sentimental eingefärbt. Die Heimkehr vermit- telt somit auch zwischen Illusion und Realität. Veränderungen einerseits und ein erweiterter Erfahrungshorizont des Heimkehrers, der einen kritischeren Blick auf die vorgefundenen Verhältnisse bedingt, andererseits, stellen den Heimkeh- rer vor eine große Herausforderung. Das Haus der Kindheit hat sich verändert: „Ich sah mich um, aber ich entdeckte tatsächlich nichts, was mich an früher er- innerte. Es kam mir vor, als hätte ich irgendwo auf dem Land ein Fremdenzim- mer betreten. [...] Vertraut waren mir lediglich die Sachen, die ich mitgebracht hatte.“187 Ebenso misslingt der Versuch, sich in die Familie zu integrieren, Kom- munikationsversuche scheitern, der Stiefvater schwelgt lieber in Erinnerungen an seine nationalsozialistische Vergangenheit.

Freilich wußten auch sie nichts mit mir anzufangen. [...] Wie ich rede- te und dachte, ließ sich nicht mehr mit dem einst braven und tüchti- gen Arbeiter in Verbindung bringen. Viel näher lag es, mich für einen grundlos unzufriedenen Studenten oder sonst einen Unruhestifter zu halten. Eine unberechenbare Existenz jedenfalls.188

Lambrecht wird nicht als Arbeiter gesehen, sondern weiterhin als der Student, der er nicht mehr sein will. Analog dazu betont die Heimkehr in das Dorf die Gegensätze, der Ort der Kindheit ist nicht mehr auffindbar, denn sämtliche „öf- fentlichen Anstrengungen galten dem Tourismus und dem Schmücken der

187 DE, S. 57. 188 DE, S. 33 – 34. 60

Landschaft, deren Verkauf den Gemeinden viel Geld brachte.“189 Die Heimkehr nimmt einen Verlauf, wie er sich in Innerhofers drittem Roman abgezeichnet hat. Darin findet sich eine Passage, die genau diese Entwicklung voraussagt:

Die Milieuwechsler waren ganz auf sich selber angewiesen. Kehrte eine oder einer gebrochen zu seinem Ausgangsort zurück, lief sofort alles zusammen und verbreitete die Nachricht, daß die oder der ge- scheitert sei. Hörte Holl von solch einem Fall, wurde er jedesmal wü- tend, tobte und schwor sich, eher würde er jämmerlich in der Rede- welt verenden, als nur mit einem Schritt in sein früheres Milieu zu- rückkehren.190

In diesem Zitat zeigt sich auch deutlich die Rolle des Heimkehrers in der Hei- matliteratur. Das Scheitern in der Fremde macht den Rückkehrer zum Außen- seiter. Der Verlauf der Heimkehr entspricht der Motivgestaltung in der traditio- nellen Heimatliteratur. Die Heimkehr offenbart die Gräben zwischen ingroup und outgroup. Die Vorstellung, die Welt der Kindheit vorzufinden, erweist sich als Utopie und so bleibt nur ein frühes, resigniertes Resümee: „Von einer Heimkehr konnte je- denfalls nicht die Rede sein.“191 Die Heimkehr löst hier einen Prozess aus, der eine Integration von Beginn an nicht zulässt. Im Gegensatz zur Motivverwen- dung in der Heimatliteratur, liegen die Gründe dafür jedoch nicht beim Heimkeh- rer, denn Lambrecht erscheint keineswegs als negative Figur, sondern bei der ingroup begründet. Der Kontrast zwischen in- und outgroup und die daraus re- sultierende Unmöglichkeit der Annäherung zeigt sich sehr gut am Verhältnis Lambrechts zu seinem Bruder. Schon das erste Wiedersehen nach langen Jah- ren am Arbeitsplatz des Bruders, die erste Wiedersehensszene der Erzählung, verweist auf kommende Verständigungsprobleme. Im Lärm der Maschinen schreien sich die beiden an, trotzdem ist es unmöglich, sich zu verständigen und Lambrecht geht wieder.192 Der Bruder verkörpert das Gegenbild Lam- brechts, er ist der, der Lambrecht sein will, aber nie sein kann: ein fleißiger Ar- beiter, ins Dorfleben integriert. Im Gegensatz zu früher bewundert Lambrecht

189 DE, S. 59. 190 Innerhofer, Franz: Die großen Wörter. München: dtv 1994, S. 53. 191 DE, S. 56. 192 Vgl. DE, S. 17. 61 seinen Bruder und kann sich auch mit dessen früher abgelehnter Einstellung identifizieren:

Ich ließ schließlich von dem Gespräch ab, als Hermann sagte, er könne nur arbeiten, solange er nicht über alles nachdenke. Dieser Satz war deutlich genug. Und diesen Satz wurde ich nicht wieder los. [...] Wahrscheinlich hatte ich schon seit Jahren keinen so deutlichen Satz mehr gehört, er gefiel mir. Er fing sogar an, mich zu faszinieren, denn er schloß die Arbeiter nicht vom Denken aus.193

Andererseits verkörpert Hermann aber auch eine für Lambrecht unverständliche Einstellung:

Es gab da jene von Studenten und Intellektuellen vergeblich be- kämpfte Zeitung, die er zu meinem Entsetzen ziemlich regelmäßig kaufte. [...] Immer lag diese großformatige, machthaberische Zeitung in den engen Behausungen herum. Sie paßte so gar nicht zu mei- nem Bruder. Er war das Gegenteil von aufgeblasen, machtsüchtig und böswillig.194

Hier zeigt sich die Aporie von Lambrechts Heimkehr. Er hat sich durch die Zeit in der Fremde andere Einstellungen angeeignet, seinen Horizont erweitert, die Fähigkeit zu kritischer Reflexion erworben. Dieser Prozess kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. In diesem Spannungsfeld präsentiert sich auch die Heimkehr in das Arbeitermilieu. Das Motiv übernimmt hier eine vermittelnde Funktion. Angesichts des Scheiterns auf den anderen Handlungsebenen bietet die Arbeitswelt die letzte Chance, Heimat und Identität zu finden. Lambrecht tendiert zu einer idyllisierenden Betrachtung des Milieus, die Arbeiter werden stellenweise heroisiert: „Da waren Arbeiter darunter, die so ungeheure Leistun- gen erbrachten, daß mir vorkam, ein böser Traum sei über sie hergefallen und habe sie in das 19. Jahrhundert versetzt.“195 Aus der Sicht eines verzweifelten Menschen mag diese Strategie verständlich erscheinen, dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Lambrecht hier unglaubwürdig wirkt. Anfangs scheint sich der Misserfolg auch auf dieser Ebene nach dem schon beschriebe- nen Muster zu prolongieren. Lambrecht muss feststellen, dass auch die Arbeiter

193 DE, S. 30 – 31. 194 DE, S. 78 – 79. 195 DE, S. 77. 62

„unzugänglich, unansprechbar [...] [a]ngetrieben von Gier und Mißtrauen“196 an- einander vorbei leben, und sich ihm gegenüber „kühl, mißtraurisch und gering- schätzig“197 verhalten. Es gelingt ihm jedoch funktionierende Beziehungen zu einigen Arbeitskollegen aufzubauen und Teil der ingroup zu werden: „Nein, dar- auf waren wir nicht vorbereitet. [...] Keinem von uns wäre es in den Sinn ge- kommen, daß wir es zu aufregenden Unterhaltungen bringen würden.“198 Die Heimkehr setzt hier einen anderen Verlauf in Gang, der Lambrechts Sonderstel- lung als arbeitender Intellektueller, beziehungsweise intellektueller Arbeiter spiegelt. Auf längere Sicht hat jedoch eine Lösung dieser Situation zu erfolgen und hier geht das Heimkehr- in das Fluchtmotiv über:

Während etlicher Monate waren wir ohne Fernseher ausgekommen. Während etlicher Monate wußten wir uns selber zu unterhalten. Wenn ich jetzt abends zu unserer Baracke zurückging, war nach dem Eintritt oft mein erster Handgriff, daß ich den Fernsehapparat einschaltete. [...] Das kam von den Wiederholungen, die uns Tag für Tag kreuzigten. Einziges Mittel dagegen: aufstehen und weggehen! So dachte ich jedenfalls in der Früh.199

Dieser Konflikt zwischen Heimkehr und Flucht wird durch ein abermaliges Ver- lassen der Heimat vorerst bereinigt. Lambrecht nützt die Möglichkeit, durch ei- nen Förderungspreis an seiner Karriere als Schriftsteller zu arbeiten und in die Stadt zurückzukehren, die Heimkehr kann als gescheitert bezeichnet werden. „Gelöst war freilich nichts“200, reflektiert denn auch der abermalige Milieuwechs- ler vor seiner Rückkehr in eine ungewisse Zukunft. Das Thema Heimat- und Identitätssuche wird fortgesetzt, symptomatisch dafür ist, dass sich Lambrecht auf der Rückreise, weil er sich dort geborgen fühlt, lange am Bahnhof, einem anonymen und dezentralen Ort der Heimatlosen, Abreisenden und Heimkehrer, aufhält.201

196 DE, S. 48. 197 DE, S. 76. 198 DE, S. 63. 199 DE, S. 116. 200 DE, S. 117. 201 Vgl. DE, S. 121. 63

Nach einer Analyse, die sich vorwiegend auf die erzähltechnische und struktu- relle Funktion des Heimkehrmotivs konzentriert hat, soll das folgende Resümee auch eine inhaltliche Interpretation beinhalten, da Motive nicht nur strukturelle, sondern auch inhaltliche Elemente sind und die inhaltliche Komponente in Be- zug auf die Verortung im Genre der Anti-Heimat-Literatur von Bedeutung ist. Das Leben als Werksstudent in der Fabrik war nur eine Übergangsphase im Leben Holls beziehungsweise Lambrechts. Abschließend muss die Rückkehr als gescheitert betrachtet werden: „Ein Versuch der Scheitern muß, denn ein- mal in Gang gekommen, läßt sich wohl ein solcher Bewußtseinsprozeß, den der Protagonist vom Arbeiter zum Intellektuellen durchlebte, kaum mehr rückgängig machen. Trotzdem startet er den aussichtslosen Versuch.“202

Zweifelsohne gelingt es Lambrecht, seine Identitätskrise vorläufig zu bewälti- gen, dabei idealisiert er jedoch die Arbeitswelt und sieht über bedauerliche Ar- beitsbedingungen hinweg. Das System, das die Arbeiter im Akkord ausnützt und sie zu einem Leben in Baracken zwingt, stellt die Erzählung leider nie in Frage. Trotz des teilweisen Entwurfs einer Sozialutopie der Arbeitswelt über- wiegen bei einer genauen Analyse die negativen Schilderungen. Oft nur ange- deutet, muss man oft zweimal hinsehen, um die Details in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Die Analyse von Lambrechts Heimkehr ergibt ein ambivalentes Bild. Die Arbeit verhilft Lambrecht anfangs zur Überwindung seiner schweren persönlichen Kri- se. Allerdings weicht mit fortschreitender Dauer die anfängliche Euphorie der Ernüchterung. Die aktive Kommunikation mit den Kollegen wird durch passives Fernsehen ersetzt. Das Dorf und das elterliche Haus haben sich verändert. Der Ort der Kindheit, als einer der wenigen Orte, die Heimat vermitteln können, er- füllt im Falle Lambrechts diese Aufgabe nicht. Auch die nötigen sozialen Inter- aktionen beziehungsweise die Identitätsbildung in der Gruppe, wie bei Bastian und Greverus angeführt, kommen nicht zustande. „Der Emporkömmling“ ist die Erzählung einer Heimkehr, die sich sehr nahe an der Hauptfigur orientiert, was durch die Ich-Erzählform und die zahlreichen Reflexionen Lambrechts unterstri- chen wird. Das Heimkehrmotiv wird nicht entsprechend der klassischen Ver-

202 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 43. 64 wendungsweise eingesetzt. So fehlt etwa die Geschlossenheit der Darstellung, das Ende der Erzählung ist offen. Auch die Zeit in der Fremde wird nur ansatz- weise skizziert, der Focus liegt auf der Schilderung der Situation nach der Heimkehr. Durch die Heimkehr entsteht eine Situation, die auch den durchaus kritischen Blick auf die Heimat mit ihren Veränderungen ermöglicht. Lambrecht resigniert und verdrängt, anstelle sich aktiv mit den durch die Heimkehr aufge- worfenen Problemen auseinanderzusetzen. Er bleibt ein klassischer Außensei- ter. Seine Reintegration gelingt nur zum Teil im Falle der Arbeiterschaft, aber auch dort nimmt er in seiner Rolle als Werksstudent eine Sonderposition ein. Bezug nehmend auf die Unterscheidung, die Daemmrich/Daemmrich hinsicht- lich der Verwendung des Heimkehrmotivs getroffen haben, muss festgestellt werden, dass sich die Erzählung zwischen beiden Polen bewegt, wobei im Lau- fe der Erzählung die negative Variante immer stärker zum Ausdruck kommt. Die Frage, die Wilhelm Solms gestellt hat, mag durchaus berechtigt erscheinen, ist jedoch klar zu beantworten, auch weil Solms´ Argumentation sehr dünn, und sein Resümee, dass die Entwicklung Innerhofers ein Niedergang sei, nicht nachvollziehbar ist.203 Die Geschichte Lambrechts ist eine maßgebliche Ergän- zung der Holl-Trilogie. Selbstverständlich ist die Erzählung in ihrer Drastik und Negativität weit von Innerhofers Debüt entfernt, die Schilderung der Heimat er- folgt, wie anhand der Textstellen ausführlich bewiesen, ambivalent, jedoch ten- denziell, trotz einer bisweilen ausgeprägten Verklärung der Arbeitswelt, kritisch bis negativ. Innerhofer thematisiert den noch immer nicht ausgestorbenen Geist des Nationalsozialismus, er weist auf die negativen Auswirkungen des Touris- mus in ländlichen Gebieten hin. Damit steht die Erzählung zwischen den Pha- sen zwei und drei nach Robert Menasse. Durch das Motiv der Heimkehr wird eine externe Sichtweise auf die Heimat ermöglicht. Die Heimkehr selbst zeigt versöhnliche aber auch resignative Züge. Die Erwartungen des Heimkehrers werden nicht völlig erfüllt, in Familie und Dorf bleibt er ein Außenseiter. Heimat findet er nicht, er geht zurück in die Stadt, weiterhin auf der Suche nach sich selbst. Heimatroman ist „Der Emporkömmling“ definitiv keiner, vielmehr eine fa- cettenreiche, leider stellenweise unreflektierte, Erzählung aus der Anti-Heimat, die es verdient, intensiver als nur oberflächlich gelesen zu werden.

203 Vgl. Birgfeld 2002, S. 26. 65

Wenn Schwarz in Bezug auf Innerhofers Tetralogie anmerkt, dass „kein anderer österreichischer Gegenwartsautor – anklagend, Sinn suchend und verstehend – ein so vielseitiges Bild der sozialen österreichischen Wirklichkeit in Stadt und Land gezeichnet hat...“204, so befindet sie sich auf einer Linie mit Robert Menasse, der den Informationswert der Anti-Heimat-Literatur, bezüglich der kul- turellen und gesellschaftlichen Realität, über jenen von soziologischen Untersu- chungen gestellt hat. Diese Tatsache ist als weiterer Beweis für die Zugehörig- keit von Innerhofers Erzählung zum Genre der Anti-Heimat-Literatur zu werten.

8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von Robert Menasse

8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman

Menasses Thesen zur österreichischen Literatur, im Speziellen zum Anti- Heimat-Roman, wurden im Rahmen dieser Arbeit bereits vorgestellt. Mit „Schubumkehr“ (1995) hat der Schriftsteller Menasse einen Roman verfasst, der, unter anderem, die Thesen des Literaturwissenschafters Menasse in die literarische Praxis umsetzt. „Schubumkehr“ bildet den Abschluss der „Trilogie der Entgeisterung“, die Menasse als Gegenentwurf zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) verfasst hatte. Vor „Schubumkehr“ erschienen „Sinnliche Gewissheit“ (1989) und „Selige Zeiten, brüchige Welt“ (1991).205 In der Trilogie wird die Ansicht vertreten, dass sich der Mensch seit Hegels absolutem Wissen rückentwickelt hat, hin zu einer Anschauung, die nichts mehr auszusagen ver- mag, was über das bloße Sein des Gegenstandes hinausgeht.

204 Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1180. 205 In „Sinnliche Gewißheit“ schreibt die Hauptfigur Leo Singer an einer „Phänomenologie der Entgeisterung“. Ein Essay mit dem gleichen Titel wurde von Menasse 1991 unter dem Pseudo- nym Leo Singer und 1995 unter seinem eigenen Namen publiziert. Insofern müsst man eigent- lich von einer vierbändigen Trilogie sprechen. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wis- sen. Die Roman Gilanian-Trilogie. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 264 – 284, S. 264 – 265. 66

Die drei Romane gehen den Weg des werdenden Wissens in umge- kehrter Richtung: vom absoluten, sich selbst denkenden Geist, der das Sein in seiner Totalität und den Zusammenhang aller Phänome- ne begreifen kann, über die beobachtende und handelnde Vernunft, das Selbstbewusstsein, zurück bis zum Bewusstsein, das – in der unmittelbaren sinnlichen Gewissheit verhaftet – nicht imstande ist, das Ganze zu erkennen und nur in Beziehung zu sich selbst steht. Der geistlose Zustand des sinnlichen Bewusstseins äußert sich in der unmittelbaren Erfahrung des hic et nunc.206

Mit „Schubumkehr“ habe Menasse einen „depressiven und witzigen Österreich- Roman“207 geschrieben, eine Geschichte, „die sich trotz oder wegen ihrer offen- sichtlichen Fiktionalität zu einem erschreckend realistischen Panorama nicht nur der österreichischen Gegenwart verdichtet“208, meinen die einen, während andere Kritiker nur eine Aneinanderreihung abgestandener Vorurteile sehen und das Etikett Anti-Heimat-Roman durchaus abwertend verwenden.209 Wenn Breitenstein in „Schubumkehr“ einen österreichischen Wenderoman sieht, so bezieht sich er dabei auch auf die Anti-Heimat-Literatur, die sich den Heraus- forderungen der Postmoderne anzupassen habe: „Ein Horizont schliesst sich, ein neuer geht auf: Über die Dörfer wird man nach diesem Buch auf- und abge- klärter schreiben müssen.“210 „Schubumkehr“ präsentiert sich als „Zitatenreigen der Literatur- und Philosophiegeschichte, der die auf die postmoderne Lust am Spiel versessenen Herzen höher schlagen [lässt], ohne dabei die lediglich an den vordergründig erzählten Geschichten interessierten Leser auch nur zu tan- gieren.“211 Diese Aussage fasst die Erkenntnis zusammen, die sich aus der Lektüre der zahlreichen Aufsätze, die bis dato zu „Schubumkehr“ erschienen sind, ergibt:

206 Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren. Geschich- te(n) in „Schubumkehr“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007, S. 213 – 225, S. 215. Vgl. auch Gerk, Andrea: Eine Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeis- terung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 37 – 49, S. 38. 207 Hoffmann-Ostenhoff, Georg: Heimkehr und Zerfall. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004, S. 166 – 169, S. 166. 208 Liessmann, Konrad Paul: Da muss es ja alles zerlegen. In: Der Standard (Beilage) 24.5.1995, S. 5. 209 Vgl. Heyl, Tobias: Camcorder und Tiefsinn. In: Der Falter (Beilage) 31.3.1995, S. 16. 210 Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer Wende- roman „Schubumkehr“. In: Neue Zürcher Zeitung 24.2.1995, S. 36. Die Formulierung „Über die Dörfer“ ist eine Anspielung auf das gleichnamige dramatische Gedicht von Peter Handke. 211 Holler, Verena: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur „Trilogie der Ent- geisterung“. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004, S. 27 – 58, S. 27. 67

Der Roman kann auf zwei unterschiedliche Arten gelesen werden. Zum einen im Kontext der „Trilogie der Entgeisterung“ als Teil einer geschichtsphilo- sophischen Auseinandersetzung auf Basis der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ und zum anderen als postmoderner Anti-Heimat-Roman ohne Ver- bindung zur Trilogie. Denn auch ohne die Fülle an Zitaten, die Menasse in „Schubumkehr“ in den Text eingebaut hat, zu erkennen (beispielsweise spre- chen die Komprechtser Kommunalpolitiker in Zitaten der österreichischen Polit- prominenz), erschließt sich ein Zugang zum Text. Dem Konzept dieser Arbeit entsprechend stehen bei der nachfolgenden Analyse die intertextuellen Bezüge und geschichtsphilosophischen Überlegungen im Hintergrund. In erster Linie er- folgt eine Konzentration auf das Heimkehrmotiv und den Bezug zur Anti- Heimat-Literatur.

8.2 Heimkehr als Regression

In „Schubumkehr“ ist kein erzählendes Subjekt mehr auszumachen. Erzählt wird aus zwei Perspektiven: zwei Kriminalbeamte betrachten und kommentie- ren Romans Videoaufnahmen, ohne sich einen Reim darauf machen zu kön- nen. Den Rest ergänzt eine auktoriale Erzählstimme. Der Roman als Endpunkt einer Entwicklung weg vom Geist, der das Sein in seiner Totalität und seinen Zusammenhängen begreift, stellt den Rezipienten vor die Aufgabe, Zusammenhänge selber erkennen zu müssen. Begründungen für Handlungen und Ereignisse werden nicht geboten, Zusammenhänge zeigen sich vorerst nicht. Die Geschichte der Heimkehr wird also nicht, wie bei Gerhard Fritsch, Franz Innerhofer und auch Peter Zimmermann in der Ich-Form erzählt, sondern auf die oben beschriebene Art. Somit kommt dem Heimkehrmotiv eine weit geringere Bedeutung zu, als in den anderen drei Werken.

In „Schubumkehr“ werden sieben Erzählstränge miteinander verknüpft, dem- entsprechend vielschichtig zeigt sich der Themenbereich: „Grün- Bewegung;Strukturpolitik; Arbeitslosigkeit; Irrsinnige; Literaturzitate; Aberglau-

68 ben; Zeugungen; Verzweiflungen; Versuche abzunehmen; Kindermorde; und so fort;“212 Unschwer zu erkennen ist Komprechts ein Symbol für Österreich, dessen Eigenheiten sich in der Dorfwelt wieder finden: „Das Österreich-Molekül Kom- prechts enthält: Österreichs verdrängten Faschismus; dessen Wiederkunft als mörderische Fremdenfeindlichkeit; die Selbstentfremdung Österreichs als tou- ristischer Konsumartikel; das Kasperltheater österreichischer Koalitionspoli- tik.“213 Der Multiperspektivität des Romans entsprechend gibt es kaum strukturierende Elemente. Auch das Heimkehrmotiv kann diese Funktion nicht übernehmen. Da die Geschichte Romans im Gesamtkontext nur eine von mehreren ist, der Heimkehrer also nicht im Zentrum der Handlung steht, wirkt sich das Heim- kehrmotiv auch nicht auf den gesamten Text aus. Auf den Roman in seiner Ge- samtheit bezogen, hat das Motiv bei weitem nicht die handlungsauslösende und -strukturierende Funktion wie bei Fritsch, Innerhofer und Zimmermann. Jedoch lassen sich, vor allem in Bezug auf Roman Gilanians Geschichte, durchaus we- sentliche erzähltechnische Funktionen erkennen, welche in Folge dargestellt werden sollen.

Die Mehrheit der oben angeführten Themen hat mit der Geschichte des 35- jährigen Literaturdozenten, der aus Brasilien zu seiner Mutter ins Waldviertel zurückkehrt, wenig zu tun. Romans Heimkehr bildet nur einen Teil des Romans. Der zweite Handlungsstrang dreht sich, als Ergebnis der Verflechtung mehrerer Erzählstränge, um das „strukturschwache“ Dorf Komprechts im tiefsten Wald- viertel, nahe an der tschechischen Grenze. Im Jahr 1989 steht Komprechts, aufgrund wirtschaftlicher Probleme, vor großen strukturellen Veränderungen: „Die Zeit drängte. So wie es war, konnte es nicht bleiben, so wie es gewesen war, konnte es nicht mehr werden. Es mußte etwas geschehen.“ 214 Was für Komprechts gilt, trifft auch auf Roman zu. Auch er befindet sich in einer krisen-

212 Aspetsberger, Friedbert: Schnitzler – Bernhard – Menasse. Der Umstandsmeier – Der An- geber – Der Entgeisterer. Wien: Sonderzahl 2003, S. 117 – 118. 213 Gollner, Helmut: Österreich-Molekül. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98 – 99, S. 99. 214 Menasse, Robert: Schubumkehr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 78. Im Folgenden zi- tiert als SU. 69 haften Situation. Die Beweggründe für die Heimkehr erschließen sich dem Le- ser jedoch nicht, was wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt, da der weite- re Handlungsverlauf nicht imaginiert werden kann. Eine typische Heimkehrsi- tuation ist gekennzeichnet von einer schlüssigen Begründung der Entscheidung zur Rückkehr, was im Falle von Romans Heimkehr nicht der Fall ist. Die Aus- gangssituation ist einigermaßen nachvollziehbar, die Krise des Protagonisten wird zwar exponiert, Begründung für den Entschluss zur Rückkehr gibt es je- doch keine, genauso wenig wie eine Darstellung der mit der Rückkehr verbun- denen Absichten und Ziele. Wohl weckt die Rückkehr zur Mutter kurz Assoziati- onen an das Motiv des Verlorenen Sohnes, in der (über-)freudigen Aufnahme durch die Mutter erschöpft sich die Ähnlichkeit jedoch wieder. Roman wird beim Gedanken an die Heimkehr von äußerst widersprüchlichen Gefühlen gequält. Einerseits verspürt er starke Abneigungen, zu seiner Mutter in die „[t]iefste Pro- vinz eines ohnehin schon zutiefst provinziellen Landes“215 zurückzukehren, an- dererseits plagt ihn auch ein Gefühl diffusen Heimwehs: „Heimweh, aussichts- loses Heimweh: Entwurzelung. Als wäre er erst jetzt, nach sieben Jahren Wegsein, in der Fremde angekommen.“216 Der überstürzte Aufbruch erinnert an eine Flucht, schlussendlich kann sich Roman seine Entscheidung selbst nicht erklären: „Daß er so plötzlich heimflog. Warum? Er dachte: Ich weiß es nicht. Wann kommst du wieder? Er dachte: Ich weiß es nicht. Bald!“217 Die Besonderheiten des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“ liegen in der Um- drehung herkömmlicher Motivverläufe begründet. Das Motiv strukturiert die Ge- schichte Roman Gilanians, indem es erstens seine Situation in der Fremde der Situation in der Heimat gegenüberstellt und zweitens die Kindheit mit der Ge- genwart vergleicht. Dem herkömmlichen Fokus des Motivs auf die Darstellung der Veränderungen entgegengesetzt, lässt sich in „Schubumkehr“ eine Ten- denz zur Parallelisierung erkennen. Die dritte Besonderheit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen ingroup und outgroup. Nachfolgend sollen diese Aspekte in der genannten Reihenfolge erörtert werden.

215 SU, S. 42. 216 SU, S. 43. 217 SU, S. 55. 70

Das Motiv der Heimkehr zieht einen Schnitt durch Romans Leben, indem die Zeit in Brasilien der Zeit in Österreich gegenübergestellt wird. Die Gegenüber- stellung zeigt jedoch keine Kontraste, sondern Kontinuitäten auf. Die Krise Ro- mans wird prolongiert. Die Heimkehr löst einen Handlungsverlauf aus, der die zunehmende Regression Romans zur Folge hat. Die Identitätskrise vor der Rückkehr manifestiert sich in Alpträumen, in denen Roman überfallen und nie- dergeschlagen und anschließend wie ein Fremder durch die Stadt irrt, sowie in der andeutungsweisen Schilderung seiner problematischen Beziehung zu sei- ner Freundin.218 Die Alpträume finden eine Entsprechung in der Realität Kom- prechts. Auch hier bleibt Roman ein Fremder, der mit der Videokamera die Ge- schehnisse im Dorf festhält, ohne Zusammenhänge erkennen zu können. Seine psychische Situation ist unverändert: „Die Vorstellung, was wäre, wenn er in Brasilien geblieben wäre, irritierte ihn genauso, wie die Tatsache, daß er hier war. Ihn irritierte alles.“219 Die Realität überfordert Roman auch in der Heimat jeden Tag aufs Neue. In Brasilien („Dann spielte er drei Stunden mit seinem Camcorder. Er filmte alle Räume seines kleinen Hauses, [...] betrachtete den Film auf dem Bildschirm, dann überspielte er ihn auf eine Videokassette, die er zu den anderen ins Regal stellte.“220) und noch exzessiver in Komprechts („Er kaufte ein zweites Videogerät [...], seine Ersparnisse schmolzen dahin, es war ihm egal, sie waren ohnehin zu gering, um eine Entscheidung treffen zu kön- nen, die sein Leben qualitativ verändern würde.“221) schaltet er seine eigene Wahrnehmung aus und den Camcorder ein, der Akt des Filmens tritt mehr und mehr an die Stelle des eigenen Denkens. Komprechts zeigt sich Roman als Ort, „wo [d]u nichts von all dem verstehst, was [d]u siehst oder erlebst oder er- fährst.“222 Das Heimkehrmotiv fungiert hier als Schaltstelle zwischen zwei Wel- ten mit ähnlichem Verlauf. Durch die Heimkehr beschleunigt sich der Verfall des Protagonisten, der Prozess der Rückentwicklung auf das Stadium der „Sinnli- chen Gewißheit“ erfährt in Komprechts eine verschärfte Fortsetzung.

218 Vgl. SU, S. 24 – 33. 219 SU, S. 75. 220 SU, S. 17 – 18. 221 SU, S. 148. 222 SU, S. 85. 71

Neben dem Vergleich zwischen Brasilien und Österreich fungiert das Heim- kehrmotiv als Schnittstelle zwischen Kindheit und Gegenwart. Die Heimkehr führt Roman gefühlsmäßig zurück in die Vergangenheit. Seine Mutter hat ihm ein Kinderzimmer eingerichtet: „Alles was er je besessen hatte, was aus ir- gendeinem Grund nie weggeworfen worden und in seinem ehemaligen Zimmer oder im Abstellraum der Wiener Wohnung verstaut gewesen war und verges- sen war, ist nach dem Verkauf der Wohnung in dieser für ihn bestimmten Kammer des Bauernhauses gelandet.“223 Dieses Zimmer, das ihm bald zu einer „kleinen Zelle“224 wird, löst keine senti- mentalen, durch die vergangenen Jahre verklärten, Erinnerungen aus, vielmehr kommt es zu einer schmerzhaften Aufarbeitung einer schwierigen Zeit. Erst durch die Heimkehr wird in Roman ein Erinnerungsprozess ausgelöst, dem er sich bisher widersetzt hat. „Die Kindheit präjudiziert gar nichts“225, vermeinte er zu wissen und wird nun eines besseren belehrt, er verspürt Hass, Verachtung, Gefühle von Peinlichkeit und Gepeinigt-Worden-Sein.226 Der schmerzhafte Erinnerungsprozess als Ausdruck seiner Identitätskrise ist mitverantwortlich dafür, dass Komprechts ein Rätsel für ihn bleibt: „Zu schaffen macht mir in Wahrheit nicht die äußere, sondern die innere, die private Rätsel- haftigkeit meines Lebens.“227 Durch die Gegenüberstellung der Kindheit und der Gegenwart zeigen sich die Parallelen zwischen den beiden Lebensabschnitten. Als Internatszögling den Quälereien der Mitschüler ausgesetzt, war es Romans einzige Freude, heimlich unter der Bettdecke lesen zu können. Dazu geht er auch in Komprechts über: „Aber wie einfach war sie jetzt wieder herstellbar, diese über allem Schmerz zerfließende Wonne: Da waren seine Bücher von damals. Und da war seine neue Taschenlampe.“228 Die Gegenüberstellung von Kindheit und Gegenwart zeigt auch die Kontinuität der problematischen Mutter- Sohn-Beziehung. Die Mutter nennt Roman Romy, steckt ihn in sein altes Kin- derzimmer und behandelt ihn wie ein Kind, „das man schon wie einen Großen

223 SU, S. 61. 224 SU, S. 102. 225 SU, S. 72. 226 Vgl. SU, S. 72. 227 SU, S. 86. 228 SU, S. 107. 72 behandeln konnte.“229 Dem Tod des Vaters in der Kindheit entspricht die Tren- nung seiner Mutter vom neuen Ehemann in der Gegenwart, die Ergebnisse sind dieselben. Vergangenheit („Der Vater war tot – und die Zeit darauf schlief er im Bett seiner Mutter. Er genoß es. Er durfte nicht zeigen, daß er es genoß. Sie schliefen aneinandergepreßt in schweigender starrer Trauer.“230) und Gegen- wart („Später schmiegte er sich im Schlaf an sie, umschlang sie, drückte sich an ihren Rücken, sie wachten auf, es kam ihm zu Bewusstsein, was er tat und daß der Satz in seinem Kopf war: Ich nehm sie mit.“231) führen zu denselben Verhal- tensmustern. Die Heimkehr überfordert Roman, er reagiert mit Depression und Regression. Auch die Umstellung der Mutter auf einen gesunden, alternativen Lebenswandel hat Roman verstört und irritiert, dementsprechend erfreut rea- giert er als sich diese Entwicklung wieder umkehrt: „Roman hatte das Gefühl, daß er erst jetzt allmählich heimkehrte“232, „[j]a, so war seine Mutter, so ist sie gewesen. Es tat sich Heimat auf.“233 Erst durch diese Rückentwicklung auch der Mutter kann sich Romans Regression vollständig entfalten. Eine Entwicklung wie diese lässt nur zwei Möglichkeiten offen: entweder eine totale psychische Erkrankung oder den Abschied aus der Heimat. Im Hand- lungsverlauf erschließt sich sehr bald, dass eine Flucht unabdingbar ist. Dies zeigt sich in gelegentlichen Reflexionen Romans, die seine Zerrissenheit wider- spiegeln:

Ich befinde mich hier im Haus meiner Mutter in einem kleinen ge- schlossenen Wahnsystem, das natürlich den steten Impuls bei mir bewirkt, so schnell wie möglich zu flüchten. Warum tue ich es nicht? Ich ertappe mich seltsamerweise immer wieder bei einem [...] auf den hier herrschenden Wahnsinn fixierten Staunen, so daß ich mich schön langsam frage, ob ich nicht süchtig nach dem bin, wovor ich flüchten will.234

Das Heimkehrmotiv steht in Verbindung mit zwei entgegen gesetzten Tenden- zen, wobei eine davon eine pathologische Ausprägung zeigt. Eine logische Konsequenz dieser Situation ist, dass es zu einer Lösung kommen muss. Wie

229 SU, S. 160. 230 SU, S. 106. 231 SU, S. 159. 232 SU, S. 116. 233 SU, S. 118. 234 SU, S. 86. 73 auch bei Innerhofer ist Romans Heimkehr nur temporär, es gelingt dem Heim- kehrer seine Situation zu erfassen: „Er regredierte hier, das war ihm durchaus bewußt, nicht mehr lange, und er würde nur noch in seiner Spielecke sitzen, vor seinen Videogeräten, ab und zu gefüttert werden, und bald würde er nur noch lallen.“235 Roman erkennt seinen Zustand und erkennt auch die fatale Richtung, die sein Leben genommen hat:

So war er starr vor dem Bildschirm gesessen – STOP, AUS, plötzlich der Gedanke, daß im Moment des Todes das Leben wie ein Film vor einem ablaufen soll, und was machte er? Er stellte diese Situation technisch her – und dann sollte er die Augen schließen? Dieser Film ist kein Leben gewesen, nur Ersatzmaterial, reproduzierbar und ohne Belang, von nachvollziehbarer Bedeutung nur das Banalste: unbe- wußt und unbeabsichtigt hatte er den Wechsel der Jahreszeiten auf- genommen [...] Weil er kein Leben mehr hatte, dachte er, und dieser Gedanke wütete und randalierte in ihm so brutal wie die schlimmste Krankheit.236

Somit vollzieht sich im letzten Moment eine Kehrtwendung, das Stadium der to- talen Regression bleibt Roman erspart, eine Lösung der Probleme hat die Heimkehr nicht gebracht, der weitere Verlauf von Romans Biographie ist offen. Das Heimkehrmotiv geht wieder über in das Fluchtmotiv, wohin die Flucht führt, bleibt im Dunkeln, Romans letzte Videokassette ist unbespielt: „Vielleicht ist er, wie soll ich sagen, aufgewacht. Alptraum aus und zu Ende. Und er hat deshalb auf seine letzte leere Kassette einfach draufgeschrieben: ENDE.“237

Nun zur dritten Besonderheit des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“. Heim- kehrsituationen werfen stets die Frage auf, wie sich der Heimkehrer in das so- ziale Gefüge der Heimat einfügen wird. Im Gedächtnis der Rezipienten sind da- zu verschiedene Muster gespeichert, die sich aus den bisherigen Lektüreerfah- rungen, sowie aus der eigenen Biographie rekrutieren. In „Schubumkehr“ bricht das Heimkehrmotiv mit bisher bekannten Verläufen. Denn die nahe liegende klassische ingroup-outgroup-Konfrontation ergibt sich nicht. Zwischen Roman und den Dorfbewohnern entwickelt sich kaum Interaktion, wenn Roman einmal in Komprechts auftaucht, dann nur an Nebenschauplätzen in der Rolle eines

235 SU, S. 160. 236 SU, S. 160 – 161. 237 SU, S. 180. 74 unbekannten Fremden. Der Heimkehrer, der sich auch selbst als „nur ein Tou- rist, sozusagen ein Tourist“238 deklariert, spielt die Rolle eines passiven Beob- achters und Chronisten, der von der Bevölkerung kaum wahrgenommen bezie- hungsweise ignoriert, mit seiner Videokamera die Vorgänge im Dorf dokumen- tiert. Die Heimkehr wirkt sich also inhaltlich nicht auf die Ereignisse in Kom- prechts aus, erzähltechnisch ist das Motiv jedoch in zweierlei Hinsicht von Be- deutung. Romans Videoaufnahmen, kommentiert von zwei Polizeibeamten, bil- den eine Erzählinstanz und präsentieren dem Leser, neben der auktorialen Er- zählstimme, die Geschehnisse im Dorf. Der gewohnte kritische Blick des welterfahrenen Heimkehrers wird hier durch ein Medium ersetzt, das zwar Mo- mente exakt wiedergeben kann, jedoch nicht imstande ist, Zusammenhänge oder Erklärungen zu liefern. Es ist die Aufgabe des Lesers, Romans Bilder zu- einander in Beziehung zu setzen. Wenn es auch zu keiner Interaktion zwischen Roman und der ingroup kommt, so geht die Entwicklung auf diesen beiden Ebenen doch in die gleiche Rich- tung. Der Heimkehrer und das Dorf leben aneinander vorbei und steuern ihren jeweiligen Katastrophen entgegen, welche große Ähnlichkeiten aufweisen:

Roman ist in die ´Gerümpelkammer seiner Kindheit`[...] heimgekehrt und ganz Komprechts frönt der Lust am falschen Zusammenhang. Nicht nur der Steinbruch, der einst ´das Ganze gewesen` war, dege- neriert zur ´Trümmerlandschaft`, selbst der alte riesige Wald ist zum Trümmerhaufen zerfallen.239

Durch die Heimkehr Romans spiegeln sich der Zerfall und die Fragmentierung seines Bewusstseins in den Geschehnissen in Komprechts:

Zukunft prallt auf Vergangenheit und detoniert als Katastrophe der Gegenwart. Der Protagonist Roman prallt auf seine Mutter Anne und wird dabei seines verdrängten Lebensdilemmas gewahr. Der Ort Komprechts prallt auf die Leichen in seinem Keller und verliert in ei- ner beinahe antikischen Tragödie die Betreiber seiner Zukunft.240

238 SU, S. 104. 239 Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29. 240 Vgl. Gollner, in: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98. Auf diese gleichzeitige Vorwärts- und Rückwärtsbewegung verweist auch der Titel des Romans. 75

Zusammenfassend seien noch einmal die Merkmale des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“ angeführt. Ein fluchtartiges und wenig durchdachtes Verlassen Brasiliens lässt für den weiteren Verlauf alle Möglichkeiten offen, die Absichten und Ziele Romans lassen sich nicht eruieren. Diese Ausgangssituation bewirkt, dass herkömmliche Muster der Heimkehr nicht auf Romans Situation angewen- det werden können. Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt sich das Motiv als Schaltstelle zwischen Romans alter und neuer Heimat beziehungsweise zwi- schen Vergangenheit und Gegenwart. Romans Krise erfährt jedoch nicht durch die veränderten Gegebenheiten eine Verschärfung, sondern durch die offen- sichtlichen Kontinuitäten und Parallelen. Auf den Gesamtkontext der Roman- handlung bezogen, nimmt das Motiv nur eine marginale Position ein und wirkt sich inhaltlich kaum aus. Erzähltechnisch jedoch ist das Motiv für eine von zwei Erzählperspektiven verantwortlich. Auf struktureller Ebene spiegelt sich der Ver- lauf der Heimkehr Romans in den Geschehnissen im Dorf wieder. Die Verbin- dung des Motivs mit einem psychopathologischen Abwehrmechanismus als ei- ner untypischen Verhaltensweise stellt eine neue Kombination für den Rezipien- ten dar und erweitert damit das Motivrepertoire. Der Wegfall jeglicher ingroup- outgroup-Interaktion bedeutet einen weiteren Bruch mit konventionellen Verläu- fen. Ebenso ungewöhnlich präsentiert sich die Figur des Protagonisten, die in keiner Weise an das geläufige Bild vom Heimkehrer anschließen kann, da er sich weder zu integrieren versucht, noch zu kritischer Reflexion der heimatli- chen Verhältnisse fähig ist. Abschließend sei noch auf das Verhältnis der Heimkehr zur Anti-Heimat- Thematik eingegangen. „Schubumkehr“ muss auch als Anti-Heimat-Roman ge- lesen werden. Im speziellen Fall Romans verknüpft sich seine Geschichte je- doch nicht mit den für dieses Genre typischen Themen. Die Anti-Heimat entfal- tet sich vor Romans Augen, ohne dass er sie bewusst wahrnimmt. Komprechts ist ein Dorf, aber keine Heimat, könnte man in Anlehnung an Menasses These zu Österreich formulieren. Im Mikrokosmos der Gemeinde vereint Menasse das seiner Meinung nach typisch Österreichische. Auf der Suche nach einer neuen Identität regrediert die Gemeinde zu einer touristischen Kulisse, zu einer Scheinidylle, deren Aufrechterhaltung bereitwillig ein vermeintliches Ausländer- kind geopfert wird. Wenn es Roman nicht gelingt, sich in diese Welt einzufügen, so liegt dies nicht nur in seiner eigenen Identitätskrise begründet (denn wer kei- 76 ne eigene Identität hat, kann auch keine Heimat finden), vielmehr zeichnet Menasse ein Komprechts respektive Österreich, welche a priori keine Heimat sein können und jede Heimkehr zum Scheitern verurteilen.

9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von Peter Zimmermann

9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans

„Das tote Haus“ ist der dritte Roman des österreichischen Schriftstellers und Journalisten Peter Zimmermann. Die wenigen Rezensionen sind geprägt von einer sehr positiven Grundhaltung und einer überraschenden Einigkeit in Bezug auf die Klassifikation des Romans. Die Rezensenten sehen „Das tote Haus“ übereinstimmend zumindest in der Nähe der Anti-Heimat-Literatur. Strigl ver- weist auch auf die Nähe zu Hans Leberts „Der Feuerkreis“, sie bezeichnet das Werk als eine Mischung aus Western und schwarzem Heimatroman.241 Eva Schobel spricht von einem „Antiheimatroman, der keine Fluchtbewegung zu- lässt, Literatur, die wehtut.“242 Schwens-Harrant erwähnt die Fülle der literari- schen Österreichklischees, die Zimmermann im Roman verwendet, ohne dies aber abwertend zu meinen. Sie betont die düstere und geheimnisvolle Atmo- sphäre und sieht im Roman ein Buch über Rassismus, über Erdulden, den Ausbruch von Gewalt und örtliche sowie psychische Enge.243 Nach Pfabigans Ansicht spielt der Roman massiv mit den Grundthemen der Anti-Heimat- Literatur: „Stumpf, katholisch, und ´national` – so leben die Menschen am Land, und was einmal nationalsozialistisch war, ist notdürftig mit sozialdemokrati-

241 Vgl. Strigl, Daniela: Beton im Bayou. In: Der Falter 15.6.2007, S. 56. Auch auf eine Nähe zu Thomas Bernhards „Auslöschung“, sowie zu „Korrektur“ und „Beton“ wird hingewiesen, ohne jedoch Epigonalität zu kritisieren. 242 Schobel, Eva: Stille, Qual und Phantomschmerz. Peter Zimmermanns schnörkellose, grau- same Antiidylle „Das tote Haus“ lässt keine Fluchtbewegung zu. In: Der Standard (Album) 30.6.2007, S. A 6. 243 Vgl. Schwens-Harrant, Brigitte: Die Träume auf den Müll geworfen. Peter Zimmermanns recht düsterer Antiheimatroman. In: Die Presse (Spectrum) 17.6.2007, S. VII. 77 schen Phrasen übertüncht.“244 Bis auf einige Kritikpunkte betreffend stilistische Mängel wurde „Das tote Haus“ sehr positiv rezensiert. Die einhellig festgestellte Nähe zum Genre der Anti-Heimat-Literatur überrascht insofern, da Zimmer- mann selbst keineswegs beabsichtigt hat, einen Anti-Heimat-Roman zu schrei- ben. Er betrachtet Anti-Heimat-Literatur bereits als Teil der Literaturgeschich- te.245 Für ihn sind die Hauptthemen des Romans die Kraft der Erinnerung, das Versagen der Liebe, der Einbruch des Fremden ins Vertraute und die Gewalt.246 Auch wenn der Autor jegliche Intentionen leugnet, so lassen sich in seinem Roman Merkmale der Anti-Heimat-Literatur finden, auch nach Menasses Krite- rien kann das Werk diesem Genre zugeordnet werden. Wenn Meyer- Siekendiek bemerkt, dass die österreichische Anti-Heimat-Literatur sich durch eine unvergleichliche „Akkumulierung düsterer, schrecklicher und grausamer Phantasien“247 von anderen Nationalliteraturen unterscheidet, so fällt es schwer, diese Feststellung nicht auf Zimmermanns Roman zu übertragen. Nicht zuletzt schöpft der Autor, wie auch Franz Innerhofer, aus seiner Biographie, in- dem er die Erlebnisse seiner Kärntner Kindheit und Jugend zu einer Art verdich- tetem Panorama248 zusammenfügt.

9.2 Suche nach der Stille

Der Roman besteht aus drei Zeitebenen, die ineinander montiert sind. Die je- weiligen Abschnitte variieren in ihrer Länge von nur wenigen Sätzen bis zu mehreren Seiten. Der namenlose Ich-Erzähler protokolliert seine Kindheit und Jugend, sowie seine Zeit in den USA. Mit der Ankunft im Heimatdorf beginnt die Zeitebene der Gegenwart. Es wird in der Ich-Form erzählt, nur jene Abschnitte der Kindheit und Jugend, die in direktem Zusammenhang zu Familie und Haus stehen, werden in der dritten Person erzählt, der Erzähler berichtet von sich als „der Junge“. Die Kindheit im größten Haus des Dorfes, gelegen auf einer klei-

244 Pfabigan, Alfred: Flucht im Zwischendeck. „Das tote Haus“: Peter Zimmermanns Variante des Anti-Heimat-Romans. In: Wiener Zeitung (Beilage) 10.6.2006, S. 11. 245 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115. 246 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 117. 247 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007. 248 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115 – 116. 78 nen Anhöhe am Dorfrand war geprägt von Schweigen und Angst. Es kommt zu keiner sentimentalen Verklärung der alten Heimat. Schonungslos rekonstruiert der Ich-Erzähler eine traumatische Kindheit.

Das titelgebende Haus, eine „kalte Festung“249, „zweitausend Kubikmeter pro- vinzieller Trotz“250, „eher ein grau verwaschener Monolith mit Kanten und Spit- zen als eine Behausung“251, wurde bewohnt von den Großeltern, sowie den El- tern des Jungen. Der Junge selbst musste mit wenig Zuneigung auskommen, die beiden Frauen wetteiferten um die Gunst des Vaters, der Großvater interes- sierte sich hauptsächlich für andere Frauen. Wenn der Junge die Erwachsenen störte wurde er in ein abgelegenes Zimmer gebracht, abgeschoben „ein Ding unter Dingen, überflüssig wie alles, was hier seit Jahrzehnten lagerte“252, wo er alleine mit seinen Ängsten die Zeit verbringen musste.253 Ein Bild an der Wand, Picassos „Akrobatenfamilie mit Affe“ war es, das dem Jungen eine bis heute andauernde Angst einjagte: „Das Bild hängt immer noch an der selben Stelle, und die Erinnerung an meinen ersten Blick darauf [...] treibt mir noch jetzt den Schweiß auf die Stirn.“254 Was die Familie verband, war nicht Kommunikation, sondern Schweigen, wie in der nächsten Passage auch formal dargestellt wird:

Ich erinnere mich noch heute mit Schrecken an die Einsamkeit, die einen umfing, selbst wenn man hätte meinen können, das Haus wäre belebt wie ein Bienenstock. Die Mutter in der Küche [...] stumm; die Großmutter im Garten [...] stumm; der Vater im Schlafzimmer [...] stumm; und der Großvater [...] Auch er stumm.255

Episodenhaft erschließt sich das Bild einer tristen Jugend auf dem Land, die ei- nem Heranwachsenden wenig Perspektiven bietet. Die Erwachsenen trinken, die Jugendlichen nehmen bewusstseinserweiternde Drogen, oder was ihnen unter dieser Bezeichnung verkauft wird:

249 Zimmermann, Peter: Das tote Haus. Berlin: Kato 2006, S. 20. Im Folgenden zitiert als TH. 250 TH, S. 16. 251 TH, S.16. 252 TH, S. 63. 253 Der Junge selbst nannte es Blaubarts Zimmer, in Anlehnung an das Märchen von König Blaubart: „Wer es betritt muss sterben, heißt es im Märchen. Und manchmal auch in der Wirk- lichkeit.“ TH, S. 42. 254 TH, S. 47. 255 TH, S. 20 – 21. 79

Auf dem Land wollen die Leute abheben, da kommt ihnen jeder Rausch gerade recht. [...] [A]lle Menschen auf dem Land trinken, die Frauen heimlich und die Männer öffentlich, aber alle aus demselben Grund: sie sind nicht füreinander geschaffen. Sie heiraten aus Ver- zweiflung, aus Langeweile, aus Gewohnheit, aus Einsamkeit, Män- ner beeindrucken Frauen mit frisierten Autos, Frauen Männer mit ge- kreischten Scheinorgasmen.256

Nur fragmentarisch zeigt sich das Bild der Jugend, Details bleiben im Dunkeln, ebenso wie die genaue Motivation zum Mord an den Eltern, der den Abschied von der Heimat markiert. In den Sekunden nach dem Mord verspürt der Junge eine Stille, die sein zukünftiges Leben beherrschen wird. Die Suche nach einer Rückkehr dieses Moments steht im Zentrum all seiner weiteren Bemühungen. Seine Flucht führt ihn nach Amerika, wo er heiratet, sich wieder scheiden lässt und in die Sümpfe Louisianas zieht. Dort wird ein Neger, vom Ku-Klux-Klan sei- ner Zunge beraubt, sein stummer Begleiter. Von seiner Zeit in der Fremde bleibt die Feststellung, dass „Amerika eine herbe Enttäuschung war.“257 „Das tote Haus“ bietet eine Vielzahl von Bildern und Motiven, von Anspielungen und intertextuellen Verweisen. Der Roman würde sich eine intensivere Analyse verdienen. Im Rahmen dieses Kapitels soll aber noch ein letztes Mal die Funk- tion des Heimkehrmotivs im Zentrum stehen. Es geht also darum, dieses und die damit verbundenen Motive und Themen näher zu analysieren.

In der Reise des Protagonisten durch die USA klingt das Motiv des Wanderns an, das in seiner Auffächerung in Ausfahrt, Wegsuche und Einkehr auf typische menschliche Grundhaltungen verweist.258 In Zimmermanns Roman gleicht die Wanderung einer Irrfahrt, bestimmt von der Suche nach einer verlorenen Emp- findung. Die Wanderung wird durch die Heimkehr beendet, die Suche jedoch geht weiter. Durch die Thematik der Suche sind Wander- und Heimkehrmotiv miteinander verknüpft, letzteres löst ersteres im linearen Handlungsablauf ab. Wenn Strigl schreibt: „Der verlorene Sohn kehrt heim, wo man ihn in einer Mi- schung aus Angst und Hass erwartet“259, so bemüht sie dieses Motiv nicht ganz zu Recht, denn im Dorf erwartet niemand den Heimkehrer, niemand empfängt

256 TH, S. 31 – 32. 257 TH, S. 30. 258 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 372. 259 Strigl, in: Der Falter 15.6.2007, S. 56. 80 ihn. Eher schon eignet sich die Odyssee als Referenzpunkt, einerseits durch die Irrfahrt in der Fremde und andererseits durch den Verlauf der Heimkehr, wie auch Zimmermann selbst anmerkt: „...auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu einem Gefühl der Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg.“260 Zu die- sem Krieg später mehr. Der Roman beginnt mit der Ankunft des Protagonisten und seines Begleiters im Dorf. Erst danach beginnt der Ich-Erzähler mit der Schilderung der anderen Zeitebenen. Somit ist die Heimkehr Ausgangspunkt für einen Rückblick auf das bisherige Leben. Durch die Parallelmontage verschiedener Zeitebenen zeigt die Heimkehr die Veränderungen beziehungsweise Kontinuitäten zwischen der Heimat der Kindheit und der Heimat der Gegenwart:

Alles wie vor einem halben Leben, nur ein wenig verkommener. Aus Erwachsenen sind Greise geworden, aus Säuglingen Arbeitslose und Frührentner, aus dem ersten Aufwallen der Gefühle Kinder, gezeugt an Autositzen, in Kellerabteilen und auf pflegeleichten Bettsofas, und aus einer endlosen Kette von Enttäuschungen der Tod im Rausch.261

Was die Heimkehr offenbart, sind keine richtigen Veränderungen, vielmehr Ver- schlechterungen ohnehin schon ungünstiger Verhältnisse. Deutlich wird dem Heimkehrer vor Augen geführt, welches Schicksal er sich durch sein Weggehen erspart hat: Die Leute von früher haben ihre Träume schon längst auf den Müll geworfen und „leben, so sie überhaupt noch leben, in Gefängnissen, Entzie- hungsanstalten, an Sauerstoffflaschen hängend in stinkenden Einzimmerwoh- nungen oder mit einem künstlichen Arschloch daheim bei den Eltern, in ihren al- ten Jugendzimmern, und beziehen ihr Taschengeld vom Sozialamt.“262 Es sind drastische Worte die der Heimkehrer da von Ela, seiner Jugendliebe zu hören bekommt. Ela steht stellvertretend für all jene, die es nicht über den Rand des Dorfes hinausgeschafft haben. Ein letztes Mal kommt es zu einer Annähe- rung, dabei verschmilzt die Erinnerung an den ersten Kuss mit dem emotionslo- sen Versuch, die alten Gefühle noch einmal heraufzubeschwören. Beendet wird die mehr traurige, denn lustvolle Annäherung abrupt durch die Hinrichtung des

260 Interview Peter Zimmermann, S. 117. 261 TH, S. 12. 262 TH, S. 65. 81

Negers.263 In der Konfrontation mit Ela zeigt sich sehr deutlich der Unterschied zwischen dem Heimkehrer und den Daheimgebliebenen. Es ist die Erfahrung des Weitgereisten, die ihm die Augen öffnet und ihn die Stagnation der heimi- schen Verhältnisse erkennen lässt. Über die Jahrzehnte unverändert das Haus: „Ich bin das einzige Ding, das dieses Zimmer wieder verlassen hat, sonst steht alles noch an seinem Platz, wie damals an meinem fünften Geburtstag…“264, unverändert auch die ingroup. Der Großvater des Heimkehrers war der Bür- germeister des Ortes und als solcher verantwortlich für die Genehmigung von Neubauten: „Ein Haus das auffalle, sagte er, sei ein auffälliges Haus. Und ein Hausherr, der durch ein auffälliges Haus erreichen wolle, dass man ihn für ei- nen außergewöhnlichen Menschen halte, werde sich damit nicht beschei- den…“265 Gegen die Individualität und gegen ein Abweichen von der Norm rich- tet sich die Bauordnung nach wie vor. Der Umbau, den der Heimkehrer durch- führt, stößt auf offene Ablehnung. Der Bürgermeister, so erfährt man ist Anhän- ger der Sozialwohnung: „Genormte Einheiten in einheitlichen Bauten sind für ihn der Garant […] für die Unterbindung des persönlichen Faschismus…“266 Die Bevölkerung des Dorfes hat sich nicht aus der „Bunkermentalität des „Wir-sind- Wir“267 herausgewunden, die Heimkehr zeigt sehr deutlich, dass es zu einem Konflikt zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen kommen muss, wie auch der Heimkehrer, spät aber doch, erkennt: „Es wird schwierig, sage ich. Es hat sich nichts verändert.“268

Neben dem Vergleich von Einst und Jetzt dient die Heimkehr auch dazu, die Fremde und die Heimat zu vergleichen. Der Begleiter des Heimkehrers ist stumm, weil ihm vom Ku-Klux-Klan die Zunge abgeschnitten wurde. In der Kärntner Provinz erfährt der Südstaatenrassismus, als Symbol für eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten, seine traurige Entsprechung. Der Neger, Prototyp des bedrohlichen Fremden, dazu in Trach- tenkleidung gesteckt, eine „unverschämte[n] Verhöhnung alpiner Traditio-

263 Vgl. TH, S. 127 – 138. 264 TH, S. 64. 265 TH, S. 81. 266 TH, S. 103. 267 Interview Peter Zimmermann, S. 117. 268 TH, S. 120. 82 nen“269, wird von den Kindern gejagt und von den Erwachsenen verprügelt. Spätestens als er sich wehrt, sind seine Tage gezählt. Während der Neger als klassisches Feindbild leicht einzuordnen ist, bietet der Heimkehrer Anlass für Verwirrung. Der Mensch, der hier nach Hause zurückkehrt, ist genauso rätsel- haft wie seine Absichten im Dorf. Ein Dandy mit Vorliebe für teure Anzüge und extravagantes Schuhwerk. In der Literatur ist der Dandy eine kaum jemals vor- bildhaft dargestellte Figur. Auch hier muss man sich fragen, wie groß der Unter- schied zwischen Dandy und ingroup ist. Denn ist eine Person, die einen Afro- amerikaner zu Provokationszwecken in die Landestracht steckt und sich von ihm den Rücken waschen lässt, nicht auch des Rassismus verdächtig? Der Dandy steht seiner Umwelt gleichgültig gegenüber und legt vor allem Wert auf äußere Eleganz, der Schein ist ihm wichtiger als das Sein.270 Der Typus des Heimkehrers, der tendenziell nach einer Wiederaufnahme in die Gemeinschaft strebt, findet sich hier im Typus des Dandys repräsentiert, der keine Interessen für provinzielle soziale Systeme hegt. Die zwei auf den ersten Blick unvereinbaren Typen weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die Suche nach der eigenen Identität. Denn es ist nur eine Maske, die sich der Heimkehrer verpasst hat, um die eigene Vergangenheit zu verdrängen: „Er ist jemand, der vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das nicht klappt. Das Dan- dyhafte ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu verpassen.“271 So rätselhaft wie die Figur sind auch die Gründe für die Rückkehr. Die Frage nach den Beweggründen wird, zugunsten der Aufrechterhaltung der Spannung, erst spät beantwortet. Anfangs erscheint sie nicht als eine existentielle Notwen- digkeit, eine Krise des Protagonisten lässt sich vordergründig nicht erkennen. Der Entschluss zur Heimkehr fiel spontan und unerwartet: „Ich muss dir sagen, dass ich nie ernsthaft erwogen habe zurückzukommen, trotz allem, was mir in Amerika passiert ist. Aber jetzt denke ich, es ist nun einmal das einzige Zuhau- se, das ich je hatte.“272 Der Romantitel suggeriert es und zu Beginn scheint es auch, als würde das Haus im Zentrum der Heimkehr stehen. Die fatale Verbindung der Hauptfigur

269 TH, S. 125. 270 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 90 – 91. 271 Interview Peter Zimmermann, S. 118. 272 TH, S. 54. 83 mit diesem wird dargelegt: „Das Haus der Kindheit überlagert alle Häuser, die man in seinem späteren Leben betritt. […] Ich bin mit diesem Haus verwach- sen. Mit seinem Geruch, mit seiner Kälte und mit seiner Hässlichkeit.“273 Wie Daemmrich/Daemmrich anmerken, steht das Haus als Motiv in enger Ver- bindung mit dem Motiv der Heimkehr als Zeichen für eine Veränderung im Le- ben der Figuren, und kann sich unter Umständen auch zum Gegenspieler des Handlungsträgers entwickeln. Im Betrachten eines Hauses kann sich eine Per- son kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen.274 Diese Funk- tionen erfüllt das Haus auch im Roman. Mit dem Betreten des Hauses, das im ersten Kapitel nur von außen betrachtet wurde, verdichten sich die Erinnerun- gen an die schreckliche Kindheit und die Absichten des Heimkehrers erfahren eine konkretere Gestaltung: „Das muss alles raus, sage ich. Ich will ein Haus ohne Vergangenheit und ohne Möglichkeit, sich darin eine Zukunft vorzustellen, verstehst du?“275 Auch anhand dieser Passage wird ersichtlich, dass sich die Heimkehr hier jegli- cher Deutung verweigert. Die alten gespeicherten Muster lassen sich nicht über den Text legen. Zumindest lässt sich erahnen, dass Veränderungen stattfinden sollen. Veränderungen, die der Heimkehrer initiiert und die wohl mit seiner Ver- gangenheit zusammenhängen. Das Auslöschen der Vergangenheit mag plausi- bel erscheinen, doch ein Haus ohne Zukunft? Dies wäre dann ein Haus nur für einen Augenblick, für einen Moment. Erst gegen Ende von Kapitel zwei klärt sich auf, um welchen Moment es sich dabei handelt:

Nach dem Aufschlag des Leichnams am Boden war die Stille im Zimmer atemberaubend. Nichts war zu hören, kein Vogel und kein Wind, kein Knacken der Äste in den Bäumen, kein Auto von der fer- nen Hauptstraße, keine Stimmen in den Wänden. Ich hörte nicht einmal mein Herz schlagen oder das Blut in den Ohren rauschen, es war, als wäre das Zimmer aus der Welt geschleudert worden.276

Hier verbindet sich das Motiv der Heimkehr mit dem, laut Autor einzigen durch- gängigen Motiv des Textes, also dem Leitmotiv.277 Die Suche nach diesem

273 TH, S. 16 – 17. 274 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 187 – 188. 275 TH, S. 45. 276 TH, S. 67 – 68. 277 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 118. 84

Moment der Stille wurde zum Lebensinhalt des Protagonisten, ein aussichtslo- ses Unterfangen, egal ob im schalltoten Raum des Hauses in Louisiana oder auf einem Tafelberg in Ohio.278 Somit erscheint die Rückkehr als letzte Hoff- nung, die Stille wenigstens am Ort des Verbrechens noch einmal zu erleben. Dazu muss zuerst der Gegenspieler, das Haus selbst ausgeschaltet werden, denn „dieses Haus wird zu deinem Gefängnis, sobald du es wieder betrittst. Es ist, wie soll ich es sagen, es ist, als würdest du in einem Geflecht aus Erinne- rungen hängen bleiben, es sei denn, und jetzt hör mir gut zu, du bringst die Kraft auf, alles zu zerstören.“279

Die Herausforderung, die hier an den Rezipienten gestellt wird, ist die Verwei- gerung konventioneller Heimatdefinitionen. Um Heimat und Identität zu finden, benötigt es einen konkreten Raum und vor allem auch soziale Beziehungen. Der Dandy in Zimmermanns Roman verweigert sich von Beginn an jeglicher In- teraktion mit der ingroup und zieht sich in sein Haus zurück: „Mach aus dir eine Insel, hörst du? Gibt es einen edleren Anspruch an sich selbst?“280 Das Haus, als hermetisch abgeriegeltes Territorium, ist längst nicht mehr nur Wohnraum, es ist eine Festung und Provokation für die Dorfbewohner. Die Funktion des Motivs nach Daemmrich/Daemmrich ist klar: hier findet eine Abrechnung mit der Heimat statt. Der Heimkehrer positioniert sich bewusst außerhalb der Gemein- schaft. Das Heimkehrmotiv erhält eine neue Verlaufsmöglichkeit, die sich mit herkömmlichen Schemata nicht überschneidet. Die Heimat des Dandys ist nicht von dieser Welt. Der Krieg gegen das Dorf ist der letzte Akt im Kampf mit einer Welt, an der er letztendlich zugrunde gegangen ist. Die Heimkehr ist gescheitert und endgültig: „Der Erzähler verharrt im Innenraum der Stille wie in einem Grabmal. Die Welt wird ihn nicht mehr sehen.“281 Die Stille ist zurück, wird aber zur Qual:

Doch jetzt, unter der nackten Glühbirne, bist du allein wie nie. [...] Vielleicht ist die Stille eine Art Phantomschmerz, eine Erinnerung an die Qual vielstimmiger Weltwahrnehmung, was auch immer. Tatsa-

278 Vgl. TH, S. 66 – 73. 279 TH, S. 90 – 91. 280 TH, S. 188. 281 Interview Peter Zimmermann, S. 119. 85

che ist, dass die Stille einem den Atem raubt. Nichts ist beklemmen- der als die anwesend empfundene Abwesenheit von Geräusch.282

Trotz dieses Endes entspricht „Das tote Haus“ von allen im Rahmen dieser Ar- beit behandelten Werken am ehesten der klassischen Heimkehrergeschichte. Die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit in der Fremde und die Zeit nach der Heimkehr werden geschildert, zwar nicht lückenlos, aber die wichtigsten Episo- den werden erwähnt. Die Krise des Protagonisten und die Veränderungen in der Heimat werden ebenso thematisiert. Die Abschiedsszene verschweigt uns der Ich-Erzähler, begründet liegt dies im fluchtartigen Verlassen der Heimat. Dass eine Lösung der Probleme und Aufnahme in die Gemeinschaft nicht erfol- gen kann, liegt in den, dem Genre der Anti-Heimat-Literatur inhärenten Charak- teristiken begründet. Das Heimkehrmotiv weist in diesem Werk auch den unkonventionellsten Verlauf auf. Es löst einen Handlungsablauf aus, der im Vorhinein nicht absehbar ist und wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt. In Kombination mit anderen Motiven (Dandy, Haus) ergeben sich Konstellationen, die keinen bekannten Mustern zu- geordnet werden können und somit auch keine Voraussagen für den weiteren Handlungsverlauf zulassen. So manches bleibt rätselhaft und auch das Ende ist mehr als unkonventionell. An den traditionellen Heimatroman erinnert die ingroup-outgroup-Konstellation, wobei man dem heimkehrenden Dandy nicht immer mit Sympathie begegnen kann. Bei Zimmermann wird die Heimat zu ei- nem Ort, um den zu kämpfen es sich nicht mehr lohnt. In seiner Kärntner Topo- graphie aus „Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung“283 und Gewalt erscheint es a priori unmöglich Heimat zu finden. Nur eine totale Destruktion der alten Kulissen und ein gleichzeitiges Verharren am Ort des Schreckens können den gewünschten Gefühlszustand noch einmal herstellen. Dies jedoch um den Preis der eigenen Existenz. „Das tote Haus“ sollte kein An- ti-Heimat-Roman werden und geht in seiner Drastik auch über das Genre hin- aus. Diese beklemmende Verdichtung und Überzeichnung autobiographischer Momente könnte man als eine Non-Heimat-Literatur bezeichnen, die jeglichen Heimatbegriff von vornherein negiert.

282 TH, S. 188 – 189. 283 Interview Peter Zimmermann, S. 116. 86

Besonders drastisch zeigt sich, dass es Heimat ohne soziale Beziehungen nicht geben kann. Ein Territorium alleine, sei es Manhattan, der Bayou oder das ver- zauberte Zimmer, ist zuwenig. Die Kindheit, die der Protagonist nach seiner Heimkehr noch einmal ausführlich reflektiert, war begleitet von negativen Emo- tionen, von nicht vorhandener Kommunikation und von einer nicht vorhandenen Bindung an die Familie. Geborgenheit und Heimat konnte der Junge nicht er- fahren. Für den Heimkehrer bietet sich somit von vornherein keine Möglichkeit, an die Heimat der Kindheit anzuknüpfen. Die ersten Sozialisationserfahrungen wirken sich auf das gesamte spätere Leben aus: „Diese Prägungen schleppt man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich die Lebensumstände voll- kommen ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“284 An dieser Stelle sei noch einmal Schlink zitiert: „Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach dem, was vergangen und verloren ist,...“285 „Das tote Haus“ bietet keinen Platz für sentimentale Erinnerungen, hier wird Heimat wirklich zu einem utopischen Begriff, die Heimkehr zu einer Selbstaufgabe, die in der Aus- löschung der eigenen Existenz ihr Ende findet.

10 Funktionen des Heimkehrmotivs

Welche Erkenntnisse ergeben sich nun aus der Betrachtung des Heimkehrmo- tivs in den obigen vier Anti-Heimat-Romanen? Dieses abschließende Kapitel gliedert sich in drei Teile, in denen die Erkenntnisse zusammengefasst und Verbindungen zwischen dem theoretischen und interpretatorischen Teil herge- stellt werden sollen. Der erste Teil dreht sich um die Gemeinsamkeiten und Un- terschiede der vier Motivverläufe. Es soll versucht werden, das Spezifische des Heimkehrmotivs in den jeweiligen Werken zu eruieren und dessen erzähltech- nische Funktion(en) herauszuarbeiten. Natürlich kann eine Analyse von nur vier Werken nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, die Auswahl von

284 Interview Peter Zimmermann, S. 116. 285 Schlink 2000, S. 33. 87

Werken aus vier Jahrzehnten sollte es aber ermöglichen, Aussagen in Bezug auf eventuell vorhandene Konstanten und Kontinuitäten zu treffen. Es soll also versucht werden, Konstanten und Variablen zu definieren. Als Referenzpunkt dienen stets die Verläufe der klassischen Heimkehrergeschichte, sowie die tra- ditionelle Heimatliteratur, als deren Teilgebiet die Anti-Heimat-Literatur auch bezeichnet werden kann. Die Divergenz beziehungsweise die Ähnlichkeit zu diesen Genres weist auf den Grad der Innovation (beziehungsweise Epigonali- tät) hin. Die im Theorieteil dargestellten Charakteristika von Motiven werden in Bezug zu den spezifischen Ausprägungen des Heimkehrmotivs in den Werken von Fritsch, Innerhofer, Menasse und Zimmermann gesetzt. Der zweite Teil wird sich mit den in Kapitel zwei diskutierten Heimatkonzepten und deren Entsprechungen im Analyseteil beschäftigen. Dabei steht eine genauere Betrachtung der individuellen Heimkehrerschicksale im Vordergrund. Leitfragen für das Auffinden eines werkübergreifenden Heimatkonzeptes sind die Aspekte der Identität der Heimkehrer und deren Krisen, die Suche nach Heimat, die Sozialisation vor allem in der Kindheit und die nach der Heimkehr angewandten Strategien. Es stellt sich die Frage, ob es ein bestimmtes Heimat- konzept gibt, das vermittelt wird, und, wenn ja, wodurch es sich definiert. Grundlegende Frage dabei ist, ob es grundsätzlich möglich ist, Heimat zu fin- den. Abschließend soll das Motiv der Heimkehr in Bezug zum Genre gesetzt werden. Die Figuren der Anti-Heimat-Literatur zeichnen sich in erster Linie durch eine Tendenz zur Flucht aus. Zu untersuchen ist daher, welche Funktion das Heim- kehrmotiv in einem Anti-Heimat-Roman einnehmen kann, welchen Beitrag es in Hinblick auf die dem Genre immanenten Grundaussagen und -absichten leistet. Auch der Blick auf die ingroup, wie sie sich dem Heimkehrer präsentiert, soll hier diskutiert werden.

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10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs

Motive definieren sich dadurch, dass sie eine epische Handlung auslösen. Wel- chen Stellenwert diese Handlung im Werk einnimmt, hängt davon ab, ob das Motiv als Kern- oder Rahmenmotiv verwendet wird. In Bezug auf die diskutier- ten Werke lässt sich für drei der vier eine eindeutige Verwendung als Kernmotiv feststellen. Felix Golub kehrt aus der Kriegsgefangenschaft in die Kleinstadt zu- rück, Hans-Peter Lambrecht und Zimmermanns namenloser Dandy finden sich an den Orten ihrer Kindheit wieder. Durch die Heimkehr wird die Handlung erst in Gang gesetzt, im Zentrum der Werke steht die Zeit nach der Heimkehr. So etwa wechseln sich in „Fasching“ die Abschnitte der Vergangenheit und Ge- genwart zwar ab, die erzählte Zeit der Heimkehr umfasst jedoch nur vier Tage, welche dementsprechend ausführlicher geschildert werden. „Der Emporkömm- ling“ als lineare Erzählung streift die Ereignisse der Vergangenheit nur zu Be- ginn, indem Lambrecht über sein Scheitern als Student berichtet und seine Ab- neigung gegen die Stadt artikuliert, von Roman Gilanians Zeit in Brasilien er- fährt der Leser nur durch Träume und Textfragmente, „Das tote Haus“ setzt ein mit der Ankunft im Dorf und streift die Vergangenheit in durch die Heimkehr ausgelösten ausführlichen Reflexionen. Insofern löst das Heimkehrmotiv nicht nur Handlung aus, sondern auch einen Reflexionsprozess, der die Vergangen- heit beziehungsweise Kindheit zum Thema hat. Diese Rückblicke sind auch Voraussetzung für den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart.

Die Heimkehrer sind zugleich auch die Hauptfiguren in den Werken, dement- sprechend große Berücksichtigung findet die Heimkehr im Romangeschehen. Im Falle von Roman Gilanian kann das Heimkehrmotiv nur als Rahmenmotiv bezeichnet werden, da es zwar die Handlung einer von zwei Ebenen auslöst, zur anderen Ebene, den Geschehnissen in und um das Dorf Komprechts, je- doch nur indirekte Bezüge aufweist. Roman ist die Hauptfigur des Romans, je- doch grenzt sich seine Stellung weniger klar von den anderen Figuren ab, er ist weniger als Hauptfigur, denn als primus inter pares zu sehen. Dementspre- chend gestaltet sich die Erzählperspektive. Die Heimkehr als Kernmotiv bedingt die Darstellung in der Ich-Form, das Geschehen präsentiert sich aus dem

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Blickwinkel der Heimkehrer, wird die Heimkehr nur als Rahmenmotiv verwen- det, bestreitet ein auktorialer Erzähler den Großteil des Romans. Motive verbinden verschiedene Ebenen miteinander. Im konkreten Fall des Heimkehrmotivs fällt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Aus der Situation der Protagonisten ergibt sich ein Vergleich zwischen der Zeit vor und nach der Heimkehr. Herkömmliche Heimkehrergeschichten legen den Schwerpunkt auf die Verän- derungen, die im Laufe der Zeit stattgefunden haben. In den behandelten Wer- ken dient die Heimkehr vor allem dazu, Kontinuitäten aufzuzeigen. Felix etwa erfährt spätestens am Heimkehrerball, dass die Gesinnung der Bevölkerung sich nicht geändert hat, dass er nach wie vor als Verräter gebrandmarkt ist, Hans-Peter Lambrecht muss sich weiterhin die nationalsozialistischen Helden- taten seines Stiefvaters anhören, Roman Gilanian landet physisch wie psy- chisch in der „Gerümpelkammer seiner Kindheit“286 und auch der Dandy muss feststellen: „Es wird schwierig, sage ich. Es hat sich nichts verändert.“287 Im Gegensatz zu den Veränderungen, die Heimkehrern in der Regel zu schaffen machen, sind es die Kontinuitäten, die Probleme bereiten. Nur bei Innerhofer zeigt sich auch die Problematik, die durch Veränderungen ausgelöst wird. Lam- brecht muss erkennen, dass sich Dorf und Haus der Kindheit in eine Richtung verändert haben, die es ihm schwer macht, sich in seine alte Umgebung wieder einzufinden. „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein“288, lau- tet das ernüchternde Resümee.

Das Heimkehrmotiv findet sich in allen Epochen der Literaturgeschichte. Als äl- teste und auch bekannteste Variationen gelten die Odyssee und das Gleichnis vom Verlorenen Sohn aus der Bibel. Das Thema Heimkehr ist untrennbar mit Assoziationen zu diesen beiden Darstellungen verbunden. Auch die der in die- ser Arbeit analysierten Schicksale laden stellenweise dazu ein, Vergleiche mit den alten Beispielen zu ziehen. Lambrecht vergleicht sich selbst mit Odysseus und bezeichnet seinen Weg in die Redewelt als Irrfahrt. Roman Gilanians Rückkehr in den Schoß der Mutter verleitet zu einem Vergleich mit der Ge-

286 Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29. 287 TH, S. 120. 288 DE, S. 56. 90 schichte aus dem Lukasevangelium, und der Dandy irrt lange Jahre in den USA herum, bevor ihn seine Heimkehr, so wie Odysseus, nicht „zu einem Gefühl der Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg“289 führt. Mehr als eine entfern- te Verbindung lässt sich bei weiterer Lektüre jedoch nicht herstellen, zu sehr brechen die Verläufe der Heimkehrer mit denen ihrer Vorbilder. Ein Happy End findet nicht statt. So wie Odysseus und der Verlorene Sohn irren die vier Haupt- figuren suchend in der Fremde umher, um letztendlich den Weg in die Heimat einzuschlagen. In diesen Übereinstimmungen erschöpfen sich die Gemeinsam- keiten, bekannte Heimkehrschemata können nicht auf die Texte angewandt werden. Orientiert sich der Rezipient an bekannten gespeicherten Mustern, er- fährt er im Laufe der Lektüre eine Enttäuschung und ist dazu gezwungen, das Heimkehrmotiv neu zu deuten. Besonders in „Fasching“ war dies eine Heraus- forderung, die Ablehnung und Fehlinterpretationen hervorrief. Mehr als ein schemenhaftes Auftauchen bekannter literarischer Vorbilder kann also nicht festgestellt werden. Das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur schlägt von Beginn an einen eigenständigen Weg ein, wie auch die folgenden Besonderhei- ten zeigen. Definitiv handelt es sich in keinem Fall um herkömmliche Heimkehrergeschich- ten. Dazu müssten die Zeit vor dem Weggehen und die Zeit in der Fremde aus- führlicher dargestellt werden. Zwar hat das Heimkehrmotiv eine Schaltfunktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart inne, durch die nur bruchstückhafte Darstellung der Vergangenheit wirft die Rückkehr jedoch Fragen auf. Denn nur eine Kenntnis der Zeit in der Fremde kann zum Verstehen der Beweggründe für die Heimkehr führen. Gerade diese Beweggründe sind es, die, mit einer Aus- nahme, nur unzureichend erklärt werden.

Gemeinsam ist allen vier Heimkehrern, dass sie sich in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten psychischen Krisensituation befinden. Felix Golub steht als mittelloser, entlassener Kriegsgefangener vor dem Nichts, Lambrecht wird ge- plagt von Selbstmordgedanken, Roman Gilanian leidet unter Alpträumen und einer unglücklichen Beziehung und den Dandy quält die erfolglose Suche nach der Stille, die ihn ruhelos umherwandern lässt. Diese Krisen verlangen nach ei-

289 Interview Peter Zimmermann, S. 117. 91 ner Lösung, es ist jedoch nur in einem Fall annehmbar, dass eine Heimkehr Besserung verschaffen könnte. Lambrechts Rückkehr ist schlüssig begründet, er erhofft sich von einer Rückkehr in die Arbeitswelt eine Bewältigung seiner Krise, er akzeptiert sein Scheitern in der Stadt. Lambrecht erscheint die Welt der körperlichen Arbeit als eine Möglichkeit zur Identitätsfindung und er kann das auch aus seiner Biographie begründen, da er schon einmal Arbeiter war. Was Felix Golub betrifft, so gestaltet sich seine Situation etwas anders. Wohl mag die Aussicht auf eine selbständige Existenz als Fotograf hoffnungsvoll er- scheinen, objektiv betrachtet aber kann sein Unternehmen angesichts seiner Vergangenheit und der Struktur der ingroup nur scheitern. Felix jedoch ignoriert die negativen Vorzeichen und bezahlt dafür mit seinem Leben. Ebenso wenig nachvollziehbar ist die Heimkehr bei Roman Gilanian, der bis zur Abreise eine starke Abneigung für die Provinz empfindet und trotzdem, ohne zu überlegen, fluchtartig aus Brasilien abreist. Der Dandy kehrt aufgrund einer Erbschaft zu- rück, ohne einen längeren Aufenthalt geplant zu haben, das Ziel der Suche er- scheint zudem bis zum Schluss rätselhaft, da es ein sehr abstraktes ist. Aus der mangelnden Begründung für die Heimkehr ergibt sich ein besonderes Spannungsmoment. Sofern es sich nicht um eine Heimkehr im Triumph han- delt, birgt das Motiv in sich bereits genug Konfliktpotential. Auch herkömmliche Heimkehrergeschichten, die eine nachvollziehbare Begründung für die Heim- kehr liefern, beinhalten Spannung. In den konkreten drei Fällen, die auf eine derartige Begründung verzichten, bewirkt dies eine Steigerung der Spannung. Der Rezipient wird durch eine unschlüssige Begründung zu Widerspruch und durch unklare Absichten zum Reflektieren über die weiteren möglichen Ver- laufsformen angeregt. Am deutlichsten zeigt sich dies in „Fasching“. Doch nicht nur unklare Ausgangssituationen bedingen Spannung. In weiterer Folge tragen die Verläufe der Heimkehr zur Erhöhung dieser bei. Es sind die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten, die einem Motiv Spannung verleihen. Je unklarer die Ausgangssituation beziehungsweise die Absichten, desto höher die Spannung. Die Verläufe der vier Werke zeigen in drei Fällen starke eskala- torische Tendenzen. Anstelle einer Annäherung an die ingroup beziehungswei- se einer Verbesserung der Situation kommt es zu einer sukzessiven Verschär- fung der Problematik.

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Der Leser sieht bei Fritsch eine Hauptfigur, die mit jedem Kontakt mit der Be- völkerung eine Stufe höher als zuvor angefeindet wird, und bei Zimmermann eine Figur, die sich in einem zur Festung umgebauten Haus gegen die Angriffe der Dorfbevölkerung, die zudem seinen Begleiter auf dem Gewissen hat, schüt- zen muss. In beiden Fällen führt die Heimkehr in den Tod. Eine Steigerung in ein anderes Extrem sieht der Leser bei Roman Gilanian. Sein psychischer Ver- fall schreitet stetig voran, die Lösung liegt im abermaligen Verlassen der Hei- mat. Dieselbe Lösungsstrategie wendet Lambrecht an, der seiner Heimat eben- falls den Rücken kehrt. Der eskalatorische Verlauf in „Der Emporkömmling“ zeigt sich abgeschwächt, denn vorübergehend kann sich Lambrecht sogar über eine Verbesserung seiner Situation freuen. Heimkehr in die Anti-Heimat führt zu einer Eskalation anstelle einer Annähe- rung, mit den Optionen Tod oder Flucht als Endpunkte. Heimatliteratur nimmt die Spannung aus dem Konflikt zwischen Heimkehrer und ingroup, der Verlauf ist jedoch klar vorgezeichnet, der Ausgang vorhersehbar. Der typische Heim- kehrer ist ein gescheitertes Individuum, das sich seinen Platz in der Heimat wieder erkämpfen muss. Dies ist nur möglich, indem die Werte der ingroup an- genommen werden. Das Scheitern wird als Beweis für die Negativität der Fremde geführt. Wenn einer heimkehrt, läuft „sofort alles zusammen und ver- breitet[e] die Nachricht, daß die oder der gescheitert sei.“290 Je fremder der Heimkehrer, desto größer die Feindseligkeit. Dies wird jedoch in der Heimatlite- ratur zugunsten der ingroup ausgelegt, da diese die allgemeingültigen Werte verkörpert. Ein mehr (Lambrecht) oder weniger (Gilanian) offensichtliches Scheitern (auch Golub ist gescheitert, er ist nicht in der Lage sich aus eigener Kraft eine Existenz aufzubauen) verbindet auch die Figuren der Anti-Heimat- Literatur. Im Gegensatz dazu wird jedoch nicht damit einhergehend die Fremde dafür verantwortlich gemacht (wieder muss Lambrecht hier etwas anders be- wertet werden, denn er schiebt die Schuld an seiner Misere dezidiert auf die Stadt, die Universität und die Wissenschaft und idyllisiert in weiterer Folge die Heimat). In der Anti-Heimat-Literatur werden die klaren Grenzen aufgeweicht. Während die ingroup negativ dargestellt wird, werden die Heimkehrer sehr am- bivalent beschreiben, was eine Identifikation erschwert. Die Bewertung Felix

290 Innerhofer 1994, S. 53. 93

Golubs beschäftigt die Literaturwissenschaft bis in die heutige Zeit, Roman Gilanian evoziert maximal Mitleid, besondere positive Eigenschaften lassen sich nicht erkennen. Auch die Person des Dandys wirft Fragen auf. Er verhält sich arrogant und provokativ und lässt sich von einem Schwarzen, den er als Neger tituliert, bedienen. Nur in Innerhofers Erzählung lädt die Hauptfigur durchwegs zur Identifikation ein, im Gegenzug wird die ingroup jedoch ebenfalls stellenwei- se sehr positiv dargestellt. Neben der widersprüchlichen Charakterisierung der Heimkehrer ist deren Passivität ein weiteres verbindendes Merkmal. In keinem der vier Fälle lässt sich eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt feststel- len. Felix Golub, als einer, „der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt,“291 liefert sich willenlos den Schikanen der ingroup aus, Lambrecht resigniert früh- zeitig angesichts der sich zeigenden Verhältnisse, Roman versinkt in seiner Depression, aktiv ist nur seine Kamera, und der Dandy legt von Beginn an kei- nen Wert auf konstruktive Interaktionen. Diese Passivität kann als Ursache der eskalatorischen Verläufe gesehen werden. Wer sich nicht wehrt, lässt den Ent- wicklungen freien Lauf.

Die bis hierher definierten erzähltechnischen Funktionen ermöglichen es, für das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur einen schematischen Verlauf festzulegen: Herkömmliche Heimkehrschemata sind nicht auf die Texte an- wendbar, was den Erwartungshorizont der Rezipienten erweitert, die Heimkehr erfolgt aus nicht vollständig nachvollziehbaren Gründen, eine Behebung der Krise scheitert am Widerstand der ingroup und an der eigenen Passivität, das durch die Rückkehr ausgelöste Handlungsgefüge zeichnet sich durch eine suk- zessive Eskalation der Ereignisse aus, was die schon zu Beginn manifeste Kri- se der Protagonisten weiter verschlimmert. Eine Lösung der Probleme kann nur durch ein abermaliges Weggehen erfolgen, ansonsten führt die Heimkehr in den Tod.

Welche Grundtendenz zeigt das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur? Anlass zu Optimismus und Hoffnung auf Lösung der Probleme oder Kritik an

291 Berger, in: Alker/Brandtner (Hg.) 2005, S. 74.

94 beziehungsweise Abrechnung mit der Heimat? Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht verfolgen mit ihrer Heimkehr ersteres Ziel. Felix sieht in der Über- nahme von Raimunds Geschäft die Möglichkeit endlich zur Ruhe zu kommen und ein unspektakuläres Leben als Fotograf und Kleinbürger zu führen. Für Lambrecht ist klar, dass er nur über die Arbeit wieder zu sich selbst finden kann. Die Erwartungen an die Heimkehr werden nach kurzer Zeit enttäuscht. Beide Figuren beharren jedoch auf ihren Illusionen und versuchen, über die Realität hinwegzusehen. Für Felix bedeutet dies, im grausamen Spiel, das die Stadtbevölkerung mit ihm spielt, mitzumachen, Lambrecht schafft sich eine So- zialutopie der Arbeitswelt, die nicht auf realen Gegebenheiten basiert. Trotz dieser Strategien wird offensichtlich, dass durch die Heimkehr (gezwungener- maßen) eine kritische Betrachtung der Heimat erfolgt, die ursprüngliche Ten- denz kehrt sich ins Gegenteil um. In den Romanen von Menasse und Zimmer- mann findet von Beginn an eine Abrechnung mit der Heimat statt. Roman sieht seine Vorurteile gegenüber dem Landleben bestätigt, er kann sich mit der ge- änderten Lebenseinstellung seiner Mutter nicht identifizieren. Die Geschehnisse in Komprechts irritieren ihn, seine Wahrnehmung stößt mehr und mehr an ihre Grenzen. Am deutlichsten zeigt sich die Tendenz bei Zimmermann. Der Ort der traumatischen Kindheit präsentiert sich unverändert, der Dandy kann nicht ei- nen positiven Aspekt an der alten Heimat entdecken und begibt sich bereitwillig in eine provokative Angriffshaltung. Bei Fritsch und Innerhofer sind die Absich- ten der Protagonisten deutlicher herausgearbeitet, ebenso die Grundtendenz. Menasse und Zimmermann verweigern eine Darstellung der Ziele ihrer Figuren, die Tendenz des Motivs zeigt sich dementsprechend erst später, dafür aber umso deutlicher. Somit lässt sich für alle vier Werke eine Verwendung des Mo- tivs entsprechend der zweiten Variante nach Daemmrich/Daemmrich konstatie- ren, eine ursprünglich anders intendierte Darstellung erweist sich spätestens nach der Ankunft in der Heimat als unhaltbar. Dies entspricht auch dem oben dargestellten Verlauf, der ein Happy End nicht vorsieht. Abschließend sei noch auf eine letzte interessante Eigenschaft des Heimkehr- motivs in den konkreten Fällen hingewiesen. Motive als relativ ungebundene Textelemente stehen stets in Verbindung mit anderen Themen oder Motiven.

95

Aus diesen Beziehungen ergeben sich Vereinfachungen oder Spannungsver- stärkungen für die Rezeption. Unbestritten steht das Heimkehrmotiv in der Anti- Heimat-Literatur in Verbindung mit dem Thema der Suche nach Heimat respek- tive Identität. Die Identitätskrisen und die Heimatlosigkeit der Protagonisten (er- sichtlich anhand deren „Irrfahrten“) sind offensichtlich. Es lässt sich daher sa- gen, dass auch in der Anti-Heimat-Literatur das Motiv in seiner ureigensten Verwendungsform zur Anwendung kommt. Es gäbe durchaus noch andere Möglichkeiten, die Heimkehrer könnten als starke Persönlichkeiten zurückkehren, um ihren Lebensabend geruhsam aus- klingen zu lassen, oder aus familiären Gründen etc. Die Verbindung mit den Themen Identitäts- und Heimatsuche ist eine durchaus konventionelle, die im Gegensatz zu den darauf folgenden untypischen Verläufen steht. Erzähltech- nisch bewirkt diese Verbindung mit den klassischen an die Heimkehr gekoppel- ten Themen einen, jedoch nur vordergründigen, erleichterten Zugang zum Text. Durch die Koppelung an die Themen Identität und Heimatsuche wird der Rezi- pient dazu verleitet, Prognosen über das weitere Verhalten der Figuren ab- zugeben. Diese erweisen sich jedoch im weiteren Verlauf als unhaltbar, da sich das Motiv nicht den erwarteten Verläufen entsprechend gestaltet.

10.2 Heimat – eine Utopie?

In Kapitel zwei wurden verschiedene Heimatkonzepte mit soziologischem, psy- chologischem oder philosophischem Hintergrund angeführt. Als gemeinsame Konstante in diesen Konzepten wurde die wichtige Rolle der Kindheit definiert. Die Grundlage der späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Von größter Wichtigkeit ist dabei die Bindung an die Mutter, die Primärsozialisation. Es über- rascht, wie ähnlich sich die vier Heimkehrer in Bezug auf ihre Kindheit sind. Al- len gemeinsam sind traumatische Erfahrungen, denen in den Romanen ein un- terschiedlich ausführlicher Exkurs gewidmet ist. Über Felix Golubs Kindheit lässt sich nicht viel sagen, die Fakten lassen jedoch Rückschlüsse auf die Prob- lematiken seiner Kindheit zu. Felix ist ein uneheliches Kind eines „Schlawi-

96 ners“292, die Mutter hat sich kurz nach der Geburt das Leben genommen und so wuchs er bei einer autoritären und fanatisch nationalsozialistischen Tante auf. Lambrecht hat sich Jahre vor seiner Rückkehr von seiner Familie losgesagt. Seine Unehelichkeit und die frühe Trennung von der Mutter, die ihn an den Hof seines Vaters verfrachtete, sind Fakten, die sich aus der Lektüre der Holl- Trilogie ergeben. Auf Romans schwierige Mutterbeziehung wurde bereits aus- führlich eingegangen, ebenso auf die traumatische Kindheit des Dandys. Die Tatsache, dass er seine Eltern getötet hat, unterstreicht die Tragik seiner Kind- heit und kann als verzweifelter Akt zur Befreiung aus den quälenden Verhältnis- sen gewertet werden. Offensichtlich konnten die Figuren keine Kindheit genie- ßen, die ihnen Sicherheit für die weitere Entwicklung vermittelt hätte. Nicht vor- handene oder problematische Mutterbeziehungen können gravierende Folgen für die Kinder haben. Burger meint dazu: „Heimat ist eine Verlustanzeige. Ein Gang zu den Müttern.“293 Diese Aussage betont den Zusammenhang zwischen Heimat und Kindheit beziehungsweise Identität und Mutterbindung. Wer die Heimat sein Leben lang sucht, sehnt sich insgeheim nach seiner nicht vorhan- den gewesenen Mutter. Auf die prägende Rolle früher Kindheitserfahrungen weist auch Peter Zimmermann hin, wenn er feststellt, „dass man in grundlegen- den Dingen immer das Kind ist, [...] auch wenn sich die Lebensumstände voll- kommen ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“294

Heimat benötigt als „conditio sine qua non“295 ein fixes Territorium. Ein territoria- ler Heimatbegriff findet vor allem in der traditionellen Heimatliteratur seine An- wendung. Dort erfolgt eine strikte Differenzierung zwischen Gut und Böse auf- grund räumlicher Determinanten. Ein territorialer Heimatbegriff lässt keine In- tegration von Fremden zu, sondern bewirkt rassistische Verhaltensmuster. Ter- ritorialität alleine ist jedoch zuwenig für ein gelungenes Entstehen von Heimat- gefühlen. Von großer Bedeutung sind die funktionierenden sozialen Beziehun- gen zur Umwelt. Denn erst durch diese erhält der geographische Raum die nö-

292 FA, S. 189. 293 Burger, Rudolf, zit. n. Hoffmann-Ostenhoff, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 169. 294 Interview Peter Zimmermann, S. 116. 295 Greverus 1972, S. 25. 97 tigen emotionalen Bindungen.296 Von der Kindheit deshalb nun zur Gegenwart der Heimkehrer. Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht setzen große Hoffnun- gen in ihre Rückkehr, wobei sie von einem primär territoriumsbezogenen Hei- matkonzept ausgehen. Beide glauben, mit der Ankunft in der Stadt bezie- hungsweise in Dorf und Fabrik ihre Probleme gelöst zu haben. Die Wichtigkeit von sozialer Interaktion wird nicht bedacht. In weiterer Folge verschließt sich Felix der Realität und gesteht sich die Unmöglichkeit einer funktionierenden In- teraktion nicht ein. Auch Lambrecht scheitert schon sehr bald am Aufbau von Beziehungen, was ihn zu einer frühen Resignation veranlasst, in der Arbeitswelt kann er sich durch Selbsttäuschung noch einige Zeit über Wasser halten. Roman und der Dandy verweigern von Beginn weg jegliche Kommunikation mit ihrem sozialen Umfeld. Ersterer spielt die Rolle des distanzierten Beobachters im Dorf beziehungsweise des mürrischen Gastes in der Interaktion mit der Mut- ter, letzterer verbarrikadiert sich von Anfang an in seinem festungsähnlichen Haus. Betrachtet man das Verhalten der Figuren, so kann daraus nur geschlos- sen werden, dass der Aufbau von Sicherheit und Geborgenheit nicht gelingen kann. Ohne Interaktion kann ein Ausbrechen aus der Außenseiterposition nicht gelingen. Die Frage, warum die Kommunikation misslingt, ob aus eigenem Ver- sagen oder aufgrund der festgefahrenen Strukturen der ingroup, ist dabei nur zweitrangig. Tatsache ist, dass aufgrund fehlender funktionierender Beziehun- gen die Suche nach Heimat zu keinem Erfolg führen kann. Es besteht maximal die Möglichkeit ein Außenseiterdasein á la Raimund Wazurak zu führen. In die- sem Fall wäre zwar immerhin ein Territorium vorhanden, das als Heimat gelten kann, der Preis dafür besteht jedoch in einer permanenten Abhängigkeit von der Willkür der ingroup und einer lebenslangen Isolation. Die Protagonisten er- fahren die alte Heimat als Enge und Zwang, Felix muss dies am Ende sogar physisch erfahren, der Dandy begibt sich freiwillig in die Einzelhaft, aus der kein Entkommen möglich ist. Somit wiederholen sich die Erfahrungen der Kindheit und Jugend, die zum Verlassen der Heimat beigetragen haben. Speziell im Fall von Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht trifft zu, was Jean Améry festgestellt hat, nämlich, dass erst der Mangel die Sehnsucht nach Hei- mat hervorruft. Aus der Distanz sind es vor allem Erinnerungen und Sehnsüch-

296 Vgl. Bastian 1995, S. 25. 98 te, die das Heimatbild gestalten. Diese Erinnerungen werden gerne geschönt und verklärt und somit erfolgt die Rückkehr mit falschen, zu optimistischen Er- wartungen. Aus der Exilerfahrung heraus kann die Sehnsucht nach der Heimat dermaßen überhand nehmen, dass jegliche Vernunft ausgeschaltet wird: „Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden...“297 Lambrecht und Golub verkörpern eine der- artige Einstellung und begeben sich vorbehaltlos in ein Milieu zurück, das ihnen in der Vergangenheit ausschließlich Schaden zugefügt hat. Auch im Falle Ro- mans lässt sich diese Sehnsucht aus der Ferne feststellen. Trotz einer starken Abneigung gegen die Heimat muss er „Heimweh, aussichtsloses Heimweh: Entwurzelung“298 in sich bemerken. Durch Erinnerungen und Projektionen ge- speiste Sehnsüchte nach Heimat, ausgelöst durch die Einsamkeit des Exils, können niemals ein objektives Bild der Heimat zeichnen. In diesem Sinne ver- tritt Améry, ebenso wie Schlink, die Ansicht, dass es sich bei dem Begriff Hei- mat um einen längst vergangenen Zustand handelt und insofern nur die Welt der Kindheit und Jugend als Heimat bezeichnet werden können. Heimat bein- haltet nicht nur die Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch die Träume und Wünsche des gesamten Lebens. Nur die Orte der Kindheit und Ju- gend „werden die Orte bleiben, in denen sich Heimatgefühl, Heimaterinnerung und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“299 Bezogen auf die Exilanten der Anti-Heimat-Romane bedeutet dies, dass selbst die Orte der Kindheit und Jugend als letzte Möglichkeiten zur Heimatfindung ausscheiden, da die Biogra- phien der Figuren von negativen Kindheits- und Jugenderlebnissen geprägt wa- ren. Selbst der verklärende Blick aus der Distanz kann die Situation nicht verbessern. Dem Dandy ist dies bewusst, er strebt nach einer mehr transzen- dentalen, denn realen Heimat, Roman wird die Tatsache der Heimatlosigkeit noch einmal schmerzhaft vor Augen geführt, indem er eine seelische Reise in die Kindheit unternimmt, Lambrecht und Golub träumen von der Versöhnung mit der Vergangenheit und scheitern.

297 Améry, in: Heidelberger-Leonhard (Hg.) 2002, S. 102. 298 SU, S. 43. 299 Schlink 2000, S. 49 – 50. 99

Anti-Heimat-Literatur vermittelt die Botschaft von Heimat als einer Unmöglich- keit. Von der Geburt an scheitern die Protagonisten an der Heimat, es gelingt ihnen nicht, ihre Identität positiv zu entwickeln, die Zeit des Exils wird zur Belas- tung und die Rückkehr zur Desillusionierung. Für die Anti-Heimat-Literatur gibt es Heimat jedenfalls nicht auf dieser Erde. Vielleicht nach dem Tod, ansonsten wird die Suche durch die Heimkehr nur prolongiert. Nicht zufällig sieht der Leser am Ende von „Der Emporkömmling“ und „Schub- umkehr“ zwei Menschen, die an zwei passageren Räumen, am Bahnhof bezie- hungsweise Flughafen, auf die Fortsetzung ihrer Suche warten. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der diachrone Verlauf des Heimatbildes. Wäh- rend in den beiden ältesten Werken noch Spuren eines ansatzweise vorhande- nen Optimismus zu finden sind (Lambrecht gelingt sogar ein kurzfristiger Auf- bau von Heimatgefühlen), zeigt sich in den beiden jüngeren Werken, und hier am Stärksten im jüngsten Roman von Zimmermann, a priori eine Negation jeg- licher Möglichkeit Heimat zu finden. Heimat in der Anti-Heimat-Literatur erweist sich als utopische Vorstellung, wobei dies ausgerechnet mit Hilfe des Heim- kehrmotivs dargestellt wird.

10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?

Welche Funktion das Heimkehrmotiv in Bezug auf das Genre der Anti-Heimat- Literatur erfüllt, soll in diesem Abschnitt dargestellt werden. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, eine Sichtweise, die sich durch einen kriti- schen bis negativen Zugang zur Heimat definiert, mit Hilfe von Heimkehrerfigu- ren zu verstärken. Es handelt sich bei den diskutierten Werken keineswegs um Heimkehrerge- schichten, zwar stehen die Heimkehrerschicksale (mit Ausnahme Romans) im Mittelpunkt der Romanhandlungen, sie dienen aber vor allem auch dazu, den Blick auf die Heimat zu öffnen. Das primäre Ziel der Anti-Heimat-Literatur ist die Destruktion von beschönigenden Heimatbildern, wie sie in anderen Genres, vor allem im Heimatroman vermittelt werden.

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Die Thematisierung von unangenehmen Fakten und Vorgängen in der Heimat soll im Rezipienten die Fähigkeit zu einer kritischen Reflexion seiner Lebens- welt bewirken und Betrachtungen aus anderen Blickwinkeln hervorrufen, „stri- ving for Sein [...] and not Schein [...], for naturalness and not façade“300. Be- denkt man dies, so zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv im Genre durchaus sei- ne Berechtigung hat und geeignet ist, diese Absichten zu realisieren. Denn erst durch die Heimkehrer beziehungsweise durch die Darstellung der Heimat aus deren Perspektive zeigen sich die Schattenseiten der Realität. Das Scheitern der Heimkehrer dient exemplarisch der Darstellung der Anti-Heimat. In der Ge- genüberstellung von ingroup und outgroup zeigen sich die Abgründe eines eng- stirnigen, provinziellen und stellenweise faschistischen Systems. Das Heim- kehrmotiv ist das Mittel zum Zweck der Darstellung der ingroup. Diese präsen- tiert sich in allen Werken in ähnlicher Form. Unbestritten sind die faschistischen Tendenzen der ingroup in „Fasching“ und auch in „Das tote Haus“. Dem Deser- teur Felix hilft es nichts, die Stadtbevölkerung vor dem Tod bewahrt zu haben, er ist und bleibt ein Verräter, die Strategie seiner „ehrlichen Anbiederung“301 ist zum Scheitern verurteilt. Auch der Dandy, als sowohl durch sein Äußeres als auch durch sein Verhalten abweichende Figur, hat keinen Platz in der Gemein- schaft. Zudem baut er sein Haus nicht den über die Jahre unveränderten ein- heitlichen Normen entsprechend und provoziert damit die Masse. In Menasses Komprechts verdichtet sich die österreichische Realität zu einem Mikrokosmos aus politischen, touristischen und rassistischen Versatzstücken. Auch Lam- brecht sieht eine Heimat, die sich auf Kosten der eigenen Identität an die Tou- risten verkauft hat, alte Gesinnungen sind nach wie vor in den Köpfen der Men- schen verankert, Zuflucht vor dieser Misere bietet nur die Flucht in den Alkohol. Das Heimkehrmotiv bewirkt, dass die Kulissen der Heimat gewendet werden, das Scheitern der Heimkehrer zeigt nicht deren eigenes Versagen, sondern lässt sich deutlich an den ungünstigen Verhältnissen festmachen. Die vier Wer- ke thematisieren die gesamte Palette der populärsten Anti-Heimat-Themen. Von der hartnäckig fortbestehenden nationalsozialistischen Attitüde in „Fa- sching“ ist es nur ein kleiner Weg zu den rassistisch motivierten Morden in

300 Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162. 301 FA, S. 221. 101

„Schubumkehr“ und “Das tote Haus“. Der Ausverkauf an den Tourismus auf Kosten der Natur und der eigenen Lebensqualität wird ebenso dargestellt, wie der bis in den Familienkreis hineinreichende Alltagsfaschismus der Bevölke- rung. Die Heimat präsentiert sich den Heimkehrern durchwegs als „´Schreckbild` Land“302, als „unheimliche Gegend“303 oder als „Haus voller monströser Schre- cken“304. Obwohl durch bis zu vier Jahrzehnte voneinander getrennt, sind die Gemeinsamkeiten der Werke offensichtlich. Wenn Koppensteiner behauptet, dass Anti-Heimatliteratur sich nicht gegen Heimat richtet, sondern nur einen anderen Heimatbegriff voraussetzt, so genügt diese Definition in den konkreten Fällen nicht. „Fasching“, „Der Emporkömm- ling“, „Schubumkehr“ und „Das tote Haus“ richten sich sehr wohl gegen die Heimat, sie zeigen allesamt mehr oder weniger drastisch die Unmöglichkeit ei- ner Bindung an und Integration in die hinter den Kulissen herrschenden Ver- hältnisse. In ihren Aussagen bestätigen die Werke Menasses These von Öster- reich als Anti-Heimat par excellence.

10.4 Ausblick

In diesem Schlusskapitel wurden noch einmal die Besonderheiten des Heim- kehrmotivs zusammengefasst. Die Motiven eigene Besonderheit als sowohl strukturelle, als auch inhaltliche Einheiten machte es notwendig beide Ebenen zu analysieren. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Motiv auf beiden Ebenen wichtige Funktionen einnimmt. Auf der ersten Ebene ist es handlungs- und spannungsauslösend und fungiert als Schnittstelle zwischen den Zeitebe- nen. Im Kontext der Anti-Heimat-Literatur wird das Motiv um neue Verlaufsfor- men erweitert, auch die Figuren selbst erhalten neue Eigenschaften, die dem geläufigen Typus des Heimkehrers nicht entsprechen. Dadurch erweitert sich der Motivhorizont der Rezipienten um neue Varianten und Schemata. Auf in- haltlicher Ebene konnte gezeigt werden, dass das Motiv zum einen für den

302 Heydemann, in: Aspetsberger (Hg.) 1980, S. 94. 303 Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132. 304 A. a. O., S. 134. 102

Handlungsverlauf von Bedeutung ist, da die Heimkehrer eine wichtige Position im Handlungsgeschehen einnehmen. Aber auch die über die Handlung hinaus- gehenden Grundaussagen werden zu einem wesentlichen Teil vom Heimkehr- motiv geprägt. Durch das Motiv erst können die Grundaussagen des Genres entwickelt und herausgearbeitet werden. Das Heimkehrmotiv ist wesentlich daran beteiligt, dass sich die ausgewählten Werke erst als Anti-Heimat-Literatur definieren können. Die Anti-Heimat-Literatur hat ihre beste Zeit hinter sich. Zu Unrecht wurde ihr vorgeworfen, genauso wie die Heimatliteratur mit Klischees zu operieren und „dem alten Kitsch der Verklärung nur mit dem schwarzen Kitsch der Denunzia- tion“305 begegnen zu können. Zweifelsohne bedient sich die Anti-Heimat- Literatur bisweilen der Satire oder der Übertreibung, um ihre Grundaussagen zu verstärken. Dies ist jedoch angesichts der kritisierten Strukturen ein legitimes Mittel. Die wichtigsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur sind tot (Innerhofer), verstummt (Wolfgruber), oder haben sich anderen Themen zugewandt (Hand- ke). Selbstverständlich muss sich auch das Genre der Anti-Heimat-Literatur den Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollziehen, stellen. Es benötigt neue Themen, neue Probleme und Fragestellungen, die aufgegriffen und thematisiert werden. Dann ergibt sich vielleicht der Eintritt in eine vierte Phase in Anschluss an Menasses Dreiteilung. Obwohl im Moment nur wenig Neues auf dem Sektor der Anti-Heimat-Literatur zu beobachten ist, soll doch auf zwei Neuerscheinun- gen hingewiesen werden, die, neben Zimmermanns Roman, womöglich einen Weg zur Fortsetzung der Tradition aufzeigen. Josef Winklers neues Werk „Roppongi. Requiem für einen Vater“ (2007) etwa verbindet Elemente der Anti- Heimat-Literatur mit Erzählungen aus Indien, wechselt zwischen globalen und regionalen Perspektiven. O.P. Ziers neuer Roman „Tote Saison“ („2007“), eine Mischung aus Kriminalroman und Satire, erweist als scharfe Abrechnung mit der Salzburger Tourismus- und Politwelt. An Themen sollte es nicht unbedingt mangeln in Österreich, auch deshalb wäre es wünschenswert, würde Anti-Heimat-Literatur wieder in verstärktem Ausmaß produziert und auch rezipiert werden.

305 Gauß, in: Die Zeit 4.10.1996, S. 12. 103

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Anhang

Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007

o Sehen sie sich mit dem Roman „Das tote Haus“ in der Tradition der so ge- nannten „Anti-Heimat-Literatur?

Nein, das war nicht mein Anspruch. Anti-Heimat-Literatur ist ein einigermaßen umgrenzter Begriff, der einen bestimmten Umgang von österreichischen Auto- ren mit ihrer Herkunft meint. In den siebziger Jahren war diese Art der Literatur die Antwort der in der Nachkriegszeit geborenen oder aufgewachsenen Gene- ration auf den geschichtsverfälschenden Heimatkitsch der fünfziger und sechzi- ger Jahre. Es war eine realistische und mitunter überrealistische Literatur, die das zum Thema machte, was die Kunst größtenteils aussparte: autoritäre Ge- sellschaftsstrukturen, den Katholizismus, die fehlende Anbindung ländlicher Regionen an ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein, die mangelnde Bildung, die Sprachlosigkeit. Mir scheint die Anti-Heimat-Literatur als Genre längst Teil der Literaturgeschich- te geworden zu sein. Aber wenn ich mich mit dem Begriff Heimat auseinander- setze und an mein Kärnten in den sechziger Jahren denke, dann komme ich nicht umhin über ein Land und eine Zeit zu schreiben, die mir heute befremdlich und abweisend anmuten. Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, dann kommt mir vieles von dem, das mir damals normal schien, sehr roh vor. Man lebte viel abgeschlossener als heute. o In einem Interview bezeichnen Sie den Roman als autobiographisch und die Geschehnisse als verdichtetes Panorama selbst erlebter Erfahrungen. War es ihnen wichtig, auch Kritik an der ländlichen Realität, beziehungsweise an Österreich allgemein, zu üben?

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Kritik an Österreich wollte ich nicht üben. Und die ländliche Realität ist, wie sie ist. Nicht, dass sie nicht verändert werden könnte, aber, ehrlich gesagt, halte ich die städtische Bevölkerung auch nicht für aufgeschlossener. Der Roman ist in der Tat stark autobiografisch, auch wenn meine Morde immer nur in der Phan- tasie stattgefunden haben. Aber wenn man darüber nachdenkt, warum man als erwachsener Mensch so und so funktioniert, dann wird man merken (bei mir war das jedenfalls so), dass man in grundlegenden Dingen immer das Kind ist, das bestimmte Emotionen im Zusammenhang mit ersten Erfahrungen macht. Diese Prägungen schleppt man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich die Lebensumstände vollkommen ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt. Man merkt das, wenn man einer Situation ausgesetzt ist, die man unbewusst vergleicht mit einer Kindheitssituation. Manchmal ist es auch nur ein diffuses Deja-Vu, die plötzliche Ahnung, Vergleichbares schon erlebt zu haben. Insofern über ich keine Kritik an der Umwelt, in der ich aufgewachsen bin, denn diese bestand ja ihrerseits aus Menschen, die rund um den Ersten Weltkrieg und in der wenig erbaulichen Zeit der Ersten Republik und des Ständestaats Kinder gewesen sind. Ich meine nur, dass schlechte Erfahrungen durch Gene- rationen durchgereicht werden, während die guten Erfahrungen punktuelle Er- eignisse bleiben. o Welche Absicht steckt hinter der politisch unkorrekten Bezeichnung „Neger“ für den Begleiter des Protagonisten?

Die Absicht war, einen Menschen zu beschreiben, der keinen Namen hat, den er auszusprechen imstande ist. Der sprachlose Südstaaten - „Nigger“ bleibt für den Erzähler ohne Namen und auf seine Zuschreibung beschränkt. Auch wenn die beiden menschlich einiges verbindet, ist das Spiel mit der rassistischen Zu- schreibung zur Gewohnheit geworden. In der Heimat des Erzählers spiegelt sich dann der Süden der USA. Die Abneigung gegen den Fremden wird zum Ausdruck gebracht. Zuerst ist da nur verbale Gewalt, dann aber, als die Unter- werfungsgesten ausbleiben, wird sie konkret. Neger ist ja nach wie vor eine gängige Bezeichnung für dunkelhäutige Menschen in unserem Land.

116 o Welches sind die Hauptthemen des Romans?

Die Kraft der Erinnerung, das Versagen der Liebe und der Einbruch des Frem- den ins Vertraute. Und natürlich Gewalt. Die tägliche Gewalt und die Zuspitzung im Mord. o Welche Funktion hat das Motiv der Heimkehr für den Text? Welchen Einfluss hat es auf den Handlungsverlauf, auf die Textstruktur, zu welchen anderen Themen/Motiven steht es in Beziehung?

Die Heimkehr ist, wie wir wissen, ein altes Motiv, anhand dessen sich zeigen lässt, dass in der Zeit der Abwesenheit, bei jenen, die man verlassen hat, ent- weder sehr viel oder gar nichts geschehen ist. In meinem Fall ist die Heimat als Kulisse im Bewusstsein des Erzählers fast verschwunden, als Gefühl war sie immer präsent. Bei der Rückkehr scheint vieles anders geworden zu sein, doch es stellt sich rasch heraus, dass die Menschen älter, kränker oder etwas wohl- habender geworden sind, sich mental aber nicht aus der Bunkermentalität des Wir-sind-Wir herausgewunden haben. Ohne die Odyssee bemühen zu wollen, aber auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu einem Gefühl der Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg. Der Heimkehrer stemmt sich – unter anderem durch den Umbau des Hauses, das alle gewohnten Maße sprengen soll – ge- gen die Unterwerfungsgelüste der Bevölkerung, was den offenen Konflikt zur Folge hat. Damit wird die Heimkehr zu einem Endspiel. Es gibt das Jetzt und das Damals. Eine Zukunft ist undenkbar. Der Erzähler zieht sich zurück in das Innere des Labyrinths – d.h. in den Keller, ins verbotene Zimmer, in den Mutterleib. Er wählt das Lebendig-Begraben-Werden an der Stelle, an der schon seine Fami- lie aus dem Leben geschieden ist. o Es gibt mehrere Bilder/Motive, die sich wiederholt im Text wieder finden, et- wa der Großvater mit den Porzellanpierrots, Verse von Lenau oder das Bild der Akrobatenfamilie. Gibt es so etwas wie ein Leitmotiv im Roman?

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Es gibt eigentlich nur ein durchgängiges Motiv, und das ist die Sehnsucht nach der Sekunde der absoluten Stille. Diese hat der Erzähler nach dem Mord an den Eltern erlebt und die will er immer wieder heraufbeschwören, ohne dass es ihm möglich ist. Lenau ist wohl auch präsent, aber eher als Reminiszenz an ei- ne romantische Vorstellung vom Leben, die der Erzähler in seiner Jugend hatte und die er nie ganz missen will. Dazu ist Lenau in Amerika ähnlich gescheitert wie der Erzähler. Bei einer stümperhaften Bergbesteigung wollte er sich das Leben nehmen, was ihm nicht gelungen ist. Der Erzähler tut es ihm nach (in Ohio), ebenfalls ohne seinem Leben dadurch eine dramatische Wendung ge- ben zu können. o Zum Protagonisten: - Einerseits Dandy, andererseits ein Vergleich mit H.D. Thoreau, lebt in Manhattan und dann in der Einsamkeit der Sümpfe. Wie charakterisie- ren Sie diese widersprüchliche Figur?

Er ist jemand, der vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das nicht klappt. Das Dandyhafte ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu verpassen. Aber wenn man zugleich den frühen Teil seiner Biografie abschnei- den möchte, kommt eben nichts Rechtes zustande. Er will wohl das Kunststück zuwege bringen, sich selbst im Lauf der Jahre zu erfinden. Er ist der berühmte Mann ohne Vergangenheit, der bloß das Pech hat, nicht das Gedächtnis verlo- ren zu haben.

- Was bewegt ihn, heimzukehren an den Ort einer traumatisierenden Kindheit, beziehungsweise zu bleiben, angesichts der Ablehnung, die ihm von allen Seiten entgegenschlägt?

Zur Heimkehr entschließt er sich wohl deshalb, weil er in all den Jahren in den USA weder ein Amerikaner geworden ist, noch „in der Ferne“ sich von dem jun- gen Mann entfernt hat, der er bei seiner Flucht aus Europa gewesen ist. Er hat nichts zuwege gebracht, hat hauptsächlich vom Geld anderer gelebt und immer nur den Moment der Stille gesucht, diesen einmaligen, scheinbar unwiederhol- baren Moment, den er im Haus der Kindheit erlebt hat. 118

Die Heimkehr ist der Versuch, diese Stille am Ort des Verbrechens möglicher- weise noch einmal „zu hören“. o Kann die Heimkehr als gescheitert betrachtet werden, woran ist sie geschei- tert? Der Erzähler hat die Stille, die er gesucht hat, wieder gefunden, diese scheint aber zur Qual zu werden? Wie lässt sich das Romanende deuten?

Das lässt sich wohl so deuten, dass, wenn man etwas gefunden hat, dem man ein halbes Leben lang fieberhaft nachläuft, man auch sein eigenes Ende gefun- den hat. Also: man sucht entweder ewig und wird dabei alt, ohne glücklich zu werden. Oder man kann etwas scheinbar Unwiederholbares noch einmal erle- ben. Der Preis dafür ist jedoch das Ende der eigenen Existenz. Der Erzähler verharrt im Innenraum der Stille wie in einem Grabmal. Die Welt wird ihn nicht mehr sehen. Und der Ort am Fuße des Abhangs, auf dem das Haus steht, wird auch weiterhin der Ort mit seinen beschädigten Menschen sein, die sich selt- same Geschichten über seltsame Rückkehrer/Eindringlinge erzählen.

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Abstract

Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Verwendungs- und Erscheinungsformen des Heimkehrmotivs in der österreichischen Anti-Heimat-Literatur. Sie besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Im theoretischen Teil wer- den zu Beginn verschiedene Heimatkonzepte dargestellt und zueinander in Verbindung gesetzt. Dabei zeigt sich, dass es einige Konstanten gibt, welche für die Entstehung von Heimatgefühl und damit auch für die Herausbildung von Identität und Selbstsicherheit verantwortlich sind. Als unabdingbare Vorausset- zungen sind dabei vor allem eine gelungene Primärsozialisation und funktionie- rende soziale Beziehungen zu nennen. Anschließend daran folgt ein Kapitel zum Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur. Es wird gezeigt, dass Heimat in der Literatur ab dem Entstehen der Heimatkunstbewegung ideologisch aufge- laden und missbraucht wird. Aus dieser Entwicklung heraus ist die Entstehung der Anti-Heimat-Literatur zu betrachten, die sich als Gegenpol zur traditionellen Heimatliteratur verstand. Das entsprechende Kapitel dazu zeichnet den Weg des Genres von den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis in die Ge- genwart, definiert die Merkmale und versucht anhand eines aktuellen Konzep- tes, die Stellung der Anti-Heimat-Literatur in der österreichischen Gegenwartsli- teratur zu definieren. Im Anschluss daran wird auf die Funktion von Motiven allgemein und des Heimkehrmotivs im Besonderen Bezug genommen. Dabei zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv, als sowohl inhaltliches, wie auch strukturelles Element in der Li- teraturgeschichte in verschiedenen Ausprägungen vorhandenen ist, seine Ver- wendung in der Anti-Heimat-Literatur jedoch eher selten zu beobachten ist.

Im analytischen Teil wird die Verwendung des Heimkehrmotivs in vier ausge- wählten Werken untersucht. („Fasching“ von Gerhard Fritsch, „Der Empor- kömmling“ von Franz Innerhofer, „Schubumkehr“ von Robert Menasse und „Das tote Haus“ von Peter Zimmermann). Dabei wird sowohl auf die erzähltechni- sche, als auch die inhaltliche Ebene Bezug genommen. Der zeitliche Rahmen der Werke spannt sich über vier Jahrzehnte und zeigt dadurch auch exempla- risch die Entwicklung des Genres. Abschließend werden die Erkenntnisse der

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Einzelanalysen zusammengefasst und Grundaussagen formuliert. Folgende Besonderheiten lassen sich beschreiben: Zwar ist die Heimkehr Ausdruck einer Suche nach Heimat und Identität, was der klassischen Motivverwendung ent- spricht, allerdings zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat- Literatur von herkömmlichen, bekannten Verläufen abweicht. Weiters zeigt sich, dass das Motiv eine zentrale handlungs- und spannungsauslösende Funktion einnimmt. Das Motiv löst jedoch nicht nur Handlung aus, sondern auch einen Reflexionsprozess, der einen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegen- wart ermöglicht. Weiters wird mit Hilfe des Heimkehrmotivs nicht, wie in den klassischen Heimkehrergeschichten, auf Veränderungen, sondern auf Kontinui- täten beziehungsweise Stillstände hingewiesen. Der Verlauf zeigt eskalatori- sche Tendenzen, die zur Verschärfung der Krisen der Heimkehrerer führen und bewirken, dass die Rückkehr nur von kurzer Dauer ist. Für die Heimkehrer er- weist sich Heimat als Utopie. Bereits vorhandene, im Gedächtnis der Rezipien- ten gespeicherte Heimkehrschemata decken sich nicht mit dem Schema der Heimkehr in der Anti-Heimat-Literatur. Die Identitätskrisen der Protagonisten, die mitverantwortlich für die Entscheidung zur Rückkehr sind, können durch eine Heimkehr nicht bewältigt werden, in weiterer Folge führt die Heimkehr ent- weder in den Tod oder zu einem abermaligen Verlassen der Heimat. Das Heim- kehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur dient in erster Linie dazu, anhand des Scheiterns der Heimkehrer die Heimat kritisch zu beleuchten. Durch die Heim- kehr zeigt sich, dass es unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist, Heimat zu finden, da die Voraussetzungen, wie sie auch zu Beginn der Arbeit definiert wurden, nicht erfüllt sind. Weiters zeigt sich, dass erst durch das Heim- kehrmotiv eine Verortung der Werke im Genre möglich ist, da es dazu beiträgt, dessen Grundaussagen zu vermitteln.

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Lebenslauf

Persönliche Daten Name Rene Peinbauer Geburtsdatum 18.08.1980 Geburtsort Linz Staatsbürgerschaft Österreich

Schulbildung 1986 – 1990 Volksschule Oepping/OÖ 1990 – 1998 BRG Rohrbach/OÖ

Studium 09/2000 – 03/2004 Studium der Sozialarbeit, Bundesaka- demie für Sozialarbeit, Wien seit 03/2001 Diplomstudium Psychologie, Universi- tät Wien 10/2004 – 12/2007 Diplomstudium Germanistik, Universi- tät Wien

Berufliche Tätigkeiten Seit 2000 Hauptsächlich beschäftigt im Sozialbe- reich, vor allem niedrigschwellige Dro- gen- und Obdachlosensozialarbeit

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