<<

Prof. Dr. phil. habil. Nikolaus Riehl wurde 1901 in St. Petersburg, dem heutigen Leningrad als Sohn des Chefingenieurs der Petersburger und Halske- ZehI1 Jahre Werke Wilhelm Riehl und seiner Ehefrau Helene geb. Kagan geboren. Dort absolvierte er die deutsche St. Petri Schule und siedelte nach dem Brest-Litowsker Im Frieden mii den Eltern nach über. Nach dem Studium der Physik an der Berliner Universität pro- movierte er 1927am Institut von OUo Hahn und . Danach begann er seine berufliche Tätigkeit bei der Auer-Gesellschaft in Berlin. Nach einer Reihe von Errungenschaften auf dem Gebiet der angewandten Radioaktivität, z.B. Einführung der, techni- schen Gamma-Radiografie, entwickelte er ...,gemeinsam mit der Firma Osram - die ersten, heute allgemein eingeführten Leuchtstoff-Lampen und Röhren. Diese und andere technische und wissenschaftliche Ergebnisse auf dem Gebiet

der Lumineszenz faßte er 1941 in dem Buch n Physik und technische Anwen- dungen der Lumineszenz" zusammen, das in mehrere Sprachen übersetzt wur-

de. 1939 wurde er zum Direktor der n Wissenschaftlichen Hauptstelle" der Auer-Gesellschaft ernannt und begründete in Deutschland - gemeinsam mit der Degussa - die Herstellung von Uran für Kernreaktoren. 1945wurde er zu- sammen mit einer Reihe seiner Mitarbeiter in die Sowjetunion zwangsver- pflichtet. Dort baute er die Uranfabrikation für Kernreaktoren auf. Trotz höchster Auszeichnungen (u.a. Stalin-Preis 1. Klasse und Lenin-Orden) be- stand er auf Rückkehr nach Deutschland. Als dies 1955 trotz heftigen Wider- stands der Sowjet-Regierung endlich gelungen war, beteiligte ersich am Auf- bau des ersten deutschen Kernreaktors in Garching bei München und über- nahm 1957einen Lehrstuhl für Technische Physik an der Technischen Univer- sität München. Bis zur Emeritierung und noch darüber hinaus wirkte er auf verschiedenen Gebieten der Festkörperphysik, veröffentlichte eine Vielzahl weiterer wissenschaftlicher Arbeiten, veranstaltete er mehrere internationale Tagungen (über Lumineszenz, protonische Halbleiter, Physik des Eises) und verbrachte ein Semester als Gastprofessor an der Universität New York. 1973 wurde ihm der Bayerische Verdienstorden verliehen. ...,Mit dem hier vorlie- genden Buch beschreibt er einen besonders interessanten Abschnitt seines be- wegten Lebens.

~ Dr. Riederer-Verlag GmbH· Stuttgart -r .1).

NIKOlAUS RIEHL

ZEHN JAHRE IM GOLDENEN KÄFIG

ERLEBNISSE BEIM AUFBAU DER SOWJETISCHEN URAN - INDUSTRIE

~ Dr. Riederer-\erlag GmbH . Stuttgart VORWORT

Vor genau 50 Jahren haben und F. Strassmann die Atomspal- tung entdeckt. Professor Dr. Nikolaus Riehl war als Schüler von Lise Meitner und Otto Hahn nicht nur Zeuge dieser Entdeckung, er hat zur darauf aufbau- enden Entwicklung der Atomtechnik entscheidend beigetragen, indem er zu- nächst in Deutl\chland, dann in Rußland und dann wieder in Deutschland die Reindarstellung des Urans und andere wichtige Grundlagen geschaffen und gefördert hat. Er ist damit ein herausragender Vertreter derjenigen Wissen- schaftler, die das uns jüngeren meistens nur aus kurzen Berichten bekannte Schicksal der zwangsweisen Verlagerung von Forschergruppen nach dem Krieg miterlebt hat. Professor Riehl führte dieses Schicksal in sein Geburts- land zurück. Diesen Abschnitt seines bewegten Lebens hat er in einem Manu- skript festgehalten, das ich durch Zufall vor kurzem zu sehen bekam. Die Fas- zination und das Vergnügen, das diese Schilderung beim Lesen auslöst, sollte nicht auf Freunde und Bekannte Professor Riehls beschränkt bleiben. Ich dan- ke dem Dr. Riederer- Verlag, daß er meine Anregung zum Verlegen dieses Manuskripts so bereitwillig aufgegriffen hat, so daß das Buch rechtzeitig zu dem genannten Jubiläum erscheinen kann.

Der unser gesamtes Jahrhundert umfassende Einblick des Autors in historische Zusammenhänge paart sich mit einer Darstellungskunst, :die geprägt ist von Humor, Weisheit und Verständnis für menschliche Schwächen. Ich bin sicher, daß dieses Buch den Zugang über interessierte Fachkollegen hinaus zu einer breiten, an zeitgeschichtlichen Fragen interessierten Leserschaft führen wird.

©.Copyright Dr. Riederer-Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. 1988 Druck: difo-druck schmacht, Bamberg Umschlagentwurf: Dieter Drescher, Prälat-Fischer Straße 11 Stuttgart, im Juli 1988 HANS ECKART EXNER 7580 BühVBaden -I' --I'

1. WR EINFÜHRUNG

In diesem Buch findet der Leser meine Erinnerungen an die Jahre 1945 - 1955, die ich in der Sowjetunion als Leiter einer Gruppe deutscher Wissen- schaftler und Techniker verbrachte. Dank der Art meiner dortigen Tätigkeit und dank völliger Beherrschung der russischen Sprache kam ich in einen näheren Kontakt mit dem sowjetischen Leben, als es sonst einem Ausländer möglich ist, und zwar in vielerlei Bereichen: in der Regierungsebene, im Ver- waltungsapparat der Ministerien, in Forschungsinstituten und Fabrikbetrieben sowie auch im Alltag der Sowjetmenschen.

Mir wurde immer wieder von verschiedenen Seiten geraten, das Erlebte und Gesehene zu Papier zu bringen, weil es von allgemeinem, geschichtlichem und politischem Interesse sein könnte. Wenn ich nun diesem Rat nachkomme, so tue ich das ohne jede Ambition, eine umfassende oder gar erschöpfende Darstellung der sowjetischen Verhältnisse jener Zeit zu versuchen. Vielmehr soll es sich um Selbsterlebtes, um persönliche Impressionen eines verhältnis- mäßig unvoreingenommenen Betrachters handeln, der manchmal versucht, ,die Erfahrungen zu ordnen und zu analysieren, manchmal aber auch aus dem bloßen Staunen nicht herauszukommen vermag. Wa.", hier geschildert wird, ist zwar Geschichte, jedoch vielfach nur in Form von Geschichten.'

An manchen Stellen des Buches habe ich - unter Hintansetzung des pro- fessoralen Ernstes - einen ironisch-heiteren Stil der Darstellung gewählt. Ge- wiß war für uns die Zeit in Stalins Reich alles andere als heiter. Aber bekannt- lich bieten Diktaturstaaten auch lächerliche Züge oder zwingen einen in lächer- liche Situationen; und Lächerliches ist nicht nur dazu da, daß man sich

- 1 - darüber ärgert, sondern auch dazu, daß man darüber lacht. neszierende Substanzen), die Osram -Gesellschaft die eigentliche Lamperl- und Röhrenherstellung innehatte. Ich wandte mich dann auch noch allen son- Bei der Darstellung des Selbsterlebten will ich möglichst vermeiden, in stigen Anwendungen lumineszierender Substanzen zu, wie Leuchtfarben, Rönt- eine Selbstdarstellung zu verfallen und die Zahl der mit Jugendbildern ge- gen-Durchleuchtungsschirme, Fernsehschirme usw. sowie auch rein wissen- schmückten Autobiographien um eine weitere zu vermehren. Selbstdarstellun- schaftlichen Arbeiten auf diesem Erscheinungsgebiet. Diese Arbeiten fanden gen sollten unseren Künstlern, Sportkanonen oder Politikern vorbehalten blei- ihren vorläufigen Abschluß durch mein Buch über" Lumineszenz und ihre An- ben. - Zum besseren Verständnis des Zustandekommens und Verlaufs meiner wendungen", das auch in einigen anderen Ländern als Übersetzung erschien. Rußland-Erlebnisse - auch für den fachlich uneingeweihten Leser - möchte Erst viele Jahre später kehrte ich zu diesem meinem Lieblingsgebiet zurück. ich nur die folgenden knappen Angaben über meinen beruflichen Werdegang Ich habilitierte mich 1938, blieb aber bei der Auer-Gesellschaft und wurde vor dem Rußland-Aufenthalt vorausschicken. dort lffirz ~or.äem ~r.iegsausl5r.ucnzum lDireKtor.äer. neugegr.ünöeten "~issen scnaftlicnen HauRtstelle" ernannt, einer Gründung, deren Hauptaufgabe es Ich bin in Petersburg geboren, siedelte nach dem Brest-Litowsker Frie- war, neben laufender Forschungs- und Entwicklungsarbeit neue Arbeitsgebie- den als deutscher Staatsangehöriger mit meinen"Eltern nach Berlin über und te für die Auer-Gesellschaft zu suchen und zu erschließen. Nach der Ent- studierte dort Physik. Nach Abschluß der Doktorarbeit im Dahlemer Institut deckung der Uran -Spaltung war es daher für mich naheliegend, die Techno- von Otto Hahn und Lise Meitner trat ich 1927 bei der Auer-Gesellschaft ein, logie der Herstellung reinsten Urans für die Kernenergiegewinnung in Angriff einer sehr angesehenen Berliner Firma, die nach dem berühmten österreich i- zu nehmen, dies umso mehr, als die Auer-Gesellschaft bereits große Erfahrun- schen Erfinder Auer von Welsbach benannt ist und die seine Erfindungen ver- gen auf ähnlichen chemisch -technologischen Gebieten besaß. Hinzu kam, daß wertete. Zum damaligen Arbeitsprogramm der Auer-Gesellschaft gehörten die die Frankfurter Firma Degussa, zu deren Konzern damals die Auer-Gesell- aus Thorium- und Ceroxid bestehenden Gasglühlichtkörper ("Gas-Glüh- schaft gehörte, mit ihren metallurgischen Erfahrungen den letzten Schritt der strümpfe"), die als "Seltene Erden" bezeichneten Elemente, das Thorium, die Uran -Technologie, nämlich die Überführung des Urans in den Metall-Zu- radioaktiven Substanzen sowie auch Atemschutzgeräte. Durch meine Initiative stand, übernehmen konnte. Nach dem Krieg entstand hieraus die Firma wurde dann das Programm noch ausgeweitet, und zwar durch lumineszierende Nukem, die in Deutschland die Herstellung der Uran-Brennelemente in,ne- Substanzen und durch das Uran. (Die jetzt, d.h. nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Doch vorerst brachte die Beschäftigung mit Uran mir und meinen Mit- noch bestehende Auer-Gesellschaft behielt nur das Atemschutzgebiet, baute es arbeitern die 10 Jahre Sowjetunion ein, die hier geschildert werden sollen. aber in verschiedene Richtungen aus). Ich begann meine Tätigkeit in der Ab- teilung für radioaktive Substanzen. Nachdem ich dort zunächst Verschiedenes So gestaltete sich denn mein Leben zu einem Pendeln zwischen P,hysik auf dem Gebiet der angewandten Radioaktivität zustandebrachte, weitete ich und Chemie, zwischen Wissenschaft und Technik, zwischen Managertum und

mein Arbeitsgebiet aus und gab Anstoß zur Entwicklung der Leuchtstofflam- Forschung, so daß ich mich zuweilen als "Gemischtwarenhändler""bezeichne. I pen (in Laienkreisen oft fälschlich Neonröhren genannt). Durch Zusammen- Auch in geographischer Beziehung war es ein Pendeln: erst Kindheit und J~:- arbeit m~'~den Osram - Werken gelangte diese Entwicklung zum erfolgreichen gend in St. Petersburg, dann etwa 25 Jahre Berlin, dann 10 Jahre Sowjetunion I Abschluß, wobei die Auer-Gesellschaft die Herstellung der Leuchtstoffe (lumi- und jetzt wieder über 30 Jahre Deutschland. "

-2- -3- Wenn ich im folgenden bei Schilderung von Gesprächen manchmal - der Lesbarkeit zuliebe - einzdne Sätze in Form von direkter Rede anführe, so kann man dabei keine stenographische Genauigkeit erwarten, umso mehr als eine sinngemäße Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche einen Satz- umbau erfordert. Aber umso strenger hielt ich mich in solchen Fällen an eine 2 ABTRANSPORT IN DIE SOWJETUNION UND SUCHE NACH genaue Wiedergabe der Aussage und des Kolorits. EINEM FÜR DIE URANFABRIK GEEIGNETEN ORT

Berlin lag in Schutt und Alöiche.Das" tausendjährige Reich" Hitlers war zu Ende gegangen. - Ein Teil meiner Mitarbeiter, ich selbst und unsere Fami- lien hausten in mehreren Ortschaften in der Nähe von Rheinsberg in der Mark. Wir hatten auch einen Teil unserer Geräte dorthin gebracht, um unsere Arbeit notdürftig fortzusetzen. Anmerkung bei der Korrektur Wir wußten nicht, welcher Nation die Truppen angehören werden, deren Der weitaus größte Teil des Textes ist schon um 1970 geschrieben und unver- Einmarsch wir zu erwarten hatten. Aus britischen Rundfunksendungen wußten ändert geblieben. Einige wenige Angaben sind später hinzugefügt, um den wir nur, daß Berlin von allen vier Siegermächten gemeinsam besetzt wird. heutigen Stand der Dinge wiederzugeben, so z.B. bezüglich des Physikers Dem gesunden Menschenverstand folgend, konnte man erwarten, daß in Berlin Kapitza (in Kapitel 3). Manche Ergänzungen und Erläuterungen sind durch die vier Besatzungszonen, keilförmig einmündend, zusammenlaufen würden. Stellungnahmen und Fragen aus dem Kreis der sehr zahlreichen Leser des ur- In unserer naiven, politisch ungeschulten Art hielten wir es also für fraglich, sprünglichen Manuskriptlöiangeregt worden (besonders in Kapitel 14). - Die ob in unsere nordwestlich von Berlin gelegene Gegend um Rheinsberg die Bri- Schilderung sowjetischer Verhältnisse bezieht sich fast ausschließlich auf die ten, die Amerikaner oder die Russen kommen werden. Es bedurfte eben doch von Stalin geprägte Zeit, nicht jedoch auf die durch Gorbatschow eingeleitete des bewunderungswürdigen Weitblicks der politisch geschulten westlichen Entwicklung. Die skeptische Beurteilung der Möglichkeit einer künftigen Libe- Staatsmänner, um auf die Idee zu kommen, Berlin zur Insel und damit tin ralisierung der sowjetischen Wirtlöichaft(im Schlußkapitel 18) habe ich bewußt Quelle ständigen Ärgers zu machen. - Kurzum, es kamen die Russen. unverändert gelassen, dies allerdings in der stillen Hoffnung, daß die Skepsis sich einmal als unberechtigt erweisen wird. Mitte Mai 1945 tauchten plötzlich zwei Obersten der NKWD mit mei- nem Freund K.G. Zimmer, von Berlin kommend, auf. (Zimmer wurde später Professor und Institutsleiter im Kernforschungszentrum Karlsruhe, damals war er teils in meiner "Wissenschaftlichen HauptsteIle" , teils im Kaiser- Wil- helm-lnstitut in Berlin-Buch tätig.) Die Obersten forderten mich auf, für eini- ge Tage nach Berlin "zur Anhörung" mitzukommen. Aus einigen Tagen wur-

-4- -5- den dann 10 Jahre. Vielleicht ist es hier am Platze, einige erklärende Worte über NKWD und MWD zu sagen. Die oben angegebene "Genealogie" ist nicht ganz voll- Schon bald wurde klar, daß die Obersten gar keine Obersten waren. Viel- ständig: neben dem MWD ist auch noch das MGB und KGB entl\tanden, das mehr waren es zwei Physik - Professoren, die man in Uniformen von Obersten den eigentlichen Staatl\sicherheitl\dienst ausübt und der Gestapo entspricht. - gesteckt hatte. Der eine war L.A. Arzimowitsch, der .später dank seiner Ver- Näheres über diesen ganzen Komplex kann man aus dem bekannten Buch von dienste um die sowjetische Kernfusionsforschung sehr prominent geworden ist, A Solschenyzin "Archipel " erfahren. Mancherorts wird dieses Buch als der andere war G.N. Fljorow, ein Mitentdecker der spontanen (d.h. nicht gehässige Schrift kritisiert. Auch ich glaube, daß Solschenyzin beim Schreiben durch Neutronen-Einfang bedingten) Uran-Spaltung. Man steckte diese und des Buches nicht von zärtlichen Gefühlen für die Peiniger seiner selbst und alle anderen nach Deutl\chland abkommandierten Zivilpersonen in Uniformen, seiner Landsleute beseelt war. Aber aus der Kenntnis vieler Vorgänge und aus damit sie sich inmitten des echten Militärs bewegen und im Bedarfsfalle der zum Teil sogar persönlichen Kenntnis vieler in seinem Buch erwähnten durchsetzen konnten. Manche wirkten in der Verkleidung recht drollig. Be- Personen kann ich die Wahrheits treue seiner Schilderungen und Wertungen sonders amüsant fand ich in dieser Beziehung den ansonsten sehr angesehenen nur bestätigen. Leider! - Die Funktionen des MWD, in die wir deutsche" Spe- Physiker J .B. Chariton, dem die Militärmütze viel zu groß war. Zum Glück zialisten" unmittelbar einbezogen waren, können als das Wirken eines riesigen besaß er etwas abstehende Ohren, die es verhinderten, daß ihm die Mütze über staatlichen Unternehmens dargestellt werden, in dem - vom Bewachungsper- seinen schmalen Gelehrtenkopf rutschte. sonal abgesehen - überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, Strafgefan- gene arbeiten, Strafgefangene aller Kategorien, vom gewöhnlichen Mörder bis Um zum Ernst des Lebens zurückzukehren, sei berichtet, daß nach der zum politisch suspekten Universitätsprofessor. Das Unternehmen betätigte sich Ankunft in Berlin K.G. Zimmer freigelassen wurde, ich aber in eine bewachte zu unserer Zeit auf den verschiedensten Gebieten, vom Erbauen von Kanälen Wohnung in Berlin-Friedrichshagen kam. Dort verlebte ich etwa eine Woche, bis zum Betrieb technischer Entwicklungsstellen und wissenschaftlicher Labo- um dann in die in Berlin gelegene Zentrale der Auer-Gesellschaft gebracht zu ratorien. Zu einem solchen Unternehmen gehören natürlich auch Fachleute werden, wo die Demontage aller demontierbaren Anlagen und Geräte bereits und Verwaltungsbeamte, die keine Sträflinge sind. Ein sowjetischer Metallur- im vollen Gang war. - In Friedrichshagen befand sich der Stab des General- ge, der Hochschulprofessor war und gleichzeitig an technischen MWD-Vor- leutnants A.P. Sawenjagin, der damals stellvertretender Volkskommissar im haben arbeitete, sagte mir einmal erklärend: "Wissen Sie, wir haben in unse- Volkskommissariat des Inneren (NKWD), also Stellvertreter von Beria war. rem Lande sehr viel soziale Abgänge. Die Arbeitskraft dieser Menschen nutzen Alle Volkskommissariate wurden einige Zeit später in Ministerien umbenannt. wir für den Aufbau des Landes aus." Mit dem Wort Abgänge (im Sinne von So verwandelte sich NKWD in MWD. (Die komplette Genealogie dieses Etab- Abfällen einer technischen Produktion, russisch "otchody") wurden auf ele- lissments lautet: Tscheka - GPU - NKWD - MWD.) Sawenjagin wurde et- gante Weise die eingesperrten Menschen umschrieben. Man lernt nie aus ... was später sowjetischer Atom-Minister. Wir werden ihm im folgenden immer wieder begegnen. Sein Ministerium hatte zwar aus TarnungsgfÜnden eine ganz In der Zeit bis zum Abtransport nach der Sowjetunion wurde ich zwei- andere offizielle Bezeichnung, aber ich will hier, der Kürze und Verständlich- mal in unser Werk in Oranienburg (nördlich von Berlin) gefahren, wo sich die keit zuliebe, stetl\ nur vom" Atom -Ministerium" sprechen. Anlagen zur Herstellung reinsten Uranoxids befunden hatten. (Höchste Rein-

-6- -7- bei der nächtlichen Lagebesprechung bei Sawenagin den Oberst der Grobheit mir gegenüber beschuldigt. Der Oberst erhielt von Sawenagin einen scharfen Verweis und redete sich damit heraus, daß er gar nicht grob sein wollte, son- dern nur eine grobe Stimme habe. - Ich muß in diesem Zusammenhang er- wähnen, daß merkwürdigerweise gerade die "professionals", die Funktionäre der Sicherheitsorgane, mir gegenüber von besonderer Freundlichkeit waren. Sie gaben mir Rat~chläge, schoben mir Schokolade, Tabak und sonstige Herr- lichkeiten zu. Als wir zum Abflug nach der Sowjetunion abtransportiert wur- den, lief ein besonders furchterregender, vierschrötiger NKWD-Leutnant hinter dem Auto her, drückte mir die Hand, wünschte alles Gute und rief die prophetischen Worte aus: "Sie werden noch im eigenen Auto durch Moskau spazierenfahren!" Ich entsinne mich, daß ich schon in den Tagen nach der Oktober-Revolution gut mit Tschekisten zurechtkam, und auch mit der Gestapo ging es glimpflich aus. Ich weiß nicht, worauf meine Beliebtheit bei den Vertretern dieses Berufszweiges beruhte. Ich weiß wohl, daß man solchen Leuten in einer rein menschlichen Ebene entgegentreten soll, also in einer Ebene, in der ihr Verhalten biologisch, aber nicht beruflich programmiert ist: Man soll keine Angst zeigen, sich nicht auf juristische Argumente berufen, jede Anbiederung vermeiden und manchmal eine sehr feste Haltung zeigen. Aber vielleicht ist es auch einfach die gegenseitige Verschiedenartigkeit als Das Demontieren und Verladen von allem, wa~ nicht niet- und nagelfest solche, die Lust an der "Exotik" des anderen, die in solchen Fällen ein war, lief auf vollen Touren. Eines Tages trat ein Oberst, der Spezialist für wohlwollendes Interesse weckt. Wer weiß, ob nicht die Tiger uns Menschen Platinmetalle war und daher bei uns Deutschen Platin -Oberst hieß, an mich wohlwollend Fleischstückchen zuwerfen würden, wenn wir im Kafig säßen und heran und fragte, warum ich einige Laboratorien, nämlich das analytische, das sie wohlgenährt vorbeiflanieren würden. spektroskopische und das mineralogische, den Russen vorenthalten hätte. Ich sagte, daß in meinem Laden keine besonderen Labors für diese Gebiete exi- Schon am 9. Juni 1945 wurden wir, d.h. ein Teil meiner Mitarbeiter, ich stierten. "Da~ glaube ich nicht, sie müssen sie gehabt haben" , fuhr er mich an. selbst und unsere Familien, nach Moskau ausgeflogen. Die vorläufige Unter- "Wenn Sie mir nicht glauben, brauchen wir gar nicht miteinander zu reden" , bringung erfolgte zuerst in einem Sanatorium bei Moskau und danach in der sagte ich wütend und ließ ihn stehen. Am nächsten Morgen zog mich ein nett Villa "Osjora" eines früheren Moskauer Millionärs namens Rjabuschinskij. In aussehender junger NKWD-Leutnant, der offensichtlich ein Aufpasser, ein den 30-er Jahren war sie vom NKWD -Chef J agoda bewohnt, der 1938 liqui- "professional" war, in die Ecke und sagte, er hätte den Vorfall beobachtet und diert wurde. Die Russen nannten das Haus noch immer" Jagoda's Dat~cha".

-8- - 9 - Vor uns war in demselben Haus auch der unglückselige Feldmarschall Paulus uns während der großen Pause im Foyer als Deutsche erkannten und mit be- mit seinen Stabsoffizieren nach der Kapitulation von Stalingrad untergebracht. sonderem Interesse beobachteten. Im Speiseraum hing noch eine riesige Karte, auf der die Offiziere mit Steck- nadeln die Front markiert hatten. - Im Park dieser dicht an der Minsker Die Gruppen Hertz und v. Ardenne kamen schon kurz danach an die Chaussee gelegenen Villa war ein zerschossener kleiner deutscher Panzer zu Stellen, in denen sie arbeiten sollten, beide in der Nähe von Suchumi an der sehen. Angeblich soll dieser Panzer am nächsten von allen an Moskau heran- südkaukasischen Küste des Schwarzen Meeres. Für meine Gruppe mußte aber gekommen sein. erst der passende Ort gesucht werden, denn für den Aufbau einer Uran - Fabri- kation, für den wir vorgesehen waren, waren schwierigere technische, räum- Außer meiner Gruppe sind damals auch noch zwei andere große Grup- liche und personelle Voraussetzungen zu erfüllen. So mußte ich denn in den pen deut~cher "Spezialisten" für die Arbeit auf den Kemenergie-Gebiet nach folgenden Wochen, meist mit Sawenjagin und seinen Leuten, viel im Lande der Sowjetunion gebracht worden. Da~ waren die Gruppen des berühmten herumfahren, um etwa~ Passendes zu finden. Auch mein Mitarbeiter Physikers Gustav Hertz (eines Neffen des noch bedeutenderen Heinrich Hertz, G. :Wirths wurde einmal bis nach Krasnojarsk am Enissej in Sibirien zu die- des Entdeckers elektromagnetischer Wellen) und des bekannten Elektronikers sem Zweck geflogen. Wir besichtigten stets nur schon vorhandene Gebäude- M. v. Ardenne. Als Einzelpersonen kamen noch hinzu: der sehr namhafte phy- komplexe, meist stillgelegte Fabriken. Ich fragte Sawenjagin, ob es nicht klü- sikalische Chemiker , der Leipziger Kemphysiker R. Döpel und, ger wäre, neue, zweckentsprechende Gebäude für uns zu bauen. Er sagte aber, etwas später, der damalige Direktor des Dahlemer Kaiser- Wilhelm-Instituts daß im Lande infolge der Kriegszerstörungen ein solcher Mangel an Bauma- für Physikalische Chemie, P. Thiessen. terial herrsche, daß man gezwungen sei, auf vorhandene Gebäude zurückzu- greifen. Übrigens wollte uns Sawenjagin durchaus irgendwo inmitten schöner Wenige Tage nach der Ankunft, als wir alle noch in der Nähe von Mos- Natur unterbringen, während ich - bei aller Liebe zur Natur - darauf drängte, kau saßen, wurden wir, d.h. Hertz, Volmer, v. Ardenne und ich mit unseren lieber in die Nähe eines Kulturzentrums, wie etwa Moskau oder Leningrad, zu Frauen ins "Bolschoi" -Theater zur Aufführung der Oper "Fürst Igor" von kommen. Ich fürchtete nämlich - mehr aus sachlichen als aus persönlichen Borodin eingeladen. Im Theatersaal herrschte eine erregende, vom Sieges- Gründen - daß wir sonst zu isoliert und dadurch behindert sein würden. ~Wir taumel geprägte Feststimmung. Im Parkett um uns herum und in den Rängen kamen denn auch, allerdings nicht infolge meines Drängens, in die Nähe von saßen uniformierte Offiziere und sonstige Vertreter der West-Alliierten sowie Moskau. Diese Nähe hat sich, wie aus dem Weiteren zu ersehen, tatsächlich Delegationen verschiedener Völkergruppen der Sowjetunion in festlichen sehr günstig ausgewirkt. Trachten. Als wir zur Anhörung der sowjetischen Hymne, die in der ersten Nachkriegszeit vor jeder Aufführung gespielt wurde, aufstanden, erfaßte mich Eine der Erkundungsreisen führte uns, diesmal ohne Sawenjagin, an den eine eigenartige Stimmung. Die Situation erschien unwirklich. Noch vor weni- oberen Don in eine große stillgelegte Wodka-Fabrik, in der ein Rekonvales- gen Wochen hausten wir im Elend des zusammengebrochenen Reiches, und zenzlager für deutsche Kriegsgefangene untergebracht war. Die Kriegsgefan- nun 1:6:oten wir uns die sowjetische Hymne inmitten der siegesberauschten Alli- genenbetrieben auch eine Schreinerei, in der sie allerlei hübsche Gegenstände ierten an! - Übrigens merkten wir auch, daß einige der westlichen Deligierten herstellten (so auch eine komplette Möbelausstattung für das Kabinett des of-

- 10- -11- fenbar beliebten Lagerkommandanten, wobei sogar der Mechanismus der beliebig viel Arbeitskräfte und viele wichtige Hilfseinrichningen gab: mech:lni- Standuhr völlig aus Holz hergestellt war). Wir wurden aber davor gewarnt, die sche Werkstätten, ein eigenes Kraftwerk, einen großen Autopark und vieles Schreinerei zu betreten, weil es dort in den Holzabfällen auf dem Fußboden andere mehr. - Als Wohngegend war dieser Ort, in dem wir 5 Jahre verbrach- Flöhe gab. Diensteifrig und leichtsinnig wie wir waren, gingen wir dennoch ten, ausgesprochen scheußlich. Außer der Munitionsanstalt befand sich dort hinein. Abends fuhren wir ,in unserem. der NKWD gehörenden Schlaf- und noch ein Elektrostahlwerk, von dem der Ortsname stammt, sowie ein weiteres Salonwagen wieder nach Moskau ab. Die mich begleitenden Russen schliefen aus der Ukraine verlagertes Werk. Merkwürdigerweise waren wir nicht etwa in einem großen gemeinsamen Coupe,. während ich ein Einzelcoupe hatte. die erste, sondern die dritte deutsche Gruppe, die dort ein Werk aufzubauen Beim Ausziehen entdeckte ich einen Floh. Es war meine erste persönliche Be- hatte. Schon die Munitionsanstalt wurde - noch vor dem ersten Weltkrieg - kanntschaft mit dieser Insektenart. Die Bekanntschaft endete mit dem Tod des von Deutschen aufgebaut. Die für sie errichteten einstöckigen Steinhäuser Flohs, und ich schlief beruhigt ein. Am nächsten Morgen, beim Betreten des waren noch erhalten. Auch das Elektrostahlwerk ist in den 30-er Jahren von gemeinsamen Frühstückraumes erzählte ich den Russen stolz von meinem er- Deutschen aufgebaut worden. Der Direktor der Munitionsanstalt, ein sympa- folgreichen abendlichen Jagderlebnis. Doch ich erntete bei ihnen nur Hohn- thischer General, der in der ersten Aufbauzeit auch Direktor unserer Uran- . gelächter! Sie haben nämlich die ganze Nacht nicht geschlafen und unzählige Fabrik war, kannte noch diese Leute und schilderte mir einmal ge.liiprächs- Flöhe gejagt. Ich kehrte nach Hause in dem beruhigenden und stolzen Bewußt- weise, wie ein trinkfreudiger Deutscher sich dort totgesoffen hat. Rußland ist sein zurück, daß die Flöhe genug Lebensart haben, um einen hochzivilisierten nun einmal ein Schiclcsalsland für die Deutschen. Mitteleuropäer wie mich unbelästigt zu lassen. Doch abends, beim Zubett- gehen ließ mein Stolz merklich nach. Um es kurz zu machen: ich habe etwa 90 Flöhe nach Hause gebracht. Etwa 10 davon verteilte ich an meine Mitarbeiter, doch der Rest mußte im Laufe der nächsten Wochen von meiner Frau und mir in lästigen abendlichen und morgendlichen Pirschgängen erlegt werden.

Als geeignetster Platz für die Uran ...,Fabrik wurde schließlich eine riesige, nach Kriegsende außer Betrieb gesetzte Munitionsanstalt bestimmt, die aus unzähligen großen und kleinen Gebäuden bestand, welche in einem großen . sumpfigen Wald verstreut lagen. Sie befand sich im Industrieort Elektrostal nahe des Städtchens Noginsk (früher Bogorodsk) etwa 70 km östlich von Mos- kau. (Die Lage diese.~ Ortes, an dem die erste sowjetische Uran -Fabrik ent- stand, wurde lange Zeit strengstens geheimgehalten. Heute ist da~ alle.liischon längst kein Geheimnis mehr, außer vielleicht für einige professionelle Geheim- nishüter, die es aus Pflichtgefühl immer noch für ein Geheimnis halten.) Die Wahl des Ortes war dadurch bedingt, daß es dort außer den Gebäuden auch

- 12 - - 13 - r

Bild rechts oben: Der Autor im Jahr 1987 in seinem Domizil naheoei Mün- chen.

Bild rechts unten: Die finnischen Fertighäuser aus Holz, in denen die deut- schen WisseIlSchaftler in Elektrostal (nahe bei Noginsk, 70 km von Moskau) während des fünfjährigen Aufbaus der Uranfabrik (1945-1950) wohnten. Im Vordergrund Riehls jüngste Tochter. - (Vgl. S. 100 im Text)

- 14- 3. IN ELEKTROSTAL BEI MOSKAU: ANFÄNGLICHE SCHWIERIG- KEITEN UND GUfES ENDE DER BEMÜHUNGEN

Bei der Herstellung von Uran für Reaktoren ging es darum, zunächst das aus den Erzen (z.B. Uranpechblende) gew~nnene Uran durch geeignete chemi- sche Operationen in einem extrem reinen Zustand zu erhalten. Hierbei kommt es besonders darauf an, gewisse Elemente, nämlich solche, die im Reaktor di~ Neutronen einfangen und dadurch die Kettenreaktion der Uranspaltung stop- pen, weitestgehend zu entfernen. Besonders schädlich und unerwünscht sind in dieser Beziehung die Elemente der Seltenen Erd -Gruppe, das Bor und das Cadmium, deren Konzentration auf extrem geringe Werte herabgedrückt wer- den muß; aber auch viele andere Elemente müssen weitgehend aus dem Uran beseitigt werden. Danach mußte das Uran in metallische Form übergeführt (reduziert) werden und schließlich durch Schmelzen in Stücke der geometri- schen Form gebracht werden, die für eine Verwendung im Reaktor geeignet ist. Für gewisse Reaktortypen genügt eine Überführung in das relativ sauer- stoffarme Urandioxid, wobei aber dieses in einen Zustand möglichst ho~er Dichte gebracht werden muß. Bei den Reduktions - und Schmelzprozessen, die ja bei sehr hoher Temperatur erfolgen, muß peinliehst vermieden werden, daß aus dem Reduktionsmittel oder aus der Tiegelwandung erneut Verunreinigungen in das gereinigte Material hineingelangen.

Zu der Zeit, als wir uns dieser Aufgabe widmeten, war diese ganze Tech- nologie noch gar nicht ausgearbeitet, denn für Uranverbindungen oder gar für Uran-Metall gab es überhaupt keine Verwendungen (und schon gar nicht für extrem reines Uran). Uran-Erze wurden zwar aufgearbeitet, jedoch nur, um

- 17 - daraus das herauszuholen. Da~ Uran selbst war ein wertloser Abfall. Uranmetalls zu Blöcken der gewünschten Form (Würfeln) funktionierte recht Ein winziger Bruchteil des anfallenden Urans wurde lediglich für Email-Gla- schlecht, hauptsächlich weil wir damals nur widerstandsbeheizte Vakuumöfen suren verwendet, weil das Uranyl-Ion dank seiner Fluoreszenz der Glasur eine zur Verfügung hatten und keine hochfrequenzbeheizten. Äußerst erschwerend sehr intensive, leuchtende grüngelbe Färbung gab. Aber das weggeworfene wirkte sich überhaupt bei allen diesen Bemühungen aus, daß infolge des Krie- Uran hat sich auf den Abfallhalden erhalten, und dieses Material diente in der ges und der Bombardierungen die Versorgung mit Geräten und Materialien ersten Zeit als Ausgangsprodukt für die Gewinnung von Uran für Reaktor- miserabel funktionierte. So entsinne ich mich, daß ich 8 Monate auf einen zwecke, sowohl bei uns als auch in Amerika. Transformator warten mußte, der 75 Kilo Kupfer enthielt. Der Grund hierfür war die außerordentliche Kupferknappheit des Reiches. - So brachten wir bis Bei dem Verfahren, das wir bei der Auer-Gesellschaft ausgearbeitet hat- Kriegsende nur einige wenige Tonnen von einigermaßen brauchbaren Uran- ten, bestand der entscheidende Schritt der Uranreinigung in der Anwendung blöcken zusammen, die bei der Degussa, bei der Auer-Gesellschaft und auch der sogenannte" fraktionierten Kristallisation" von Nitraten. Auf diesem Ge- schon bei den mit Reaktorversuchen beschäftigten Physikern lagerten. biet besaßen wir bei Auer schon große Erfahrung, denn diese zuerst von Auer v. Welsbach eingeführte (und später vom Ehepaar Curie zur Radium-Konzen- Man wird oft gefragt, warum die Deut~chen beim Uranprojekt nicht weiter trierung angewendete) Methode fand bei uns bereit~ Verwendung zur Tren- gekommen waren und warum die Nazi -Regierung das Projekt nicht tatkräftig nung der Seltenen Erd-Elemente und zur Konzentrierung von Mesothorium unterstützte. Man hört manchmal die Meinung, daß viele deutsche Wissen- und Radium. Dr. Ph.Hoernes, ein älterer "Gralshüter" der Auer- Tradition schaftler sich bewußt oder unterbewußt dagegen sperrten, dem Hitler-Reich zu und früherer Direktor unserer Seltenen- Erd - Fabrik, der als rassisch einer so wirksamen Waffe wie der Atombombe zu verhelfen. Diese Deutung ist Verfolgter bei mir in der Wissenschaftlichen HauptsteIle "versteckt" war, hat nicht ganz falsch, aber sie ist keineswegs erschöpfend. Ein mit wissenschaftli- besonders viel zur Übertragung dieses Verfahrens auf das Uran beigetragen. cher Neugier oder technischem Spieltrieb behafteter Forscher oder Ingenieur Später, schon in der Sowjetunion, haben wir die fraktionierte Kristallisation konnte sich der Faszination des Uranprojekts kaum entziehen, so daß bei star- durch ein anderes, effektiveres Verfahren ersetzt, wovon weiter unten die Rede kem Druck und kräftiger Unterstützung seitens der Regierung die Deutschen sein wird. doch noch ein Stück weiter hätten kommen können. Ich glaube, daß das:er- hältnismäßig lasche Interesse für das Projekt hauptsächlich in der intellektuel- Auf dem metallurgischen Gebiet hatten wir bei der Auer-Gesellschaft gar len Primitivität Hitlers und seiner Mannen begründet war. Sie hatten wohl keine Erfahrung. Um die Reduktion des Urans zu Metall und dessen Um- Verständnis etwa für Raketen, die mit viel Lärm dahinbrausten und deren schmelzung aufzubauen, wandte ich mich an die Degussa, zu deren Konzern Funktionsweise anschaulich faßbar war, aber sie hatten kein rechtes Verständ- wir damals gehörten. Dort wurde kurz zuvor auf unseren Wunsch hin ein Ver- nis für die nur mit ungewohnten abstrakten Begriffen erfaßbare Energiefreiset- fahren zur Gewinnung von Thorium-Metall entwickelt. Es ließ sich leicht auf zung durch Kernspaltung. So trug die mangelnde Förderung seitens der Regie- Uran übertragen. Es bestand in der Reduktion von Oxid zu Metall mittels Cal- rung sehr dazu bei, daß die meisten von uns mit keinem Enderfolg des Uran- cium in metallischer Form. Dieses Verfahren ersetzten wir später in Rußland projekts vor Hitlers Zusammenbruch rechneten und daher unser Gewissen gar ebenfalls durch ein anderes, besseres. Das Umschmelzen des pulverförmigen nicht erst zu befragen brauchten.

- 18 - - 19 - Ein ganz anderer Wind wehte, als wir in die Sowjetunion kamen. Dort ge- lich eine Ratte vorbeihuschte, sagte er grimmig:" Die wird wohl von uns sein." • rieten wir sofort in den Sog der vom Staat geradezu brutal angetriebenen Be- mühungen um das Uranprojekt, und zwar noch vor der Explosion der Hir

Institute, die zur Akademie der 'Wisse~schaften oder zu den verschiedenen Schwierigkeiten hatten wir auch wegen des uns völlig fremden sowjeti- Fachministerien gehörten, wurden eingespannt. Eilaufträge für Lieferung von schen Arbeitsstils. Kein Sowjetrusse traute sich, etwas ohne Befehl von oben Hilfsgeräten und Materialien wurden an viele Industriewerke erteilt, zum Teil. zu unternehmen. Keiner war bereit, seinen Zuständigkeitsbereich auch' nur ein unter Androhung drakonischer Strafen in Fall von Mißerfolg. Für Bauarbeiten wenig zu überschreiten. Eine kleine Illustration bekamen wir gleich in den er- wurde der riesige Apparat der NKWD eingesetzt. Auch die Industrie im sten Tagen unserer dortigen Tätigkeit vorgesetzt. Wir holten einen Elektriker sowjetisch besetzten Teil Deutschlands wurde stark beansprucht. - Im herbei, um einen Vakuum-Schmelzofen anzuschließen; hierzu war es notwen- nächsten Kapitel will ich über einige besonders dramatische und sogar dig, zuerst einen mit Schraubenmuttern befestigten Ofendeckel abzunehmen. gefährlich anmutende Ereignisse und Situationen berichten, die sich aus der Obschon ein Schraubenschlüssel daneben lag, weigerte sich der Elektriker dies Gespanntheit der Atmosphäre ergaben. zu tun, weil das Abschrauben von Muttern Sache eines Schlossers sei. So vergingen über anderthalb Stunden, bis schließlich vom anderen Ende des Die Spannung wurde dadurch noch erhöht, daß in der Anfangszeit die Fabrikgeländes ein Schlosser geholt wurde. Versorgung mit Geräten und Chemikalien katastrophal schlecht war. Alles, was was wir zuerst hatten, waren die Hilfsmittel, die man in Deutschland bei Manchmal verursachte die Verschiedenheit der Arbeitc;sitten zwischen uns der Auer -Gesellschaft und an einigen anderen Stellen demontiert und in die und den Sowjets auch persönliche Zusammenstöße. Es war ebenfalls in der An- Sowjetunion gebracht hatte. Selbst davon fehlte vieles, weil es in der Hektik fangszeit, als ein junger, aus Jakutsk stammender Ingenieur auf mich zukam des Abtransports fehlgeleitet wurde. So fehlte zum Beispiel ein sehr großer und anfing, einer langen, vorbereiteten Fragenliste folgend, mich über die Vakuum-Schmelzofen. Ich fuhr zu Sawenjagin, dem Atomminister, und be- Urantechnologie abzufragen. Mir kam diese stupide Abfragerei albern vor, ich klagte mich. Er stellte durch einige Telefongespräche fest, daß der Ofen ver- bekam einen Wutanfall, ging weg und schlug die Tür zu. Abends saß ich mit sehentlich nach Krasnojarsk in Mittelsibirien geraten ist. Es wurde sofort ein zwei Mitarbeitern, Wirths und Thieme, in unserer vorläufigen primitiven Be- besonderes Transportflugzeug hingeschickt, und nach zwei Tagen war der hausung zusammen, und wir tauschten unsere Eindrücke aus. Ich erzählte von Ofen bei uns. Einmal besuchte uns Sawenjagin in dem primitiven Laborat

...20- - 21 - J,. mein Verhalten bedauere. Es sei schwierig, sich in die uns fremden sowjeti- vor allem den Russen zeigen, daß wir weder Saboteure noch Zauderer seien: schen Strukturen und Verhaltensregeln hineinzufinden. Beide Russen, die na- Während unserer nächtlichen Arbeit rief mich mehrmals der Fabrikdirektor, türlich schon von dem Vorfall wußten, waren so gerührt, daß dem weichherzi- der schon erwähnte sympathische General, telefonisch an, und ich ließ meine gen Stepanow sogar Tränen in die Augen traten. So endete der Zwischenfall "Erfolgsmeldungen" vom Stapel. Am nächsten Morgen sagte er mir, daß er nicht mit einer Verhärtung, sondern mit einer merklichen Verbesserung der seinerseits die ganze Nacht über mit dem Ministerium (damals noch NKWD Beziehungen, und in dem jungen Mann aus Jaktusk hatte ich nun einen oder MWD) telefonisch in Verbindung stand und dieses über Beria laufend Freund. - Anlaß zu Wutausbrüchen gab es auch später noch oft. Meistens wa- Stalin persönlich informierte. Es tut mit heute noch leid, daß wir einer so ho- ren sie von Nutzen; -sie halfen, entweder etwas schnell durchzusetzen oder - hen Persönlichkeit Schlafstörungen verschafft haben. Aber, Scherz beiseite, nach Wiederversöhnung, das Eis der Beziehungen für die Dauer aufzubrechen. man ersieht aus solchen Details, mit welcher Ungeduld und Anspannung man dort die Entwicklung des Uranvorhabens verfolgte. Der General erwähnte In der Sowjetunion gab es 1945 keinerlei Ansätze einer Uranfabrikation auch gegenüber seiner Obrigkeit lobend die Tatsache, daß sogar der deutsche für Reaktorzwecke. Wir waren die ersten, die die Aufgabe in Angriff zu neh- Gruppenchef die Ärmel hochgekrempelt hat. Das war für sowjetische Verhält- men hatten. Wir fingen damit an, zunächst die Fabrikation in derselben Weise nisse ungewöhnlich. Die meisten dortigen Chefs, insbesonders die politisch gut aufzubauen, wie wir sie in Deutschland betrieben haben. Für den "naßchemi- geschulten, beschränken sich auf Klugreden und Schimpfen. schen" Teil, d.h.. für die der Uranreinigung dienenden Prozesse sowie für den metallurgischen, der Reduktion dienenden Teil war erst ein Ausbau von Räu- Gegen Ende 1945 waren die Fabrikationsanlagen einigermaßen fertig. Die men und die Montage großer Anlagen erforderlich. Den letzten Teil der Fabri- Produktion lief langsam an. Um den "naßchemischen" Teil kümmerte sich kation, das Umschmelzen und Vergießen des zunächst pulverförmigen Uran- deut'icherseits hauptsächlich Dr. Wirths, um den metallurgischen Teil Dr. Ort- metalls, konnten wir dagegen sofort in Gang setzen, denn sowohl unsere mann, der aber eigentlich auch kein Metallurge, sondern mein langjährige...".r~--- Schmelzöfen als auch eine gewisse Menge unseres pulverförmigen Uranmetalls Mitarbeiter auf dem Lumineszenz-Gebiet war. (Ich werde in Kapitel 13 zu waren uns bereits aus Deutschland nachgeschickt worden. Die Herrichtung des deuten versuchen, warum fast allen deutschen Wissenschaftlern die Einarbei- Raumes und die Montage der Öfen war nach kurzer Zeit beendet. Die ganze tung in neue, ihnen fremde Arbeitsgebiete leicht von der Hand ging.) Unsere deutsche Gruppe versammelte sich eines Abends im Schmelzraum, um die Produktion blieb aber mengenmäßig sehr hinter dem zurück, was von der Re-- ganze Nacht durchzuarbeiten. Wir wählten die Nac;htzeit, um nicht von Be- gierung verlangt wurde. Die Stimmung wurde immer schlechter und gespann- suchern und ihrer ewigen Fragerei gestört zu werden. Aus demselben Grund ter, was zu einigen unangen-ehmen Szenen führte, die im nächsten Kapitel ge- ließen wir russisches Hilfspersonal möglichst fernbleiben. Diejenigen Herren schildert werden. der deutschen Gruppe, die mit den technischen Details der Sache am besten vertraut waren, bildeten' die "geistige Oberschicht", während alle anderen, Einen kleinen vorübergehenden Prestigegewinn verschafften wir uns da- mich einbegriffen, die Rolle unqualifizierter Hilfsarbeiter übernahmen. Die durch, daß wir Anfang 1946 in wenigen Tagen einige Tonnen von reaktor-rei- nächtliche Schmelzerei ging mehr schlecht als recht. Das Ganze hatte über-' nem Urandioxid zustandebrachten, die in Form von kugelrunden Preßlingen haupt mehr den Charakter einer symbolischen sakralen Handlung und sollte von den sowjetischen Physikern für einen wichtigen Großversuch benötigt

- 22- -23- I

wurden. Auch hier wieder setzte sich die ganze deut~che Gruppe über Tag und gelangte. (Heute wird statt Äther Tributylphosphat verwendet.) Die hienm Nacht im Teamwork ein. notwendigen keramischen Gefäße, Rohre und Flansche erhielten wir in er- staunlich kurzer Zeit von den keramischen Werken Herrnsdorf in Thüringen. Die Nichterfüllung des uns auferlegten Lieferungsplans lag nicht nur dar- So stand der" Äther-Betrieb" etwa gegen Mitte 1946 fix und fertig zum Ein- an, daß unsere Anlagen der Zahl und Größe nach nicht ausreichten, sondern satz bereit. Aber nun bekamen die Russen - aus Angst vor der Explosions- auch an der Art unserer damaligen T~chnologie. - Die fraktionierte Kristalli- gefahr - kalte Füße. Der erforderliche Befehl der Obrigkeit, den Betrieb in sation war zwar sehr wirksam hinsichtI~chdes Reinigungseffekts, aber sie war Gang zu setzen, kam trotz Anmahnung unsererseits nicht. Schließlich wurden ein recht zeitraubendes Verfahren und bildete einen Engpaß in der Kette der wir böse, und ich fuhr nach Moskau, um bei Sawenjagin die Inbetriebnahme Fabrikationsschritte. Eine Möglichkeit, diese Methode durch eine andere, we- durchzusetzen. Dieser war aber verreist, und ich landete bei B.L.Wannikow, niger zeitraubende zu ersetzen, ergab sich für uns in folgender Weise. zu dem ich auch gute Beziehungen hatte. Wannikow war während des Krieges Munitionsminister; er war - zumindest zu jener Zeit - ein wenig höher als Kurz nach der Explosion der Hiroshima - Bombe erschien in Amerika ein Sawenjagin gestellt. Er hatte als Generaloberst auch einen höheren militäri- Buch von Smyth, in dem die Entstehung der Atombombe geschildert wurde. schen Rang als Sawenjagin, der nur Generalleutnant war. Ich sagte zu Wanni- Da~ Buch wurde in der Sowjetunion sofort ins Russische übersetzt und an alle kow, wir verstünden nicht, warum man uns erst wegen mangelnder Produk- am Projekt Beteiligten verteilt. Auch ich erhielt ein Exemplar. Ich verschlang tion bekniet und bedrängt und jetzt, wo wir etwas Gutes anbieten, den das Buch innerhalb einer Nacht. Darin war auch kurz erwähnt, daß die Ameri- Schwanz einzieht. Nach weiterem Zureden meinerseit~ gab Wannikow den kaner zur Reinigung des Urans die "Äthermethode" verwendet haben. Diese Startbefehl für den Ätherbetrieb. - Hierdurch stieg unsere Produktionskapazi- Methode besteht darin, daß man eine wäßrige Uranylnitrat-Lösung mit Äther tät sprungartig an. Der Durchsatz des Ätherbetriebs erreichte nahezu eine überschichtet oder schüttelt; das Uranylnitrat geht zum größten Teil in den Tonne Uran pro Tag. Der Betrieb hat noch mehrere Jahre ohne Zwischenfall Äther, während fast alle Verunreinigungen in der wäßrigen Phase verbleiben. gearbeitet, bis dann schließlich das Verfahren durch ein anderes, völlig unge- Uns war die Methode bestens bekannt, jedoch verwendeten wir sie nur im La- fährliches ersetzt wurde. borrnaßstab, um die Seltenen Erden in der wäßrigen Phase anzureichern und so der analytischen Erfa~sung zugänglich zu machen. Als die Notwendigkeit Jahre später merkte ich, daß dieser Auftritt bei Wannikow mir einen spruchreif wurde, die fraktionierte Kristallisation durch eine Methode mit hö- "Stein im Brett" bei Sawenjagin verschafft hat. Als einmal Sawenjagin in herem Durchsatz zu ersetzen, erzählte ich meinen Mitarbeitern, daß die Ame- meiner Abwesenheit russische Fachkollegen von einem Akademie-Institut we- rikaner sich an die Äthermethode - trotz der Feuergefährlichkeit des Äthers - gen Unentschlossenheit beschimpfte, sagte er: "Nehmen Sie sich ein Beispiel im großtechnischen Maßstab herangewagt hätten. Wir sagten uns: wa~ die an Nikolai Wassiljewitsch (so wurde ich in russifizierter Form angesprochen); Amerikaner können, können wir auch. In kürzester Zeit arbeiteten die Herren als wir Angst hatten, den Ätherbetrieb in Gang zu setzen, hat er den Moment Wirths und Thieme die ,Methode im technischen Maßstab aus. Wegen der Ex- abgewartet, wo ich verreist war, und hat bei Wannikow die Ingangsetzung ver- plosion::~,~~ahrmußte der ganze Prozeß sich in einer geschlossenen, dichten langt." Ich widersprach nicht der etwa~ unrichtigen Darstellung, denn wer läßt Apparatur abspielen, damit kein flüssiger oder dampfförmiger Äther hinaus- sich nicht gern zu einem ent~chlossenen Draufgänger hochstilisieren!

-24- -25- Während jenes Besuchs bei Wannikow erfuhr ich etwas, was vielleicht die daß er sich trotz seines hohen Alters wohl fühlt und sich als Bergsteiger b(!tä- Physiker unter den Lesern dieses Buches interessiert. Es handelt sich um das tigt. Doch neuerdings wurde sein Tod gemeldet. Schicksal des weltbekannten sowjetischen Physikers P. Kapitza. Als ich bei Wannikow saß, stürzte plötzlich jemand herein und erzählte, daß Kapitza aller Nachdem wir die Produktionskapazität des "naßchemischen" , der Reini- seiner Ämter enthoben sei. Das wurde als Sensation empfunden, und zwar gung dienenden Teils der Urantechnologie dank des Ätherverfahrens auf ein auch von Wannikow, für den die Nachricht offensichtlich überraschend kam. vielfaches gesteigert haben, war es jetzt der" heiße", metallurgische Teil, der Mehrere Jahre später hörte ich, daß der in Ungnade gefallene Kapitza noch zum Engpaß wurde. Auch sonst bereitete dieser Teil viel Ärger. Bei der Re- jahrelang kein Amt hatte und lediglich mit seinem Sohn im Schuppen seiner duktion des Uranoxids mit Calcium - Metall ent~tand kein Regulus aus Uran- Datscha physikalische Versuche in einem·durch die Bedingungen beschränkten metall, sondern ein Gemisch von pulverförmigem Uranmetall mit Calcium- Rahmen machte. Erst nach Stalins und Berias Tod wurde er "rehabilitiert", oxid. Man mußte das Calciumoxid mit Säure herauslösen, und man erhielt ein und es soll ihm jetzt wieder gut gehen. Ich konnte nicht herausbekommen, was nicht erfreuliches Uranmetallpulver mit beträchtlichen Oxideinschlüssen. der eigentliche Grund dafür war, daß er bei Stalin in Ungnade fiel. Allem An- schein nach war er nicht willens, am Atomkernenergie-Projekt mitzuwirken. Eines Tages besuchte mich der schon in Kapitel 2 erwähnte" Platin- Ich habe ihn und den hervorragenden sowjetischen Physiker A.F. Joffe anläß- Oberst" und fragte, warum wir uns auf das eben erwähnte "Oxid-Verfahren" lich eines Vortrages über die Urantechnologie, den ich vor einer Gruppe pro- kaprizieren. Ich sagte, daß wir uns auf gar nichts kaprizieren, daß wir aber mit minenter dortiger Physiker 1945 in Moskau hielt, getroffen. Beide kamen nach keinem anderen Verfahren vertraut sind. Er bohrte weiter und meinte, man dem Vortrag auf mich zu. Beide zeigten aber nicht das geringste Interesse für könne sich vorstellen, statt von Uranoxid von Urantetrafluorid auszugehen. Uran. Joffe, der nie kernphysikalisch tätig war, interessierte sich nur für meine Da~ dabei entstehende Calciumfluorid würde - im Gegensatz zu Calciumoxid Arbeiten über Lumineszenz, und Kapitza fragte mich nur nach dem Schicksal - schmelzen, und das flüssige Uran metall nicht als Pulver erstarren, sondern führender deutscher Physiker aus, besonders nach dem von Walther Gerlach. zuerst am Boden des ~eaktionstiegels zusammenlaufen und als schöner Regu- Ich gewann sogar den Eindruck, daß er sein Desinteressement an der ganzen lus erstarren. Ich antwortete zuerst mißmutig, daß ich mir da~ auch vorstellen Uranangelegenheit ausdrücklich betonen wollte. Nach ·1955 zeigte man mir ein kann, daß wir aber nun einmal ganz auf das Oxidverfahren eingerichtet ~,ind. in Westdeutschland erschienenes Buch, das "Der rote Atom-Zar Kapitza" Allmählich merkte ich aber, daß er mehr wußte als ich, und wurde hellhorig. oder so ähnlich hieß. Der Autor, ein offensichtlich während des Krieges nach Aus der sehr merkwürdigen, vorsichtig ta~tenden Art der Äußerungen des Deut~chland verschlagener Russe, erwähnt zwar zutreffend mehrere Physiker, "Platin -Obersten" merkte ich, daß er mich auf den richtigen Weg bringen die auch später sich am Atomprojekt beteiligten, z.B. Kurtschatow, doch alles wollte, ohne konkret angeben zu müssen, woher er seine Informationen hat. übrige ist reine Extrapolation und Phantasie. Kapitza hat sich, zumindest ab Ich bin jetzt fast sicher, daß diese Informationen aus Amerika durch Spionage 1945, überhaupt nicht an der Sache beteiligt. Das physikalische Oberhaupt des beschafft waren. Später erhielt ich noch einen anderen, ganz direkten Hinweis Projekts war J.W. Kutschatow. Mit ihm als "Kunden" für unser Uran hatte auf ein Resultat von Spionagetätigkeit. In meiner Anwesenheit fragte ein hoher ich oft zu tun. - Kapitza erhielt bekanntlich später den Nobelpreis und durfte sowjetischer Funktionär einen Vertreter des Atomministeriums, wie die Quali- sogar ins Ausland reisen. Gemeinsame sowjetische Bekannte erzählten mir, tät (der Reinheitsgrad) unseres Uran metalls sei. Die Antwort war: "Es ist so-

- 26- - 27- gar besser als das amerikanische." Die Sowjets hatten also ein Stück amerika- dens - und Prämiensegen über uns. Auch die deutschen Gruppen bekanren nisches Uranmetall beschafft und analysiert. einige kräftige Spritzer ab. Von meinen deutschen Mitarbeitern erhielten die Herren Wirths und Thieme den Stalin-Preis und den "Rote-Fahne-Orden". Das Fluorid -Verfahren, das nun bei uns sofort in ~ngriff genommen wur- Auf mich selbst entfiel die allerdings größte Portion: Außer dem Stalin - Preis de, erwies sich tatsächlich als dem Oxidverfahren weit überlegen. Der Chef- erhielt ich auch noch den Titel eines "Helden der sozialistischen Arbeit" mit ingenieur der Fabrik Golowanow und unser Dr. Wirths haben sich erfolgreich dem dazugehörigen goldenen Stern, den man auf der Brust mancher sowjeti- um die technische Realisierung des Verfahrens bemüht. - Die abschließenden scher Spitzenpolitiker bewundern kann, und den Lenin -Orden. (Bei Militär- Schritte der Fabrikation von Uranbrennelementen kamen auch in Schwung. personen kennzeichnet der fast gleich aussehende goldene Stern einen "Helden Das Umschmelzen und Vergießen funktionierte gut in den inzwischen beschaff- der Sowjetunion".) Außerdem bekam ich ein Haus (Datscha) geschenkt, und ten Induktionsöfen, die Ummantelung der Elemente mit Aluminium wurde - zwar in einer hübschen bewaldeten Gegend westlich von Moskau, wo auch die ohne Zutun der deutschen Gruppe - von Aluminiumfachleuten aus der Flug- Datschas der Regierungsmitglieder stehen. Der Stalin - Preis war für mich mit zeugindustrie technisch einwandfrei entwickelt. einem hohen Geldbetrag verbunden. Ich sagte später einmal dem Atommini- ster Sawenjagin, ich sei nie im Leben Kapitalist gewesen und sei erstaunt, aus- So stand nun einer schnellen Herstellung von Uran für den ersten sowjeti- gerechnet im Lande des Sozialismus zum Kapitalisten geworden zu sein. Diese schen Atomreaktor nichts mehr im Wege. Die Spannung ließ nach. - Als wir Überhäufung mit Ehren und Gütern war natürlich eine schwere Belastung für 1950Elektrostal verließen, erzeugte die Fabrik bereits fa.~teine Tonne einsatz- mich. Meine Frau war entsetzt und meinte, wir kämen nie mehr aus der Sow- fähiges Uran pro Tag! Natürlich blieb diese Fabrik nicht die einzige. jetunion heraus. Ich selbst behielt aber den festen Willen und die Hoffnung, doch noch herauszukommen. Von der Explosion der ersten sowjetischen Atombombe erfuhren wir aus einer Mitteilung des BBC-Senders, den wir allabendlich abhörten. Am näch- sten Morgen ging ich sofort zu Golowanow und erzählte ihm die Neuigkeit, von der die sowjetische Bevölkerung noch nichts wußte. Er stürzte hinaus und fuhr nach Moskau ins Ministerium, um eine Bestätigung zu erhalten. Erst nach mehreren Tagen erschien eine TASS-Meldung, in der in konfuser,· pflau- menweicher Formulierung mitgeteilt wurde, daß die Sowjetunion schon seit einigen Jahren über das Geheimnis der Kernenergiefreisetzung verfüge. Von Bomben war nicht die Rede, sondern nur von der Verwendung von Kernexplo- sionen zur Umleitung von Flüssen. Die Meldung atmete technische Souveräni- tät und eine geradezu rührende Friedensliebe.

Einige Zeit nach der geglückten Atombombenexplosion ergoß sich ein Or-

-28- - 29- 4. EINIGE FÜR DIE DAMALIGE LAGE TYPISam VORFÄLLE

Es seien hier einige Vorfälle und Situationen geschildert, die illustrieren sollen, wie spannungsgeladen die Atmosphäre bei der Durchführung des Uran- projekts war und welch starkem Druck seitens der Regierung wir - besonders in der Anfangszeit - ausgesetzt waren.

Wir benötigten für unseren Schmelzbetrieb sehr dickwandige Vakuum- Gumrnischläuche von der Art, wie man sie in der Industrie verwendet. Ich fuhr zum Atomrninister Sawenjagin und bat um Hilfe. Er versprach, einen Re- gierungsbeschluß herbeizuführen, der eine der beiden leistungsfähigen russi- schen Gummigaloschen - Fabriken ("Provodnik" und 11 Treugolnik") verpflich- tet, sich der Herstellung solcher Schläuche schnellstens anzunehmen. Nach einiger Zeit trafen bei uns tatsächlich viele hundert laufende Meter der Schläu- che ein. Sie waren von außen nett anzusehen und hatten eine gleichmäßige kreisrunde Form. Doch wenn man sie aufschnitt, erwies sich das innere Profil als geradezu grotesk: es war völlig ungleichmäßig und wies die abenteuerlich- sten Formen auf, die vielleicht auf unsere avantgardistischen Künstler ~~re- gend wirken würden, aber für technische Zwecke unannehmbar waren. 'Um diese Zeit führte ich einen dauernden Kleinkrieg mit Sawenjagin: er griff uns wegen mangelnder Produktion an, und ich verteidigte mich mit Gegenangrif- fen wegen schlechter Versorgung mit Material und Gerät. Die mißratenen

Schläuche waren ein 11 gefundenes Fressen" für mich als Abwehrwaffe in die- sem Kampf. Ich schnitt mir sorgfältig die Schlauchstücke mit den amüsante- sten Innenprofilen zurecht und fuhr mit diesen Proben zu Sawenjagin. Er hatte gerade Besuch von mehreren Leuten in seinem Kabinett, als ich hineinkam.

Ich sagte: 11 Sie haben uns doch immer die Unterstützung der sowjetischen In-

- 31 - dustrie zugesichert; darf ich Ihnen einige Beispiele für die Leistungsfähigkeit sind aus ihnen viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen. Es sei hi~r Ihrer Industrie zeigen?" und breitete die Proben mit genießerischer Langsam- noch vermerkt, daß der aus der Krim stammende J. W. Kurtschatow ein ganz keit auf dem Tisch aus. Sawenjagin erblaßte vor Wut. "Darf ich die Proben ausgesprochen" tatarisches" Aussehen hatte. - Sawenjagin war ein äußerst tat- behalten?" fragte er kurz. Mit süffisantem Lächeln überreichte ich ihm die kräftiger und kluger Mensch; seine Sprechweise war von ungewöhnlicher Kür- Schlauchstücke und empfahl mich. - Erst nach geraumer Zeit erfuhr ich, daß ze und Prägnanz. Seine "rauhe Schale" verdeckte es, daß er im Grunde ge- der arme Direktor der Galoschenfabrik daraufhin 5 Jahre Haft bekommen hat. nommen ein höflicher und feinfühliger Mensch war. Mir gegenüber war er Ich übte danach stets größte Zurückhaltung, wenn eine Beschwerde über ir- äußerst wohlwollend. Aber er kompensierte seine Hochachtung für die deut- gend etwas oder irgend jemand in Betracht kam. sche Wissenschaft und Technik durch gelegentliche Nadelstiche, die er mir versetzte, indem er etwas Schlechtes über die deutsche Technik sagte. Merk- Ein weiterer Vorfall, den ich schildern möchte, hat wieder mit Sawenjagin würdigerweise fiel ich jedesmal prompt auf diese Provokation herein und re- zu tun. Damit Sawenjagin als Mensch dabei nicht in einem schiefen Licht er- agierte sauer. Das liegt wohl an der wohlbekannten menschlichen Neigung, im scheint, sei zunächst eine kurze Charakterisierung dieses Mannesvorausge- eigenen Land zwar dieses zu beschimpfen, im Ausland aber dessen Ehre zu schickt. Abram Pawlowitsch Sawenjagin wurde nach 1945 zum Atomminister verteidigen. - Ich muß hier gestehen, daß ich Sawenjagin gegenüber ein und - zusammen mit dem Physiker Kurtschatow - zum eigentlichen Leiter schlechtes Gewissen hatte, als ich 1955 dem Osten den Rücken kehrte. Ich des ganzen Atomenergieprojekts. Vorher hatte er sich schon große Verdienste glaube kaum, daß er den enormen Wert der persönlichen Freiheit (und damit mit dem Aufbau eines riesigen Nickel-Kombinats auf der Halbinsel Taimyr meine Beweggründe) richtig einschätzen konnte. - Nachträglich möchte ich im Rahmen der NKWD· erworben. Seiner Vorbildung nach war er Metallurge. noch die Ähnlichkeit von Sawenjagin mit M.S. Gorbatschow hervorheben, so- Trotz seines jüdischen Vornamens war er"nicht jüdischer Abstammung; viel- wohl im Gesicht als auch im Verhalten. mehr vertrat er einen in Zentralrußland und an der Wolga oft vorkommenden Typ, der offenbar von den Wolgatataren stammt, die seinerzeit dort ihr zum Eine etwas befremdende Eigenart Sawenjagins, auf die wir bald zu spre- islamischen Kulturkreis gehörendes "Bolgaren - Reich" hatten. Diese oft sehr chen kommen, war seine Gewohnheit, sich der ordinärsten Flüche zu bedie- gut aussehenden, brünetten Menschen haben nur selten etwas Mongolisches an nen. Die russische Sprache bietet in dieser Beziehung besondere Möglichkei- sich und ähneln eher den heutigen Bulgaren. Menschen dieses Schlages stellen ten. Ich habe irgendwo gelesen, daß diese Ausdrucksweise in den schreckli- ein sehr wertvolles, aktives Element in der Bevölkerung Rußlands dar. Tatari- chen, rauhen Jahren des "Tatarenjochs" entstanden sei. Bei Sawenjagin und scher Abstammung waren viele einflußreiche Adelsgeschlechter und viele sonst seinen Kollegen - besonders in der Armee und in der Industrie - hat sich die wichtige Persönlichkeiten, darunter auch solche auf dem Gebiet der exakten schlechte Gewohnheit wohl unter dem Streß der Kriegsjahre ausgebildet. Die Naturwissenschaften. Die Bezeichnurig."Tatare"·oder ."Turko -Mongole" ent- russischen Flüche und Schimpfausdrücke sind von einer solchen Gemeinheit, spricht keinem scharf definierten ethnographischen Begriff. Die Russen be- daß die Fäkaliensprache das Westens sich daneben wie ein gehobener Konver- zeichnen die meisten ihrer Feinde im Osten oder Südosten als Tataren. Dazu sationsstil ausnimmt. gehören ~'''.'eh die Krim -Tataren, jahrhundertelang Träger einer hochentwik- kelten islamischen Kultur auf der Krim. Auch später, nach der Russifizierung, Es war in den ersten Januartagen 1946. Wir befanden uns am Tiefpunkt

- 32- - 33 - unserer Bemühungen. Nichts klappte richtig, nichts bot Aussicht auf baldige gen. Mir war klar, daß ich mir eine derartige Behandlung auf keinen Fall ge- Besserung. Die Stimmung war miserabel., Ich war gerade auf dem Gelände der fallen lassen durfte. Ich beschloß, im Falle einer solchen Behandlung ruhig Fabrik, als mich der Fabrikdirektor, der sympathische General, dort aufstö- aufzustehen, langsam zur Tür zu gehen und die Tür laut hinter mir zuzuknal- berte und mit aufgeregter Stimme bat, sofort in die Verwaltung zu kommen. len. Aber als ich an die Reihe kam, sagte Sawenjagin nur: "Und was Sie anbe- Er sagte, Sawenjagin sei gekommen, er mache ein böses Gesicht, und es sei ein langt, Doktor Riehl, so kann ich Ihnen sagen, daß Ihr Ansehen bei der Regie- "Mordoboi" zu erwarten. "Mordoboi" ist ein nichtliterarischer russischer Aus- rung im Sinken begriffen ist." Ich reagierte auf diese harmlose Äußerung mit druck, mit dem man damals eine böse Beschimpfungsaktion bezeichnete und einer ebenfalls harmlosen Gegenäußerung, daß es uns an Unterstützung fehle. der vom russischen Vulgärwort für "ohrfeigen" oder - um den Kolorit besser Nach kurzem, recht undramatischen Wortgeplänkelließ er mich in Ruhe. Ich wiederzugeben - "in die Fresse hauen" abgeleitet ist. (Ich möchte hier hervor- weiß nicht, ob er mich als Ausländer schonen wollte oder ob er mir meine Ent- heben, daß mir dieser Umgangston nur in der damaligen sowjetischen Indu- schlossenheit ansah, auf jede Schärfe oder gar Beleidigung heftig zu reagieren. strie begegnete, niemals aber in den dortigen wissenschaftlichen Kreisen.) Wir fuhren mit dem General erst ins Fabrik-Kasino, wo Sawenjagin mit etwa 20 Der am Beschimpftwerden beteiligte Leiter derProjektierungsgruppe war an dem Aufbau der Fabrik beteiligten Leuten saß. Ich mußte mich neben ein älterer Herr namens Feodorowitsch, ein früherer zaristischer Gardeoffizier. Sawenjagin hinsetzen und wurde gezwungen, auf nüchternen Magen mehrere Er versorgte mich oft mit guten Ratschlägen, so auch mit dem Ratschlag, sich Schnäpse zu mir Zu nehmen, die mich zunächst außer Gefecht setzten. Nach bei Beschimpfungsaktionen stets im Rücken des Beschimpfers oder sonst ir- dem Essen zog die ganze Gesellschaft in das Kabinett des Fabrikdirektors, und gendwie außerhalb seiner Sicht zu setzen. Man könne dann manchmal der Be- es begann der "Mordoboi". (Man erzählte mir nachher, daß bei mir die schimpfung entgehen. Im vorliegenden Fall konnte ich seinen Rat nicht befol- Schnapswirkung schlagartig verschwand, als es ernst wurde.) gen, denn mein Stammplatz am Sitzungstisch befand sich direkt gegenüber dem von Sawenjagin. Aber Feodorowitsch setzte sich auf ein Sofa an der Die Beschimpfungsaktion war für westliche Begriffe unvorstellbar. Sawen- Wand im Rücken von Sawenjagin. Leider hat das ihm diesmal nichts genützt, jagin nahm sich der Reihe nach alle vor, die am Aufbau der Uranfabrik betei- und er bekam auch seine Portion. Als die Beschimpfungsaktion sich ihrem En- ligt waren: den Fabrikdirektor, den Chefingenieur, den für Bauarbeiten zu- de näherte und die Spannung schon nachließ, lächelte mich Feodorowitsch ständigen NKWD-General, den Leiter einer für die Projektierung zuständigen vom Sofa aus an. Sawenjagin, der ein feinfühliger Beobachter war, las VOn Gruppe aus Moskau, den für Materialbeschaffung zuständigen Abteilungsleiter meinem Augenausdruck ab, daß Feodorowitsch mich anlächelt, drehte sich um usw.. Es war klar, daß auch ich an die Reihe kommen werde. Der Ton der Be- und schrie: "Sie brauchen nicht zu lachen!", wonach der arme Feodorowit~ch schimpfungen w~r ungeheuerlich. Ohne Rücksicht auf Stellung oder Alter be- eine zweite Portion schlucken mußte. schimpfte Sawenjagin die Leute in der ordinärsten Weise unter Verwendung der gemeinsten Flüche, die die russische Sprache bietet. Die harmloseste dieser Ein ähnlicher Vorfall, bei dem die Beschimpfung in der Form harmloser, Beschimpfungen hätte ihm in einem westlichen demokratischen Staat eine Ver- aber in der Sache gefährlicher war, ereignete sich wesentlich später, als unsere urteilung wegen schwerer Beleidigung eingebracht. Die Beschimpften nahmen Produktion schon gut lief. Plötzlich tauchte in unserem Uranmetall eine viel das errötend und erblassend hin und wagten es nur selten, sich zu rechtferti- zu hohe Konzentration an Bor auf, dem Feind Nr. 1 für eine Verwendung im

- 34 - - 35 - l~

Reaktor. Diesmal kam Wannikow, der frühere Munitionsminister, zu uns, um schon 4 Uhr morgens. Nicht einmal im Auto konnte ich schlafen, und zwar uns unter Druck zu setzen. Das war übrigens das letzte Mal, daß ich ihn gese- wegen des ent~etzlichen, lebensgefährlichen Zustandes der Straße. Die Chaus- hen habe. Ich vermute, daß er als früherer Munitionsminister Aufgaben über- see war nämlich während des Krieges zeitweise die einzige Verbindung zwi- nahm, zu denen wir schon keinen Zugang mehr haben durften ..... Keiner von schen Moskau und dem Übrigen Land. Sie bildete übrigens den ersten Teil des uns wußte, woher das Bor auf einmal. aufgetaucht war. Der Ton, in dem uns berühmt -berüchtigten Wladimir -Traktes, auf dem in früheren Jahrhunderten Wannikow in die Zange nahm, war nicht unhöflich, aber bedrohlich. So fragte die Sträflinge nach Slbirien getrieben wurden. - Später, in den 50er Jahren, er unseren stellvertretenden Chefingenieur, ob er schon in der Lubjanka, dem wurde die Unsitte der nächtlichen Sitzungen abgeschafft. Auch die Verwen- berüchtigten NKWD -Gefängnis gesessen hätte. Als dieser die Frage erblei- dung ordinärer Flüche im Dienst wurde verboten. Diese Umstellung muß chend bejahte, sagte Wannikow: "Wollen Sie wieder hin?" Mir fiel schließlich Sawenjagin nicht leicht gefallen sein. eine Erklärungsmöglichkeit für das Auftauchen des Bors ein, wodurch die Stimmung sich etwas entspannte. Ich erinnerte mich nämlich, daß unser Uran- oxid bei der Auer -Gesellschaft in einem Schuppen lagerte, in dem früher auch Borsäure, die wir für Leuchtstoffe benötigten, gelagert hatte. Die diensteifrigen NKWD-Offiziere ließen auch das auf dem Boden liegende, verschüttete Uran- oxid samt allem Dreck zusammenkratzen. Es war also möglich, daß jetzt gera- de dieses, vermutlich sehr stark mit Bor verunreinigte Uranoxid in den Fabri- kationsprozeß als Ausgangsmaterial geraten war; die Reinigung mit dem Äther- Verfahren konnte allzu große Bormengen nicht ausreichend wegschaf- fen. - Nach einiger Zeit verschwand das Bor wieder, und die Angelegenheit hatte keine bösen Folgen.

Ich möchte zum Abschluß dieses Kapitels, das die spannungsgeladene At- mosphäre jener Zeit charakterisieren soll, auch noch einiges über den Arbeits- stil der mir bekannten führenden Persönlichkeiten sagen, speziell derjenigen, die an besonders dringenden Projekten beteiligt waren. Sie alle standen wäh- rend des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren unter ungeheurem StreB. Fast alle waren herzkrank. Sawenjagin und Kurschatow starben an Herz- schlag, Wannikow beklagte sich über Herzbeschwerden, war aber 1957 noch am Leben. Der Arbeitsstil dieser Menschen war äußerst ungesund. Sawenjagin setzte viele der wichtigsten Sitzungen auf 10 Uhr abends an, worunter auch ich oft zu leiden hatte, denn wenn ich nach Elektrostal zurückkam, war es meist

- 36- - 37 - 5. ZWEIMAL BERIA

Ich hatte zwei Begegnungen mit Beria, dem berüchtigten Organisator der NKWD-Arbeit~lager. Die erste, relativ kurze Begegnung fand bald nach unse- rem Eintreffen in der Sowjetunion statt. Beria hatte die Herren Hertz, Volmer, v.Ardenne, Döpel und mich zu sich geladen, um uns kennenzulernen. Jeder von uns wurde getrennt in sein Kabinett hineingebeten, in dem außer ihm noch etwa 20 andere Leute, vorwiegend Wissenschaftler, und einige Minister saßen.

Beria empfing uns äußerst liebenswürdig. Sein Auftreten war ausgespro- chen charmant. Es ist ja wohlbekannt, daß Leute seines Schlages im persönli- chen Verkehr sehr nett sein können. Auch Himmler soll ein ganz reizender Ge- sellschafter gewesen sein.

Gleich zu Beginn unserer Unterhaltung sagte er zu mir, man sollte jetzt vergessen, daß unsere Völker noch vor kurzem in einem schrecklichen Kampf miteinander standen. Er meinte, die Deutschen seien nun einmal sehr korrekte Leute und halten sich genau an Befehle. Niemand hat ihnen befohlen, mi{dem Schießen aufzuhören, und so haben sie eben immer weitergeschossen. Er kre- denzte sogar den folgenden Witz über die Korrektheit der Deutschen: Die Deutschen stürmen einen Bahnhof. Der Angriff kommt aber plötzlich ins Stok- ken. Der kommandierende General schickt seinen Adjutanten, nach dem Rech-

ten zu sehen. Der kehrt zurück und meldet: 11 Kein Grund zur Beunruhigung, die Mannschaften lösen nur gerade die Bahnsteigkarten."

Das übrige Gespräch bot nichts Bemerkenswertes. Auffallend war die ge-

- 39 - spannte Neugier, mit der man von allen Anwesenden beobachtet wurde. Be- schließenden Labor und auf dem Korridor postierten sich auffallend großgtr sonders fiel mir ein Mann mit dunklem Bart und glühenden schwarzen Augen wachsene, kräftige junge Männer. auf, der mich ununterbrochen freundlich fixierte. Später erfuhr ich, daß es Kurtschatow war. Bevor ich den weiteren Ablauf des Besuchs schildere, muß ich voraus- schicken, daß ich mich in einer sehr "geladenen" Stimmung befand. Das lag Die zweite, wesentlich interessantere Begegnung fand etwa drei Jahre spä- daran, daß ich an diesem Tag wegen der Grippe auf meine gewohnten Zigar- ter statt, zu einer Zeit, als wir unsere anfänglichen technischen Schwierigkeiten ren verzichtete, die auf mich sonst beruhigend und "moderierend" wirken. schon hinter uns hatten. - Ich war an jenem Tag schwer erkältet und be- Ohne die gewohnte Zigarre geriet ich stets in einen sehr wachen, gespannten, schloß, zu Hause zu bleiben. Da klingelte das Telefon, und der Fabrikdirektor zu Aggressivität neigenden Zustand. (Ich habe sogar mehrmals im Leben be- meldete sich. Er sagte, er wüßte, daß ich krank sei, er möchte mich aber den- wußt auf das Rauchen verzichtet, wenn es darauf ankam, unnachgiebig und noch bitten, in die Fabrik zu kommen. Ich antwortete, daß ich zum ersten Mal schlagfertig zu sein.) Dieser mein Zustand trug sehr dazu bei, daß die Unter- nach drei Jahren krankheitshalber zu Hause geblieben sei und endlich in Ruhe haltung mit Beria zu einer der amüsantesten Szenen meines Lebens wurde. gelassen werden möchte. Er ließ aber nicht locker: Es käme ein ganz wichtiger Besuch, und es wäre schrecklich unangenehm, wenn ich nicht dabei sein wür- Die Situation war von Anfang an eigenartig und nicht frei von Komik. de. Nach längerem Widerstreben merkte ich schließlich, daß ich die Leute Man spürte, wie alle um Beria herum vor ihm zitterten. Selbst der sonst so ge- durch meine Weigerung in eine sehr unangenehme Lage bringen würde, und fürchtete Sawenjagin wirkte "klein und häßlich". Nur gerade für mich, das ließ mich zur Fabrik fahren. "Objekt" der Veranstaltung, war kein Grund zu Befürchtungen ersichtlich. Beria wäre bestimmt nicht extra zu uns hinausgekommen, um mir etwas anzu- Ich wartete eine Weile in meinem Kabinett und schaute zum Fenster hin- tun. Mit so etwas hätte er im Bedarfsfall seine Leute beauftragt. Außerdem aus, von dem man den Eingang zu unserem Laboratoriumsgebäude sehen sprach auch das gute Voranschreiten unserer Arbeit gegen irgendwelche Ge- konnte. Nach einiger Zeit fuhr eine schier endlose Karawane von großen fahren. So kam es zustande, daß ich mich diesmal gar nicht bedroht fühlte und schwarzen Limousinen vor. Es waren mindestens 15 Wagen. Aus einem von - angesichts der unterwürfigen, verängstigten Haltung der anderen Anwese~,- ihnen stieg Beria aus. Nun merkte ich, daß es ein wirklich besonderer Besuch den - die Situation sogar als irgendwie erheiternd empfand. war, und ging ihm auf dem Korridor entgegen. "Wie geht es?" fragte Beria jovial." Schlecht", war meine Antwort, "ich habe die Grippe." Er sagte, er Beria eröffnete da~ Gespräch mit der Frage, wac;wir jetzt täten und wie es wüßte ein gutes Mittel gegen Grippe und würde es mir schicken. (Da~ Mittel uns ginge. Ich berichtete kurz über unsere laufende Arbeit, die nicht mehr mit ist leider bis heute nicht eingetroffen.) Wir gingen in mein Dienstzimmer hin- dem NaturuIan, sondern mit Uran 235 und Plutonium zusammenhing, erweck- ein, welches sich mit einer Menge von Menschen füllte, die sich teils setzten, te damit aber bei Beria kaum Interesse. Nach einiger Zeit fragte er, ob wir teils stehen bleiben mußten. Es waren mehrere Minister dabei, der Fabrikdi- nicht irgendwelche Klagen hätten. Ich brachte daraufhin eine recht harmlose rektor, dc; ürtliche Partei vorsitzende und auch viele mir unbekannte Leute. Beschwerde vor, die ich in die Form eines aus der russischen Geschichte be- An den Wänden meines Dienstzimmers, in meinem Vorzimmer, in einem an- kannten Ausspruchs kleidete. Die russische Geschichte beginnt damit, daß die

-40- - 41 - Russen zu den Warägern gingen und also sprachen: "Unser Land ist groß und so will ich es tun. Ich beklage mich über Sie!" Der Effekt dieser Äußerung, dIe reich, aber es gibt darin keine Ordnung. Kommet und regieret uns." Ich sagte: ich hier mit nahezu wörtlicher Exaktheit wiedergebe, war bemerkenswert. "Ihr Land ist groß und reich, aber es gibt darin keine reinen Chemikalien." Berias Umgebung erstarrte, während er selbst offensichtlich amüsiert war und Beria lächelte über die scherzhafte Formulierung, aber sonst traute sich kaum mit gespieltem Erschrecken fragte: "Über mich?!" Ich sagte nun, daß er selbst jemand aus der respektvoll-ernsten Haltung heraus. Am wenigsten lächelte ja das strenge Geheimhaltungs - und Überwachungsregime befohlen hat, das der Minister für chemische Industrie Perwuchin (später Botschafter in Ost- unsere Freiheit ungeheuer beschneidet und unter dem wir alle wirklich sehr Berlin und noch später ZK -Mitglied), der direkt neben Beria saß. Beria sah leiden. Beria begann, mit seinen Nachbarn zu erwägen, ob man nicht für mei- ihn fragend an, und Perwuchin sagte, das Problem sei bekannt und man sei ne Gruppe irgendwelche Ausnahmen machen könnte, aber ich winkte ab und gerade dabei, im Ministerium eine besondere Verwaltung für das Gebiet der meinte, ich hätte die Sache nur zur Sprache gebracht, weil er mich bedrängte, reinen Chemikalien zu gründen. Damit wurde das Thema verlassen. aber ich bäte ihn um nichts. - Als ich davon nachher meinen deutschen Mitar- beitern. erzählte, hat mir keiner Vorwürfe gemacht, obschon ich spürte, wie es Beria sagte, das sei doch unmöglich die einzige Klage, die ich vorzubrin- in ihrem Inneren knirschte. Es bestanden mehrere Gründe, die Vergünstigun- gen hätte. Ich kramte eine weitere Beschwerde heraus, indem ich sagte, das gen abzulehnen: Erstens wußten wir aus Erfahrung, daß man unsere" Freiheit" Fehlen hochtemperaturfester Tiegel in der Sowjetunion sei ein ernstes Hinder- nach kurzer Zeit doch wieder beschnitten hätte, zweitens wäre der Verdacht nis für unsere Arbeit. Damit erzielte ich bei Beria noch weniger Eindruck als sofort auf unsere Gruppe gefallen, wenn irgendein Geheimnis herausgekom- mit den reinen Chemikalien. Er bedrängte mich weiter, und es wurde offenbar, men wäre, und drittens - last not least - man sollte keine Privilegien erzwin- daß er aus mir irgendwelche tiefergehende, "peinlichere" Klagen herausholen gen, die unsere Heimkehr nach Deutschland hätten erschweren können. wollte. Er wurde deutlicher, indem er sagte, ich hätte bisher nur von rein dienstlichen Belangen gesprochen, aber ich hätte doch wohl auch in persönli- Das weitere Gespräch mit Beria verebbte in irgendeiner Weise, an die ich chen Dingen der deutschen Gruppe mich über irgend etwas oder irgend je- mich nicht mehr erinnere. Man brach auf, die Fabrik zu besichtigen. Sawen- mand zu beklagen. Ich antwortete mit betonter Kälte und Schärfe: "Wir sind jagin wollte, daß ich mitkomme, aber Beria winkte ab: "Der Mann ist krank, satt, wir frieren nicht. Wir haben keine Klagen." - Um diese zugeknöpfte Hal- der muß ins Bett." .' tung dem Leser verständlich zu machen, muß ich hier bemerken, daß jedes Er- wirken irgendwe1cher Vergünstigungen oder Privilegien uns Deutsche nur Sawenjagin blieb etwas zurück, ergriff beim Abschied meine Hände und noch tiefer ins sowjetische Netz verstricken konnte. Das war mir damals schon bedankte sich in einer so überschwenglichen Weise, wie ich sie an ihm nicht klar geworden, und da ich von Anfang an nur danach strebte, aus dem Netz kannte. Wofür er sich bedankte, begriff ich nicht. eines Tages wieder herauszukommen, so war es besser, um nichts zu bitten, außer bei ganz lebenswichtigen Dingen, etwa wenn es um Gesundheitsfragen Ich hatte überhaupt den tieferen Sinn und Zweck der ganzen Veranstal- ging. - "Das ist unmöglich", sagte Beria, "jeder Mensch hat doch etwac;,wo- tung und des merkwürdigen Ausfragens durch Beria nicht begriffen. Erst viel rüber er sich beklagen kann!" Er bedrängte mich weiter, und schließlich sagte später erzählte man mir, worum es gegangen sei. Die sowjetischen Wissen- ich: "Wenn Sie schon so darauf bestehen, daß ich mich über jemand beklage, schaftler, besonders die von den Akademie-Instituten, warfen Sawenjagin vor,

- 42- - 43 - daß er die Deutschen bevorzuge und daß er auf ihren Rat mehr höre als auf den sowjetischer Fachleute. Diese Reaktion war nicht unverständlich, denn es gab sehr gute Leute unter den dortigen Wissenschaftlern. Diese Klagen veran- laßten wohl Sawenjagin, seinem Chef Beria',eine erfolgreiche deutsche Gruppe vorzuführen und sich so zu rechtfertigen. Offenbar hat die Vorführung der Ab- sicht Sawenjagins entsprochen. Daher sein überschwenglicher Dank.

Bild rechts oben: Prof. Riehl mit Frau und Tochter in Sungul im Ural, wo er 1950 die wissenschaftliche Leitung eines Forschungsinstituts übernommen hatte.

Bild rechts unten: Die Sommer im Ural waren warm, aber sehr kurz, die Winter lang und bitterkalt, wie das Bild des Töchterchens im Schnee zeigt. (Vgl. S. 58 im Text).

-44-

_~J "i"

6. NOCH EINMAL BERIA

Es war das Jahr 1953. Wir befanden uns auf der letzten Station unseres Aufenthalts in der Sowjetunion, bei Suchumi am Schwarzen Meer. Ich saß in meinem Dienstzimmer, als meine deutsche Sekretärin hereinstürzte und fragte, ob ich ein Beria-Bild im Zimmer hängen habe; die Partei-Leute gingen im Institutsgebäude herum und beseitigten alle Beria-Bilder. Es war klar, daß Beria, der nach Stalins Tod zu den drei oder vier regierenden Männern der Sowjetunion gehörte, gestürzt war. Es war eine Sensation.

Am nächsten oder übernächsten Tag fanden aus diesem Anlaß in der gan- zen Sowjetunion "Meetings" (Volksversammlungen) statt. In unserem "Ob- jekt" wurde das Meeting unter freiem Himmel abgehalten, weil südlich -war- mes Wetter herrschte. (Unter "Objekt" ist das um das Institut herum liegende, mit Stacheldraht umzäunte Gelände mit den Wohnhäusern der Deutschen und eines Teils der sowjetischen Mitarbeiter zu verstehen.) Die Deutschen waren zu dem Meeting nicht geladen. Mich trieb aber die Neugier, und ich postierte mich so hinter einem Zaun, daß ich - ungesehen von den Teilnehmern, des Meetings - alles hören und sogar einiges sehen konnte. Die Beteiligung/am Meeting war gering, ,es waren keine 100 Menschen anwesend. Man spürte überhaupt die Peinlichkeit und Unsicherheit der Situation. Man bedenke: noch vor zwei Tagen war Beria eine" hochgeachtete" Persönlichkeit, der gefürchtete höchste Chef. Einige wenige der Anwesenden waren aber ausgesprochen ver- gnügt; eine Mischung aus Schadenfreude und Sensationslust brachte sie inge- hobene Stimmung.

Die Hauptrede hielt der stellvertretende Objektleiter. (Dem Objektleiter

- 47 - selbst ist es irgendwie gelungen, sich zu drücken.) Gehemmt, ohne vom Manu- skript aufzusehen, leierte er seine Anklagerede gegen Beria herunter. Die Be- gründung der Anklage war von einer Primitivität, die kaum vorstellbar ist. In ihr wurden weder Berias Arbeitslager erwähnt, noch irgendwelche ähnlichen Scheußlichkeiten. Erwähnt wurden seine mit An:ttsmißbrauch verbundenen 7. DER GurE RUSSISCHE MENSCH sittlichen Verfehlungen; vor allen Dingen wUrde aber hervorgehoben, daß er ein Verräter sei. Seit 1919 hätte er in Verbindung mit dem deutschen General- "Der gute russische Mensch" ist ein in Rußland gängiger Ausdruck. Er stab gestanden (!). bedeutet nicht, daß alle Russen durchweg gut sind, vielmehr gibt er einen Cha- rakterzug wieder, der relativ oft bei Russen vorkommt; er ist ähnlich zu verste- Es fällt einem schwer, an dieser Stelle auf einige Randbemerkungen zu hen wie etwa "das goldene jüdische Herz" oder die "treue deutsche Seele". Die verzichten. Im Jahre 1919 war Beria erst 19 Jahre alt. Früh übt sich, was ein beste Formulierung hierfür habe ich in einem Aufsatz von Max Frisch gefun- Verräter werden will! Noch erstaunlicher ist es, daß dieser Verrat 34 Jahre den: "Wenn die russischen Menschen nicht zu Unmenschen werden, sind sie lang weder von Stalin entdeckt, noch von Hitler zum Durchstoßen bis Wladi- menschlicher als wir." wostok genützt wurde. Welch eine Nachlässigkeit der Herren Diktatoren! Wenn ein Russe einen Ratschlag gibt und dabei versichert, es sei der Rat Der letzte Redner fragte das versammelte "Volk", wie die Strafe für Berias eines guten russischen Menschen, so kann man sich darauf verlassen, daß der Verbrechen sein soll. Das "Volk" rief: j'Tod!" Es ist so gut wie sicher, daß der Rat aufrichtig gemeint und gut fundiert ist. Ich wußte das und richtete mich "Wille des Volkes" zu dieser Zeit bereits erfüllt war. In einer wahren Volks- danach. demokratie wird eben der Volkswille erfüllt, noch ehe das Volk den Willen geäußert hat. Angewidert von dem Schauspiel und sogar irgendwie beschämt, Die erste Gelegenheit hierzu bot sich in den ersten Tagen unseres Aufent- es mir angesehen zu haben, schlich ich davon. halts in Elektrostal. In dieser Zeit sträubte ich mich noch sehr, in das Uran- Projekt eingespannt zu werden, und hoffte, auf ein anderes, weniger "heißes" Unweit von Suchumi befand sich ein großes Dorf, welches wir oft pal\sier- Arbeitl\gebiet ausweichen zu können. Ein russischer Ingenieur, der schon in .' ten, wenn wir in die Berge fuhren. Beria stammte aus diesem Dorf. Er war ~apitel 3 erwähnte Stepanow, merkte das und sagte mir eines Tages, mich nicht Grusinier (Georgier), sondern gehörte zu dem Volk der Mingrelen, wel- teilnahmsvoll, fast mitleidig ansehend: "Hören Sie auf den Rat eines guten rus- ches in der Grusinischen S.S.R. lebt. Eine riesige Gips -Statue des großen Soh- sischen Menschen, sträuben Sie sich nicht." Ich sträubte mich nicht mehr. nes des Dorfes stand am Dorfrand. Nach Beria~ Sturz verschwand die Statue. Nur das Podest ließ man stehen. Das Dorf hat wohl die Hoffnung nicht verlo- Ein analoger Fall ereignete sich mehrere Jahre später. Ein junges deut- ren, noch einmal einen großen Sohn hervorzubringen. Möge, falls er kommt, sches Mädchen wollte nach Moskau fahren. Dazu brauchte sie einen von der sein Denkmallt.::ger stehen bleiben. Sicherheitsbehörde gestellten" Begleiter", ohne den wir Elektrostal nicht ver- lassen durften. Es war gerade Sonntag, und ich konnte nur einen einzigen Be-

- 48- - 49 - gleiter, einen jungen Burschen auftreiben. Dieser weigerte sich aber, nach Tages meldeten mir meine" Agenten", daß der Paketberg in Iwanows Woh- Moskau zu fahren. Auf meine Frage nach dem Grund seiner Weigerung ant- nung verschwunden war. Ein finsterer Verdacht stieg in mir auf. Da ich rein wortete er unverschämt: "Weil ich nicht will." Wütend warf ich ihn hinaus, nominell als Iwanows Chef galt, ließ ich ihn rufen, warf mich in eine" Chef- ging am nächsten Morgen zum Fabrikdirektor und verlangte die sofortige Ent- Pose" und fragte ihn streng: "Wo sind die Pakete des Dr. Baroni?" Iwanow lassung des Kerls. Mir wurde sofortiges Durchgreifen versprochen, aber trotz trat von einem Bein aufs andere und wiederholte mehrmals vor sich hin ein wiederholter Vorstöße war auch nach mehreren Tagen nichts geschehen. Ich und denselben, sinnlos erscheinenden Satz: "Ja, wo sind die Pakete des Dr. ging schließlich zu einem sympathischen älteren NKWD-Oberst, dem die Be- Baroni." Schließlich faßte er sich und gestand: "Ich werde Ihnen sagen, wo sie gleiter angeblich direkt unterstanden. Er wußte natürlich längst von dem Vor- sind, aber wenn Sie da~ nicht für sich behalten, bekomme ich mindestens 10 fall, zeigte volles Verständnis und sagte schließlich: "Wissen Sie was, dieser Jahre Haft wegen Amt~mißbrauchs. Ich habe als sowjetischer Offizier die junge Mann schreibt Berichte über Sie, über mich und über den Fabrikdirek- Möglichkeit, Pakete nach Wien zu schicken, und ich habe von dieser Möglich- tOr. Lassen Sie sich von einem guten russischen Menschen raten: geben Sie keit Gebrauch gemacht. Der alte Mann (d.h. Baronis Vater) soll nicht hun- auf." Ich gab auf. - Etwa zwei Jahre später, als wir schon von Elektrostal weg gern." Ich gab meine Chef-Pose auf. waren, erfuhr ich, daß der junge Mann doch noch über seine Dummheit und j'.,' ; Arroganz gestolpert ist. Ich habe selbst meiner Frau gegenüber bis zur Rückkehr nach Deutsch- land die Sache geheimgehalten. Zweimal noch wurde die Paketversendung in In dem dritten Fall, den ich erzählen möchte, präsentierte sich der gute dieser Weise durchgeführt, jetzt schon mit meiner Assistenz: Ich stand am russische Mensch nicht durch bloße Worte, sondern durch eine bemerkenswer- Eingang zum Postamt "Schmiere" und paßte auf, daß nicht jemand von den te Tat. uns kennenden Russen oder Deutschen etwa~ merkt. - Schließlich wurde dann ein legaler Weg der Beförderung gefunden. Jede deutsche Familie durfte monatlich ein Paket mit den schönsten Le- bensmitteln an Verwandte oder Bekannte in Deutschland schicken. Die Pakete wurden von Angehörigen der NKWD bzw. MWD nach Berlin gebracht und von dort aus weitergeleitet, auch nach West-Deutschland. Ich hatte in der Gruppe auch einen Österreicher, Dr. Baroni. Seine Pakete, die an seinen Vater in Wien adressiert waren, konnten aber nicht befördert werden, weil die UdSSR gegenüber Österreich an irgendwelche Vereinbarungen gebunden war, die einen direkten Transport über den NKWD-Apparat verhinderten. Ich gab mir die größte Mühe, die Versendung durchzusetzen, aber ohne Erfolg. Die Pakete des Dr. Baroni stapelten sich in der Wohnung des für die Versendung zuständigen NKWD -Offiziers. Ich entsinne mich an seinen Namen ganz ge- nau, möchte ihn aber hier mit dem Tamnamen "Iwanow" bezeichnen. Eines \:

- 50- - 51 - 8. IN SUNGUL IM ORAL (1950 - 1952)

1950 war unsere Arbeit in Elektrostal getan. Die Fabrikation der Uran- Brennelemente lief glatt und bedurfte nicht mehr der Mitwirkung von uns Deull\chen. Für eine Rückkehr nach Deull\chland war die jedo~it noch nicht reif. Einige Vorstöße meinerseits in dieser Richtung blieben völlig erfolg- los. Es erhob sich also die Frage über die weitere Verwendung der deutschen Gruppe. Der Atomminister Sawenjagin schlug mir vor, die wissenschaftliche Leitung eines großen neuen Instituts in Sungul im Ural zu übernehmen, das sich mit der Behandiung, Wirkung und Verwendung der in Reaktoren anfal- lenden radioaktiven Isotope (Spaltprodukte) beschäftigen sollte. Es kam dabei auf strahlenbiologische, dosimetrische, radiochemische und physikalisch -tech- nische Probleme an, also auf ein sehr vielseitiges Arbeitsprogramm. Da ich aber mit allen diesen Gebieten noch aus meiner Zeit bei der Auer-Gesellschaft mehr oder weniger vertraut war, erschien mir Sawenjagins Angebot als sachlich gerechtfertigt und verlockend.

Mein Entl\chluß, das Angebot anzunehmen, wurde auch noch dadurch er- leichtert, daß in jenem Institut bereits drei deutsche Kollegen arbeiteten, "mit denen ich schon in Deutschland in engster Verbindung und in freundschaftli- chem Verhältnis stand, Es waren der bereits in Kapitel 2 erwähnte Physiker und Strahlenbiologe K.G. Zimmer, der Radiochemiker und Hahn -Schüler H.J. Born (später Professor für Radiochemie an der Technischen Universität München) und der Mediziner und Strahlenbiologe A. Katsch, der nachher Professor in Karlsruhe wurde. Wohl standen diese Herren in enger Verbin- dung zUr Auer-Gesellschaft, aber ihre Arbeitsstätte befand sich im Kaiser- Wilhelm-lnstitut in Berlin-Buch, und zwar in der Abteilung des Genetikers

- 53 - N.W. Timofejew-Ressowsky, von dem gleich noch die Rede sein wird. Trotz- schwerste Entbehrungen und kam körperlich völlig herunter. Dann merkten dem wurden auch sie von den Russen nach der Sowjetunion gebracht und zu- aber die maßgebenden Leute im MWD, daß es sich bei Timofeje\\ __~neinen nächst in meine Gruppe in Elektrostal eingegliedert. Im Rahmen einer Uran- hervorragenden Gelehrten handelt, der überdies wegen seiner strahlenbiologi- fabrik war es jedoch schwierig, für sie eine ihrer Qualifikation entsprechende schen Erfahrungen für das Atomenergie- Projekt verwendbar war. Er wurde in Betätigung zu finden. Ich versuchte zwar krampfhaft zu beweisen, daß Radio- einem Arbeitslager ausfindig gemacht und es wurde ein Major losgeschickt, chemie und Strahlenbiologie ganz gut zu einer Uranfabrik paßt, aber ich hätte der ihn und Zarapkin herausholte. Man päppelte die beiden wieder hoch und wohl Jahre gebraucht, um der Obrigkeit eine so fragliche These einzureden. brachte sie nach Sungul. Als daher das Institut in Sungul gegründet wurde, wurden alle drei dorthin versetzt. - Dort konnten sie denn auch eine ihren Fachgebieten entsprechende Leider hatte Timofejew infolge der Entbehrungen seine Sehkraft einge- \)'ätigkeit voll entfalten. büßt. Er konnte zwar die Umrisse von Personen und Gegenständen erkennen, aber er konnte kaum lesen. Ich erfuhr hiervon, als ich noch in Elektrostal war. Auch Timofejew-Ressowsky kam nach Sungul. Sein Schicksal verdient Sofort habe ich mir zwei dicke Bücher über Vitamine und ihre Wirkungen ge- eine besondere Schilderung, denn es ist überaus charakteristisch für die stalini- kauft und aus den Büchern herausgelesen, daß der Mangel an einem bestimm- stische Nachkriegszeit. Timofejew war sowjetischer Staatsbürger. In den. 20er ten Vitamin (soweit mir erinnerlich Nikotinsäureamid) eine Ablösung der Jahren ist er von dem deutschen Hirnforscher Vogt, der in Moskau im Auftrag Myelinhaut des Sehnervs, d.h. Schädigung der Sehkraft bewirkte. Ich besorgte der Sowjetregierung das Gehirn Lenins untersuchte, nach Berlin in das Kaiser- sofort in Moskau das Vitamin und schickte es über Sawenjagin an Timofejew; Wilhelm - Institut für Hirnforschung eingeladen worden. Ohne die sowjetische aber es war schon zu spät, die Schädigung war irreversibel. Staatsbürgerschaft abzulegen, verblieb er dort bis zum Ende des Krieges. Seine dortigen Arbeiten - insbesondere die mit Delbrück und Zimmer durchgeführ- Timofejew verblieb weiter im Status eines Strafgefangenen, aber er wurde ten Untersuchungen über Strahlenbeeinflussung der Erbeigenschaften - ver- in Sungul sehr gut untergebracht. Er erhielt ein Haus, das genau so schön war halfen ihm zu noch größerem Ansehen. Die Nazi-Regierung hat ihn persönlich wie die für uns Deutsche vorgesehenen Häuser, er erhielt eine Stellung als Lei- die ganze Zeit über in Ruhe gelassen. Sein ältester Sohn jedoch wurde wegen ter der biologischen Abteilung des Institut~, und er durfte seine Familie aus seiner Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen verhaftet und kam in einem Deutschland nachkommen lassen, und das als Strafgefangener! Besonders gro- Konzentrationslager um. Timofejew glaubte, daß er allein schon wegen dieser tesk ist aber, daß er bei Ankunft in seinem Haus zur Begrüßung einen Blumen- traurigen Tatsache nichts von den Russen zu befürchten hätte. Deswegen und strauß vorgesetzt bekam. Angesichts dieser Tatsache kann ich nicht umhin, auch wegen seines Zugehörigkeitsgefühls für Rußland blieb er in Berlin, als die I eine Anregung für Verfechter einer weiteren Humanisierung des Strafvollzugs !' sowjetischen Truppen einmarschierten. Nach kurzer Zeit wurde er verhaftet in unserem Lande auszusprechen: Wie human und wie chevaleresk wäre es, und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Dasselbe Schicksal erfuhr auch sein Mitarbeiter Zarapkin, der ebenfalls als sowjetischer Staatsbürger in Berlin- wenn unsere weiblichen Strafgefangenen bei Einlieferung in die Haftanstalten Buch arbeitete. Beide sind in Solschenizyns Buch "Der Archipel Gulag" als Blumensträuße in ihren Zellen vorgesetzt bekämen! dessen Leidensgenossen erwähnt. - Timofejew erlitt als gewöhnlicher Sträfling Obschon ich wußte, daß ich in Sungul eine Reihe befreundeter Kollegen

- 54- - 55 - antreffen würde, wollte ich mir doch das Sunguler Institut und die dortigen vinz ist es schwierig, ohne einen Exkurs auf das Gebiet der Entomologie (In- Verhältnisse erst ansehen, bevor ich Sawenjagin eine Zusage zu seinem Ange- sektenkunde) auszukommen. Unterwegs nach Swerdlowsk ging unse!",~_:Jtoka- bot gab. Um diese Zeit konnte ich schon Bedingungen stellen und Wünsche putt, und wir mußten eine halbe Nacht in einem primitiven Bauernhaus ver- äußern. So fuhr ich denn erst nach Supgul, um mir die Sache anzusehen. Ich bringen.Die Mädchen spielten mit unserem Begleiter Karten, während ich auf habe auch meine älteste Tochter und ein anderes. deutsches Mädchen mitge- einer Holzbank schlief..Hinterher hatten die Mädchen unzählige Flohbisse auf nommen, um den beiden eine interessante Reise in den Ural zu verschaffen. den Beinen, ich aber keinen einzigen. Dies lag nicht etwa am guten Ge- schmack der Flöhe bei der Wahl ihrer Nahrung, sondern daran, daß es Erd- Das freudige Wiedersehen mit Timofejew und den anderen Kollegen und flöhe waren, die von der Erde nicht bis zur Höhe meiner Bank springen konn- 4~e sonstigen Sunguler Eindrücke beseitigten bei mir alle Bedenken, die wis- ten. Die Rekordhöhe ihrer Sprünge ergibt sich daraus zu 35 cm. So war es je- s~nschaftliche Leitung des dortigen Instituts zu übernehmen. Nur in einem denfalls vor Beginn der konsequenten Förderung des sozialistischen Leistungs- Punkt wollte ich mir noch Klarheit verschaffen. Die Leitung der chemischen sports. Abteilung des Instituts hatte ein Professor S.A. Wosnessensky, der ebenso wie Timofejew Strafgefangener war und auch dieselben Privilegien genoß. Ich Im September 1950zog ich mit meiner Familie nach Sungul. Fast alle An- kannte ihn noch nicht und versuchte bei meinem Erkundungsbesuch in Sungul gehörigen meiner Gruppe wurden an andere Stellen versetzt. Nur Dr. Ortmann herauszufinden, ob er ein vertrauenswürdiger Mensch war. Die Atmosphäre kam nach Sungul mit, da er als Lumineszenz-Fachmann ganz gut in das dorti- unseres Gesprächs blieb zunächst recht eisig, Ich drang in ihn, um ihn zu einer ge Institut hineinpaßte. offenherzigen Aussprache zu bewegen. Er blieb aber sehr zugeknöpft. Er kann-

te mich ja nicht und der goldene fI Helden" -Stern auf meiner Brust ließ ihn Im Sunguler Institut herrschte eine ganz andere, wesentlich angenehmere sicherlich daran zweifeln, daß man mir gegenüber offen sein darf. (Auf Reisen Atmosphäre als in der Elektrostaler Uranfabrik. Der kultivierte Umgangston und bei Behördenbesuchen trug ich stets den Stern und die Stalinpreis-Medail- wurde von den dortigen deutl\chen und sowjetischen Wissenschaftlern geprägt. le, denn dies öffnete einem viele Türen.) Schließlich .brach es aber aus ihm - Fast alle sowjetischen Wissenschaftler waren mehr oder weniger Gefangene heraus, und er erzählte mir seine Leidensgeschichte. Er verbrachte kurz vor oder zumindest Verbannte, und zwar durchweg aus politl\chen Gründen. Hitlers Machtübernahme etwa anderthalb Jahre in Deutschland an einem wis- senschaftlichen Institut und hielt viel von den Deutschen. Bei Kriegsausbruch In den verschiedenen Hilfsbetrieben des Institutl\ waren auch kriminelle wurde er sofort verhaftet und wegen "potentieller Zugehörigkeit zur fünften Sträflinge beschäftigt. Es war sogar ein echter Mörder dabei. Wir nannten ihn Kolonne" zu 10 Jahren Haft verurteilt. Er sagte mir, daß er nichts gesagt oder "unser Mörder". - Wenn es möglich gewesen wäre, in der Sowjetunion zwi- auch nur gedacht hat, was er nicht auf dem Roten~Platz hätte laut ausrufen schen der "Laufbahn" eines politischen Sträflings und der eines kriminellen zu können. - Wir wurden gute Freunde. wählen, so hätte man den meisten Kandidaten zu der letztgenannten Möglich- keit zuraten sollen. Die Kriminellen wurden nämlich nach der Haftentlassung Befriedigt von dem Erkundungsbesuch in Sungul trat ich mit den beiden zu vollberechtigten Bürgern des Landes, während die Politischen manchmal •Mädchen die Rückreise an. Bei Schilderung von Reisen in die russische Pr

- 56 - - 57- kannten politischen Strafgefangenen erhielten nach der Entlassung in ihre Päs- wurde durch einen ganz kurzen, aber berauschend schönen Frühling abgelöst. se eine bestimmte Zahl eingestempelt (ich glaube, e..l\war die Zahl 39), und Der Sommer war ebenfalls kurz und überwiegend schön. Die Pflanzenwelt ge- diese Zahl bedeutete, daß der Inhaber eines solchen Passe..l\sich nicht in großen dieh schneller und üppiger als in Mitteleuropa: Die Blumen waren intensiver Städten niederlassen darf. - Bei guten Arbeitsleistungen der strafgefangenen gefärbt, manche Pflanzen, die wir als niedriges .Unkraut kennen, schossen bis Wissenschaftler wurde ihre Haftzeit verkürzt. Auf diese Weise gelang es meist, zu zwei Meter hoch, der Reichtum an Waldbeeren war enorm. schon nach etwa der halben vorge..l\eherienHaftzeit aus dem Status eines Straf- gefangenen herauszukommen. Die Arbeit am Sunguler Institut war überwiegend auf radiochemische und auf strahlenbiologische Probleme ausgerichtet. Neben Ausarbeitung dosimetri- .~ . Um zu erfreulicheren Dingen zu kommen, sei gesagt, daß Sungul in einer ," . scher Methoden wurde der Einbau und die Wiederabgabe von inkorporierten l~ndl\chaftlich herrlichen Gegend liegt. Das Institut, die Wohnhäuser und alle Radionukliden (vom Organismus aufgenommenen radioaktiven Isotopen) in Hilfsgebäude befanden sich auf einer bewaldeten, teilweise felsig schmalen verschiedenen Organen untersucht, die biologische Wirkung bei Inkorporation Halbinsel von einigen Kilometern Länge. In' dem umgebenden See waren un- und bei äußerer Be..l\trahlungquantitativ -statistisch studiert und die höchstzu- zählige Inseln verstreut. Nach dem Westen zu hatte man einen herrlichen lässigen Strahlendosen beziehungsweise Radionuklid-Konzentrationen festge- Blick auf die Uralkette. Das hübsche Haus, das ich mit meiner Familie be- legt. In der Öffentlichkeit ist zu wenig bekannt, mit welcher Strenge und mit wohnte, stand am See über einem felsigen Steilufer. Wenn das Gefühl des Ein- welch extremen Sicherheitsfaktoren bei solchen Festlegungen vorgegangen gesperrtseins nicht wäre, hätte man sich dort beliebig wohl gefühlt. - Die wird. Deswegen sind viele Ängste in Laienkreisen völlig unsinnig, ja sie lenken Halbinsel war auf der Landseite durch Stacheldraht abgeschlossen, und selbst sogar von den wirklichen Gefahren ab, auf die man beim Umgang mit Kern- am Seeufer waren Wachtposten mit scharfen Hunden verteilt. Wir Deutsche energie achten muß. Sicherheill\fragen auf diesem Gebiet sind zwar beliebig konnten die Halbinsel nur mit einem Begleiter verlassen, die Strafgefangenen wichtig, müssen aber von Sachverständigen behandelt werden und nicht von aber gar nicht, außer in dringendl\ten Krankheitsfällen. So kamen wir denn Laien oder Halblaien, die sich als Menschheitsbeglücker profilieren wollen. nur in sehr beschränktem Maße in den Genuß der herrlichen Natur. Die Herren Zimmer und Born konnten sich in Sungul auf Gebieten betäti- Das dortige Klima ist streng kontinental. Der sehr kalte Winter dauerte gen, auf denen sie schon vorher in Deutschland arbeiteten. Bei Zimmer war es etwas länger, als uns lieb war. Fröste bis unter minus 40 Grad Celsius waren die Strahlendosimetrie, ein Gebiet, auf dem er schon seit Jahren eine führende keine große Seltenheit. Ich werde nie eine Fahrt in einem kaum abgedichteten Rolle spielte. Bei Born war es die Radiochemie. Während er jedoch in Jeep von Swerdlowsk nach Sungul bei minus 42 Grad und starkem Wind ver- Deutschland nur mit Radionukliden sehr geringerer Aktivität arbeitete, hatte gessen. Infolge von Schneeverwehungen haben wir eine ganze Nacht hindurch er es nun mit Präparaten zu tun, die um viele Größenordungen höhere Aktivi- fahren müssen und waren trotz wärmster Kleidung dem Erfrieren nahe. Erst täten hatten. Außerdem kamen noch die zahlreichen Radionuklide hinzu, die als die Oberkante der aufgehenden Sonne sichtbar wurde, n9ch keine Wärme als Spaltprodukte beim Betrieb des unweit von Sungul gelegenen Kernreaktors spendend aber Rettung verheißend, wurde unS etwas wärmer! Ich wunderte anfielen. Ein weiterer Mitarbeiter, A. Katsch, widmete sich insbesondere dem ~mich über diesen rein psychologisch bedingten Effekt. - Der lange Winter Problem der Austreibung inkorporierter Radionuklide aus dem Organismus

- 58- - 59- durch Einführung \'on Komplexbildnern und anderen Substa.nzen. - Insgesamt meine Befürchtung, daß seine Niederschriften höchstwahrscheinlich irgend- war es für uns Deutsche von gröBtem Vorteil, daß wir in diesen Nachkriegs- wann von einem auf Geheimhaltung dressierten Büromenschen aus de~ Tre- jahren nicht unseren Arbeitsgebieten entfren:tdetwurden, sondern nach unserer sor herausgeholt, numeriert, verschnürt, versiegelt und so "sicher" abgelegt Rückkehr nach Deutschland gleich wieder. voll in diese Gebiete einsteigen werden, daß ein fachkundiger Leser sie nie zu lesen bekommt.) Ich, der ich konnten. durch mein vorheriges Leben gelernt habe, wie man "Gott dient und sich vom Teufel bezahlen läßt", konnte Zarapkins Einstellung zwar verstehen, aber Timofejew- Ressowsky konnte sich damals nicht auf seinem eigentlichen nicht teilen. Manchmal ist es doch besser, "dem Kaiser zu geben, was des Gebiet, nämlich dem der Genetik betätigen, und zwar wegen der leidigen Kaisers ist". Ich verließ nach dem Gespräch sein Zimmer mit einem Gefühl, Lys~nko-Affaire, auf die ich weiter unten (in Kapitell?) kurz eingehen wer- das eine Mischung zwischen Bewunderung und Bedauern war. - Nach unserer de und die allen ernsthaften russischen Genetikern die Arbeit auf ihrem Gebiet Abreise aus Sungul wurde Zarapkin irgendwohin nach Mittelasien verfrachtet, unmöglich machte. So wandte sich Timofejew-Ressowsky in Sungul der Un- wo er bald danach starb. tersuchung des Einflusses radioaktiver Bestrahlung auf das Wachstum von Nutzpflanzen zu. Erst viel später, nach Lyssenkos Sturz, konnte er an einem Was mich selbst betrifft, so konnte ich neben meiner Tätigkeit als wissen- anderem Ort zur Genetik zurückkehren. schaftlicher Institutsleiter auch noch über Themen arbeiten, die nur ganz am Rande zum Institutc;programm gehörten, aber mich persönlich interessierten. Im Gegensatz zu Timofejew-Ressowsky weigerte sich sein langjähriger Da die Bibliothek des Instituts recht gut mit den laufend erscheinenden wis- Mitarbeiter Zarapkin hartnäckig, sich einer Aufgabe zu widmen, die in das senschaftlichen Zeitschriften - auch mit ausländischen - ausgestattet war, Arbeitsprogramm des Instituts hineinpaßte. Er schloß sich ab und beschäftigte konnte ich dabei mehr oder weniger zufriedenstellend verfolgen, was in der sich ausschließlich mit einigen theoretischen Fragen der Genetik. Er wurde Welt auf den betreffenden Gebieten geschah. Aber was völlig fehlte, war der deswegen nicht irgendwie gemaßregelt, aber er ging durch seine Haltung der persönliche Kontakt mit den entsprechenden Fachkollegen. Selbst die sowjeti- Möglichkeit verlustig, daß seine Sträflingszeit als Belohnung für geleistete schen Fachkollegen habe ich erst kennengelernt, als ich schon wieder in "nützliche" Arbeit verkürzt wurde. Ich versuchte Zarapkin in einem längeren Deutschland war und mich mit ihnen auf internationalen Tagungen treffen Gespräch davon zu überzeugen, daß er wenigstens am Rande irgendeine "nütz- konnte. - In der Anfangszeit unseres Aufenthalts in der Sowjetunion hat der liche" Arbeit übernehmen sollte, weil eine Verkürzung der Haftzeit sein damalige (inzwischen verstorbene) Präsident der Akademie der UdSSR, S.I. Schicksal und das seiner Familie doch erleichtern könne. Ich bot ihm alle Un- Wawilow, ein Kollege auf dem Lumineszenz-Gebiet, der auch ein Vorwort zur terstützung und Erleichterung für einen solchen Entschluß an. Er bedankte russischen Übersetzung meines Lumineszenz-Buches geschrieben hatte, ver- sich für die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft, lehnte es aber entschieden ab, sucht, Kontakt zu mir aufzunehmen und mich zu einem Vortrag aufzufordern, eine pragmatischere Haltung einzunehmen. Er meinte, irgendjemand würde doch selbst diesem hochgestellten Mann wurde der Kontakt zu mir - aus Ge- irgendwann seine sich auf Genetik beziehenden Niederschriften aus dem Tre- heimhaltungsgründen - verwehrt (vergleiche Kapitell4). sorschrank ausgraben und zu würdigen wissen, und nur das sei ihm wichtig. (Um ihm ni~ht den letzten Rest des Lebensmutes zu nehmen, verschwieg ich Die von mir betonte angenehme menschliche Atmosphäre in Sungul war

- 60- - 61 - nicht zuletzt auch dem administrativen Leiter des dortigen "Objekts" zu ver- eignis verschwiegen, aber zahleiche Zeugenaussagen lassen mit Sicherheit dar- danken. Es war ein NKWD-Oberst namens Uralez, ein warmherziger und auf schließen, daß es wirklich stattgefunden hat. Der jetzt im Weste~ lebende kluger Mensch. Die meisten unfreiwilligen Insassen seines Objekts haben nie Wissenschaftler Zh. Medwedjew hat. alles verfügbare Material über dieses Er- erfahren, welche für ihn selbst oft riskanten Anstrengungen er machte, um die- eignis gesammelt, kritisch gesichtet und in dem im Literaturverzeichnis ge- sen Menschen das Leben zu erleichtern. Ich habe es mehrfach erkennen kön- nannten Buch veröffentlicht Auf Grund persönlicher Kenntnis einiger Tat- nen, weil manche seiner Maßnahmen in meinen Kompetenzbereich übergriffen sachen kann ich bestätigen, daß sein Bericht voll vertrauenswürdig ist. - Wa~ und ich Hilfestellung leisten mußte. Frei von jeder ideologischen Sturheit han- war geschehen? Offenbar handelte es sich um ein Ereignis, das nicht etwa delte er pragmatisch und elastisch. Er war kein slawisch-russischer Typ, son- durch einen durchgehenden Reaktor verursacht wurde, sondern ein weniger ..~ern ein Mensch mit tatarischem oder eher noch kaukasischem Einschlag. schlimmes Unglück, nämlich eine Explosion oder Verpuffung in einer Atom- Äußerlich ähnelte er sehr dem berühmten russischen Forschungsreisenden müll-Deponie, bei der radioaktives Material in die Luft geschleudert wurde. Prschewalsky. Neben seinem Organisationstalent besaß er noch eine Gabe, die Es war aber ein ernster Unglücksfall, der Menschenopfer forderte, wahrschein- es in Rußland selten gibt. Den meisten echten Russen geht von jeher jede lich auch unter Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben. Da das Fähigkeit und jedes Interesse für die Gestaltung ihrer natürlichen Umgebung Ergebnis der Untersuchung des Vorfalls durch sowjetische Wissenschaftler lei- ab; sie lassen sehr oft ihre Gärten, ihre Friedhöfe und die Umgebung ihrer der nicht bekannt wurde, sind wir auf Vermutungen über die Ursache der Ex- Häuser verkommen. In der Zeit der forcierten sowjetischen Industrialisierung plosion angewiesen. Angesichts der Einmaligkeit der Kyschtym - Katastrophe ist das noch viel schlimmer geworden. Uralez dagegen hat keine Mühe ge- ist man geneigt, ihre Ursache in irgendwelchen speziellen, lokalen geographi- scheut, um die für die Institut~ngehörigen erbaute Siedlung organisch in die schen, geologischen oder klimatischen Bedingungen zu suchen. Vielleicht hat schöne natürliche Umgebung einzufügen. Er kämpfte um jeden Baum, den die auch die von mir bereits betonte Hektik beim anfänglichen Aufbau sowjeti- Bauleute kurzerhand herausreißen wollten. Wenn ich den Obersten Uralez in scher Kerntechnik eine wesentliche Rolle gespielt. Da eine offene fachliche meine Liste der "guten russischen Menschen" einfüge, so tue ich das also nicht Analyse und Vorausschau der Gefahren der Kernenergie für alle Nationen nur, weil er gewisse typisch russische Eigenschaften hat, sondern auch, weil er gleichermaßen überlebenswichtig ist, appelliere ich an ~ie Sowjetbehörden, gewisse typisch russische Eigenschaften nicht hat. möglichst offen und detailliert die Ursache des Vorfalls in Fachkreisen be- kanntzumachen. Vielleicht trägt die derzeitige "Glassnostj" auch dazu Gutes Zum Abschluß dieses Kapitels muß ich ein sehr betrübliches Ereignis er- bei. wähnen, das zwar erst mehrere Jahre nach unserem Aufenthalt im Ural statt- fand, aber genau das Gebiet betraf, in dem wir gewohnt haben. Es handelt sich um die "Kyschtym-Katastrophe", eine Explosion, die sich 1957oder 1958 ereignete und durch die ein beträchtliches Gebiet radioaktiv verseucht wurde. Kyschtym ist die unweit von Sungul gelegene Station der Eisenbahn Tschel- jebinsk -Swerdlowsk. Nicht weit davon befindet sich auch das erste sowjetische ~Reaktorgelände sowie das Städtchen Kasli. Die Sowjetbehörden haben das Er-

- 62- - 63 - f'

Bild rechts oben: Die Villa in Agudseri bei Suchumi an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres, die der Autor von 1952 bis 1955 während seines "Quarantäneaufenthalts" bewohnte (Zeichnung des Autors). Bis 1952 wurde sie von Professor Gustav Hertz bewohnt. (Vgl. S. 73 im Text).

Bild rechts unten: Ehepaar Riehl mit jüngster Tochter bei einem Auto- Ausflug im Kaukasus. (Vgl. S. 75 im Text).

-64- 9. ENDKAMPF UM DIE HEIMKEHR

Ende 1951 wurde unsere" Freiheit" wieder einmal um ein weiteres Stück beschnitten. Wir durften von nun an nur noch mit nächsten Verwandten in Deutschland korrespondieren. Ich sagte mir, daß dies ein guter Anlaß sei, den bedingungslosen Kampf um die Heimkehr zu beginnen.

Ich schrieb zwei Briefe an den Atomminister Sawenjagin, von denen ich einen sofort abschickte, den anderen aber noch nicht. In dem ersten Brief schrieb ich, daß ich kaum Verwandte in Deutschland habe und deswegen bitte, auch mit einigen nicht verwandten Personen korrespondieren zu dürfen, ins- besondere mit einer alten Dame, die das Grab meines Sohnes pflegte.

Ich wußte aus Erfahrung, daß dieser Brief höchstwahrscheinlich unbe- antwortet bleiben würde. Deswegen lautete der zweite, noch nicht abgeschickte Brief etwa wie folgt: "Da ich auf meinen Brief vom soundsovielten und auf die darin ausgesprochene bescheidene Bitte keine Antwort erhielt, so schließe ich daraus, daß Sie an uns ausländischen Spezialisten kein Interesse mehr haben. Daher erkläre ich hiermit, daß ich ab 1. Juli 1952 nicht mehr bereit bin, für die Sowjetunion zu arbeiten."

Dieser "Kündigungsbrief' war in seiner Formulierung genau durchdacht. Um diese Zeit wußte ich schon, daß man in der Sowjetunion nicht im Namen einer Gruppe die Arbeit verweigern darf. Man wurde dann als Rädelsführer betrachtet und mußte mit einer Verhaftung rechnen. Eine Arbeitsverweigerung für die eigene Person war weniger gefährlich. Aber wenn nicht einmal ich zum Verbleib in der Sowjetunion bereit war, trotz Herkunft und Sprachkenntnis,

- 67- trotz aller Auszeichnungen und Zuwendungen, wie klar war es dann, daß mein verdächtig an. Man hat mir zum Wohnen nicht wie sonst die in Kapitel 2 er- Kampf um Entlassung erst recht für alle anderen Deutschen galt. In dieser wähnte "Datl\cha von Jagoda" (Osjora) zugewiesen, in der ich sonst andere Weise wurde die Angelegenheit sofort auch von den Russen aufgefaßt und wei- Deutl\che getroffen hätte, sondern ein über den Winter leerstehendes Sanatori- terbehandelt. um am Rande von Moskau. Von Jagodas Datscha hieß es, sie werde gerade renoviert, was natürlich gelogen war. Unterwegs zum Sanatorium ließ ich mich Erwartungsgemäß blieb der erste Brief ohne Antwort. Nach einer Warte- an einem großen Tabakladen vorbeifahren und kaufte mir einen zeit von etwa einem Monat schick~e ich den zweiten Brief los. Vorher infor- Zigarren -Vorrat für ein halbes Jahr. (Von allen Einwohnern der Sowjetunion mierte ich die deutschen Mitarbeiter über mein Vorgehen und stellte ihnen an- war mir die Chefverkäuferin dieses Ladens am meisten zugetan, denn ich heim, gewünschtenfalls sich von mir zu distanzieren. Keiner tat dies. - Alle sorgte mit gelegentlichen Rieseneinkäufen von Zigarren für die Erfüllung und ;;.Briefe wurden nicht etwa mit gewöhnlicher Post befördert, sondern mußten im sogar Übererfüllung ihres Verkaufssolls.) .Institutsbüro abgeliefert werden. Mein Brief wurde nicht angehalten, sondern ordnungsgemäß an Sawenjagin weitergeleitet. Nach einiger Zeit sagte mir Im riesigen Gebäude des Sanatoriums wohnten außer mir nur mein Beglei- Uralez, daß ich mich nicht beunruhigen soll; Sawenjagin sei zur Zeit sehr be- ter, eine Köchin und ein Pförtner. Mit dem Begleiter durfte ich im Park des schäftigt, aber man würde mich nach einiger Zeit nach Moskau zur Aus- Sanatoriums spazierengehen. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß etwas ge- sprache bestellen. schah. Ich glaubte schon, daß man mich schmoren lassen wolle. Doch eines Tages hieß es, daß für den Abend des nächsten Tages eine Audienz bei Sawen- Anfang 1952 wurde ich nach Moskau' gerufen. - Typisch für damalige jagin festgesetzt sei. Den ganzen Tag vor der Audienz habe ich nicht geraucht, sowjetische Verhältnisse war es, daß kein Angehöriger des Sunguler Objektl\ um mich in eine genügend aggressive Stimmung für die entl\cheidende Ver- aus fr~ien Stücken nach Moskau fahren durfte, selbst der Objektchef Uralez handlung zu versetzen. Der Verlauf der Verhandlung fiel entsprechend aus. nicht. Er mußte nach Moskau beföhlen werden. Uralez erzählte mir, daß er Kaum betrat ich Sawenjagins Zimmer, als er mich mit den Worten anfuhr: einmal seinen privaten Urlaubsaufenthalt in Moskau dazu benutzt hat, um im "Sie schreiben mir schöne Briefe!" Ich antwortete wütend: "Und Sie haben ja Ministerium in einer rein dienstlichen Angelegenheit vorzusprechen . . schön liebenswürdig auf meinen ersten Brief reagiert!" Es folgte ein langer, ungewöhnlich heftiger Wortwechsel. Ich befand mich in einer solchen Erre- Es war ungewiß, was mir in Moskau blühte. Mit einer Verhaftung rechne- gung, daß ich heute die Einzelheiten dieses Wortwechsels gar nicht mehr re- te ich nicht, wohl aber mit der Möglichkeit, daß man mich irgendwo" schm{}- konstruieren kann. Nur an eine Äußerung Sawenjagins erinnere ich mich ge- ren" lassen wird, bis ich weich werde. Deswegen hob ich vor der Abreise,rso nau, weil sie mich erschreckte und meine Wut noch steigerte. Sawenjagin sagte viel Bargeld von der Sparkasse ab, daß es meiner Familie für zwei Jahre zum nämlich: "Im übrigen finde ich Ihr Verhalten um so unverständlicher, als Sie Leben reichen mußte. Ich sagte meiner Frau, daß ich zwei Jahre lang hart blei- ja seinerzeit die Frage nach der Annahme der sowjetischen Staatsbürgerschaft ben würde. angeschnitten haben." Ich verneinte heftig diese Behauptung, aber Sawenjagin sagte: "Doch, ich war selbst Zeuge davon." (Erst viel später fiel mir ein, daß Nach meiner Ankunft in Moskau ließ sich die Entwicklung der Dinge sehr ich beim ersten Empfang bei Beria eine beiläufige Bemerkung machte, die in

- 68 - - 69 - diesem Sinne hätte mißverstanden werden können.) In diesem Augenblick er, er würde die Angelegenheit mit Beria besprechen und mir zu gegebener wurde unser Gespräch durch einen Telefonanruf unterbrochen. Während Zeit Bescheid geben. Sawenjagin telefonierte, vergingen für mich spannungsvolle Minuten, denn of- fenbar sollte ich nun erst richtig unter Druck gesetzt werden. Aber nach Be- Wenige Monate später wurde ich wieder nach Moskau zu Sawenjagin ge- endigung des Telefongesprächs kam Sawenjagin nicht mehr auf das gefährliche rufen. Er eröffnete mir, wie nun die Unterbringung der am Atomprojekt betei- Thema zurück. Wir waren wohl beide etwas müde geworden, da..l:iGespräch ligten Deutschen während der Karenz-Zeit geplant wäre. Die Karenz-Dauer wurde ruhiger. Sawenjagin sagte, man würde mir volle Freiheit geben, wenn sollte zwei bis drei Jahre betragen. Die zwei Objekte bei Suchumi am Schwar- ich in der Sowjetunion bleibe, und ich würde die Art und den Ort meiner zen Meer sollten auf nicht geheime Arbeiten umgestellt werden und die Deut- Tätigkeit selbst wählen können. Da.lch bei .der ablehnenden Haltung blieb, schen aus allen Atomgruppen dort zum Absitzen der Quarantäne-Zeit konzen- sa.gt~er schließlich: ..Bleiben Sie noch einige Tage in Moskau, überlegen Sie triert werden. Nur die Herren Hertz und Thiessen wurden von dort abgezogen, sich alles noch einmal und kommen Sie dann wieder zu mir." um in der Nähe von Moskau noch eine Weile an geheimen Projekten zu arbei- ten. Nach wenigen Tagen wurde ich wieder zu Sawenjagin bestellt. Diesmal verzichtete ich auf die Zigarren nicht, denn ich hatte den Eindruck, den ent- Wenn ich hier von" allen am Atomprojekt beteiligten Deutschen" spreche, scheidenden Kampf schon hinter mich gebracht zu haben. ich war kaum in so schließe ich nicht diejenigen Deutschen ein, die sich nur vorübergehend in Sawenjagins Zimmer, als er sagte: "Ich sehe schon an Ihrem Gesicht, Sie ha- den verschiedenen ..Objekten" aufgehalten haben und dann wieder wegge- ben sich die Sache nicht and~rs überlegt." Es folgte ein langes, ruhiges Ge- bracht wurden, weil sie entweder keine Verwendung fanden oder eine Beteili- spräch. Ich versuchte nun, auf freundliche Art und Weise Sawenjagin klar- gung an der Arbeit verweigerten. Die meisten von ihnen waren ehemalige zumachen, warum wir weg wollten. Das war jedoch nicht leicht, ja beinahe Kriegsgefangene. Viele von ihnen glaubten, früher nach Deutschland zurück- unmöglich. Für die Sowjetmenschen war - zumindest damals - der vorrangige kehren zu können, wenn sie die Arbeit verweigerten. Leider sind sie nur wenig Wert der persönlichen Freiheit in einem liberalen Staatswesen nicht erfaßbar. früher als wir zurückgekehrt, mußten dafür aber unter recht menschenunwür- Ich habe mir daher eine primitivere, fast kindliche Begründung zurechtgelegt: digen Verhältnissen ihre Wartezeit absitzen. Ihr Schicksal kenne ich nur vom "Sie müssen doch verstehen, jeder Mensch möchte doch einmal nach Hause." Hörensagen. Aus dem am Schluß dieses Buches zitierten Buch von H. und E. Dieses Argument kam noch am besten bei Sawenjagin an. - Es war klar, daß Barwich kann man mehr darüber erfahren. wir als Geheimnisträger nicht sofort nach Deutschland zurückkehren durften. Das Gespräch wandte sich daher der Frage zu, was mit uns während der Zum Abschluß dieses Besuches bei Sawenjagin bat er mich, in den Stun- Karenz-Zeit ("Quarantäne") geschehen soll. Ich meinte, wir würden uns den, die bis zu meinem. Rückflug verbleiben, noch das mir geschenkte, in- notfalls mit einer ganz bescheidenen Lebensweise, sogar einem Leben in einer zwischen fertiggewordene Haus bei Moskau doch wenigstens anzusehen. Ich tat Baracke abfinden. Aber Sawenjagin widersprach und meinte, wir würden so es denn auch. "Nicht einmal das schöne Haus, das wir ihm schenkten, will er eine Lebensweise schlecht überstehen, und man müsse für uns angenehme von uns haben", sagte er zu den umstehenden Leuten mit einem Anflug von Lebensverhältnisse und eine sinnvolle Beschäftigung finden. Schließlich sagte Bitternis in der Stimme.

-70 - - 71 - 10. AN DER KAUKASISCHEN KÜSTE DES SCHWARZEN MEERES - HEIMKEHR (1952 - 1955)

Im Früherbst 1952 zogen wir in die Nähe von Suchumi am Schwarzen Meer. Es gab dort zwei Objekte, in denen seit 1945 deutsche Spezialisten wohnten und arbeiteten; Agudseri und Sinop. Bis zur Umstellung auf nicht geheime Arbeit war in Agudseri die Gruppe Hertz, in Sinop die Gruppe v. Ardenne untergebracht. Nach der Umstellung zog Hertz nach Moskau weg, seine Mitarbeiter blieben in Agudseri zwecks Absitzen der Karenz-Zeit. Die aus den anderen Objekten zusammengezogenen Deutschen wurden aus dem gleichen Grund teils in Agudseri, teils in Sinop untergebracht.

Ich bezog mit meiner Familie die Villa in Agudseri, die bis dahin Hertz bewohnt hat. Es war ein von der Frau des Professor Volmer geschmackvoll entworfenes, sehr gut in die subtropische Land'\chaft hineinpassendes Haus. Leider war die bauliche Ausführung miserabel. Unter den Kriegs - und Straf- gefangenen, die das Haus errichteten, müssen· wohl Vertreter aller möglichen Berufe dabeigewesen sein, sicher ab~r keine Bauarbeiter. Als' ich noch im Ural war, hat Sawenjagin mich telefonisch gefragt, ob ich einverstanden wäre, wenn Hertz das mir gehörende Haus bei Moskau beziehen würde. Ich sagte natürlich zu.

Die kaukasische Küste des Schwarzen Meeres ist ausgesprochen subtro- pisch, denn sie ist durch die kaukasischen Berge vor Nordwinden geschützt. Die Vegetation ist von sehenswerter subtropischer Pracht. In unserem Garten gediehen herrliche Mandarinen, Feigen und sonstiges Obst. Weintrauben gab es in einer solchen Fülle, daß wir nur einen kleinen Bruchteil ernten konnten.

-73 - I'

- Die ganze Küste ist seit jeher ein beliebtes Erholungsgebiet. Unser Institut mener Außenseiter schildern, vermittelt keine Kenntnis von der viel breiteren, war in einem früheren Sanatoriumsgebäude untergebracht. Dieses Sanatorium gesünderen und effektiveren Schicht tatkräftiger russischer und ausländischer ist (ebenso. wie zwei benachbarte Sanatorien in Gulripschi) Anfang des Jahr- Unternehmer, aufgeklärter Gutsbesitzer, nichtproletarisierter Bauern, aktiver hunderts von einem wohltätigen Millionär namens N.N. Smetzky gegründet Kaufleute und auch zahlreicher fähiger hoher Beamter, wie etwa der Minister worden, der sich zum Ziel gesetzt hat, Heilstätten für minderbemittelte Men- Stolypin und Witte. Wenn es die Kräfte nicht gegeben hätte, sondern nur das schen, insbesondere für Lungenkranke im Anfangsstadium der Krankheit, zur städtische und ländliche Proletariat sowie die teetrinkenden intellektuellen Verfügung zu stellen. Die von ihm gegründeten und subventionierten Sanato- Weltverbesserer, woher wäre dann das riesige russische Eisenbahnnetz gekom- rien waren äußerst komfortabel unddabei sehr billig. Das Sanatoriumsgebäude men, woher der einstmals blühende Handel, woher die ständig und damals .;ist von einem riesigen Park mit exotischen Bäumen und Sträuchern umgeben. noch organisch wachsende Industrie, woher der ehemalige Export überschüssi- "~Smetzkyhat eine ganze Schiffsladung solcher Bäume aus Japan bringen las- gen Getreides, woher die Pflege der Künste und Wissenschaften, woher die sen. Die heutigen sowjetischen Volksbeglücker kommen da nicht mit. Prachtbauten, Museen und Theater, die heute noch alles überstrahlen, was das Land zu bieten hat? Fast alles das ist innerhalb von nur 200 Jahren seit der Diese Informationen über die Geschichte von Agudseri und seiner Umge- Zeit Peter des.Großen geschaffen worden. Ohne Lenin.

bung erhielt ich teils aus Erzählungen älterer Bewohner, teils aus einem heru vorragenden, sehr ausführlichen russischen Reiseführer für Kaukasien aus dem Kehren wir nach diesem Exkurs in die russische Geschichte zu dem am Jahre 1911. Der Führer ist mir erst in DeulC\chlandin die Hände geraten. Schwarzen Meer sitzenden Haufen deutscher Spezialisten zurück. Ein straffes Gegen ihn sind die heutigen politisch gefärbten sowjetischen Reiseführer lä- Programm für unsere Tätigkeit gab es kaum. Zu dem Bereich, um den ich cherlich. In diesen Führern ist fast alles Geschichtliche weggefiltert, waC\vor mich zu kümmern hatte, gehörten Arbeiten über Festkörperphysik sowie alle der Sowjetzeit war oder die sowjetische Ideologie stört. So schrumpft die Ge- Arbeiten, die etwas mit Chemie zu tun hatten. Die Herren der Ardenne'schen schichte Rußlands für die heutigen Leser sowjetischer Bücher immer mehr zu- und früheren Hertz'schen Gruppe beschäftigten sich überwiegend mit massen- sammen. Selbst von der sowjetischen Epoche erfährt er kaum noch das We- spektroskopischen und elektronischen Problemen. Es herrschte jetzt eine recht sentliche: Trotzky wird verschwiegen, Beria auch, und Stalin ist auf dem be- angenehme Atmosphäre, sowohl im dienstlichen als auch im gesellschaftlichen sten Wege dazu. (Die besten Überlebenschancen . im sowjetischen Walhall Bereich. Dazu kam noch erleichternd, daß viele von uns von der Möglichkeit haben noch diejenigen, die beizeiten starben oder sich umbringen ließen, wie Gebrauch machten, Autoreisen in die verschiedenen hochinteressanten Gebiete z.B. Lenin oder Kirow.) Erst recht werden Namen hervorragender Unterneh- Kaukasiens zu machen, wenn auch stets mit einem sowjetischen Begleiter. - mer, die Pioniertaten vollbracht hatten, verschwiegen, so· etwa die historisch Einige in politischer Hinsicht interessante Vorkoinmnisse, die in diese Zeit fal- ungemein wichtige Dynastie der Stroganows, die den Zugang zum Ural schu- len, sind in anderen Kapiteln beschrieben. fen und die Eroberung Sibiriens einleiteten. Selbst in Büchern mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit wird ihr Wirken kaum erwähnt. - Die auch in der Nach etwa zweieinhalbjähriger Quarantäne kam endlich der Tag der Ab- Sowjetunion sehr beliebte Lektüre klaC\sischerrussischer Romane, die entweder reise nach Deutschland. Die von Sawenjagin versprochene Frist von zwei bis ~ das Seelenleben reicher Nichtstuer oder das Elend mehr oder weniger verkom- drei Jahren wurde also eingehalten. Vor der Abfahrt rief mich Sawenjagin

-74 - -75 - noch einmal an und fragte, was aus meinem Haus werden soll. Ich schlug vor, Da dieses Buch nur die in der Sowjetunion verbrachte Zeit behandelt, sol- darin ein Kinderheim oder eine Unterkunft für ausländische Wissenschaftler len hier die anschließend in der Ostzone verbrachten Wochen nicht geschildert einzurichten. Er sagte aber, daß das juristisch nicht gehe, weil das Haus mein werden, obschon manche Erlebnisse, z.B. ein Zusammentreffen mit Ulbricht, Privateigentum darstelle. Wir einigten uns darauf, daß das Haus verkauft wer- schilderungswert wären. Aber ich möchte als Kenner sowjetischer Verhältnisse den soll. Vor Verlassen der Sowjettinion unterschrieb ich eine Vollmacht für kurz zu der Frage Stellung nehmen, ob die Lage Ostdeutschlands im sowjeti- den Verkauf. schen Machtbereich nicht hätte weniger unerfreulich gestaltet werden können. Dabei setzte. ich die Zugehörigkeit Ostdeutschlands zu diesem Machtbereich Die Rückfahrt mit der Eisenbahn durch ganz Rußland stellte ich mir als bittere, aber zunächst unabwendbare Notwendigkeit voraus. Nach dem ~ußerst idyllisch vor: Unbeschwert wollte ich aus dem Waggonfenster schauen schrecklichen Krieg kann und wird die Sowjetunion nicht auf ein politisch- ~d von meinem Geburtsland Abschied nehmen. Das Idyll kam jedoch nicht militärisches Glacis gegenüber dem Westen verzichten. Das Kriegstrauma zustande. Schon die Abfahrt gestaltete sich für mich insofern nicht idyllisch, wirkt ja unterschwellig selbst bei unseren westlichen Freunden nach, so daß als ich völlig betrunken war, weil wir bei einer netten georgischen Familie Ab- dort mancher den ihn schützenden deutschen Bomben noch weniger zugetan schied feiern mußten, bei dem ein riesiges mit Wein gefülltes Horn mehrmals ist als den ihn bedrohenden sowjetischen. (De gustibus non est disputandum.) um den Tisch kreiste. Noch schlimmer war aber, daß ich scheußliche Zahn- Aber mich bewegt hier die besondere Frage, ob die so abstoßende, kriecheri- schmerzen bekam. Beim Umsteigen in Moskau konnte ich die mehrstÜlldige sche Servilität der DDR-Bonzen gegenüber der Sowjetunion wirklich unbe- Reisepause nicht dazu benutzen, um eine unbeschwerte Fahrt durch die Stadt, dingt notwendig ist. Ich fühle mich gewissermaßen zuständig für diese Frage, die wir so gut kannten, zu machen, sondern mußte mich zum Zahnarzt fahren denn nach meinen Erfahrungen reagieren die Russen auf plumpe Anbiederung lassen, der mich von den Schmerzen befreite. mit größter Zurückhaltung und kaum verhohlener Verachtung. Nicht nur ich, sondern auch viele andere Deutsche sind dort mit einer würdigeren Haltung Auf der Grenzstation Brest-Litowsk sagte,mir der uns begleitende Oberst besser gefahren als mit Unterwürfigkeit. Woher und wozu also die zur Schau Kusnezow zum Abschied: "Für Sie bleibt das Tor zur Sowjetunion immer of- getragene DDR,servilität? Die Russen selbst kann sie nicht zu Tränen rühren, fen." Es schmerzte mich und schmerzt mich noch heute, daß dieses Tor, sofern denn die Russen haben genug Instinkt, um zwischen einer wahren und einer offen, viel öfter zum Ausreisen als zum Einreisen einlädt Muß das sein? Muß gespielten oder erzwungenen Freundschaftsbekundung zu unterscheiden. Ist es das immer so bleiben? der deutsche Hang zum Perfektionismus, der die ostdeutschen Verantwortli- chen dazu treibt, sowjetrussischer als die Sowjetrussen zu sein? Oder gefallen Am 4. April 1955 rollte unser Zug in Frankfurt an der Oder ein. Der sich die Russen wirklich darin, die ihnen unterstellten Deutschen zu dieser Bahnsteig war wie leergefegt und von Polizisten abgesperrt So muß es aus- Haltung zu zwingen? Wenn ja, dann würde ich mich genötigt sehen, das Kapi- sehen, wenn ein Zug mit Aussätzigen eingefahren wird. Die Modalitäten der tel vom guten russischen Menschen nachträglich zu streichen. Empfangsfeierlichkeiten waren wohl noch nicht festgelegt, und so blies uns erst einmal der kalte DDR - Wind entgegen. Unter Verzicht auf verlockende Angebote und unter Aufgabe beträchtli- cher materieller Werte, darunter zweier schöner Häuser, zog ich Anfang Juni

-76 - -77 - 1955mit meiner Familie nach dem Westen. Nach 22 Jahren konnte man end- lich wieder das sagen,.was man denkt, und dahin gehen, wohin man will!

Zum Abschluß des biographischen Teils dieses Buches möchte ich noch einen psychologischell Effekt erwähnen, den vielleicht auch andere Heimkehrer aus dem Osten an sich beobachteten. Als ich im Westen· in ein ruhiges Fahr- wasser als Hochschulprofessor kam, hatte ich trotz freundlichster Aufnahme seitens aller Kollegen eine Zeitlang das Gefühl, als ob mir etwas fehlte. Eines Tages wurde mir klar, was es war: Mir fehlte die Gefahr, die Bedrohung, der Kampf. In dem Augenblick, als mir. dies zum Bewußtsein kam, verschwand das seltsame C?efühl schlagartig. Meiner Verwandlung in einen saturierten I. deutschen BundesbÜfger stand nichts .mehr im Wege.

Bild rechts oben: Ausflüge ins kaukasische Hochgebirge waren für die bei Suchumi in "Quarantäne" sitzenden Deutschen keine Seltenheit. Hier d~r Autor mit Frau und jüngster Tochter beim Picknick. (Vgl.·S. 75 im Text).

Bild rechts unten: Der Autor versucht sich als Reiter in 3000·m Höhe im . ~Kasbeck-Massiv des Zentral-Kaukasus.

-78 - I"

11. GEHEIMHALTUNG - TffiRISrn ERNST BETRIEBEN UND MANCHMAL DOCH ZUM LACHEN

Die überaus scharfen Maßnahmen zur Sicherung der Geheimhaltung wirk- ten sich höchst unangenehm auf unser Leben aus. Die deutschen "Spezialisten" und ihre Familien durften das mit Stacheldraht umzäunte Gelände des "Ob- jekts" nur mit besonderen sowjetischen Begleitern verlassen. Meine Gruppe hatte es in dieser Beziehung etwas besser, weil unsere Häuser mitten im Ort Elektrostal standen, so daß wir uns im Ort ohne Begleiter frei bewegen konn- ten. Allerdings stellte sich gegen Ende unseres dortigen Aufenthall~ heraus, daß dieses Privileg eigentlich illegal war. Zu dieser Zeit eröffnete man mir, daß um das kleine Gelände von etwa 200 mal 100 Metern, auf dem unsere Häuser standen, ein Stacheldrahtzaun gezogen werden soll und wir dieses winzige Ge- lände nur noch mit Begleiter würden verlassen können. Ich sollte mir die Sa- che überlegen und eventuell eigene Vorschläge machen. Es war den Russen am Ort wohl klar, daß so eine Regelung einer ungeheuren Härte gleichkäme. Es herrschte ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen mir und den Russen, die Sache bis zur Abreise aus Elektrostal hinauszuzögern. Bald darauf bekam ich - infolge Vertrauensseligkeit einer sowjetischen Sekretärin - einen alten aber noch gültigen, von Beria unterschriebenen BefeW zu Gesicht, der die Behandlung der deutschen Spezialisten betraf und den ich nicht hätte sehen dürfen. Der Befehl war erschreckend. Es hieß darin, daß wir tatsäcWich auf einem gegenüber der übrigen Ortschaft abgeschlossenem Gelände hausen sollten, wobei auf dem Gelände auch ein Lebensmittelgeschäft und ein Kino für uns errichtet werden sollten. In dem Befehl hieß es ferner, daß unsere Be- gleiter sich niemals mehr als um anderthalb Meter (!) v~n der zu begleitenden Person entfernen durften. Der idiotische BefeW ist nie in dieser Form realisiert

- 81 - I'

worden. Erst recht kurz vor unserer Abreise aus Elektrostal hatte jemand den nen waren übrigens überwiegend heimgekehrte sowjetische Kriegsgefangene. Befehl ausgegraben und die Sache aufgerührt. Durch Verzögerungstaktik Sie wurden bei Rückkehr in die Heimat nicht etwa mit Blumen und Volkstän- konnte die Realisierung des Befehls schließlich doch noch verhindert werden. zen empfangen, sondern wegen Feigheit vor dem Feinde für einige Jahre ein- gesperrt. - Nach Fertigstellung wurde der erwähnte kleine Betrieb besonders Die ewige.Beschattung lastete auf uns schwer. Ich entsinne mich, wie mich streng bewacht: Am Eingang standen zwei Wachsoldaten, in einer Entfernung einmal mein Begleiter in Swerdlowsk für etwa fünf Minuten aus den Augen von etwa zwei Metern hintereinander postiert. Zur Inbetriebnahme kam aus verloren hat. Es mag lächerlich klingen, aber ich genoß strahlend die wenigen Moskau der stellvertretende Atomminister W.S. Emeljanow, ein früherer Me- Minuten der "Freiheit". tallurgie-Professor, der nach 1955wegen seiner Sprachkenntnisse mehrfach im Westen die sowjetischen Atomenergie-Belange vertrat und den· ich dann noch '~ Nicht nur im persönlichen, sondern auch im dienstlichen Bereich waren zweimal bei den Atom - Konferenzen in Genf traf. Beim Hineingehen .in das die Geheimhaltungsvorschriften lächerlich und lästig. Jedes im Dienst be- Betriebsgebäude zeigte er seinen Universal-Passierschein vor. Der erste Soldat schriebene Blatt Papier galt als geheim, auch wenn nur die chemische Formel ließ ihn durch. Doch der zweite Soldat fand den· Passierschein unzureichend des Wassers oder ein Gedicht von Puschkin draufstand. - Als einmal eine und ließ ihn nicht durch. Darauf bekam auch der erste Soldat kalte Füße und neuerliche Verschärfung der Vorschriften kam, fuhr ich zum Atomminister ließ ihn nicht wieder heraus. Emeljanow war zwischen den beiden Soldaten auf Sawenjagin, um mich zu beschweren. "Abram Pawlowitsch", sagte ich "Ihre einer Fläche von etwa anderthalb Quadratmetern eingesperrt. Er wurde ab- Geheimnishüter drücken uns die Kehle zu." "Uns auch" war seine lakonische wechselnd rot und blaß vor Zorn. Die Schadenfreude meiner so lange durch Antwort. Damit war mir aller Wind aus den Segeln genommen, denn diese die Sicherheitsvorschriften gequälten Seele kannte keine Grenzen. Ich brach in Antwort entsprach der Wahrheit, und gegen den Willen der Vorschriftenma- schallendes Gelächter aus und steigerte Emeljanows Verlegenheit durch unver- cher im MGB konnte auch Sawenjagin nichts machen. hohlenen Spott. Ich gebe zu, daß Emeljanow, der für Sicherheit nicht zustän- dig war und mit dem ich gut stand, nicht ganz das richtige Objekt für meine Kindliche Freude empfand unsereiner, wenn eine Geheimhaltungsmaß- Rachegelüste war, aber ich hatte kein besseres. Man muß die Feste feiern, wie nahme nach hinten losging oder wenn es gelang, den Geheimnishütern ein sie fallen. - Es dauerte über eine halbe Stunde, bis Emeljanow freikam. Schnippchen zu schlagen. Leider kann ich nur zwei Beispiele für solche erhei- ternden Vorfälle anführen. Ein zweiter erheiternder Vorfall ereignete sich, als wir einmal mit unserem Chefingenieur Golowanow eine dringende Angelegenheit im Atomministerium Wir erhielten das erste in der Sowjetunion angereicherte Uran angeliefert, in Moskau erledigen wollten. Golowanow besaß einen schönen Dauer-Passier- und ein kleines Gebäude auf dem Fabrikgelände wurde zu dessen Weiterbe- schein fürs Ministerium, ich mußte aber jedesmal vom Eingang aus beim Mi- handlung ausgebaut. ...,.Es sei vorerst kurz geschildert, wie sich solche Bau- nister oder einem seiner Stellvertreter anrufen, worauf mir ein Passierschein bzw. Ausbauarbeiten abspielten. Zunächst wurde Üm das betreffende Grund- heruntergebracht wurde. Diesmal war aber kein stellvertretender Minister im stück ein doppelter Stacheldrahtzaun errichtet, damit die Bauarbeiter, die aus- Hause. Wir beschlossen, zu einem bekannten Hochstaplertrick zu greifen. Ich schließlich Strafgefangene waren, nicht weglaufen konnten. Diese Strafgefange- ging langsam am Wachsoldaten vorbei, wies mit dem Kopf auf den hinter mir

- 82- -83- gehenden Golowanow und sagte mit väterlich -sonorer Stimme: "Er gehört zu auf meine Tochter zu und meinte, ich sei doch als Stalinpreisträger sicher ein mir." Golowanow zeigte lässig seinen schönen Passierschein. Der Soldat mußte sehr guter Arzt und könnte ihrer erkrankten Mutter helfen. Sie fragte auch, glauben, daß ich ein besonders hohes Tier sei, welches gar nicht erst nötig hat, welcher Arzt ich sei. In ihrer Not sagte meine Tochter, ich sei Zahnarzt. So einen Passierschein vorzuzeigen, und ließ uns durch. Der zweite, etwa vier verwandelte ich mich also in einen Stalinpreis-gekrönten Zahnarzt. Unklar ist Meter weiter postierte Soldat, war von der Szene so beeindruckt, daß er uns mir bis heute geblieben, welche Verdienste um Sta~iIlSGebiß man aufweisen auch durchließ und sogar salutierte. Nach einigen Stunden enl~tand aber das müßte, um eines Stalinpreises würdig zu sein. Problem, aus dem Ministerium wieder herauszukommen. Dazu brauchte man den abgezeichneten Passierschein. Ein wiederholter Trick hätte kaum ge- Das zweite Beispiel für den Einfallsreichtum und die Geistesschärfe der klappt, um so mehr als die Wache durch eine neue abgelöst war. Inzwischen Geheimnishüter ist noch grotesker. Etwa ein halbes Jahr vor unserer Heim- ~ar ein stellvertretender Minister im Hause eingetroffen, und zwar ausgerech- kehr kamen die Sicherheil~beauftragten zu mir und sagten, die Deul~chen mö- net der für Sicherheit zuständige. Eine Flucht nach vorne vornehmend, erzähl- gen alle in der Sowjetunion erhaltenen Geburtsscheine und Schul-Reifezeugnis- te ich ihm strahlend und Beifall heischend, wie fein es mir gelungen ist, ohne se ihrer Kinder sowie sonstige Dokumente abliefern, aus denen hervorgeht, wo Passierschein ins Allerheiligste vorzudringen. Mit süß-saurer Miene unter- sie sich in der Sowjetunion aufgehalten haben. Sie würden die Dokumente mit schrieb er den Passierschein zum Verlassen des Hauses. - Dieser Mann, der, gefälschten Ortsangaben zurückerhalten, damit man im Westen die Lage der soweit mir erinnerlich Meschik hieß, war zur Zeit des Beria-Sturzes zum In- sowjetischen Geheimobjekte nicht erfährt (!). Die Dokumente wurden einge- nenminister der Ukrainischen SSR avanciert und wurde gleich nach Beria er- sammelt, und nach einiger Zeit kamen neue, staatlich gefälschte zurück. Alle schossen. Hieraus könnte man schließen, daß Beria die machtpolitisch wichti-· Kinder der deutschen Spezialisten sind danach in Moskau geboren und in gen Posten im Lande mit seinen Getreuen besetzt hatte, um einen Machtkampf Moskau zur Schule gegangen. Leider haben die Herren Fälscher es unterlassen, bestehen zu können. bei dieser Gelegenheit auch gleich die Noten in den Schulzeugnissen zu verbes- sern. Unter den Fälschern wird wohl kein" guter russischer Mensch" dabei- Nun möchte ich noch zwei besondere Leistungen der Herren Geheimnis- gewesen sein. hüter schildern, die schon ans Possenhafte grenzen.

Als wir in Sungul lebten, besuchte meine älteste Tochter die Schule in einem benachbarten Städtchen. Sie erhielt von den Überwachern genaue Vor- schriften über das, was sie den Mitschülerinnen von uns erzählen darf. Diese Vorschriften waren von vom herein lächerlich, denn die Leute im Städtchen waren durch ihre Verwandten und Bekannten, die in unserem Objekt zu tun hatten, bestens über uns informiert. Alle wußten das, nur die Geheimnishüter nicht. Auf die Frage, welchen Beruf ihr Vater habe, sollte meine Tochter zwecks Tarnung antworten, ich sei Arzt. Eines Tages kam eine Mitschülerin

...84- - 85 - · ;

12 PLANWlRTSCHAFf

Die vielen Nachteile und die wenigen mir bekannten Vorteile der Plan- wirtschaft sind zur Genüge von Sachverständigen diskutiert worden. Aus Man- gel an Kompetenz möchte ich mich eines Urteils darüber enthalten, ob und wieweit jemals ein sachlich bedingter, nicht ideologisch aufgepfropfter Trend zur Planwirtschaft möglich oder notwendig werden könnte.

Bei militärisch und politisch so wichtigen und eiligen Vorhaben wie dem Atombomben - Projekt sind Planung und Dirigismus unumgänglich, auch wenn ein solches Vorgehen auf Kosten der Bevölkerung geht. Man erinnere

sich an Hitlers Losung 11 Kanonen statt Butter". Aber selbst in Hitlers Macht- bereich und erst recht bei den westlichen Alliierten hat die ungehemmte priva- te Wirtschaft ungemein belebend und ausgleichend gewirkt In der Sowjet- union dagegen ist der Industrie-Sektor hundertprozentig ins Korsett der Plan- wirtschaft eingezwängt. Die üblen Auswirkungen auf die Konsum-Industrie sind zur Genüge bekannt Aber auch bei unserem bevorzugt geförderten Uran- Vorhaben wirkte sich die Schwerfälligkeit der Planwirtschaft immer wieder störend aus. Die zwei nachfolgend geschilderten Beispiele zeigen, welche Aus- wüchse das System mit sich bringen kann.

Gegen Ende 1945 hatten wir schon eine gewisse, bescheidene Menge brauchbares Uran-Metall fertiggestellt, und ich war im Glauben, daß es nun schnellstens abgeliefert wird. Dem war aber nicht so, und zwar aus folgenden Gründen: Für Erfüllung und Übererfüllung des Plansolls erhielten die am Pro- duktionsprozeß Beteiligten Prämien, die mit dem Grad der Übererfüllung steil anstiegen. Es war daher vorteilhafter, die vorhandene, unter dem Soll liegende

- 8'"' - I'

Metallmenge noch nicht zu melden bzw. auszuliefern, sondern sie zur Produk- beschwerlich: Sie ging zuerst zu unserem Ministerium, von dort nach Prüfung tion des nächsten Quartals zu schlagen, weil zu erwarten war, daß sich da- und Genehmigung zum Staatlichen Planungskomitee, von dort nach erneuter durch im nächsten Quartal eine Übererfüllung ergibt. Ich erfuhr, daß dieser Prüfung und Genehmigung zum Ministerium für chemische Industrie und von Trick in der sowjetischen Industrie weit verbreitet war. So wirkte sich also das dort erst zur chemischen Fabrik. Es ist kaum anzunehmen, daß die Sache je- so sinnvoll erscheinende Prämiensystem manchmal nicht beschleunigend, son- mals aufgeklärt wurde, denn niemand hatte Interesse daran, und irgend j(}- dern zunächst verzögernd auf die Auslieferung der Ware aus. Man sieht, wie mand mußte sich sogar vor der Aufklärung fürchten. Das Kaliumpermanganat schwierig es ist, vom grünen Tisch aus die Realitäten vorauszusehen. Das ist ruht vielleicht heute noch irgendwo auf dem riesigen Gelände unserer Fabrik. es, was letztlich einen Erfolg der Planwirtschaft so oft vereitelt. Aber der Angelegenheit läßt sich auch eine freundlichere Seite abgewinnen: Wenn zwei Kilo angefordert und drei Waggons angeliefert wurden, so ent- Ganz am Anfang unserer Tätigkeit in Elektrostal wurde mir eines Nach- spricht das etwa einer hunderttausendprozentigen Übererfüllung des Liefer- mittags gesagt, daß wir bis 9 Uhr des darauffolgenden Morgens eine komplette solls. So gesehen, hätte man hier einen Fall von erstaunlichem sozialistischem Liste aller benötigen Geräte und Chemikalien abliefern sollen, da sonst unsere Arbeitsethos. Anforderungen nicht mehr in den Staat~plan des kommenden Jahres aufg(}- nommen werden könnten. Wir besorgten uns noch vor Dienstschluß ausrei- chend Papier und Schreibutensilien für diesen Zweck. Die ganze Nacht hin- durch arbeitete die ganze deutsche Gruppe fieberhaft mit verteilten Rollen an der Herstellung des Wunschkatalogs, der eine Dicke von ein bis zwei Zentim(}- tern annahm. Es war eine Spitzenleistung deutscher Tüchtigkeit. Um Punkt 9 Uhr morgens lieferte ich stolz den Katalog ab. Später erwies es sich, daß unse- re Mühe völlig unnütz war. Wir wurden nach wie vor nur sehr unzureichend und sporadisch versorgt und mußten uns oft mit Improvisationen behelfen. Aber· einen Effekt erbrachte die Wunschliste doch, und sogar einen überra- schenden. Unter den Chemikalien haben wir auch etwa ein oder zwei Kilo Kaliumpermanganat für Laborzwecke angefordert. Zwei bis drei Jahre später kam ein Mitarbeiter der Beschaffungsabteilung zu mir und sagte, daß das sei- nerzeit angeforderte Kaliumpermanganat nun da sei. Ich freute mich und bat, es mir heraufzubringen. Darauf meinte der Mann, es sei nicht möglich. Ich fragte nach dem Hinderungsgrund. Er meinte, es sei zu viel zum Hertragen. Ich fragte, wieviel es denn sei. Die Antwort war: drei Waggons. - Es ist un- klar, wo und wie sich zwei Kilo Kaliumpermanganat in drei Waggons dessel- . ben verwandelt haben. Der Weg unserer Anforderung war nämlich lang und

- 88- - 89 - 13. EINIGES ÜBER Dm AUSBILDUNG SOWJETISCHER FACHKRÄF- TE FÜR DEN INDUSfRIE-AUFBAU

In diesem Kapitel werde ich mir Mühe geben, von jeder ironisierenden Überspitzung Abstand zu nehmen, denn hinsichtlich der Ausbildungsprobleme sitzen wir Bundesdeul'\che selbst im Glashaus. ':""Bei Schilderung meiner Er- fahrungen mit dem sowjetischen Ausbildungssystem beschränke ich mich auf die Hochschulabsolventen technisch -naturwissenschaftlicher Fachrichtungen, denn nur mit diesen hatte ich als "Verbraucher" unmittelbar zu tun. Es ver- steht sich, daß diese Schilderung nicht ohne Seitenblick auf unsere eigenen Probleme erfolgt.

Die Ausgangslage hinsichtlich fachlicher Ausbildung war in der Sowjet- union ganz anders als bei uns. Einer der wesentlichsten Unterschiede war der, daß in Deutschland die Industrie stetig und organisch gewachsen war und sich zum Teil aus handwerklichen Betrieben entwickelte, während in der Sowjet- union der staatlich intensivierte Industrieautbau fast plötzlich einsetzte und die Werke" aus dem Boden gestampft" wurden. In Deul'\chland enl'\tand zunächst einmal ein Stamm von hochqualifizierten, aber nicht akademisch gebildeten Fachkräften, der von größter Bedeutung für die Industrie war. Der deutsche Meister spielte in unserer metallurgischen, metallverarbeitenden, chemischen und optischen Industrie eine tragende Rolle. Sie mag heute geringer geworden sein, als man es bei Diskussionen in der Öffentlichkeit zu hören bekommt. Komplementär zu diesen den Betrieben entstammenden Kräften wurde die In- dustrie in angemessenem Verhältnis mit Hochschulabsolventen versorgt. (Die- se sind heute so stark in den Mittelpunkt der Disku'ision gerückt, daß man sich für sie fürchten muß.) Anders in der Sowjetunion. Als dort die staatlich ver-

- 91 - fügte Industrialisierung begann, reichte bald der Nachwuchs aus den Betrieben Wir wurden sehr oft vor völlig neue Probleme gestellt, auf die wir keineswegs nicht mehr aus. Man versuchte daher, nicht ohne Erfolg, .den Bedarf durch spezialisiert waren. Dank der soliden Kenntnis der Grundlagen fande:: wir uns stärkere Versorgung mit Hochschulabsolventen zu decken. Wenn man sich jedesmal erstaunlich schnell zurecht. eine Art Bildungsskala vor Augen hält, so kann man sagen, daß die Bedarfs- lücken "von oben her" aufgefüllt wurden. Dieses Verfahren wurde erstens Bei der Bewertung solcher Vergleiche muß man aber sehr vorsichtig sein. durch die geistige Haltung des sowjetischen Systems begünstigt, in dem Lenins Aus dem eben gegebenen Vergleich darf man ja nicht den simplen Schluß zie- Losung" Lernen! Lernen! Lernen!" immer Gültigkeit hatte. Zweitens aber wur- hen, die deutschen Hochschulen seien eben besser als die sowjetischen. Der de es durch das noch aus der Zarenzeit übernommene russische Hochschul- Vergleich betrifft nämlich zwei im Grunde genommen nicht vergleichbare Din-

Sy'stem erleichtert. Neben Universitäten und einigen wenigen Technischen ge: auf der sowjetischen Seite die überwiegend aus 11 Fachhochschulen" kom- Hochschulen gab es nämlich in Rußland zaWreiche technische Spezialhoch- menden Absolventen, auf der deutschen Seite die Absolventen von Universitä- schulen, die etwa dem entsprechen, was wir heute unter "Fachhochschulen" ten und Technischen Hochschulen. Selbstverständlich entspricht das Ausbil- verstehen. Es gab z.B. eine Hochschule für Eisenbahnwesen, eine für Mal\chi- dungsniveau der meisten russischen Universitäten durchaus dem der unsrigen. nenbau, eine für Elektrotechnik usw.. Ihr Niveau war manchmal recht hoch, Von den dortigen Technischen Hochschulen ("Polytechnischen Instituten") sei aber sie waren eben doch von vornherein mehr auf die Ausbildung von Spe- insbesondere dal\ Leningrader Polytechnische Institut hervorgehoben, welches zialkräften als auf eine mehr universelle Bildung ausgerichtet. in Lehre und Forschung ein sehr hohes, international anerkanntes Niveau be- sitzt. - Wenn ich vorhin hervorhob, wie gut sich die deutsche Hochschulaus- Dementl\prechend ging die Versorgung mit Fachkräften in der für mich bildung auf die Arbeit der Deutschen in der Sowjetunion ausgewirkt hatte, so überschaubaren Zeit in folgender Weise vor sich. Der Industrie wurde ständig sollte damit nur die Wirksamkeit einer guten Kenntnis der wissenschaftlichen eine überaus große Zahl von Hochschulabsolventen zugeführt. Je nach Wissen Grundlagen an einem geeigneten Beispiel demonstriert werden. Es sollte damit und Können stiegen einige wenige rapid bis zu den höchsten Stellungen hinauf. aber keineswegs gesagt werden, daß die auf andere Bedarlsbereiche ausgerich- Der Rest verteilte sich über verschiedene Stufen, wobei sehr viele auf Stellun- tete Spezialausbildung in Fachhochschulen zurückgestellt werden dürfe. gen kamen, die merklich unter dem einzustufen sind, wal\ wir unter der Stel- lung eines Industrie-Meisters verstehen. Bekanntlich ist in der Sowjetunion der Unterricht in geisteswissenschaftli- chen Fächern inhaltlich völlig auf ideologische Prinzipientreue ausgerichtet. Vergleicht man den Durchschnitt der damaligen sowjetischen Hochschul- Um so pragmatischer sind aber die organisatorischen und methodischen Mittel absolventen mit dem Durchschnitt der damaligen deutschen Hochschulabsol- zur Realisierung der Ausbildung. Dieser Pragmatismus gilt erst recht für die venten, so ergibt sich aus den eben angeführten Gründen eine glatte qualitative technisch -naturwissenschaftliche Ausbildung. Die um ein Mehr an Demokra- Überlegenheit der Deutschen. Obschon wir in der Sowjetunion als ausländi- tie bemühten Bundesdeutschen sprechen viel vom "Recht auf Bildung". Von sche "Spezialisten" bezeichnet wurden, war es gerade unsere tiefere und brei- solchen sozialen Sentiments ist die sowjetische Einstellung völlig frei. Dort tere Ausbildung, die bessere Kenntnis der wissenschaftlichen Grundlagen, die könnte man eher von einer" Pflicht zur Bildung" im Interesse des Staates spre- ·uns zu einer besonderen Effektivität in der damaligen Sowjetunion verhalf. chen. - Die Studenten erhalten in der Sowjetunion ein bescheidenes Gehalt.

- 92- - 93 - !:

Dies ist heute eine Notwendigkeit, der man ja auch bei uns entgegenkommt, sowjetischen Hochschulwesen. Die Studenten, die sich für eine solche Spezial- indem der Staat vielfach studentische Beihilfen zahlt. Die Gehälter sind aber ausbildung in den letzten Semestern entschieden hatten, erhielten zwar be- in der Sowjetunion je nach Erfolg des Studiums gestaffelt. Die Bezahlung ist trächtliche Privilegien, aber sie mußten sich auch verpflichten, nach Beendi- also nicht nur als unumgängliche Sozialmaßnahme gedacht, sondern auch als gung des Studiums drei Jahre lang im Rahmen des Atom - Projekts zu arbei- Mittel zum Antreiben des Lernfleißes. Eine laufende Kontrolle der Lernerfolge ten, ohne daß sie die Art und den Ort ihrer Tätigkeit wählen konnten. Ich er- wird durch das russische Prüfungssystem erleichtert. Dieses aus der Zarenzeit innere mich an zwei junge Radiochemikerinnen, die bei der Leningrader Uni- übernommene System öesteht darin, daß man nicht wie bei uns erst nach je- versität diesen Weg gewählt haben. Als sie durch die Urwälder des Urals zu weiligem Ablauf von mehreren Semestern eine Prüfung in mehreren Fächern uns nach Sungul gefahren wurden, wußten sie nicht, wo sie landen werden. Sie gleichzeitig ablegt, sondern daß die Fächer etwas mehr unterteilt sind und die waren heilfroh, als sie beim Einfahren des Busses in unser Institutl\gelände 'Prüfungen in den Teilfächern sich über die ganze Studienzeit verteilen. Man merkten, daß sie nicht in eine Fabrik, sondern in ein wissenschaftliches Institut kommt ja auch bei uns diesem System näher, wenn man Prüfungen nach Be- kamen. endigung von Praktika zwischenschaltet oder die Ablieferung schriftlicher Übungstests verlangt. Dieses System birgt übrigens keine Gefahr einer "Ver- Ich möchte aus gegebenem Anlaß noch über eine Erfahrung aus der Sow- schulung" des Hochschulsystems. Wohl aber bewahrt es viele Studenten vor jetunion berichten, die man bei uns beherzigen sollte. Aus vermeintlichen Ra- überzogenem Hinausschieben der sie weniger interessierenden Teilfächer und tionalisierungsgründen macht sich sowohl in unseren Ministerien als auch un- vor einem Zusammendrängen aller Lernarbeit auf die Zeit kurz vor einer grö- ter den Professoren die Tendenz breit, kleinere, auf engere Spezialgebiete ein- ßeren Gesamtprüfung. Das alles gilt allerdings nur für die ersten und mittleren gestellte Lehrstühle und Institute aufzulösen. Unsere Erfahrungen in der Sow- Stadien des Studiums. In den letzten Stadien, bei Diplom - oder Doktorarbei- jetunion sprechen ganz und gar gegen eine solche Tendenz. In der Autbauzeit ten sollte man dagegen nicht von den bestbewährten Prinzipien der akademi- des dortigen Atomenergie-Projekts hat sich der große Wert dieser Speziallehr- schen Freiheit abgehen. (Auch in der reglementierfreudigen Sowjetunion ist stühle und -institute erwiesen, auch wenn sie vorher jahrelang" im Verborge- man in diesem Bereich längst wieder zu ihr zurückgekehrt.) Hier verlagert sich nen geblüht" haben. Wir konnten mehrfach auf die Hilfe dieser "Keimzellen" der Lernprozeß fast völlig auf die eigene Forschungsarbeit, auf kleinere Semi- des Spezialwissens zurückgreifen und dadurch sehr viel Zeit und Aufwand spa- nare, auf Diskussionen mit Dozenten und Studienkollegen. (Die Bewertung des ren. Zum Glück hat man dort solche Keimzellen nicht verkommen lassen. Ich Lehrbeitrags von Dozenten nach der Zahl der Vorlesungsstunden ist blanker ent~inne mich z.B. an die schnelle und wirksame Unterstützung seitens eines Unsinn; dieses bürokratische Vorgehen droht die Effektivität unserer Hoch- Instituts für Vakuumtechnik, eines anderen für Photographie und mehrerer schulen zu erdrosseln.) Die Zahl der Fälle, wo aus der Freiheit der Wissen- anderer. Opfert man erst einmal solche Keimzellen irgendwelchen spektakulä- schaft eine Freiheit des Nichtstuns wurde, ist sehr gering, die Zahl der Fälle, ren "Schwerpunkten" zuliebe, so ist das ein irreversibler und daher besonders wo aus der Freiheit der Wissenschaft Großes erwuchs, ist Legion! bedauernswerter Prozeß.

Bei der Ausbildung von Fachkräften, die speziell für das Atomenergie- . Projekt bestimmt waren, herrschte ein viel rauheres Regime als im sonstigen

- 94 - - 95 - I'

14. LAGE UND VERHALTEN DER DEUfSCHEN "SPFZIALISTEN"

Ich kenne aus eigener Anschauung· nur die Lage derjenigen deutschen Spe- zialisten, die zu den am Atomenergie-Projekt beteiligten Gruppen gehörten. Es gab noch mehr deutC\cheGruppen, die in der Sowjetunion arbeiteten. Ich schätze ihre Zahl auf mindestens zehn. Mit vielen dieser Deutschen haben wir nach der Heimkehr sprechen und unsere Erfahrungen austauschen können. Dabei zeigte sich immer wieder, daß unsere "Atom -Gruppen" in materieller Hinsicht eine wesentlich bessere Behandlung genossen als die anderen deut- schen Gruppen. Den Ausdruck "goldener Käfig" kann man also nur auf die Lage der Atom -Gruppen, aber nicht auf die der anderen anwenden.

Wohl aber paßte das Wort" Käfig" zur Lage aller deutschen Arbeitsgrup- pen, denn alle DeutC\chendurften ihre" Objekte" nicht verlassen, es sei denn in Begleitung eines Aufpassers. Die materielle Lage der deutschen Gruppen war dagegen von Gruppe zu Gruppe sehr verschieden. Das Material, aus dem der jeweilige Käfig gefertigt war, reichte von Gold hin bis zu rostigem Eisen.

Über den Zwang, die Objekte nur in Begleitung eines Aufpassers verlassen zu dürfen, ist bereits in Kapitel 11 berichtet worden. Ergänzend sei nur noch gesagt, daß die Zahl der verfügbaren Begleiter nicht etwa so groß war, daß für jeden Deutschen jederzeit einer zur Verfügung stand. Diese Knappheit führte zu einer zusätzlichen Beschränkung der Bewegungsmöglichkeit. Mir persönlich wurde allerdings mitgeteilt, daß für mich als Gruppenleiter und für meine Fa- milie drei Begleiter reserviert seien, zwei für den Tag und einer für die Nacht. Das war jedoch eine nur theoretische Regelung; praktisch hatte sogar ich selbst manchmal Schwierigkeiten, sofort einen Begleiter herbeizuschaffen. Von dem

- 97 - Recht auf einen Begleiter für die Nacht habe ich nie Gebrauch gemacht. Mir bonzen nicht zu vergleichen. Das korrekte und sogar freundliche Verhalten der ist auch nicht klar geworden, wie die Handhabung dieses Rechts gedacht war. sowjetischen Bevölkerung uns deutschen Spezialisten gegenüber war sicher Welche Art von nächtlichen Eskapaden man dabei bei mir voraussetzte, ist auch mehr oder weniger angeordnet, aber ich glaube, daß der Grund für die..liies mir nicht mitgeteilt worden. Auch hat nichts über den Grad der Beteiligung Verhalten noch viel mehr in der Mentalität der dortigen Bevölkerung zu su- des Begleiters an diesen Eskapaden verlautet. chen ist. Ich betone das alles so ausdrücklich, weil es versöhnlich stimmt und einem den Glauben an die Menschheit wiedergibt. Wie schon in Kapitel 11 betont, war e..liiäußerst lästig, stets einen Beschat- ter neben sich zu haben. Nur ein einziges Mal war dem nicht so. Einmal, als Wir konnten in der Sowjetunion oft feststellen, welch hohe..1\Ansehen dort mein Auto von einem Milizionär angehalten wurde, stellte sich ihm mein Be- immer noch die fachliche Tüchtigkeit der Deutschen genoß. Ich füge hier ab- . gleiter als mein Adjutant vor. Ich muß gestehen, daß mein Selbstbewußtsein sichtlich die Worte "immer noch" ein, denn insge..l\amtgilt im heutigen Ruß- i 1 für einige Augenblicke gestiegen war. Ich war nämlich nie beim Militär; meine land mehr alles Amerikanische als Vorbild für technische und wissenschaftli- ,I i\ militärischen Ambitionen haben sich im Taktschlagen zu preußischer Marsch- .'1 che Betätigung. Dies gilt insbesondere für die jüngere sowjetische Generation, J, I :! musik erschöpft; und nun hatte ich auf einmal einen Adjutanten! die von den früheren Meriten der deutschen Wissenschaft und Technik nicht mehr viel weiß. - Im alten Rußland wurde die deutsche Tüchtigkeit in techni- Um zum Ernst de..1\Lebens zurückzufinden, möchte ich zunächst hervor- schen Dingen durch einen allgemein verbreiteten Spruch gekennzeichnet: "Der heben, daß die menschlichen Beziehungen zwischen den Deutschen und den Deutsche hat den Affen erfunden". Ich erinnere mich an ein kontroverses Ge- Sowjetmenschen bei allen mir bekannten Gruppen fast ausnahmslos gut wa- spräch mit dem Atomminister Sawenjagin, kurz nachdem wir unsere Haupt- ren. Wir wurden jedoch niemals in die Wohnungen sowjetischer Familien ein- aufgabe in Elektrostal gelöst hatten. Er wollte uns eine neue Aufgabe aufzwin- geladen, trotz der bekannten russischen Gastfreundschaft. Wahrscheinlich ist gen, nämlich die Gewinnung von Uran aus den baltischen Brennschiefern. Be- an die sowjetischen Familien eine entsprechende Weisung von oben ergangen. kanntlich enthalten diese an der estnischen und auch an der schwedischen Ost- Dies dürfte weniger aus politischen Gründen als aus Geheimhaltungsgründen see-Küste lagernden Brennschiefer nennenswerte Mengen Uran, wobei meines ge..liichehensein. - Sehr hervorzuheben ist, daß wir niemals irgendwelche Äuße- Wissens die estnischen Schiefer weniger Uran enthalten als die schwedischen. rungen von Haß gegenüber den Deutschen gemerkt oder auch nur gespürt ha- Ich weigerte mich strikt, eine neue große und schwierige Aufgabe zu überneh- ben. Ein - oder zweimal haben sich in Elektrostal Halbwüchsige kleine Aus- men. Um diese Weigerung auch noch sachlich zu unter~auern, sagte ich, daß schreitungen erlaubt, wurden aber sofort von Erwachsenen zur Ordnung geru- dies keine Aufgabe für uns Physiker und Chemiker sei, sondern daß e..liisich fen. Dabei wußten wir von vielen sowjetischen Bekannten, daß ihre Familien hier um Erzautbereitung handele, und von Erzautbereitung verstünden wir schwerste Opfer im Zusammenhang mit dem Hitler-Krieg erlitten haben. Ich nichts. "Damit können Sie sich nicht herausreden" erwiderte Sawenjagin, "der habe mich auch in Gegenden aufgehalten, die kurzzeitig von Deutschen besetzt Deutsche hat den Affen erfunden." waren. Auch dort war von Haß nichts zu merken. Ich erwähne absichtlich, daß es sich um kurzzeitig besetzte Gebiete handelte; offenbar war daliiVerhalten So sehr man auf uns Deutsche in allen fachlichen Fragen hörte, so wenig der kämpfenden Truppe mit dem der nachfolgenden" Goldfaliiane"und Partei- war man bereit, von uns irgend etwas auf organisatorischen oder sonstigen

- 98- - 99 - nicht rein technisch -wissenschaftlichen Gebieten zu übernehmen. Als ich ein- Der Unterschied zwischen unserem dortigen Lebensstandard und dem der mal Sawenjagin gegenüber einen solche~ nichtfachlichen Rat äußerte, antwor- sowjetischen Bevölkerung war enorm. Merkwürdigerweise haben w~; niemals tete er barsch: "Ihre Ratschläge brauchen wir nicht." Diese unfreundliche Re- Neidgefühle seitens der Sowjetmenschen zu spüren bekommen. Ich persönlich aktion auf einen gutgemeinten Rat hat mich sehr gewurmt und wurmt mich 'empfand diesen Unterschied unseres Lebensstandards gegenüber dem der Rus- heute noch. Zwecks Wiedergewinnung meines seelischen Friedens werde ich in sen manchmal als geradezu peinlich. Ich erinnere mich, wie eines Abends in Kapitel 15 doch noch einen Ratschlag an die sowjetische Adresse einfließen Elektrostal der Direktor der russischen Schule, in die auch die deutl\chen Kin- lassen. der gingen, mich in meinem Haus aufsuchte. Erst erging er sich in allgemeinen Redensarten, so daß ich nicht den Grund seines Besuches begriff. Nach dem In materieller Beziehung konnten sich die meisten Deutschen, die in den dritten Glas Wodka kam es heraus. Er bat mich, an die deutl\chen Eltern die Atom -Gruppen arbeiteten, nicht beklagen. Wir wurden von Anfang an be- Bitte weiterzuleiten, sie möchten ihren Kindern zu dem Frühstück für die stens mit Lebensmitteln versorgt, und dies zu einer Zeit, als man in Deutsch- Schule nicht auch noch Schokolade mitgeben. Er bat darum den russischen land hungerte und auch die sowjetische Bevölkerung darbte. Wir hatten das I Mitschülern zuliebe, die kaum je Schokolade bekamen. Ich gab die Bitte wei- Recht, Lebensmittel in besonderen Läden ("Limit-Läden") zu beziehen, in de- ter, und sie wurde erfüllt. nen man sämtliche Lebens- und Genußmittel zu akzeptablen Preisen erhalten konnte. Von der sowjetischen Bevölkerung hatten nur wenige dieses Recht, Die rechtliche Lage der deutschen Spezialisten in der Sowjetunion war be- und zwar die bedeutenderen Wissenschaftler und Künstler sowie hohe Funk- liebig undefiniert. Es gab für sie keinen völkerrechtlichen Präzendenzfall. Un- tionäre und Regierungsangehörige. Die Versorgung mit Obst war allerdings in sere deutschen Pässe hatten keine Gültigkeit mehr. Wir waren keine Kriegsge- Moskau und im Ural recht schlecht; umso besser war sie an der Küste des fangenen, aber auch keine Zivilgefangenen in dem bei früheren Kriegen übli- Schwarzen Meeres, wo man herrliches Obst auf freiem Markt erhalten konnte. chen Sinne. Ein Arbeitsvertrag wurde uns zwar angeboten, aber wir haben in - Wir konnten auch sehr schöne Lebensmittelpakete nach Deutschland schik- meiner Gruppe beschlossen, ihn nicht zu unterschreiben. Er hätte uns sicher ken. keine Vorteile, vielleicht aber Nachteile gebracht. Unsere Lage war eher mit der von solchen Ausländern vergleichbar, die vor Jahrhunderten irgendwie in Die Unterbringung der Deutschen in den Atom -Gruppen war auch recht den Machtbereich eines Zaren oder sonstigen östlichen Herrschers gerieten und gut. Am Anfang, in Elektrostal, hatte jede Familie ein aus Finnland stammen- von diesem alles zum Leben Notwendige erhielten, nur keine Freiheit. Irgend- des hölzernes Fertighaus mit drei anständigen Zimmern, Bad und Küche. Zu welche durchsetzbaren Rechtsansprüche hatten wir schon gar nicht. Nach der jedem Haus gehörte auch ein Garten. Im Ural wohnten die meisten größeren Gründung der beiden heutigen deutschen Staaten galten wir auch nicht etwa Familien in sehr netten datschenartigen Holzhäusern mit 5 Zimmern und einer als Angehörige eines dieser Staaten. Aus den englischen BBC-Sendungen er- verglasten Veranda. Manche Familien wohnten in Etagenwohnungen in einem fuhren wir, daß ein Sprecher der ostdeutschen Regierung von Journalisten großen Steinhaus. Ähnlich war auch die Unterbringung am Schwarzen Meer. nach dem Schicksal der nach der Sowjetunion gebrachten deutschen Wissen- Hier hatte ich mit meiner Familie das besondere Privileg, in einer sehr großen, schaftler gefragt wurde. Der Sprecher erklärte, es gäbe in der Sowjetunion kei- .geradezu luxuriös geplanten steinernen Villa wohnen zu können. ne deutschen Wissenschaftler (!).

- 100 - - 101 - Die Anwesenheit deut~cher Wissenschaftler wurde gegenüber der sowjeti- Vorschlag akzeptiert wurde. Dieser Vorschlag war sachlich und menschlich schen Bevölkerung möglichst geheimgehalten. Damit hing es auch zusammen, gut gemeint, aber er hat in der Praxis nicht in allen Fällen die gewünschten daß wir nicht die Möglichkeit hatten, aus eigener Initiative mit sowjetischen humanitären Folgen gehabt. Während nämlich fast alle sonstigen Kriegsgefan- Wissenschaftlern Verbindung aufzunehmen, schon gar nicht mit solchen, die genen schon 1949 nach Deutschlafld zurückgekehrt sind, mußten diejenigen auf Gebieten arbeiteten, welche außerhalb der uns übertragenen Aufgabe la- Kriegsgefangenen, die in unsere Spezialisten-Gruppen übernommen wurden, gen. Solche sowjetischen Wissenschaftler hatten ihrerseits kaum die Möglich- viel länger .auf die Heimkehr warten. Da man dies voraussehen konnte, hatte keit, mit uns in Kontakt zu treten. So versuchte der damalige Präsident der ich Bedenken, Kriegsgefangene ohne ihr Einverständnis anzufordern. Für mei- dortigen Akademie der Wissenschaften, S.J. Wawilow, ein prominenter Lumi- ne Gruppe wurde denn auch kein einziger Kriegsgefangener gegen seinen Wil- nes~enz- Physiker, mich um einen Vortrag auf diesem Gebiet zu bitten, doch len angefordert. Dies zu erreichen, gelang allerdings nur dank dem Umstand, sei~,Versuch wurde unterbunden. daß ich die russische Sprache beherrsche. Die Auslese der anzufordernden Kriegsgefangenen erfolgte nämlich in der Weise, daß diese erst in den Lagern Angesichts unserer völligen formalen Rechtlosigkeit war man in seinem "vorsortiert" und dann gruppenweise nach Moskau gebracht wurden, wo der Verhalten und seinen Entscheidungen allein auf den Instinkt angewiesen. man deutliicheAtom -Gruppen chef sich die geeigneten Fachleute aussuchen konnte. konnte nicht auf Vorbilder und Präzendenzfälle zurückgreifen. Man wußte Mit mir wurde eine solche "Brautschau" zweimal veranstaltet. Ein Dolmet- nicht, wann man hart bleiben und wann man nachgeben sollte. Ich habe zwar scher war nicht anwesend, da ich selbst diese Rolle spielte, und der mich be- mit gelegentlichen Wutausbrüchen gute Erfahrungen gemacht, aber bekannt- gleitende russische Chefingenieur verstand kein Deut~ch, so daß ich mit jedem lich nützt sich diese Waffe ab, wenn man sie zu oft gebraucht. Einige Male ist Kriegsgefangenen ganz frei sprechen konnte. Denjenigen, deren fachliche Qua- es auch passiert, daß ich mit viel Elan offene Türen einrannte. Oft war ein ver- lifikation für' uns geeignet war, sagte ich, daß der Betreffende .bei uns in sei- trauensseliges Abwarten der Dinge, die da kommen sollen, der bessere Weg. ...; nem Fach arbeiten könnte, wobei er sehr gute Verpflegung und anständige In so undurchschaubaren Situationen trifft man die Wahl seiner Entscheidun- Unterbringung erhalten würde sowie auch die Möglichkeit hätte, seine Angehö- gen immer noch am besten durch Abzählen der Knöpfe. Man trifft dann in rigen aus Deutliichlandnachkommen zu laliisen.Aber ich betonte ausdrücklich, fünfzig Prozent der Fälle die richtige Entscheidung, und auf eine so hohe daß ich nicht garantieren könne, ob und wann eine Heimkehr nach Deutsch- Treffsicherheit kann jeder stolz sein. land möglich sein würde. Mit einer Ausnahme reagierten die Kriegsgefangenen darauf mit einer ablehnenden Haltung. Ich erklärte dann dem anwesenden rus- Wie schon in Kapitel 9 erwähnt, waren in den Atom -Gruppen auch ehe- sischen Chefingenieur, der Betreffende eigne sich fachlich doch nicht recht für malige deutsche Kriegsgefangene beschäftigt. Das Heranholen von Kriegsge- uns, und so blieb es bei einer einzigen, mit Einverständnis des Betroffenen er- \ fangenen ging auf eine Initiative von Herrn v. Ardenne zurück. Nachdem wir folgten Anwerbung. Später kam noch eine zweite, analoge hinzu. - Für die , I im Juni 1945 von Beria empfangen wurden, erzählte v. Ardenne freudig, er beiden bei Suchumi stationierten Atom -Gruppen wurden aber sehr viele hätte Beria vorgeschlagen, daß deutsche Wissenschaftler, Techniker und Me- Kriegsgefangene angeworben. Sie alle kehrten entweder erst mit uns im Jahre chaniker, die Kriegsgefangene waren, aus den Lagern herausgeholt und in den 1955 heim oder nur um ein bis zwei J abre früher. Manche haben ihre Frauen dyut~chen Spezialisten -Gruppen beschäftigt werden sollten und daß dieser oder Bräute aus Deutschland nachkommen lassen. Andere blieben unbeweibt,

- 102 - - 103 - l '

was begreiflicherweise zu Komplikationen führte. Es wurden die abenteuerlich- tionsfragen besprochen wurden und ich als Sachverständiger benötigt wurde. sten Geschichten hierüber erzählt, die vom Trauerspiel bis zur Groteske reich- Bei dieser Versammlung bekam man unter anderem zu hören, daß Parteilich- ten. - Beruflich fügten sich die aus den Gefangenenlagern "nachgelieferten" keit (und nicht etwa Objektivität) die Haupttugend eines Parteigenossen sei. - Deut~chen zumeist gut in die schon vorhandenen deutschen Arbeit~gruppen In Suchumi, kurz vor der Heimkehr, kamen einige wenige Deutsche auf den ein. Bei den wenigen Fällen von Arbeitsverweigerung war ,das Hauptmotiv die Gedanken, daß man noch vor Verlassen der Sowjetunion sich noch einige Hoffnung, früher heimkehren zu können, eine Hoffnung, die sich praktisch Kenntnisse über den "dialektischen Materialismus" ("Diamat"), die wissen- nicht erfüllt hat, denn die Betreffenden waren durch ihren Aufenthalt in einem schaftliche Grundlage des Marxismus-Leninismus, aneignen sollte, und sie "Geheimobjekt" zUGeheimnisträgern geworden. Vereinzelt kam bei ihnen der baten die sowjetische ,Leitung um Veranstaltung eines ent~prechenden Lehr- Glaube hinzu, daß ein deutscher Krieger nicht in den Dienst des" Feindes" kurses. Für den nichteingeweihten Leser sei erklärend vermerkt, daß es sich "~tretensoll, ein wirklichkeitsfremder und naiver Treueglaube gegenüber dem beim "dialektischen Materialismus" sowjetischer Prägung um eine Pseud0- bankrotten Hitler-Reich, wie er nur in der Abgeschlossenheit mancher Gefan- Wissenschaft handelt, die hinsichtlich ihres Niveaus mit der nazistischen "Ras- genenlager überleben konnte. Bei uns, die wir in der Heimat den kläglichen sentheorie" wetteifern kann. Die beste Charakterisierung des dialektischen Ma- Zusamm~nbruch des Dritten Reiches in seinem ganzen Umfang besser über- terialismus bietet folgende Scherzfrage, die ich in der Tschechoslowakei hörte: sehen konnten, die wir sahen, wie Gauleiter und andere Parteibonzen Tausen- "Was ist Wissenschaft?" de von Menschen ins Unglück stürzen ließen, aber sich selbst retteten, konnte "Das ist, wenn man'in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht." ein solches Maß von Naivität nicht aufkommen. Kaum einer von uns war ""Nas ist Philosophie?" glücklich, ausgerechnet in die Sowjetunion gebracht zu werden, aber keinem "Das ist, wenn man in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht, die wäre es eingefallen, sich dort an nazistische "Werwolf' - Parolen zu erinnern gar nicht da ist." und Obstruktion zu üben. Vielleicht ist es gut, die jüngeren Leser darauf auf- "Was ist dialektischer Materialismus?" merksam zu machen, daß der Zusammenbruch des von Hitler ins Unglück ge- "Das ist, wenn man in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze sucht, die stürzten Reiches bei uns damals eine Art Weltuntergangsstimmung erzeugte. gar nicht da ist, und dann plötzlich ausruft: Ich hab sie!" Das Ausmaß der Katastrophe für die Nation und für unser persönliches Los kann den jüngeren Generationen wohl nicht mehr voll klar gemacht werden. Die sowjetischen Funktionäre kamen zu mir und sagten, sie würden nur Aber uns war es voll bewußt. Viele ältere Nicht-Nazis begingen Selbstmord, dann einen Lehrkurs veranstalten, wenn ich an ihm teilnehmen würde, denn allein aus Verzweiflung über den Zusammenbruch der Werte, um deren Er- sonst würden die meisten Deutschen dem Kurs fernbleiben. Ich antwortete mit schaffung und Erhaltung sie ihr Leben lang bemüht waren. Die meisten aber einem schroffen "Nein!" Es entstand eine peinliche Pause. Dann fragten mich dachten zunächst nur ans Überleben und an irgendeine Art von Wiederaufbau, die Funktionäre, welche Bedingungen erfüllt werden müßten, damit ich dem an sonst nichts. Kurs zustimmen könnte. Ich holte tief Atem und hielt eine lange Rede, in der ich die Bedingungen aufzählte: wissenschaftliches Niveau, Möglichkeit völlig Politisch wurden wir völlig in Ruhe gelassen. Ich wurde nur ein einziges freier Diskussion, Objektivität usw.. Einer der Funktionäre schrieb meine Be- • Mal in Elektrostal zu einer Parteiversammlung eingeladen, weil dort Produk- dingungen eifrig mit. Schließlich sagte man mir, alle meine Bedingungen wür-

- 104 - - 105 - den erfüllt werden. Damit legte man mich auf elegante Weise herein, denn nun Das Verhalten der Deutschen in den Spezialisten-Gruppen trug im nicht- wäre es ja unfair, wenn ich noch auf meinem "Nein" beharrt hätte. Die ver- fachlichen Bereich nicht immer dazu bei, den Stolz auf die Zugehörigkeit zu sprochenen Bedingungen wurden tatsächlich weitgehend erfüllt. Ein Dozent dieser Nation ins Unermeßliche steigen zu lassen. Dies war allerdings haupt- von der Universität Tbilissi wurde hergeholt, und der Lehrkurs fand unter be- sächlich durch die ungewohnten und widernatürlichen Lebensverhältnisse be- trächtlicher Teilnahme der Deutschen in einer ganz ungezwungen Form, mit dingt: die Unfreiheit, die ständige ÜbeIWachung, die Zusammendrängung der völlig freien Diskussionen statt. Ich konnte aber meine Niederlage nicht ver- Deutschen auf kleinem Raume, das Fehlen eines Verkehrs mit der übrigen winden und schwor Rache. Nach der dritten Zusammenkunft gelang sie. Nach Welt. Unkenntnis der Sprache oder menschliches Nichtverstehen im Verkehr Ausführungen des Dozenten über die Schlechtigkeit des Kapitalismus sagte mit den Russen wirkte sich dagegen kaum negativ aus. Eher schon war es die ich, dies sei alles gut und schön, aber diese Schilderung des Kapitalismus ent- deutsche Neigung zu kleinkarierter Bürgerlichkeit, die manchmal mit der rus- ":spräche dessen Zustand vor etwa hundert Jahren; die Zustände hätten sich seit sischen Neigung zur Schlamperei schlecht zusammenpaßte. Viel peinlicher

der Zeit des 11 räuberischen Kapitalismus" sehr verändert, so daß die Ausgangs- aber waren manche Konflikte der Deutschen unter sich, Konflikte, die fast aus- basis für die marxistisch-leninistische Lehre um hundert Jahre veraltet sei. schließlich durch den Zwang zum gedrängten Zusammenleben verursacht Das war nun doch zuviel für ein marxistisch-leninistisches Ohr: die progressi- waren. ve Heilslehre um hundert Jahre veraltetl Der Lehrkurs wurde eingestellt. Im Zusammenhang mit der Lage und dem Verhalten der Deutliichenfällt An dieser Stelle möchte ich einige Bemerkungen zu meiner persönlichen mir eine kleine, nicht untypische Episode ein, an der der schon in Kapitel 2 Reaktion auf die in der Sowjetunion erhaltenen Impressionen zwischenschal- eIWähnte deutsche Professor Döpel beteiligt war. Döpel, der als Witwer nach ten. In vielen Berichten über den Aufenthalt in der Sowjetunion findet man Rußland kam, wohnte die ganze Zeit über allein in der Datscha von Jagoda mühevolle Auseinandersetzungen des Autors mit dem Gesehenen und Erleb- (Osjora). Er war ein leidenschaftlicher Wanderer und fand sich mit den Frei- ten: Oft handelt es sich dabei um eine Wandlung des Autors vom Freund zum heitsbeschränkungen ganz und gar nicht ab. Eines Tages entwich. er wieder Gegner des sowjetischen Sozialismus oder auch eine Wandlung in umgekehrter einmal unerlaubteIWeise durch ein Loch im Zaun des Parkes, um einen Aus- Richtung. Solche Wandlungen brauchte ich nicht zu vollziehen. Ich war von flug zu machen. (Wir alle kannten und schätzten dieses Loch.) Unterwegs fand vornherein mit keinerlei Illusionen belastet. Als Zeuge der Oktober-Revolu- er im Walde eine liegenden Betrunkenen. Es war schon spät im Herbst, und tion und der ersten Jahre Sowjetrußlands kannte ich die verheerende Wirkung Döpel sagte sich, daß der Betrunkene erfrieren könnte. Er schritt zum nächsten des Kommunismus auf den Lebensstandard. Die politische Ähnlichkeit des Dorf und meldete bei der dortigen Miliz in sehr gebrochenem Russisch seinen Stalinismus mit dem Hitlerismus konnte ein interessierter und erfahrener Be- Fund. Es geschah, was geschehen mußte: Döpel wurde verhaftet und erst nach obachter schon von Deutschland aus in den dreißiger Jahren erkennen. Gewiß mehreren Tagen VOnden für Deutsche zuständigen NKWD-Leuten gefunden war ich überrascht von der materiellen Bevorzugung von uns Atom -Speziali- und abgeholt. Der besoffene Russe wurde nicht abgeholt; doch wollen wir hof- sten gegenüber der sowjetischen Bevölkerung. Ansonsten aber gab es nichtlii, fen, daß er als echter Russe die Kälte gut überstand und sich noch heute an was mich überrascht hätte. Bestätigt hat sich aber - erfreulicheIWeise - daß es einem Gläschen Wodka zu erfreuen weiß. • Menschlichkeit immer noch überall zu finden gibt, wenn man sie sucht.

- 106 - - 107 - Nun noch einige Worte über Lage und Verhalten der deutschen Jugendli- Erforderliche durchzusetzen. chen, die innerhalb unserer Atom -Gruppen heranwuchsen. Viele von ihnen besuchten russsischen Schulen und Universitäten und fühlten sich dabei recht In den rein menschlichen Beziehungen zu den sowjetischen Funktionären, wohl. Die deutschen Studenten wohnten in Studentenheimen zusammen mit Kollegen und Mitarbeitern bewährte sich ein Verhalten, das auch anderswo zu Russen. Die materiellen Lebensbedingungen in diesen Heimen waren misera- empfehlen ist: keine übertriebene Kameraderie, sondern eine freundliche aber bel, aber diese Nachteile wurden durch ausgesprochen gute kameradschaftliche etwas distanzierte Haltung. Bekanntlich kommt man den Menschen dann am Beziehungen mit den sowjetischen Kommilitonen aufgewogen. Für das Sehnen besten näher, wenn man Abstand hält. ihrer Eltern nach Heimkehr ins deutsche Vaterland hatten die deul~chen Ju- gendlichen nicht das geringste Verständnis. Sie erinnerten sich ja kaum an Ich persönlich mußte besonders auf einen gewissen Abstand gegenüber den Deutschland. Die noch vorhandene Erinnerung an die Bombennächte dürfte Sowjetmenschen halten, um nicht - angesichts meiner russischen Sprachkennt- auch nicht gerade verlockend gewesen sein. Die nach West-Deutschland zu- nisse und meiner Herkunft aus Petersburg - zu sehr als zugehörig zu gelten. rückgekehrten Jugendlichen brauchten hier eine gewisse Zeit, um sich zu ak- Meine Zigarre im Mund und mein Homburg - Hut auf dem Kopf dienten mir klimatisieren. Die westeuropäische Enge störte sie beträchtlich. Auch waren hierbei als begrüßenswerte äußere Hilfsmittel.· So lächerlich solche Äußerlich- viele von ihnen von der seelenlosen Oberflächlichkeit vieler saturierter Bun- keiten sein mögen, so nützlich waren sie doch in ihrer Wirkung, und zwar desdeutscher befremdet. nicht nur nach außen hin, sondern auch auf einen selbst, indem sie in der Zeit schwerer Belastungen als "psychisches Korsett" dienten. Jeder, der im KZ Man kann sich zurückschauend fragen, was im Verhalten von uns Deut- oder Gefängnis gesessen hat oder auch nur im Krankenhaus gelegen hat, weiß, schen in der Sowjetunion falsch oder richtig war. Fangen wir mit dem Fal- wie wichtig es ist, sein Selbstwertgefühl hochzuhalten, sich regelmäßig zu schen an. In der allerersten Zeit unseres Dorll;jeinskonnte man manchmal bei rasieren und überhaupt einen gewissen Standard im KÖrPerlichen und im den Deutschen die Tendenz beobachten, sich mit Forschheit durchzusetzen. Geistigen zu halten, un einem seelischen und körperlichen Verfall zu wider- Das war ein Überbleibsel aus der Hitlerzeit, ein Überbleibsel, dem kein stehen. Die Engländer nennen so etwas" mental hygiene". ReiChsdeutscher sich voll entziehen konnte (und zum Teil noch heute nicht entziehen kann). Die forsche Tour zog nur selten, um so mehr, als ja das "Her- Angesichts der manchmal überraschenden sowjetischen Erfolge auf gewis- renvolk" nun hinter Stacheldraht saß. Noch weniger effektiv war das gegentei- sen technisch-militärischen Gebieten stellt man sich im Westen oft die Frage lige Verhalten, die Anbiederung. Diesen Weg haben erfreulicherweise nur sehr nach den Auswirkungen der Tätigkeit deutscher Fachleute auf die Nachkriegs- wenige Deutsche zu beschreiten versucht. Wenig Sinn hatte es auch, in irgend- entwicklung der sowjetischen Industrie. Es wäre meiner Erfahrung nach über- einer Weise auf" sein gutes Recht" zu pochen, denn dies lohnt sich nur, wenn aus naiv zu glauben, daß die Mitarbeit der deutschen" Spezialisten" wirklich hinter dem" guten Recht" ein entsprechendes Druckmittel bereitsteht. Über- entscheidende Bedeutung für den Aufbau der sowjetischen Atomkern - Indu- dies besaßen wir in unserer Lage überhaupt keine verbrieften Rechte, sondern strie und anderer wichtiger Technologien hätte. Auf dem Kernenergie-Gebiet nur das Recht, an die Menschlichkeit und an die Vernunft zu appellieren. Un- hätten die Sowjets ihr Ziel ohne die Deutschen ein Jahr oder höchstens zwei ter Berufung allein auf dieses ungeschriebene Recht war es am leichtesten, das Jahre später selbst erreicht. Das Entscheidende war die von mir schon mehr-

- 108 - - 109 - fach betonte ungeheure Konzentration aller wissenschaftlichen und technischen am Überwinden auftretender Hemmnisse oder Widersprüche, bei manchen Mittel des Landes auf diese Aufgabe. Die Motivation zu dieser Anstrengung - auch die Freude an der Ästethik eines geschlossenen gedanklichen oder mathe- ebenso wie zu allen sonstigen Anstrengungen der Sowjets auf dem Gebiet der matischen Gebäudes. Dieser Antrieb beruht auf einer "schöpferischen Un- Rüstung - beruht auf dem Trauma, das der heimtückische Überfall Hitlers im ruhe", die irgendwo tief im Wesen des Lebendigen verwurzelt ist und ohne die Lande erzeugt hat. Man hat und wird dort nicht vergessen, daß dieser Überfall eine biologische Entwicklung wohl nicht möglich wäre. erfolgte, nachdem wenige Jahre zuvor Hitler einen Nichtangriffspakt mit Stalin abgeschlossen hatte! Die schönsten Beteuerungen der Friedensliebe unserer- So wie es im biologisch-genetischen Geschehen ungünstige, ja tödliche seits können und werden dieses Trauma nicht mehr beseitigen. Es war Ritler, Entwicklungen gibt, z.B. die "letalen" Mutationen, so führt auch die techni- der dort die .•schlafenden Hunde" geweckt hat, die nun nicht mehr einschlafen sche Entwicklung nicht nur zu erfreulichen Resultaten. (Selbst einem "Diener \,verden. In diesem Zusammenhang erinnere ich mit an eine Äußerung des Gottes", dem Mönch Berthold Schwarz ist das passiert: statt etwas Gottgefälli- Atomministers Sawenjagin mir gegenüber, als er mir erklären wollte, warum ges und Schönes zu erfinden, etwa einen neuen Likör, erfand er das Schießpul- die Sowjet~ eine Atombombe entwickeln müssen, und sagte: .•Wir würden ver.) Soll nun - angesichts der Bedrohung durch ABC-Waffen und ausufern- sonst unsere Souveränität verlieren." - Wa",speziell den Aufbau der Kernener- de Technisierung - die" schöpferische Unruhe", das Denken, Suchen, Tasten gie- Technik anbelangt, so sei noch erwähnt, daß in der ersten Zeit alle an- und Probieren "abgeschafft" oder ideologisch reglementiert werden? Schreck- spruchsvolleren Hilfsgeräte von den Amerikanern und einigen anderen West- licher Gedanke! Auch wäre es zu spät, denn wir besitzen schon jetzt in den ländern an die Sowjet",geliefert wurden. Zwar haben die Amerikaner unsere Arsenalen genügend Mittel zur Selbstverp.ichtung, Die überaus diffizile und· Oranienburger Atom-Anlage bombardiert, um zu verhindern, daß sie den komplexe, zum Teil außerhalb des Rationalen liegende Aufgabe der Verhinde- Russen zufällt, aber das wirtschaftliche Interesse westlicher Firmen ermöglich- rung des dritten Weltkrieges (mit oder ohne ABC-Waffen), d.h. die Ableitung te die Versorgung der Sowjets mit allem übrigen, was sie zum Aufbau der der Agressionspotentiale in kleinere, "harmlosere" Kanäle ist und bleibt einst- Kerntechnik brauchten. Es galt Lenins Ausspruch: .•Die Kapitalisten werden weilen Sache der Politiker und kann nicht an die imaginären "verantwortungs- uns auch noch den Strick verkaufen, an dem wir sie aufhängen" . bewußten" Forscher delegiert werden. Denn nicht die Wissenschaftler, sondern letztlich die Berufspolitiker sind es, die Kriege auslösen können oder nicht zu Etwa", Ähnliches wie dieser Ausspruch gilt - mutatis mutandis - auch für verhindern wissen. uns Wissenschaftler und Techniker. So wenig der Verkauf eines Strickes eine politisch oder ideologisch motivierte Tat ist, so wenig ist es auch das Tun und Lassen der Wissenschaftler oder Erfinder. Die Motivation für ihr Schaffen liegt auf einer völlig anderen Ebene. Man spricht heute viel von der "Verantwort- lichkeit" der Wissenschaftler und übersieht dabei das Wesentliche der An- triebskräfte, die den schöpferisch tätigen Wissenschaftler oder Erfinder bewe- gen. Diese Antriebskräfte sind Neugier, Erkenntnisdrang, Spieltrieb, Aben- . teuerlust, Spaß am Ba",teln und Probieren, eine geradezu "sportliche" Freude

- 111 - - 110 - Bild rechts oben: Beim Ausflug zum Berg Uschba besuchte der Autor mit älte- ster Tochter (rechts vorne) Angehörige des im Hochkaukasus ansässigen Volksstamms der Swaneten.

Bild rechts unten: Der bei Alpinisten wohlbekannte, zweigipfeIige, erst um die Jahrhundertwende erschlossene Viertausender Uschba im Kaukasischen Hoch- gebirge.

- 112 - 15. SOWJETISCHER LEBENSSTANDARD, GLEICH NACH KRIEGS- ENDE UND SPÄTER - AlLTAGSLEBEN - WODKA-SÜNDEN UND MEIN GESTÖRTES VERHÄLTNIS ZUR AUfONOMEN UDMURTI- SCHEN REPUBLIK

Dies ist ein recht trauriges Kapitel. Jedern, der nicht nur einige Tage als angesehener Gast unter dauernder Obhut in der Sowjetunion verbrachte, Son- dern auch selbständige Unternehmungen wagte, ist der erschreckend niedrige dortige Lebensstandard bekannt. Daß die Lebensverhältnisse dort unmittelbar nach dem schrecklichen Kriege sehr schwer waren, ist mehr als verständlich, und es steht uns Deutschen am wenigsten zu, sich über diese damaligen Ver- hältnisse zu mokieren. Aber leider befand sich der sowjetische Lebensstandard auch noch Jahre später auf einem beklagenswert niedrigen Niveau. Dieser traurige Zustand ist schon nicht mehr auf die Folgen des Krieges, sondern al- lein auf das dortige Wirtschaftssystem zurückzuführen, denn um dieselbe Zeit erreichten die Länder mit einem privatwirtschaftlichen System bereits einen Lebensstandard, gegen den der sowjetische selbst heute noch als kläglich er- scheint.

Daß wir, am Atomprojekt beteiligte Deutsche, privilegiert behandelt wur- den und keinen Mangel litten, habe ich schon im vorangegangenen Kapitel ge- schildert. Hier soll aber von der Lage der sowjetischen Bevölkerung die Rede sein. Als wir das Land im Jahre 1955 verließen, hungerte dort niemand mehr, aber, gemessen am westlichen Standard, war die Versorgung mit Lebensmit- teln und anderen Gütern miserabel. Ein Beispiel möge genügen. Brot gab es zwar genug, aber Mehl wurde nur zweimal im Jahr ausgegeben, zum 1. Mai und zum Tag der Oktober-Revolution. Jeder erhielt ein oder zwei Kilo. Und

- 115 - das in einem Land, in dem früher das Getreide einen der wichtigsten Export- Nach allen diesen traurigen Feststellungen muß ich doch ein Wort zur artikel darstellte! In einem Land, wo man die berühmten russischen Piroggen Rettung der kulinarischen Ehre des russischen Volkes sagen! Zur Kultur eines (Pasteten) aus weißem Mehl nicht etwa nur' in begüterten Häusern, sondern Volkes gehört neben der Sprache, den Liedern, den Trachten und den Tänzen auch bei jedem Kleinbauern oder Arbeiter vorgesetzt bekam! Daß das Sowjet- auch die Kultur des Gaumens. Bevor ich mich schwärmerisch über die russi- Regime selbst diesen elementaren Versorgungszweig so weit heruntergewirt- sche Küche auslasse, möchte ich alle diejenigen Leser um Nachsicht bitten, die schaftet hat, ist blamabel. die russische" Kultur des Gaumens" nur aus der Sicht eines Kriegsgefangenen kennengelernt haben. Nicht nur für ehemalige Kriegsgefangene, sondern sogar Die Sowjets können sich nicht damit herausreden, daß sie enorme Auf- für Touristen, die die Sowjetunion besuchen, ist es schwer sich vorzustellen, bau- und Rüstungsausgaben haben. Die Vereinigten Staaten rüsten nicht we- wie hervorragend, abwechslungsreich und schmackhaft die frühere russische 'niger und wissen nicht, wohin mit ihrem Getreide. Die Bundesrepublik und ukrainische Küche einmal war. Leider ist nur ein kleiner Teil dieser Ge- Deut"chland mußte alle ihre Städte und einen Großteil der Industrie neu auf- richte im Westen bekannt geworden. Allein von der, auch im Westen bekann- bauen und schwimmt trotzdem im Überfluß. ten Borschtsch-Suppe gab es mehrere, sehr verschieden schmeckende Varian- ten; es gab mehrere Arten der Kohlsuppe "Schtschi", wohlschmeckende andere Bedauerlicherweise ist auch heute noch die Versorgungslage in der Sowjet- Gemüsesuppen, herrliche Fischsuppen, sonstige Gerichte von Süßwasserfi- union unter aller Kritik. Das Angebot für Touristen ist sogar in den allerbe- schen, die berühmten Piroggen (Pasteten) aus verschiedenen Teigarten und sten Hotels in Moskau oder Leningrad von einer solchen Schäbigkeit, wie man mit verschiedenen Füllungen (Kohl, Fleisch, Fisch, Reis, Pilze) und vieles an- sie selbst im letzten westlichen Provinznest kaum vorfindet. (Eine erfreuliche dere mehr. Wohlgemerkt waren das alles Volksgerichte, die man auch in den Ausnahme bilden die sowjetischen Schiffe, die im Auftrage westlicher Agentu- bescheidensten Haushalten antraf. In den besser situierten Kreisen kamen noch ren Kreuzfahrten machen und sehr zu empfehlen sind.) Übrigens konnte man die Gerichte der kaukasischen, polnischen, baltischen, deutl\chen, jüdischen, in der Zeit, als wir in der Sowjetunion lebten, d.h. 1945~1955, in den besseren finnischen und französischen Küche hinzu. Die meisten dazugehörigen Rezepte Moskauer Restaurants noch recht gut essen. Inzwischen ist es dort nicht etwa sind in der sowjetischen Zeit mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Es besser, sondern schlechter geworden, was ich auf die jetzige Touristenflut zu- sind dort nur noch die Großmütter (die Babuschkas), die die Geheimnisse rus- rückführe, der das sowjetische System nicht mehr gewachsen ist. - Das sonsti- sischer Kochkunst beherrschen. ge Warenangebot selbst in den besten sowjetischen Warenhäusern ist nach wie t vor von einer erschreckenden Kläglichkeit. Ich konnte mich noch vor kurzem Auf die Rolle der Babuschkas in sowjetischen Leben muß ich überhaupt in Leningrad selbst davon überzeugen. Der Gedanke an diese Kläglichkeit noch besonders eingehen. Da fast alle Mütter dort arbeiten gehen, sind es die überko.mmt mich immer wieder, wenn ich in irgendeinem winzigen westdeut- Babuschkas, auf denen der ganze Haushait und das. Großziehen der Kinder schen Städtchen dem Überangebot an Waren aller Art gegenüberstehe. Arme lastet. Sie sind die Hauptstützen des sowjetischen Familienlebens. Mehr als sowjetische Hausfrau, möge es Dir zum Trost gereichen, daß Du diese Üppig- das: Sie sind das erhaltende Element des Volkes. Wer alte russische Romane keit nicht siehst und mit der Misere nicht zu vergleichen brauchst! liest, findet darin noch einen anderen Typ russischer Frauen beschrieben, die, im Verborgenen wirkend, eine bedeutsame Rolle für die Entwicklung russi-

- 116 .- - 117 - scher Kinder, insbesondere der zur "Intellegenzia" gehörenden Kinder, gespielt tivist. "Nun, an die Wand hängen", sagt der Direktor. Darauf der Aktivist: haben: Es ist die russische "Njanja", die Kinderfrau, die, aus dem einfachen "Aber ich wohne doch in der Mitte des Zimmers." - Wollen wir hoffen, daß Volke stammend und formell zum Dienstpersonal zählend, eigentlich mehr als sich inzwischen die dortige Wohnungsnot so weit gemildert hat, daß ein jeder Familienmitglied betrachtet wurde und die Rolle einer zweiten Mutter spielte. für sein Lenin-Bild ein Plätzchen an der Wand zu finden vermag. Sie war es auch, die neben der leiblichen Fürsorge ihren Zöglingen die Verbin- dung zum Leben und Wesen des "einfachen Volkes" vermittelte. Meine Die schreckliche Wohnungsnot hat sich sogar auf den russischen Sprach- Njanja, die schreibkundig war, hat mir auch das Lesen und Schreiben in russi- gebrauch ausgewirkt. Da" russische Wort "Kwartira" hatte früher genau die- scher Sprache beigebracht, und zwar in kürzester Zeit, ohne irgendwelche pä- selbe Bedeutung wie das deutsche Wort "Wohnung". Es kennzeichnete eine .dagogisch-psychologischen Verrenkungen. Wer eine Njanja gehabt hat, der abgeschlossene Wohneinheit, bestehend aus mehreren Zimmern mit eigener ":gedenkt ihrer stel" mit Rührung und Dankbarkeit. Puschkin hat seine Njanja Küche und möglichst auch eigener Toilette. In Elektrostal sprachen die Leute in einem herrlichen Gedicht besungen. - Wer die Njanjas und Babuschkas von einer eigenen Kwartira dann, wenn sie ein Zimmer meinten, da" sie nicht nicht kennt, der kennt Rußland nicht! - Njanja" gibt es nicht mehr, die Ba- mit einer anderen Familie zu teilen brauchten. Eines Tages teilte mir mein buschka" sterben aus, und ich weiß nicht, ob es einen Ersatz für sie geben Chauffeur strahlend mit, er habe endlich eine eigene Kwartira bekommen. Ich wird. Aber sie repräsentieren für die russische Geschichte das sehr wesentliche freute mich mit und wollte Genaueres wissen. Es erwies sich, daß die Kwartira weibliche, matriachalische Element, das in seiner passiven Widerstandsfähig- aus einem größeren Zimmer bestand, in dessen einer Ecke er mit Frau und keit, in seinem Erduldungsvermögen eine kaum bezwingbare Kraft darstellte. zwei Kindern lebte und in dessen anderer Ecke seine Eltern schliefen. Hätten Napoleon und Hitler diese Kraft gekannt, so hätten sie die Grenzen Rußlands kaum zu überschreiten gewagt. An dieser Stelle kann ich es mir nicht versagen, mich schon wieder, zum dritten aber endgültig letzten Mal den Insekten zuzuwenden. Diesmal soll es Kehren wir zurück zu der grauen Wirklichkeit des sowjetischen Lebens. - sich jedoch nicht um Flöhe handeln, sondern - zur Abwechslung - um Wan- Als wir zum ersten Mal in den Abendstunden in Elektrostal einfuhren, wun- zen. Ich komme auf dieses Thema, weil ich meinen eben erwähnten Chauffeur derten wir uns,daß buchstäblich alle Fenster der dortigen Wohnblocks er- einige Monate später gefragt habe, ob er in seiner Kwartira Wanzen habe. leuchtet waren. Nach einigen Wochen wunderten wir uns nicht mehr. Die Er- "Nein", sagte er "wir nicht, nur meine Eltern." Da die Eltern in der anderen klärung war die, daß in jedem Zimmer eine ganze Familie hauste, in manchen Ecke desselben Zimmers wohnten, finde ich eine solche Familientreue der Zimmern sogar zwei Familien oder mehrere alleinstehende Personen. Die Wanzen nicht nur rührend, sondern auch überraschend, und ich empfehle sie Wohnungsnot war in der Sowjetunion stets sehr groß und in den Nachkriegs- der Aufmerksamkeit unserer Verhaltensforscher und Entomologen. jahren besonders schlimm. Aus jener Zeit stammt die Geschichte von dem ver- dienten Aktivisten, der in seiner Fabrik gefeiert wird und zur Belohnung ein Die Wanzenplage war in Rußland schon immer beträchtlich. Nach dem Stalin - Bild überreicht bekommt. Er zeigt aber gar keine Freude über das letzten Krieg wurde sie noch lästiger. Aber wir gewannen den Eindruck, daß schöne Geschenk. "Freust du dich denn gar nicht über das Bild?" fragt der dank der Anwendung von DDT sich die Lage ständig besserte. Während man Fabrikdirektor. "Was soll ich denn mit dem Bild anfangen?" erwidert der Ak- früher die Wanze als Wappentier für das Land hätte vorschlagen können, hat

- 118 - - 119 - "

sie diese Aussicht heute höchstens nur dann, wenn man auch die Abhörwanzen liche Ausnahme absehe, möchte ich den Sowjets Phantasielosigkeit vorwerfen, in Betracht'zieht. und zwar insbesondere gerade auf dem Gebiet des Verkehrswesens. Im Gegen- satz zu westlichen Regierungen, die - selbst wenn sie sozialdemokratisch sind Zur Versorgungslage der sowjetischen Bevölkerung sei abschließend nur - vor der Autoindustrie Männchen machen müssen, könnte die Sowjetregie- noch bemerkt, wie bedauerlich es eigentlich ist, daß dort alles so schlecht funk- rung interessante Experimente auf dem Gebiet des öffentlichen Verkehrs ris- tioniert und daß nur unser privates, auf purem Egoismus aufgebautes Wirt- kieren. Nichts dergleichen geschieht. In allen technischen Dingen wird nur das schaftsystem zu Erfolgen führt. Dennoch: Ich kaufe lieber in einem guten ego- nachgemacht oder bestenfalls - wie im Fall der Raketentechnik - weiterent- istischen Laden als in einem schlechten altruistischen. wickelt, was vom Westen kommt. Das geht manchmal bis ins Lächerliche: Bringt eine westliche Autofirma irgendein unnützes Mätzchen an ihrem Auto- Wollen wir wieder zu einem erfreulicheren Thema hinüberwechseln. Die modell an, so machen es die Sowjets nach, im Glauben, es sei" Kultur" . Etwas Moskauer Untergrundbahn ("Metro") ist durch die prunkvolle, palastartige mehr an wirklich neuen technischen Ideen und Wagnissen würden dem" ersten Gestaltung ihrer Bahnhöfe bekannt. Als mir der bereits in Kapitel 2 erwähnte sozialistischen Staat der Erde" gut zu Gesicht stehen. Man vergesse nicht, daß Metallurgie- Professor und NKWD -Oberst die Metro zeigte, fragte ich ihn, ob das Sowjetregime nun schon 70 Jahre besteht. Gewiß ist die industrielle Ent- es denn sinnvoll sei, einen solchen Aufwand für ein Verkehrsmittel zu treiben. wicklung sehr forciert worden, aber wo bleibt der mit dem Westen vergleich- "Wissen Sie", sagte er "die Sache hat erzieherische Gründe. Können Sie sich bare Lebensstandard, wo bleiben die nachahmenswerten Impulse? Nichts ist vorstellen, daß auf einer so prunkvoll ausgestatteten Station einer au..c;;spucken zustandegebracht worden, worauf wir im Westen wirklich neidisch sein kön- würde?" Ich muß gestehen, daß mich dieses Argument überzeugt hat. Hier ist nen. Nach 70 Jahren kann die Welt an die Sowjetunion die Frage richten: War einmal das alte revolutionäre Losungswort "Paläste dem Volke!" realisiert das alles? worden. Warum auch nicht? Wozu spricht man denn in Sowjetrußland vom Sozialismu..c;;?Rentabel oder nicht: waren die Paläste der früheren Fürsten ren- Dem Leser ist vielleicht schon aufgefallen, daß ich meine Schilderungen

ll tabel? Aber verzichten möchten wir auf diese Paläste nicht. Bauen nicht selbst nach Art eines 11 Wechselbades aneinanderreihe: Häßliche Dinge wechseln sich ganz rentabel geführte Unternehmen, 'wie Banken und Versicherungsgesell- mit schöneren ab. Nach der Lobeshymne auf das Moskauer IIMetro" (an die schaften, palastartige Geschäftshäuser? Wußte die Kirche nicht, wozu sie ihre ich allerdings auch Kritisches anknüpfen mußte) kommt jetzt wieder etwac;; Dome prächtig ausgestaltete? Der Begriff Rentabilität ist in der Praxis, insbe- Häßliches. Ich meine die sowjetischen Gemeinschaftstoiletten, wie wir sie in sondere auch in der fiskalischen Praxis nicht ganz einfach zu handhaben, weil Fabriken, Behörden und anderen Institutionen genossen haben. In so man- man auch emotionelle Dinge, wie dac;;Prestige-Denken, die Eitelkeit und den chem dieser sowjetischen Etablissements werden die menschlichen Sinnesorga- Schönheitssinn des "Kunden" berücksichtigen muß, um Erfolg zu haben. ne mit starken Eindrücken bedacht. Die Konstruktion und Anordnung der für Wären unsere westlichen Eisenbahnen nicht vielleicht besser beraten, wenn sie die Verrichtung bestimmten Stellen ist auch meistens anders als bei uns. Man

ll dies bei ihrem Konkurrenzkampf mit dem 11 Inpividualverkehr berücksichtigt sitzt nicht, sondern hockt auf ihnen, vor allem aber sind sie nicht durch Trenn-

hätten, statt sich zu Verkehrsmittel 11 fürs Volk" degradieren zu lassen? - Aber wände voneinander abgeschirmt. Hier' ist also der Kollektivgedanke, ein . kehren wir zu Sowjetunion zurück. Wenn ich vom Moskauer Metro als erfreu- Team-work sozusagen, auf eine eigenwillige Art realisiert. Es ist daher ver-

-120- - 121- ständlich, daß diese Etablissements auch als Stätten zur Pflege der Geselligkeit Tourist beobachten kann. Man sollte aber alle Touristen dringend davor war- und menschlicher Kontakte benutzt werden. Dort kann man sich ungestört nen, auf die Angebote der Schwarzhändler einzugehen. vom Arbeitsaufseher milden Kollegen aussprechen. Ich vermag den Gedanken nicht zu verscheuchen, daß der Staatl\sicherheitsdienst eines Tages dort Abhör- Wer an Rußland denkt, denkt unwillkürlich auch an Wodka. So möchte geräte anbringen könnte. Nach Wegfilterung eines gewissen natürlichen Stör- ich denn dieses Kapitel mit einem Exkurs auf das Gebiet des Wodkagenusses pegels würde so manches unbedachte Wort einzufangen sein. abschließen. Die Trunksucht war in Rußland schon immer recht verbreitet. Auch heute noch scheint dieses Problem einigen Kummer zu bereiten, und es Einen eigenwilligen Auswuchs des sowjetischen Wirtschaftslebens möchte wurden vor kurzem ja energische Maßnahmen dagegen unternommen. Ich ich noch erwähnen. Es ist der Schwarzhandel mit der dazugehörigen Unter- selbst machte mir gar nichts aus Wodka und trank immer nur aus Solidaritäll\- ~elt. Wir sind mit dieser Welt nur einmal in Berührung gekommen. Meine gründen oder um die Trinkfestigkeit zu beweisen. (Der Solidaritätsbeweis ge- Frau und ich beschlossen, einen neuen, besseren Radioapparat anzuschaffen. lang immer, der Trinkfestigkeitsbeweis fast nie.) Als ich aber eines abends Ein junger Deutscher, der als früherer Kriegsgefangener bei uns in der Gruppe leicht bezecht durch die trostlose winterliche Hauptl\traße von Elektrostal arbeitete, bot sich an, den Apparat zu besorgen. Er hatte nämlich in der Zeit wankte, wurde mir plötzlich klar, wie sehr viel leichter Rußland zu ertragen seiner Gefangenschaft Kontakte zur Moskauer Unterwelt gehabt. Das kam ist, wenn man für eine· gewisse Benebelung gesorgt hat. Es ist ja immer die dadurch, daß die Kriegsgefangenen in ihrem unweit von Moskau gelegenen Flucht aus der Wirklichkeit, die, sei es in Rußland, sei es woanders, zur Lager eine bestens florierende Werkstatt für Reparaturen an Radioapparaten Trunksucht führt. In Rußland trägt die monotone Landschaft noch einiges da- und sonstigen Geräten betrieben. Der Auftragseingang und die Auslieferung zu bei sowie auch der lange Winter. - Unmittelbar nach Kriegsende kam erfolgte über die Moskauer Unterwelt. Der junge Deutsche ließ sich in meinem Trunkenheit aus verständlichen Gründen sehr oft vor. Gleich beim ersten Be- Privatauto nach Moskau fahren und suchte dort ein ihm bekanntes Unterwelts- treten des Verwaltungsgebäudes der Fabrik in Elektrostal mußte ich über lager für Radioapparate auf. Es befand sich irgendwo im Hinterhof in einem einen Betrunkenen steigen, der auf den Eingangsstufen lag und den kein Keller und war bis an die Decke mit den verschiedensten, überwiegend aus Mensch wegzutragen trachtete. - Ich erinnere mich auch an einen Major, der Deutschland stammenden Geräten gefüllt. Durch die Vermittlung der sehr in voller Uniform betrunken in einen tiefen schlammigen Graben gefallen war. mächtigen Unterwelt konnte man fast alles erwerben. Ein schwerer Schlag ge- Er wurde herausgeholt, auf einen Lastwagen geworfen und irgendwohin zur gen die Schwarzhändler war die Ende der vierziger Jahre durchgeführte Wäh- Ernüchterung gebracht. Sein Gesicht und seine Uniform samt aller Orden und rungsreform, bei der alle Banknoten (nicht aber die Bankkonten) im Verhält- Rangabzeichen waren mit einer gleichmäßigen grauen Schlammschicht über- nis eins zu zehn entwertet wurden. Die Schwarzhändler konnten ihr illegal er- zogen, so daß er fortan bei uns" der graue Major" hieß. worbenes Geld nicht auf Bankkonten einzahlen. Sie kauften in den Tagen vor dem Entwertungstermin die unnützesten Sachen in den Kaufhäusern auf, um Sehr schlimme Folgen hatte in der ersten Nachkriegszeit die Trunkenheit wenigstens einen Teilwert ihrer Bargeldvorräte zu erhalten. In den sechziger am Steuer. Einmal zählte ich allein auf der 60 Kilometer langen Strecke zwi- Jahren wurden in der Sowjetunion die Strafen für Wirtschaftsvergehen ver- schen Moskau und Elektrostal neun verunglückte Wagen! Die Chauffeure wa- .schärft. Trotzdem gibt es den Schwarzhandel auch heute noch, wie jeder ren außerdem durchweg frühere Armeefahrer, die ein diszipliniertes Fahren

- 122- -123- '~

auf normalen Straßen gar nicht mehr gewohnt waren. Durch Einführung dra- konischer Strafen (Entzug des Führerscheins) hat die Regierung von einem Tag zum anderen der Autora~erei ein Ende gemacht. Diese Maßnahmen waren wirksamer als unsere unnützen Ermahnungsschilder. Hier liegt ein Verhalten der Sowjetregierung vor, da~ den westlichen Regierungen wärmstens zur Nach- 16. EINIGE IMPRESSIONEN VOM POUTISCHEN LEBEN ahmung empfohlen werden kann. Wo es um Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit geht, braucht man Härte, nicht Liberalität. An den politischen Verhältnissen in der Sowjetunion fiel vor allen Dingen die frappierende Ähnlichkeit mit den Verhältnissen in Hit1er-Deul~chland auf. , Es wäre unfair, wenn ich nur die Wodka-Sünden der Russen schildern Verschieden war nur die Einstellung gegenüber der privaten wirtschaftlichen 'würde, ohne eigene Entgleisungen auf diesem Gebiet zu erwähnen. Als Bei- Betätigung. Ansonsten ähnelten sich aber die zur Ausübung der diktatorischen spiel hierfür wähle ich einen Fall aus, der insofern bedeutsam ist, als er mein Macht benutzten Methoden und Strukturen bis ins einzelne: hier wie dort der - Verhältnis zu einer ganzen Republik gestört hat. Wir waren mit Dr. Wirths weit in die Betriebe und Familien reichende Einfluß der Partei, hier wie dort auf Dienstreise im voruralischen Gebiet, um dort eine Fabrik zu besuchen. straffe politische Erfassung der Jugend (Hitler-Jugend und Komsomol), hier Nach Erledigung der Geschäfte wurden wir von der Fabrikleitung zur Jagd wie dort Zuruckdrängung des kirchlichen Einflusses, hier wie dort Berufswett- eingeladen. Die Jagd verlief erfolglos, nicht jedoch die anschließende Leerung bewerbe, hier wie dort Wanderfahne für Betriebe, hier wie dort Auszeichnung einiger Flaschen Wodka. Man erzählte uns, daß wir uns auf dem Territorium kinderreicher Mütter ("Mutterkreuz" und "Mutter-HeIdin"). Die Liste ließe der "Autonomen Udmurtischen Republik" befinden. Mir waren viele Völker- sich beliebig fortsetzen. schaften der Sowjetunion bekannt, aber von Udmurten hatte ich noch nie et- wali gehört. (Wie ich inzwischen festgestellt habe, handelt es sich um einen Erwähnenswert ist ein Vorfall, der mir zeigte, daß das Verhältnis der kom- Volksstamm, den man im früheren Rußland "WotjakenIl nannte.) Ich bat, mir munistischen Partei zur Familie nicht mehr darauf abzielte, die Familie durch einige typische Udmurten zu zeigen. Beim' Durchfahren von Dörfern wurden irgendwe1che Kollektivstrukturen zu ersetzen, sondern der nationalsozialisti- mir einige Menschen gezeigt, die ein typisches udmurtisches Gesicht haben schen Einstellung zur Familie glich, d.h. zum Ziel hatte, nur in ideologischer sollten. Doch mein Sehvermögen war durch den Alkoholgenuß so gestört, daß Hinsicht den elterlichen Einfluß einzudämmen, im übrigen aber die Familie ich statt der Gesichter immer nur rosa Flecke erkennen konnte. Ich bedauere als strukturelle Einheit zu erhalten und zu behüten. Eines Tages kam in Elek- da~ sehr, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß die Udmurten statt Gesichter trostal die Frau eines Ingenieurs zu mir und sagte, ihr Mann habe ein Verhält- nur rosa Flecke aufweisen. So verspüre ich denn bis heute ein Schuldgefühl nis mit einer meiner sowjetischen Laborantinnen. Ich möge doch die Laboran- gegenüber den Udmurten (und erst recht gegenüber den Udmurtinnen, an de- tin an einen anderen Ort versetzen lassen. Ich erwiderte, mir als Ausländer ren Schönheit ich nicht zweifle). Sollte mich mein Schicksal noch einmal in die würde so etwas schwerfallen, aber ich könnte mit dem Fabrikdirektor darüber autonome Udmurtische Republik verschlagen, so werde ich versuchen, stock- sprechen. "Um Gottes willen", sagte die Frau" dann erfährt die Partei von der nüchtern zu bleiben und das Versäumte nachzuholen. Verfehlung meines Mannes und er wird wegen Zersetzung der Familie aus der Partei ausgeschlossen." - In irgendeiner, mir nicht mehr ganz gewärtigen Wei-

- 124 - - 125 - se erreichte ich es, daß die Laborantin sich freiwillig versetzen ließ. Augenblick und sagte: "Ja, das ist bekannt." - Ich hätte eine so ketzerische Frage nicht gestellt, wenn noch eine dritte Person anwesend gewesen wäre. Sehr überrascht war ich, als ich auch dem" Führerprinzip" in der Sowjet- Man bedenke: Draußen auf der Straße hingen damals noch Plakate, die den union begegnete. Der Fabrikdirektor bat mich einmal um Entscheidung in ir- "Sieg der gerechten Sache über das faschistische Deutschland" priesen. gendeiner nicht dienstlichen Angelegenheit, die die deutsche Gruppe betraf. Ich sagte, daß ich die Sache mit meinen deutschen Mitarbeitern besprechen Aber auch in weniger hochgestellten Kreisen ist die Ähnlichkeit zwischen würde. "Wozu?" sagte er erstaunt "Haben Sie nie was vom Führerprinzip ge- sowjetischem und Hitlerschem Regime nicht unbekannt geblieben. Als der hört?" - Wohlgemerkt war es nicht etwa eine scherzhafte Anspielung auf das Kommandant unserer Fabrik in Elektrostal mir erklären wollte, was die Hitlersche Führerprinzip, sondern eine ganz bieder gemeinte Bezugnahme auf NKWD ist, begnügte er sich mit den Worten: "Es ist dasselbe wie Ihre Gesta- einen echt sowjetischen Begriff identischer Bedeutung. Für Leser, die Russisch po." können, sei der russische Ausdruck angeführt: prinzip jedinonatschali ja. Es ist schon erstaunlich, daß die neuzeitlichen Diktaturen, die man wohl Mich hat damals die Frage interessiert, ob man in den höchsten, maßge- als ein Zurückpendeln nach der liberalen Epoche um die Jahrhundertwende benden sowjetischen Kreisen sich der großen Ähnlichkeit des dortigen Regimes auffassen muß, fal\t gleichzeitig in so verschiedenen Ländern wie Italien, mit dem Hitlerschen bewußt war. Nach außen hin wurde natürlich lauthals das Deutl\chland, Rußland und Japan auftraten und sich so ähnlicher machtpoliti- Gegenteil behauptet, und das Volk mußte es glauben. Ende 1945 bot sich für scher Strukturen bedienten. Man hat den Eindruck, als hätten die Herren Dik- mich eine Gelegenheit, meine Neugier zu befriedigen. Es wurde irgendeine tatoren sich vorher verabredet. Im "Dritten Reich" hat der Volkswitz diese neue Freiheitsbeschränkung eingeführt. Ich fuhr nach Moskau, um Protest ein- Ähnlichkeit aufgegriffen, indem es hieß, Mussolini, Hitler und Goebbels hätten zulegen, wenn ich auch wußte, daß dabei kaum etwas herauskommen konnte. eine Photowerkstatt gegründet, die bestens florierte, und zwar dank zweck- Ich landete bei P.J. Antropow (nicht zu verwechseln mit Andropow), der wäh- mäßiger Arbeitsteilung: Mussolini entwickelt, Hitler kopiert, und Goebbels rend des Krieges stellvertretender Munitionsminister war (d.h. Stellvertreter vergrößert. von Wannikow), zur fraglichen Zeit den Atomminister vertrat und später Minister für Bodenschätze geworden sein soll. Ich verstand mich mit diesem Die Deutschen und die Russen sind besonders zu bedauern, daß sie als sympathischen Mann, der etwas älter war als ich, vom ersten Augenblick an Diktatoren ausgerechnet Hitler und Stalin erwischt haben. Wie sehr sind da besonders gut. (Ich glaube, daß es die gemeinsame Kenntnis des alten Rußland die Franzosen mit ihrem Napoleon zu beneiden, mit dem sie noch heute gut im war, die viel zu diesem gegenseitigen Verständnis beitrug.) Ich brachte bei ihm Geschäft sind. Oder soll man hierbei wirklich an Rathenaus Ausspruch den- meinen Protest an, er erwiderte irgendetwas Freundliches aber Unverbindli- ken, daß jedes Volk dal\ erlebt, wal\ es verdient? ches. Schließlich entwickelte sich daraus ein ungezwungens allgemeines Ge- spräch, in dessen Verlauf ich sagte: "Es würde mich interessieren, ob in Ihren Nach dieser Abschweifung möchte ich zur Sowjetunion zurückkehren, und maßgebenden Regierungskreisen bekannt ist, daß Ihr Regime fast identisch ist zwar zu einer dortigen Entwicklung, der man größte Beachtung schenken soll- . mit dem Regime, das wir von 1933 bis 1945 hatten." Antropow zögerte einen te. Ich meine das Erwachen der russisch-nationalen, ja, nationalistischen Ten-

- 126 - - 127 - denzen. Diese Tendenz wurde schon während des Krieges ganz bewußt von nisch -zivilisatorische Dinge bezogen, existierte bei den Russen auch ein messi- Stalin gefördert, um die Widerstandsfähigkeit des Volkes zu stärken. Alte rus- anistisch gefärbtes nationales Hochgefühl. Uns Deutschen ist diese Haltung sische Kriegshelden, berühmte zaristische Generäle und sogar die altherge- nicht unbekannt. Sollte nicht "am deutschen Wesen die Welt g,enesen"? Waren brachten griechisch -orthodoxen Traditionen mußten herhalten, um die natio- die Deutschen nicht Vertreter einer" höheren Rasse"? Solche nationalistischen nale Euphorie in den Dienst des Krieges zu stellen. Stalin persönlich überprüf~ Auswüchse haben ihre Wurzel fast immer in irgendwelchen versteckten Min- te und korrigierte in der Kriegs- und Nachkriegszeit die historischen Bücher derwertigkeitskomplexen. Wie dem auch sei: Wenn der gesunde, berechtigte und Filme, um das Her~ische der russischen Kriegsgeschichte hervorzustrei- Nationalstolz in einen messianistischen Nationalismus umschlägt, dann hört ehen, so z.B. ein Buch über den russisch-japanischen Krieg und sämtliche hi- der gute ru..lOisischeoder nichtrussische Mensch auf, und es beginnt der gemein- storischen Filme. Ich erinnere mich an einen damaligen historischen Kriegs- gefährliche Weltverbesserer. marine-Film aus der Zeit des russisch-japanischen Krieges, in dem ein heldi- scher russischer Admiral die Hauptrolle spielte. Historisch war der Film völlig Man sollte diese russisch-nationalistischen Tendenzen hinter der sozialisti- korrekt. Der überaus soignierte Admiral, ein grandseigneur par excellence, in schen Weltbeglückungsfassade nicht unbeachtet lassen. Im übrigen haben die seiner riesigen Luxuskabine vornehm agierend, machte einen menschlich und Russen auch alle Berechtigung dazu, ein starkes NationalbewuBtsein zu haben. militärisch so großartigen Eindruck, daß man nachträglich die Herren Revolu- ihr Reich besteht über tausend Jahre. Es hat eine zum Teil stolze Geschichte, tionäre fragen möchte: War es wirklich nötig, die russische Oberschicht, die es besitzt eine ungeheure AlOisimilationskraft.Allein die russische Sprache, solche Prachtmenschen hervorbrachte, totzuschlagen? Wäre der Film schon in Musik und Literatur berechtigen die Russen, stolz auf die Zugehörigkeit zu

;;- der Zarenzeit erschienen, so hätte der Zar den Regisseur in den Adelsstand er- 111 diesem Volk zu sein. 1,- hoben, und die" Linken" hätten ihn des Chauvinismus bezichtigt. j': Während der Zeit, die wir in der Sowjetunion verbrachten, trieb der Sta- Nach der siegreichen Beendigung des "zweiten großen vaterländischen lin-Kult üppige Blüten. Stalin war der" geniale Feldherr", der gütige" Vater Krieges" stieg die nationale Welle begreiflicherweise noch höher. Der Aufstieg der Völker", der weise" große Gelehrte". Hitler, der sich nur schlicht" größter Sowjet-Rußlands zur Weltmacht, die rapide Zunahme der militärischen Stär- Feldherr aller Zeiten" ("Gröfaz") nennen ließ, hätte neidisch werden können. ke, die Sputnik-Erfolge, alles dies steigerte und steigert die nationale Euphorie Die Huldigungen für Stalin nahmen nahezu groteske Formen an. Bei den feier- noch weiter. - Ein überaus typisches Beispiel für diese Haltung möchte ich lichen Versammlungen 'zum 1. Mai und zum Jahrestag der ~ktober-Revolu- anführen. Als ich gegen Ende der vierziger Jahre in einem Moskauer Schall- tion, zu denen ich als Held der sozialistischen Arbeit und Stalinpreisträger plattengeschäft stand, trat ein gutgekleideter Herr von etwa 50 Jahren herein stets eingeladen wurde und am Präsidententisch zu sitzen hatte, wurde gleich und fragte nach Beethoven - Platten. Er bekannte sich schwärmerisch als Beet- zu Beginn verkündet, es sei der Antrag eingegangen, an Genossen Stalin ein hoven-Verehrer. "Wissen Sie", sagte er zur Verkäuferin "für mich ist Beet- Begrüßungstelegramm zu schicken. Danach brach ein minutenlanger Beifall hoven kein Deutscher, sondern ein Russe!" Ich erkannte in dieser Äußerung aus. Das bereillOiverfaßte, ellenlange Telegramm wurde verlesen. Nach dem Töne, die ich schon im alten Rußland gehört hatte. Neben den damaligen rus- Verlesen brach wieder minutenlanger Beifall aus. Solches geschah in sämtli- si~chenMinderwertigkeitsgefühlen, die sich haupllOiächlichauf soziale und tech- chen Fabriken und anderen Institutionen des Landes. Bei der Feier zU Stalins

- 128 - - 129 - 70-stem Geburtstag brach jedesmal, wenn die Worte" Stalin" oder" Jossif wa mit Entrüstung, wie es unsereiner wohl getan hätte. Vielmehr hielt er eine Wissarionotilliich" fielen, ein Beifallsorkan aus, der jeweils bis zur physischen Rede etwa folgender Art: "Genossin N. hat mir Verführung Minderjähriger Erschöpfung der Beifallsklatschenden dauerte. - Als Stalin starb, brach eine vorgeworfen. Genossen! Verführung Minderjähriger ist ein schweres Verbre- allgemeine Trauer- und Schmerzhysterie aus, wie sie in der Geschichte der chen! Verbrechen dieser Art dürfen in unserem sozialistischen Staat nicht ge- Menschheit wohl kaum sonst zu finden ist. Im Studentenheim zum Beispiel, in duldet werden; ich weiß die kommunistische Wachsamkeit der Genossin N. li li dem meine Tochter mit acht anderen Studentinnen wohnte, warfen sich die hoch zu schätzen, und ich kann sie jedem als Vorbild empfehlen ... " In die- Mädchen auf ihre Betten und heulten erbärmlich. Von der Massenpsychose sem Stil redete er noch weiter, bis er schließlich dazu kam, daß er gar nicht ergriffen, heulte meine Tochter mit. Bei uns in Agudseri, am Schwarzen Meer, daran gedacht hätte, Minderjährige zu verführen. Mit einem nochmaligen wurde ein Trauer-Meeting einberufen. Die sowjetischen Funktionäre baten Dank an Genossin N. schloß er seine Rede. Es wurde ein voller Erfolg: Genos- mich, auch im Namen der deutschen Spezialisten etwas zu sagen. Ich zog mich sin N. sonnte sich im Bewußtsein, Mittelpunkt der Versammlung gewesen zu au..~der Affäre, indem ich meine Rede auf dem Tenor aufbaute: "Wir arbeiten sein, das Publikum genoß das prickelnde Schauspiel, und alles war in bester nun schon seit Jahren mit Euch Schulter an Schulter, wir sind uns dadurch Ordnung. Der Oberst stellte mir gegenüber dieses Vorkommnis nicht et~a als nähergekommen. Eure Freude ist unsere Freude, Euer Leid ist unser Leid." So eine einmalige, ungewöhnliche Ausnahme, sondern als etwas durchaus Übli- kam eine schöne Rede zustande, bei der ich mir nichts vergeben mußte. Die ches, ja Typisches dar. Ich weiß nicht, welche psychologischen Wurzeln das anderen Redner schleimten sich in herzzerreißend traurigen Reden aus. Einer menschliche Verhalten in solchen Fällen hat. Ist es etwas typisch Russisches? brach mitten in der Rede schluchzend zusammen und verließ das Rednerpult. Oder Sowjetisches? Muß man das mit der Schuldbekenntnisfreude im Sinne - Zu der Zeit, als Chruschtschev den großen Stalin zum besseren Verbrecher von Dostojewski in Parallele setzen? Oder mit der Freude an der Beichte, am abstempelte, waren wir schon nicht mehr in der Sowjetunion. seelischen Exhibitionismus bzw. Masochismus, wie sie auch anderswo zu beobachten ist? Mangels Kompetenz beschränke ich mich auf die Registrie- Einen eigenartigen, mir nicht recht verständlichen Zug des dortigen öffent- rung der Erscheinung. lichen Lebens möchte ich noch erwähnen. Noch in Berlin, kurz vor dem Ab- transport nach der Sowjetunion, sagte mir einer der mir wohlgesonnenen jun- In den Wirkungsbereich der kommunistischen Partei wurde keiner der gen NKWD -Offiziere, ich solle mich dort nicht scheuen, im Falle irgendwel- deul~chen Spezialisten einbezogen. Meine Erfahrungen auf diesem Gebiet sind cher Mißerfolge die Schuld auf mich zu nehmen und die eigene Unzulänglich- daher nur sporadisch. Obschon die Parteifunktionäre keine sichtbaren admini- keit offen zur Diskussion zu stellen. Ganz erfaßt habe ich diesen Rat nicht, strativen Funktionen ausübten, war ihr Einfluß unverkennbar. Die Partei aber ich habe ihn mir gut gemerkt. Ich wurde an ihn erinnert, als mir der wirkte "hinter den Kulissen" als Kontroll- und Überwachungsorgan, wobei Oberst Uralez, der nette Objektchef im Ural, einmal gesprächsweise erläuterte, sich diese Aufsichtliifunktionauf das ideologische, berufliche und moralische wie man sich zu verhalten hat, wenn man irgendeines Vergehens beschuldigt Wohlverhalten aller Parteimitglieder bezog. In Elektrostal war der örtliche wird. Er erläuterte dies an einem Beispiel aus dem eigenen Leben. Bei einer Parteivorsitzende bei allen besonders wichtigen großen Besprechungen anwe- örtlichen Parteiversammlung meldete sich eine Frau zu Wort und warf ihm, send, jedoch ohne in die Diskussion einzugreifen. Die "Zensuren" wurden von dem Objektchef, Verführung Minderjähriger vor. Darauf reagierte er nicht et- ihm wohl erst in seinen Berichten an die übergeordnete Parteiinstanz und zum

- 130 - - 131 - Teil auch in den örtlichen Parteiversammlungen erteilt. Insgesamt ähnelte die unabhängig von ihrem ethischen Wert oder Unwert - sich vor Augen zu hal- Rolle der Partei der der Kirche im europäischen Mittelalter. Ein Parteiaus- ten. Der primitive Götterkult, die ethisch fundierten neuzeitlichen Religionen, schluß wirkte sich für den Betroffenen ebenso katastrophal aus wie seinerzeit das monarchische Prinzip, der Nationalismus, der Sozialismus, die a,lle fun- die Exkommunikation. Unser Fabrik~irektor fuhr sehr oft nach Moskau ins gierten oder fungieren, politisch gesehen, als verlängerter Arm der Macht. Sie Zentralkomitee (" ZK") der Partei. Er war ein sehr ehrgeiziger Mann und alle übten oder üben eine staatserhaltende Funktion aus, denn, primitiv aus- strebte offenbar den Posten eines stellvertretenden Ministers an, wofür er ein gedrückt, es ist leichter, die Leute" bei der Stange zu halten", wenn man ihnen gutes Ansehen bei der Partei brauchte. Direktoren großer und wichtiger Fabri- eine halbwegs glaubhafte Idee einprägt, als wenn man jedem einzelnen mit der ken stiegen in der Sowjetunion sehr oft zu stellvertretenden Fachministern auf. Peit"iche nachlaufen müßte. Im alten Rußland spielte die griechisch -orthodoxe , Bekanntlich gab es dort eine Vielzahl an Ministerien für alle möglichen Zweige Religion die allergrößte Rolle als staatserhaltende Ideologie. Man kämpfte und ;,:der Industrie, der Wirtschaft und des Verkehrswesens. Politischen Einfluß hat- opferte sich "für den Glauben, den Zaren und das Vaterland". Der Glaube ten aber nur die "klassischen" Minister, wie etwa der Innenminister, der stand an erster Stelle, noch vor dem Zaren! Man kämpfte mit den "ungläubi- Außenminister und dgl. . Von diesen habe ich nur Beria kennengelernt. Ein- gen" Tataren oder Türken, mit den andersgläubigen Polen, aber nich~ mit den mal habe ich auch noch den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sow- L griechisch -orthodoxen Georgiern (Grusiniern). Jeder, der Rußland kennt, I jets Schwernik im Kreml kurz gesprochen, weil er mir den goldenen Stern kann bestätigen, daß bei den Russen die Fähigkeit und Bereitschaft, sich für eines helden der sozialistischen Arbeit und den Lenin -Orden zu überreichen eine Idee einzusetzen und sogar zu opfern, stärkstens ausgeprägt ist. Im alten hatte. Es war ein freundlicher, gepflegter Herr, der damals denselben Posten Rußland war es die Religion, die diese Idee darbot. In neuerer Zeit kamen innehatte wie später Podgorny, d.h. den eines Repräsentanten des Staates. andere Ideen als enthusiasmierendes Stimulans auf. Die russischen Revolutio- näre begingen ihre Attentate nicht aus einem sicheren Versteck heraus, wie Bei Schilderungen über die Haltung der sowjetischen Bevölkerung kommt unsere heutigen Terroristen, sie warfen meist ihre Bomben dem Attentatsopfer oft die Frage zur Diskussion, ob und wieweit die Religiosität in der Sowjet- vor die Füße und opferten sich dabei selbst. - Beim Befolgen einer Ideologie union eine Rolle spielt oder künftig spielen könnte. Die Touristen bekommen sind die Russen stärker noch als manches andere Volk auf Symbole program- dort die überfüllten Kirchen zu sehen und schließen daraus oft auf die Bedeu- miert. Wenn man im alten Rußland sah, mit welcher Inbrunst mancher Gläu- tung der Religiosität im heutigen Rußland. Eine solche Schlußfolgerung ist je- bige sich bekreuzigte, konnte man glauben, die Bekreuzigung sei nicht ein doch nicht berechtigt, denn die allermeisten der unzähligen russischen Kirchen Symbol, sondern der Inhalt seines Glaubens. Diese Freude am Befolgen und sind geschlossen, und das, was die Touristen' beobachten, ist ein Effekt der am Gebrauch von Symbolen aller Art ist überhaupt tief im russischen Wesen Konzentrierung der Gläubigen auf die wenigen noch vorhandenen Kirchen. verwurzel t. Daher die so ausgeprägte Liebe des Russen zum Klang und zur Ein größeres Gewicht hat vielleicht die Tat"iache, daß man auch recht viel jun- Ausdruckskraft der russischen Sprache, seine Neigung, beim Sprechen manche ge Leute unter den Gläubigen antrifft. Jedoch darf man auch hieraus keine di- Worte oder Namen mit sonorer Stimme oder mit singsangartiger Überbeto- rekten Schlüsse auf die Rolle der Religion in den dortigen politischen Entwick- nung hervorzuheben, sein Hang zur bildhaften Formulierung, seine tänzerische lungstendenzen ziehen. Ich glaube, daß man bei der Diskussion hierüber zu- Veranlagung. - Wenn wir nun zu der Frage nach der zukünftigen Bedeutung nächst versuchen soll, den politischen Stellenwert von Ideologien überhaupt - der russischen Religiosität zurückkehren, so möchte ich meine Meinung auf

- 132 - - 133 - Grund der Kenntnis des alten und des neuen Rußland wie folgt formulieren: schah in der Küche unseres Hauses, während ich im Eßzimmer beim Früh- Man sollte die" religiöse" Veranlagung des russischen Volkes als Ausdruck stück saß. Ich hörte das Dankesgestammel der Putzfrau und dann aber einen einer allgemeinen Veranlagung sehen, nämlich einer allgemeinen Neigung, leisen Aufschrei meiner Frau. Hiernach lief die Putzfrau ins Eßzimmer, um- sich einer Ideologie begeistert zuzuwenden und ihr zu dienen. Entscheidend für armte meine Beine und küßte mir die Füße. Meine Frau kam hinterher ge- unsere Frage ist nun aber, daß es der sowjetischen Führung inzwischen restlos rannt und rief entsetzt: "Sie küßt uns ja die Füße!" Sie war sehr empört, daß gelungen ist, diese Begeisterungsfähigkeit in eine neue, ihr genehme Bahn um- ich mich nur wenig wehrte und ruhig weiter frühstückte. Hier begegneten sich zulenken, in die der sozialistischen Ideologie mit gewissen, nicht übersehbaren Menschen aus drei verschiedenen Welten: die Mitteleuropäerin, die einfache nationalistischen Zügen. Die früher so ausgeprägt gewesene russische Fähigkeit Frau aus dunkelster russischer Provinz und der geborene Petersburger, dem zur religiösen Haltung ist in den Dienst anderer ideologischer Ziele getreten. zwar bis dahin niemals die Füße geküßt wurden, auf den aber doch wohl da"i Die neue Haltung ist durch Gewohnheit und durch neue Symbolik schon so alte Rußland so stark abgefärbt hat, daß ihn das Füßeküssen gar nicht sonder- fest einprogrammiert, so "zementiert", daß ein einschneidender Kurswechsel in lich empörte. absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Der Subordinationsgeist wurde nicht allein durch das Diktatur - Regime als Die eben besprochene Umschaltung der Sowjetmenschen auf die neue solches, sondern auch durch die Wirtschaftsstruktur des Landes gefördert. In Ideologie war nicht etwa ein Produkt offener Diskussionen und freiheitlicher unserer Fabrik beispielsweise waren alle Einrichtungen, die die Fabrikbeleg- intellektueller Überzeugungsarbeit. Es war ein Produkt des diktatorischen schaft bedienten, d.h. das Lebensmittelgeschäft, die Schule, der Kultur-Club, Druckes, des Einhämmerns der neuen Losungen seitens der Obrigkeit, ähnlich die Wohnhäuser usw. mehr oder weniger von der Fabrikleitung abhängig. Ein wie bei uns in der Hitlerzeit. Die Masse des russischen Volkes hatte ja kaum Fabrikangehöriger mußte daher nicht nur im dienstlichen, sondern auch im Zeit gehabt, sich an ein freiheitliches Regime zu gewöhnen und ein devotes privaten Bereich dem Willen des Fabrikdirektors folgen. Hinzu kam, daß ein Verhalten gegenüber der Obrigkeit voll abzulegen. Am Tage der Oktober-Re- Hinüberwechseln in eine andere Fabrik oder an einen anderen Ort äußerst volution waren nur wenige Monate. seit dem Sturz des zaristischen Systems schwierig war. Bei unserer Fabrik war es aus Geheimhaltungsgründen fast un- und nur etwa 50 Jahre seit der Abschaffung der Leibeigenschaft vergangen. möglich. Es war für die Arbeitnehmer ein ähnliches, an Sklaverei grenzendes Wenn man von den intellektuellen Schichten absieht, so fand für das Volk ein Abhängigkeil"iverhältnis wie in früheren Zeiten die Abhängigkeit eines Bauern fast nahtloser Übergang aus einem Obrigkeitsregime in ein anderes Obrigkeil"i- von dem Gutsherm, zu dessen Einflußbereich er gehörte. - Ich erlebte es regime statt. Ich war manchmal erstaunt über die Subordinationsbereitschaft mehrfach, daß der Fabrikdirektor einen Angestellten in Du - Form anredete der dortigen Menschen. Ich bekam mehrfach den noch aus der Zarenzeit stam- und beschimpfte, während der Betreffende devot dastand. (Das bezieht sich menden Ausdruck zu hören: "Die Obrigkeit sieht mehr" (natschalstwu widne- allerdings nicht auf den schon oft erwähnten "sympatischen General", der in je). In einem Einzelfall, der allerdings wirklich nur ein Einzelfall blieb, haben der Anfangszeit Fabrikdirektor war und der auch dann noch menschlich wirk- wir sogar ein Verhalten beobachtet, das vom Verhalten eines Leibeigenen nicht te, wenn er jemand ausschimpfen mußte.) - Ein weiteres Beispiel: Als einmal zu unterscheiden war. Im Ural schenkte meine Frau unserer Putzfrau, einer die Fußballmannschaft unserer Fabrik gegen die einer anderen Fabrik verlor, sehr armen einfachen Frau, einen guterhaltenen gebrauchten Mantel. Das ge- drohte der Direktor den Leuten allen Ernstes, sie im Wiederholungsfall in

-134- - 135 - ihren Dienststellungen herabzusetzen (!). konnten. In den Jahren unseres Dortseins (1945-1955) waren solche Ansätze nur potentiell vorhanden. Es war die starke, wenn auch unerfüllte Sehnsucht Nachdem ich bei Schilderung der Lage sowjetischer Arbeiter das Wort der Menschen nach mehr Komfort, mehr Abwechslung, mehr Farbe, die wir Sklaverei verwenden mußte, sei mir doch ein kurzer Exkurs zu diesem Thema wahrnahmen. Ein sehr typisches Beispiel hierfür sei erwähnt. Wir Deutsche erlaubt. Selbst wenn man annehmen kann, daß sich inzwischen dort die Bin- erhielten nur ostzonale deutsche Zeitungen, deren Lektüre nur deswegen nicht dung der Werktätigen an ihre Betriebe gelockert hat, bleibt doch die Tatsache völlig wertlos war, weil wir in der Ritlerzeit gelernt hatten, zwischen den Zei- bestehen, daß dort der Staat neben seiner Rolle als Legislative und Exekutive len zu lesen. Unsere Freude war groß, als es einigen von uns gelang, auch ein auch noch die Rolle des einzigen Arbeitgebers spielt. Ist damit nicht bereits westliches Presseerzeugnis abonniert zu bekommen, nämlich die Frauenzeit-

der Tatbestand der Sklavenhaltung erfüllt? Da der Staat überdie..<;von einer schrift 11 Konstanze" , die als Modezeitschrift deklariert werden konnte. Die '~einen Personengruppe diktatorisch regiert wird und dies auch noch unter sowjetischen Frauen rissen uns die Zeitschrift förmlich aus der Hand. Selbst Einhaltung strengster ideologischer Ausrichtung, so kann man nicht umhin, ganz linientreue Parteimitglieder riskierten einen verstohlenen Blick auf die sich zu fragen: Ist da ein neues Mittelalter im Anmarsch? War die liberale hübschen Bilder in dieser Zeitschrift. Gegen solch ein elementares Sehnen . Epoche nur eine Episode in der Geschichte der Menschheit? Auch manche nach Schönheit und Farbe wird auch in der Sowjetunion auf Dauer kein Kraut Entwicklungen bei uns im Westen stoßen einen auf derartige Gedanken, wenn gewachsen sein. - Aber greifbarer und wichtiger sind die Wahrnehmungen, auch mit zunächst anderer Begründung. Bei uns ist es die ausufernde Techni- die ich später, schon in Deutschland, machen konnte, wenn ich hier mit sow- sierung, die uns immer mehr zu Sklaven unserer Maschinen und Computer jetischen Wissenschaftlern zusammentraf, insbe..<;onderemit den jüngeren. Seit macht. Sind die Tage der Freiheit gezählt? Wann schiießt sich die 11 Schere", etwa Beginn der Siebzigerjahre hat sich ihre Haltung drastisch verändert. Sie die von der Technisierung einerseits und der Staatsgewalt andererseit<;gebildet sind viel aufgeschlossener, sprechen freier und verstecken sich nicht hinter den wird? Ist di,e liberale Gesinnung nicht nur ein Luxus gewesen, den man sich früher üblich gewesenen Ausflüchten und Parolen. Ich konnte ihnen ungeniert um die Jahrhundertwende innerhalb der müden Monarchien leisten konnte, Geschichten von der Art der in die..<;emBuch geschilderten erzählen, ohne daß die - wie jeder ältere Mensch bezeugen kann - erstaunlich tolerant waren, sie sich auch nur im geringsten gekränkt fühlten. Sie hörten meist mit ge- wohl nicht wissend, daß sie schon auf tönernen Füßen standen. Unwillkürlich spannten Interesse zu, denn e..<;waren ja Bilder aus der jüngsten Geschichte drängt sich ein Vergleich dieser Monarchien mit der Nachsichtigkeit vieler. ihres Landes, Bilder, die ihnen im eigenen Lande vorenthalten oder in plump alter Menschen auf, die darauf beruht, daß der Alte schon die meisten Dumm- verzerrter Weise geboten werden. Allerdings spürten sie bei meinen Schilde- heiten gemacht hat, die der Jüngling erst zu machen gedenkt. Man nennt so rungen, daß bei aller Kritik und Verulkung niemals Mißgunst dabei war.. - etwa<;Weisheit des Alters. Diese Weisheit ist etwas Schöne..<;,doch vor dem Hoffen wir, daß sich die gegenwärtige politische Entwicklung in dem großen baldigen Tod schützt sie nicht. - Wie dem auch sei, so lange man dafür noch Staat fortsetzt und vielleicht auch die Nachbarn erfaßt! nicht eingesperrt wird, möchte ich in den Ausruf einstimmen: vive la liberte!

Nun zurück zu meinem Thema, und zwar zu der wichtigen Frage, ob wir Ansatzpunkte für eine Lockerung des sowjetischen Regimes wahrnehmen

- 136 - - 137 - \"

17. Dm LYSSENKO-AFF ÄRE

Dies ist ein trübes Kapitel in der Geschichte der Beziehungen des Sowjet- staates zur Wissenschaft. Ende der vierziger Jahre wurde eine Kampagne ge- gen die auf den Arbeiten von Mendel, Weismann und Morgan beruhende neu- zeitliche Genetik entfacht. Als Hauptakteur dieser Kampagne fungierte der Züchtungswissenschaftler T.D. Lyssenko. Es ist schwer, im einzelnen festzu- stellen, welche Personen und Motive für die Entstehung dieser Kampagne ent- scheidend waren. Die Motive waren jedenfalls überwiegend politischer Natur, und als entscheidende Person muß man wohl letzten Endes Stalin selbst an- sehen, denn ohne seinen Segen konnte keine offizielle Stellungnahme zu ir- gendeinem Wissenschaftszweig oder Kunstwerk zustandekommen. Jeder neue Roman, jeder neue Film wurde ihm zur Beurteilung vorgelegt. und von. ihm genehmigt oder abgelehnt. Sehr oft wurden auf seine Veranlassung Änderun- ., 1 gen vorgenommen, falls die ursprüngliche Fassung ihm nicht gefiel. Diese Ein- flußnahme wurde nicht einmal verschwiegen und manchmal sogar öffentlich betont, um den künftigen Autoren von vornherein" den richtigen Weg" zu wei- sen. Bei der Diskussion naturwissenschaftlicher Fragen geschah eine derartige Einmischung seitens Stalin oder der Partei seltener, doch wenn sie geschah, war sie unumstößlich, denn schließlich war Stalin - wie in Kapitel 16 geschil- dert - nicht nur der größte Staatsmann und Feldherr aller Zeiten, sondern auch ein großer Gelehrter. Es scheint übrigens, daß die Machtfülle und dau- ernde Beweihräucherung der Diktatoren bei diesen selbst ein Gefühl der Un- fehlbarkeit erzeugt, und daß sie daher gelegentlich "im guten Glauben" in Din- ge eingreifen, für die sie eigentlich gar nicht zuständig sind. Ganz schlimm wird es, wenn sie glauben, von einer Sache wirkEch etwas zu verstehen. Zu einer solchen meistens schädlichen Einmischung neigen nicht nur Diktatoren.

- 139 - Es ist wohlbekannt, daß beispielsweise in der Industrie es manchmal besser ist, kers S.!. Wawilow, der in den vierziger Jahren Präsident der Akademie der wenn der Chef nur Menschenkenntnis, gesunden Menschenverstand und son- Wissenschaften der UdSSR war. Erst um 1960 herum, nach dem Zusammen- stige "Führungsqualitäten" besitzt, sich aber nicht auch noch als Ingenieur bruch des Lyssenkoismus wurde N.!. Wawilow "rehabilitiert".) - Irreparablen oder Wissenschaftler bei der Lösung spezieller Probleme beteiligen zu müssen Schaden hat die Lyssenko-Hysterie der sowjetischen Wissenschaft zugefügt. glaubt. Es gibt diesbezüglich eine treffende Äußerung des Dirigenten Furt- Um Repressalien zu entgehen, mußten viele Genetiker in widerlichen "selbst- wängler. Er wurde gefragt, wieso es kommt, daß er seine künstlerische Tätig- kritischen" Reden ihre" Schuld" bekennen und Besserung geloben. keit ohne störende Einflußnahme Hitlers ausüben kann. Er antwortete: "Das liegt daran, daß Ritler kein ausübender Musiker ist. Aber was glauben Sie, wie Obschon ich kein Biologe bin, hat die Lyssenko-Kampagne auch mich ~.chwermeine Lage wäre, wenn der Führer hätte Mundharmonika spielen kön- berührt, wenn auch nur am Rande. Ich hatte nämlich Ende der vierziger Jahre nen!" ein Buch über strahlungslose Übertragung der Quanten-Energie ("Energie- wanderung") in unbelebter und belebter Materie geschrieben. Im biologischen Die offizielle Begründung der Kampagne lautete, die zu bekämpfende Ge- Teil dieses Buches wurde auch ausdrücklich auf die Arbeiten von Timofejew- netik sei eine idealistisch -metaphysisch begründete bürgerliche Wissenschaft, Ressowski, K.G. Zimmer und M. Delbrück über strahleninduzierte Gen- die keine Beziehung zur Praxis der Landwirtschaft habe und den Aufbau der Mutationen Bezug genommen. Ich schrieb das Buch zunächst deutsch und sowjetischen Landwirtschaft sogar verhindere. Aus den damaligen Verlautba- übersetzte es dann ins Russische. Herr Zimmer übersetzte es auch noch ins rungen habe ich auch noch eine weitere Begründung herausgelesen, daß näm- Englische. Ein angesehener sowjetischer Staatsverlag beschloß, das Buch her- lich diese Genetik eine Grundlage für den Rassismus liefere, da sie Arten- auszugeben. Mir wurde vom Verlag ein junger sowjetischer Biophysiker beige- Änderungen im lamarckistischen Sinne und Vererbung erworbener Eigenschaf- geben, mit dem wir das Manuskript druckfertig machten. Unter anderem em- ten negiere. - Der an sich verdienstvolle, schon 1935 verstorbene russische pfahl mir der junge Mann, in der Einleitung zum biologischen Teil den Namen Agrarbiologe J. W. Mitschurin wurde post mortem als "Vaterfigur" der von von N.K. Kolzow als "genius loci" zu erwähnen. Ich tat dies sehr gern, denn Lyssenko propagierten Vererbungslehre herausgestellt Russische Biologen und ich wußte um die Verdienste Kolzows, den man eigentlich zu den Urhebern Züchter, die ins Lyssenko'sche Konzept hineinpaßten, wurden überhaupt ganz der heutigen Molekularbiologie rechnen darf. Das Buch wurde gedruckt, schön groß herausgestellt und gepriesen. Eine nationalistische Tendenz dieses Bestre- gebunden und bei allen Buchhandlungen angekündigt. Bei einem Besuch im bens war hier ebenso unverkennbar, wie in vielen sonstigen Äußerungen der Verlag zeigte mir ein Verlagsangestellter die fertigen Autoren-Exemplare des Sowjet- Propaganda. - Für die russischen Biologen und Genetiker war die Buches. Hätte ich eine Aktentasche bei mir gehabt, so hätte ich die Bücher Lyssenko- Kampagne insofern besonders tragisch, als. gerade Rußland eine gleich mitnehmen können, ich hatte aber keine bei mir. Ohne Aktentasche, ganze Palette hervorragender Forscher hervorgebracht hat, die große Verdien- d.h. als extra Paket, konnte ich sie nicht ohne Passierschein aus dem Verlags- ste um die Entwicklung der Genetik im Mendel-Weisman-Morgan'schen Sin- gebäude herausbringen. Der Passierschein hätte vom Chefredaktuer unter- ne aufzuweisen hatten, wie etwa N.K. Kolzow, N.!. Wawilow, N.P. Dubinin, schrieben sein müssen, dieser war aber abwesend Wir beschlossen, daß ich die N.W. Timofejew-Ressowski. (N.I. Wawilow, der 1942 in der Verbannung ver- Bücher bei meinem nächsten Besuch in Moskau abhole. (Ich besuchte Moskau . storben ist, war der Bruder des in Kapitel 18 erwähnten bedeutenden Physi- von Elektrostal aus sehr oft.) Eine Woche später besuchte ich den Verlag wie-

- 140 - - 141 - der, diesmal mit Aktentasche. Beim Betreten des Verlagsgebäudes wurde ich suchte, andere, bessere Erklärungsmöglichkeiten gibt. Meine damalige Liebe zum Chefredakteur gebeten. Da um jene Zeit (1948) schon die ersten Lyssen- zur Biologie könnte man also vielleicht als "unglückliche Liebe" bezeichnen. ko- Wolken am genetischen Himmel aufzogen, ahnte ich gleich Böses. Der Doch ganz unglücklich war sie insofern nicht, als aus meinen damaligen Be- Chefredakteur eröffnete mir, daß das Buch nur nach völliger Überarbeitung mühungen Anregungen für weitere Untersuchungen erwuchsen, die dann doch des biologischen Teils erscheinen könnte. Als ganz besonders schlimm bezeich- noch interessante Resultate erbrachten, wie etwa die über die protonische nete er es, daß ich Timofejew-Ressowsky wohlwollend erwähnte und sogar Elektroleitfähigkeit in Eis und in manchen biologisch wichtigen Stoffen ("pro- Kolzow lobte! Noch vor wenigen Monaten sollte ich Kolzows Namen zum tonischen Halbleitern" ). Ruhme der sowjetischen Wissenschaft lobend hervorheben, und nun war der- selp'e Kolzow ein Stein des Anstoßes! Ich weiß nicht, ob man über solche ty- Schwererwiegend ~ar der Schaden, der durch die Lyssenko-Affäre meinen pisch sowjetischen Kehrtwendungen lachen oder weinen soll. Mit entwaffnend Kollegen N.W. Timofejew-Ressowsky und K.G. Zimmer entstanden ist. Sie treuherzigem Augenaufschlag und innerste Überzeugung offenbarendem Blick haben gegen Ende des Krieges ein Buch" Über das Trefferprinzip in der Bio- behaupten die Sowjet-Menschen, auf einen Wink von oben, heute das Gegen- logie" geschrieben, das eine Zusammenfassung ihrer eigenen und sonstiger teil von dem, was sie noch gestern behauptet haben. (Solches Verhalten be- Arbeiten über strahleninduzierte Gen-Mutationen und verwandte Gebiete dar- obachtete ich öfters, so zum Beispiel nach der Liquidierung Berias.) Die jahr- stellte. Das Buch wurde 1947 in Leipzig herausgegeben. Schon 1948 fiel es der zehntelange Erziehung zur Charakterlosigkeit, Unaufrichtigkeit und kriecheri- Lyssenko-Kampagne zum Opfer und wurde eingestampft. Die ostdeutschen scher Liebesdienerei gegenüber der Obrigkeit hat sich voll ausgewirkt. Haben Behörden folgten prompt dem Beispiel des "großen Bruders". Ich entsinne hierfür Generationen freiheitsliebender Russen gekämpft und gelitten?! mich, daß dies Herrn Zimmer, der damals schon in der Sowjetunion war, sehr getroffen hat, denn das Buch war ein Niederschlag vieljähriger Arbeit seines So kam ,es, daß das mit viel Fleiß in drei Sprachen geschriebene Buch der Lebens. Mitwelt vorenthalten geblieben ist. Nicht einmal der Autor selbst konnte ein' Exemplar als Erinnerungsstück behalten. Später erfuhr ich allerdings, daß In Sungul, wo unser Institut sehr viel mit Biologie zu, tun hatte, bekamen manche sowjetischen Wissenschaftler auf irgendwelchen Schleichwegen doch wir den Einfluß der Lyssenko-Affäre stark zu spüren. Zwar durften wir uns noch eine Reihe von Exemplaren meines Buches ergattert haben. In einer spä- dort sowieso nicht mehr mit genetischen Problemen beschäftigen, aber der teren russischen Veröffentlichung fand ich es sogar zitiert. Es entbehrt nicht Geist der Lyssenko-Kampagne uferte inzwischen aus und griff auch auf ande- der Komik, daß ein Buch, das nie erschienen ist, zitiert wird. Ein sowjetischer re Gebiete der Wissenschaft über. Die Partei hielt es für nötig, nicht nur die Wissenschaftler, den ich später bei einer internationalen Tagung außerhalb der Biologie, sodern sogar auch die Grundlagen der Chemie und Physik unter die Sowjetunion traf, hat sich sogar noch lobend über das Buch geäußert. Lupe zu nehmen und zu revidieren. Dies geschah wieder mit stark sowjetisch:- nationalistischen Tendenzen. Jede noch so unsolide sowjetische "Entdeckung" Mich selbst hat das Nichterscheinen dieses Buches nicht sonderlich hart wurde aufgegriffen und aufgebauscht. Manche dieser" Entdeckungen" grenzten getroffen. Schon nach wenigen Jahren zeigte '~ sich nämlich, daß es für einige sogar schon an Scharlatanerie. Alle neueren Theorien, die aus dem Westen biologische und biochemische Erscheinungen, die ich im Buch zu erklären ver- kamen, wurden auf ihren "idealistisch-kapitalistisch~n" Inhalt abgeklopft und

- 142 - - 143 - J): entsprechend gewertet. Aus irgendeinem, mir nicht ganz verständlichen Grun- de waren die Sowjet-Ideologen besonders auf die sogenannte "Resonanzthe(}- rie" der chemischen Bindung böse. Vielleicht war es die Unanschaulichkeit dieser Theorie, die ihren Zorn erregte. Jedenfalls wurde eine regelrechte Kam- pagne gegen diese Theorie in der ganzen Sowjetunion inszeniert. Auch in un- serem Sunguler Institut wurde 'ein sowjetischer Chemiker dazu verdonnert, einen ablehnend-kritischen Vortrag über die Resonanztheorie zu halten, ob- schon unsere Institutsarbeiten nichts damit zu tun hatten. - Der Partei -Ein- fluß wurde sofort wachgerufen, wenn eine Theorie philosophische Elemente en~hielt, oder wenn die Partei-Philosophen solche Elemente in ihr zu erken- nen glaubten. Der bekannte sowjetische theoretische Physiker D. Blochinzew hatte zu jener Zeit ein Buch über die Quantenmechanik geschreiben. Die etwas ins Philosophische gehende Einleitung zu diesem Buch mißfiel der Partei, und so mußte der arme Blochinzew die Einleitung siebenmal umschreiben.

Ich habe in Kapitel 16 schon auf die vielen Ähnlichkeiten zwischen dem Bitler-Regime und dem Stalin-Regime hingewiesen. Ich kann hier noch eine weitere hinzufügen. Auch die Nazi - Partei versuchte, sich in die Wissenschaft einzumischen und eine" deutsche Physik" als Gegensatz zur "jüdischen Phy- sik" aufzubauen. Es gereicht den deutschen Physikern zu Ehre, daß die" deut- sche Physik" kaum Schaden anrichten konnte und schließlich in ihrer eigenen Lächerlichkeit versank.

Bild rechts oben: Das Haus bei Moskau, das die sowjetische Regierung dem Autor schenkte, das er aber nie bewohnt hat (Architektenskizze). (Vgl. S. 29, 71, 73 und 76 im Text).

Bild rechts unten: Der Autor im Wohnzimmer der Villa in Suchumi kurz vor ; der Heimkehr nach Deutschland. i

- 144 - ,J) 18. SCHLUSSWORT

Wenn ich auf das Geschriebene zurückblicke, so finde ich darin viel Epi- sodisches, Anekdotisches und gelegentlich sogar politische Witze. Ich glaube, daß dies alles für die Darstellung der Wirklichkeit förderlich sein könnte, denn das selbsterlebte Episodische ist echter als manche Verallgemeinerung, und auch den politischen Witz kann man aus dem Leben in Diktaturstaaten nicht wegdenken; er ist dort so etwas wie ein Sonnenstrahl in der Zelle eines Gefan- genen. Aber ich frage mich, ob nicht noch manche mit professoralem Ernst vorgebrachte verallgemeinerte Aussage hinzugefügt werden sollte. Der Leser könnte fragen, ob ich denn nicht auf Grund der intimen Kenntnis des bisheri- gen russischen und sowjetischen Lebens etwas zu sagen weiß, was in die Zu- kunft weist. Die einzige ganz ehrliche Antwort meinerseits wäre: "Ich weiß es nicht." Es ist schon schwer genug, die Vergangenheit voll zu durchleuchten. Wie schwer ist es erst, die Entwicklung in die Zukunft zu extrapolieren. Selbst äußerst erfahrene Politiker und Wirtschaftsexperten erweisen sich fast immer als falsche Propheten. Auf ihre Prognosen kann man sich kaum mehr verlas- sen als auf das Wahrsagen aus dem Kaffeesatz. Auch die heutigen Futurolo- gen, die es meist mit statistisch -quantitativen Methoden versuchen, haben es schwer, weil dabei die so wichtigen emotionellen Entwicklungen nicht zu fas- sen sind. Futurologie ist überhaupt ein Job, bei dem man ständig ein schlech- tes Gewissen haben sollte, denn sie ähnelt dem eines Kaufmanns, der sich eine Ware bezahlen läßt, die erst irgendwann in der Zukunft vielleicht geliefert wird.

Aber andererseits wird mir wohl kein Leser glauben, daß ich über die Zu- kunft in der Sowjetunion nicht wenigstens nachg~dacht habe. Völlig müßig

- 147 - wäre es nur, über Prognosen für den Fall etwaiger kriegerischer Verwicklun- ist es immerhin kein schlechtes Zeichen, daß man manche der sowjetischen gen nachzudenken, denn für diesen Fall besteht schon eine ausreichende Prog- Dissidenten außer Landes gehen läßt und daß ein Mann wie Sacharow gewisse nose, nämlich die von Einstein, der gefragt wurde, welche Waffen seiner Mei- politische Aktivitäten tätigen konnte. Noch vor dreißig Jahren wäre so etwas nung nach im dritten Weltkrieg eingesetzt werden. Er sagte: "Ich weiß es völlig undenkbar gewesen. Wenn die Liberalisierung anhält, kann man allen nicht. Aber ich weiß, welche Waffen im vierten Weltkrieg eingesetzt werden: Ernstes hoffen, daß bereits in wenigen Jahrzehnten ein Grad von Liberalität Speer und Keule." Für den Fall der Erhaltung des Weltfriedens lohnt es aber erreicht wird, wie er zur Zeit des letzten Zaren bestanden hat. Jeder, der jene schon, sich Gedanken zu machen. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei Zeit noch selbst erlebt hat, kann bestätigen, daß dies schon ein echter Fort- wohl die Frage, ob in der Sowjetunion ein grundsätzlicher Wechsel des Wirt- schritt wäre.

jf schaftssystems noch möglich ist. Ich möchte diese Frage mit einem glatten i: Nein beantworten. Möglich ist höchstens eine gewisse partielle Auflockerung in Doch genug der Futurologie, der Kritik, der rationalistischen Betrachtun- Richtung auf die Zulassung einiger beschränkter privatwirtschaftlicher Aktivi- gen! Ich bin am Ende meiner Schilderungen. Ein leises Gefühl der Wehmut täten, etwa in der Art, wie es in Jugoslawien und Ungarn geschieht. Ansonsten '. stellt sich ein, denn es ist wie ein zweites Abschiednehmen von der eigenen i aber sind die dortigen staatskapitalistischen Strukturen schon so zementiert Vergangenheit. Noch einmal wandert mein Blick über die Weiten Rußlands und die dazugehörigen Methoden so eingefahren, daß ein völliger Wechsel hinweg zu den dortigen Menschen. Ihrer angesichtig, möchte ich nur noch weder technisch noch psychologisch durchführbar wäre. Man könnte dagegen mein Gefühl sprechen lassen und mit den Worten schließen: Möge Dir weiteres einwenden, daß bei Erhaltung des jetzigen Systems der Lebensstandard des Leid erspart bleiben, Mütterchen Rußland! Sowj~tvolkessich kaum heben würde. Doch dies wäre kein Argument, sondern ein Wunschdenken. Wo steht geschrieben, daß sich der dortige Lebensstandard in absehbarer Zeit wiklich wesentlich heben wird? Hungern tut dort niemand, und die Sowjetmenschen können noch eine sehr lange Periode unter unverän- derten Lebensbedingungen überstehen. Im übrigen: Auch nichtprivate Unter- nehmen können funktionsfähig sein. Sogar im alten Deutschland, als wir noch die tadellos funktionierende Deutsche Reichsbahn besaßen, hat es geheißen, daß es drei Unternehmen gibt, die nicht in privater Hand sind und dennoch bestens funktionieren: Die Deutsche Reichsbahn, die preußische Armee und die katholische Kirche.

Zu der weiteren Frage schließlich, ob ich wenigstens eine gewisse Liberali- sierung des"sowjetischen Systems für möglich halte, möchte ich eine weit weni- ger skeptische Stellung einnehmen. Ich habe schon am Ende des vorigen Kapi- tels auf gewisse erfreuliche Tendenzen in dieser Richtung hingewiesen. Auch

- 148 - - 149 - Einige Literaturhinweise

D. Irving "Der Traum von der deutschen Atombombe", Bertelsmann 1967, Rowohlt (rororo Taschenbuch) 1969. (Englische Originalausgabe unter dem Titel "The Virushouse", W. Kimber, London) Sehr gründliche und zuverlässige Schilderung der deutschen Bemühungen auf dem Gebiet der Atomenergie während des Krieges.

H. und E. Barwich "Das rote Atom", Scherz Verlag 1967, Fischer Bücherei 1970 Erinnerungen eines deutschen Physikers, der in der Sowjetunion in einer der deutschen Atomgruppen gearbeitet hat. Das Buch enthält auch einen Beitrag seiner Frau über die dortigen Lebensverhältnisse.

'.1lj J .N. Golowin "J. W. Kutschatow. Wegbereiter der sowjetischen Atomfor- schung" (Übersetzung aus dem russischen), Urania Verlag, Leipzig-Jena-Ber- Hn, 1976 Eine sowjetische Biographie des verdienten wissenschaftlichen Leiters des sowjetischen Atomprojekts. Alle Angaben entsprechen der Wahrheit, doch von einer kompletten Darstellung des sowjetischen Atomprojekts kann kei- ne Rede sein. Auch die Mitarbeit der deutschen Wissenschaftler ist nicht einmal am Rande erwähnt. Alles ist auf eine simplifizierte Heroisierung Kurtschatows und der sowjetischen Wissenschaft abgestellt.

- 151 -

\ I'!

Zh. Medwedjew "Atomkatastrophe in der UdSSR", Verlag Hoffmann und NAMENSREGISTER Campe, 1979

Wie am Schluß des Kapitel 8 näher ausgeführt, handelt es sich um eine Antropow, P.J. 126 vertrauenswürdige, wenn auch nicht auf eigenem Augenschein beruhende v. Ardenne M. 10, 11, 39, 73, 75, 102 Schilderung der Explosion bzw. Verpuffung einer Atommüll-Deponie bei Arzimowitsch, L.A 6 Kyschtym im Ural unweit von Sungul, die jedoch erst 1957 oder 1958 ge- Auer v. Welsbach, C. 2, 18 schah, d.h. lange nach der Zeit unseres Aufenthalts in Sungul. Baroni, S. '50-51 Barwich, H. 151 Beria, L. P. 6, 23, 39-48, 81, 132, 142 F. Kurowski "Alliierte Jagd auf deutsche Wissenschaftler" Verlag Kristall bei Blochinzew, O.J. 144 Langen Müller, 1982 Born. H. -J. 53, 59-60 Zuverlässige Schilderung des Schicksals der auf verschiedenen, überwie- Chariton, J .B. 6 gend militärisch wichtigen Gebieten tätigen deutschen Wissenschaftler und Oelbrück, M. 54, 141 Ingenieure, die nach Kriegsende in die USA und die UdSSR gebracht wur- Oöpel, R. 10, 39, 107 den, um dort zu arbeiten. Auch meine Memoiren über die "10 Jahre im Emeljanow, W.S. 83 goldenen Käfig" sind darin auszugsweise mit meiner Genehmigung ver- Fljorow, G.N. 6 wertet. Frisch, Max 49 Gerlach, W. 26 Golowanow, J.N. 21, 27, 28, 83 Gorbatschow, M.S. 4, 33 Hahn, O. 2,8 Heisenberg, W. 8 Hertz, G. 10, 11, 39, 73, 75 Hertz, H. 10 Hitler, A. 5, 19, 87, 104, 118, 127, 144 Hoernes, Ph. 18 Irving, O. 151 J agoda, G.G. 9 J offe, A.F. 26 Kapitza, P.L. 4, 26-27 Katsch, A. 53,59-60

- 152 - - 153 -

__ I. Kolzow,N.K. 140-142 Kurowski, F. 152 Kurtschatow, J.W. 26, 32, 33, 36, 40, 151 Lenin, W.J. 74, 75 Lyssenko,T.D. 60, 139-144 Medwedjew,Zh. 63, 152 Meitner, L. 2 Ortmann, H. 23, 57 Paulus 10 Perwuchin 42 Rjabuschinsky 9 Sawenjagin, AP. 6,9, 11,20, 25, 29, 31-37, 41-44,53,67-71,75-76,82,99-100, 110,127 Schwernik,N.M.. 132 Solschenizyn,A. 7, 54 Stalin,J.W. 1,4,23,74,127-130,139,144 Stolypin, P.A. 75 Thieme, H. 21, 24, 29 Thiessen, P. 10 Timofejew-Ressowsky,N.W. 54-56, 60, 140-143 Ulbricht, W. 77 Uralez, A.K. 62, 130 Volmer, M. 10, 39, 73 Wannikow, B.L. 25-26, 36-37, 126 Wawilow, S.l. 61, 102, 141 Wawilow, N.l. 140-141 Wirths, G. 11, 21, 23, 24, 28, 29, 109 Witte, S.J. 75 Wosnessensky,S.A. 56 Zarapkin, S.R. 54, 60-61 Zimmer, K.G. 5, 6, 53-54, 59-60, 141-143

- 154 -)

__ J.