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Arne Vestbø: Moritz Rabinowitz. En biografi. : Spartacus forlag 2011, 253 S.

Seit dem überragenden Erfolg des Doku- Nach monatelanger Flucht und dem Le- mentarfilms Der Mann, der ben in verschiedenen Verstecken an abge- liebte (Mannen som elsket Haugesund) legenen Orten West-Norwegens wurde von Jon Haukeland und Tore Vollan aus Rabinowitz Ende 1940 gefasst und im dem Jahre 2003 war es nur eine Frage der November 1941 in das KZ Sachsenhau- Zeit, bis dieses Buch geschrieben werden sen deportiert. Hier starb er am 27. Feb- würde. Moritz Rabinowitz (1887–1942) ruar 1942. Als offizielle Todesursache war in den 1930er Jahren einer der profi- wurde Lungenentzündung angegeben. liertesten Juden Norwegens und der einzi- ge unter ihnen, der in der Hafenstadt Hau- Im norwegischen Volksmund hielt sich gesund lebte. Im Laufe seiner beruflichen lange das Gerücht, dass, wenn Rabino- Karriere baute der einstige Einwanderer witz nur gewollt hätte, er dem Tod in ei- aus Polen sich ein Konfektionsimperium nem deutschen Konzentrationslager hätte auf, das schließlich mehrere Städte Süd- entgehen können. Der eigene Reichtum Norwegens umspannte und um das er von sei ihm zum Verhängnis geworden. Der vielen beneidet, für das er aber vermut- Film von Jon Haukeland und Tore Vollan lich nur von wenigen bewundert wurde. räumte mit diesem antisemitischen My- thos zum ersten Mal auf und formulierte Doch Moritz Rabinowitz war nicht nur eine andere These: Demnach liebte Rabi- ein erfolgreicher Geschäftsmann, er war nowitz Haugesund, was ihm nach dem auch ein aufmerksamer Beobachter und Einmarsch deutscher Truppen in Norwe- Kommentator des Zeitgeschehens. Mit gen die Flucht ins Ausland unmöglich mehreren Hitler-kritischen Artikeln mach- machte. Mehrmals sei die Überfahrt nach te er ab 1932 sogar außerhalb Norwegens Island ins Auge gefasst worden. Die Tra- von sich reden. Im Westdeutschen Beob- gik des Moritz Rabinowitz lag nun nicht achter wurde er 1936 als „der weltliche nur darin, dass er von der gefasst Führer der Juden in Norwegen“ bezeich- und ermordet wurde, sondern auch, dass net, und als die deutsche Wehrmacht 1940 er von seiner Heimatstadt Haugesund nie Norwegen besetzte, so heißt es, soll er „zurückgeliebt“ wurde. einer der ersten gewesen sein, dessen die deutschen Häscher habhaft werden wollten. Arne Vestbø, norwegischer Historikerund Absolvent eines Magisterstudienganges in

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Holocaust studies, schreibt in seiner Bio- der Autor vertritt die gleichen Thesen. graphie über Moritz Rabinowitz , dass es Das Buch bleibt aber in mancher Hinsicht in Norwegen länger als anderswo gedauert hinter dem Film zurück. Denn da, wo es habe, bis man verstand, dass der Völker- Haukeland und Vollan gelang, durch mord an den europäischen Juden nicht erst pointiert gesetzte Gegenüberstellungen in den deutschen Konzentrationslagern von heutigem und historischem Material stattfand, sondern vor den eigenen Haustü- den Menschen Moritz Rabinowitz erfahr- ren begann. 1986 wurde mit dem Hauge- bar werden zu lassen, beschränkt Vestbø sunder Gedenkstein für Moritz Rabinowitz sich auf das bloße Nacherzählen der äu- immerhin das erste individuelle Denkmal ßeren Fakten zu Rabinowitz’ Lebensweg. für einen norwegischen Juden errichtet, Er konzentriert sich auf den Geschäfts- der während des Zweiten Weltkriegs ums mann Rabinowitz, wie er in der Öffent- Leben kam. Bis heute sind individuum- lichkeit wahrgenommen wurde, und ver- zentrierte Erzählungen aus Norwegen, die sucht, einen Menschen aus der das Leiden der Holocaustopfer nachvoll- Außenperspektive zu zeigen, der nie in ziehbar machen, aber rar. Mit Haukelands die ihn umgebende Gemeinschaft auf- und Vollans Der Mann, der Haugesund genommen wurde. Vestbø begründet sein liebte, Espen Søbyes Kathe. Deportiert Vorgehen damit, dass es abgesehen von aus Norwegen (Kathe, alltid vært i Norge; einigen Fotos, Büchern und Möbeln kaum 2003) und Ruth Maiers Das Leben könnte private Gegenstände aus dem Nachlass gut sein (Ruth Maiers dagbok; 2007) hat Rabinowitz’ gebe. Es ist kein Tagebuch sich in den letzten Jahren einiges ge- überliefert, und überlebende Verwandte tan.Trotzdem ist heute gerade die Österrei- gibt es auch nicht. Rabinowitz’ Frau Jo- cherin Ruth Maier, die Anfang 1939 nach hanna, deren Vater einst Kantor in Norwegen kam und hier nicht einmal vier war, starb 1939, und die gemeinsame Jahre ihres Lebens verbrachte, diejenige Tochter Edith wurde 1943, ebenso wie der aus Norwegen deportierten und im Moritz Rabinowitz’ Bruder Herschel, mit Holocaust ermordeten Jüdinnnen und Ju- ihrem Sohn in Auschwitz ermordet. den, über die am meisten bekannt ist. Die Begründung Vestbøs muss man gel- Arne Vestbøs Biographie ist in gewisser ten lassen und die Schwierigkeiten, die Weise das Buch zum Film von Jon Hau- sich für den Biographen aus der vollstän- keland und Tore Vollan. Es stützt sich digen Auslöschung einer Familie ergeben, weitgehend auf das gleiche Material, so- in Rechnung stellen. Wie frühere Ange- wohl was die schriftlichen Quellen als stellte Rabinowitz’ mitgeteilt haben, muss auch die Zeitzeugenstimmen angeht, und ihr Arbeitgeber ein einsamer Mensch ge-

84 NORDEUROPAforum 21 (2011:2) Rezensionen wesen sein. Als einziger Jude im christ- (1995) aufgeführt wurden und es hier lich-pietistischen Haugesund wurde er von heißt, die beiden seien am 2. März 1943 seinen Mitmenschen ausgegrenzt. Privaten von Berlin nach Auschwitz deportiert Umgang pflegte mit ihm so gut wie nie- worden? Edith sei zu dieser Zeit mit ihrem mand. Dennoch erstaunt die Distanziert- zweiten Kind schwanger gewesen. Bei heit, mit der Vestbø die Lebensgeschichte Vestbø ist hiervon nicht die Rede. An einer Rabinowitz’ erzählt. Der Biograph muss Stelle wird behauptet, Rabinowitz habe sich doch an der Fülle des Materials mes- eine Geliebte gehabt. Über sie teilt Vestbø sen lassen, mit dem Haukeland und Vollan mit: „Sie war Witwe und hieß Aagot vor wenigen Jahren ihr Publikum über- Kvam, heiratete aber später erneut und zeugen konnten. nahm einen anderen Namen an.“ („Hun var enke og het Aagot Kvam, men giftet Bleibt aber schon Rabinowitz in der Dar- seg senere på ny og fikk et annet navn.“, stellung Vestbøs merkwürdig blass, so S. 108) Diese Information ist neu, doch fragt sich der Leser auch, warum der Au- viel mehr erfährt der Leser über Kvam tor so gut wie nichts über die nicht- leider nicht. Auch an die Frage, was es mit jüdischen Protagonisten seines Buches Rabinowitz’ postulierter Liebe zu Hauge- mitteilt. Es fallen Namen wie Hanna Het- sund auf sich hatte, wagt Vestbø sich nicht land, Bergljot Førre und Erling Engedal, heran. Aus seiner Darstellung wird nicht die 2003 schon Haukeland und Vollan ersichtlich, warum Rabinowitz eine so Rede und Antwort standen. Aber keiner starke Hingabe an die norwegische Hafen- dieser Informanten scheint eine eigene stadt verspürt haben soll, wo deren Ein- Geschichte zu haben. Nicht einmal Anga- wohner ihm doch unmissverständlich zu ben zum Alter und zur Dauer des Ange- verstehen gaben, dass sie ihn nicht als ih- stelltenverhältnisses in der Firma Rabi- resgleichen betrachteten. Immerhin zogen nowitz’ werden gemacht. Offen bleibt Rabinowitz’ Frau und Tochter es schon selbst die Frage, ob jemand von ihnen 1927 vor, im weiter nördlich gelegenen, noch am Leben ist. Offensichtlich hat urbaneren zu leben. Vestbø mit ihnen selbst keine Gespräche geführt. Auch außerhalb Norwegens Insgesamt bietet Arne Vestbøs Buch nur scheint Vestbø kaum Nachforschungen wenig, das nicht bereits aus dem Film von angestellt zu haben. Das ist bedauerlich. Haukeland und Vollan bekannt wäre. Der Wie kommt es, dass Moritz Rabinowitz’ Autor hat sich eine große Chance entge- Tochter Edith Reichwald und ihr zweijäh- hen lassen. riger Sohn im Berliner Gedenkbuch der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus Raimund Wolfert (Berlin)

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