Cornelia Altenburg

Kernenergie und Politikberatung Cornelia Altenburg

Kernenergie und Politikberatung

Die Vermessung einer Kontroverse Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Zugl. Diss. Universität Bielefeld, 2009 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Priska Schorlemmer VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in ISBN 978-3-531-17020-6 Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner im November 2008 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philoso- phie und Theologie der Universität Bielefeld eingereichten Doktorarbeit. Die Erstellung der Arbeit wurde durch ein Stipendium der Deutschen Forschungs- gemeinschaft am Graduiertenkolleg „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft“ des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld ermöglicht. Inhaltlich hat die Arbeit niemand mehr befördert als mein Erstgutachter Professor Dr. Werner Abelshauser, der mir in wissenschaftlichen und persönli- chen Fragen stets den Rücken stärkte. Meinem Zweitgutachter Professor Dr. Joachim Radkau möchte ich für seine Begeisterungsfähigkeit und kritischen Nachfragen danken, die immer wieder für Schubkraft gesorgt haben. Die Diskussionen mit den Mitgliedern des Graduiertenkollegs waren sehr wertvoll und die Einwände und Anregungen sind in die Arbeit eingeflossen. Neben der intellektuellen und fachlichen Weiterführung in Sachen Doktorarbeit, bot das Kolleg einen nicht zu unterschätzenden freundschaftlichen Zusammen- halt. Für die Unterstützung in vielerlei Hinsicht danke ich besonders Professor Dr. Peter Weingart und Professor Dr. Wolfgang Krohn. Zeitgeschichtliche Arbeiten leben vom Gespräch mit Zeitzeugen. Ich hatte großes Glück, eine Reihe von anregenden Gesprächen über die Enquete- Kommission und meine Arbeit führen zu dürfen. Zunächst einmal danke ich Reinhard Ueberhorst, der sich nicht nur bereit erklärte, mit mir lange Gespräche über Politikberatung zu führen, sondern mich auch regelmäßig zu seinen Elmshorner Gesprächsabenden einlud. Er steht hier stellvertretend für alle von mir befragten Zeitzeugen, die mich nicht nur mit geistigen Anregungen, sondern auch mit kulinarischen Genüssen versorgten. Ich danke ihnen sowie Professor Dr. Gerhard Vowe für ihr ernsthaftes Interesse an meiner Arbeit. Beate Altenburg und Verena Witte danke ich für wertvolle Gespräche und unermüdliches Korrekturlesen; Dr. Cornelis Menke, Dr. Angelika Zacher und Alexandra Wiebke standen mir stets mit Rat zur Seite und haben mich immer wieder in der Sache bestärkt. Nicht zuletzt möchte ich den Mitarbeitern des Parlamentsarchivs des Deut- schen Bundestages in Berlin, des Archivs der sozialen Demokratie sowie des Archivs für Christlich-Demokratische Politik in Bonn danken, die mich mit ihrer fachkundigen Hilfe unterstützten.

Berlin, im Februar 2010

Cornelia Altenburg

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis ………………………………………………………. 10

Einleitung …………………………………………….………………………. 13 a. Fragestellung und Aufbau …………………………..…………… 14 b. Zum Forschungsstand ………………………………………..….. 19 c. Quellen und Methoden ………………………………………...... 23 d. Begriffe und Differenzierungen ………………………………..... 26

Prolog……………………………………………………………………..…... 37

A. Enegiepolitik und Politikberatung

I. Zwischen Ölkrise und Ökologiebewegung ……………………………. 45 a. „Die Grenzen des Wachstums“: Eine Problemskizze ………… 46 b. Von Wyhl nach Gorleben ………………………...…………… 51 c. Parameter der deutschen Energiepolitik ………………………. 57 d. Erste politische Reaktionen auf Unsicherheiten ………………. 61 e. Zwischen Kernforschungszentren und Öko-Institut ………….. 64 f. Das Ende der Planbarkeit? …………………………………….. 68

II. Von der politischen Debatte zur Zukünftigen Kernenergie-Politik … 71 a. Wissen im parlamentarischen Entscheidungskontext ………… 71 b. Politikberatung in Enquete-Kommissionen ………….……….. 74 c. Probleme von Enquete-Kommissionen ...…………………...... 78 d. Konstellationen im und in den Ministerien ……….. 81 e. Der Brüter und die Zukünftige Kernenergie-Politik ………….. 88 f. Die Einsetzung der Kommission ……………………………… 91 g. Verhandlungen im Vorfeld ……………………………………. 96 h. Konstituierung der Kommission: Erwartungen und Ereignisse.. 98 i. Die Neudefinition einer Institution: Beratung von Politik und Öffentlichkeit ………………………………………………… 102

III. ‚Die Kuh ist vom Eis‘ – vorerst ………………………………………. 104

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B. Die Technologie des Kompromisse s

IV. Die Ueberhorst-Kommission ……………………………….…… 107 a. Der Auftrag an die Kommission …………………………….. 108 b. Politisches Gewicht in der Kommission …………………….. 108 c. Berufener externer Sachverstand ……………………………. 113 d. Der Katalysator: Das Sekretariat …………………………….. 121 e. Arbeitsweise und externe Gutachten ………………………… 126 f. Fraktionen und Ministerien ………………………………….. 130 g. Ausgangslage für Diskussionen um Reizthemen …………… 132

V. Mensch und Umwelt …………………………………………….. 134 a. Mensch und Umwelt in der Kernkraftkontroverse ………….. 134 b. Von der Angst zur Akzeptanz ……………………………….. 137 c. Kernpunkte der Auseinandersetzung ………………………… 141 d. Offene Punkte im Bericht ……………………………………. 155 e. Wandel des Risikobegriffs und Kriterien ……………………. 158

VI. Ökonomie und Gesellschaft ……………………………………... 161 a. Aufgabe und historischer Hintergrund ………………………. 161 b. Pro und Contra in der Enquete-Kommission ………………… 164 c. Die Entwicklung der Basisdaten für Szenarien ……………… 165 d. Wandel durch Pfadbetrachtung ……………………………… 179 e. Bericht der Enquete ………………………………………….. 185

VII. Ein „Historischer Kompromiss“? ………………………………. 190 a. Sachverständige und Politiker argumentieren ……………….. 190 b. Ziele von Sachverständigen und Politikern ………………….. 195 c. Handlungsspielräume und Reflexivität ……………………… 198 d. Informationen: Inklusion und Exklusion ……………………. 205 e. Konsens oder Kompromiss? …………………………………. 207

VIII. Die Revolution und das ‚Krötenschlucken‘ ……………………. 211

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C. Die Enquete und ihre Rezeption

IX. Der Einstieg in den Ausstieg? ………………………………………… 213 a. „Die vier Pfade in die Zukunft“: Der Bericht ……………….. 213 b. Der Bericht auf den Pfaden durch die Ausschüsse ………….. 216 c. „Gucken Sie mal genau nach!“: Aussprache im Bundestag … 222 d. Wahrnehmung von außen ……………………………………. 229 e. Zukünftige Energiepolitik ……………………………...... …. 234

X. Die Nachfolgeenquete: Beschwörung eines Geistes ………………… 236 a. Der Auftrag an die Kommission …………………………….. 237 b. Berufung und Zusammensetzung …………………………… 238 c. Der Beratungsprozess ……………………………………….. 245 d. Wissen und Macht: Das Parallelgutachten ………………….. 250 e. Das Ergebnis der Enquete-Kommission …………………….. 259 f. Rezeption der Kommissionsarbeit …………………………… 262 g. Sicherheitstechnisches Wissen in der Politikberatung ………. 268

XI. Expertenmeinung und Wissen im politischen Prozess ……………… 270 a. Zukünftige Kernenergie-Politik und die Energiepolitik ……... 270 b. Wissenschaftliche Expertise in der Politikberatung …………. 277 c. Wandel der Politikberatung ………………………………….. 281 d. Rationale Entscheidungen …………………………………… 284 e. Unsicherheit und Emanzipation in der Wissensgesellschaft … 285

XII. Eine Frage der Zeit? ………………………….……………………… 290

Epilog ………………………………………………………………..……… 291

Quellen ……………………………………………………………………… 299 Literatur ………………………………………………………………….…. 301

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Abkürzungsverzeichnis

ACDP Archiv für Christlich Demokratische Politik AdsD Archiv der sozialen Demokratie AF Arbeitsfeld AtG Atomgesetz AUGE Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft und Energie der Univer- sität Essen BBU Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V. BDI Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. BMFT Bundesministerium für Forschung und Technologie BMI Bundesministerium des Inneren BMWi Bundesministerium für Wirtschaft COGEMA Compagnie Générale des Matières Nucléaires DBT Deutscher Bundestag DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin Drs. Drucksache EG Europäische Gemeinschaft EK Enquete-Kommission EWI Energiewirtschaftliches Institut an der Universität Köln FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FESt Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. FGSB Forschungsgruppe Schneller Brüter e.V. FR Frankfurter Rundschau GAU Größter anzunehmender Unfall (Auslegungsstörfall)

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GG Geschichte und Gesellschaft GOBT Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages GRS Gesellschaft für Reaktorsicherheit GSG9 Grenzschutzgruppe 9 (Antiterrorismuseinheit der Bundes- polizei) GWe Gigawatt, elektrisch HTR Hochtemperaturreaktor HWWA Institut für Weltwirtschaftsforschung Hamburg IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundes- anstalt für Arbeit Nürnberg IAEA International Atomic Energy Agency (Wien) IEA International Energie Agency (Paris) IFEU Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg GmbH Ifo Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. München IfW Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel IIASA International Institute für Applied System Analysis INFCE International Nuclear Fuel Cycle Evaluation IPCC Intergovernmental Panel on Climate Change KFA Kernforschungsanlage Jülich KfK Kernforschungszentrum Karlsruhe KWS Kernkraftwerke Süd GmbH KWU Kraftwerk-Union AG LWR Leichtwasserreaktor MBB Messerschmidt-Bölkow-Blohm GmbH MPI Max-Planck-Institut NATO North Atlantic Treaty Organisation NRC U.S. Nuclear Regulatory Commission OECD/NEA Organisation for Economic Cooperation and Develop- ment/Nuclear Energy Agency PA Parlamentsarchiv PlPr. Plenarprotokoll RAF Rote Armee Fraktion

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RSK Reaktor-Sicherheitskommission RWE Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG RWI Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen SBK Schnelle-Brüter-KernkraftwerksgesellschaftmbH Essen t SKE Steinkohleeinheit (Energiemenge, die beim Verbrennen einer Tonne Steinkohle frei wird) SNR Schneller natriumgekühlter Brüter SOPKA System-Optimierungs-Programm Karlsruhe SSK Strahlenschutzkommission SZ Süddeutsche Zeitung TA Luft Technische Anleitung zur Reinerhaltung der Luft THTR Thorium-Hochtemperaturreaktor UWI Umweltinstitut Stuttgart VDW Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VEBA Vereinigte Elektrizitäts- und Bergwerks-AG VEW Vereinigte Elektrizitätswerke AG WHO World Health Organization WP Wahlperiode WZB Wissenschaftszentrum Berlin

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Einleitung

Ende der 1970er Jahre wurde die Frage, wie die Energieversorgung der Bundes- republik in Zukunft aussehen könnte, immer dringlicher. Nicht nur die Club-of- Rome-Studie, sondern auch zwei Ölpreiskrisen ließen die Grenzen des Wachs- tums1 immer greifbarer werden. Eine – zumindest partielle – Substitution der fossilen Energieträger durch Kernenergie stellte offenkundig keinen Ausweg dar. Begleitet von gewalttätigen Demonstrationen erreichte die innenpolitisch prä- gende Konfliktphase der Umwelt- und Energiepolitik 1976/77 ihren Höhepunkt. Als 1978 auch der parlamentarische Atomkonsens an der Bewilligung der jährli- chen Raten sowie einer Teilerrichtungsgenehmigung für den Bau des Schnellen Brüters (SNR300) in Kalkar – das Prestigeprojekt der Atomlobby – zerbrach, war es unabdingbar, politische Schritte einzuleiten, um zu einer gemeinsam ge- tragenen Energiepolitik zu kommen. In dieser Phase, in der die ‚Stagflation‘ manifestierte, dass die wirt- schaftlichen Planungskonzepte der 1960er Jahre nicht greifen würden, wurde zur Lösung der Energiefrage vom Bundestag ein Instrument herangezogen, das selbst für das Leitkonzept der wissenschaftlichen Planung von Politik steht und im Zusammenhang mit der Partizipationsdebatte in der kleinen Parlaments- reform 1969 etabliert wurde: die Enquete-Kommission2. Im Mai 1979, kurz nach dem Unfall von Harrisburg, begann die Enquete- Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik ihre Arbeit. Unter der Leitung des SPD-Politikers Reinhard Ueberhorst sollten acht Sachverständige und sieben Parlamentarier neue ‚Denkpfade‘ in der Energiepolitik finden. Der von den Frak- tionen gemeinsam berufene Sachverstand der Kommission zeigte sich als ausge-

1 Dennis Meadows/Donella Meadows/Erich Zahn/Peter Milling, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 198714 (dt. EA 1972, OA New York 1972). 2 In dieser Arbeit wird die Schreibweise „Enquete-Kommission“ gewählt. Grundlage dafür ist die Veröffentlichung des Berichtes der Enquete-Kommission in: Deutscher Bundestag (Hg.), Zukünftige Kernenergie-Politik. Kriterien – Möglichkeiten – Empfehlungen. Bericht der En- quete-Kommission des Deutschen Bundestages, 2 Bde. (Zur Sache 1/80 und 2/80), Bayreuth 1980. Gleichwohl findet sich im Sachregister des Deutschen Bundestages die Schreibweise „Enquête-Kommission“ und in der Presse auch „Enquêtekommission“, vgl. z.B.: Eine Mehrheit für den Schnellen Brüter. Risiken und Kosten der Versuchsanlage schrecken die Befürworter in der Enquêtekommission nicht ab, in: SZ, 24. September 1982.

13 sprochen heterogen und bezog auch alternative Versorgungskonzepte ein; so waren neben dem ,Brüterpapst‘ Wolf Häfele und dem Reaktorsicherheitsexper- ten Adolf Birkhofer auch Günter Altner vom Öko-Institut Freiburg sowie Klaus Michael Meyer-Abich, der für intensive Energiesparmaßnahmen eintrat, betei- ligt. Gleichwohl legte das Gremium im Juni 1980 mit seinem Bericht eine weit- gehend gemeinsam getragene Empfehlung vor. Kern der Empfehlung waren vier Energie-Szenarien – die so genannten ‚Pfade‘, von denen nur zwei auf Kernener- gie angewiesen waren –, sowie Kriterien für die Entscheidung über zukünftige Energiesysteme und ein Energiesparkatalog. Somit war es nicht nur gelungen, den politisch Verantwortlichen auf der Grundlage des aktuellen Wissenschafts- diskurses die Alternativen und Entscheidungsspielräume zu vermitteln, sondern auch, aus verschiedenen Denkschulen und Interessen Konsensmöglichkeiten herauszufiltern und neue Handlungsoptionen für die Politik zu eröffnen. Vor allem die starre Linie eines pro und contra Kernenergie wurde überwunden. So sähe zumindest eine positive Lesart des Geschehens aus. Im Sinne von Hayden Whites Metahistory würde eine heroische Tragödie sich entspannen: Der Kommission gelang eine politische, rationale Kommunikation im Habermasschen Sinne. Der Erfolg blieb jedoch von kurzer Dauer – überrollt von den politischen Ereignissen ging die Debatte wieder in ein unfruchtbares Pro und Contra unter. Es könnte sich aber auch eine Komödie entfalten: Ein wissenschaftliches Beratungstheater, das die Vorstellungen des Ministeriums umsetzt. Die wissen- schaftlich informierte Diskussion, von den Akteuren den eigenen Interessen entsprechend geführt, entfaltete keine politisch kreative Kraft, Wissenschaft und Politik verharrten im Luhmannschen Sinne in ihren eigenen Rationalitäten und die Kommission kam eingeschüchtert unter dem Eindruck der heftigen Proteste zu einem ‚billigen‘ Kompromiss.

a. Fragestellung und Aufbau

Die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik unter der Leitung von Reinhard Ueberhorst bietet zunächst einen exemplarischen Fall, um der Frage nachzugehen, wie der Staat mit Wissen und Unsicherheit in der Kernkraftkont- roverse umging: Erstens wurde versucht, den internationalen Forschungs- und Diskussionsstand der Zeit in die Arbeit der Kommission einzubeziehen; zweitens wurden auch Vertreter alternativer Energieversorgungskonzepte in den Bera- tungsprozess integriert und Grenzen des Wissens transparent gemacht. Drittens

14 gelangte die Kommission in einer polarisierten Konfliktsituation zu einer weit- gehend gemeinsamen Empfehlung. Ziel dieser Arbeit ist es, die These zu prüfen, ob das Gremium im Hinblick auf den Umgang mit Wissen und Unsicherheit, seinen Arbeitsprozess sowie seine Rezeption in Politik und Öffentlichkeit ein Modell für die Entscheidungs- vorbereitung und für rationale Kommunikation bei vergleichbaren Konflikten der heutigen Zeit wie beispielsweise dem Klimawandel-Diskurs darstellt. Die Funktionsfähigkeit des Politikberatungsinstrumentes steht ebenso auf dem Prüf- stand wie die des Staates. Handelt es sich um eine ‚Erfolgsgeschichte‘ – oder aufgrund kommissionsinterner ‚Konsensfreude‘ gar um ein Beispiel für die zu- fällige Aberration eines Instruments wissenschaftlicher Politikberatung? Die bisherigen Bewertungen der Kommission in der soziologischen und po- litikwissenschaftlichen Literatur fallen unterschiedlich aus: So sei das Gremium beispielsweise seiner Aufgabe, eine klare Entscheidung zu treffen, nicht nachge- kommen3 oder habe lediglich eine Alibi-Funktion erfüllt.4 Der ‚historische Kom- promiss‘ rief danach, mit den Methoden des Historikers hinter die Kulissen zu schauen. Um von der Enquete-Kommission zu abstrahieren und größere Rückschlüs- se auf Wege und Wirkungsweisen wissenschaftlicher Politikberatung ziehen zu können, bot sich ein Vergleich an. Als Tertium comparationis für die Ueberhorst-Kommission dient die Nachfolgeenquete5, die zwar in weitgehend gleicher Besetzung, aber ohne vergleichbares Ergebnis arbeitete. Unter der Lei- tung des SPD-Politikers Harald B. Schäfer erreichte sie eine Handlungsempfeh- lung für das Parlament zur Inbetriebnahme des Schnellen Brüters in Kalkar; sie konnte diese aber nicht gemeinsam verabschieden. Bleibt die Enquete der Jahre 1979/80 auch im Mittelpunkt der Untersuchung, so bildet doch erst die Zusam- menschau beider Gremien eine Basis für die Beantwortung der Frage nach Funk- tionen, Spielregeln und Wirkungsmechanismen von Politikberatung – und zeigt den „chamäleonartigen Charakter“6 von Enquete-Kommissionen, den Frank Hampel beschreibt.

3 Ralf Altenhof, Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, Wiesbaden 2002, S. 260f. 4 Gisela Müller-Brandeck, Technologiefolgenabschätzung am Beispiel der friedlichen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 273. 5 Auf Empfehlung der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik der 8. Wahlperiode wurde das Gremium in anderer Besetzung und mit neuer Aufgabenstellung in der folgenden Legislaturperiode erneut einberufen und ging somit in eine zweite Phase. Es wurde am 26. Mai 1981 eingesetzt und legte am 27. September 1982 eine Teilempfehlung zum Schnellen Brüter vor. Diese Kommission wird im Folgenden als „Nachfolgeenquete“ bzw. „Schäfer-Kommis- sion“ bezeichnet. 6 Frank Hampel, Politikberatung in der Bundesrepublik. Überlegungen am Beispiel von Enquete- Kommissionen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22/1991, S. 111–133, S. 133.

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Verschiedene Gründe sprechen dafür, diese beiden Kommissionen verglei- chend zu betrachten: Erstens setzten beide sich mit einer umstrittenen Technolo- gie auseinander, die bereits implementiert war – anders als beispielsweise die Enquete-Kommission zur Gentechnologie (1984–1992). Zweitens wurden sie zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als das Thema nicht nur einer der Hauptgegenstände der Diskussion in Gesellschaft und Politik war, sondern auch zu heftigen Ausein- andersetzungen auf der Straße führte – dies unterscheidet sie unter anderem von der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre (1987–1995). Drittens sind die Bestimmungen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT), wie eine solche Enquete-Kommission aufgebaut sein soll, ausgespro- chen offen. Dadurch unterliegt ihr ‚Funktionieren‘ stark dem Gestaltungswillen der Mitglieder; personelle Konstanten von der Ueberhorst- zur Schäfer- Kommission gewähren in dieser Hinsicht zumindest teilweise gleichwertige Ausgangsbedingungen. Die Analyse der Enquete-Kommissionen sollen die Rolle von Wissen und Unsicherheit7 in der bundesdeutschen Debatte um Kernenergie und ihre Alterna- tiven in der Zeit von 1975 bis 1986 exemplifizieren. Ausgehend vom Kriterium des Wissens wird das Verhältnis von Wissenschaft und Politik untersucht – die Besonderheit dieses Verhältnisses, genauer die Rolle der Experten, in der Kern- kraftkontroverse wurde in der Literatur immer wieder als paradigmatisch für die Problematik des Expertendilemmas hervorgehoben.8 Die Gegenexpertise bei der Debatte um Risiken neuer Technologien zeigte deutlich die Ungewissheit wis- senschaftlichen Wissens sowie die Unsicherheit wissenschaftlichen Erklärens und Prognostizierens.9 Kann es in einer solchen Situation zu einer rationalen Beratung kommen? Der Begriff des Expertendilemmas ist eng verknüpft mit dem der Wissensgesellschaft10, eines ebenso florierenden wie umstrittenen sozio-

7 Zur Nutzung der Begriffe: siehe Teil „Begriffe und Differenzierungen“ der Einleitung. 8 Vgl. zum „Spannungsverhältnis“ zwischen Wissenschaft und Politik in der Kernenergie- diskussion: Dieter Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Klaus Lompe/Hans Heinrich Rass/Ders., Enquête-Kommissionen und Royal Commissions. Beispiele wissenschaftlicher Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland und in Groß- britannien, Göttingen 1981, S. 181–290, S. 248. 9 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986; Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995; Charles Perrow, Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt am Main 19922 (engl. OA New York 1984); vgl. zum Verhältnis Exper- te/Gegenexperte: Wolfgang van den Daele, Objektives Wissen als politische Ressource: Exper- ten und Gegenexperten im Diskurs, in: Ders./Friedhelm Neidhardt (Hg.), Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, Berlin 1996, S. 297–326. 10 Daniel Bell, The Coming of Post-industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973; Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Po- litik, Wirtschaft und den Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001; Peter Weingart,

16 logischen Konzeptes, das näherer Erläuterung und Eingrenzung bedarf, zumal bei Verwendung in historischem Kontext. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwie- weit es auf die Energiepolitik anzuwenden ist, bei der ein dritter Akteur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt – die Wirtschaft. Folglich verläuft die Untersuchung auf drei Ebenen: Auf der ersten geht es um die Rolle des Wissens und die Verbindung von Wissen und Macht in der Sphäre der Politik. Dies führt unweigerlich zur zweiten, die nach Wegen und Wirkungsweisen wissenschaftlicher Politikberatung sowie nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik anhand des konkreten Beispiels der Enquete- Kommission fragt. Davon ausgehend werden auf dritter Ebene Rückschlüsse auf das Konzept der Wissensgesellschaft gezogen. Der Untersuchungszeitraum dieser Studie erstreckt sich über die Arbeitszeit der beiden Enquete-Kommissionen (1979 bis 1983) hinaus auf die Jahre zwi- schen 1975 bis 1986. Nur so können die Facetten des Konfliktes und der Rezep- tion im Rahmen einer Kontextanalyse eingefangen werden. Damit wird die Zeit vom Aufkeimen der Proteste gegen die Atomenergie bis zum Unfall in Tscher- nobyl, der den unabweislichen Fluchtpunkt des Themas bildet, einbezogen. Ab diesem Datum musste jede Diskussion um Kernenergie unter neuen Vorausset- zungen stattfinden. Der bis dahin theoretische Wissensbestand über den Vorgang und die Folgen eines GAUs wurde durch praktische Erfahrungen maßgeblich erweitert. Das so skizzierte Thema wird in drei Teilen erörtert, die jeweils mehrere Kapitel umfassen:

Teil A: Energiepolitik und Politikberatung

Zunächst werden die grundlegenden Parameter des Politikfeldes Energiepolitik geklärt, um gleichzeitig zu hinterfragen, wie im Laufe der 1970er Jahre Wissen in den politischen Prozess integriert wurde. Die Verbindung von Wissen und Macht in der Politik steht hier im Vordergrund – ein entscheidender Punkt bei der Energiepolitik, die von Wirtschafts- und Interessenpolitik dominiert wird. Es wird ein kurzer historischer Rückblick in die 1970er Jahre gegeben, um die für die Kernkraftkontroverse entscheidenden Ereignisse zu vergegenwärtigen. Nicht nur die Entstehungsbedingungen des Wissens im Rahmen der damaligen For- schungspolitik finden Eingang, sondern auch die Frage nach der Partizipation von Bürgern an Entscheidungen. Anschließend wird auf die Institution Enquete-

From „Finalization“ to „Mode 2“: Old Wine in New Bottles?, in: Social Science Information 36(4)/1997, S. 591–613.

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Kommission an sich sowie die spezifischen Entstehungsbedingungen der En- quete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik eingegangen.

Teil B: Die Technologie des Kompromisses

Herzstück der Arbeit ist die Binnenanalyse der Kommissionstätigkeit unter der Leitung Reinhard Ueberhorsts. Zunächst sind die Rahmenbedingungen zu klä- ren: Wie setzte die Kommission sich zusammen, wie arbeitete die Kommission und welche Informationsquellen wurden herangezogen? Welche Rolle spielen Parteien, Ministerien und andere Interessenvertreter für den Beratungsprozess? Anhand zweier Themenfelder wird untersucht, wie in der Enquete- Kommission mit Wissen und Unsicherheiten umgegangen wurde: die Aus- wirkungen von Energieversorgungssystemen auf Mensch und Umwelt zum einen sowie auf Wirtschaft und Gesellschaft zum anderen. Abschließend werden der ‚historische Kompromiss‘ sowie die Handlungsspielräume im Beratungsprozess erkundet.

Teil C: Die Enquete und ihre Rezeption

Im dritten Teil wird der Frage nachgegangen, wie die Kommissionsempfehlung in Politik, Medien, Wissenschaft und Politik rezipiert wurde. Welche Wirkungen erreichte der Bericht des Gremiums? Anschließend wird eine der Folgen genauer unter die Lupe genommen, nämlich die Nachfolgeenquete unter der Leitung Harald B. Schäfers. Auf dieser Grundlage werden die beiden Enquete- Kommissionen mit Blick auf ihre politikberatende Funktion verglichen. Welche Möglichkeiten und Grenzen sind einem solchen politikberatenden Instrument gesetzt? Vor dem Hintergrund des Konzepts der Wissensgesellschaft wird auf den Umgang mit Unsicherheit im politischen Prozess eingegangen. Wie kann eine Basis für eine rationale Entscheidung geschaffen werden?

18 b. Zum Forschungsstand

Mit großen Schritten nähert sich die aktuelle zeithistorische Forschung den 1970er Jahren. Die Interpretationen, die die bundesrepublikanische Geschichte seit der Gründung bis zu den 1980er Jahren betrachten, diagnostizieren für dieses Jahrzehnt eine gewisse Janusköpfigkeit: Diese zeige sich beispielsweise in der Krisenrhetorik aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit einerseits und der Aufbruchstimmung, die ihren Ausdruck in den ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ fand, andererseits.11 Eine übergreifende Charakterisierung der 1970er Jahre fehlt bislang. In der Soziologie wird versucht, die Zeit mit Begriffen wie ‚Risikoge- sellschaft‘12, ‚Wertewandel‘13 oder ‚Erlebnisgesellschaft‘14 terminologisch einzu- grenzen. Ein soziologisches Konzept findet derzeit zunehmend Widerhall in der his- torischen Forschung – wenn auch zwiegespaltenen: die Wissensgesellschaft. Basierend auf der soziologischen Forschung zur Theorie der Wissensgesell- schaft15 und auf den Untersuchungen zu ihrer Geschichte und Genese16 sind in jüngerer Zeit Arbeiten entstanden, die das Konzept der Wissensgesellschaft für die Geschichtswissenschaft theoretisch nutzbar zu machen suchen. Neben Margit Szöllösi-Janze17 ist hier vor allem Gabriele Metzler18 zu nennen, die sich des

11 Z.B.: Konrad H. Jarausch, Krise oder Aufbruch? Historische Annäherung an die 1970er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3/2006, Heft 3, (6. Januar 2008), S. 3. 12 Beck, Risikogesellschaft. 13 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977. 14 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 19923. 15 Vgl. z.B.: Michael Gibbons u.a. (Hg.), The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1995; Weingart, Die Stunde der Wahrheit?; Nico Stehr, Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Weilerswist 2000. Als Überblick vgl.: Martin Heidenreich, Die Debatte um die Wissensgesellschaft, in: Stefan Bö- schen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 25–51. 16 Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001; Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der mo- dernen Wissensgesellschaft, Köln 2004. 17 Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: GG 30/2004, S. 275– 311; Dies., Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 277–306. 18 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005.

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Konzeptes bedient, um politische Planung in den 1960er Jahren zu untersuchen. Mit Hilfe des Weingartschen Politikberatungsmodells erforschte Michael Ha- scher19 die Rolle der Experten in der Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert aus wirtschaftshistorischer Perspektive. An diese Studien schließt die vorliegen- de Arbeit theoretisch an, allerdings mit Fokus auf dem Wissen. Das Thema Politikberatung ist natürlich keine unbestellte Flur, insbesonde- re Sozial-, Politik- und Verwaltungswissenschaften haben sich dieses Feldes angenommen.20 So liegt eine breit angelegte politikwissenschaftliche Unter- suchung zur Entwicklung der Politikberatung in der Bundesrepublik von Peter Krevert21 vor, die einen guten Überblick liefert. Zahlreiche Untersuchungen machen von Jürgen Habermas’ Kategoriegerüst22 von 1964 Gebrauch, welches auf normativer Grundlage die drei Modelle der dezisionistischen, technokrati- schen und pragmatischen Interaktion von Wissenschaft und Politik vergleicht.23 Für eine generelle Einordnung mag dies zunächst nützlich sein, doch bei einer Binnenanalyse des Beratungsprozesses selbst bedarf es einer anderen Ordnungs- kategorie, um Funktionen, Spielregeln und Wirkungsmechanismen der Interakti- on von Expertise und Politik zu untersuchen. Während in der Geschichtswissenschaft mit Ausnahme der Ära des Natio- nalsozialismus24 das rekursive Verhältnis von Wissenschaft und Politik bisher eher als eine Geschichte der Wissenschaftspolitik beleuchtet wurde, gewinnt es nun auch hier zunehmend an Raum. Ein Beispiel dafür ist der Tagungsband von Stefan Fisch und Wilfried Rudloff25, in dem verschiedene Beispiele für das Wechselspiel von Expertise und Politik aus der deutschen Geschichte einen schlaglichtartigen Eindruck der Problematik vermitteln.

19 Michael Hascher, Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006. 20 Vgl. z.B. auch das Handbuch: Svenja Falk/Andrea Römmele/Martin Thunert/Dieter Rehfeld (Hg.), Handbuch Politikberatung, Wiesbaden 2006; Susanne Cassel, Politikberatung und Politi- kerberatung. Eine institutionenökonomische Analyse der wissenschaftlichen Beratung der Wirtschaftspolitik, Bern u.a. 2001; Clemens Kuhne, Politikberatung für Parteien. Akteure, Formen, Bedarfsfaktoren, Wiesbaden 2008; Katja Patzwaldt, Die sanfte Macht. Die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung bei den rot-grünen Arbeitsmarktreformen, Bielefeld 2008. 21 Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Hamburg 1993. 22 Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: Ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1969, S. 120–145. 23 Zur pragmatischen Interaktion vgl. z.B.: Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften, Göttingen 1966. 24 Z.B.: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999. 25 Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004.

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Von wirtschaftshistorischer Seite liegt zudem die Arbeit von Alexander Nützenadel26 vor, der wirtschaftspolitische Wissensbestände inhaltlich und insti- tutionell erforscht hat. Tim Schanetzky27 untersuchte die wirtschaftswissen- schaftliche Expertise in der Bundesrepublik in der Zeit von 1966 bis 1982. Beide Arbeiten sind insofern dienlich, als Energiepolitik Teil der Wirtschaftspolitik war und dementsprechend in diesen Zusammenhängen und Kategorien zu be- trachten ist. Grundlegend und bis heute das Standardwerk zur Frage der Kernenergie ist Joachims Radkaus Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft28. In zahl- reichen Artikeln analysierte der Historiker zusätzlich Einzelaspekte des Streites um Kernenergie; er bezeichnete ihn Ende der 1980er Jahre als „größter und ge- dankenreichster öffentlicher Diskurs in der bisherigen Geschichte der Bundes- republik“29. Die Kernkraftkontroverse wurde von historischer Seite in neueren Werken mit verschiedenen Schwerpunkten beleuchtet. Anselm Tiggemann30 widmete sich der Entsorgungsfrage und Jens Ivo Engels31 ging der Geschichte der Umweltbewegung nach. Insbesondere für die Kontextanalyse sind die Er- gebnisse dieser Arbeiten weiterführend. Die Geschichte der Kernenergie in Frankreich untersuchte Gabrielle Hecht32; Axel Berg widmete sich Frankreichs Institutionen im Atomkonflikt33. Die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik selbst wurde vor anderem disziplinären Hintergrund untersucht. Gerhard Vowe bearbeitete in seiner Habilitationsschrift das Thema Technik im parlamentarischen Diskurs34.

26 Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005. 27 Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007. 28 Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbeck 1983. 29 Joachim Radkau, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur. Phasen und Dimensio- nen einer neuen Aufklärung, in: Armin Hermann/Rolf Schumacher (Hg.), Das Ende des Atom- zeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, S. 307–334, S. 307. 30 Anselm Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004. 31 Jens Ivo Engels, Ideenwelt und politische Verhaltensstile von Naturschutz und Umwelt- bewegung in der Bundesrepublik 1950–1980, Freiburg 2004. 32 Gabrielle Hecht, The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge, Massachusetts/London, England 1998. 33 Axel Berg, Frankreichs Institutionen im Atomkonflikt. Rahmenbedingungen und Interessenlage der nichtmilitärischen Atompolitik, München 1992. 34 Gerhard Vowe, Technik im parlamentarischen Diskurs. Die Enquete-Kommissionen des Deut- schen Bundestages zum Verhältnis von Technik und Politik, Darmstadt/Berlin 1991, On- linepublikation, (2. Mai 2005).

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Aus systemtheoretischer Perspektive verglich er vier Enquete-Kommissionen miteinander. Nicht nur unterscheiden sich fachwissenschaftlicher Zugang und Fragestellung von der vorliegenden Arbeit, auch das zugrunde gelegte Quellen- material differiert. Der vergleichende Ansatz der Arbeit von Vowe erlaubt einen guten Einstieg in die Methoden parlamentarischen Entscheidens zur Bewertung moderner Technologien. In weitere Arbeiten fand die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie- Politik Eingang: Dieter Rehfeld35 untersuchte mit sozialwissenschaftlichen Me- thoden in einem 1981 erschienenen Band unter anderem die Enquete- Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik im Hinblick auf die Zusammenar- beit zwischen Wissenschaft und Politik. Da die Studie bereits im September 1979 abgeschlossen wurde, konnte der Hauptteil der Kommissionsarbeit nicht berücksichtigt werden. Die Visionen und ersten Analysen, die der Autor zu dem Gremium darlegt, sind aus der Retrospektive ein Gewinn. Peter Krevert widmete sich in seiner Dissertation dem Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik36, die auch die Be- handlung von fünf Enquete-Kommissionen umfasst, darunter die Enquete- Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik. Übergeordneter Gesichtspunkt der Studie ist der Wandel der Politikberatung und deren Funktionen. Die in erster Linie auf gedruckte Quellen gestützte Analyse bietet einen breiten Überblick zu dem Feld. Die Technologiefolgenabschätzung am Beispiel der friedlichen Nutzung der Kernenergie untersuchte Gisela Müller-Brandeck37 in ihrer politikwissen- schaftlichen Dissertation. Die Autorin geht der Frage nach, inwiefern Technik- folgenabschätzung einen Beitrag zur Bewältigung technikinduzierter Probleme leisten kann. Dabei wird auch das hier behandelte Gremium analysiert. Ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Perspektive wagte Ralf Altenhof38 in seiner 2002 erschienenen Dissertation den Versuch einer „umfassenden Ana- lyse aller bisher vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete- Kommissionen“39. Die Arbeit, die vor allem auf den Berichten der Gremien und auf Interviews basiert, bietet einen unschätzbar wichtigen Überblick über bislang eingesetzte und nicht eingesetzte Enquete-Kommissionen.

35 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland. 36 Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung. 37 Müller-Brandeck, Technologiefolgenabschätzung. 38 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen. 39 Ebd., S. 15.

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Mit der Frage nach Politischer Ökologie untersuchte Andreas Vierecke40 in seiner Dissertation die Beratung der Technologie- und Umweltpolitik durch Enquete-Kommissionen. Herbert Kitschelt widmete sich den Gesellschaftsent- würfen in der Energiedebatte und betrachtete dabei unter anderem die von der Kommission entworfenen vier Pfade.41

c. Quellen und Methoden

Verschiedene politologische und soziologische Arbeiten haben sich der Politik- beratung und einzelnen Kommissionen gewidmet. Auf diesen Analysen kann diese Arbeit aufbauen. Mit den Methoden des Historikers lassen sich die Mehr- deutigkeit und die Multiperspektivität der Geschehnisse herausarbeiten. Uner- lässlich dafür ist die Arbeit mit verschiedenen Quellengruppen. Teilweise wur- den Quellen erstmals ausgewertet, viel wichtiger aber: Erst die Kombination aus Protokollen, Briefen und Zeitzeugengesprächen lassen sich die menschliche Dimension eines solchen Beratungsprozesses sowie der Kommunikationsstil ermessen.

Quellen

Ausgangspunkt der Untersuchung war die systematische Auswertung der kom- missionsinternen, unveröffentlichten Dokumente. Dazu zählen neben den Kurz- und Ergebnisprotokollen von 22 Sitzungen der Ueberhorst-Kommission und der Arbeitsgruppentreffen auch die zugrunde gelegten Sitzungsmaterialien.42 An- hand der Gesprächsprotokolle der Sitzungen lassen sich die Argumentationen und Meinungsentwicklungen innerhalb des Gremiums nachvollziehen. Mitarbei- ter des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages hatten die Diskussionen seinerzeit auf Tonband aufgenommen, in indirekter Rede abgetippt und an- schließend den Kommissionsmitgliedern für eventuelle Korrekturen vorgelegt. Da die Aufnahmen direkt nach Erstellung der Protokolle vernichtet wurden, stehen korrigierte Wort- und Kurzprotokolle zur Verfügung. Ähnlich verhält es sich mit den Materialien zu den 21 Sitzungen der Nachfolgekommission.43

40 Andreas Vierecke, Die Beratung der Technologie- und Umweltpolitik durch Enquête- Kommissionen beim Deutschen Bundestag. Ziele – Praxis – Perspektiven. Ein Beitrag zur Poli- tischen Ökologie, München 1995. 41 Herbert Kitschelt, Der ökologische Diskurs. Eine Analyse von Gesellschaftskonzeptionen in der Energiedebatte, Frankfurt am Main/New York 1984. 42 PA DBT 3404 EK8/Kernenergie (im Folgenden: PA DBT EK VIII). 43 PA DBT 3404 EK9/Kernenergie (im Folgenden: PA DBT EK IX).

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Neben diesen kommissionsinternen Materialien waren die Veröffentlichun- gen des Referats für Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages, wie die Berichte der Enquete-Kommissionen und die Aussprache des Plenums zu den Empfehlungen, eine weitere wichtige Quellengruppe. Die vor- und nach gelagerten Bundestags- debatten und Drucksachen44 sowie die Diskussionen im Ältestenrat45 der 8., 9. und 10. Wahlperiode wurden ausgewertet. Eingang fanden darüber hinaus die Protokolle der Bundestagsausschüsse, die mit den Enquete-Kommissionen und energiepolitischen Fragen befasst waren. Der für das Gremium federführende Ausschuss, der Ausschuss für Forschung und Technologie wurde von der 8. bis zur 10. Wahlperiode verfolgt,46 die beiden mit beratenden Ausschüsse, der In- nenausschuss47 und der Ausschuss für Wirtschaft48 jeweils für die 8. und 9. Wahlperiode. Um die Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien nachvollzie- hen zu können, waren die Materialien auf Fraktionsebene, das heißt Fraktionssit- zungen, Fraktionsvorstandssitzungen, Arbeitsgruppen und Arbeitskreise wich- tig.49 Ministerialakten konnten aufgrund der Sperrfristen nicht eingesehen werden. Bei den bisher genannten Quellen handelt es sich größten Teil um normierte Materialien – sie sind blutleer. Die Nachlässe und Deposita50 der beteiligten Akteure, in denen sich zahlreiche Briefe und Dokumentationen zu den Vorgän- gen in und um die Gremien fanden, erlaubten es, den toten Dokumenten Leben einzuhauchen. Insbesondere das Depositum von Harald B. Schäfer und der Nachlass von stellten sich als wahre Fundgruben heraus. Reinhard Ueberhorst, der Vorsitzende der ersten Kommission, hat seine Unterla- gen bislang keinem Archiv überlassen. Das Depositum Schäfers sowie verschie-

44 PA DBT 8. WP 3001 (im Folgenden: PA DBT VIII), PA DBT 9. WP 3001 (im Folgenden: PA DBT IX), PA DBT 10. WP 3001 (im Folgenden: PA DBT X). 45 PA DBT 3006 ÄR 8 (im Folgenden: PA DBT ÄR VIII), PA DBT 3006 ÄR 9 (im Folgenden: PA DBT ÄR IX). 46 PA DBT 3117 A17/8 (im Folgenden: PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII), PA DBT 3117 A18/9 (im Folgenden: PA DBT Ausschuss für Forschung und Technolo- gie IX), PA DBT 3117 A18/10 (im Folgenden: PA DBT Ausschuss für Forschung und Techno- logie X). 47 PA DBT 3114 A4/8 (im Folgenden: PA DBT Innenausschuss VIII), PA DBT 3114 A4/8 (im Folgenden: PA DBT Innenausschuss IX). 48 PA DBT 3108 A9/8 (im Folgenden: PA DBT Ausschuss für Wirtschaft VIII), PA DBT 3108 A9/9 (im Folgenden: PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX). 49 AdsD VIII–2/BTFH; AdsD IX–2/BTFI; ACDP VIII–001; ACDP VIII–003; ACDP VIII–008. Dies konnte für die SPD und die Union erfolgen, eine Sondergenehmigung für die Fraktionsun- terlagen der FDP wurde vom Archiv des Liberalismus nicht erteilt. 50 Nachlass Reuschenbach, AdsD unbearbeitet und unverzeichnet (im Folgenden: AdsD Reuschenbach); Depositum Schäfer, AdsD unbearbeitet und unverzeichnet (im Folgenden: AdsD Schäfer); Nachlass Ludwig Gerstein, ACDP I–496; Nachlass Lutz Stavenhagen, ACDP I–647.

24 dene Treffen in Elmshorn und Berlin konnten hier Abhilfe schaffen. Darüber hinaus durfte ich mehrere Male an den „Elmshorner Gesprächsabenden“ teil- nehmen, in denen Reinhard Ueberhorst die Kommunikationskultur der Kommis- sion mit Themen aus Politik, Literatur und Gesellschaft seit nunmehr 30 Jahren fortsetzt. Die Gespräche mit Zeitzeugen waren eine weitere wichtige Komponente, um das Leben und den Kommunikationsstil in und um das Gremium zu erfassen. Neben den Mitgliedern der Enquete-Kommission wurden auch Mitarbeiter des Sekretariats sowie der Ministerien befragt. Die Eigenheiten des menschlichen Gedächtnisses mag folgende Geschichte in Erinnerung rufen, die sich im Okto- ber 1946 im Moral Science Club unter dem Vorsitz von Ludwig Wittgenstein in Cambridge zutrug: In der Diskussionsgruppe, an der an diesem Abend etwa 30 Wissenschaftler und Studenten der Philosophie teilnahmen, sprach Karl Popper. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel zwischen den beiden Philosophen, des- sen tatsächlicher Hergang in der Zunft heftig umstritten war; die etwa zehnminü- tige Begegnung von Popper und Wittgenstein wurde zu einer Legende. Während das Aufeinandertreffen der beiden Wissenschaftler in einigen Darstellungen keine Erwähnung fand und in Einigen als lautstarkes Wortgefecht beschrieben wurde, gingen Popper und Wittgenstein in anderen Beschreibungen mit glühen- den Feuerhaken aufeinander los. „Der Widerspruch der Darstellungen entbehrt nicht einer delikaten Ironie. Sind doch ihre Urheber allesamt Leute, die sich von Berufs wegen mit Theorien der Erkenntnis, des logischen Denkvermögens und der Wahrheit befassen.“51 In die Kontextanalyse flossen Dokumente der Kernkraftkontroverse ein wie beispielsweise Protokolle der Bergedorfer Gespräche oder des Gorleben- Hearings. Zusätzlich wurden zeithistorische Schriften zum Thema konsultiert. Die Auswahl erfolgte akteurbezogen, indem in erster Linie Dokumente herange- zogen wurden, an denen Mitglieder der Kommissionen beteiligt waren. Dies erlaubt einerseits den Diskussionsstand in Wissenschaft und Politik einzufangen und andererseits die personellen Verflechtungen herauszuarbeiten. Weitere Hin- tergründe und für die Diskursanalyse wichtige Informationen wurden anhand von Tages- und Wochenzeitungen gewonnen. Insgesamt war es mit diesen Mate- rialien und Dokumenten möglich, einen dichten Quellenteppich als Grundlage für die Untersuchung zu weben.

51 David J. Edmonds/John A. Eidinow, Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerha- ken drohte. Eine Ermittlung, Frankfurt am Main 20052, S. 13.

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Methode

Die Frage nach Wissen impliziert, das Material methodisch einer historischen Diskursanalyse zu unterziehen.52 Dabei wurde Foucault folgend zunächst einmal von der Positivität des Diskurses und seiner Aussagen ausgegangen.53 Im Rah- men einer Kontextanalyse werden biographische, situative, mediale, institutio- nelle und historische Bedingungen des Diskurses dargelegt, um der Kopplung an gesellschaftliche Praktiken und vor allem der für die theoretische Basis der Ar- beit entscheidenden Verbindung von Wissen und Macht Rechnung zu tragen.54 So kann beispielsweise der Frage nachgegangen werden, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in eine politisch oder lobbyistisch entsprechend handhabbare Inter- pretation transformiert wurden. In einer Makroanalyse wurden Worte, Argu- mente und Abgrenzungen herausgefiltert, die immer wieder auftauchen, den Diskurs zusammenhalten und im Zentrum der Auseinandersetzung sind. Hier manifestiert sich eine Feststellung, die bereits Joachim Radkau machte: Dass es sich bei der Auseinandersetzung keineswegs um einen „stereotypen Schlagabtausch mit dem immer gleichen Arsenal an Argumenten“55 handelte. Nicht einmal lassen sie sich in ein klares Pro-Contra-Schema einordnen; dass Pro- und Contra-Diskurs nicht immer über eine klare Trennlinie verfügen, wird in der Analyse deutlich. Die Untersuchung des Kommunikationsstils wird den Weg zu der weitgehend gemeinsam getragenen Empfehlung weisen. Der Kontext zur Energiepolitik und Politikberatung sowie zur Rezeption bildet eine Klammer, die Rückschlüsse darauf zulässt, wie aus wissenschaftlicher Politikberatung sachadäquate Beratung resultieren kann.

d. Begriffe und Differenzierungen

Die Kombination von biographischem Ansatz, einer detaillierten Analyse des Beratungsprozesses und einem Vergleich erlaubt es, Generalisierungen zum Thema wissenschaftliche Politikberatung auf der Mikroebene zu prüfen. Die abstrakten Strukturen der Beratung werden mit Leben gefüllt. Um sich aber der

52 Achim Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an „Wissen“ als Kategorie historischer Forschung, in: Ders., Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kul- turgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 61–89, S. 88. 53 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 2003 (Nachdruck, frz. OA 1969), S. 92. 54 Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 109ff. Zu Foucaults Machtbegriff vgl. beispielsweise: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1983 (frz. OA 1976), S. 101–114. 55 Radkau, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur, S. 307.

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Gefahr einer Überhöhung der einzelnen Akteure und Aspekte nicht auszusetzen sind ganz grundsätzliche, übergeordnete Überlegungen anzustellen, die am Ende an die Ergebnisse der Mikrostudie angelegt werden.

Grenzen des Wissens und der Umgang mit Unsicherheit

Wissen56 wird in dieser Arbeit als analytische Kategorie herangezogen. Als Wis- sen wird verstanden, was mit wissenschaftlichen Methoden eruiert wird und belegbar ist. Es wird als sozialfunktional bestimmt betrachtet; Wissen existiert nicht unabhängig von Zeit, Ort und Gesellschaft, es ist sozial konstruiert. Damit wird der Wissensbegriff von der ‚wahren Erkenntnis‘ getrennt; Wissen ändert sich, indem sich die Rahmenbedingungen ändern. Gerade in der Kernkraft- kontroverse wurde deutlich, dass wissenschaftliche Diskussionen nicht auf der Grundlage ‚wahr/falsch‘ geführt werden konnten. Vielmehr musste mit ‚infor- miertem Nichtwissen‘ hantiert werden. Sei es mit Blick auf die vorhandenen und erreichbaren Ressourcen des Öls oder auf die Sicherheit von Kernkraftwerken – aus einer Reihe einzelner verlässlicher Informationen wurden wahrschein- lichkeitstheoretische Modelle entworfen, die hypothetischen Charakter haben.57 Diese Unsicherheiten führten dazu, dass die vorhandenen Wissensbestände nach politischen Kriterien abzuwägen waren. Eine ähnlich realexperimentelle58 Situa- tion findet sich in der Gentechnikdebatte, wo die Folgen der Technologie nur begrenzt absehbar sind. Hier versuchte man allerdings im Gegensatz zur Kern- energie die negativen Begleiterscheinungen vor der breitflächigen Im- plementierung zu eruieren und zu bewerten. Wenn man über Wissen spricht, muss man mit Michel Foucault auch über Macht sprechen.59 Im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt es, den Mechanis- men, die das Wissen strukturieren und die durch das Wissen strukturiert werden, nachzugehen. Foucault folgend wird die Macht nicht als negativ, sondern als produktiv betrachtet. Dieser Ansatz schützt davor, die Wissenschaft als etwas

56 Orientiert ist diese Begriffsdefinition an den Überlegungen von: Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, S. 78f.; Ders., Geschichte des Sagbaren, S. 75–97; Otto Gerhard Oexle, Was kann die Geschichtswissenschaft vom Wissen wissen?, in: Achim Landwehr (Hg.), Geschich- te(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg 2002, S. 31–60. 57 Wolfgang Krohn, Das Risiko des (Nicht-)Wissens. Zum Funktionswandel der Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 97–118, S. 99, 107f. 58 Michael Groß/Holger Hoffmann-Riem/Wolfgang Krohn, Realexperimente. Ökologische Ge- staltungsprozesse in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2005. 59 Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1987, S. 72.

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‚Unpolitisches‘ zu betrachten; vielmehr sind Wissenschaft und Macht miteinan- der verquickt und schließen aneinander an.60 Ähnlich argumentiert Jean-François Lyotard, der Wissen und Macht als zwei Seiten einer Medaille betrachtet.61 „Weit entfernt davon, in einem Zustand der Unschuld zu existieren, ist Wissen immer und unweigerlich mit Macht verbunden“62, wie es Landwehr formuliert. Dementsprechend schließt sich auch ein konstruierter Gegensatz zwischen Wissenschaft und Politik aus. Mitchell G. Ash wendet sich explizit gegen die Betrachtung von Wissenschaft und Politik als zwei Systeme, die normativ Wis- senschaft als das Reich der Wahrheit und Politik als Reich der Macht stempeln. Vielmehr seien hier Wissenschaft und Politik – gemäß Ash – als „Ressourcen füreinander“63 zu betrachten. Grenzüberschreitungen finden auf beiden Seiten statt. Dies bietet die Möglichkeit, in der Untersuchung der Enquete- Kommissionen die Vernetzungen und Verbindungen der wissenschaftlichen und politischen Akteure in Augenschein zu nehmen.64 Achim Landwehr konstatiert „aus der Perspektive des Historikers einen enormen Nachholbedarf bei der Erfor- schung des Wissens und seiner Verzahnung mit dem Staat“65. Wenn man nun nach dem Umgang des Staates mit Wissen fragt, eignet sich die von Mark Casson entwickelte Theorie des Unternehmertums, die in die Neue Institutionenökonomie eingebettet ist.66 Für Unternehmer wie für den Staat – auch, wenn es sich um einen kollektiven Akteur handelt – ergeben sich durchaus vergleichbare Aufgaben und Probleme: Nicht nur hängt seine Funktionsfähigkeit entscheidend von der Fähigkeit ab, mit Informationen umzugehen. Auch sind soziale Netzwerke notwendig, um Wissen aus anderen Bereichen der Wirtschaft und ihren Organisationen zu verwenden – in der Energiepolitik insbesondere von Energieversorgungsunternehmen, Gewerkschaften, aber auch von wissen- schaftlichen Einrichtungen.

60 Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 44f. 61 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1985 (frz. OA 1979), S. 76ff, 175ff. 62 Landwehr, Das Sichtbare sichtbar machen, S. 87. 63 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschland, in: Jürgen Büschenfeld/Heike Franz/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 117–134, S. 117ff. 64 Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, S. 119. 65 Achim Landwehr, Zur Naturalisierung von Wissen und Staat. Wissensgeschichte in kritischer Absicht, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theo- rie und Praxis, Baden-Baden 2004, S. 65–71, S. 69. 66 Mark Casson, Der Unternehmer. Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: GG 27/2001, S. 524–544.

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Ein für diese Arbeit entscheidender Baustein der Unternehmertheorie Cassons ist der Bezug auf Frank Knight, der den Ansatz von Richard Cantillon erweiterte, indem er die Unterscheidung zwischen Unsicherheit und Risiko ein- führte. Gegen Unsicherheiten sei eine Versicherung nicht möglich, denn die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses könne nicht ermittelt werden und die Resultate könnten nur subjektiv beurteilt werden. Eine Versicherung gegen Risiken sei hingegen möglich, da man durch wiederholte Transaktionen bereits eine relative Sicherheit erlangt habe67 – durch optimierte Entscheidungs- regeln sei es also zu einer Routine gekommen. Ziel eines Unternehmers sei es folglich, die Unsicherheiten zu minimieren.68 Der Vorteil der Knightschen Be- trachtung ist, dass anders als bei Begriffen wie Nichtwissen in dieser Terminolo- gie Wissen und Unsicherheit sowie Routine und Risiko klar voneinander abge- grenzt sind. Als die wichtigste unternehmerische Funktion destilliert Casson, „die Fä- higkeit zur Urteilsbildung in wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen“69. Glei- ches lässt sich für politisches Handeln subsumieren. So mussten beispielsweise im Falle des Brüters Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit gefällt werden, die neben den staatlichen Investitionen auch Investitionen von Unter- nehmen betrafen. Die Generierung von Informationen kostete sowohl Zeit als auch Geld70 und dadurch, dass während der Bauzeit aufgrund von unter- schiedlichen Seiten geforderter Überprüfungen zusätzliches Wissen eruiert wer- den musste, erhöhten sich die ganz praktischen Baukosten durch Verzögerungen zusätzlich. Letztlich liegt das Ausmaß der Unsicherheit, unter dem eine Entscheidung zu fällen ist, im Auge des Betrachters. Hinzu kommt, dass nicht jede Information verlässlich ist. Dies betrachtet Casson als das größte Risiko, dem der Unterneh- mer nur durch sorgfältige Überprüfung beikommen könne. Hinzu kommt das Problem unterschiedlicher Interpretationen bei der Auswertung von Informatio- nen.71 Dass es sich in der Energiefrage um eine komplexe Entscheidung handelt, liegt allein aufgrund der zahlreichen Akteure, die sich zusätzlich zu Wort melde- ten, auf der Hand.72 Als verbindendes Element dient das Vertrauen; wenn das

67 Frank Knight, Risk, Uncertainty, and Profit, Boston 1921. 68 Vgl. auch: Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992 (engl. OA 1990), S. 91. 69 Casson, Der Unternehmer, S. 528. 70 Zur Frage der Transaktionskosten vgl.: Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, 4 Economica (n.s.) 386/1937; North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, S. 32–42. 71 Casson, Der Unternehmer, S. 528f. 72 Ebd., S. 530.

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Vertrauen fehlt, entstehen zusätzliche Transaktionskosten.73 Insofern ist es nicht nur notwendig, die Unsicherheiten zu minimieren, sondern auch vertrauensbil- dende Maßnahmen zu ergreifen, um Akzeptanz für politisches Handeln zu erhal- ten. Ein Problem hat der Unternehmer allerdings nicht: Die Politik kann von ihr gewünschte unternehmerische Entscheidungen lediglich durch Subventionen und andere Steuerungsmaßnahmen vorbereiten, die tatsächliche Entscheidung aber liegt bei den einzelnen Unternehmen. Auf Grundlage dieser Theorie lässt sich die Funktionsfähigkeit des Staates im Umgang mit Informationen, die Wirkungsweise des Instrumentes Enquete- Kommission vor dem Hintergrund der einflussnehmenden Organisationen sowie der institutionelle Wandel auf den Prüfstand stellen. Zu ergänzen sind nun die Auswirkungen des wachsenden Einflusses von Wissen auf die Diskussion über Energiepolitik selbst. Bereits Douglass C. North plädierte neben einer ersten wirtschaftlichen Revolution um 8000 v. Chr. für eine zweite am Ende des 19. Jahrhunderts, die von einer wachsenden Bedeutung des immateriellen Pro- duktionsfaktors Wissen geprägt ist.74 Den Wandel, der am Ende des 19. Jahr- hunderts in Richtung einer „immateriellen, wissenschaftsgestützten Wert- schöpfung“75 einsetzte, analysierte Werner Abelshauser und diagnostizierte den Eintritt der Unternehmen nicht nur in die Globalisierung sondern auch in die Wissensgesellschaft.76 Eine Kombination des wirtschaftshistorischen Ansatzes Cassons mit dem soziologischen Konzept der Wissensgesellschaft bietet sich an, um von dem eher generalisierenden Analyserahmen zur historischen Entwicklung des Umgangs mit technologischen Unsicherheiten vorzudringen. Kritisiert wird das Konzept der Wissensgesellschaft vor allem aufgrund der Annahme, dass die moderne

73 Zur Kategorie des Vertrauens in der Neuen Institutionenökonomie: Douglass C. North, Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988 (engl. OA New York 1981); als Überblick vgl.: Rudolf Richter, Institutionen ökonomisch analysiert. Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiet der Wirtschaftstheorie, Stuttgart 1994, S. 9; vgl. außerdem auch: Toni Pierenkämper, Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in die Metho- den und Ergebnisse (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1), Stuttgart 2000, S. 258f.; Stefan Gorissen, Der Preis des Vertrauens. Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen – historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 90–118; Stefanie van de Kerkhof, „It’s good to have a reliable navy!“ – Zur Rolle von Vertrauen und Sicherheit im Marketing deutscher Rüstungsunternehmen, in: Chris- tian Hillen (Hg.), „Mit Gott“. Zum Verhältnis von Vertrauen und Wirtschaftsgeschichte, Köln 2007, S. 107–124. 74 North, Theorie des institutionellen Wandels. 75 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 35. 76 Ebd.; Werner Abelshauser, Umbruch und Persistenz. Das deutsche Produktionsregime in historischer Perspektive, in: GG 27/2001, S. 503–523, S. 509, 511f.

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Gesellschaft nicht die Erste sei, die maßgeblich auf Wissen beruhe.77 Wenn man allerdings von dem ursprünglich erhobenen Anspruch eines epochalen Bruches Abstand nimmt und sich auf die Phase konzentriert, in der eine Situation der Überforderung für die Wissenschaft eintrat, an der sie an ihre Grenzen stieß, bietet der Ansatz doch einige Grundlagen, die für die Fragestellung dieser Arbeit weiterführend sind.78 Die Diskussion um die Wissensgesellschaft nahm ihren Ausgang in den 1960er Jahren, um die Kennzeichen und Strukturen der postindustriellen Gesell- schaft zu definieren. Autoren wie Daniel Bell sahen das wesentliche Merkmal der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft darin, dass theoretisches, wissen- schaftlich legitimiertes Wissen immer mehr zum Motor von Innovation und sozialem Wandel wurde.79 Nico Stehr führte diesen Gedanken weiter und diagnostizierte die Durch- dringung aller Lebens- und Handlungsbereiche mit wissenschaftlichem Wissen, also die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft. Vom Zukunftsoptimismus der Autoren der 1960er und 1970er Jahre setzte sich Stehr ab, indem er die Idee negiert, dass eine künftige wissensbasierte Gesellschaft auf vorhersehbar und planbar sei.80 Peter Weingart beschreibt drei Phasen der Verwissenschaftlichung und nennt als paradigmatisch für die dritte Phase, in der die Definitionsmacht der Wissenschaft in die Krise gerät, die friedliche Nutzung der Kernenergie. Typisch für die Periode seien erstens der Trend vom Laborexperiment zur Simulation und damit die Aufhebung der Grenzen zwischen Grundlagenforschung und ange- wandter Wissenschaft und zweitens die zunehmend transdisziplinäre For- schungsorganisation. Drittes Element sei die Einbettung von Großtechnologien in ‚komplexe soziale Gebilde‘, in denen Wissenschaft in Legitimierungszwänge gerät, und die Distanz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit schwindet.81 Das Konzept der Wissensgesellschaft erlaubt es also, die konkurrierenden Wis- sensbestände in den Griff zu bekommen und gleichzeitig auch nach Demokrati- sierung zu fragen. Kombiniert mit Ashs Ressourcenbegriff, der finanzielle, kog- nitive, apparative, personelle, institutionelle und rhetorische Ressourcen beinhaltet, ist es möglich, sowohl Handlungsspielräume als auch Interaktionen innerhalb des Politikberatungskontextes darzustellen.

77 Vgl. zur Kritik am Konzept der Wissensgesellschaft z.B.: Landwehr, Zur Naturalisierung von Wissen und Staat, S. 65. 78 Peter Weingart/Martin Carrier/Wolfgang Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft, Weilerswist 2007, S. 25f., 37. 79 Bell, The Coming of Post-Industrial Society, S. 37, 213. 80 Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main 1994, S. 280–292. 81 Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, S. 24ff.

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Die optimistische Variante der Wissensgesellschaft wäre die Informations- gesellschaft82, danach könnte wissenschaftliches Wissen dazu genutzt werden, die Gesellschaft politisch rationaler, sozial gerechter, wirtschaftlich effektiver und der Umwelt gegenüber umsichtiger zu gestalten. Dem gegenüber stünde die pessimistischere Risikogesellschaft83, in der Wissenschaft und Technik nicht nachhaltig und sozial gerecht eingesetzt werden. In dieser Spannung steht die Wissensgesellschaft, die einerseits mit der in die Wissenschaft gesetzten Hoffnung und andererseits mit den negativen Aus- wirkungen von Technik umgehen muss. „Entsprechend bildet der Begriff der Wissensgesellschaft gleichsam einen Hohlspiegel zur Fokussierung von Zu- kunftshoffnungen und Risikoerwartungen.“84

Expertise/Sachverstand und das Dilemma

Wenn man also das Wissen in der Wissensgesellschaft untersucht, muss man fragen, welche Wissensquellen sprudeln und welche herangezogen werden. Die Termini ‚Expertise‘ und ‚Sachverstand‘ wurden schon mehrfach erwähnt, eine Klärung des Begriffspaares steht jedoch noch aus: Als Expertise wird in dieser Arbeit die wissensbasierte Beratung in Entscheidungskontexten verstanden, die sich auf professionelle, aber nicht zwingend wissenschaftliche Kompetenzen stützt.85 Da Enquete-Kommissionen einem korporatistischen Beratungsmodell folgen, finden sich hier nicht nur Berater aus wissenschaftlichen Institutionen sondern auch Interessenvertreter. Sachverständige mit wissenschaftlichem Hintergrund nehmen bei der Frage nach Wissen in der Politikberatung eine Sonderrolle gegenüber Experten aus dem Wirtschaftsbereich ein. Gleichwohl muss immer im Auge behalten werden, dass Wissenschaftler sich ebenso politisch wie auch als Manager verhalten. Im Rahmen der Kernkraftkontroverse wurde deutlich, dass die wissenschaftlichen Experten in die politische Kontroverse eingebunden waren und somit nicht mehr als neutrale Instanz gelten konnten. Gegenexpertise und die Zuordnung zu politi- schen Positionen zogen einen Verlust an Autorität und Legitimation nach sich und zeigten sowohl die Ungewissheit wissenschaftlichen Wissens als auch Unsi-

82 Simon Nora/Alain Minc, Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 1979 (frz. OA 1978). 83 Beck, Risikogesellschaft. 84 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 13. 85 Vgl. zum Unterschied zwischen Wissenschaft und Expertise z.B.: Thomas Saretzki, Demo- kratisierung von Expertise? Zur politischen Dynamik der Wissensgesellschaft, in: Ansgar von Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutsch- land. Möglichkeiten und Grenzen, Baden-Baden 1997, S. 277–313, S. 277f.

32 cherheiten wissenschaftlicher Aussagen.86 Darin manifestiert sich das so genann- te Expertendilemma. Weingart geht auf den Orientierungsverlust ein, der aus der Uneinigkeit der Experten resultiert: Wissenschaftlicher Dissens werde in den politischen Raum verlegt und unter Regeln politischer Debatte geführt.87 Gleich- zeitig kann ein Sachverständigenrat schlicht zur Legitimierung der politischen Argumente herangezogen werden. So diente bereits manche Enquete- Kommission schlicht der politischen Auseinandersetzung. Wissen im Beratungsfeld, das also in einer Form von ‚Dienstleistungs- zusammenhang‘ erarbeitet oder angewandt wird und folglich in handlungsorien- tiertem Verwendungsraum steht, ist außerdem zu unterscheiden von dem Wis- sen, das in einem rein wissenschaftlichen Kontext entsteht.88 Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass die Sachverständigen je- weils eingebunden sind, so dass ihr Handeln auch im jeweiligen Kontext zu betrachten ist. Dies betrifft die Frage nach den Institutionen, denen sie an- gehören, ebenso, wie die Frage nach den Interessen, die diese Einrichtungen vertreten. Insofern ist – im unternehmerischen Sinne – von Entscheidern in die Bewertung und Auswahl von Informationen auch einzubeziehen, welches Ziel der jeweilige Berater verfolgt. Zu bedenken ist weiterhin das Phänomen der ‚Beratungsresistenz‘, denn ei- ne Expertise muss von dem Beratenen selbstverständlich nicht angenommen werden. So kann zunächst eingefordertes Wissen zurückgewiesen werden, wenn der gebotene Sachverstand nicht im Interesse des Beratenen liegt. Bei Enquete- Kommission ist zudem der besondere Fall zu bedenken, dass es sich bei dem Beratenen – dem Bundestag – um einen kollektiven Akteur handelt und somit der Adressat offen ist.

Erfolg

Der theoretische Rahmen bot bereits einige Hinweise darauf, wie über das Krite- rium des Erfolges reflektiert werden kann. In dieser Studie wird der Leistungsfä- higkeit von wissenschaftlicher Expertise vor dem Hintergrund einer Rasterfolie nachgegangen, die sich von einer häufig anzutreffenden Anwendung des Begrif-

86 Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003, S. 127f., 143; Helge Torgersen, Expertise und Politik im Widerstreit? Entscheiden unter dem Vorsorgeprinzip, in: Alexander Bogner/Helge Torgersen (Hg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissen- schaft und Politik, Wiesbaden 2005, S. 67–85, S. 67. 87 Peter Weingart, Das „Harrisburg-Syndrom“ oder die De-Professionalisierung der Experten, in: Helga Nowotny, Gefahr oder Notwendigkeit? Anatomie eines Konfliktes, Frankfurt am Main 1979, S. 9–17, S. 15. 88 Krohn, Das Risiko des (Nicht-)Wissens, S. 107.

33 fes zur Bewertung von wissenschaftlicher Politikberatung unterscheidet. Insbe- sondere bei dem hier behandelten Instrument der wissenschaftlichen Politikbera- tung, der Enquete-Kommission, ist eine derart differenzierte Folie unabdingbar. Denn eine Beurteilung anhand der Zahl von umgesetzten Gesetzesvorlagen ent- spricht schlicht nicht der Idee dieses Beratungsinstrumentes, das Entscheidungen vorbereiten, aber nicht vorwegnehmen soll. Würde man nach eins zu eins umge- setzten Empfehlungen fragen, wäre der ‚Umsatz‘ der Gremien gering. Vor allem aber würde die Enquete-Kommission damit an die Stelle des Parlaments treten. Enquete-Kommissionen dienen meistenteils primär der politischen Auseinander- setzung und sekundär der Beratung; insofern sind sie als Teil des größeren Poli- tikprozesses zu betrachten. Grundlage ist zunächst einmal die Anwendung des mehrdimensionalen Po- litikbegriffes,89 wie es im angloamerikanischen Raum üblich ist, nämlich aufge- spalten in policy, politics und polity. Policy bezeichnet materielle Politik und meint inhaltlich die für die Praxis relevanten Aktivitäten, Entscheidungen sowie in Programmen festgehaltene Entscheidungen. Auf dieser Ebene sind Muster, Sichtweisen sowie ein langfristiger Denkwandel zu hinterfragen. Politics beschreibt die prozessuale Dimension, also die Entwicklung von Entscheidungen, das Aushandeln und die Art der Zustimmung. Hier findet sich eine Annäherung an die Machtgruppen – sowohl auf Ebene der Politik, als auch auf Ebene der Wissenschaft. Der Handlungsrahmen, also die Bedingungen und Regeln, nach denen sich politisches Handeln zu richten hat, werden mit polity bezeichnet. Diese instituti- onelle Dimension erlaubt die Frage nach dem Dialog in der Politikberatung. Der Diffusion des Wissens kann auf diese Weise im Einzelnen gefolgt wer- den – auch auf der Ebene der beteiligten Experten. Eine Bewertung des Um- gangs mit Wissens-, Werte- und Interessenpluralismus ist ebenso möglich wie eine Einordnung der politischen Funktion und der Distanz zur Politik. Gleichzei- tig treten beim Vergleich der beiden Enquete-Kommissionen anhand dieser Ras- terfolie die Unterschiede deutlich zu Tage und erlauben den Realitätstest theore- tischer Annahmen zur Politikberatung.

Konsens: Problematik eines Begriffes

Bis Mitte der 1970er Jahre glaubte man, dass in der Bundesrepublik ein kern- energiepolitischer ‚Atomkonsens‘ herrsche, der auch als solcher bezeichnet wur- de. Doch was war die Basis dieses Atomkonsenses? Er beruhte nicht auf einer

89 Zur Terminologie vgl.: Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken, Stuttgart/Berlin/Köln 19942, S. 61–67.

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Auseinandersetzung mit der Thematik, sondern auf einer Form unhinterfragter Akzeptanz. ‚Konsens‘ als ‚Zauberwort‘ für Enquete-Kommissionen anzunehmen, wie es Altenhof konzediert,90 kann hier kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden, da es bei den Ergebnissen der Kommission gerade nicht um eine Ja/Nein- Entscheidung geht, sondern um eine Empfehlung. Nicht zuletzt da sich die Insti- tution selbst einem Minderheitenrecht verdankt, ist die Darstellung der verschie- denen Positionen durchaus ein gewünschter Effekt. So kann es auch vorkommen, dass, wie bei der Gentechnik-Enquete, das Minderheitsvotum umgesetzt wurde.91 Im Zentrum der vorliegenden Studie steht das Wissen. Sobald es sich um konfligierende Wissensbestände handelt, kann ein Konsens über eine Sache nicht mehr gefunden werden. Es ist höchstens möglich, auf basaler methodischer Ebe- ne zu einer Einigung so kommen. Insofern interessieren in dieser Arbeit vor allem die Aushandlung von Kompromissen und der Austausch von Argumenten und Wissen. Es sollte also idealiter nicht Akzeptanz das Ziel sein, vielmehr sollte mit Argumenten überzeugt werden. An dieser Stelle sei auf Karl Popper verwiesen, der das Prinzip des Konsen- ses als ungenügend zurückweist. Denn entweder sei der Konsens eine im Dialog erzielte Übereinstimmung von Menschen, die über erkennende Intelligenz und freien Willen verfügen – wie bei Habermas –, oder aber der Konsens werde vom System als eine seiner Komponenten manipuliert, um seine Performanzen auf- rechtzuerhalten und zu verbessern – wie bei Luhmann; Konsens würde also zum Gegenstand administrativer Verfahren.92 Wenn man also von der Beschreibung der wissenschaftlichen Pragmatik ausgeht, muss die Betonung in dem Fall auf den Dissens gelegt werden, denn Konsens kann niemals erworben werden.93

90 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 51, 209. 91 Dabei handelte es sich um keine direkte Umsetzung, sondern lediglich um eine praktische Umsetzung. 92 Karl Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Stuttgart 19924. 93 Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 26, 135, 175ff.

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Prolog: Die Empfehlung der Kommission

Die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik legte im Juni 1980 einen Bericht94 vor, der einer kleinen Revolution gleichkam. Die 15 Wissen- schaftler und Abgeordneten hatten sich weitgehend auf eine gemeinsame Emp- fehlung geeinigt, die nicht nur zeigte, dass es möglich ist, sowohl mit als auch ohne Kernenergie eine funktionierende Volkswirtschaft zu erhalten, sondern auch vier Kriterien nahelegte, nach denen über Energiesysteme zu entscheiden sei.

Der Hauptkompromiss der Kommissionsmehrheit ...

„Es ist heute in breitem Konsens nicht möglich, sich für oder gegen die langfristige Nutzung der Kernenergie auszusprechen.“95

Dies ist vermutlich der entscheidende, aber auch der am stärksten kritisierte Satz der Gemeinsamen Schlußfolgerungen für die Energiepolitik der 80er Jahre – des Kompromisses der Enquete-Kommission, dem sich außer den Unionsabgeordne- ten alle Sachverständigen sowie FDP- und SPD-Mitglieder anschlossen. Eine Entscheidung für oder gegen Kernenergie könne demnach erst 1990 gefällt wer- den, wenn die vom Gremium empfohlenen Maßnahmen zum Energiesparen und zur Technologieentwicklung in Angriff genommen worden seien. Nach diesen 10 Jahren sollten die Kriterien für die Bewertung von Energiesystemen „einen rationalen Vergleich der beiden Wege [mit und ohne Kernenergie, C.A.] in fairer Konkurrenz“96 und eine Entscheidung für einen der vier energiepolitischen Pfade ermöglichen. Für die 1980er Jahre hieß dies, die Phase Kernenergie I zu verfolgen: Kern- energie zu nutzen und nach Bedarf neue Reaktoren zu bauen; nichtsdestoweniger sollten die technologischen Entwicklungsarbeiten an Systemen, die Brennstoff erbrüten sowie an der Wiederaufarbeitung ohne kommerzielle Nutzung fortge-

94 PA DBT Drs. VIII/4341, Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘ über den Stand der Arbeit und die Ergebnisse, 27. Juni 1980. 95 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 194. 96 Ebd.

37 setzt werden, um am Ende der 10 Jahre technische Reife demonstrieren zu kön- nen. Damit wäre – so die damaligen Überlegungen – der Übergang in die Phase Kernenergie II sichergestellt, in der die kommerzielle Nutzung fortgeschrittener Reaktorlinien vorgesehen war – falls sich herausstellen sollte, dass eine energie- politische Zukunft ohne Kernenergie nicht möglich ist.97

KERNENERGIE I KERNENERGIE II

1980 1990

Fig. 1: Die Phasen der Kernenergienutzung

Während der Phase Kernenergie I war auch die Möglichkeit offen zu halten, auf Kernenergie ganz zu verzichten. Ernsthafte Energiesparmaßnahmen und erneu- erbare Energien sollten gefördert und nicht durch den Bau weiterer Leichtwas- serreaktoren behindert werden. „Es wird nachdrücklich empfohlen, auf eine größtmögliche Intensivierung von energiepolitischen Maßnahmen zur Förderung von Energieeinsparung und zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen hinzuwir- ken.“98 Die Kommission hielt dabei einen Mittelweg zwischen starkem und sehr starkem Sparen für die Obergrenze der Möglichkeiten. Die erneuerbaren Energieträger sollten im Jahre 2030 mindestens 50 Milli- onen t SKE zur Energieversorgung beitragen. In diesem Zusammenhang müsse man prüfen, inwieweit die institutionellen Voraussetzungen zur Förderung er- neuerbarer Energien verbessert werden könnten.99 Zwei Studien wurden zur Förderung des kernenergiefreien Weges empfoh- len: Eine zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgewirkungen bei sehr starkem Energiesparen und eine zu erneuerbaren Energien, bei der eine energie- wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt werden sollte. An beiden Studien waren in einem parallelen Verfahren Befürworter und Skeptiker der jeweiligen Wege zu beteiligen.100 Die beiden Entsorgungsvarianten – mit und ohne Wiederaufarbeitung – sollten in einem Sicherheitsvergleich geprüft werden. Der ‚parallele Ansatz‘, mit dem die Regierung gleichzeitig verschiedene Entsorgungstechniken nach der

97 Ebd., S. 194f. 98 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 196. 99 Ebd. 100 Ebd.

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Zwischenlagerung prüfen wollte,101 sollte also auch nach dem Verständnis der Kommission für die 1980er Jahre fortgeführt werden. Zur Wiederaufarbeitung sollte ein Gutachten über die notwendige Größe einer entsprechenden Anlage erstellt werden.102 In der Frage, ob der Schnelle Brüter politisch verantwortbar sei, konnte die Kommission sich nicht einigen. Einig war sich die Mehrheit allerdings darüber, dass zusätzliche Informationen notwendig seien: Erstens sollte eine Studie zur Obergrenze der Energiefreisetzung bei einem Bethe-Tait-Störfall angefertigt werden; bei dem nach zwei Physikern benannten Störfall könnte es durch den Ausfall der Kühlung sowie der Schnellabschaltsysteme in einem Schnellen Brut- reaktor zu einem unkontrollierten Leistungs- und Temperaturanstieg kommen; dies könnte neben dem Schmelzen der Brennelemente auch die Freisetzung ho- her Mengen von Radioaktivität nach sich ziehen.103 Die von der Kommission geforderte Studie sollte die Frage nach der Obergrenze für den Reaktor stellen, damit er für einen solchen Störfall ausgelegt sei. Zweitens sollte in einer Risikoorientierten Studie untersucht werden, ob der SNR300 einem modernen Leichtwasserreaktor sicherheitstechnisch entspreche. Diese Arbeiten sollten abgekoppelt vom Genehmigungsverfahren des Schnellen Brüters durchgeführt werden, um den Bau nicht zusätzlich zu behindern. Auch hier waren Wissenschaftler mit unterschiedlicher Haltung zur Brutreaktor- technologie zu beteiligen.104 Um die entsprechenden Studien auszuwerten und Aufgabenteile zu bear- beiten, die im vorliegenden Zwischenbericht noch keinen oder unzureichenden Niederschlag gefunden hatten, plädierte die Mehrheit des Gremiums dafür, die Kommissionsarbeit in der kommenden Wahlperiode fortzusetzen.105

... und das Minderheitsvotum

Die drei Unionsabgeordneten konnten sich diesem Kompromiss nicht an- schließen. Sie hielten fest, dass Einsparmöglichkeiten genutzt werden müssten, und dass der Markt letztlich über die Zusammensetzung der Einzelbeiträge an

101 Vgl. zum ‚parallelen Ansatz‘ die Ausführungen von Staatssekretär Günter Hartkopf (BMI) in der Enquete-Kommission: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 24. September 1979, S. 5/6–5/14. 102 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 195ff. 103 Eine weitere mögliche Ursache für einen Bethe-Tait-Störfall wäre ein positiver Blasen- koeffizient: Die Leistung steigt an, wenn im Kernbereich statt Natrium eine Gasblase vorhan- den ist. 104 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 197. 105 Ebd., S. 22f.

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Energieversorgung entscheide. Unverzichtbar seien Kohle und Kernenergie, und bis 1990 sollten jährlich etwa zwei neue Kernkraftwerke gebaut werden, um den Energiebedarf decken zu können.106 Die CDU/CSU-Politiker empfahlen die Studien zum Brüter ebenso wie die Förderung erneuerbarer Energien sowie des rationellen Umgangs mit Energie. Besonders wichtig sei es dabei, die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren. An anderen Stellen des Berichts finden sich allerdings noch einmal Minder- heitsvoten zu Teilen des oben beschriebenen Hauptkompromisses. So legten Birkhofer, Knizia, Schaefer und die Unionsabgeordneten in ihrem Minderheits- votum zum Berichtsteil Schneller Brüter keinen Wert darauf, in die Risikoorien- tierte Studie Gegner der Brutreaktortechnologie einzubeziehen.107 Der Teufel beim Hauptkompromiss steckt wie sich noch genauer zeigen wird im Detail.

Kriterien

Um über die verschiedenen Energiesysteme entscheiden zu können, hat sich die Kommission auf vier Kriterien geeinigt: Wirtschaftlichkeit, internationale Ver- träglichkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Da diese Kriterien sich nicht in Zahlen messen lassen, sollten die ‚klassischen‘ quantitativen Verfahren zur Be- urteilung technischer Risiken zusätzlich herangezogen werden. Allerdings sei der bisherige Ansatz, Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß zueinander in Relation zu setzen, für eine Akzeptanz – insbesondere der nuklearen Technolo- gien – nicht hinreichend; vielmehr sollte auch das maximale Schadensausmaß mit einbezogen werden, um den Kriterien folgend urteilen zu können. Die Ge- wichtung der verschiedenen Kriterien falle letztlich ihrer politischen Bewertung zu.108

Die vier Pfade

Die Kommission entwarf in ihrem Bericht vier energiepolitische Szenarien, die sich über einen Zeitraum von 50 Jahren – also bis zum Jahr 2030 – erstrecken. In Anbetracht der Unsicherheiten, die mit entsprechenden quantitativen Annahmen einhergehen, wollte das Gremium die Szenarien als „probeweises Ausleuchten von diskutierten Zukunftsperspektiven“109 verstanden wissen.

106 Ebd., S. 198f. 107 Ebd., S. 342ff. 108 Ebd., S. 30ff. 109 Ebd., S. 49.

40

Einheitlich für alle Pfade war erstens die Annahme zur Bevölkerungsentwick- lung; danach lebten im Jahre 2000 etwa 57 Millionen und im Jahr 2030 etwa 50 Millionen Menschen in der Bundesrepublik. Die Zahlen lagen über denen des Statistischen Bundesamtes. Zweitens ging die Kommission für alle vier Pfade von Komfortsteigerungen in den privaten Haushalten aus. So nahm die beheizte Wohnfläche um den Faktor 1,4 zu, der Warmwasserbedarf um den Faktor 1,7, die Energiedienstleistung mittels elektrischer Haushaltsgeräte um den Faktor 3,0 und die Verkehrsleistung privater Autos weitete sich um 25 Prozent aus.110 Unterschiede zwischen den Pfaden ergaben sich in erster Linie aus den ver- schiedenen Annahmen zum Wirtschaftswachstum, zum Strukturwandel der Wirtschaft, zum Wachstum der Grundstoffindustrie, zu den Energieeinsparungen und zu dem unterstellten Energieträgermix.111 In Pfad I setzt sich das damalige Wirtschaftswachstum bis 2000 weitgehend fort. Für die Zeit danach geht man von leicht abnehmenden Wachstumsraten aus. Die Wirtschaftsstruktur ändert sich im mittleren Bereich, das Trend-Sparen wird verfolgt. Die Kernenergie wird extensiv ausgebaut, und ab 2000 werden auch Schnelle Brüter und Wiederaufarbeitungsanlagen eingesetzt. Fossile Energieträ- ger stehen in diesem Pfad ausreichend zur Verfügung. Die Wachstumsannahmen dieses Pfades entsprechen den Zahlen, die der Zweiten Fortschreibung des Ener- gieprogramms der Bundesregierung zugrunde gelegt wurden. Das Energieprob- lem wird hier von der Angebotsseite her gelöst. Bis zum Jahr 2000 hätten etwa zwei Kernkraftwerke pro Jahr gebaut werden müssen, ab 2000 dann etwa vier.112 Pfad II geht von Beschaffungsproblemen bei fossilen Primärenergieträgern aus und setzt daher in höherem Maße auf Energiesparmaßnahmen. Die Wirt- schaftsstruktur wandelt sich stärker in Richtung Dienstleistungssektor und benö- tigt daher weniger Energie als in Pfad I. Außerdem wächst die Wirtschaft lang- samer als im ersten Pfad. Kernenergie wird weiter ausgebaut, allerdings nicht in vergleichbarem Umfang wie in Pfad I.113 In Pfad III verabschiedet man sich zunehmend von der Kernenergie, auch die Energiebeschaffung bereitet hier größere Probleme. Dies wird von sehr star- ken Energiesparmaßnahmen und einem starken Strukturwandel der Industrie flankiert. So ist es bei gleichem Wirtschaftswachstum wie in Pfad II doch mög- lich, ab dem Jahr 2000 auf Kernenergie zu verzichten.114 Pfad IV setzt auf sehr starke Sparmaßnahmen im Energiebereich und den schnellen und intensiven Einsatz regenerativer Energiequellen. Kohle wird ver-

110 Ebd., S. 52ff. 111 Ebd., S. 52. 112 Ebd., S. 75–81. 113 Ebd., S. 82–87. 114 Ebd., S. 87–90.

41 stärkt eingesetzt ebenso wie die Kraft-Wärme-Kopplung. Während die Wirt- schaft ebenso wie in Pfad II und Pfad III wächst, wandelt ihre Struktur sich sehr stark. Auf die Nutzung der Kernenergie wird verzichtet. Zugrunde gelegt wurden die Einsparraten, die in einer Studie des Öko-Instituts115 verwendet wurden. Das Energieproblem wird hier entsprechend von der Nachfrageseite her gelöst.116 Zu den Pfaden wurden außerdem noch Variationen berechnet, um andere Entwicklungen beispielsweise in der Grundstoffindustrie einbeziehen zu können.

Fig. 2: Die Vier Pfade in die Zukunft 117

115 Hartmut Bossel/Florentin Krause/Karl Friedrich Müller-Reissmann, Energiewende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran. Ein Alternativ-Bericht des Öko-Instituts, Frankfurt am Main 1980. 116 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 91–96. 117 Die Energie-Enquete des Deutschen Bundestages. Die 4 Pfade in die Zukunft, in: Bild der Wissenschaft Nr. 2, 1981, S. 80f. (Grafiker: Klaus Birkle).

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Die vier Energieszenarien wurden in dieser Form von allen Mitgliedern der Kommission als technisch möglich betrachtet und somit gemeinsam verab- schiedet. Sowohl die Abgeordneten wie auch die Sachverständigen gaben eine eigene Stellungnahme ab, in der sie ihre Haltung zu den einzelnen Pfaden und zu dem von ihnen jeweils favorisierten Pfad kommentierten.

62 oder 32 Energiesparmaßnahmen

Angesichts der Tatsache, dass für alle vier Pfade Energiesparmaßnahmen als notwendig erachtet wurden, entschloss sich die Mehrheit der Kommission, einen Maßnahmenkatalog mit 62 Vorschlägen zur rationelleren Nutzung der Energie anzufügen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen beziehen sich auf Einspar- möglichkeiten der Heizenergie bei Gebäuden, des Energiebedarfs im Verkehr, der leitungsgebundenen Energieversorgung in der Industrie und bei energie- technischen Geräten wie Heiz- und Klimaanlagen. Angeregt wurde außerdem, Veranstaltungen über energiesparende Technologien in die Aus- und Fortbildung der entsprechenden Berufsfelder zu integrieren.118 Dem Katalog konnte sich der Sachverständige Klaus Knizia (VEW) ge- meinsam mit den Unionsabgeordneten nicht anschließen. Die Minderheit legte einen eigenen Katalog mit 32 Maßnahmen vor.119 Die beiden Abgeordneten Peter Reuschenbach (SPD) und Karl-Hans Laer- mann (FDP) plädierten zwar für das Mehrheitsvotum, äußerten aber jeweils in einer Fußnote, dass sie nicht mit allen Maßnahmen des Mehrheitskatalogs kon- form gehen könnten. 120

Divergierende Voten und Meinungen im Bericht

Im Bericht finden sich an zahlreichen Stellen Hinweise auf Meinungsver- schiedenheiten unter den Kommissionsmitgliedern – in drei verschiedenen Va- riationen: Die erste und sehr offene Variante war das namentlich ausgezeichnete Min- derheitsvotum zu einzelnen Berichtteilen. Davon finden sich insgesamt fünf zu den entscheidenden Fragen der Kommission – drei wurden nur von den Unions- abgeordneten unterzeichnet, eines von den Unionsabgeordneten und Knizia, und

118 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 207–243. 119 Ebd., S. 244–262. 120 Ebd. 2, S. 217.

43 ein weiteres von den Unionsabgeordneten, Adolf Birkhofer, Klaus Knizia und Helmut Schaefer. Die zweite Variante war es, im laufenden Text die verschiedenen Positionen darzustellen; dies passierte sowohl namentlich wie auch nur als Mehrheit oder Minderheit qualifiziert. Eine dritte Variante, dezent aber doch deutlich auf die eigene Haltung hin- zuweisen, waren Fußnoten. Diese Art der Artikulation im politischen Raum bietet einige Finessen, denn die Fußnoten waren nicht Teil der Empfehlung, wie Ueberhorst zu einem späteren Zeitpunkt beispielsweise gegenüber Wolf Häfele klarstellte.121 Dies wiederum schien einigen Fußnotenschreibern nicht bewusst gewesen zu sein. Die Hauptbestandteile der Kommissionsempfehlung sind also Folgende: Bis 1990 werden Kernenergie, Energiesparmaßnahmen und erneuerbare Energien gleichermaßen gefördert, und nach 1990 sollten anhand der Kriterien und der vier Pfade die weiteren energiepolitischen Schritte überdacht werden. Lehnt man sich zu weit aus dem Fenster, wenn man diese Empfehlung, die ja durchaus ‚durchwachsen‘ ist, als eine ‚kleine Revolution‘ bezeichnet? Und versandete diese nicht schnell wieder?

121 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ueberhorst an Häfele, 1. Juni 1981.

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A. Energiepolitik und Politikberatung

Die 1970er Jahre der Bundesrepublik waren von starken Umbrüchen ge- kennzeichnet. Während im Bereich der Energiepolitik Versorgungsprobleme und eine zunehmende Kritik an der Atomenergie neues Nachdenken veranlassten, wurden mit der kleinen Parlamentsreform 1969 grundlegende Veränderungen im Umgang mit Wissen in der Politik angestoßen.

I. Zwischen Ölkrise und Ökologiebewegung

„Das ist der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Urkraft des Atoms ent- fesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet; [...] Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur zu friedlichen Zwecken einsetzt.“122

Diese Worte, die die Präambel des Godesberger Programms der SPD aus dem Jahr 1959 einleiten, exemplifizieren eindrücklich die Zukunftserwartungen, die mit den nuklearen Technologien in den 1950er und 1960er Jahren verbunden waren. In den 1970er Jahren geriet nicht nur das positive Bild eines ‚Atomzeital- ters‘ ins Wanken, auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Konstanten waren in Frage gestellt. Während die Grenzen des Wachstums vor einer Ausbeutung der Erde warnten, wurden die Proteste an den Bauplätzen von nuklearen Anlagen immer lauter. Die wachsenden Unsicherheiten riefen nach einem Umdenken in der bisherigen Energiepolitik. Glaubte man in den 1960er Jahren noch fest an die Planbarkeit der Zukunft, schienen politische und gesellschaftliche Ereignisse dem zu widersprechen.

122 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, in: Bibliothek der Friedrich Ebert Stiftung, Netz-Quelle, http://library.fes.de/pdf- files/bibliothek/retro-scans/fa-57721.pdf (12. Mai 2008), S. 5 (Hervorhebungen im Original).

45 a. „Die Grenzen des Wachstums“: Eine Problemskizze

Nach wie vor werden in der Geschichtswissenschaft verschiedene Zeitdiagnosen für die 1970er Jahre diskutiert. Die Stimmungsbilder, die in dieser Zeit ver- öffentlicht wurden, waren geprägt von einer Krisenrhetorik. Sicherlich fallen bei einer ersten Betrachtung Phänomene wie Ölpreiskrisen, wirtschaftliche Re- zession, begrenzte Ressourcen, die exorbitante Verschuldung von Ländern der Dritten Welt und der Terrorismus auf. Auf den zweiten Blick sind aber auch eine neue Ostpolitik und eine Erweiterung der Parteien um grüne Kleinparteien zu beobachten; Bürger nahmen ihre politischen Anliegen in Bürgerinitiativen und Verbänden selbst in die Hand. Insofern greift der Titel Kurt Sontheimers von 1979 Die verunsicherte Republik123 etwas zu kurz. Vielmehr scheint die von Sontheimer diagnostizierte Verunsicherung zu einer neuen Form politischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Emanzipation geführt zu haben. Vier Krisenphänomene waren für die Diskussion um die Energieversorgung und die Beurteilung der Anti-Atomkraftbewegung entscheidend: die Wirt- schaftskrise, die These dahinschmelzender Weltressourcen, die Ölpreiskrisen sowie der Terrorismus. Wie Werner Abelshauser konstatierte, war Wirtschafts- wachstum bis zum Anfang der 1980er Jahre das ‚Leitmotiv‘ der bundesrepubli- kanischen Nachkriegsgeschichte; es habe kaum andere Ziele gegeben. Entspre- chend stark war der Bruch, der durch die Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums entstand und öffentlich aufmerksam wahrgenommen wurde. Die beiden Ölpreiskrisen 1973 und 1979/80 gossen gleichsam zusätzlich Öl ins Feu- er. Plötzlich ließ sich der Massenarbeitslosigkeit mit den vorhandenen wirt- schaftspolitischen Methoden nicht mehr beikommen, und auch das Sozialsystem schien unter den neuen Bedingungen nicht mehr zu funktionieren.124 Im Jahr 1974 stieg die Arbeitslosigkeit von 273.498 (1,2 Prozent) auf 582.481 (2,6 Pro- zent) und machte 1975 einen Sprung auf 1.074.217 (4,7 Prozent) Menschen ohne Arbeit.125 Entsprechend veränderte sich die Zukunftserwartung „von Dur nach Moll“126. Vor diesem Hintergrund war die Antwort auf die Frage nach den Ressour- cen der Welt wenig ermutigend. Der Bericht des Club of Rome von 1972 ent- warf das Bild einer geplünderten Welt und verwies auf die Endlichkeit der natür-

123 Kurt Sontheimer, Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren, München 1979. 124 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 275. 125 Arbeitsmarkt. Registrierte Arbeitslose, Arbeitslosenquote, in: Statistisches Bundesamt Deutsch- land, Destatis (12. Mai 2008). 126 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 276.

46 lichen Ressourcen. Der Club of Rome war 1968 vom italienischen Industriema- nager Aurelio Peccei und dem schottischen OECD-Wirtschaftsmanager Alexan- der King ins Leben gerufen worden. Im April 1968 trafen sich 63 Persönlichkei- ten aus Wissenschaft und Wirtschaft, um die künftigen Herausforderungen für die Menschheit gemeinsam zu diskutieren. Die Grenzen des Wachstums war der erste Bericht, der im September 1973 den Friedenspreis des Deutschen Buch- handels erhielt.127 Der Historiker Patrick Kupper fasste die Ergebnisse der Studie folgendermaßen zusammen: „Die Menschheit sei unmittelbar daran, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln.“128 Wenn nicht bald gehandelt und das Wachstum bewusst beschränkt werde, träten Lebensmittelknappheit und Rohstoffmangel bereits vor dem Jahr 2001 auf. Diese Annahmen des Club-of-Rome-Berichtes waren das Ergebnis der Konstruktion eines Weltmodells und einer systemanaly- tischen Computersimulation. Obgleich die Studie vor allem methodisch kritisiert wurde,129 schlug sie ein wie eine „Bombe im Taschenbuchformat“130, wie die weltweiten Verkaufszahlen nahelegen.131 Insbesondere das Versiegen des Öls erschien vor dem Hintergrund der Mas- senmotorisierung der 1960er Jahre in der Bundesrepublik als eine Gefahr. Inso- fern hielt die erste Ölpreiskrise 1973 der Gesellschaft den Spiegel vor, wie stark ihr alltägliches Leben von Erdöl abhängt.132 Das Bild des ersten von drei auto- freien Sonntagen am 25. November 1973 prägte sich tief in das visuelle Ge- dächtnis der Bundesrepublik ein. Der Mangel an Öl schien zunächst einmal ein schlagendes Argument für die Kernenergie zu sein.133

127 Zur Studie Die Grenzen des Wachstums vgl.: Patrick Kupper, Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 98–111; Nils Freytag, „Eine Bombe im Taschenbuchformat“? Die „Grenzen des Wachstums“ und die öffentliche Resonanz, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Con- temporary History, Online-Ausgabe 3/2006, Heft 3, (14. Mai 2007); Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 337. Genauer zur Entwicklung von System Dynamics: Tobias Knobloch, Quasi- Experimente. Zum Erkenntniswert von Gedankenexperimenten und Computersimulation, Frei- burg im Breisgau (Druck in Vorb.), Abschnitt III. 4. 4. 128 Kupper, „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“, S. 100. 129 Zur Kritik: Friedrich A. von Hayek, Die Anmaßung von Wissen. Neue Freiburger Studien, Tübingen 1996, S. 11. 130 So geht die Welt zugrunde, in: Die Zeit Nr. 11, 17. März 1972. 131 Freytag, „Eine Bombe im Taschenbuchformat“?, S. 1. 132 Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44/2004, S. 1–37, S. 31; Rainer Karlsch/Raymond G. Stokes, „Faktor Öl“. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974, München 2003, S. 377. 133 Radkau, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur, S. 308.

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Hintergrund der Ölpreiskrise war der Jom-Kippur-Krieg. Am 6. Oktober 1973 griffen ägyptische und syrische Einheiten überraschend Israel an. Saudi- Arabien und andere OPEC-Länder drosselten die Ölförderung drastisch, so dass das Öl sich verteuerte; am 19. Oktober erließen sie ein Embargo gegen Israel- freundlich gesonnene Staaten. Waren zunächst nur die USA das Ziel, da sie Isra- el militärisch unterstützten, wurde es bald auf alle westlichen Staaten ausgewei- tet.134 Unter den Folgen der Ölpreiskrise litten insbesondere die Menschen der ‚unterentwickelten‘ Länder. Nach der Dekolonisation der 1960er Jahre gelang den meisten Ländern der Anschluss an die Industrienationen nicht. Während der Nahe Osten und Asien besser gestellt waren, blieben wirtschaftlich und infra- strukturell wenig entwickelte Länder z. B. in Afrika einseitig vom Weltmarkt abhängig. Sie waren auf teure Importe sowie Fertigprodukte angewiesen und konnten Rohstoffe meist nur zu schlechten Preisen exportieren. Zwar versuchten die Staaten der ‚Ersten Welt‘ die Länder im Rahmen der Entwicklungspolitik zu unterstützen; diese ist allerdings nicht nur als freiwillige, moralisch begründete Hilfe, sondern als Teil der Interessenpolitik ganz unterschiedlicher Gruppen zu betrachten. Entsprechende Kritik wurde Ende der 1970er Jahre laut und riss nicht ab.135 Die Not der ‚Dritten Welt‘-Länder und ihr Energiebedarf sollten in der bundesrepublikanischen Diskussion über die Kernenergie eine Rolle spielen. Auch die westlichen Länder waren gezwungen, auf die Ölpreiskrise zu rea- gieren. Als Teil des Krisenmanagements auf internationaler Ebene wurde 1974 die Internationale Energieagentur (IEA) gegründet, mit dem Ziel zu verhindern, dass Energiepreise noch einmal als Druckmittel eingesetzt werden könnten. Die neu geschaffene Institution ergriff verschiedene Maßnahmen: Zum Beispiel wurde ein Informationssystem über den internationalen Ölmarkt sowie koopera- tive Beziehungen zu Nicht-Mitgliedsstaaten aufgebaut; eine Zusammenarbeit im Bereich der rationellen Nutzung der Energie und die Entwicklung alternativer Energien sollte die Abhängigkeit von Ölimporten vermindern.136 Darüber hinaus sollten die internationalen Verhältnisse durch Verhandlungen und Konferenzen verbessert werden – beispielsweise durch die Konferenz für Internationale Wirt- schaftliche Zusammenarbeit, den Euro-Arabischen Dialog oder den Petrodollar.

134 Karlsch/Stokes, „Faktor Öl“, S. 376f.; Jens Hohensee, Böswillige Erpressung oder bewußte Energiepolitik? Der Einsatz der Ölwaffe 1973/74 aus arabischer Sicht, in: Ders./Michael Salewski (Hg.), Energie, Politik, Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 153–176, S. 159ff. 135 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 376f. 136 Peter Roggen, Die Internationale Energie Agentur. Energiepolitik und wirtschaftliche Sicher- heit, Bonn 1979; Jens Hohensee/Michael Salewski, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Energie, Politik, Geschichte, Stuttgart 1993, S. 8–16, S. 15.

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Ein weiterer Schritt war die Gründung der International Fuel Cycle Evaluation (INFCE).137 Ein neuer Umgang mit den Herausforderungen auf internationaler Ebene zeigte sich in der ‚Gipfeldiplomatie‘.138 Am 15. November 1975 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der sechs Industrieländer USA, Frankreich, Eng- land, Deutschland, Japan und Italien in Rambouillet zum Krisenstab – dem ers- ten Weltwirtschaftsgipfel. Im Juli 1978 traf man sich – nun auch mit Kanada und dem Präsidenten der EG – im Palais Schaumburg in Bonn. Dabei wurde unter anderem besprochen, dass die USA bei Ölimporten sparen sollten. An der grund- sätzlichen Abhängigkeit der Bundesrepublik vom Import fossiler Energieträger konnte dies nichts ändern.139 Neben den wirtschaftlichen und energiewirtschaftlichen Problemen, die die Selbstidentifikation der Bundesrepublik ins Wanken brachten, versetzte der Ter- ror der Roten Armee Fraktion (RAF) die deutsche Bevölkerung über mehrere Jahre in Schrecken und schien obendrein das Funktionieren der Demokratie in Frage zu stellen. Die erste Generation der RAF hatte Anfang der 1970er Jahre bereits acht Morde verübt. Als die Führungsriege 1972 im Gefängnis saß, ver- suchte eine zweite Generation, ihre Freilassung zu erpressen. Der Höhepunkt der Aktion war 1977: Im April fiel Generalbundesanwalt Siegfried Buback der RAF zum Opfer, im Juli folgte die Ermordung des Sprechers der Dresdner Bank, Jür- gen Ponto, im September wurde Arbeitgeberverbandspräsident Hanns-Martin Schleyer entführt und nach 43 Tagen ermordet. Im Oktober kaperten palästinen- sische Terroristen die Lufthansa-Maschine ‚Landshut‘, um die Forderung nach Freilassung zu unterstützen. In diesem Fall konnte die Antiterrorismuseinheit der Bundespolizei GSG9 die Passagiere in Mogadischu befreien. Daraufhin begin- gen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Karl Raspe in ihren Zellen Selbstmord. Ulrike Meinhof hatte sich bereits 1976 in der Haft erhängt. Den so genannten ‚Deutschen Herbst‘ sahen einige Zeitgenossen als ein Zeichen dafür, dass die Bundesrepublik vor dem Abgrund stehe.140 Der Terrorismus der RAF führte dazu, dass äußerst umstrittenen Gesetze er- lassen wurden. Ein Beispiel ist das Kontaktsperregesetz, das in erster Linie die

137 Martin Czakainski, Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1980 im Kon- text außenwirtschaftlicher und außenpolitischer Verflechtungen, in: Jens Hohensee/Michael Salewski (Hg.), Energie, Politik, Geschichte, Stuttgart 1993, S. 17–33, S. 26, 29. 138 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 436f. 139 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 349f.; Werner Faulstich, Gesellschaft und Kultur der siebziger Jahre: Einführung und Überblick, in: Ders. (Hg.), Die Kultur der siebziger Jahre, München 2004, S. 7–18, S. 11. 140 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 341ff.; Hanno Balz, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt am Main 2008, z.B.: S. 323.

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RAF-Häftlinge betraf. Es durchlief 1977 innerhalb weniger Tage alle politischen Instanzen und erlaubte die sogenannte Isolationshaft. Heinrich Böll, der vor einer Überreaktion des Staates warnte, wurde als Sympathisant der Terroristen be- zeichnet. Andere riefen mit der Angst im Nacken nach einem ‚starken Staat‘.141 Diese Reaktionen signalisieren durchaus die Verunsicherung, von der Sonthei- mer sprach. Der Terror – nicht nur der RAF – stand auch mit der Kernenergie in Ver- bindung. Es wurden verschiedene Anschläge auf kerntechnische Einrichtungen und Institutionen verübt. An dieser Stelle seien nur einige aus dem Jahre 1975 erwähnt: Es gab einen Sprengstoffanschlag auf das Kernkraftwerk Fessenheim bei Straßburg durch das Kommando ‚Meinhof-Puig-Antich‘, einen Spreng- stoffanschlag auf das Büro der Atomreaktorfirma Framatome durch das ‚Kom- mando Andrea Luther‘ sowie einen Sprengstoffanschlag auf die Wieder- aufarbeitungsanlage Brennilis in Frankreich. Die SPD diskutierte diese Anschläge auf einer Fraktionssitzung im März 1977, folglich waren sie Teil des politischen Diskurses.142 Weitere terroristische Anschläge auf kerntechnische Anlagen, die vermutlich auch der Bundesregierung bekannt waren, führte der Rechtswissenschaftler Alexander Roßnagel auf. Bei einem sicherlich be- unruhigenderen Fall brachten im November 1972 in den USA drei Männer ein Verkehrsflugzeug in ihre Gewalt und kreisten über den Oak Ridge National Laboratories. Sie drohten, die Maschine auf den Forschungsreaktor stürzen zu lassen, falls ihnen nicht 10 Millionen Dollar Lösegeld gezahlt würden. Unter den von Roßnagel beschriebenen Beispielen finden sich auch entsprechende aviatische Vorbereitungen von Seiten der RAF.143 Diesen Krisenerscheinungen steht eine Emanzipationsbewegung vom ‚alt- hergebrachten‘ Umgang mit Problemen entgegen, die sich insbesondere in der Kernkraftkontroverse zeigte: Es bildeten sich unzählige Organisationen und Gruppen, die ihre Interessen unabhängig von Parteien und Verbänden äußerten. Im Zuge dieser Politisierung gründete sich 1977 die Umweltschutzpartei Nieder- sachsens, es folgte Herbert Gruhls Grüne Aktion Zukunft, und 1979 wurden schließlich die Grünen als politische Vereinigung in Frankfurt ins Leben gerufen. 1983 zog die neu entstandene Partei mit 27 Abgeordneten in den Bundestag ein.144

141 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 345; Wolfgang Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise (1974–1989), in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2008, S. 93–108, S. 107. 142 AdsD VIII–2/BTFH 000011, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 1. März 1977, S. 3. 143 Alexander Roßnagel, Bedroht die Kernenergie unsere Freiheit. Das künftige Sicherungssystem kerntechnischer Anlagen, München 1983, S. 148f., 153f. 144 Faulstich, Gesellschaft und Kultur der siebziger Jahre, S. 10.

50 b. Von Wyhl nach Gorleben

Die Proteste gegen die Kernenergie in den 1970er Jahren sprechen für eine Art Aufbruchstimmung.145 Die Atomeuphorie der 1950er und 1960er Jahre wiede- rum war kein allgemeines Phänomen. Bei genauerer Betrachtung ist festzustel- len, dass es sich dabei eher um die veröffentlichte als um die allgemein verbreite- te Meinung handelte. Kritik an der nuklearen Energieerzeugung wurde durchaus – wenn auch in einem weniger massenwirksamen Rahmen – geübt.146 Von Anfang an waren warnende Stimmen zu hören. So gab es zum Beispiel in den 1950er Jahren Widerstände der Bevölkerung in Karlsruhe und Jülich, als dort Forschungsreaktoren errichtet wurden. Jülich war bereits ein Ausweich- standort: Ursprünglich sollte die Kernforschungseinrichtung im Königsforst bei Köln gebaut werden; nach Protesten der dortigen Bevölkerung wich man in die Nähe von Jülich aus. Die überregionale Presse nahm diese ersten Widerstände allerdings nicht weiter wahr147 und die Kernenergie selbst weitgehend unkritisch hin – mit einer Ausnahme: Kurt Rudzinski. Der Wissenschaftsjournalist und Physiker schrieb ausgerechnet in der konservativen FAZ regelmäßig Artikel, in denen er vor der Kernenergie warnte. Insbesondere gegen den Schnellen Brüter opponierte er. Für die restlichen Medien war dies kein Anstoß zur kritischen Reflektion.148 Bereits in den 1960er Jahren wiesen Autoren auf einen Zusammenhang zwischen Uran und Krebserkrankungen hin. Ein Großteil der kernenergiekriti- schen Literatur kam aus den USA, aber auch in Deutschland gab es Schriften, die die Gefahren der Technologie diskutierten: Beispielsweise veröffentlichte der Detmolder Arzt Bodo Manstein 1961 das Buch Im Würgegriff des Fortschritts149 – die wohl erste bundesdeutsche Kritik an der zivilen Nutzung der Kernkraft; es folgten weitere Bücher, in denen er sich vor allem mit der Bedrohung durch Strahlung beschäftigte.150 Offene Kritik äußerte auch , ein Nuklear-

145 Jarausch, Krise oder Aufbruch?, S. 3. 146 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 434ff. 147 Joachim Radkau, Fragen an die Geschichte der Kernenergie – Perspektivenwandel im Zuge der Zeit (1975–1986), in: Jens Hohensee/Michael Salewski (Hg.), Energie, Politik, Geschichte, Stuttgart 1993, S. 101–126, S. 103; Lundgreen, Peter/Horn, Bernd/Krohn, Wolfgang/Küppers, Günter/Paslack, Rainer, Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980, Frankfurt am Main/New York 1986, S. 140f. 148 Otto Keck, Der Schnelle Brüter. Eine Fallstudie über Entscheidungsprozesse in der Groß- technik, Frankfurt am Main/New York 1984, S. 292. 149 Bodo Manstein, Im Würgegriff des Fortschritts, Frankfurt am Main 1961. 150 Z.B.: Bodo Manstein, Atomare Gefahren und Bevölkerungsschutz. Wahrheit und Legende, Stuttgart 1983; Bodo Manstein (Hg.), Atomares Dilemma, Frankfurt am Main 1977; Bodo Manstein, Gefahren der Radioaktivität und Chemie. Medizin und Wissenschaft im Umbruch. Ein kritisches Handbuch, Frankfurt am Main 1977.

51 chemiker, der von 1962 bis 1965 den Bundestagsausschuss für Atomenergie und Wasserwirtschaft leitete.151 Gleichwohl stand diesen kritischen Anwandlungen eine Überzeugung ent- gegen, die seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik vielfach vertreten wur- de: Das Land verlöre seine ‚Weltstellung‘, würde es auf Atomkraft verzichten.152 Auf die damalige Wahrnehmung der nuklearen Technologie passt, wie Bernd Rusinek anmerkte, der von Thomas Nipperdey geprägte Begriff des ‚Omnibus- Charakters‘: In ganz unterschiedlichen Bereichen schien die Kernenergie für alle gesellschaftlichen Gruppen das Tor zu einer neuen Welt aufzustoßen.153 Dieses Tor wollten auch die 18 Atomwissenschaftler nicht verschlossen wissen, die sich im ‚Göttinger Manifest‘ gegen die Pläne von und Franz Josef Strauß zur Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen wand- ten. Dementsprechend war die Warnung vor den Gefahren von Atomwaffen verbunden mit einer Aufforderung zur Förderung der ‚friedlichen Nutzung der Atomenergie‘. Joachim Radkau beschrieb den Effekt des Göttinger Manifestes von 1957 folgendermaßen: Es hinterließ den Eindruck vom Verantwortungsbe- wusstsein der Wissenschaftler; unter anderem deswegen richte sich die Protest- bewegung gegen Atomwaffen nicht auch gegen Atomkraftwerke, sondern be- greife die ‚friedliche Atomnutzung‘ als Gegenkraft zur Bombe; die Atomforscher behielten ihre Autorität; „im Endeffekt fungierte es [das Göttinger Manifest, C.A.] vorwiegend als Flankenschutz für die bundesdeutsche Kernener- gie-Entwicklung.“154 Dabei gab es zu Zeiten des Göttinger Manifests nur Reaktoren, die gleich- zeitig militärischen Zwecken dienen konnten. Die Gefahr der Proliferation – der Entnahme und Weitergabe von spaltbarem Material aus Reaktoren zum Bau von Bomben – war also immanent gegeben. Geleugnet wurde sie keineswegs, aber eine technische Lösung des Problems wurde nicht weiter verfolgt, und auch eine Kritik daran ging in der Atomeuphorie zunächst unter.155 In der Debatte der 1970er Jahre wurde die Frage der Proliferation von kernenergiekritischen Wis-

151 Dieter Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2008, S. 245–266, S. 249; Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 435. 152 Joachim Radkau, Angstabwehr. Auch eine Geschichte der Atomtechnik, in: Karl Markus Michel/Tilmann Spengler (Hg.), GAU – Die Havarie der Expertenkultur (Kursbuch Nr. 85), Berlin 1986, S. 27–53, S. 28. 153 Bernd-A. Rusinek, Die Rolle der Experten in der Atompolitik am Beispiel der Deutschen Atomkommission, in: Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik: Wissen- schaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 189–210, S. 203. 154 Radkau, Joachim, Hiroshima und Asilomar. Die Inszenierung des Diskurses über die Gen- technik vor dem Hintergrund der Kernenergie-Kontroverse, in: GG 14/1988, S. 329–363, S. 339. 155 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 96–100.

52 senschaftlern aufgegriffen. Insbesondere der Schnelle Brüter stand im Verdacht, eine Art ‚Bombenfabrik‘ zu sein.156 Angesichts der durchaus vorhandenen Unsicherheiten und Spuren von Kri- tik überraschen die in den 1970er Jahren folgenden Proteste nicht unbedingt. Die „Prähistorie der Anti-AKW-Bewegung“157 hatte einen ersten Höhepunkt Ende der 1960er Jahre in Würgassen. Auf den lokalen Widerstand folgten vorüberge- hend überregionale Reaktionen, allerdings griffen die Protestler noch nicht zu plebiszitären Elementen wie Demonstrationen oder Bauplatzbesetzungen.158 Dies geschah erst in Wyhl am Kaiserstuhl. Ursprünglich war das Kern- kraftwerk in Bertholsheim geplant, als sich dort allerdings Protest regte, fasste man Wyhl als Standort ins Auge – hier erhob sich seit 1973 ein wahrer Sturm der Entrüstung. Die ansässigen Weinbauern trieb weniger die Sorge um die eigene Gesundheit als vielmehr die Sorge um ihre Weintrauben um: Die Nebelschwa- den aus den Kühltürmen könnten das Weinklima am Kaiserstuhl in Gefahr brin- gen. Innerhalb von vier Wochen legten acht Gemeinden, 50 Vereinigungen und 90.000 Bürger Einspruch beim Verwaltungsgericht ein. Unter dem Motto ‚Nai hämmer gsait!‘ begannen im Februar 1975 30.000 Menschen den Marsch auf den Bauplatz, der daraufhin für eineinhalb Jahre besetzt wurde. Einer der Höhe- punkte war sicherlich, als der damalige baden-württembergische Ministerpräsi- dent den Bauplatz besuchte und ihm Landwirtschaftsprodukte entgegen flogen. Für die folgenden Proteste war vor allem wichtig, dass die Aktivisten über die Hochschulgruppe Umweltschutz der studentischen Fachschaft Chemie an der Universität Freiburg frühzeitig eine Verbindung zur Wissenschaft aufbauten. Auf diese Weise konnten überregional greifende Argumentationen gegen die Kern- kraft entwickelt werden.159 Daraufhin kam es – heute undenkbar – zu Verhandlungen zwischen der Bürgerbewegung und der Landesregierung. In einem Kompromiss wurde be- schlossen, nicht zu bauen, bis eine Gerichtsentscheidung da sei. Ein Kernkraft- werk wurde letztlich nie errichtet.160 Eine entscheidende Rolle im Vermittlungs- prozess spielten Bischöfe und Theologen. Ähnliches war bei dem Konflikt um die ‚Startbahn West‘ des Frankfurter Flughafens zu beobachten, wo ein Pfarrer die Position eines Unterhändlers einnahm.161 Die Rolle der Theologie, der Kir-

156 Schneller Brüter. Falsche Ecke, in: Der Spiegel Nr. 41, 9. Oktober 1978, S. 132f.; Keck, Der Schnelle Brüter, S. 288. 157 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 446. 158 Ebd., S. 213f., 445ff.; Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 249; Tiggemann, Die „Achillesfer- se“ der Kernenergie, S. 206. 159 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 249; Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atom- wirtschaft, S. 398, 451f.; Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 401f. 160 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 262. 161 Helmut Hild, in: Der Spiegel Nr. 50, 7. Dezember 1981, S. 37.

53 chen und der von ihr zur Verfügung gestellten Foren ist auch für die Betrachtung der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik im Blick zu behalten. Während die Protestierenden in Wyhl sich strikt zur Gewaltfreiheit bekann- ten, erreichten die Demonstrationen in Norddeutschland ganz andere Dimensio- nen.162 So kam es in Brokdorf im Winter 1976/77 zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und militanten Kernkraftgegnern. Die zahlreichen Gewalt- taten gingen wohl vor allem auf Aktivitäten der aus der Studentenbewegung entstandenen, oft maoistisch orientierten K-Gruppen zurück und führten dazu, dass von einer Art Bürgerkrieg die Rede war.163 Durch die gewalttätigen Aktio- nen gerieten die Proteste zunehmend in die Nähe des Terrorismus und wurden kriminalisiert. 1978/79 wurde die Frage friedlich versus gewalttätig entscheidend für die Anti-Kernkraftbewegung. Nach der Bonner Anti-Atom-Demo am 14. Oktober 1979 kam es zu einem endgültigen Bruch zwischen Bürgerinitiativen und K-Gruppen.164 Der Schnelle Brüter in Kalkar wurde zum Symbol der Kontroverse. Mit dem Großprojekt verband sich zum einen die Hoffnung einer langfristigen unbe- schränkten Versorgung mit Energie, da der Reaktor die Uranvorräte der Welt um den Faktor 60 strecken sollte. Zum andern waren mit dem Brüter Befürchtungen verbunden, da er technisch noch nicht ausgereift war und das hergestellte Pluto- nium als nicht beherrschbar galt; entsprechend handelte es sich um eine Ver- suchsanlage, nicht um ein kommerzielles Projekt. Mit dem Einstieg in die Brütertechnologie legte man sich allerdings auf die Kerntechnologie fest, denn ein solcher Brüter lohnt sich nur, wenn entsprechend viele Atomkraftwerke vor- handen sind, und erfordert darüber hinaus die Wiederaufarbeitung.165 Der Reak- tor sollte ein gemeinsames Projekt mit Belgien und den Niederlanden werden, wobei Deutschland mit 70 Prozent der Kosten führend war.166 In Kalkar Hönnepel gab es bereits 1971 eine Bürgerinitiative, die sich gegen den Schnellen Brüter wandte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal offiziell beschlossen war. Im südfranzösischen Malville wurde im Juli 1977 gegen das dortige Schnellbrütermodell Superphénix demonstriert. Hier kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Darauf folgte am 24. September 1977 eine Massendemonstration in Kalkar, die nicht nur von lokalen Gruppen,

162 Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 214; Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 250. 163 Z.B.: Kernkraft. Sehr schnell vorbei, in: Der Spiegel Nr. 33, 8. August 1977, S. 54. 164 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 252; Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 516, 519. 165 Vgl. z.B. Friedhelm Farthmann: Vorstand der SPD (Hg.), Fachtagung „Energie, Beschäftigung, Lebensqualität“ am 28. und 29. April 1977 in Köln, Lübeck o.J., S. 130. 166 Keck, Der Schnelle Brüter, S. 188.

54 sondern auch von überregionalen und internationalen Aktivisten getragen wur- de.167 Bei der Auseinandersetzung um das ‚integrierte Entsorgungszentrum‘, bei dem nukleare Wiederaufarbeitung und Endlagerung im Raum Gorleben räumlich konzentriert werden sollten, wurde die friedlichere Variante des Protestes ge- wählt. Der Widerstand gipfelte in dem symbolischen Bau eines Anti-Atomdorfes auf dem Baugelände, das ‚Freie Republik Wendland‘ getauft wurde.168 Um Kernenergie überhaupt weiter nutzen zu können, war Gorleben ein notwendiger Schritt: Mit dem ‚Entsorgerjunktim‘ war an das Genehmigungsverfahren für neue Kernkraftwerke die Auflage geknüpft, dass die Kernkraftwerksbetreiber die Entsorgung des Kernkraftwerkes und der abgebrannten Brennelemente sicherzu- stellen haben. Ebendiese Regelung führte 1977 zu einem Baustopp des Kern- kraftwerkes Brokdorf. Mit einem nationalen Entsorgungszentrum, das auch für die Wiederaufarbeitung sorgt, wäre dieses Problem erledigt gewesen.169 Vereinzelt gab es Aktionen, bei denen Bürger für Kernkraft demonstrierten; sie wiesen vor allem darauf hin, dass es ohne die ‚umweltfreundliche‘ Kernener- gie keinen ‚blauen Himmel über der Ruhr‘ geben würde; es wurde auf den Un- terschied zum CO2-Ausstoß bei fossilen Kraftwerken verwiesen. Allerdings kommen Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt zu dem Ergebnis, dass für den Zeitraum von 1950 bis 1994 der Anteil an Protesten gegen Kernenergie 99,1 Prozent betrug und für Kernenergie 0,9 Prozent. An die Zahlen der Friedens- bewegung kamen die Kernkraftproteste nie heran; während für den Frieden durchschnittlich 10.896,5 Menschen auf die Strasse gingen, demonstrierten ge- gen die Kernenergie lediglich 5761,1. Eine führende Rolle in der Protestmobili- sierung der Anti-AKW-Bewegung spielten Bürgergruppen und Netzwerke mit einem Anteil von 50 Prozent und mehr.170 Diese sind ein Spezifikum des bürger- schaftlichen Engagements der 1970er Jahre, das sich bei den Protesten gegen die ‚Startbahn West‘ am Frankfurter Flughafen ebenfalls zeigte – ein neues Element, das sich auch nach der konservativen Wende 1983 hielt. Weiterhin neu war die justizielle Form der Konfliktaustragung, bei der Verwaltungsgerichte durch Or- ganisationen der Protestbewegung angerufen wurden.171

167 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 454. 168 Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsor- gung, München 1980, S. 99–148; Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 252f. 169 Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 231, 255. 170 Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, Protestgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1950– 1994: Ereignisse, Themen und Akteure, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001, S. 27–70, S. 43, 47, 53f.; Rucht, Anti- Atomkraftbewegung, S. 252. 171 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 404f.

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Interessanterweise speiste sich die Anti-Atomkraftbewegung zwar überwie- gend aus der politischen Linken, wurde allerdings in ländlicheren Gegenden von konservativen Kreisen durchaus aktiv unterstützt; auch rechtsradikale Gruppen lehnten die Kernenergie ab.172 Die Haltung zur Kernenergie ist folglich nicht in erster Linie von der politischen Ausrichtung abhängig; zudem kann sie sich auch wandeln, wie das Beispiel des wohl bekanntesten Schriftstellers der Anti-Atom- kraftbewegung zeigt: Robert Jungk, dessen Buch Atomstaat 173 1977 erschien, war bis Ende der 1960er Jahre „ein fast unkritischer Verehrer der Atom- wissenschaften“174. Insgesamt unterstützten zunächst wenige Wissenschaftler in der Bundesre- publik die Proteste, wirft man einen vergleichenden Blick in die USA. Erst 1975 hatten sich einige wenige deutsche Fachwissenschaftler in der Heidelberger Erklärung kritisch zur Kernenergie geäußert.175 Die deutsche Protestbewegung konnte sich ein Vorbild in den USA suchen, wo bereits 1969 der Höhepunkt der Proteste gegen Kernkraftwerke erreicht war. Die Atomic Energy Commission reagierte auf die Kritik durch Herabsetzung der Toleranzgrenzen für Strahlung. Aber auch in der Folgezeit geriet die Reaktorsicherheit in die Kritik. Deutsch- land folgte – wie auch schon bei der Studentenbewegung – mit Verzögerung. Der Historiker Anselm Tiggemann geht zudem davon aus, dass die amerikani- sche Bewegung im Gegensatz zur deutschen schon frühzeitig Rückhalt bei Intel- lektuellen und Wissenschaftlern fand.176 Zusammenfassen lässt sich die Kritik an der Kernenergie in die folgenden Punkte: Erstens die Unsicherheiten bezüglich des Risikos kerntechnischer Anla- gen, zweitens die ungelöste Entsorgungsfrage, die zu einer Hypothek für nach- folgende Generationen werden könnte, drittens das Risiko von Sabotage, Krieg und Terror sowie viertens das Problem der Proliferation von Spaltstoffen zur Waffenherstellung.177 Die Atomlobby reagierte Anfang der 1970er Jahre verwundert auf die Pro- teste und sah sie als Ausdruck mangelnder Sachkenntnis – ganz im Sinne der ‚Strahlenpsychose‘, die einige Leute anscheinend in den 1950er Jahre befallen habe.178 Durch Aufklärungskampagnen war die ‚Gefahr‘ einer mangelnden öf- fentlichen Akzeptanz allerdings auf Dauer nicht zu bannen. Ein großes Problem wurde bei der ‚Arbeitsgemeinschaft Bürger Information‘ von Interatom in der medialen Darstellung gesehen: „[...] die Bevölkerung wird häufig durch sachlich

172 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 256; Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 173 Robert Jungk, Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1973. 174 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 436. 175 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 250; Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 176 Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 205. 177 Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 542. 178 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 248f.; Radkau, Angstabwehr, S. 30.

56 nicht haltbare und unverantwortliche Publikationen in den Medien ver- unsichert.“179 Als Beispiel wurde eine Trickfilmeinspielung im ZDF genannt, bei der die nukleare Explosion eines Druckwasserreaktors vom Typ Biblis B mit dem Rauchpilz einer Atombombenexplosion dargestellt worden sei, der aber dabei gar nicht entstehe. Zwar habe der als Experte geladene Heinrich Mandel (RWE) dies postwendend richtig gestellt, der Mitarbeiter der Sendung aber be- rief sich auf Fachleute, die ihm den Vorgang entsprechend bestätigt hätten.180 An der Auseinandersetzung über die Kernenergie zeigt sich, wie zwiespältig technologischer Fortschritt wahrgenommen werden kann: Ist er auf der einen Seite mit dem Glauben an die segensreiche Qualität technischer Großplanungen gebunden, steht auf der anderen Seite die destruktive Kraft von unausgereifter Technologie. Die Möglichkeiten der Technik haben kollektive Träume ganzer Generationen angeregt – aber schließlich auch ihre Dämonen. Van Laak zufolge sind Großprojekte als Ausdruck einer ganz spezifischen Wahrnehmung von Problemen zu verstehen – als Antwort auf die Kernfragen unserer Zeit.181

c. Parameter der deutschen Energiepolitik

Die Gretchenfrage in den 1970er Jahren wäre wohl gewesen: ‚Nun sag’, wie hast du’s mit der Kernenergie?‘ Wissenschaftler wie Alvin Weinberg standen offen zu ihrem ‚faustischen Pakt‘. Doch welche Reaktionen erzeugte die zunehmende Kritik an der Kernenergie in der Politik? Bis in die 1970er Jahre hatte es keine Energiepolitik gegeben, die die ver- schiedenen Energieumwandlungsarten gemeinsam im Blick hatte. Vielmehr gab es weitgehend voneinander unabhängig eine Wasserkraft-, Kohle-, Öl- und Kernenergiepolitik. Und auch über diese wurde nicht unter breiter Beteiligung entschieden, sondern hauptsächlich von wirtschaftlichen und technischen Ex- perten. Der Politikstil war in erster Linie davon geprägt, ad hoc auf Engpässe zu reagieren und erst in zweiter Linie planend einzugreifen.182 Es gab ausreichend preisgünstige Energie, und die Ressourcen schienen unendlich. Zudem war die Energiepolitik stark durch enge lobbyistische Strukturen geprägt. Erst in den 1970er Jahren war infolge von Ölkrisen und Kernenergiedebatte die Frage der

179 ACDP VIII–001–377/2, Brief von Interatom ‚Arbeitsgemeinschaft Bürger Information‘ an die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen, 7. Dezember 1977. 180 Ebd. 181 Dirk van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 8. 182 Joachim Radkau, Von der Kohlennot zur solaren Vision: Wege und Irrwege bundesdeutscher Energiepolitik, in: Hans-Peter Schwarz, Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln 2008, S. 461–486, S. 465.

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Versorgungssicherheit ein Thema, zuvor war ausschließlich der Preis ent- scheidend, wie Martin Czakainski, Chefredakteur der Energiewirtschaftlichen Tagesfragen, schreibt.183 Über die Atomenergiepolitik waren sich die politischen Parteien während der 1950er und 1960er Jahre einig; Erforschung und Ausbau wurden weitgehend unhinterfragt unterstützt. Die SPD sah sich selbst als Fortschrittspartei und zeigte sich besonders aufgeschlossen gegenüber neuen technologischen Ent- wicklungen,184 wie die Präambel des Godesberger Programms zeigte. Auch war der Bundestag die längste Zeit aus der Atompolitik ausgeschlossen; grund- legende Entscheidungen wurden als reine Ergebnisse der Sachlogik behandelt.185 Mit neu gegründeten Hochschulen, Max-Planck-Instituten, Großforschungs- zentren, Fraunhofer Instituten, Bundesanstalten, DFG und VW-Stiftung, teilwei- se gefördert durch Sonderabschreibungen und Investitionszulagen, entstand eine moderne Forschungslandschaft – ausgerichtet auf die Kernforschung.186 Auf den ersten Blick überraschend dabei scheint, dass die stromerzeugende Industrie, die die Kernkraftwerke bezahlen und betreiben musste, in der Frühzeit der kerntechnischen Entwicklung eher als retardierendes Moment fungierte. Hauptgrund für die abwartende Haltung waren wirtschaftliche Erwägungen, denn spätestens seit Ende der 1950er Jahre war klar, dass es in absehbarer Zeit keine rentablen Kernkraftwerke geben würde. Energiewirtschaftlich gesehen gab es keinen wirklichen Bedarf an Kernenergie. So kam dem Staat eine tragende Rolle für die Weiterentwicklung der Technologie zu. Verschiedene Finanzie- rungsmodelle waren in der Diskussion, und bei dem ersten Leistungs-Kern- kraftwerk in Gundremmingen zogen die Verhandlungen zwischen Ministerien und dem Konsortium RWE-Bayernwerk sich beinahe zwei Jahre hin. Kristallisa- tionspunkt war die Art der staatlichen Risikobeteiligung, nicht etwa die Frage der Investition; Atomindustrie und Energiewirtschaft kamen hier zu keiner Eini- gung. Genau an diesem Punkt wäre nach marktwirtschaftlichen Gesetzen die Kerntechnik von der Bildfläche verschwunden – wäre nicht der Staat einge- sprungen.187 Anfang der 1970er Jahre änderte sich die Energiepolitik grundlegend. Un- mittelbar vor der Ölkrise, im September 1973, beschloss die Bundesregierung ihr erstes Energieprogramm: Der Erdölanteil sollte zugunsten einheimischer Ener- gieträger wie der Kohle gedrosselt, die Kernenergie ausgebaut und Maßnahmen zur Energieeinsparung sowie zur rationellen Nutzung von Energie sollten einbe-

183 Czakainski, Energiepolitik in der Bundesrepublik, S. 17. 184 Faulenbach, Die Siebzigerjahre, S. 31. 185 Radkau, Angstabwehr, S. 46. 186 Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise, S. 101. 187 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 116, 120, 196, 199f., 211f.

58 zogen werden. In diesem Programm wurde betont, dass der Schnelle Brüter not- wendig sei. Es wurde eine jährliche Wachstumsrate von Wirtschaft (reales Brut- tosozialprodukt) und Energie (Primärenergieverbrauch) zwischen 4 und 4,6 Pro- zent angenommen. Der Primärenergiebedarf der Bundesrepublik würde bis 1985 auf rund 610 Millionen t SKE ansteigen. Ein Schwerpunkt des Programms lag auf der Kernenergie, die als umweltfreundlich, versorgungssicher und gegenüber konventioneller Stromerzeugung bereits als kostengünstiger galt. Insofern sollte das Minimalziel sein, 18.000 Megawatt bis 1980 und 40.000 Megawatt bis 1985 zu installieren.188 Ironie der Geschichte ist, dass die Grundannahme der Bundesregierung für das Energieprogramm, der wirtschaftlich und politisch reibungslos funktionie- rende Weltenergiemarkt, kurze Zeit später mit der Ölpreiskrise 1973 zerbröselte. In direkter Folge erließ die Bundesregierung ein Energiesicherungsgesetz, das am 9. November vom Bundestag einstimmig verabschiedet wurde.189 Ziel war es, den Energieverbrauch zu verringern, um Vorräte an Öl zu halten. Dafür konn- te die Bundesregierung Rechtsverordnungen erlassen und zum Beispiel die Nut- zung von Motorfahrzeugen beschränken. Damit nicht genug, mitten in der Vor- weihnachtszeit verordneten Stadtverwaltungen Sparbeleuchtungen – eine sichtbare Veränderung gegenüber dem üblichen Lichtermeer. Und auch der Deutsche Fußballbund erließ die Regelung, dass bis Ende Januar 1974 keine weiteren Flutlichtspiele stattfinden dürften; die Matches begannen folglich um 14.30 Uhr.190 Vermutlich in direkter Folge der Ölpreiskrise gab das BMFT die Studie Technologien zur Einsparung von Energie in Auftrag, die Haushalt, Kleinver- brauch, industrielle Produktion und Verkehr berücksichtigen sollte. Erstellt wur- de sie von der Firma Fichtner in Zusammenarbeit mit dem EWI Köln, der Berg- bau-Forschung Essen, der KfA Jülich, der Forschungsstelle für Energiewirtschaft München, dem Institut für Elektrizität TH Aachen, der Kraftwerkunion Erlangen sowie der Arbeitsgemeinschaft Umwelt Gesellschaft und Energie (AUGE) der Universität Essen.191 Mitglieder der 1979 gegründeten Enquete-Kommission arbeiteten an dieser Studie mit. In der ersten Fortschreibung des Energieprogramms im Jahre 1974 wurden die Annahmen zum Primärenergieverbrauch heruntergeschraubt, so dass nun für 1985 statt 610 Millionen t SKE nur noch 555 Millionen t SKE veranschlagt wur-

188 PA DBT Drs. VII/1100, Die Energiepolitik der Bundesregierung, 3. Oktober 1973. 189 PA DBT PlPr. VII/65, 9. November 1973, S. 3852; PA Bundesregierung, Gesetz vom 9. No- vember 1973, BGBl I 1973, Nr. 89, S. 1585. 190 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 336f. 191 AdsD Depositum Schäfer, BMFT, Kurzzusammenfassung von Ergebnissen der Studie „Tech- nologien zur Einsparung von Energie“, Juli 1976.

59 den. Ein geringeres gesamtwirtschaftliches Wachstum sowie eine sparsamere und rationellere Energieverwendung wurden veranschlagt. Zudem sollte die Forschung im nichtnuklearen Bereich forciert werden; der Schwerpunkt lag zunächst auf der Kohleveredelung. Gleichwohl sollte der Versorgungsanteil der Kernenergie erhöht werden.192 Es wurde zum Beispiel das Gesetz zur Verbesse- rung des Wärmeschutzes bei Gebäuden 1976 erlassen.193 Forschungsminister Hans Matthöfer (SPD) versuchte zwischen 1974 und 1978 darüber hinaus das Fernwärmenetz auszubauen, scheiterte jedoch daran, dass dies Ländersache war.194 Die Kernenergie entwickelte sich in der Zwischenzeit nicht wie erwartet. Zwar konnte ein Export-Geschäft mit Brasilien 1975 in die Wege geleitet wer- den, aber an den Bauplätzen gab es keine Beruhigung und damit Bau- verzögerungen und Kostensteigerungen.195 Während sich Matthöfer mit der Idee trug, durch marktwirtschaftliche Re- gelungen wie Preiserhöhungen das Energiesparen anzuregen, diskutierten Hans Friedrichs (Wirtschaftsminister, FDP) und (Finanzminister, SPD) wohl die Idee eines „Ölpfennigs“, einer Sonderabgabe auf Heizöl. Dieses Geld könnte – so die damalige Überlegung – zur Subventionierung von Wärme- pumpen und Sonnenenergieanlagen in Wohnhäusern verwendet werden.196 Die zweite Fortschreibung des Energieprogramms erfolgte am 14. Dezem- ber 1977 und zeigte einen deutlichen Umschwung: Energiesparen wurde nun an erster Stelle genannt; entsprechend folgte ein Programm zur Förderung heizener- giesparender Investitionen.197 Das gesamtwirtschaftliche Wachstum schätzte man auf 4 Prozent pro Jahr bis 1985 und auf 3,5 Prozent von 1986 bis 1990. Die Bundesregierung hielt dieses – in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage immer noch hoch gegriffene – Wirtschaftswachstum für erforderlich zur Lösung des Arbeitslosenproblems. Den Primärenergieverbrauch setzte man für das Jahr 2000 mit 600 Millionen t SKE an. Auffällig ist, dass der Ausbau der Kernenergie deutlich nach unten korrigiert wurde: Statt 40.000 MWe wurden 24.000 MWe

192 PA DBT Drs. VII/2713, Erste Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, 30. Oktober 1974. 193 BGBl I 1976 Nr. 87, Gesetz zur Einsparung von Energie in Gebäuden (EnEG), 22. Juli 1976, S. 1873. 194 Energieplanung. Zukunft im Rohr, in: Der Spiegel Nr. 53, 30. Dezember 1974, S. 19; vgl. auch: Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unter- nehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S. 312f., 673. 195 Vgl. u.a.: PA DBT PlPr. VII/125, 22. Januar 1976, S. 14823–14826, 14831. 196 Matthöfer: Mit Preiserhöhungen das Energiesparen ankurbeln, in: Kölner Stadtanzeiger, 5. August 1977. Hans Friedrichs wurde als Wirtschaftsminister am 7. Oktober 1977 von abgelöst, Hans Apel am 16. Februar 1978 von Hans Matthöfer. 197 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1979, S. 9755. Der Gesetzesantrag wurde vom Bundes- rat am 12. April 1978 gestellt (BR Drs. 183/78).

60 für das Jahre 1985 veranschlagt und 40.000 MWe für 1990.198 Politisches Ziel der SPD war es unter anderem, die heimische Kohle zu stabilisieren: Die ‚Er- gebnisse‘ der CDU/CSU-Regierungszeiten – Marktverdrängung und Zechenstill- egungen – sollten rückgängig gemacht werden.199 Bundeskanzler (SPD) vertrat während seiner gesamten Regierungszeit die Meinung, dass die Nutzung der Kernenergie für die Entwicklung der deutschen Volkswirt- schaft unabdingbar sei.200 Dies führte zu entsprechenden Schlagzeilen in der Presse: „Union vertritt gegen die SPD Schmidts Energie-Programm.“201 Gegenüber den vorherigen Energieprogrammen hatte sich die politische Si- tuation verändert: Die Zustimmung zur zweiten Fortschreibung des Energie- programms in den eigenen Parteien musste die Regierung sich mühsam er- arbeiten. Die Kernenergiekritiker in der SPD erhielten quasi als Ausgleich die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik. Bereits im März 1977 hielt (CSU) fest, „daß innerhalb der Bundesregierung die Füh- rungskraft des Bundeskanzlers nicht ausreicht, ein klares Energiekonzept zu vertreten.“202 An dieser Stelle muss mit dem Historiker Bernd Faulenbach eine ganz entscheidende Frage gestellt werden: Wie ging die Sozialdemokratie, die sich immer als Partei des Fortschritts verstanden hat, mit den neuen Heraus- forderungen und der Wendung gegen Großtechnologien um?203

d. Erste politische Reaktionen auf Unsicherheiten

Auf die wachsende Kritik an der Kernenergie musste die Politik, insbesondere die Regierung, reagieren, und sie tat dies zunächst im Sinne einer Informations- verbesserung. Das Bundesforschungsministerium (BMFT) hatte beispielsweise die öffentliche Diskussion zum vierten Atomprogramm in einem Materialband dokumentiert. Hier hieß es im Vorwort, „daß sich viele Bürger gegen eine Sache engagieren, die unter den großen politischen Parteien nicht umstritten ist.“204 Weiter war zu lesen, dass man noch lernen müsse, die Diskussion über Kern-

198 PA DBT Drs. VIII/1357, Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, 19. Dezember 1977. 199 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1979, S. 9755. 200 Z.B.: In Deutschland und Amerika bleibt die Energie beherrschendes Thema, in: Die Welt, 22. April 1977. 201 Union vertritt gegen die SPD Schmidts Energie-Programm, in: Die Welt, 23. September 1977. 202 ACDP VIII–001–1048/2, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 3. März 1977. 203 Faulenbach, Die Siebzigerjahre, S. 1–37. 204 Bundesminister für Forschung und Technologie (Hg.), Dokumentation über die öffentliche Diskussion des 4. Atomprogramms der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1973–1976, Bonn 1975, S. III.

61 energie zu führen: Die Verantwortlichen müssten sich Mühe geben, den Bedarf und die technischen Zusammenhänge verständlich zu machen; und die Gegner müssten begreifen, dass „Ablehnung ohne Kenntnis einer realisierbaren Alterna- tive und Wiederholung längst widerlegter Argumente“205 nicht weiterführe. Aus diesen Worten, die , damals Parlamentarischer Staatessekretär im BMFT, und Hans Matthöfer, Forschungsminister, im Vorwort niedergelegt hat- ten, wird sehr deutlich, wohin die Politik zielte: eine Aufklärung der Bürger im Sinne des Ausbaus der Kernenergie. Ähnlich wurde die Publikation einer öffentlichen Anhörung vom Innenaus- schuss des Bundestages im Dezember 1974 gerahmt. Thema waren die Risiken der Kernenergie für Mensch und Umwelt und gehört wurden neben Befür- wortern auch einige Gegner der Kernenergie. Im Vorwort der Veröffentlichung ist zu lesen, dass diese dazu diene, die Bürger zu informieren, denn „eine infor- mierte und kritische Öffentlichkeit ist eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß die Kontroverse um die Kernenergie zu einem tragfähigen Kompromiß ge- führt wird.“206 In dieselbe Richtung ging auch eine Informationskampagne von Seiten der Regierung und Kernkraftwerksbetreiber, die die Bevölkerung von den Vorteilen der Kernenergie überzeugen sollte. Beim Bürgerdialog Kernenergie, der von Matthöfer ins Leben gerufen wurde, sollten Kritiker wie Befürworter zu Wort kommen und damit den Konflikt abfedern.207 Die Idee brachte Volker Hauff ein, damals Parlamentarischer Staatssekretär im BMFT, der dieses Instrument aus Schweden kannte.208 Neben der Informationspolitik ergaben sich aus der frühen Kritik an der Kernenergie allerdings auch institutionelle Korrekturen: Die Verantwortung für Reaktorsicherheit wurde vom Bundesforschungsministerium – als Auftraggeber der Kernkraftwerke – an das Bundesinnenministerium (BMI) übertragen.209 Zu- dem wurde im Februar 1977 ein Kabinettsausschuss für die friedliche Nutzung der Kernenergie unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers ins Leben gerufen; ihm gehörten Minister des Auswärtigen Amtes, des BMI, des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWi) und des BMFT an. Gleichzeitig wurde ein Rat für die friedliche Nutzung der Kernenergie gegründet – der so genannte Nuklearrat –, in dem unter der Leitung des Bundeskanzlers die Vorsitzenden der Bundestagsfrak- tionen, zwei Ministerpräsidenten, vier Parteivorsitzende sowie jeweils ein Ver-

205 Ebd., S. IV. 206 Deutscher Bundestag (Hg.), Umweltschutz (IV). Das Risiko Kernenergie (Zur Sache 2/75), Stuttgart 1975, S. 9. 207 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 250f. 208 Gespräch mit Volker Hauff, Köln 28. November 2008. 209 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 250f.

62 treter aus Wirtschaft, Gewerkschaft und Wissenschaft tagten. Anlass für diese Beteiligung verschiedener Akteure am Entscheidungsprozeß waren Fragen zur Nuklear-Export-Politik sowie die innenpolitischen Entwicklungen.210 Carl Friedrich von Weizsäcker schlug als Wissenschaftsvertreter im Nu- klearrat vor, eine Expertenkommission einzusetzen, die über die Gefahren der Kernenergie berichten sollte. Diese Anregung wurde allerdings wegen nicht näher beschriebener Bedenken des Rates nicht weiter verfolgt.211 Eine weitere Reaktion auf die ersten Proteste war, dass sich eine Gegenmo- bilisierung auf Bundesebene formierte: Zum Beispiel luden Gewerkschaften, Atomlobby und Regierungsvertreter im November 1977 zu einer Pro-Atom- Kundgebung im Dortmunder Stadion ein. Jedoch verstärkte dies nur das Moment der Konfrontation zwischen Lobbyisten und der Opposition in den eigenen Rei- hen.212 Insgesamt gerieten die Kernenergiebefürworter auf politischer Ebene genau in der Phase zunehmend in die Defensive, in der sich in den Regierungs- parteien FDP und SPD Kräfte gegen die nukleare Energie bildeten.213 Allerdings sprachen auch Entwicklungen auf internationaler Ebene Ende der 1970er Jahre nicht mehr vorbehaltlos für den Ausbau der Kernkraft: In den USA begann unter der Carter-Administration eine restriktive Kernenergiepolitik. Nicht nur verschob der Präsident die Brütereinführung und die kommerzielle Wiederaufarbeitung im eigenen Land auf unbestimmte Zeit, auch die weiteren Uranlieferungen ins Ausland wurden diskutiert. Es gab bereits Verstimmungen zwischen der Bundesrepublik und Amerika aufgrund des Exports deutscher Atomkraftwerke nach Brasilien.214 Im Februar 1978 verfassten die USA den Nuclear Nonproliferation Act: Bei Vertragsverhandlungen für Wiederaufarbei- tungs- und Anreicherungsanlagen, bei der Lagerung von Plutonium und hoch angereichertem Uran sowie beim Export von Kernmaterial an Dritte galt es vor- ab die Zustimmung der USA einzuholen. Die EG-Länder, die das Abkommen nicht unterzeichneten, sollten kein Uran mehr erhalten.215 Es handelt sich um einen deutlichen Eingriff in die staatliche Souveränität. Im Ergebnis setzten die

210 ACDP VIII–01–484/2, Brief des Bundeskanzlers an , 22. Februar 1977; vgl. auch: Erste Gespräche des Nuklearrats in Bonn, in: FAZ, 25. März 1977. 211 ACDP VIII–01–484/2, Brief von Manfred Schüler (Chef des Bundeskanzleramts) an Egon Overbeck (Mannesmann) und Reimar Lüst (damals Vorsitzender der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.), 5. Juli 1977. 212 Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise, S. 107; Auf dem Weg zum Rechts-Staat?, in: Der Spiegel Nr. 47, 14. November 1977, S. 21; vgl. auch: Die Pro-Lobby: „Kernkraft – ja bit- te“, in: Der Spiegel Nr. 51, 18. Dezember 1978, S. 52–60. 213 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 252. 214 Ein Haus ohne Fundament. Präsident Carter bringt die deutsche Nuklearpolitik ins Wanken, in: SZ, 12. April 1977; Wer darf, wer darf nicht?, in: FAZ, 12. April 1977. 215 Atom: Ultimatum aus Washington, in: Der Spiegel Nr. 12–13, 27. März 1978, S. 15f.; Atompo- litik. Trickreiche Lösung, in: Der Spiegel Nr. 26, 26. Juni 1978, S. 32.

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USA zunächst einmal die Lieferung von hoch angereichertem Uran und Kanada die von Natur-Uran aus.216 Keinesfalls dienlich im Rahmen einer Pro- Kernenergiestrategie war eine Studie, die im Auftrag der Ford Foundation er- stellt worden war. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Kernenergie für die Wirtschaft nicht in dem Maße notwendig sei, wie die Befürworter der nuklearen Option dies nahe zu legen versuchten.217 Dass in den USA das Brüter- und Wiederaufarbeitungsprogramm von Re- gierungsseite her stockte, hängte man in Bonn nach Möglichkeit nicht an die große Glocke und bemühte sich das französische Atomprogramm als Vorbild aufzubauen – obschon Frankreichs dirigistisch orientierte Politik für die Bundes- republik nicht als nachahmenswertes Ideal galt.218

e. Zwischen Kernforschungszentren und Öko-Institut

„Auch nach längerem Nachdenken fällt den Fachleuten so gut wie niemand ein, der wissenschaftlich-technische Antithesen vorzutragen hätte, die der Diskussion im Rahmen dieses Auditoriums standhalten könnten.“219

Die „Wissenschaft sieht keine Kontroverse um Kernkraft“, titelte das Handels- blatt anlässlich einer Reaktortagung im März 1977. Die Zeitung konnte sich dabei auf 2000 anwesende Fachleute aus Kernforschung, Kerntechnik, Reaktor- sicherheit, Industrie sowie Betreiber von Kernkraftwerken, Behördenvertreter und Gutachter berufen.220 Diese Feststellung ist symptomatisch, insbesondere, wenn man die Debatte in der Bundesrepublik betrachtet, in der die Gegenexperti- se sich erst allmählich etablierte. Hintergrund ist sicherlich die besondere west- deutsche Geschichte der Kerntechnik. Als mit den Pariser Verträgen 1955 die Restriktionen für Deutschland auf- gehoben wurden, in der angewandten Kernphysik und auch in anderen Gebieten zu forschen, versuchte die Bundesrepublik den Vorsprung des Auslandes durch Großforschungseinrichtungen wettzumachen.221 Kernenergie galt in den 1950er

216 Ein Haus ohne Fundament. Präsident Carter bringt die deutsche Nuklearpolitik ins Wanken, in: SZ, 12. April 1977. 217 Amerikanische Absage an die Kernenergie. Ford-Studie gibt der Kohle die Zukunftschancen, in: Handelsblatt, 15. April 1977. 218 Radkau, Angstabwehr, S. 40. 219 Wissenschaft sieht keine Kontroverse um Kernkraft, in: Handelsblatt, 30. März 1977. 220 Ebd. 221 Einleitung: Entwicklungslinien der Großforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Großforschung in Deutschland, Frankfurt am Main/New York 1990, S. 13–20, S. 14; Gerhard A. Ritter, Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick, München 1992, S. 61ff.

64 und 1960er Jahren als Inbegriff des wissenschaftlichen Fortschritts von Wissen- schaft. Gleichzeitig war die Erlaubnis, diese Wissenschaft betreiben zu dürfen, ein Schritt heraus aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges und hin zur Wieder- erlangung der Souveränität des westdeutschen Staates. 1955 wurde das Bundesministerium für Atomfragen eingerichtet, dem die Deutsche Atomkommission als Beratungsinstanz an die Seite gestellt wurde. In diesem Gremium fiel zu Beginn ein Großteil der Entscheidungen, die vom Mi- nisterium lediglich noch abgenickt wurden.222 An den Großforschungs- einrichtungen, die zunächst als ‚Reaktorstationen‘ gegründet wurden, beteiligten Staat und Wirtschaft sich finanziell zunächst zu jeweils 50 Prozent gemeinsam; ab 1963 stieg die Industrie aus und schenkte ihren Anteil der staatlichen GmbH. Das Atomministerium wurde 1962 zum Bundesministerium für Forschung, das sich um die Forschungsförderung im Allgemeinen kümmerte, also nicht nur um Kernforschung.223 In den 1970er Jahren wandelten sich die Großforschungseinrichtungen. Zum einen wurde das Verhältnis zwischen Großforschung und Staat geklärt; danach sollte der Staat auf globaler Ebene die Leitung übernehmen, aber auf dirigistische Eingriffe verzichten. Dies wurde jedoch in der Praxis nicht immer eingehalten; die Zentren klagten über die Interventionen des Staates. Daneben fand eine Diversifizierung der Forschung statt, so dass auch nichtnukleare For- schungsthemen bearbeitet wurden. Die Kürzung der Haushaltsmittel um 20 Pro- zent der Investitionen im Jahr 1973 für das 4. Atomprogramm war ein zusätzli- cher Einschnitt.224 Die Wissenschaft der Kernenergie war also vor allem in den Groß- forschungsanlagen angesiedelt, die lange Zeit vom Staat üppig subventioniert wurden. Allerdings hatten sie für die industrielle Entwicklung der Kerntechnik nur geringe Bedeutung. Die dort entwickelten Reaktortypen waren für die Ener- giewirtschaft nicht interessant. Die Großforschung trug dafür „wesentlich zur Verfestigung jenes Expertenkartells bei, das immer mehr als ein Erbübel des atomaren Komplexes erkannt worden ist und eine rationale politische Steuerung der technischen Entwicklung nahezu unmöglich machte.“225 In den Forschungszentren herrschte wohl die Politik, jede Information, die das Haus verließ, zunächst über den Tisch des Projektleiters gehen zu lassen. Für

222 Vgl. zu den Anfängen und zur Geschichte der Deutschen Atomkommission z.B.: Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 39–45; Rusinek, Die Rolle der Experten in der Atompolitik. 223 Einleitung: Entwicklungslinien der Großforschung, in: Szöllösi-Janze/Trischler, Großforschung in Deutschland, S. 15f.; Ritter, Großforschung und Staat, S. 63f. 224 Einleitung: Entwicklungslinien der Großforschung, in: Szöllösi-Janze/Trischler, Großforschung in Deutschland, S. 17f.; Ritter, Großforschung und Staat, S. 100–111. 225 Radkau, Hiroshima und Asilomar, S. 355.

65 junge Wissenschaftler stellte sich die Frage, ob man sich gegen die Lehrmeinung positionieren und damit unter Umständen die Chance auf eine wissenschaftliche Karriere verbauen sollte. Dies erklärt die Schwierigkeiten, in dieser Zeit arrivier- te Physiker zu finden, die sich offen gegen die Kernenergie positionierten.226 Mit ihrer Reputation und der internen Informationspolitik übernahmen die For- schungszentren zunehmend die Funktion eines ‚Gatekeepers‘.227 Dem Kernforschungszentrum Karlsruhe beispielsweise kam eine ent- scheidende Rolle bei der Entwicklung der Brutreaktortechnologie zu. Den be- stimmenden Einfluss beim Bau des Schnellen Brüters in Kalkar übten nicht die Industrie, sondern das zuständige Ministerium und das Kernforschungszentrum Karlsruhe aus.228 Auffällig ist, dass die Experten im deutschen Raum überwiegend zu positi- ven Ergebnissen hinsichtlich der Unsicherheiten nuklearer Technologie kamen, während in Amerika die Ford-Studie beispielsweise den Brüter ausgesprochen skeptisch betrachtete.229 Genau dieser scheinbar unproblematische Umgang wur- de im Parlament zunehmend kritisiert. So zweifelte Reinhard Ueberhorst (SPD) der FAZ zufolge an der kritischen Distanz der entsprechenden Institutionen: Weder die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK), noch die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), noch das Bundesforschungsministerium hätten bisher über Sicherheitsmängel aufgeklärt.230 Die Wissenschaft hatte sich zunächst unisono vor die Kernenergie gestellt und dem Bundestag quasi eine Garantieerklärung gegeben: Jülichs Vor- standsvorsitzender Karl Heinz Beckurts, der Präsident der Max-Planck- Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Reimar Lüst und der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Heinz Maier-Leibnitz sandten im Dezember 1975 eine Erklärung an den Bundestag, die von mehr als 600 Wissen- schaftlern aus Hochschulen, Max-Planck-Instituten, Großforschungsanstalten und anderen Forschungseinrichtungen unterschrieben worden war. Deren Kern- aussage war, dass Energiesparen wichtig sei, die Zukunft der Energieversorgung jedoch in der Kernspaltungsenergie liege, deren Gefahren „derzeit in ausreichen-

226 Dies legten verschiedene Zeitzeugengespräche nahe, z.B.: Gespräch mit Hariolf Grupp, Karlsruhe 20. Juni 2008. 227 Vgl. zur Funktion von Peer Review und Gatekeepern: Weingart, Wissenschaftssoziologie, S. 25. 228 Keck, Der Schnelle Brüter, S. 294. 229 Vgl. hierzu: Gespräch mit Dieter von Ehrenstein, Bremen 28. Mai 2008; Brüter Diskussion – aber mit dem kritischen Forscher, in: FAZ, 29. November 1978. Zur Tabuisierung der Gefahren im deutschen Raum vgl.: Radkau, Angstabwehr, S. 43f. 230 Brüter Diskussion – aber mit dem kritischen Forscher, in: FAZ, 29. November 1978.

66 dem Maße beherrschbar“231 seien. Im Januar 1976 allerdings folgte – übersandt von Günter Altner, Professor für Humanbiologie – eine entsprechende Unter- schriftenliste der Gegenseite, die eine Verlangsamung und einen Stopp der ein- geleiteten Planungen forderte, um zusätzliche Sicherheitsanlagen zu prüfen und bei der Berechnung des Gesamtbedarfs der Frage nachzugehen, wie viel Kern- energie notwendig sei.232 Im Umfeld der Anti-Atomkraftbewegung bildete sich ein Netz neuer Um- weltforschungseinrichtungen. Sie wurden von Mitgliedern der Umweltbewegung gegründet und lieferten entsprechende wissenschaftlich fundierte Argumentati- onshilfen für gerichtliche und politische Auseinandersetzungen. Hauptthemen waren die Atomkraft und die Umweltverschmutzung. Diese Institute bildeten die Gegenexpertise zu den der Industrie nahe stehenden Forschungszentren wie Karlsruhe und Jülich. Dadurch verwissenschaftlichte sich der Protest gegen die Atomkraft zunehmend. Eine dieser Einrichtungen war das Institut für angewandte Ökologie, das so genannte Öko-Institut in Freiburg, dessen Gründung im direkten Zusammenhang mit den Wyhler Protesten stand. Es wurde im November 1977 infolge der Ausei- nandersetzungen um das geplante Kernkraftwerk gegründet und nahm seine Arbeit zunächst in einem Bootsschuppen auf. Finanziert wurde die Arbeit durch Spenden und Beiträge von Mitgliedern, von denen es 1980 etwa 2000 gab. An- fang 1980 wurde aufgrund der Nähe zu Gorleben eine Filiale in Hannover eröff- net. Auch hier – ebenso wie bei Protestaktionen – beteiligte sich nicht nur die politische Linke, auch Konservative und ‚Altbraune‘ waren Mitglieder.233 Daneben gab es das Institut für Energie- und Umweltforschung (IFEU) in Heidelberg, das sich im Frühjahr 1978 gründete. Ebenfalls 1978 wurde das Um- weltinstitut Stuttgart ins Leben gerufen (UWI); es handelt sich um einen direkten Ableger des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).234 Umstritten war die ‚Etikettierung‘ dieser Gegenexpertise: Zu finden sind Bezeichnungen wie ‚kritische‘ Wissenschaftler, ‚alternative‘ Experten oder ganz allgemein ‚Kritiker‘. All diese Terminologien sind für sich genommen eher irre- führend, da sie nicht deutlich machen, wem gegenüber sie kritisch oder zu was sie alternativ argumentieren. Die Befürworter der Kernenergie bezeichneten sich seit dem Gorleben Hearing auch gerne als ‚Gegen-Kritiker‘.

231 AdsD Depositum Schäfer, Offener Brief von Beckurts, Lüst und Maier-Leibnitz an die Abge- ordneten des Deutschen Bundestages, Dezember 1975. 232 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an den Bundestag, Zur Notwendigkeit eines Mora- torium – Aufforderung zu einer öffentlichen Diskussion, 16. Januar 1976. 233 Tüftler im Grünen, in: Der Spiegel Nr. 36, 1. September 1980, S. 225–229; Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 234 Tüftler im Grünen, in: Der Spiegel Nr. 36, 1. September 1980, S. 227.

67 f. Das Ende der Planbarkeit?

Verschiedene Elemente, die dem Paradigma der Planbarkeit entspringen, ge- rieten in den 1970er Jahren oder bereits kurz vorher in die Krise. Dabei wurde Planung erst nach 1969 zum Leitkonzept auf nahezu allen Feldern; beispiels- weise wurde zu dieser Zeit in der Kleinen Parlamentsreform eine zusätzliche wissenschaftliche Expertise für den Bundestag etabliert. Mit dieser Reformkur strebte man den modernen Staat an, und es fand sich darin ein Machbarkeits- optimismus, der sich auf den Staat als Akteur fixierte.235 Dieser Ära und der damit verbundenen Aufbruchstimmung entstammten neben dem ICE, der Magnetschwebebahn und dem Airbus auch der Schnelle Brüter und der Thorium-Hochtemperaturreaktor (THTR), die beiden kern- energietechnischen Zukunftsprojekte. Somit handelte es sich zu einem gewissen Teil um politische Projekte. Der Staat hatte für die Technologie der Zukunft zu sorgen, insofern erfolgte die Förderung auch in erster Linie mit staatlichen Gel- dern.236 Karl Mannheim bezeichnete Planung bereits in den 1920er Jahren als eine Signatur der Zeit.237 Die 1920er und 1930er Jahre mit ihren Managementtheorien zeigten eine enge Verbindung von Wissenschaft und Planung. In der 2. Hälfte der 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine regelrechte Planungsgegnerschaft mit der Position gegen Dirigismus – immer verbunden mit einer Position gegen sozi- alistische planwirtschaftliche Staaten wie die DDR.238 Gleichwohl finden sich historische Bezüge im Keynesianismus. In den 1960er Jahren wurde Planung geradezu zu einem Trend in der Bundesrepublik: Die zentralen Wirtschaftsparameter waren Wachstum, Beschäftigung und Geld- wert, die sich mit wissenschaftlichen Methoden gestalten zu lassen schienen. Experten wurden gleichzeitig zu Experten für demokratische Entscheidungen – und Planung zu einem Machtinstrument. Verwissenschaftlichte Politik galt als richtige Politik.239 Planung vermittelte die Suggestion von Ordnung in der mo- dernen Gesellschaft, die von zunehmender Komplexität geprägt war. Das Ziel

235 Gabriele Metzler, Demokratisierung durch Experten? Aspekte politischer Planung in der Bun- desrepublik, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 278–287, S. 275; Fach, Das Modell Deutsch- land und seine Krise, S. 96f. Vgl. zur Planung auch: Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 362–401. 236 Gespräch mit Manfred Popp, Karlsruhe 29. Juli 2008. 237 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929. 238 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 12, 63f. 239 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 27.

68 hieß: die Zukunft aktiv gestalten. Fortschritt galt als Grundprinzip ge- sellschaftlichen Handelns. Dabei wurde ein zentraler Begriff der aufklärerischen Zeit ausgelassen, der Fortschritt mit humanem Maß, wie es Langewiesche für das 19. Jahrhundert nennt.240 Planung benötige die humanen Aspekte nicht, da es um eine andere Art von Fortschritt ging – um Rationalität, Kontrolle und Struk- turierung.241 Mit der Struktur- und Ölkrise der 1970er schien das System der Planung zu- sammenzubrechen, da die Parameter hinfällig wurden, die die wirtschaftlichen Planer aufgestellt hatten. Planung stieß an ihre Grenzen, denn die Vorhersage- kraft und auch die Kontrollfähigkeit waren unzureichend.242 Insbesondere in der Kernenergiedebatte biss sich der Planungsgedanke gleichsam selbst in den Schwanz. Der Expertise gesellte sich eine Gegenexperti- se zu, die als ebenso rational betrachtet werden konnte. Darüber hinaus wurden verschiedene Unsicherheiten diskutiert, die eben nicht mehr im Bereich des Plan- und Berechenbaren lagen. Insofern lassen sich die 1970er Jahre als Wegscheide im Beiratswesen be- trachten: Zwei Wahrheiten standen einander gegenüber und daneben stand die Forderung nach sachgerechter Politik – also die Sehnsucht nach dem einen bes- ten Weg, der einen Wahrheit, die auf alle zutrifft. Der Wandel des Plan- barkeitsparadigmas ist eng mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit der Experten verbunden. Daraus ließe sich auch der Schluss ziehen, dass schlicht und ergrei- fend eine neue Ära der Planung eingeläutet wurde. Planungen mussten seit den 1970er Jahren selbstreferentiell und offener für Unvorhergesehenes werden; auch der Anspruch einer Gesamtplanung wurde rhetorisch zurückgenommen.243 Planungselemente in der Energiepolitik standen im Kontext einer ganzen Reihe von Katastrophenwarnungen und Krisenerscheinungen: des Ausschöpfens natürlicher Ressourcen, der Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums, der Ölpreiskrise sowie des Terrorismus. Insbesondere im parlamentarischen Raum musste die Frage geklärt werden, inwieweit man den Warnrufen Glauben schen- ken konnte und wie sie zu gewichten waren.244

240 Dieter Langewiesche, ‚Fortschritt‘, ‚Tradition‘ und ‚Reaktion‘ nach der Französischen Revolu- tion bis zu den Revolutionen von 1848, in: Jochen Schmid (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklä- rung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 446–458. 241 Vgl. hierzu: Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 63ff. 242 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 27. 243 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 413. 244 Peter Weingart/Anita Engels/Petra Pansegrau, Von der Hypothese zur Katastrophe: Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien, Opladen 20082, S. 26.

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Hinzu kam eine Bevölkerung, die zunehmend an den Entscheidungen über Kerntechnologie beteiligt werden wollte. In einer Allensbach-Umfrage für Die Zeit im April 1979 hätten 59 Prozent gerne in einer Volksabstimmung über den Bau und die Inbetriebnahme von Reaktoren entschieden, 26 Prozent wünschten das nicht. Auch fehlte das Vertrauen, dass die Politiker die richtigen Entschei- dungen treffen: Nur 29 Prozent glaubten dies, 50 Prozent hingegen hielten die Politiker für überfordert. Für den Zubau von Kernkraftwerken sprachen sich 30 Prozent aus, 37 Prozent wollten keine neuen, sondern nur die vorhandenen wei- ter betreiben; 24 Prozent gaben an, einen Ausstieg aus der Kernenergie zu be- grüßen und 9 Prozent waren unentschieden.245 Die Verunsicherung in der Bevölkerung wurde deutlich, aber auch deren zunehmende Emanzipation. Politik und Atomlobby reagierten zunächst eher hilflos mit Aufklärungskampagnen. Der zunehmenden Verwissenschaftlichung und damit auch einer stärker ernst zu nehmenden Form der Proteste konnten sie sich langfristig nicht entziehen. Viel gewichtiger ist wohl, dass die Interessen von Industrie und Energie- wirtschaft bei den damals kontroversesten Projekte, Schneller Brüter und Wie- deraufarbeitung, gar nicht so klar waren. Die Bundesrepublik war nicht das einzige Land, in dem die Kernenergie für Diskussionen in Regierung und Bevölkerung sorgte. In Österreich stritt sich die Regierungspartei um das Kernkraftwerk Zwentendorf,246 in den USA gab es Proteste gegen die Kernenergie und die Carter-Administration fuhr die Brüterentwicklung zurück,247 in Frankreich protestierten Belgier, Deutsche, Schweizer und Italiener gegen das dortige Brütermodell Superphénix in Malville.248 Auch die Verunsicherung von potentiellen Investoren war durch die Dauer der Genehmigungsverfahren, durch die Frage, wie dauerhaft eine politi- sche Linie verfolgt werden würde und durch die mangelnde Klarheit über die langfristige gesamtenergiepolitische Lage ein internationales Problem. In Deutschland war aus der Sicht von Ulf Lantzke, Leiter der IEA, die Situation noch ‚relativ günstig‘.249

245 Wie halten es die Deutschen mit der Kernkraft?, in: Die Zeit, 13. April 1979. 246 Zwentendorf wird Wiens Atom-Ärgernis, in: FAZ, 23. Mai 1977. 247 Reaktorgegner formieren sich in USA, in: Stuttgarter Nachrichten, 16. Mai 1977. 248 Das Konzept von Malville ging nicht auf, in: FAZ, 1. August 1977. 249 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft VIII, Unkorrigiertes Stenographisches Protokoll über die Anhörung von Sachverständigen in der 18. Sitzung, 19. Oktober 1977, S. 18/22f.

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II. Von der politischen Debatte zur Zukünftigen Kernenergie-Politik

Der Einfluss von Wissen ist bei der Kernkraftkontroverse ein Alleinstellungs- merkmal. Die Protestierenden suchten sich Unterstützung von wissenschaftlicher Seite, um ihre Argumentation zu stützen und ein ‚Gegenwissen‘ zu bilden – gegen die Großforschungseinrichtungen und politischen Akteure. Ebenso wur- den auf politischer Ebene zusätzliche Wissensbestände rekrutiert – insbesondere auf der Ebene des Bundestages, um das Regierungshandeln in der Energiepolitik zu kontrollieren. Ein Beispiel ist die Einsetzung der Enquete-Kommission Zu- künftige Kernenergie-Politik.

a. Wissen im parlamentarischen Entscheidungskontext

Bis 1969 standen dem Parlament keine eigenen unabhängigen wissenschaftli- chen Beratungsinstanzen zur Seite. Intern stellte die Abteilung Wissenschaftliche Dienste den Abgeordneten eine Parlamentsbibliothek, ein Archiv und das Sach- und Sprechregister des Bundestages zur Verfügung. Dies wurde ergänzt durch persönliche Assistenten der Abgeordneten sowie durch Ausschussassistenten und wissenschaftliche Referenten der Fraktionsarbeitskreise. Der Bundestag konnte außerdem Untersuchungsausschüsse einsetzen, die in ihrer praktischen Um- setzung ausschließlich als Missstands- und Skandalenqueten, nicht aber als bera- tende Instanzen in breiter angelegten Sachverhalten dienten.250 Dies änderte sich mit der Kleinen Parlamentsreform 1969, deren wichtigste Neuerungen bis heute erhalten sind. Seitdem können Abgeordnete nicht nur wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigen, der Bundestag kann auch Enquete- Kommissionen zur Vorbereitung von Entscheidungen einsetzen. Der Idee des Planbarkeitsparadigmas entsprechend sollte auf diese Weise wissenschaftlich fundierte Politik gestärkt werden.251 Ein Hintergrund für die Reformierung des Systems war auch das Misstrauen der Legislative gegenüber der Regierung, das weit zurückreichende Wurzeln hat – ebenso wie die Idee einer Untersuchungskommission. Laut Dieter Rehfeld resultierte das Untersuchungsrecht des Parlaments historisch betrachtet aus die-

250 Heiko Braß, Enquete-Kommissionen im Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft und Öf- fentlichkeit, in: Thomas Petermann (Hg.), Das wohlberatene Parlament. Orte und Prozesse der Politikberatung beim Deutschen Bundestag, Berlin 1990, S. 65–95, S. 66; Krevert, Funktions- wandel der wissenschaftlichen Politikberatung, S. 127–130; Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 188. 251 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 190.

71 sem Ungleichgewicht.252 Schon in der Paulskirche wurden 1848 umfassende Untersuchungsrechte gefordert; auf der einen Seite, um an zusätzliche Informati- onen für die Gesetzgebung zu gelangen, auf der anderen Seite, um die Regierung zu kontrollieren. In der Reichsverfassung von 1871 waren derartige Rechte nicht verankert, auch wenn sie immer wieder eingefordert wurden. Eine Stärkung des Parlaments wäre im Kaiserreich von den führenden Personen wohl als Risiko für das System betrachtet worden.253 Erst in der Weimarer Reichsverfassung 1919 wurde dem Reichstag mit Ar- tikel 34 ein eigenständiges Untersuchungsrecht zugestanden. Die Aspekte Min- derheitenschutz und Verwaltungskontrolle traten in den Vordergrund. Später galten die Unterstützung zur Vorbereitung von Gesetzgebung und die Öffent- lichkeitswirkung als die wesentlichen Funktionen.254 In der Bundesrepublik wurde die Idee einer Enquete-Kommission seit den 1960er Jahren diskutiert: Die Einzelheiten der ‚Vaterschaft‘ von Enquete- Kommissionen255 sowie die juristischen Details256 wurden in der Literatur hin- reichend dargelegt, so dass an dieser Stelle in erster Linie die für das Verständnis des Politikberatungsinstrumentes entscheidenden Entwicklungen nachzu- vollziehen sind. Wichtig waren wohl zwei Personen: Auf dem 45. Deutschen Juristentag 1964 machte , habilitierter Jurist, erste konkrete Vor- schläge, wie ein solches Gremium gestaltet werden könnte. In seinem Fokus waren vor allem die Aufgaben des Parlaments, Gesetze zu erlassen, zu po- litischen Fragen Stellung zu nehmen und Beschlüsse zu fassen.257 Dem Vor- schlag von Friedrich Schäfer folgend, dem langjährigen Parlamentarischen Ge- schäftsführer der SPD, wurde nicht nur die Idee einer gemischten Zusammensetzung von Abgeordneten und externen Sachverständigen aufge-

252 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 185; vgl. außerdem: Winfried Steffani, Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtags zur Zeit der Wei- marer Republik. Ein Beitrag zur Entwicklung, Funktion und politischen Bedeutung par- lamentarischer Untersuchungsausschüsse, Düsseldorf 1960. 253 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 185; Metzler, Konzep- tionen politischen Handelns, S. 190. 254 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 186f. 255 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 61f., 65. Als Väter der Institution Enquete- Kommission extrahiert Altenhof die Sozialdemokraten Karl Mommer, Friedrich Schäfer, Horst Ehmke und Wilhelm Hennis. 256 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 61–70; Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 189–192. 257 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 189; Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 62.

72 nommen, sondern auch festgelegt, dass die Mitglieder von den Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke im Parlament benannt werden können.258 Bezüglich der Funktion eines solchen Gremiums kristallisierten sich aus der Debatte der 1960er Jahre zwei Hauptstränge heraus: die Stärkung des Parlaments in seiner Öffentlichkeits- und Gesetzgebungsfunktion sowie die Kontrolle der Regierung. Beide Aspekte diskutierte und bestätigte der Bundestag bei der Ver- ankerung von Enquete-Kommissionen in der Geschäftsordnung.259 Die Wissensressourcen des Bundestages zu stärken, schien um so wichtiger, als in den 1960er Jahren die wissenschaftliche Politikberatung auf der Ebene von Regierung und Ministerialbürokratie intensiv ausgebaut wurde; hier standen zahlreiche Ausschüsse, Arbeitskreise, Beiräte und Gesprächskreise zur Verfü- gung – wie die Deutsche Atomkommission, um nur ein Beispiel aus dem ener- giepolitischen Bereich zu nennen. Die Ergebnisse der Beratungen wurden jedoch nur teilweise oder gar nicht an das Parlament weitergegeben. Insofern war das Beratungssystem der Bundesrepublik stark an der Exekutive ausgerichtet.260 Zwei Aspekte des aktuellen politischen Hintergrunds zur Zeit der Großen Koalition gilt es, sich bei der Verankerung von Enquete-Kommissionen zu ver- gegenwärtigen: Erstens mussten beide Regierungsfraktionen damit rechnen, in der nächsten Wahlperiode die Opposition zu bilden; insofern hätte die Preisgabe eines solchen als Minderheitsrecht konzipierten Gremiums den Verzicht auf ein eventuell noch nützlich werdendes neues Instrumentarium bedeutet. Zweitens ist die Etablierung dieser Institution im Rahmen des Planbarkeitsparadigmas zu sehen. Danach ist durch Expertise angereicherte Politik Ausdruck rationalen Handelns.261 Ob eine Enquete-Kommission nur den Part des Chores in der antiken Tra- gödie einnimmt oder bedeutendere Aufgaben erfüllt, ist am jeweiligen histori- schen Einzelfall zu klären. Idealiter können dem Politikberatungsinstrument folgende fünf Funktionen zugeschrieben werden: Erstens die historisch verwur- zelte Funktion zur Kritik und Kontrolle der Regierung, zweitens die Repräsenta- tions- und Artikulationsfunktion, drittens die Legitimierung politischer Entschei-

258 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 64; Friedrich Schäfer, Die Enquete-Kommissionen. Stellung, Aufgabe, Arbeitsweise (Bundestag von a–z, Nr. 15), Bonn 1976, S. 6f. 259 Zur Debatte der 1960er Jahre: Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 189–193. 260 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 23–27, 192; Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 12; vgl. zum Beratungssystem der Bundesregierung: Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung, S. 67–97; Metzler, Konzeptionen po- litischen Handelns, S. 188. 261 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 209f., 217; Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 194; Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 68; Wolf- gang Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, in: APuZG, B27/1996, S. 29–41, S. 29, 35.

73 dungen, viertens kann Entscheidungsdruck erhöht oder abgefedert werden, und fünftens soll die Öffentlichkeit informiert und ihr Engagement gestärkt wer- den.262

b. Politikberatung in Enquete-Kommissionen

Die Enquete-Kommission wurde zunächst als §79263 in die Geschäftsordnung des Bundestages aufgenommen. Damit ist sie ganz klar dem Parlament zugeord- net. Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es dieses Instrument auch auf Länderebene, um dort die Oppositionsrechte zu stärken.264 Enquete-Kommissionen dienen der „Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“265. Das Instrument ist Ausdruck des parlamentarischen Minderheitsrechts, wenn mindestens 25 Prozent der Ab- geordneten die Konstituierung einer Enquete wünschen, muss der Bundestag diesem Anliegen nachkommen. Allerdings wurde erst eine einzige Enquete- Kommission – Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung in der 11. Wahlperiode – gegen die Mehrheit durchgesetzt. Pläne für die Einsetzung eines solchen Gremiums wurden oftmals bereits in den Ausschüssen, die die Anträge

262 Mark B. Brown/Justus Lentsch/Peter Weingart, Politikberatung und Parlament, Opladen 2006, S. 96ff.; Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung, S. 167ff.; Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 163, 328; vgl. zum Politikberatungsinstrument Enquete- Kommission außerdem: Wolfgang Krohn, Enquete Commissions, in: Encyclopedia of Science, Technology, and Ethics, S. 641–644; Stephan Bröchler, Kalliope im Wunderland. Orientierun- gen, Bedarfe und Institutionalisierung von wissenschaftlicher Politikberatung im bundesdeut- schen Regierungssystem, in: Rainer Schützeichel/Thomas Brüsemeister (Hg.), Die beratene Gesellschaft. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung, Wiesbaden 2004, S. 19–38. 263 Mit der Neufassung der GOBT, die vom Bundestag am 25. Juni 1980 auf der 225. Sitzung beschlossen wurde, änderte sich die Paragraphenfolge, so dass Enquete-Kommissionen seitdem im §56 verankert sind. Zudem wurde Absatz 4 ergänzt, der die Berichterstattung der Kommis- sion an den Bundestag regelt. Im Folgenden wird, da die Kommission vor dieser Änderung eingesetzt wurde, vom §79 die Rede sein. 264 Vgl. zu Länder-Enquete-Kommissionen: Walter Euchner/Frank Hampel/Thomas Seidl, Länder- Enquete-Kommissionen als Instrument der Politikberatung, Baden-Baden 1993, S. 36ff. 265 §79a: (1) Zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe kann der Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzen. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist er dazu verpflichtet. Der Antrag muß den Auftrag der Kommission bezeichnen. (2) Die Mitglieder der Kommission werden im Einvernehmen der Fraktionen benannt und vom Präsidenten berufen. Kann ein Einvernehmen nicht hergestellt werden, so benennen die Frakti- onen die Mitglieder im Verhältnis ihrer Stärke. Die Mitgliederzahl der Kommission soll, mit Ausnahme der in Absatz 3 genannten Vertreter der Fraktion, neun nicht überschreiten. (3) Jede Fraktion kann einen Vertreter, auf Beschluß des Bundestages auch mehrere Vertreter in die Kommission entsenden.

74 für den Bundestag vorbereiten, wieder verworfen.266 Dass die Einberufung einer Enquete auf einem Minderheitenrecht beruht, führte in der Vergangenheit häufig zu der Aussage, es handele sich um ein ‚Oppositions-Instrument‘.267 Die Tatsa- che, dass bislang nur eine Kommission gegen die Mehrheit durchgesetzt wurde, muss dies stark in Frage stellen. Damit sind die wichtigsten Regelungen zur Etablierung einer Enquete ge- nannt, und es wird deutlich, dass es sich um eine sehr elastische Angelegenheit handelt. So ist weder geklärt, was ‚umfangreiche und bedeutsame Sach- komplexe‘ sein könnten, noch sind die Befugnisse der Kommission zur Wahr- nehmung ihrer Aufgaben oder die Mitgliederzahl klar. Insofern unterliegt die Nutzung des Instruments weitgehend der Energie und dem Willen der Kommis- sionsmitglieder.268 Resultat ist unter anderem, dass die Enquete-Kommissionen sich in ihrer Arbeits- und Verfahrensweise erheblich voneinander unterschie- den.269 Enquete-Kommissionen sind auf parlamentarischer Ebene das einzige Gre- mium, in dem externer Sachverstand berufen wird, jedoch nicht im Sinne des amerikanischen scientific policy councelling, sondern entsprechend einem korporatistischen Beratungsmodell. Demzufolge kann es sich bei dem berufenen Sachverstand um Wissenschaftler, aber auch um Vertreter bestimmter Interes- sengruppen handeln, wobei Wissenschaft selbstverständlich mit Interessenvertre- tung einhergehen kann.270 Enquete-Kommissionen werden in einer Publikation, die vom Deutschen Bundestag herausgegeben wird, als „eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft“271 bezeichnet. In der wissenschaftlichen Literatur ist in ähnlicher Weise die Rede von der „wohl intensivsten Form direkter Politikbera- tung“272; das Gremium entspricht dem ‚pragmatischen Modell‘ von Habermas. Im Unterschied zu den ständigen Ausschüssen arbeiten hier externe Sachver- ständige gleichberechtigt mit Mitgliedern des Bundestages zusammen. Die Zahl der abgeordneten und sachverständigen Mitglieder ist Verhandlungssache und wird sowohl von den Fraktionen als auch vom Plenum diskutiert, wobei meist eine Empfehlung des federführenden Ausschusses vorliegt. Festgelegt ist ledig- lich, dass Parlamentarier jeder Fraktion vertreten sein sollen; dies geschieht –

266 Brown/Lentsch/Weingart, Politikberatung und Parlament, S. 96. 267 Vgl. dazu z.B.: Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 163f. 268 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 261. 269 Vgl. hierzu die Abhandlung von: Altenhof, Die Enquete-Kommissionen. 270 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 135. 271 Christian Heyer/Stephan Liening, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft (Stichwort, hgg. v. Deutschen Bundestag), Berlin o.J., S. 3. 272 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 32.

75 den Anregungen von Friedrich Schäfer entsprechend – üblicherweise im Ver- hältnis ihrer Fraktionsstärke. Bei der Berufung der Experten nutzen die Parteien gerne die Möglichkeit, der eigenen politischen Position nahestehende Sachver- ständige zu berufen. Damit ist die Erwartungshaltung verbunden, dass die er- wählten Beisitzer die Haltung der Partei in der Kommissionsarbeit unterstützen. Nicht zuletzt aus diesem Grund werden bevorzugt Sachverständige ernannt, die aus dem parteinahen Informationsfeld kommen – sozusagen ‚Hausexperten‘.273 Aus ‚Angst‘ vor zu viel Sachverstand wird darauf geachtet, dass die Kom- mission entweder paritätisch besetzt wird oder die Abgeordneten zahlenmäßig überwiegen; dies kann insbesondere bei Abstimmungen wichtig sein und zeigt zudem die Einbindung des Instruments in das parlamentarische Konkurrenzsys- tem.274 Die Wahl der Sachverständigen erlaubt es eine politische Seite festzule- gen und die Erkenntnisse, die in die Empfehlung einfließen. Zugleich scheint eine gewisse Form der Politisierung der Berater immanent zu sein, zumal sie meistens von einer Fraktion berufen werden, um deren Interessen und Stand- punkte zu vertreten.275 In den bisherigen Kommissionen waren die Mitglieder weitgehend gleichberechtigt hinsichtlich des Stimm- und Antragsrechts sowie der Abgabe von Sondervoten. Dies ist jedoch in der Geschäftsordnung des Bun- destages nicht festgelegt. Zur Arbeitsweise der Kommissionen ist folgendes festzuhalten: Die Ar- beitszeit ist auf eine Legislaturperiode begrenzt, an deren Ende ein Bericht vor- zulegen ist. Es handelt sich also in keinem Falle um eine Langzeitpolitik- beratung, auch wenn die Kommissionen auf Antrag neu eingesetzt werden können. Die Gremien werden von einem Abgeordneten geleitet, wobei die gro- ßen Parteien sich in jeder Legislaturperiode abwechseln; der ersten eingesetzten Kommission steht ein Abgeordneter der stärksten Fraktion vor. Der Vorsitzende soll unparteiisch die Sitzungen vorbereiten, einberufen und leiten. Er erteilt das Wort und führt Beschlüsse durch. In seiner Arbeit wird er von einem Sekretariat unterstützt, das die Bundestagsverwaltung für das Gremium einrichtet. Das Sek- retariat – notwendig für Organisation, Sichtung und Auswertung der Mate- rialfülle – ist inzwischen häufig wissenschaftlich besetzt, so dass seine Aufgaben weit über die oben genannten hinausgehen können. Pionier in Sachen wissen- schaftlicher Stab im Sekretariat war die Enquete-Kommission Zukünftige Kern- energie-Politik unter der Leitung Reinhard Ueberhorsts. Das Gremium tagte zumeist unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wobei Vertreter von Bund und Ländern sowie der Ministerien zugegen sind.

273 Ebd. 274 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 32; Altenhof, Die Enquete- Kommissionen, S. 177, 179; Brown/Lentsch/Weingart, Politikberatung und Parlament, S. 99. 275 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 37.

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Wichtige Komponenten der Enquete-Arbeit sind Einfluss und Interesse der Fraktionen – nicht nur bei der Wahl der Sachverständigen. Um ein gedankliches Auseinanderdriften in der politischen Einschätzung der Thematik zwischen Frak- tionsvertretern und Fraktionsmitgliedern zu vermeiden, werden Obleute inner- halb der Kommission bestimmt, die die Fraktionsinteressen artikulieren und rückkoppeln. Häufig wird eine Arbeitsgruppe auf Fraktionsebene eingerichtet, und die abgeordneten Mitglieder in der Kommission sind zudem gehalten – al- lerdings auf informeller Basis –, engen Kontakt zur Fraktion zu halten.276 Den Kommissionen steht neben den berufenen Sachverständigen und dem Sekretariat eine ganze Reihe weiterer Wissensressourcen wie Anhörungen, Gut- achten, Informationsreisen und Besuche von Fachkongressen zur Verfügung. Zudem ist die Einbindung der Experten in entsprechende wissenschaftliche Krei- se und Lobbys in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Es können also sowohl Regierungsvertreter, wissenschaftliche Institute, Verbandsvertreter und Behör- den als auch Unternehmen in den Arbeitsprozess eingebunden werden.277 Ziel der Kommissionsarbeit ist es, die Auswirkungen von technischen oder ökonomischen Entwicklungen sowie rechtlichen und politischen Maßnahmen aufzuarbeiten, mögliche Regelungen und Entwicklungen darzulegen, um auf diese Weise eine Empfehlung für politische Entscheidungen des Parlaments zu geben.278 Es geht nicht um eine Ja-Nein-Entscheidung, ein Missverständnis, das sich auch in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder findet, was zu irre- führenden Bewertungen der Enquete-Kommissionen führen kann. Eine ein- heitliche Empfehlung ist unter Umständen gar nicht wünschenswert: Lompe hält es für wichtig, Minderheitsvoten zu erstellen. Denn ein Bericht, der nur Mehr- heitsvoten erlaube, ließe nicht nur für die in der Minderheit befindlichen Oppo- sition die Teilnahme an der Kommissionsarbeit uninteressant werden, sondern auch dazu verleiten, die Sachverständigen nach deren politischer Meinung aus- zusuchen. Das würde Sachverständigen, die nicht in die politische Konfliktlinie eingebunden sind, sowie Vertretern gesellschaftlicher Minderheiten keinen Platz mehr lassen.279 Insofern muss mit der Forderung nach ‚Konsens‘ ausgesprochen vorsichtig umgegangen werden.280

276 Klaus Lompe, Wissenschaft und politische Steuerung, in: Klaus Lompe/Hans Heinrich Rass/Dieter Rehfeld, Enquête-Kommissionen und Royal Commissions. Beispiele wissenschaft- licher Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien, Göttingen 1981, S. 9–70, S. 65. 277 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 33. 278 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 197. 279 Lompe, Wissenschaft und politische Steuerung, S. 64. 280 Vgl. zur Forderung nach ‚Konsens‘: Brown/Weingart/Lentsch, Politikberatung und Parlament, S. 103.

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Die Kommissionsberichte werden dem Bundestag als Drucksache vorgelegt und von diesem zumeist aufgrund ihrer Komplexität an die zuständigen Aus- schüsse überwiesen. Die interfraktionell zusammengesetzten Ausschüsse des Bundestages arbeiten die Ergebnisse auf und destillieren ihrerseits auf Basis des Enquete-Berichtes eine Empfehlung an den Bundestag. Um eine Zersplitterung zu vermeiden, ist der Vorsitzende der Enquete-Kommission gleichzeitig Mitglied des federführenden Ausschusses, der sich aus der Thematik ergibt und bereits die Einsetzung vorbereitet hat. Dennoch können Enquete-Kommissionen nur be- grenzt Einfluss auf die Rezeption ihrer Arbeit nehmen.281 Bislang wurden nur wenige Empfehlungen von Enquete-Kommissionen messbar in Bundestagsbeschlüsse und Gesetzesvorlagen umgesetzt, was an strukturellen Momenten des parlamentarischen Regierungssystems liegen mag. Dadurch, dass die Berichte zumeist gegen Ende der Legislaturperiode eingereicht werden und zunächst die Ausschüsse durchlaufen müssen, werden sie üblicher- weise erst in der darauf folgenden Wahlperiode debattiert, in der dann unter Umständen andere Mehrheiten bestehen und andere Themen zentral sind.282 Dies bedeutet nicht, dass dieses Politikberatungsinstrument zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wäre, vielmehr zeigt es, dass differenzierte Erfolgskriterien anzulegen sind. Die Kommissionen sollen mit ihrer Arbeit nicht nur den Bundestag beraten, sondern auch die Öffentlichkeit. Die Berichte und Zwischenberichte werden in der vom Referat für Öffentlichkeitsarbeit herausgegebenen Reihe Zur Sache publiziert. Forschungsreisen, Teilnahme an Tagungen und Kongressen sowie öffentliche Anhörungen dienen neben der Erweiterung der Wissensressourcen der Mitglieder ferner dazu, die interessierte Öffentlichkeit anzusprechen.283 Auch hier liegt es am jeweiligen Gremium, aktiv zu werden.

c. Probleme von Enquete-Kommissionen

Größte Chance und zugleich größte Quelle für Probleme sind die recht schwam- migen rechtlichen Regelungen dieses Politikberatungsinstruments, dessen Mit- gliederzahl – wie oben erwähnt – ebenso offen ist wie Aufgabenstellung und Ergebnis. Wesentlich problematischer ist jedoch die mangelnde gesetzliche Ab- sicherung der Rechte und Befugnisse, die die Möglichkeiten der Gremien, an

281 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 40f. 282 Ebd. 283 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 222; Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags, S. 34; Brown/Lentsch/Weingart, Politikberatung und Parlament, S. 104ff.

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Informationen zu gelangen, zum Teil erheblich einschränkt. Dies ist Resultat der letztlich provisorischen Regelung, dass Enquete-Kommissionen in der Ge- schäftsordnung des Bundestages verankert sind. Aufgrund des vorläufigen Cha- rakters gab es immer wieder Anregungen zur rechtlichen Einbettung, aber es konnte keine Einigkeit über eine Verankerung im Grundgesetz gefunden wer- den.284 Bereits die erste Enquete-Kommission Verfassungsreform sprach sich mehrheitlich für eine Aufnahme ins Grundgesetz aus.285 Nachdem diese Empfeh- lung nicht umgesetzt wurde, gab es von Seiten der SPD Versuche, die Kommis- sionen mit umfassenden Untersuchungsbefugnissen und Auskunftsrechten ge- genüber Dritten auszustatten; es wurde beantragt, dass Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts unter anderem zur Vorlage und Auslieferung von Urkunden und Materialien verpflichtet werden sollten.286 Da die Geschäfts- ordnung des Bundestages allein für Abgeordnete des Hohen Hauses weisungs- befugt ist, hätte dies einer legislativen Regelung bedurft und damit einer Ver- ankerung im Grundgesetz.287 Letztlich blieben die Enquete-Kommissionen bei der Material- und Infor- mationsbeschaffung stets auf die freiwillige Kooperation der Auskunftspersonen angewiesen.288 Dass dies enorme Barrieren für die Kommissionen aufbauen kann, wird insbesondere die später zu behandelnde Nachfolgeenquete zeigen, bei der die Zusammenarbeit mit den Ministerien und Großforschungseinrichtungen immer wieder stockte. Altenhof hält hingegen ‚juristischen Perfektionismus‘ in dieser Frage für unangebracht angesichts der Tatsache, dass Enquete-Kommissionen in den ver-

284 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 196, 260; Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 34; Altenhof, Die Enquete- Kommissionen, S. 70f. 285 PA DBT Drs. VII/5924, Schlußbericht der Enquete-Kommission ‚Verfassungsreform‘, 9. Dezember 1976, S. 57. 286 PA DBT Drs. V/3991, Antrag der SPD. Entwurf eines Gesetzes über die Befugnisse von En- quete-Kommissionen, 19. März 1969; PA DBT Drs. VI/546, Antrag der SPD. Entwurf eines Gesetzes über die Befugnisse von Enquete-Kommissionen, 18. März 1970. 287 PA DBT Drs. V/3991, Antrag der Fraktion der SPD, Entwurf eines Gesetzes über die Be- fugnisse von Enquete-Kommissionen, 19. März 1969. Dies geschah am gleichen Tag, als die SPD die Ergänzung der Geschäftsordnung durch den §74a beantragte (vgl. PA DBT Drs. 5/3390, Antrag der Fraktion der SPD betr. Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestag, u.a. zu § 74a: Enquete-Kommissionen, 19. März 1969). In der folgenden Wahl- periode legte die SPD den Gesetzentwurf erneut vor: PA DBT Drs. VI/546, Antrag der Fraktion des SPD, Entwurf eines Gesetzes über die Befugnisse von Enquete-Kommissionen, 18. März 1970. 288 Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 34f.; Altenhof, Die Enquete- Kommissionen, S. 69; Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 260.

79 gangenen drei Jahrzehnten in ihrer Arbeit nicht maßgeblich durch fehlende Vollmachten beeinträchtigt worden seien.289 Ein weiteres Problem wird in der Zusammenarbeit zwischen Wissen- schaftlern beziehungsweise Sachverständigen und Politikern gesehen. Luhmann zufolge kommunizieren und funktionieren Wissenschaft und Politik nach unter- schiedlichen Codes: Wahrheit und Macht. Sie können sich daher allenfalls irritie- ren, nicht aber wechselseitig steuern.290 Das Konzept der Wissensgesellschaft geht von porösen Systemgrenzen aus, was es erlaubt, den Wissenstransfer unter die Lupe zu nehmen.291 Im konkreten Umgang werden diese Grenzen allerdings immer mal wieder erwähnt: Politiker monieren den mangelnden Anwendungsbe- zug der Wissenschaftler und Abgeordnete fühlen sich häufig von den Experten belehrt. Die Experten ihrerseits bemängeln die Beratungsresistenz von Politi- kern.292 Ähnliches ist bei Dieter Rehfeld zu lesen, der das Verhältnis des Bundesta- ges zu wissenschaftlichem Rat als zwiespältig bezeichnet: So ließen Äußerungen von Abgeordneten vermuten, dass wissenschaftliche Beratung in der Abgeordne- tenpraxis kaum eine Rolle spiele. In den Enquete-Kommissionen, die Rehfeld untersuchte, trugen Sachverständige und einige besonders an der Thematik inte- ressierte Abgeordnete die Hauptarbeit der Kommissionen. Bis heute besetzen die Fraktionen bei der Arbeitsverteilung zunächst die Ausschüsse und benennen erst dann die Vertreter für die Enqueten.293 Altenhof verweist zudem auf ein Macht- gefälle zwischen Parlamentariern und Sachverständigen, wenn es um die Ein- flussmöglichkeiten auf den parlamentarischen Prozess geht.294 Eine Betrachtung des Einzelfalls ist hier wiederum unabdingbar, wie das Beispiel des wissen- schaftlichen Sachverständigen Adolf Birkhofer zeigen wird, der sich ganz selbstverständlich auf dem Parkett der Ministerien und der Wissenschaften be- wegte. Zusammenfassend diagnostizierte Lompe drei Spannungsfelder für Kom- missionen dieser Art: Spannungen zwischen detaillierter Arbeit und Rückkopp- lung an die Öffentlichkeit, Spannungen zwischen ‚konsensorientierter Arbeit‘

289 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 95. 290 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990. 291 Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, S. 150. 292 Vgl. die verschiedenen Perspektiven im folgenden Sammelband: Martin Greiffenhagen/Rainer Prätorius (Hg.), Ein mühsamer Dialog. Beiträge zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft, Köln/Frankfurt am Main 1979. 293 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 261; vgl. auch: Peter Conradi, Wissenschaft und Politik?, in: Martin Greiffenhagen/Rainer Prätorius (Hg.), Ein müh- samer Dialog. Beiträge zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft, Köln/Frankfurt am Main 1979, S. 163–168. 294 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 207.

80 und der Gefahr von Formelkompromissen sowie Spannungen durch das gleich- zeitige Bestreben die Konfliktlinien des Parlamentes einzubeziehen und dem Interesse an unabhängigem Sachverstand gerecht zu werden.295 Bereits vor der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik gab es einen Versuch – hier von der oppositionellen Union –, ein Untersuchungs- gremium zum Thema Energieforschung296 zu berufen. Die Regierungsfraktionen machten 1974 mehrmals Bedenken gegen seine Einsetzung geltend. Der Vor- schlag der CDU/CSU-Fraktion wurde dennoch vom Plenum an den Ausschuss für Forschung und Technologie überwiesen. Im Ausschuss erklärten die Unions- vertreter die Rücknahme des Antrags, wohl mit der Argumentation, die Auskunft von Privatpersonen und privaten Forschungseinrichtungen könne nur auf freiwil- liger Basis erfolgen. Altenhof vermutete dahinter hauptsächlich politische Über- legungen, da die Differenzen zwischen Opposition und Koalition so groß gewe- sen seien, dass die Aussichten für einen gemeinsamen Nenner ausgesprochen schlecht standen.297 Dafür führt Altenhof auch das „Scheitern der fünf Jahre später eingesetzten Enquete-Kommission ‚Kernenergie-Politik‘“298 an. Das Ar- gument verliert an Schärfe, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 1974 die Kern- energie in der Energiepolitik noch ein von allen Parteien gleichermaßen an- genommener fester Bestandteil der Energieforschung war. Vor der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik gab es drei Vorläufer: Auswärtige Kulturpolitik, Fragen der Verfassungsreform und Frau und Gesellschaft. Insofern war dieses Politikberatungsinstrument bis dahin an Themen erprobt worden, die nicht annähernd mit vergleichbarer Brisanz gesamt- gesellschaftlich diskutiert wurden.299 In welcher politischen Krisensituation die- ses noch recht junge Instrument eingesetzt wurde, wird sich im Folgenden zei- gen.

d. Konstellationen im Bundestag und in den Ministerien

Das beklagte Ungleichgewicht zwischen Regierung und Parlament wurde in der Kernenergiefrage besonders offensichtlich. Nach der Verabschiedung des Atom-

295 Lompe, Wissenschaft und politische Steuerung, S. 65. 296 PA DBT Drs. VII/3003, Antrag der CDU/CSU. Enquete-Kommission ‚Energieforschung‘, 18. Dezember 1974. 297 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 100f.; vgl. auch: Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 256f. 298 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 101. 299 Vgl. dazu die Daten zu Aktivitäten der Frauenbewegung, die im Vergleich zum Beispiel zu Aktivitäten zu Atom und Frieden auf einem „überraschend niedrigem Niveau“ liegen: Neid- hardt/Rucht, Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 41f.

81 gesetzes 1959 gab es erstmals am 22. Januar 1975 wieder eine Debatte über die Kernenergie im Bundestag. Ende der 1950er Jahre hatte die SPD noch kritisiert, dass die Deutsche Atomkommission nur dem Ministerium zugeordnet und ge- genüber dem Bundestag und der Öffentlichkeit nicht rechenschaftspflichtig sei. In der Folgezeit gab es jedoch keine ernsthaften Unternehmungen, diesen Miss- stand zu beheben. Gleichzeitig wurden in den 1960er Jahren alle wichtigen Ent- scheidungen zur Atomenergiepolitik getroffen. Radkau verwies unter anderem auf das mangelnde Wissen der Parlamentarier, die die wenigen Debatten zum Kaffeetrinken nutzten, da sie sowieso nicht verstünden, worum es ging.300 Energiepolitik wurde in erster Linie von Ministerien und Lobbyisten ge- staltet. Otto Keck zeigte am Beispiel des Schnellen Brüters, dass für Entschei- dungen das zuständige Ministerium und die am Projekt beteiligten staatlichen Forschungszentren, Herstellerfirmen und Elektrizitätsgesellschaften sowie die Genehmigungsbehörden zentral waren. In den Zuschauerrängen saßen das Fi- nanzministerium und das Kabinett sowie das Parlament und die Parteien. Der innere Kreis gebe nur selektiv Informationen nach außen; damit seien die Gren- zen zwischen beiden auch klar definiert.301 Wolfgang Krohn und Peter Weingart bezeichneten das Zusammenwirken von Wirtschaft, Wissenschaft und Staat, das den ungestörten Ausbau der Kernenergie sicherte, als „nicht ungefährliches Kon- senskartell“302. Dies änderte sich maßgeblich in den 1970er Jahren, in denen die Energiefrage zunehmend ins öffentliche Bewusstsein vordrang und sich um das Thema Kernenergie herum polarisierte. Parlamentarier stellten immer mehr An- fragen an die Ministerien, und das Problem der künftigen Energiepolitik politi- sierte sich zunehmend.303 Im Mai 1976 wurde letztmals die 20 Jahre gemeinsam getragene Energie- politik – der nukleare Konsens – durch eine parteienübergreifende gemeinsame Entschließung bestätigt.304 In seiner Regierungserklärung hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt sich im Dezember 1976 dafür ausgesprochen, die bisherige Kernenergiepolitik beizubehalten und die Abhängigkeit von Öl und Gas zu redu- zieren. Gleichzeitig sollten eine entsprechende Entwicklung der Energiekosten sowie ein sparsamer Energieverbrauch den Staat wettbewerbsfähig halten. In den

300 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 424f., 246f.; vgl. auch z.B.: Bedingtes ,Ja‘ zur Kernenergie. Debatte in Bonn vor leeren Bänken – Kritiker kamen erst am Schluß zu Wort, in: Offenburger Tageblatt, 16. Juni 1977; außerdem Müller-Brandeck, Techno- logiefolgenabschätzung, S. 176f. 301 Keck, Der Schnelle Brüter, S. 292. 302 Wolfgang Krohn/Peter Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, in: Karl Markus Michel/Tilmann Spengler (Hg.), GAU – Die Havarie der Expertenkultur (Kurs- buch Nr. 85), Berlin 1986, S. 1–25, S. 4. 303 Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 26. 304 PA DBT PlPr. VIII/86, 20. April 1978, S. 6727.

82 im März 1977 beschlossenen Grundlinien und Eckwerte für die Fortschreibung des Energieprogramms 1977 wurden neben den oben bereits genannten Punkten der Erhalt des deutschen Steinkohlebergbaus und die Sicherung des Kohleeinsat- zes zur Stromerzeugung, der Ausbau der Kernenergie und Forschung im Ener- giebereich festgelegt.305 Der seit 1972 im Bau befindliche Schnelle Brüter stellte ganz offenkundig bereits ein umstrittenes Thema dar. Schon im April 1977 wurde diskutiert, ob das Projekt abgebrochen werden kann. Doch zunächst einmal hielt die Bundes- regierung am Brüter und an der Wiederaufarbeitung fest.306 Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Enquete-Kommission war ein Expertengespräch über den SNR300, zu dem der Minister für Forschung und Technologie Hans Matthöfer am 19. Mai 1977 einlud. Gehört wurden fünf von den Bürgerinitiativen und fünf vom BMFT vorgeschlagene Sachverständige: unter anderem auf der kernener- gieskeptischen Seite Dieter von Ehrenstein und Amory B. Lovins sowie auf der befürwortenden Seite Wolf Häfele. Außerdem waren Reinhard Ueberhorst für die SPD und Hans Hubrig für die CDU anwesend.307 Ungeachtet der zahlreichen Unsicherheiten sah sich der Forschungsminister in der Energiepolitik der Regie- rung bestätigt, insbesondere da ein Minimalkonsens zwischen Kernenergiegeg- nern und -befürwortern insofern festzustellen gewesen sei, als die Option für den Brüter offen zu halten sei.308 Matthöfer äußerte sich im Spiegel dementsprechend als „Gegner einer Denkpause“309 und schickte an die Genossen der Bundestagsfraktion ein Papier über die Konsequenzen einer Genehmigungspause für Kernkraftwerke.310 Diese Beispiele zeigen, dass von Seiten der Regierung, insbesondere von Kanzler Schmidt und den für Energiefragen wichtigen Ministern Hans Matthöfer311, Otto Graf Lambsdorff (Wirtschaft) und Werner Maihofer312 (Inneres), der Ausbau der

305 Volker Hauff (Hg.), Energiediskussion in Europa. Berichte und Dokumente über die Haltung der Regierungen und Parteien in der Europäischen Gemeinschaft zur Kernenergie, IFZ- Forschungsbericht 1982 (Argumente in der Energiediskussion), Villingen 1982, Abschnitt 2.2., S. 1. 306 Energie. Bonn will am Schnellbrutreaktor festhalten, in: dpa 064 id/wi, 25. April 1977. 307 Hans Matthöfer (Hg.), Schneller Brüter. Pro und Contra. Protokoll des Expertengesprächs vom 19.5.1977 im BMFT (Argumente in der Energiediskussion), Villingen 1977. 308 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Anlage 2 zum Protokoll der 9. Sit- zung: Bundesminister für Forschung und Technologie, Pressemitteilung Expertengespräch „Schneller Brüter“ am 19. Mai 1977 in Bonn, 25. Mai 1977. 309 „Ich bin Gegner einer Denkpause.“ Interview mit Hans Matthöfer, in: Der Spiegel 34/1977, 15. August 1977. 310 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Hans Matthöfer an die Mitglieder der SPD-Bundestags- Fraktion, 18. August 1977. 311 Am 16. Februar 1978 abgelöst von Volker Hauff, Hans Matthöfer wurde Finanzminister. 312 Am 6. Juni 1978 wurde Maihofer abgelöst von Gerhard Baum.

83 deutschen Kernenergie eine feste Komponente der Energiepolitik darstellte. In den Parteien jedoch begann es zeitgleich zu brodeln und die Unsicherheiten nahmen auch auf ministerialer Ebene zu.313 Die SPD erkannte auf ihrem Mannheimer Parteitag im Dezember 1975 die Proteste gegen die Kernenergie als politisches Faktum an und beschloss, mit dem Instrument Bürgerdialog Abhilfe zu schaffen. In Diskussionsrunden sollte das Thema Kernenergie mit Bürgern erörtert werden. Die Energiefrage mit all ihren weiteren Facetten bedurfte allerdings einer intensiveren Beschäftigung. Bereits im Februar 1977 wurde in einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion deutlich, dass die Arbeitsgruppe in Sachen Energiepolitik ‚ratlos‘ sei: Vor Lösung der Entsorgungsfrage könnten keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden, gegen Kohlekraftwerke sprachen sich die Umweltschützer aus und mehr Öl sollte oh- nehin nicht verbraucht werden. Eine Fachkonferenz und vorbereitende Gruppen- arbeit sollten für mehr Klarheit sorgen. Matthöfer betonte an dieser Stelle, dass die Partei sich zur Kernenergie nicht zu früh festlegen solle; außerdem könne sie sich durchaus von der Regierung abheben.314 Im April 1977 fand diese Fachtagung der Sozialdemokraten mit dem Thema Energie – Beschäftigung – Lebensqualität 315 statt. Hier sprachen neben Ver- tretern der Energieversorgungsunternehmen wie Klaus Barthelt (KWU) auch Vertreter alternativer Energieversorgungswege wie , Freimut Du- ve, Klaus Michael Meyer-Abich und Frank Haenschke. Die Tagung sorgte je- doch nicht unbedingt für mehr Klarheit: Im Mai beantragten Norbert Gansel und weitere schleswig-holsteinische Sozialdemokraten, die Verpflichtungsermächti- gung zur Weiterentwicklung des Schnellen Brüters (122 Millionen DM) im Haushaltsausschuss und im Ausschuss für Forschung und Technologie qualifi- ziert zu sperren; die Regierung sollte über die Brütertechnologie sowie den SNR300 Bericht erstatten, um die Meinungsbildung in der Fraktion vorzuberei- ten. Reinhard Ueberhorst, der über diese Frage verschiedene Gespräche mit Matthöfer und Hauff geführt hatte, trug das Anliegen in der Sitzung der SPD- Bundestagsfraktion vor.316 Das Vorhaben, das einer kleinen Hausrevolte ent- sprach, konnte wohl aus haushaltstechnischen Gründen, wie es bei der dpa heißt, nicht umgesetzt werden.317 Letztlich empfahl der Ausschuss für Forschung und Technologie, das Forschungs- und Entwicklungsprogramm Schneller Brüter

313 Von Mai bis November 1977 gab es alleine im Ausschuss für Forschung und Technologie sechs nichtöffentliche Anhörungen zu dem Thema Kernenergie, im folgenden Jahr nur eine; vgl. PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII. 314 AdsD 000010, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 8. Februar 1977, S. 2. 315 Vorstand der SPD, Fachtagung „Energie, Beschäftigung, Lebensqualität“. 316 AdsD 000017, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 10. Mai 1977; vgl. auch: AdsD 000242, Geschäftsführender Vorstand der SPD, Anlage zum Sitzungsprotokoll, 9. Mai 1977. 317 Kernenergie. 122,5 Millionen für „Schnellen Brüter“ blockiert, in: dpa 283 wi, 26. Mai 1977.

84 weiter zu fördern.318 Die Entscheidung für eine Inbetriebnahme des SNR sollte allerdings einer grundsätzlichen Debatte im Bundestag vorbehalten werden.319 Im Februar 1977 war bekannt geworden, dass Klaus Traube, der bis 1976 als Geschäftsführer der Entwicklungsfirma Interatom vor allem das Schnell- brüter-Projekt in Kalkar betreut hatte, vom Verfassungsschutz wegen des Ver- dachts auf Terroristen-Kontakte abgehört wurde. Damit schienen die Warnungen Robert Jungks vor dem ‚Atom-Staat‘ zunehmend Widerhall unter Parlamentari- ern zu finden.320 Harald B. Schäfer (SPD) legte seiner Fraktion im Oktober einen Beschlussantrag vor, wonach der SNR300 in Kalkar nicht fertig gestellt werden solle. Der Antrag wurde allerdings von der Mehrheit abgelehnt, es gab nur fünf Gegenstimmen.321 Auf dem SPD-Parteitag im November 1977 in Hamburg wurde die Kern- energiefrage intensiv diskutiert. Es gab mehrere Anträge, die eine Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle des Energiesektors, die Einbeziehung von Kernenergiekritikern in die offiziellen Beratungsverfahren und eine Veränderung des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens forderten. Der Parteivorstand brachte einen Antrag für eine Enquete-Kommission zur Überprüfung des atom- rechtlichen Genehmigungsverfahrens ein, der verabschiedet wurde.322 Außerdem wurde angeregt, eine Energie-Kommission auf Parteiebene zu bilden. Mitglieder wie Volker Hauff, Erhard Eppler, Reinhard Ueberhorst, Harald B. Schäfer und Peter Reuschenbach setzten die Idee um.323 Grundsätzlich einigte man sich auf dem Parteitag darauf, dass ein prinzipi- eller Verzicht auf Kernenergie im Moment nicht vertretbar sei, aber aufgrund der vielfältigen offenen Probleme ebenso wenig ein verstärkter Ausbau. Ohne eine Lösung der Entsorgungsfrage sollten keine weiteren Kernkraftwerke gebaut, dennoch gleichzeitig die Forschungen am Hochtemperaturreaktor, am Schnellen Brüter sowie am Fusionsreaktor fortgesetzt werden. Diese Diskrepanz wurde in der Formel zusammengebunden ‚Optionen offen halten‘324 – und vom Unionspo- litiker Karl-Heinz Narjes als „Kautschukformel“325 desavouiert.

318 AdsD 000247, Geschäftsführender Vorstand der SPD, Anlage zum Sitzungsprotokoll, 14. Februar 1977, S. 2. 319 AdsD 000035, SPD-Bundestagsfraktion, Anlage 2 zum Sitzungsprotokoll, 18. Oktober 1977. 320 AdsD 000011, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 1. März 1977; vgl. auch: Der Minister und die „Wanze“, in: Der Spiegel Nr. 10, 28. Februar 1977, S. 19–28. 321 AdsD 000035, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 18. Oktober 1977. 322 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 249. 323 Vgl. z.B.: AdsD Depositum Schäfer, Materialien Energiepolitik. Erster Zwischenbericht der Kommission Energiepolitik beim Parteivorstand der SPD, September 1979. 324 Hauff, Energiediskussion in Europa, Abschnitt 2.4.1, S. 2f. 325 PA DBT PlPr. VIII/86, 20. April 1978, S. 6726.

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Innerhalb der FDP begann die kritische Auseinandersetzung um die Ener- giefrage spätestens Ende 1976 auf einem Parteitag, als in einem Initiativantrag die Energiepolitik des damaligen liberalen Wirtschaftsministers Hans Friedrichs stark kritisiert und eine Verminderung des Atomenergieanteils an der Gesamt- versorgung gefordert wurde. Die Forschungsmittel sollten zugunsten der Er- schließung nichtnuklearer Energien sowie zur Einsparung genutzt werden.326 Im Juni 1977 beschloss der Hauptausschuss der FDP gegen den Willen der Partei- führung, den Bau neuer Kernkraftwerke für drei Jahre aufzuschieben. Diese Entschließung wurde auf dem Parteitag im November 1977 immerhin soweit geändert, dass weitere Kernkraftwerke nach Ausschöpfung aller anderen Mög- lichkeiten zur ‚Restenergiebedarfsdeckung‘ errichtet werden dürften.327 Für die Liberalen bestand kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Arbeitslosig- keit und Energiezuwachsraten. Der Staat müsse durch Tarifgestaltung, rationelle- re Energienutzung, staatliche Anreize für Energiesparmaßnahmen und andere Forschungsprioritäten für alternative Energiequellen das Verhältnis zwischen Primärenergieverbrauch und Wirtschaftswachstum verbessern.328 Die Jugendorganisationen von SPD und FDP waren wesentlich radikaler: Sie forderten nicht nur die sofortige Stilllegung aller Kernkraftwerke und den Verzicht auf die Nutzung nuklearer Energie, sondern auch einen Verzicht auf den Export der Technologie. Die Junge Union hingegen bezeichnete, obwohl sie sich vom Konzept des Brüters abgewandt hatte,329 bei einer Energiediskussion im BMFT im Januar 1978 die Kernenergie als unverzichtbar.330 Dies entsprach auch der Haltung der Mutterpartei. Während die Union die ersten drei Atomprogramme als Regierungsfraktion vertreten hatte, bestätigte die CDU auf ihrem Kongress Energie und Umwelt im Oktober 1977 ihre bisherige Linie: Ohne einen ‚vernünftigen‘ Ausbau der Kernenergie werde in der Bundes- republik keine ausreichende Energiebasis vorhanden sein. Auch in der Union gab es Auseinandersetzungen, insbesondere mit dem Abgeordneten Herbert Gruhl,

326 Beschlüsse des Frankfurter Bundesparteitages 1976, in: Günter Verheugen (Hg.), Das Pro- gramm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P., Baden-Baden 1979, S. 258–261, S. 260f. 327 Beschluß zur Energiepolitik 1977, in: Verheugen, Das Programm der Liberalen, S. 328–334, S. 332f. 328 Kieler Thesen 1977. Wirtschaft im sozialen Rechtsstaat, in: Verheugen, Das Programm der Liberalen, S. 288–327, S. 299f. 329 JU rückt ab vom Schnellen Brüter, in: Rheinische Post, 5. September 1977. 330 AdsD Depositum Schäfer, Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, Stand der Debatte um Kernkraftwerke – Probleme, Meinungen, Perspektiven, 3. April 1978; vgl. außerdem: Hauff, Energiediskussion in Europa, Abschnitt 2.4.1, S. 3; Jusos fordern völligen Betriebsstopp für Kernkraftwerke, in: FR, 31. März 1979; Judos fordern Verbot aller Kernkraftwerke, in: Bonner Rundschau, 16. April 1977.

86 der der Kernenergie kritisch gegenüberstand.331 Daneben hielt der nieder- sächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht das integrierte Entsorgungszentrum in seinem Land zwar für technisch umsetzbar aber politisch nicht durchsetzbar und zögerte im Vorfeld der Landtagswahlen die Genehmigung, bei der die Lan- desregierung das letzte Wort hat, entsprechend weiter hinaus.332 Mit ihrem energiepolitischen Programm vom 28. November 1977 setzten CDU und CSU auf das Konzept ‚Kohle und Kernenergie‘.333 Ebenso wie die SPD hatte sich die Union mit einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe zur Energiefrage für die politische Auseinandersetzung gewappnet.334 Dem Drängen von Ludwig Gerstein, eine arbeitskreisübergreifende Arbeitsgruppe zu berufen, hielt der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl zunächst stand.335 Gleichzeitig hatte die Union den Forschungshaushalt am 26. Januar 1978 abgelehnt und damit faktisch auch den Brüter behindert. Dies geschah mit der Begründung, der ener- giepolitische Kurs Matthöfers sei von Widersprüchen und Problemen an der SPD-Parteibasis gekennzeichnet.336 Die Forderung, eine Enquete-Kommission einzusetzen, stand bei der SPD spätestens seit Ende des Jahres 1977 im Raum; im Februar 1978 folgte ein ent- sprechender Antrag. Der FAZ zufolge hatte sich die FDP nur widerstrebend an- geschlossen, da bei den Liberalen befürchtet wurde, dass die Einsetzung eines solchen Gremiums als Zeichen energiepolitischer Unsicherheit gedeutet werden könne.337 Genau dies tat die Opposition postwendend: Spies von Büllesheim bezeichnete die Funktion einer solchen Enquete-Kommission als ‚energiepoliti- sche Nebelwand‘. Die Union werde nicht dazu beitragen, „die SPD durch das Schlupfloch einer solchen Enquete-Kommission aus ihren Schwierigkeiten zu entlassen.“338

331 Union in der Frage der Kernenergie gespalten, in: Stuttgarter Nachrichten, 23. April 1977. 332 Z.B.: Schlägt die Stunde der CDU?, in: Die Zeit, 2. September 1977; Ministerpräsidenten. Viel bitterer, in: Der Spiegel Nr. 38, 12. September 1977, S. 49. 333 Vgl. die Äußerdung von Helmut Kohl zur Notwendigkeit der Kernenergie: ACDP VIII–001– 1055/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 13. Februar 1979, S. 1. 334 Z.B.: ACDP I–496–006/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Arbeitsgruppe Energie, Aktennotiz. Stellungnahme zum Energieprogramm der Bundesregierung, 20. April 1977. 335 Z.B.: ACDP I–496–006/1, Brief von Gerstein an Kohl, 22. Februar 1977. 336 ACDP I–547–022/1, Stavenhagen, Pressemitteilung zu Matthöfers Energiepolitik, 26. Januar 1978. 337 Koalition beantragt Kernenergie-Enquete, in: FAZ, 18. Februar 1978. 338 Spies von Büllesheim, Energiepolitische Nebelwand, in: Deutschland-Union-Dienst Nr. 40, 32. Jg., 27. Februar 1978, S. 3.

87 e. Der Brüter und die Enquete-Kommission

Der Handlungsdruck spitzte sich nicht zuletzt auch aufgrund der Massenproteste ausgerechnet in der Diskussion um das Prestigeprojekt der Atomlobby zu: Seit Juni 1978 schob die sozialliberale Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen, in dem der Schnelle Brüter gebaut wurde, eine Entscheidung für die dritte Teil- errichtungsgenehmigung vor sich her. Auf der Baustelle wurde nur noch in einer statt in drei Schichten gearbeitet. Insbesondere die beiden FDP-Minister des Landes, Horst-Ludwig Riemer (Wirtschaft) und (Inneres), stell- ten sich gegen die Erteilung der Approbation. Die Lage verschärfte sich soweit, dass Bundeskanzler Schmidt im Nuklearkabinett die beiden liberalen Bundesmi- nister Lambsdorff (Wirtschaft) und Baum (Inneres) befragte, ob sie noch zu dem Beschluss der Regierung stünden, dass der Brüter gebaut werden müsse; beide beschieden dies eindeutig positiv. Davon ließ man sich in Nordrhein-Westfalen jedoch nicht umstimmen. Die verbleibende Hoffnung richtete sich auf den Entscheid des Karlsruher Verfas- sungsgerichtes über einen Vorlagebeschluss des Oberverwaltungsgerichtes Münster, ob der Bau von Brutreaktoren von der Regierung angeordnet werden könne, oder ob ein Parlamentsbeschluss dazu notwendig sei.339 Am 8. Dezember lag das Urteil vor, dass für diese Entscheidungen kein eigener Beschluss des Bundestages vorliegen müsse. Insofern hätte es keinen Bedarf gegeben, über die Inbetriebnahme des Schnellern Brüters beispielsweise im Parlament abzustim- men.340 Im September 1978 manifestierten sich die Forderungen nach einer En- quete-Kommission. Die Arbeitsgruppe Forschung und Technologie der Bundes- tagsfraktion der SPD beantragte die Einsetzung eines solchen Gremiums mit sieben Sachverständigen und sieben Abgeordneten. Ueberhorst äußerte dazu, un- mittelbarer Anlass sei der Verdacht gegenüber der Regierung, sie schließe kriti- sche Experten aus dem Gutachterkreis für das Entsorgungszentrum in Gorleben aus.341 Nach Rehfeld zeigte sich, „daß in einem parlamentarischen System die Regierungsfraktionen nur begrenzt in der Lage sind, die Initiative in einer die öffentliche Diskussion bestimmenden Frage zu übernehmen. Die Regierung wollte die Initiative in dieser Frage nicht aus der Hand geben.“342 Vor allem das

339 Schneller Brüter. Hauffs Ding, in: Der Spiegel Nr. 39, 25. September 1978, S. 55–57; vgl. zur Auseinandersetzung in NRW auch: Schneller Brüter. Falsche Ecke, in: Der Spiegel Nr. 41, 9. Oktober 1978, S. 132f. 340 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9750. 341 Vorstoß der Atomgegner, in: Der Spiegel Nr. 39, 25. September 1978, S. 18. 342 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 249.

88 zuständige Forschungsministerium, das sich in der öffentlichen Diskussion stark engagiert hatte, habe sich gegen den Vorschlag einer Enquete gesträubt.343 Erst im Vorfeld der parlamentarischen Entscheidung über den Weiterbau des Brüters konnte sich die Arbeitgruppe Forschung und Technologie in der SPD-Fraktion mit ihrer Forderung nach einer Kommission durchsetzen.344 Denn es galt nicht nur, die renitenten Minister in Nordrhein-Westfalen zu überzeugen, sondern auch die eigene Fraktion. Die Bundesregierung versprach dem nord- rheinwestfälischen Minister Riemer, parallel zum SNR längerfristige Alternati- ven zu untersuchen und den THTR in Schmehausen/Hamm-Uentrop voranzu- treiben. Nach einem Treffen von Hauff und Ueberhorst im Oktober in Schleswig-Holstein, sicherte der Forschungsminister Ueberhorst und Harald B. Schäfer Ende Oktober zu, der Forderung nach einer Enquete-Kommission zu folgen. Diese sollte bis März 1980 eine Empfehlung zur Inbetriebnahme des SNR300 unter „ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und Sicher- heitsgesichtspunkten“ erarbeiten.345 Mit der Enquete-Kommission schien die Regierung sich also die Zustimmung zum Weiterbau des Brüters erkaufen und eine allzu öffentliche Auseinandersetzung in der SPD vermeiden zu wollen, wie sie bei der FPD folgen sollte. Im November hatte sich zu allem Überfluss im österreichischen Zwentendorf gezeigt, dass die Bevölkerung die Inbetriebnahme eines fertig ge- stellten Reaktors auch mit sehr knapper Mehrheit kippen und der Versuch, gegen den öffentlichen Widerstand die Kernenergie auszubauen, kläglich scheitern konnte. Ein betriebsfertiges Atomkraftwerk wurde von der Bevölkerung mit der ausgesprochen knappen Mehrheit von 50,47 Prozent Nein-Stimmen – der viel zitierten Zwentendorfer Mehrheit – abgelehnt.346 Hatte die FDP sich zunächst gegenüber der Einsetzung einer Enquete- Kommission reserviert gezeigt, gewannen auch hier die Kritiker der Kernenergie an Boden. Auf dem Mainzer Parteitag im November 1978 wurde mit Horst- Ludwig Riemer an der Spitze ein Beschluss gegen die SNR-Technologie gefasst: Die kommerzielle Nutzung wurde abgelehnt und der Weiterbau sollte nur er- folgen, wenn die Koalitionspartner sich vorher über die gravierenden Sicher- heits- und Entsorgungsprobleme verständigten; außerdem wurde neben der rati-

343 Vgl.: FDP lenkt ein, in: Der Spiegel Nr. 48, 27. November 1978, S. 18. 344 Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 250. 345 Atomenergie. „Dazu müssen wir jetzt stehen“, in: Der Spiegel Nr. 45, 6. November 1978, S. 21–23; vgl. außerdem: AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ueberhorst an Schäfer, 4. Oktober 1978. 346 „Sieg der Fackeln über das Atomzeitalter“, in: Der Spiegel Nr. 46, 13. November 1978, S. 118– 121; vgl. auch: Herbert Gottweis, 1968 und die Folgen: Wissenschaft und öffentliche Kritik – Opposition oder Interaktion?, in: Mitchell G. Ash/Christian H. Stifter (Hg.), Wissenschaft, Poli- tik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002, S. 353–366.

89 onellen Nutzung und dem Einsatz alternativer Energien die Einrichtung einer Enquete-Kommission befürwortet.347 Dies verlieh der Forderung nach dem Gre- mium ‚einen weiteren Schub‘, so zumindest jubilierte Reinhard Ueberhorst ge- genüber dem Spiegel. Das Magazin führte den Kurswechsel der Liberalen auf die Wahlniederlagen in Hamburg und Niedersachsen zugunsten der grünen Konkur- renz zurück.348 Sechs so genannte ‚Brüterrebellen‘ in der FDP sorgten für nachhaltige Spannungen, die beinahe vollständig eskalierten, als die Abstimmung der Re- gierungskoalition für die Fortschreibung des Energieprogramms und damit für den Weiterbau des Schnellen Brüters anstand. Sie wollten der Haltung der Re- gierungskoalition nicht folgen und brachten damit die Mehrheit in Gefahr. Der Hauskrach ging so weit, dass Genscher den Sechsen in der ersten Stufe seinen Rücktritt und den der anderen FDP-Minister sowie des Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick androhte. In der zweiten Stufe kündigte er ihnen an, dass, falls die Koalitions-Resolution durchfalle, die Entschließung neu eingebracht werde – dann aber verbunden mit der Vertrauensfrage des Kanzlers.349 An der Frage des Brüters und des intensiven Ausbaus der Kernenergie wäre die Koaliti- on folglich beinahe zerbrochen. Die Union verhielt sich gegenüber der Idee einer Enquete-Kommission skeptisch. Bereits am 20. April 1978, bei der ersten Beratung im Bundestag zur zweiten Fortschreibung des Energieprogramms, die von der Bundesregierung am 19. Dezember des Vorjahres vorgelegt worden war, meldete die Opposition Kri- tik an. Karl-Heinz Narjes äußerte, die Einrichtung einer solchen Institution sei ein ‚Verschleppungsmanöver‘, an dem die Union sich nicht beteiligen wolle.350 Ironischerweise legte die CDU/CSU-Fraktion im Dezember 1978 – acht Monate später – einen eigenen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission vor. Sinn des eigenen Antrages war Riesenhuber zufolge, dass die Union damit eine Verhandlungsposition gegenüber der Koalition habe351 – also Sicherung des Einflusses. fasste das Anliegen in einer Presseerklärung zu- sammen: Die Union habe generell nichts gegen eine Enquete-Kommission ein- zuwenden, solange dort entsprechender Sachverstand für politische Entschei-

347 Beschlüsse des Mainzer Bundesparteitages der FDP 1978, in: Verheugen, Das Programm der Liberalen, S. 385–398, S. 394f. 348 Atompolitik. Kritischer Schub, in: Der Spiegel Nr. 49, 4. Dezember 1978, S. 26. 349 FDP: „Genscher wird dafür zahlen müssen“, in: Der Spiegel Nr. 51, 18. Dezember 1978, S. 21ff. 350 PA DBT PlPr. VIII/86, 20. April 1978, S. 6728. 351 ACDP VIII–001–1055/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 28. März 1979, S. 11.

90 dungen gewonnen werden könne. Allerdings wende sie sich entschieden gegen eine Verzögerung wichtiger Entscheidungen.352 Dass Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), sich seit ei- nem Jahr gegen die Probebohrungen für das Entsorgungszentrum in Gorleben sperrte,353 mahnte die Union vermutlich zur Vorsicht. Gegen Ende des Jahres lagen zwei Anträge vor: Die Regierungsfraktionen schlugen am 6. Dezember eine Enquete-Kommission Zukünftige Energie- Politik354 vor, am 11. Dezember folgte ein Antrag der Union für eine Kommissi- on Zukünftige Kernenergie-Politik355.

f. Die Einsetzung der Kommission

Gemäß einer Vereinbarung im Ältestenrat wurden die beiden Anträge für eine Enquete-Kommission am 14. Dezember 1978 gemeinsam mit zwei weiteren Tagesordnungspunkten im Bundestag debattiert – den eigentlich brisanten. Dabei handelte es sich zum einen um den Entschließungsantrag zur Zweiten Fort- schreibung des Energieprogramms der Bundesregierung auf Vorlage des Aus- schusses für Wirtschaft. Dieser sah unter anderem einen begrenzten Ausbau der Kernenergie sowie die Fortsetzung der Entwicklungsarbeiten am SNR300 und am THTR vor.356 Der andere Tagesordnungspunkt war ein Antrag der Union, die Bundesregierung solle die Regierung Nordrhein-Westfalens unverzüglich anwei- sen, die dritte Teilerrichtungsgenehmigung für den Schnellen Brüter zu ertei- len.357 Der CDU-Politiker Ludwig Gerstein titulierte den gemeinsamen Auf- wasch mit den Kommissionsanträgen als „sinnvoll um den SNR herumgewickelte Verpackung“358. Die Union kritisierte die kurzfristige Ankündigung des Themas Energie- politik heftig. Helmut Kohl hatte im Oktober in einer Fraktionssitzung betont, dass noch im Winter des Jahres eine große Debatte über die energiepolitischen

352 ACDP Pressedokumentation 19/1, Christian Lenzer, Presseerklärung zur Enquete-Kommission, 5. Dezember 1978. 353 Atompolitik. Kritischer Schub, in: Der Spiegel Nr. 49, 4. Dezember 1978, S. 26ff. 354 PA DBT Drs. VIII/2353, Antrag der Fraktionen der SPD und FDP, Enquete-Kommission ‚Zukünftige Energie-Politik‘, 6. Dezember 1978. 355 PA DBT Drs. VIII/2374, Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Enquete-Kommission ‚Zu- künftige Kernenergie-Politik‘, 11. Dezember 1978. 356 PA DBT Drs. VIII/1357, VIII/2370, Erste Beschlußempfehlung und Erster Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft zu der Zweiten Fortschreibung des Energieprogramms der Bundes- regierung, 19. Dezember 1977 und 8. Dezember 1978. 357 PA DBT Drs. VIII/2375, Antrag der CDU/CSU zum Schnellbrüter-Prototyp-Kernkraftwerk SNR 300 bei Kalkar, 11. Dezember 1978. 358 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9813.

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Grundlagen, den Brüter sowie Gorleben abzuhalten sei.359 Aber aus dem Frakti- onsprotokoll der Union wird in der Tat sehr deutlich, dass sie von den beiden Koalitionsanträgen regelrecht überrollt wurde. Insbesondere der Antrag zum Energieprogramm sollte erst im nächsten Jahr beraten werden.360 Eine Aus- sprache im Plenum hatte die Union zu diesem Zeitpunkt nicht gewollt; die Re- gierungskoalition habe die Beratung mit dem „Holzhammer der Mehrheit“ er- zwungen.361 CDU und CSU waren am 8. Dezember geschlossen aus dem Wirtschafts- ausschuss ausgezogen, als die Koalition ihre beiden Entschließungsanträge zum Energieprogramm sowie zur Enquete-Kommission vorgelegt hatte. (CSU) hatte vorher mehrmals darauf hingewiesen, dass für die Diskussion des Energieprogramms eine gründliche Beratung in mehreren Ausschusssitzungen und eine entsprechende Vorbereitung vorgesehen gewesen seien; ohne diese wolle die Union keine Sachdiskussion führen. Nachdem ein entsprechender An- trag der Union abgelehnt worden war, verließ die Fraktion die Sitzung.362 Die ‚elegante Verpackung‘ versuchten verschiedene CDU/CSU-Politiker im Rahmen der Debatte zu entzaubern. Ein wichtiger Punkt war, auf die Schwächen in der Regierungskoalition hinzuweisen und ihr allgemeine Handlungsunfähig- keit zu attestieren. Die Exekutive habe nicht den Mut, Entscheidungen zu tref- fen.363 Gerstein beispielsweise sah den aktuellen Anlass für diese „Feuerwehrde- batte“ am 14. Dezember darin, dass die Koalition „Sprungtücher für fallende Minister“364 in NRW ausbreite, für Burkhard Hirsch und Horst-Ludwig Riemer. Entsprechend hatte Narjes zuvor die CDU/CSU-Fraktion auf ihrer Sitzung argu- mentativ eingestimmt auf die Risse zwischen Bundesregierung und der Landere- gierung in Nordrhein-Westfalen hinzuweisen.365 Die FDP sei ohnehin umgefallen, sie beuge sich „jedem grünen Windhauch aus Demoskopie und Existenzangst“366. Damit wurde auf die Landtags-

359 ACDP VII–001–1054/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 3. Oktober 1978, S. 2. 360 ACDP VIII–01–1059/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 5. Dezember 1978, S. 6f. 361 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9747. 362 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft, Kurzprotokoll der 47. Sitzung, 8. Dezember 1978, S. 47/8f.; Der Streit um den „Schnellen Brüter“ entzweit Koalition und Opposition, in: FAZ, 9. Dezember 1978. 363 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9765, vgl. auch S. 9747. 364 Ebd., S. 9814. 365 ACDP VIII–001–1054/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 12. Dezember 1978, S. 3. 366 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9803, vgl. auch S. 9748.

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Wahlniederlagen sowie auf die Konkurrenz von Seiten der Grünen angespielt, die später auch in einem Spiegel-Titel eingehend problematisiert wurde.367 Über die Kernenergie herrschte in den Beiträgen der Unionspolitiker Ein- heitlichkeit: Sie sei „sicherheitstechnisch beherrschbar, gesamtwirtschaftlich notwendig, energiepolitisch unverzichtbar und somit gesellschaftlich zumut- bar“368. Es wurde darauf verwiesen, dass es im Gegensatz zu Kohle und Gas bei der Kernenergie bislang weder Tote, Unfälle noch Gesundheitsschäden oder eine ernste Gefahr für die Umwelt gegeben habe.369 stellte die Frage, ob man mit Mehrheiten über wissen- schaftliche Tatsachen entscheiden könne. Die Fakten zur Kernenergie lägen auf dem Tisch, hier gäbe es seit Jahren keine Überraschungen – gebraucht werde ein langfristig verlässliches Konzept des Parlaments. Die Wiedergewinnung einer gemeinsamen Kernenergiepolitik nannte er als Ziel des Unionsantrags.370 Das Wort ‚Konsens‘ hatte sich in die Terminologie der Union ebenso eingeschlichen wie in die der Regierungsparteien.371 Der Antrag von SPD und FDP wurde kritisiert, da er „linken Phantasten“ eine „Spielwiese“372 biete und keine Frist für den gewünschten Abschluss der Kommissionsarbeit nenne. Dies öffne einer Verzögerungstaktik und einem Ener- giemoratorium Tür und Tor; die Kommission müsse aber in angemessener Zeit abschließen.373 Durch zeitlichen Verzug beim Bau des SNR stehe nicht nur die langfristige Energieversorgung der Bundesrepublik auf dem Spiel, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Niederlanden und Belgien. Es könnten Zweifel an der Verlässlichkeit Deutschlands als Vertragspartner erwachsen und die Export- chancen für den Brüter im Sinne von Matthöfers ‚Blaupausenexport‘ generell sinken. Hinzu kämen negative Folgen für die Beschäftigten, sowohl Wissen- schaftler als auch Arbeiter, sowie enorm hohe Restabwicklungskosten.374 Entsprechend forderte die Union, die Regierung möge die nordrheinwestfä- lische Landesregierung „anweisen“375, die dritte Teilerrichtungsgenehmigung zu erteilen – was von SPD- und FDP-Politikern brüsk als „Marschbefehl“376 zu- rückgewiesen wurde.

367 Der Spiegel Nr. 24, 12. Juni 1978; vgl. außerdem: Nonstop Nonsens, in: Der Spiegel Nr. 36, 4. September 1978, S. 29f. 368 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9750 (Lenzer); ähnlich auch S. 9766. 369 Ebd., S. 9828. 370 Ebd., S. 9803f. 371 Vgl. hierzu auch: ACDP VIII–001–1054/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 12. Dezember 1978, S. 4. 372 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9748. 373 Ebd., S. 9748; auch: ebd., S. 9803. 374 Ebd., S. 9751; vgl. auch zur Exportproblematik die Worte von Riesenhuber: ebd., S. 9802. 375 Ebd., S. 9750. 376 Ebd., S. 9754, vgl. auch: ebd., 9771.

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Die SPD wiederum machte den Punkt stark, eine offene Diskussion über den Brüter zuzulassen, um zu einer tragfähigen Energiepolitik zu kommen. Eine abschließende Entscheidung zum SNR300 behalte man sich vor, bis dahin solle weitergebaut werden.377 Auch hier diente die Formel ‚Option offen halten‘ als Bindemittel. Der CDU/CSU, die sich als „immer sachlich und konsequent“378 be- zeichnete, wurde vom Sozialdemokraten Erich Wolfram folgendes entgegen- gehalten: „Wenn Sie sich in Fragen der Kernenergie ausnahmsweise mal als ‚Einheitspartei‘ präsentieren, und wenn Sie nur jubeln, dann beweist das, daß Sie wie so oft nur in einer anderen Welt leben, daß Sie unfähig sind, sich selbst kri- tisch Fragen zu stellen, daß Sie unfähig sind, kritischen, besorgten Bürgern ehrli- che Antworten zu geben“379. Reinhard Ueberhorst warnte vor „Technokratiegläubigkeit“380. Notwendig seien, wie Ueberhorst es ausdrückte, klare Mehrheiten in der Energiepolitik und nicht die berühmt berüchtigten Zwentendorfer Mehrheiten. Dazu dürfe man nicht nur, wie die Union fordere, Entscheidungsnotwendigkeiten, die auf „schwachen Füßen“ stünden, untersuchen, sondern müsse vor allem Entscheidungsmöglich- keiten eruieren.381 „Wir müssen aus der ‚Ja-Nein-Diskussion‘ raus“382, formulier- te Ueberhorst das Ziel. Die FDP-Sprecher schlossen sich in ihrer Haltung weitgehend den Sozial- demokraten an. Darüber hinaus hoben sie hervor, dass aus ihrer Sicht der künfti- ge Energiebedarf der Entwicklungsländer in die Betrachtung einzubeziehen sei, und verwiesen auf die Ergebnisse der INFCE, die nach Meinung der Liberalen Eingang in die Kommissionsarbeit finden sollten. Da diese Resultate frühestens Mitte des Jahres 1980 zu erwarten waren, wurde der von der Union favorisierte zeitlich enge Rahmen von der FDP abgelehnt.383 Kosten sollten kein Grund ge- gen einen Abbruch der Brüterbauarbeiten sein. Die Folgen bezüglich der Ver- lässlichkeit Deutschlands als Vertragspartner wurden von den Liberalen ähnlich negativ eingeschätzt wie von der Union.384 Als schlagendes Argument für eine weitere Untersuchung der Sicherheitsfrage wurde von Werner Zywietz der Fall Brunsbüttel eingebracht:385 Das Personal hatte 1978 während eines Störfalles alle technischen Regelungsmechanismen der Sicherheit manuell außer Kraft gesetzt,

377 Ebd., S. 9753. 378 Vgl. auch die Äußerungen von Lenzer: ebd., S. 9750. 379 Ebd., S. 9753. 380 Ebd., S. 9771. 381 Ebd., S. 9770f. 382 Ebd., S. 9769. 383 Ebd., S. 9761. 384 Ebd., S. 9757, 9759. 385 Ebd., S. 9775.

94 um die durch eine Abschaltung des Reaktors drohenden Milliardenverluste zu vermeiden.386 Damit war der ‚Faktor Mensch‘ in der Sicherheitsdebatte unab- weisbar. Die handfesten Meinungsunterschiede innerhalb der FDP legte der ‚Brüterrebelle‘ Martin Grüner dar – auch um den eigenen Standpunkt zu er- läutern. Der Atomstaatsgedanke und der Fall Traube führten ihn zu der Ent- scheidung, dass zunächst die Ergebnisse der Enquete-Kommission abgewartet werden müssten, ehe man, wie im Antrag gefordert, „dem Schritt zur kommer- ziellen Nutzung“, also der dritten Teilerrichtungsgenehmigung, zustimme. Grü- ner berichtete von den Rücktrittsdrohungen der liberalen Minister und führte diese als Grund an, dass er und seine Kollegen sich in der Stimme enthalten würden. Es handele sich nicht mehr um eine Abstimmung in der Sache.387 Die Drohung der zweiten Stufe – die mögliche Vertrauensfrage des Kanzlers – blieb unerwähnt.388 Die internen Spannungen sollten die FDP auch in das nächste Jahr verfolgen.389 Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff befürwortete die Einsetzung der Enquete-Kommission, da der Bundestag seine verfassungsrechtliche Aufga- be einer politischen Kontrolle der Bundesregierung damit tatsächlich wahrneh- me.390 Aus dieser Debatte werden Übereinstimmungen zwischen den Parteien deutlich: dass Energiesparmaßnahmen, die Unabhängigkeit vom Öl sowie die Berufung einer Enquete-Kommission notwendig seien. Stein des Anstoßes war der Schnelle Brüter, der inzwischen als Synonym für Kernenergie stand. Nach der angeregt geführten Debatte erfolgten Abstimmungen über die ein- zelnen Anträge. Zunächst über den Antrag der Union, der von der Regierungsko- alition geschlossen abgelehnt wurde.391 Daraufhin folgte die Abstimmung über das Energieprogramm, bei der die sechs FDP-Abgeordneten sich erwartungsge- mäß enthielten, so dass es mit 230 zu 225 Stimmen angenommen werden konn- te.392 Damit war der ‚Inbetriebnahmevorbehalt‘ entschieden. Beide Abstimmun- gen erfolgten – wie bei politisch umstrittenen Fragen üblich – namentlich. Von der Unionsfraktion wurde dies ausdrücklich gewünscht, „damit wir die sechs angeblichen Dissidenten der FDP aufspießen können“393, wie Lenzer es in der vorbereitenden Fraktionssitzung formulierte. Die Anträge für die Enquete-

386 Radkau, Angstabwehr, S. 34. 387 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9827. 388 FDP: „Genscher wird dafür zahlen müssen“, in: Der Spiegel Nr. 51, 18. Dezember 1978, S. 23. 389 FDP: „Übers Stöckchen springen“, in: Der Spiegel Nr. 1, 1. Januar 1979, S. 17f. 390 PA DBT PlPr. VIII/125, 14. Dezember 1978, S. 9807. 391 Ebd., S. 9833f. 392 Ebd., S. 9835f. 393 ACDP VIII–001–1054/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, S. 5.

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Kommissionen wurden einstimmig an den Ausschuss für Forschung und Tech- nologie überwiesen, der nach interfraktionellen Absprachen eine Beschlussemp- fehlung für den Bundestag und eine Aufgabenstellung für die Kommission erar- beiten sollte.394

g. Verhandlungen im Vorfeld

In der Folgezeit wurden die umstrittenen Punkte ausgehandelt. Zunächst einigte man sich am 17. Januar 1979 im Ausschuss für Forschung und Technologie, nur eine Kommission zu berufen. Die weitere Verständigung wurde den Obleuten angetragen.395 Diese versuchten im Rahmen verschiedener Besprechungen, die Anträge der Regierungskoalition und der Union zusammenzubringen und Diffe- renzen auszugleichen.396 Ein Diskussionspunkt war die Zahl der Sachverständigen: Ueberhorst hatte in der SPD-Arbeitsgruppe Energie und Umwelt vorgeschlagen, sieben Sachver- ständige auszuwählen. Es sollten zwei Befürworter, zwei Gegner der Kernener- gie sowie drei Experten vertreten sein, die der Frage nach der Notwendigkeit von Kernenergie ergebnisoffen gegenüberstünden. Er wollte verhindern, dass das Gremium in der Öffentlichkeit als ‚Kernenergie-Begründungskommission‘ dar- gestellt werden könnte. Als Gegner der Kernenergie war damals unter anderem Klaus Traube im Gespräch und als Befürworter Klaus Barthelt (KWU). Günter Altner und Wolf Häfele wurden auf dieser Liste bereits erwähnt.397 Bei der Obleutebesprechung am 8. Februar konnten die verschiedenen Par- teien sich zwar auf eine Aufgabenstellung einigen, aber nicht auf die Zahl der

394 PA DBT Drs. VIII/2628, Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP: Einsetzung einer Enquete- Kommission ‚Zukünftige Energie-Politik‘ und zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Ein- setzung einer Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 7. März 1979. Dieses Verfahren ist üblich, vgl. hierzu: Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 36. 395 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 40. Sitzung, 17. Januar 1979, S. 9f. 396 AdsD Depositum Schäfer, Ausschuß für Forschung und Technologie, Vermerk zur Obleute- besprechung am 19. Januar 1979 über Antrag der Fraktion der SPD/FDP Enquete-Kommission ‚Zukünftige Energie-Politik‘ und Antrag der CDU/CSU ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 19. Januar 1979. 397 AdsD Depositum Schäfer, SPD-Bundestagsfraktion, Arbeitsgruppe: Energie und Umwelt, Sitzungsprotokoll, 25. Januar 1979. Die Zahl von sieben Sachverständigen wurde in der SPD- Bundestagsfraktion bereits im Dezember akzeptiert: AdsD 000076, SPD-Bundestagsfraktion, Anlage 6 zum Sitzungsprotokoll, 5. Dezember 1978, S. 2.

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Sachverständigen.398 Die Frage wurde daraufhin im Ausschuss für Forschung und Technologie erneut diskutiert. Lenzer von der Union befürwortete die Zahl sechs, da der Primat der Politik gewahrt bleiben müsse. Mit der Mehrheit der Regierungskoalition wurde jedoch für sieben Sachverständige gestimmt.399 Ein weiterer Punkt war die von der Union geforderte Laufzeitbeschränkung, den die Partei vermutlich hervorhob, um sich nicht selbst dem Vorwurf der Verzöge- rungstaktik auszusetzen. Für Riesenhuber war die zeitliche Dimension ein ebenso wichtiger Ver- handlungspunkt wie die Themenformulierung. Riesenhuber erklärte in der Frak- tion, dass man beim Thema von den ‚weltweiten Überlegungen‘ der Koalition zu konkreten Fragen der Kernenergiepolitik gelangt sei. Bei der Wahl der Sachver- ständigen befürwortete der Unionspolitiker die Anwendung der ‚Niemeyerschen Regel‘, nach der die Union von sieben Sachverständigen vier bestimmen könn- te.400 Zu den beiden umstrittenen Punkten empfahl der Ausschuss für Forschung und Technologie dem Bundestag letztendlich, dass der Bericht von der Kommis- sion bis zum 31. Mai 1980 vorzulegen sei, und – zunächst – sieben Sachverstän- dige zu berufen seien. Die Zahl wurde allerdings kurz vor der Sitzung des Par- laments am 29. März auf acht erhöht.401 Gegenexpertise einzuholen, stellte ein neues Element für die parlamen- tarische Politik dar. Gerade in der Energiefrage hatte bis dahin der Sachverstand im Vordergrund gestanden, der der Industrie nahe stand. Klaus Traube schrieb in dieser Phase, dass es in Deutschland kaum möglich sei, „bei grundsätzlich skep- tischer Einstellung informierter Experte zu werden“402. Der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht hatte dem Spiegel zufolge Wissenschaftlern gekün- digt, die unter dem Management der Firma Ökosystem GmbH ein Gutachten über die möglichen Auswirkungen der Gorlebener Atomfabrik auf die Umwelt der Region erstellen sollten. Die Großforschungseinrichtungen ihrerseits wurden in ihrer Unabhängigkeit angezweifelt, da Verbindungen mit der Atomindustrie bekannt geworden waren.403

398 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Anlage zum Protokoll der 42. Sit- zung, 14. Februar 1979. 399 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 42. Sitzung, 14. Februar 1979. 400 ACDP VIII–001–1055/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 28. März 1979, S. 11. 401 PA DBT PlPr. VIII/145, 29. März 1979, S. 1163. 402 Klaus Traube, Essay: Harrisburg und die Experten, in: Der Spiegel Nr. 16, 16. April 1979, S. 59. 403 Atomenergie. Falsches Spiel, in: Der Spiegel Nr. 8, 19. Februar 1979, S. 33f.

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Während der Vorbereitungen für die Enquete-Kommission spitzte sich die Lage auf dem internationalen Ölmarkt zu, nachdem schiitische Revolutionäre mit dem Ajatollah Chomeini die Ölförderung im Iran gestoppt und der Schah Resa Pahlewi nach Ägypten geflohen war. Volker Hauff erklärte daraufhin, dass es nun ohne Kernenergie nicht mehr gehe. Lambsdorff verkündete, Energie müs- se gespart werden.404 Gleichwohl sandte Volker Hauff Anfang März ein Exposé zur Energiepolitik an verschiedene SPD-Mitglieder, in dem er ein Szenario für die Bundesrepublik mit und eines ohne Kernenergie darlegte.405

h. Konstituierung der Kommission: Erwartungen und Ereignisse

Am 29. März 1979 – noch im selben Monat, in dem der Ausschuss für For- schung und Technologie seine Beschlussempfehlung406 vorgelegt hatte – wurde im Bundestag über die Einsetzung der Enquete-Kommission debattiert. Zeit- gleich fand nicht nur das Gorleben-Hearing statt, es ereignete sich tags zuvor auch die bis dahin schwerste bekannt gewordene Katastrophe in der Geschichte der Kernenergienutzung. Im amerikanischen Kraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg kam es zu einem Kühlmittelverlust und einer partiellen Kern- schmelze. Die Bevölkerung der Umgebung wurde evakuiert, es gab keine Ver- letzten oder Toten. Die tatsächlichen Ausmaße des Unfalls waren zum Zeitpunkt der Bundestagsdebatte aber noch nicht bekannt.407 Eine eingehende Aufklärung wurde später von der Kemeny-Kommission erbracht, die der US-Präsident ein- gesetzt hatte.408 Zwar wurde der Unfall kurz erwähnt, aber es wurde weder wei- ter darüber gesprochen, noch die Havarie argumentativ eingesetzt. Vielmehr wurde weitgehend Altbekanntes wiederholt. Herauskristallisieren lassen sich die Erwartungen, die mit der Einsetzung der Kommission verbunden waren. Der Unionsabgeordnete Spies von Büllesheim kam zu folgender Feststellung: „Das kleine Schiff der Kommission wird in rauhem Wind segeln. Es ist mit Hoffnun-

404 Ölversorgung: Konjunktur der Angst, in: Der Spiegel Nr. 8, 19. Februar 1979, S. 26–33. 405 AdsD Depositum Schäfer, Expose von Volker Hauff, ohne Datum (versandt an Störmer, BMFT, und Mitglieder der Kommission Energiepolitik beim SPD-Parteivorstand am 2. März 1979). Vgl. auch: Kernkraft: Nur noch Alibi, in: Der Spiegel Nr. 11, 12. März 1979, S. 119f. 406 PA DBT Drs. VIII/2628, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Techno- logie zu den Anträgen von SPD/FDP sowie CDU/CSU zur Einsetzung der Enquete- Kommission, 7. März 1979. 407 „Eine lange Spur von Fragezeichen.“ Ursachen und Ablauf des Reaktor-Unfalls von Harrisburg, in: Der Spiegel Nr. 15, 09. April 1979, S. 16–32. 408 „Kemeny-Report“, Der Störfall von Harrisburg. Der offizielle Bericht der von Präsident Carter eingesetzten Kommission über den Reaktorunfall auf Three Mile Island, Düsseldorf 1979.

98 gen von Befürwortern und Gegnern der Kernenergie so befrachtet, daß es fast beängstigend ist.“409 In diesen Worten finden damals verschiedentlich anzutreffende Befürchtun- gen und Hoffnungen Ausdruck, das kleine Schiff könne im Sturm zerschellen und die Kommission aufgrund der verfahrenen Situation zu keinem Ergebnis kommen oder sich gar vorzeitig auflösen. Insofern kann der in der Literatur zu findenden Aussage für die Zukünftige Kernenergie-Politik nicht zugestimmt werden, dass Enquete-Kommissionen zwar in kontroversen Diskussionen einge- setzt wurden, aber nur in solchen, in denen Aussicht auf einen Kompromiss be- stand.410 Ein Hauptpunkt für den Erfolg der Kommission – wie auch immer dieser aussehen möge – wurde darin gesehen, die Kontroverse in Bahnen zu lenken. Der CDU-Politiker Spies von Büllesheim verband mit der Enquete-Kommission den Gedanken einer Versachlichung der bislang leidenschaftlich geführten De- batte und dadurch eine Verringerung der Polarisierung. Die Kommission sollte zudem das Vertrauen der Bürger in die Entscheidung der Politiker im Energiebe- reich stärken.411 Ueberhorst sagte, dass nicht Polarisierung zum ‚Konsens‘ führe, sondern nur eine Diskussion über Alternativen. ‚Konsens‘ war das Schlüsselwort von Ueberhorsts Argumentation; außerdem solle die Enquete einen Beitrag zum sozialen Frieden leisten.412 Der FDP-Abgeordnete Laermann hob hervor, dass die einvernehmliche Be- rufung der Sachverständigen die Glaubwürdigkeit der Kommission gegenüber den Bürgern erhöhen werde.413 Bis dahin war die Ernennung fraktionsweise erfolgt und auch spätere Kommissionen hingen der Tradition der Fraktionierung an. Wie nun allerdings ein Konsens oder der soziale Friede aussehen möge, da- rüber gingen die Meinungen sicher weit auseinander. Riesenhuber beispielsweise hegte die Hoffnung, dass die Kommission „mit einer baldigen Entscheidung der Bundesregierung den Weg zu dem erforderlichen zügigen Ausbau der Kernener- gie ebnen“414 werde. Gleichwohl sprach er dem Gremium eine ‚Überprüfungs- kompetenz‘ zu.415

409 PA DBT PlPr. VIII/145, 29. März 1979, S. 11664. 410 Altenhof, Enquete-Kommissionen, S. 162; Weingart/Brown/Lentsch, Parlament und Politikbe- ratung, S. 96. 411 PA DBT PlPr. VIII/145, 29. März 1979, S. 11663. 412 Ebd., S. 11665f. 413 Ebd., S. 11666f. 414 Riesenhuber, Zur Energiepolitik in Deutschland, in: Zeitschrift für Energiewirtschaft, Jg. 2, 1979, S. 49. 415 Ebd.; Lompe/Rass/Rehfeld, Enquête-Kommissionen und Royal Commissions, S. 253.

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Dass die Kommission bis zum Abschluss ihrer Arbeit keine grundlegenden Entscheidungen auf dem Gebiet der Kernenergienutzung fällen werde, hielt man ebenfalls für möglich.416 Interessant ist die Rolle des prospektierten Vorsitzenden Reinhard Überhorst. Der Sozialdemokrat war, nicht zuletzt aufgrund seines Engagements in Sachen Enquete-Kommission und des Vertrauens, das in ihn setzte, als Leiter auserkoren worden. Zwischendurch war auch Ueberhorst zufol- ge Carl Friedrich von Weizsäcker als Vorsitzender des Gremiums im Ge- spräch.417 Spies von Büllesheim sprach Ueberhorst sein Vertrauen aus, indem er ihn der Gruppe Menschen zuordnete, die nicht nur um „unsere Zukunft ehrlich besorgt“ und diskussionsbereit seien, sondern auch nach Abwägung vieler Ge- sichtspunkte die beste Entscheidung finden wollten.418 Die Empfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie wurde den drei Reden von Spies von Büllesheim, Laermann und Ueberhorst entspre- chend einstimmig angenommen.419 Der Politikwissenschaftler Dieter Rehfeld betonte 1979, dass es für die Ar- beit und Wirksamkeit der Kommission wichtig sein werde, dass vor grundlegen- den Entscheidungen ihr Votum angehört werde. „Die bisherigen Erfahrungen mit Enquête-Kommissionen und die Ankündigung der Bundesregierung, daß sie es sich nicht leisten kann, ‚untätig abzuwarten‘, lassen nicht erwarten, daß die Kommission die geplante politische Grundsatzentscheidung fällen kann.“420 Laut Rehfeld ginge es in der Kommission darum, folgendes aufzuzeigen: wo ‚Konsens‘ besteht, wo weiterdiskutiert werden muss und wo auch eine weite- re wissenschaftliche Forschung nötig ist, wo Meinungsunterschiede bleiben und wo die Grenzen der Wissenschaft bei der Klärung kontroverser Fragen erreicht sind.421 Die Zeit nach dem Beschluss des Bundestages zur Einsetzung der Enquete- Kommission war zunächst von der Berichterstattung über den Unfall bei Harrisburg und die zu ziehenden Konsequenzen für die deutsche Energiepolitik bestimmt.422 Dies änderte sich erst mit der konstituierenden Sitzung der Kom- mission am 9. Mai.

416 Lompe/Rass/Rehfeld, Enquête-Kommissionen und Royal Commissions, S. 253f. 417 Gespräch mit Reinhard Ueberhorst, Elmshorn 30. Mai 2008. 418 PA DBT PlPr. VIII/145, 29. März 1979, S. 11663. 419 Ebd., S. 11667. 420 Lompe/Rass/Rehfeld, Enquête-Kommissionen und Royal Commissions, S. 254. 421 Ebd., S. 271; U. Steger, Zwischenbilanz in der Kernenergiediskussion, in: Zeitschrift für Ener- giewirtschaft, Jg. 3, 1979, S. 53–56. 422 Z.B.: Nach der Atompanne in den USA. Koalition uneinig über Kernenergie. Bonn will Sicher- heitssysteme überprüfen, in: Rheinische Post, 6. April 1979; Frankfurter Gespräch im Hessi- schen Rundfunk am 8. April 1979.

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Auch auf die aktuellen Äußerungen zur Kernenergiepolitik des Kanzlers nahm der Beschluss für die Kommission zunächst keinen Einfluss. Bundeskanz- ler Schmidt versuchte weiter, mit Rücktrittsdrohungen selbst seinen ärgsten ener- giepolitischen Widersacher in der Partei, Erhard Eppler, ins Boot zu holen. Assi- stiert wurde ihm von Genscher. Parallel zu Ueberhorsts Warnung, der Auftrag der Enquete sei nur dann glaubwürdig zu erfüllen, wenn auch die laufende Poli- tik den Weg offen halte, bemühte Hauff sich, die Voreingenommenheit von Kanzler und Vizekanzler zu bändigen. Der Forschungsminister versuchte, mit einer Debatte über Energieeinsparungen von der Pro-und-Contra-Diskussion um Kernenergie abzulenken.423 Zunächst einigten die Mitglieder der energiepolitischen Kommission des SPD-Vorstandes sich auf Widerstand gegen die Atompolitik des Kanzlers, um dem Oppositionsführer in Niedersachsen (SPD) den Rücken zu stärken. Dieser stand gegenüber dem widerstrebenden Unions-Minister- präsidenten Albrecht wie ein Vollstrecker der Schmidtschen Atompolitik da und wollte sich aus dieser Position befreien. Der Kanzler räumte daraufhin ein, nun erst einmal „eine Runde vertieften Nachdenkens“ einzulegen.424 Albrecht wei- gerte sich im Nuklearkabinett weiterhin standhaft, seine Zustimmung zum nuk- learen Entsorgungszentrum mit einer Wiederaufarbeitungsanlage zu geben; er verwies unter anderem auf die Unstimmigkeiten in SPD und FDP zur Frage der Kernenergie – kurz: es fehlten die Mehrheiten.425 Aufgrund des wachsenden Drucks durch das Entsorgerjunktim gab Albrecht den Forderungen letztlich nach. Stilllegungen von Atomkraftwerken, die aufgrund der nicht gelösten Ent- sorgungsfrage rechtlich möglich gewesen wären, hätten schließlich in seiner Verantwortung gelegen.426 Zur Ironie der Geschichte zählt sicherlich, dass der damalige Vorsitzende der Jungsozialisten Gerhard Schröder im Mai 1979 forderte, auf die Option Schneller Brüter ebenso zu verzichten wie auf jede Form von Wiederauf- bereitung und den Bau von Kernkraftwerken.427 Als Kanzler leitete er 20 Jahre später den ‚Atomkonsens‘ in die Wege: eine Vereinbarung zwischen Regierung und den vier großen Energieversorgungsunternehmen, die die Laufzeit der beste- henden Kernkraftwerke befristet und gleichzeitig einen ‚ungestörten‘ Betrieb gewährleistet. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Bundes- regierung künftig beispielsweise nicht durch Änderung der Sicherheitsstandards

423 Kernenergie: Der Kanzler geht aufs Ganze, in: Der Spiegel Nr. 25, 18. Juni 1979, S. 19–23. 424 Kernkraft: Neue Marschroute, in: Der Spiegel Nr. 18, 30. April 1979, S. 33–34. 425 Kernenergie: „Das war schon professionell“, in: Der Spiegel Nr. 21, 21. Mai 1979, S. 17ff.; vgl. dazu auch: Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 662ff. 426 Energiepolitik: Klein bei, in: Der Spiegel Nr. 26, 25. Juni 1979, S. 99. 427 „Da gibt’s kein taktisches Lavieren mehr.“ Forschungsminister Hauff über die Bonner Energie- Politik, in: Der Spiegel Nr. 21, 21. Mai 1979, S. 21–24, S. 24.

101 in den laufenden Betrieb eingreifen wird.428 Nach seiner Kanzlerschaft forcierte er als Aufsichtsratsvorsitzender der Betreibergesellschaft North European Gas Pipeline dann den Vertrag zwischen Gazprom und den deutschen Unternehmen E.ON und BASF für den Bau einer Gaspipeline von Russland nach Deutschland durch die Ostsee.429

i. Die Neudefinition einer Institution: Beratung von Politik und Öffentlichkeit

Aus den Bundestagsdebatten lässt sich folgendes resümieren: Während die Uni- on betont geschlossen für eine Nutzung der Kernenergie eintrat, beantragte sie letztlich doch eine Enquete-Kommission. Ziel dieser Aktion war sicherlich, kon- trollierend in die Geschehnisse der Kommission eingreifen und die Wissensres- sourcen in Fragen der deutschen Energiewirtschaft, der Kernenergie sowie des Brüters erweitern zu können. Von Seiten der SPD wurde die Zerrissenheit der eigenen Partei herangezo- gen als Sinnbild einer Volkspartei, in der die kritischen Stimmen hörbar sein müssten. Insofern stellten sich Ministerien und Abgeordnete gemeinsam hinter den Antrag für eine Enquete-Kommission mit der Begründung, dass im Rahmen dieses rationalen Diskussionsinstrumentes eine gemeinsame Linie erarbeitet werden könne. Ähnliches passierte auf Seiten der FDP, wobei hier die innerparteilichen Unstimmigkeiten eklatanter hervortraten. Diese führten auch dazu, dass nicht alle FDP-Mitglieder der Fortschreibung des Energieprogramms zustimmten. Unter Einbeziehung der politischen Dimension ist an dieser Stelle fest- zuhalten, dass die Enquete-Kommission Teil der Verhandlungsmasse in Sachen Energieprogramm war. Die Enquete war quasi der Preis, den die Regierung zah- len musste, um die Zustimmung zum Energieprogramm zu erhalten. Taktischer Hintergedanke von Regierungsseite war wohl auch, dass die Kernkraftgegner vorerst Ruhe geben würden. Das Gremium sollte insofern der Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit in diesem Politikfeld dienen. Mit dem Ansatz, sowohl Gegner als auch Befürworter der Kernenergie zu Wort kommen zu lassen, ist dies durchaus in einer Linie mit dem Bürgerdialog Kernenergie zu sehen. Gleichzeitig begannen ein Jahr vorher bereits die Vorbereitungen für die Bundestagswahl sowie die Suche nach einem geeigneten Kanzlerkandidaten; es galt, das eigene Profil zu beweisen und den politischen Gegner zu diskreditieren. Die politische Verantwortung für die notwendigen Maßnahmen zum Kernener- gieausbau wurde nicht gerne übernommen. Ministerpräsidenten weigerten sich,

428 Vgl.: Kapitel C.IX. 429 In: Die Zeit, 11. Dezember 2005.

102 den ‚schwarzen Peter‘ anzunehmen; die Länder von Regierungsseite her anzu- weisen, die entsprechenden Genehmigungen zu erteilen, stand aber ebenfalls nicht ernsthaft zur Debatte. Dabei schwingt bereits mit, dass in der Debatte nicht konzise zu unterscheiden ist zwischen Pro- und Contra-Kernenergie. So ist Hauffs widersprüchliche Reaktion auf die Ereignisse im Iran ein auch in der heutigen Debatte anzutreffender Reflex auf akute Engpässe. Vor diesem Hintergrund lohnt sich die später ganzheitlich zu klärende Frage nach der Funktion der Enquete-Kommission. Warum wurde in der angespannten Situation der Kernkraftkontroverse ausgerechnet dieses Gremium eingesetzt? Über der angespannten Situation in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hing das Damoklesschwert der ‚Unregierbarkeit‘. Also könnte die Enquete-Kommission ein Versuch gewesen sein, die Macht wieder zu gewinnen und die Situation zu beruhigen. Um eine Neudefinition des noch jungen Politikberatungsinstruments han- delt es sich auf jeden Fall: Die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie- Politik war die erste, die eine öffentliche Diskussion in den parlamentarischen Raum hineintrug. Es war auch die erste Enquete-Kommission, deren Aufgaben- stellung die Ausarbeitung von Bewertungskriterien enthielt; dies setzte Maßstäbe und geschah in der Nachfolgezeit bei weiteren von der SPD initiierten Kommis- sionen wie Gentechnologie, Gesetzliche Krankenversicherung, Schutz des Men- schen und der Umwelt sowie Medien.430 Auch war es die erste Enquete- Kommission, die auf gemeinsamen Antrag von Opposition und Regierungsfrak- tionen eingesetzt wurde. Ein weiteres Spezifikum ist, dass mehr Sachverständige als Abgeordnete in dem Gremium saßen und dass diese außerdem von den Par- teien gemeinsam berufen wurden. Ganz entscheidend für die Frage nach Wissen ist die Einbeziehung von Gegenexpertise. Die Integration von Kernenergiekriti- kern in den parlamentarischen Entscheidungsprozess wurde im Laufe der Ausei- nandersetzung immer nachdrücklicher gefordert. Standen in der politischen Debatte auch Begriffe wie Glaubwürdigkeit und Legitimation im Vordergrund, so wurde deutlich, dass Unsicherheiten in Bezug auf die Kernenergie für die Einsetzung der Enquete-Kommission ausschlagge- bend waren. Es galt das politische Handeln durch die Einbeziehung neuer Wis- sensbestände zu hinterfragen.

430 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 167.

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III. ‚Die Kuh ist vom Eis‘ – vorerst

Die gesellschaftliche und politische Situation der 1970er Jahre wurde von Kri- senphänomenen geprägt, die sich ganz konkret auf die Kernkraftkontroverse auswirkten. Aufgrund der Ölkrise, der wachsenden Arbeitslosigkeit und der desolaten wirtschaftlichen Situation plädierten die einen für die Kernenergie, während die anderen aufgrund der Unsicherheiten der Technologie und der wachsenden Kosten zumindest eine kritische Überprüfung dieses Weges forder- ten. Nicht nur die schärfer werdenden – bisweilen bürgerkriegsähnlichen – Pro- teste an den Bauplätzen, sondern auch die Kritik in den eigenen Reihen wurde immer lauter und machte die sozialliberale Regierung zusehends handlungsunfä- hig. Nur durch das Zugeständnis, eine Enquete-Kommission einzurichten, konn- ten ein Zerbrechen der Koalition sowie die Ablehnung der Zweiten Fortschrei- bung des Energieprogramms verhindert werden. Der Inbetriebnahmevorbehalt gegen den Brüter ließ sich damit aber nicht umgehen. Hier war das Ergebnis der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik abzuwarten. Mit der Einsetzung des Gremiums war für die SPD einerseits die ‚Kuh‘ der innerparteilichen Auseinandersetzung erst einmal vom Eis, andererseits konnten damit alle Bundestagsfraktionen der protestierenden Bevölkerung signalisieren, dass ihre Sorgen ernst genommen wurden. Ganz im Sinne des Planbarkeitspara- digmas zog die Politik zur Rationalisierung der Debatte wissenschaftlichen Sachverstand zu Rate. Ein nicht unentscheidender Aspekt im Rahmen einer De- batte, in der sich die Argumente zusehends verwissenschaftlichten und die Wis- senschaftler zunehmend politisierten. Die Fronten in der Kontroverse gingen streckenweise durcheinander: Wäh- rend die Union auf Bundesebene relativ einmütig für die Kernenergie eintrat und sich dabei auf einer Linie mit einem großen Teil der Bundesregierung wissen durfte, agierten die Länderregierungen, die von kerntechnischen Einrichtungen und lokalen Protesten betroffen waren, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und ihrer veröffentlichten Haltung meistenteils entsprechend der Haltung der Kernenergiekritiker. Denn nicht alles, was technisch als machbar galt, konnte auch politisch durchgesetzt werden – zumindest nicht, wenn man an positiven Wahlergebnissen interessiert war. Auch Industrie und Energiewirtschaft zeigten kein drängendes Interesse an Projekten wie dem Brüter und der Wiederauf- arbeitung; das Geld floss durch die Leichtwasserreaktoren. Weder für den Brüter noch die Wiederaufarbeitung sah man aktuellen Bedarf. Argumentativ war die Ausgangslage für die Enquete-Kommission auf poli- tischer Ebene trotz aller Unsicherheiten festgefahren – insbesondere wenn man

104 wie Reinhard Ueberhorst das Ziel hatte, wieder zu einem ‚Konsens‘ in der Ener- giepolitik zu finden. Ob das Ganze sich zu einer heroischen Tragödie oder einer Komödie entwi- ckeln sollte, war zu diesem Zeitpunkt vollkommen offen. Zunächst einmal galt es die geeignete Besetzung zu finden.

105

B. Die Technologie des Kompromisses

‚Ob ich gegen die Kernenergie bin, weiß ich noch gar nicht. Aber ich habe den Ein- druck, dass Ihr nicht wisst, warum Ihr dafür seid.‘

Dies soll Reinhard Ueberhorst in einem Gespräch mit Volker Hauff und Hans Matthöfer gesagt haben, als ihm vorgehalten wurde, er sei sowieso gegen den Einsatz von Kernenergie.431 Unabhängig davon, ob der Dialog tatsächlich so stattgefunden hat, führt er den Gedanken vor Augen, den der Vorsitzende der Arbeit der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik zugrunde legte. Nachdem die öffentliche und politische Ebene der Kontroverse aus der Vo- gelperspektive ausgelotet sind, ist nun zur Zelle der Kommission selbst vorzu- dringen, um dem ‚revolutionären‘ Element der Empfehlung auf der Beratungs- ebene weiter auf die Spur zu kommen.

IV. Die Ueberhorst-Kommission

Zunächst gilt es, die Akteure und ihre Arbeitsweise in den Blick zu nehmen. Vielleicht handelt es sich um ein ‚old boys network‘, in dessen Grenzen ein ent- sprechender Kompromiss anders zu bewerten ist. Dem gemäß werden die Ver- flechtungen der einzelnen Akteure in der Kommission, im Sekretariat und in den Fraktionen im Zentrum der Betrachtung stehen. Entscheidend ist die Frage, wie die Kommission gearbeitet hat und wie sie versuchte, die Interessen der Fraktio- nen und Ministerien einzubeziehen. Doch was war eigentliche die Aufgabe, die die Kommission vom Bundestag erhielt?

431 Die Geschichte wurde von mehreren Zeitzeugen geschildert, z.B.: Gespräch mit Reinhard Ueberhorst, Elmshorn 31. Mai 2008; Gespräch mit Klaus Michael Meyer-Abich, Hamburg 31. Juli 2008; angedeutet wird sie außerdem in: Reinhard Ueberhorst, Positionelle und diskursive Politik – Die Bewährung einer demokratischen Technologiepolitik an den Chancen kritischer Argumente zur Brütertechnik (1), in: Klaus Michael Meyer-Abich/Reinhard Ueberhorst (Hg.), AUSgebrütet – Argumente zur Brutreaktorpolitik, Basel/Boston/Stuttgart 1985, S. 356–395, S. 379.

107 a. Der Auftrag an die Kommission

Die relativ weit gefasste Aufgabenstellung, eine Empfehlung über „zukünftige Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten unter ökologi- schen, ökonomischen, gesellschaftlichen und Sicherheits-Gesichtspunkten natio- nal wie international“432 zu erarbeiten, war spezifiziert in fünf Unterpunkte. Die- se besagten, dass Kriterien für die Akzeptanz von Kernenergie erarbeitet, Möglichkeiten und Risiken anderer Energieträger vergleichend einbezogen und die Ergebnisse der International Nuclear Fuel Cycle Evaluation (INFCE) aufge- zeigt werden sollten. Außerdem wurde eine Empfehlung zur Inbetriebnahme des Schnellen Brüters erwartet. Es galt, die Auswirkungen der Energietechnik auf das gesellschaftliche Leben zu erarbeiten, Vorschläge zur Verhinderung von Fehlentwicklungen zu entwerfen sowie Möglichkeiten und Konsequenzen eines Verzichts auf Kernenergie darzustellen.433 Die Aufgabenstellung lässt vermuten, dass dem Einfluss der später beteiligten Sachverständigen in welcher Form auch immer ausgesetzt war. Zur Bearbeitung der Aufgabe bildete das Gremium sieben Arbeitsfelder, die sich unter die Überschriften Szenarien (I), Risiken (II), Kriterien (III), SNR300 (IV), Entsorgung (V), INFCE-Ergebnisse (VI) und Proliferationsgefahr (VII) fassen lassen.434 Die Kommission sollte ihre Arbeit bis zum 31. Mai 1980 ab- schließen, damit der Bundestag noch in derselben Legislaturperiode darüber beraten könne.

b. Politisches Gewicht in der Kommission

Die Zusammensetzung einer Enquete-Kommission auf der Abgeordnetenseite folgt im Allgemeinen unterschiedlichen Gesichtspunkten. Für den politischen Prozess ist es wichtig, dass die entsprechenden Fachausschüsse des Bundestages in das Gremium einbezogen und regionale Aspekte berücksichtigt werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Kommission nicht an ihrem Auftrag vorbei arbeitet und ihre Arbeit auch im Bundestag wahrgenommen wird. Inso- fern sind die Gründe, aus denen ein Abgeordneter in einem solchen Gremium sitzt, im jeweiligen Einzelfall zu würdigen. In der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik waren insge- samt sieben Parlamentarier: drei für die SPD, drei für die Union – davon einer aus der bayerischen CSU, sowie ein Vertreter der FDP. Die Abgeordneten wer-

432 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 10. 433 Ebd., S. 10f. 434 Vgl.: Ebd., S. 14.

108 den auch heute gemäß Satzung von ihren Fraktionen entsandt und nicht wie Sachverständige vom Bundestagspräsidenten berufen.435 Auf der konstituierenden Sitzung wurden Reinhard Ueberhorst (SPD) zum Vorsitzenden und Lutz Stavenhagen (CDU) zu seinem Stellvertreter gewählt. Wie in den meisten Enquete-Kommissionen war dies reine Formsache, da die Fraktionsführung die Frage des Vorsitzes üblicherweise mit der zuständigen Arbeitsgruppe und dem Ältestenrat bereits im Vorfeld abstimmt. Die größte Fraktion stellt den Vorsitz der ersten, in der Legislaturperiode einberufenen En- quete-Kommission, danach wird turnusmäßig gewechselt. Diese Regelung führt bisweilen dazu, dass eine ‚Vorschaltenquete‘ eingesetzt wird. So können Partei- en steuern, dass sie in einer Kommission, die ihnen wichtig erscheint, den Vor- sitz erhalten.436 Die SPD trat mit Reinhard Ueberhorst an, der treibenden Kraft in Sachen Enquete-Kommission.437 Geboren 1948, war er 1976 in den Bundestag eingezo- gen. Mit einem Alter von 31 Jahren war er in der Enquete-Kommission wesent- lich jünger als die anderen Mitglieder. Der Elmshorner saß im Ausschuss für Forschung und Technologie und beteiligte sich an der SPD-Arbeitsgruppe Ener- gie. Ueberhorst hatte unter anderem in der Quickborner Beratungsfirma Metaplan gearbeitet, die sich eine spezielle Form der Gesprächsführung zunutze machte. Es handelte sich um eine hoch bezahlte, auf Organisationsfragen und Gruppenkommunikation spezialisierte Beratungsfirma, die vor allem für Wirt- schaftsunternehmen tätig war. Nach der Theorie ihres Gründers Eberhard Schnelle existiert eine Spannung zwischen dem Grundsatz der Wissenschaftlich- keit und einer ‚diskursgestützten Konsensfindung‘, da Wissenschaft nicht auf den Regulativen von Konsens oder Kompromiss beruhe, sondern auf Aushand- lungsprozessen. Die Berater versuchten daher zunächst, einen gemeinsamen Nenner zu finden.438 Die Methode der ‚Entscheidungsfindung im Management‘ wurde pro- pagiert, die organisationssoziologische und kybernetische Ansätze kombiniert und besonders auf die Visualisierung von Entscheidungsprozessen setzt. Mit Hilfe dieser Technik sollte die herkömmliche ‚intuitive und improvisierte Art‘ der Entscheidungsfindung durch ein schrittweises und aufeinander aufbauendes Vorgehen abgelöst werden. Gleichberechtigte Projektmitarbeiter, die Teilprob-

435 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 177. 436 Ebd., S. 171. 437 Vgl.: Reinhard Ueberhorst, Politische Entscheidungen müssen Vorrang haben vor technischer Entwicklungspolitik, in: Neue Gesellschaft 24/1977, S. 819–823. 438 Eberhard Schnelle (Hg.), Neue Wege der Kommunikation: Spielregeln, Arbeitstechniken und Anwendungsfälle der Metaplan-Methode, Königstein im Taunus 1978.

109 leme in Kleingruppen bearbeiteten und Grundsatzfragen durch Mehrheitsbe- schluss entscheiden sollten, sorgten der Idee nach für eine bessere Zusammenar- beit und einen verbesserten Informationsfluss. Die visuelle Aufzeichnung der Entscheidungsfindung sollte die Vorgänge im Gegensatz zu einer rein verbalen Artikulierung für die gesamte Gruppe nachvollziehbar gesalten. Dabei wurden Schemata, Organigramme und Raster zur Komplexitätsreduktion von Problemen eingesetzt. Auf diese Weise wollte man schnell zum Kern der Probleme vordrin- gen und den Vergleich und die Bewertung von Alternativen erleichtern. Das Verfahren galt als zeitsparend und enthierarchisierend.439 Prinzipiell scheint das Habermassche Modell des ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ hier Pate gestanden zu haben. Diese Arbeitserfahrungen scheinen Ueberhorsts Führungsstil in dem Gre- mium geprägt zu haben. Der Elmshorner beschrieb später in einem Artikel, dass er im Quickborner Zusammenhang gelernt habe, ‚moderatorisch zu sehen‘; da- durch könne man ‚gehemmte Kooperationspotentiale‘ erkennen. Wirtschaft und Politik seien nicht in einem ‚Kästchendenken‘ zu betrachten, sondern innerhalb ihrer Kooperationsaufgaben.440 In Parlamentskreisen wurde Ueberhorst nachgesagt, im ‚Windschatten‘ Wehners zu agieren.441 Wehner war es wohl auch, der sich gegen eine Leitung der Enquete-Kommission durch Carl Friedrich von Weizsäcker wandte, da dies Aufgabe eines Abgeordneten sein sollte.442 Ueberhorst hatte bereits im Vorfeld Kontakte zu verschiedenen Sachverständigen aufgebaut. So stand er beispiels- weise mit Günter Altner und Klaus Michael Meyer-Abich in Kontakt. Im Jahre 1985 wechselte er die Seiten und war selbst Sachverständiger in der Enquete- Kommission Technikfolgenabschätzung.443

439 Zur Gründungsgeschichte von Metaplan und der Idee: Joachim Freimuth, Wirtschaftliche Demokratie und moderatorische Begleitkultur. Ausgangspunkte in den sozialen und öko- nomischen Bedingungen der 60er Jahre, in: Joachim Freimuth/Fritz Straub (Hg.), Demokrati- sierung von Organisationen. Festschrift für Eberhard Schnelle zum 75. Geburtstag, Wiesbaden 1996, S. 19–40; Winfried Süß, „Rationale Politik“ durch sozialwissenschaftliche Beratung? Die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1966–1975, in: Stefan Fisch/Wilfried Rud- loff (Hg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspek- tive, Berlin 2004, S. 329–348, S. 331, 337f., 343. 440 Reinhard Ueberhorst, Demokratie, Wirtschaft und langfristige Leitbilder. Wann und warum sollten Unternehmen welche neuen externen Kooperationspotentiale erschließen?, in: Joachim Freimuth/Fritz Straub (Hg.), Demokratisierung von Organisationen. Festschrift für Eberhard Schnelle zum 75. Geburtstag, Wiesbaden 1996, S. 235–250, S. 236f. 441 U.a.: Gespräch mit Harald B. Schäfer, Offenburg 19. Februar 2008. 442 Gespräch mit Reinhard Ueberhorst, Elmshorn 30. Mai 2008. 443 PA DBT Drs. X/5844, Bericht der Enquete-Kommission ‚Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen. Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung‘, 14. Juli 1986.

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In der Zukünftigen Kernenergie-Politik saß für die SPD zudem der Lehrer Harald B. Schäfer, der seit 1975 gegenüber der Kernenergie immer skeptischer wurde.444 Der Offenburger hatte den besonders kernenergiekritischen Landes- verband Baden-Württemberg im Rücken, in dem der Landesvorsitzende der SPD-Fraktion Erhard Eppler für ein alternatives Energieszenario plädierte – ohne zusätzliche Kernenergie und Kohlekraftwerke.445 Im Bundestagsinnenausschuss konnte er die Arbeitsgruppe „Reaktorsicherheit und Strahlenschutz“ etablieren. Seine Unnachgiebigkeit bei der Offenlegung der Verträge zur Wiederauf- arbeitung mit der französischen Firma COGEMA, deren Seriosität Schäfer be- zweifelte, wurde in den Medien aufmerksam verfolgt.446 Der SPD-Politiker ist ein Beispiel für die Personen, die sich im Laufe der Kontroverse zu Gegnern der Kernenergie entwickelten. So schrieb er noch 1974 an eine besorgte neunte Klasse, dass auch bei verstärkten Energiespar- maßnahmen eine Versorgung ohne Kernenergie nicht möglich wäre, sich die Sicherheitsprobleme, die sich aus der Technologie ergäben, aber langfristig lösen ließen.447 Zu Zeiten der Enquete-Kommission war er klarer Befürworter eines baldigen Ausstieges aus dieser Technologie. Reinhard Ueberhorst und Harald B. Schäfer waren nicht nur durch ihre Kri- tik an der Kernenergiepolitik aufgefallen, sie hatten sich auch gemeinsam mit anderen gegen das Kontaktsperregesetz gewandt. Das Gesetz wurde im ‚Deut- schen Herbst‘ als Reaktion auf die Entführung von Hanns Martin Schleyer erlas- sen und sollte die Verbindung von Gefangenen mit Mithäftlingen und der Au- ßenwelt, insbesondere aber auch dem Strafverteidiger verhindern. Damit gingen die Haftbedingungen über einfache Isolationshaft hinaus; die Regelung war stark umstritten. Die Auseinandersetzung darüber hatte im Oktober 1977 den Bestand der Koalition gefährdet.448 Dritter Delegierter der SPD war Peter W. Reuschenbach. Der Sohn eines Bergmanns begann seinen beruflichen Werdegang bei der Gelsenkirchener Bergwerks AG. Während seiner politischen Laufbahn fungierte er bereits als Referent von und stellvertretender Vorsitzender des Wirtschafts-

444 Vgl.: Harald B. Schäfer, Die Chancen des Hamburger Parteitages für die Energiepolitik, in: Neue Gesellschaft 24/1977, S. 830–833. 445 Z.B.: Dämmplatten sind billiger als Kernkraft, in: Der Spiegel Nr. 25, 18. Juni 1979, S. 20. 446 AdsD 8440, Brief von Günter Scheuten (Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung) an den Vorsitzenden des Bundestagsinnenausschusses Axel Wernitz, 18. September 1978; Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 343ff.; Atom-Entsorgung. Schlicht unseriös, in: Der Spiegel Nr. 41, 3. Oktober 1977, S. 132–135. 447 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Schäfer an Klasse 9a der Bärbel-von-Ottenheim-Schule in Schwanau, 11. Juni 1974; vgl. außerdem Schäfers persönliche Bemerkung im Bericht der Kommission: Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 119f. 448 AdsD Depositum Schäfer, Brief, Oktober 1977; Der ramponierte Rechtsstaat, in: Der Spiegel Nr. 50, 5. Dezember 1977, S. 32ff.

111 ausschusses. Er stand für den Teil der SPD, der der Regierung in ihrer Haltung zur Energiefrage weitgehend folgte. Für die Arbeit der Kommission ist sicherlich auch wichtig, dass Reuschenbach eng mit der IG Bergbau und Energie verbun- den war.449 Für die FDP saß Karl-Hans Laermann, Professor für Baustatik an der Ge- samthochschule Wuppertal, in den Sitzungen. Er war Vorsitzender des Landes- fachausschusses für Wissenschaft, Forschungs- und Technologiepolitik der FDP in Nordrhein-Westfalen und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Forschung und Technologie. Die Union schickte als stellvertretenden Vorsitzenden Lutz Stavenhagen in die Kommission, der nach dem Studium der Betriebs- und Volkswirtschaft im Jahre 1968 in Tübingen mit dem Thema Probleme der Preisbildung auf dem internationalen Mineralölmarkt 450 promoviert hatte. Neben der thematischen Affinität qualifizierte sich der Baden-Württemberger unter anderem als Bericht- erstatter für Forschung und Technologie im Haushaltsausschuss – eine ausge- sprochen einflussreiche Position – für die Mitarbeit in dem Gremium. Daneben war Ludwig Gerstein entsandt worden, der als ‚Kohlemann‘ und Vertreter der nordrheinwestfälischen Interessen in Energiefragen gesehen wer- den kann. Gerstein war bis 1978 Bergwerksdirektor der Schachtanlage ‚Hansa‘ in Dortmund-Huckarde, die nach der ersten Ölpreiskrise ab Januar 1974 auf Hydrobergbau umgestellt worden war. Auf diese Weise sollte Steinkohle ‚sau- ber‘ hydromechanisch gewonnen und hydraulisch gefördert werden. Obwohl das Verfahren bereits erprobt war, erwies es sich in der Praxis bald als wenig alltags- tauglich und brachte katastrophale Resultate. Bereits wenige Monate nach der feierlichen Eröffnung durch Hans Matthöfer im Mai 1977 übernahm das BMFT, 50 Prozent des Netto-Forschungsaufwandes zur Optimierung der Technologie. Der Technikhistoriker und ‚Floppologe‘ Reinhold Bauer nimmt an, dass Gerstein als Projektleiter des Planungsteams des Hydrobergbaus dafür zuständig war, unproblematisch zusätzliche Mittel zu gewinnen. Nachdem 1979 bei einer Gru- bengasexplosion acht Bergleute starben, wurden die Optimierungsexperimente für den Hydrobergbau in der ‚Hansa‘ 1980 vorzeitig und endgültig eingestellt.451 Gerstein, der seit der 8. Wahlperiode im Bundestag saß, war Mitglied im Aus- schuss für Forschung und Technologie.

449 So verbrachte Reuschenbach die Nacht vor der wichtigen 12. Sitzung der Kommission in Haltern beim Vorstand der IG Bergbau und Energie: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/204. 450 Lutz-Georg Stavenhagen, Probleme der Preisbildung auf dem internationalen Mineralölmarkt, Diss., Tübingen 1968. 451 Reinhold Bauer, Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel, Frank- furt am Main 2006, S. 151–194.

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Dritter Mann im Bunde der Union war der Jurist Paul Gerlach – ein CSU- Abgeordneter. Der Aschaffenburger beteiligte sich nicht intensiv an der Kom- missionsarbeit, wie sich schon an seinen zahlreichen Absenzen ablesen lässt.452 Alle Abgeordneten der Kommission außer Paul Gerlach saßen im Aus- schuss für Forschung und Technologie; außerdem waren alle Ausschüsse des Bundestages in der Enquete-Kommission vertreten. Die weiteren für die Ener- giepolitik wichtigen Ausschüsse, der Innen- und der Wirtschaftsausschuss, wa- ren mehrfach vertreten. Nordrhein-Westfalen war mit drei Landeskindern am stärksten vertreten, gefolgt von Baden-Württemberg mit zweien und Schleswig- Holstein und Bayern mit je einem. Für NRW war die Kommission insofern von Bedeutung, als die beiden Großprojekte Schneller Brüter und THTR dort gebaut wurden; daneben war es mit seinen Kohlevorkommen und der im Ruhrgebiet angesiedelten Industrie in Energiefragen besonders betroffen.453 Schleswig- Holstein beherbergte neben dem in die Schlagzeilen geratenen Reaktor Bruns- büttel das im Bau befindliche und von starken Protesten begleitete Atomkraft- werk Brokdorf. Das Bundesland, in dem die Wiederaufarbeitungsanlage in Volkmarsen seit 1980 geplant war, Hessen, war ebenso wenig vertreten wie Niedersachsen, wo das Entsorgungszentrum Gorleben gebaut werden sollte. Unabhängig davon durften die Vertreter der Länder aber ohnehin an den Sitzun- gen teilnehmen. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Mitarbeit in einer solchen Kommission für die Abgeordneten eine Mehrfachbelastung darstellt. Sie dürfen weder ihren Wahlkreis noch Ausschusstätigkeiten vernachlässigen. Ueberhorst stellte inso- fern eine Ausnahme dar, als er in keinem anderen Ausschuss saß. Er war stets bestens vorbereitet, führte viele Gespräche und schrieb zahlreiche Briefe, um die Arbeit des Gremiums entsprechend einzufädeln.454

c. Berufener externer Sachverstand

Die Bandbreite der von den Sachverständigen vertretenen Meinungen zur Ener- giefrage war ebenso facettenreich wie die von ihnen vertretenen Disziplinen. Eine zu grobe Linie zwischen Kritikern und Befürwortern der Kernenergie sollte nicht gezogen werden und würde aus verschiedenen Gründen zu kurz greifen: Erstens waren die Kritiker der Kernenergie nicht nur Kritiker eines Energiesys-

452 Paul Gerlach fehlte bei acht von 22 Sitzungen gänzlich und nahm an zwei zweitätigen Sitzun- gen nur an einem Tag teil. 453 Vgl. zum Ruhrkohlenbergbau: Werner Abelshauser, Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wie- deraufbau, Krise, Anpassung, München 1984. 454 Dies hoben alle befragten Zeitzeugen hervor.

113 tems, sondern vor allem auch Befürworter eines anderen. Zweitens waren die Kritiker der Kernenergie dies meist nicht immer gewesen, sondern hatten sich im Laufe ihrer wissenschaftlichen Karriere umorientiert. Insofern ist es für die Un- tersuchung wesentlich, sich den institutionellen Hintergrund der einzelnen Per- sonen zu vergegenwärtigen. Interessanter an dieser Stelle ist: Wer galt damals als Experte? Ein Großteil der Sachverständigen war bereits in der öffentlichen Debatte aufgetreten; einige hatten zuvor das Ministerium für Forschung und Technologie sowie verschiedene Bundestagsausschüsse beraten. Die Arbeitsschwerpunkte der einzelnen Sachverständigen sollten die entsprechenden Aufgabenfelder abde- cken, die in der Kommission zu bearbeiten waren. Sowohl die Verflechtungen der Experten als auch ihre institutionelle Einbindung werden – unter anderem – Hinweise auf die wissenschaftlichen Netzwerke geben, die sie während der Kommissionsarbeit in Anspruch nehmen konnten. Günter Altner hatte sowohl in Biologie als auch in Theologie promoviert und war zunächst Professor für Humanbiologie an der Pädagogischen Hochschu- le Schwäbisch-Gmünd. Es folgte 1977 eine Professur für Evangelische Theolo- gie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie/Sozialethik an der Universi- tät Koblenz-Landau. Anfang der 1970er Jahre war Altner in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, in deren Kuratorium unter anderem Wolf Häfele saß. Geleitet wurde die FESt von Georg Picht, einem Jugendfreund und Weggefährten Carl Friedrich von Weizsäckers. Häfele lud Altner und andere FESt-Mitglieder nach Karlsruhe ein und hielt eine flammende Rede für die Kernenergie. Zu diesem Zeitpunkt war auch Altner noch von der Kernenergie überzeugt. Zweifel kamen ihm nach eigenen Aussagen durch die Proteste der Weinbauern in Wyhl, die sich mit der Eintrittswahrscheinlichkeit nicht zufrieden gaben, sondern auch etwas über das Schadensausmaß hören wollten.455 Ausgehend von diesen Überlegungen begründete er 1977 das Öko-Institut in Freiburg mit. Man darf annehmen, dass er als Vorstandssprecher des Öko- Instituts in der Kommission als Delegierter der Bürgerbewegung saß und ein politisches Mandat hatte.456 Das Institut hatte unter der Leitung von Hartmut Bossel457 ein Energieversorgungsszenario entwickelt; Bossel wurde auch in der Kommission angehört. Diese Erkenntnisse flossen weitgehend in den Pfad vier des Kommissionsberichtes ein. Die wissenschaftlichen Ressourcen des Instituts konnte Altner während der Kommissionsarbeit nutzen. Aufgrund seines wissen-

455 Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 456 Vgl.: Günter Altner/Inge Schmitz-Feuerhake (Hg.), Die Gefahr der Plutoniumwirtschaft. Der „Schnelle Brüter“. Die nächste Auseinandersetzung in der Energiediskussion, Frankfurt am Main 1979. 457 Bossel/Krause/Müller-Reissmann, Energiewende.

114 schaftlichen Hintergrundes sah er sich selbst bei vielen Themen, die in der Kommission behandelt wurden, in der Nähe der Abgeordneten.458 Altner gehörte der SPD „seit langen Jahren mit Bauchschmerzen“459 an. Adolf Birkhofer galt als kernenergiebefürwortender Experte für Sicher- heitsfragen zur Kerntechnik. Der studierte Elektrotechniker war seit 1975 ordent- licher Professor für Reaktordynamik und Reaktorsicherheit an der Technischen Universität München. Er erreichte 1977 den Zusammenschluss des Laboratori- ums für Reaktorregelung und Anlagensicherheit der TU München mit dem Insti- tut für Reaktorsicherheit Köln zur Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicher- heit, die er bis 2001 leitete. Durch sein Engagement in der Reaktor- Sicherheitskommission, die seit 1972 das Bundesministerium des Inneren und seit 1986 das Bundesministerium für Umwelt in Sicherheitsfragen berät, war ihm die Rolle des Beraters vertraut, und er hatte zahlreiche Kontakte zu Abgeordne- ten und Mitarbeitern der Ministerien;460 zum Fraktionsvorsitzenden der Union, Helmut Kohl, hatte er darüber hinaus persönliche Kontakte, da sie in direkter Nachbarschaft aufgewachsen waren. Der Träger des Otto-Hahn-Preises von 1976 leitete die probabilistische Sicherheitsanalyse Deutsche Risikostudie Kernkraft- werke 461, die das BMFT in Auftrag gegeben hatte. Während der Kommissions- arbeit konnte Birkhofer auf die Ressourcen seines Instituts und der GRS zurück- greifen. Als Sicherheitsexperte auf der kernenergieskeptischen Seite galt Dieter von Ehrenstein. Er hatte an der Universität Heidelberg promoviert und war danach als Physiker am Argonne National Laboratory (USA) tätig. Nach einer Professur an der Northern Illinois University (USA) lehrte von Ehrenstein ab 1972 Expe- rimentelle Physik an der neu gegründeten Universität Bremen. Für das BMFT hatte von Ehrenstein vor der Berufung in die Enquete-Kommission Gutachten geschrieben; er war beispielsweise bei einem Gespräch über den Schnellen Brü- ter im BMFT als Kernenergieskeptiker eingeladen.462 Von Ehrenstein konnte an- scheinend nicht auf Ressourcen der Universität Bremen zurückgreifen, denn er gab den ‚unterschiedlichen technisch-administrativen Hintergrund‘ der ver- schiedenen Sachverständigen zu bedenken, als es um die Verwendung der

458 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10. Januar 1980, S. 10/61. 459 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an Schäfer, 12. Oktober 1980. 460 Vgl. z.B.: PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Stenographisches Proto- koll der 11. Sitzung, 14. September 1977. 461 GRS (Hg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten Risiko, Hauptband, Köln 19802. 462 Vgl.: Dieter von Ehrenstein/Joachim Wichert/Robert A. Dickler, Energie und Energiebedarfs- forschung. Tagung des BMFT und des Projekts Kernenergie der Universität Bremen (Argu- mente in der Energiediskussion Bd. 2), Villingen 1977.

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Sekretariatsmittel ging. Er bat darum, ‚die unterschiedliche materielle und perso- nelle Ausstattung‘ bei der Arbeitsverteilung zu beachten.463 Wolf Häfele galt in diesen Tagen als ‚Atompapst‘ und ‚Vater des Brü- ters‘464. Er kam aus der Gruppe um Werner Heisenberg am Max-Planck-Institut in Göttingen, einem wichtigen Zentrum der frühen bundesdeutschen Atompoli- tik.465 Der theoretische Physiker hatte bei Carl Friedrich von Weizsäcker promo- viert. Von 1960 bis 1972 war Häfele Projektleiter des Schnellen Brüters. Bis 1980 leitete er das Energieprogramm am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg. Hier entstand Energy in a Finite World 466, die Studie, die verschiedene Energieszenarien systemanalytisch unter- suchte. Ab 1980 war Häfele Vorstandsvorsitzender der Kernforschungsanlage Jülich. Auf beratender Ebene war er verschiedentlich tätig, so hatte er die Bun- desregierung in Angelegenheiten des Atomwaffensperrvertrages und in damit zusammenhängenden Fragen der internationalen Kontrolle nuklearen Materials unterstützt. Entsprechend weit gefächert waren die Ressourcen, auf die er zu- rückgreifen konnte. Als Vertreter der Energieversorgungsunternehmen saß Klaus Knizia in der Kommission. Der Recklinghausener hatte an der Technischen Hochschule Karlsruhe studiert und 1958 promoviert; sein Studium finanzierte er sich unter Tage; damit hatte er praxisorientierte Erfahrungen im Bergbau. Die Universität Dortmund ernannte ihn 1975 zum Honorarprofessor. Im selben Jahr übernahm er bis 1992 den Vorstandsvorsitz der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG (VEW) und war Vowe zufolge Sprecher der ‚Betreiber von Großkraftwerken‘.467 Bis zur Fusion mit der RWE im Jahre 2000 war die VEW ein nordrheinwestfäli- sches Energieversorgungsunternehmen mit Sitz in Dortmund. Zu den Reaktoren der VEW gehörte neben dem 1977 stillgelegten Kraftwerk Lingen auch der im Bau befindliche THTR in Hamm-Uentrop. Im Zuge der Planung und des Baus stand Knizia in engem Kontakt zur politischen Ebene, insbesondere zum Minis- terium für Forschung und Technologie. Der THTR war ein Reaktor, der vor allem aufgrund der Verbindung von Kernenergie und Kohleveredelung als ein für Nordrhein-Westfalen zukunftsweisendes Projekt galt. Knizia konnte bei der

463 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/21; vgl. zu den Hinter- gründen: Dieter von Ehrenstein, Gegen den Technokraten-Zeitgeist – Plutoniumindustrie und Reaktorsicherheit, in: Antje Bultmann/Naturwissenschaftler-Initiative „Verantwortung für den Frieden“/DGB-Angestellten-Sekretariat (Hg.), Auf der Abschußliste. Wie kritische Wissen- schaftler mundtot gemacht werden sollen, München 1997, S. 124–145. 464 Vgl. z.B. Personalien: Wolf Häfele 60, in: FAZ, 15. April 1987. 465 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 37. 466 Wolf Häfele (Hg.), Energy in a Finite World. Paths to a Sustainable Future, Cambridge 1981. 467 Vowe, Technik im parlamentarischen Diskurs, FN: A IV 2–6 Nr. 64.

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Kommissionsarbeit auf Mitarbeit aus dem eigenen Hause bauen468, er war Präsi- dent des deutschen Nationalkomitees der Weltenergiekonferenz. Der Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich hat Physik, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte studiert. Er war wie Wolf Häfele Schüler von Carl Friedrich von Weizsäcker, bei dem er in Starnberg promovierte. Seit 1972 be- kleidete er die Professur für Philosophie an der Universität Essen und leitete dort die Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft und Energie (AUGE), die er gegründet hatte. Diese Arbeitsgruppe hatte wie auch das Öko-Institut ein Energieszenario entwickelt. Bereits im Vorfeld hatte Meyer-Abich an Ueberhorst einen Entwurf zur Entwicklung eines ‚Minimum-Kernenergie-Szenarios‘ geschickt, in dem er unter anderem von Ehrenstein für eine Beteiligung vorschlug.469 Für das BMFT hatte er verschiedene Forschungsaufträge erfüllt wie beispielsweise die Studie zum Energiesparen.470 Während der Enquete-Arbeit begann er eine Studie im Auftrag des BMFT mit dem Titel Sozialverträglichkeit verschiedener Energie- systeme.471 Auch in den Medien war er als Energieexperte präsent.472 Zusammen mit Günter Altner hatte er 1975 eine Erklärung abgegeben, in der vor dem unge- prüften Ausbau der Kernenergie gewarnt wurde.473 Sein ‚Steckenpferd‘ war das Thema Energiesparen.474 Die Gewerkschaften waren mit Alois Pfeiffer vertreten, der seit 1975 im Geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB für Wirtschaftspolitik zuständig war. Pfeiffer hatte im Juni 1977 in der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion er- läutert, warum der DGB den Ausbau der Kernenergie befürwortet.475 Am 5. April hatte der DGB-Bundesvorstand eine umfassende Stellungnahme zu Kern- energie und Umweltschutz fertig gestellt. Danach sei schnellstmöglich die Bau- genehmigung für das Entsorgungszentrum zu erteilen, da jede Verzögerung für die Beschäftigten gleich in mehrfacher Hinsicht negative Effekte hätte. Es wurde auf den Zusammenhang zwischen Wachstum, Vollbeschäftigung und Energiebe-

468 Ebd., S. 264. 469 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Meyer-Abich (AUGE) an Ueberhorst, 2 Anlagen, 15. März 1978. 470 Vgl. A.I. 471 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/15; vgl. außerdem: AdsD Depositum Schäfer, Konzeption der Studie „Die soziale Verträglichkeit verschiedener Energie- versorgungssysteme in der industriegesellschaftlichen Entwicklung“ von Meyer-Abich und Weizsäcker, Oktober 1978. 472 Z.B.: Schutzlos gegen Atomterroristen?, in: Der Spiegel Nr. 43, 17. Oktober 1977, S. 28–34; Das Ende der Ölzeit, in: Der Spiegel Nr. 31, 30. Juli 1979, S. 96–103. 473 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an den Bundestag, Zur Notwendigkeit eines Mora- torium – Aufforderung zu einer öffentlichen Diskussion, 16. Januar 1976. 474 Klaus Michael Meyer-Abich, Energiesparen als neue Energiequelle. Wirtschaftspolitische Möglichkeiten und alternative Technologien, München 1977. 475 AdsD 000021, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 13. Juni 1977, S. 1.

117 darf hingewiesen und betont, dass der ‚Erreichung des Vollbeschäftigungszieles‘ absoluter Vorrang beizumessen sei. Insofern sei ein wachsender Beitrag der Kernenergie zur Deckung des Strombedarfs unvermeidbar.476 Oder, wie die Frankfurter Rundschau titelte: „Kernkraft macht Gewerkschaften nicht ban- ge“477. Auf dem Bundeskongress 1978 bekräftigte der Gewerkschaftsbund seine Haltung, dass Kernenergie unverzichtbar sei und die Kernkraftrisiken akzeptiert werden müssten.478 Damit lagen die Gewerkschaften auf einer Linie mit der Re- gierung und der Union. Helmut Schaefer hatte in Karlsruhe Hochfrequenztechnik studiert und ge- hörte zum Team der Forschungsstelle in Karlsruhe, das er auch leitete. 1969 hatte er den Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Kraftwerkstechnik in München aufgebaut. Der Sohn einer evangelischen Pfarrersfamilie hatte sich auf dem Ge- biet der rationellen Energieverwendung und Einsparmaßnahmen profiliert,479 auf dem er seit 1953 arbeitete.480 Auch er hatte zum Beispiel den Bundestagsaus- schuss für Forschung und Technologie zum Problemkreis Kohleveredelung und rationelle Energieverwendung beraten.481 In der Kommission war er vor allem für das Gebiet der Effizienzberechnungen zuständig und konnte das Institut in den Beratungen unterstützend hinter sich wissen.482 Er galt als ‚energieneutraler‘ Sachverständiger. Diese kurze biographische Übersicht lieferte bereits verschiedene Hinweise auf die Verknüpfungspunkte zwischen den Kommissionsmitgliedern. Als erstes ist auf die gemeinsame wissenschaftliche Sozialisation von Meyer-Abich und Häfele hinzuweisen. Carl Friedrich von Weizsäcker, ein jahrzehntelanger Freund von Heisenberg, hatte von der Atomphysik zur Philosophie gewechselt und spielte für den Gedankenaustausch, der über technisches Fachsimpeln zur Kern-

476 AdsD 8435, Brief der Fraktion der SPD im Bundestag von der Pressestelle an alle Fraktions- mitglieder, 14. November 1977; vgl. auch: ebd., Brief von Peter Reuschenbach an die Bundes- tagsfraktionsmitglieder der SPD, 20. Oktober 1977. 477 Kernkraft macht Gewerkschaften nicht bange. Die vom Bundesausschuß des DGB am 5. April beschlossene Stellungnahme zu Kernenergie und Umweltschutz, in: FR, 3. Mai 1977. 478 IG Metall: Kernkraftrisiken müssen akzeptiert werden, in: Sozialdemokratischer Pressedienst Nr. 84, 34. Jahrgang, 6. November 1979, S. 7. 479 Helmut Schaefer/Fichtner GmbH, Systemvergleich Fernwärme-, Erdgasversorgung. Im Auftrag der Ruhrgas AG, Essen 1977; Helmut Schaefer (Hg.), Der Leistungsbedarf und seine Deckung. Analyse und Strategien (Schriftenreihe der Forschungsstelle für Energiewirtschaft), Berlin 1979; Helmut Schaefer (Hg.), Struktur und Analyse des Energieverbrauchs der Bundesrepublik Deutschland, Gräfelfing bei München 1980. 480 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9b/56. 481 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung, 11. Mai 1977. 482 So waren seine Institutsmitarbeiter bei Abstimmungsgesprächen anwesend, z.B.: PA DBT EK VIII, I/A/10, Aktennotiz zur Abstimmung „Sparannahmen“ für Energieszenarien in AF 1, 16. August 1979.

118 energie hinausgeht, eine wichtige Rolle.483 Seine Diskussionsleitung beim Gor- leben-Hearing hatte auch Kernenergiekritiker für ihn eingenommen.484 Von Weizsäcker scheint auch für Diskussionen in seinem eigenen Haus offen ge- wesen zu sein; dort gab es beispielsweise ein Treffen zwischen Lovins und Häfe- le, das über eineinhalb Tage ging.485 Dass die beiden prominentesten Sprecher beider Seiten Mitarbeiter von Weizsäckers waren, bewirkte das gegenseitige Vertrauen, dass keiner die Gespräche zur öffentlichen Bloßstellung des anderen nutzen würde. Ebenso wie Häfele und Meyer-Abich waren auch Schaefer und Knizia Studienkollegen. Ein zweiter Knotenpunkt war der Bergedorfer Gesprächskreis der Körber- Stiftung: In einem Hamburger Vorort trafen sich Wissenschaftler, Politiker und Publizisten, um über die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft zu diskutieren und Ansätze für deren Lösung zu finden. Das Forum sollte die Möglichkeit bie- ten, Ideen auszutauschen, und die anwesenden Politiker sollten aus den Diskus- sionen der Wissenschaftler lernen. Die Historikerin Gabriele Metzler resümierte, der Bergedorfer Gesprächskreis habe „dem politischen Diskurs der Bundesre- publik wichtige Impulse“486 gegeben. An einer Abendveranstaltung zum Thema Energiekrise487 im November 1977 nahmen Dieter von Ehrenstein, Wolf Häfele, Klaus Michael Meyer-Abich, Helmut Schaefer und Reinhard Ueberhorst aus der späteren Kommission teil, aber auch Gutachter des Gremiums wie Rudolf Bennigsen-Foerder. Carl Fried- rich von Weizsäcker war ebenso zugegen wie Ulf Lantzke, Leiter der IEA, Heinz Riesenhuber, späterer Forschungsminister der Kohl-Regierung, sowie Sachver- ständige der Nachfolgeenquete wie Hans K. Schneider. Es ist schon bemerkens- wert, dass fünf Mitglieder der Kommission sich bereits in diesem Forum begeg- net sind und miteinander diskutierten. Das spricht dafür, dass in das Gremium diskursgewichtige Akteure berufen wurden. Bemerkenswert ist außerdem, dass

483 Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 37. 484 Hatzfeldt, Hermann Graf/Hirsch, Helmut/Kollert, Roland (Hg.), Der Gorleben-Report. Unge- wißheit und Gefahren der nuklearen Entsorgung. Auszüge aus den Expertenberichten und dem Hearing der Niedersächsischen Landesregierung. Ein Band in der Publikationsreihe des Öko- Instituts, Frankfurt am Main 1979, S. 14; Tiggemann, Die „Achillesferse“ der Kernenergie, S. 616. 485 PA DBT EK VIII, I/S/8, Brief von Häfele an von Weizsäcker betr. Lovins vom 11. Juli 1979, 22. August 1979. 486 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, S. 259; zur Konzeption der Bergedorfer Ge- sprächskreise: ebd., S. 253–259. 487 Energiekrise – Europa im Belagerungszustand? Politische Konsequenzen aus einer eskalieren- den Entwicklung, 58. Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises, Hamburg 13. November 1977, (20. Januar 2008).

119 bereits im Juli 1974 das Thema Rohstoff- und Energieverknappung488 behandelt wurde, aber keiner der späteren Protagonisten daran teilgenommen hatte. Dies kann auf eine personelle Verschiebung innerhalb des Expertisekreises hinweisen – allein der Wechsel der Akteure weist auf einen deutlichen Wandel der Diskus- sion um Energie hin. Als dritter Punkt sind Beratungssituationen bei Ministerien und in Bundes- tagsausschüssen zu nennen. Von Ehrenstein, Häfele und Ueberhorst nahmen im Mai 1977 am Expertengespräch ‚Schneller Brüter‘ teil489 – um nur ein Beispiel zu nennen. Ein vierter Punkt ist die Klammer des theologischen Interesses, das vor al- lem von Ehrenstein, Häfele, Altner und Meyer-Abich miteinander verband.490 Ein institutionalisiertes Beispiel mag die FESt sein. Vor dem Hintergrund des- sen, dass bei den Auseinandersetzungen der 1970er Jahre Bischöfe und Pfarrer Vermittlerrollen einnahmen, ist dieser Faktor durchaus ernst zu nehmen – wenn auch nur als eine Facette im Puzzle. Direkt im Vorfeld der Kommissionsarbeit waren zwei spätere Mitglieder während des Gorleben-Hearings aufeinander getroffen, nämlich Dieter von Eh- renstein und Klaus Knizia. Außerdem finden sich auf der Teilnehmerliste Rein- hard Ueberhorst, Gutachter der Enquete-Kommission wie Amory Lovins und Paul Sieghart sowie eines der Mitglieder der Nachfolgeenquete, Wolfgang Stoll.491 An dieser Stelle sind zwei Dinge festzuhalten: Zum einen waren zahlreiche Mitglieder im Vorfeld miteinander bekannt oder haben zusammengearbeitet, zum anderen handelte es sich bei den berufenen Sachverständigen um Wissen- schaftler, die bereits als Experten fungiert hatten und in der Debatte sichtbar waren. Bei allen Gemeinsamkeiten sollte nicht vergessen werden, dass bereits der Habitus im Auftreten disparat war. Erschien Häfele im Anzug zu den Sitzun- gen, trug Altner die Strickjacke492 – das Symbol der Linksalternativen.

488 Rohstoff- und Energieverknappung – Herausforderung der Industriegesellschaft?, 48. Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises, Hamburg 1. Juli 1974, (20. Januar 2008). 489 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Anlage 2 zum Protokoll der 9. Sit- zung: Bundesminister für Forschung und Technologie, Pressemitteilung Expertengespräch „Schneller Brüter“ am 19. Mai 1977 in Bonn, 25. Mai 1977. 490 Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 491 Hatzfeldt/Hirsch/Kollert, Der Gorleben-Report, S. 199–205. 492 Gespräch mit Altner, Berlin am 17. März 2008; zur ‚Stilfrage‘ vgl.: Jens Ivo Engels, „Politi- scher Verhaltensstil“: Vorschläge für ein Instrumentarium zur Beschreibung politischen Ver- haltens am Beispiel des Natur- und Umweltschutzes, in: Ders./Franz-Josef Brüggemeier (Hg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt am Main 2005, S. 184–202.

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Neben den direkt berufenen Sachverständigen ließen sich die Fraktionen zusätzlich und semioffiziell von Sachverständigen aus ihrem ‚Parteiennetzwerk‘ beraten. Die Union nahm beispielsweise die Dienste von Hans Michaelis in An- spruch, der unter anderem Formulierungsvorschläge für den Bericht der Kom- mission an die Unions-Mitglieder sandte.493 Für Stavenhagen war diese zusätzli- che Beratung wichtig; er schätzte den Sachverstand von Michaelis sowie seine Verbindungen.494 Hintergrund für eine vertragliche Regelung war vermutlich, dass Michaelis informell gefragt worden war, ob er Interesse an einem Platz in der Kommission habe, aber nicht auf der Berufungsliste stand. Er erhielt einen Beratervertrag der als eine Art ‚Trostpflaster‘ fungierte, andererseits stand Mi- chaelis so für eine eventuelle Verlängerung der Kommission zur Verfügung. Es ist anzunehmen, dass sich auch die Abgeordneten der anderen Parteien entsprechend zusätzlich informierten; eine vergleichbare vertragliche Regelung war allerdings nicht zu finden.

d. Der Katalysator: Das Sekretariat

Der Sachverstand der Kommission wurde maßgeblich ergänzt durch den wissen- schaftlichen Stab im Sekretariat der Enquete-Kommission. Der Einfluss des Sekretariats auf die Kommissionsarbeit wird in der Literatur leicht bagatelli- siert.495 Insbesondere im Falle der Enquete-Kommission Zukünftige Kern- energie-Politik ist genauer hinzusehen, zumal es die erste Kommission war, die dem Sekretariat einen wissenschaftlichen Stab angliederte. Bis dahin wurden schlicht drei bis vier Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste rekrutiert.496 Reinhard Ueberhorst betonte jedoch, dass in diesem Falle die Materialfülle in der vorgegebenen Zeit ohne zusätzliche wissenschaftliche Unterstützung nicht zu be- wältigen sei.497 Aufgrund des Bedarfs an fachkundigem Personal hatte der Vor- sitzende einen entsprechenden Antrag bei der Bundestagsverwaltung gestellt, um auch Mitarbeiter aus externen wissenschaftlichen Einrichtungen für das Sekreta- riat gewinnen zu können. Dieser sei von der damaligen Vize-Bundestags-

493 ACDP I–547–010/1, Brief von Michaelis an Gerlach, Gerstein und Stavenhagen, 4. Mai 1980. Zum Beratervertrag: ACDP 010/1, Vertrag zwischen der Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag und Herrn Prof. Dr. Hans Michaelis, 13. September 1979. 494 ACDP I–547–009/4, Brief von Stavenhagen an Kohl, 15. März 1979. 495 Z.B. Betonung der Informationsgewinnung und Verwaltung: Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 33; keine nähere Beschreibung: Braß, Enquete-Kommissionen im Spannungsfeld. 496 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 238, 243. 497 Ebd., S. 243.

121 präsidenten , die wie Ueberhorst aus dem Wahlkreis Pinne- berg kam, sofort unterstützt worden.498 Üblicherweise werden die Sekretariatsmitarbeiter – auch diejenigen, die aus den Wissenschaftlichen Diensten kommen – auf Vorschlag der Fraktionen beru- fen und unterliegen wie die Sachverständigen dem parlamentarischen Konkur- renzsystem. Sie werden auf Tickets von Parteien oder Gewerkschaften hin einge- setzt. Im Falle der Zukünftigen Kernenergie-Politik gab es wohl Vorschläge von den Sachverständigen. Zunächst war allerdings nicht klar, wie das Sekretariat besetzt werden sollte. Auf der zweiten Sitzung der Enquete-Kommission stellte Ueberhorst die Sekretariatsmitarbeiter aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages vor. Dabei erwähnte er, dass es vermutlich noch eine weitere exter- ne Person geben werde. Stavenhagen veranlasste dies zu der Warnung, „das Sekretariat zu einer Versammlung von Vertretern der verschiedenen Interessen- gruppen zu machen.“499 Bald darauf war klar, dass mehrere externe Mitarbeiter eingestellt werden könnten. Die Frage, wie das Sekretariat organisiert werden sollte, wurde von der Kommission ganz grundsätzlich erörtert: Eine Variante war, dass jedem Mitglied ein bis zwei Assistenten zur Seite gestellt werden sollten. Hintergrund dieser Idee, die unter anderem von Dieter von Ehrenstein kolportiert wurde, war, dass er an der Universität Bremen keine Assistenten habe, und daher für ihn das zu- sätzliche Arbeitspensum nur mit Hilfe eines Mitarbeiters zu erledigen sei; ein Vorteil wurde darin gesehen, dass die Assistenten am eigentlichen Arbeitsort des jeweiligen Kommissionsmitglieds – also in diesem Fall in Bremen und nicht in Bonn – anwesend seien. Ähnlich hat wohl auch Pfeiffer argumentiert. Ueberhorst hielt diese Idee nicht für zweckmäßig und schlug vor, die erforderli- chen Mitarbeiter in einem wissenschaftlichen Stab beim Sekretariat der Kom- mission zusammenzufassen. Nach seiner Vorstellung sollten die Mitarbeiter mit Zeitverträgen eingestellt werden und „als Experten möglichst alle Felder der Kommission abdecken“500. Stavenhagen unterstützte den Vorschlag, zumal im Haushaltsausschuss und auch in der Bundestagsverwaltung mutmaßlich nur eine Erweiterung des Sekre- tariats durchsetzbar sei, aber keine Finanzierung von Mitarbeitern an einem an- deren Ort. Ueberhorst schloss die Diskussion mit dem Bedenken, dass es „in der Öffentlichkeit auch einen schlechten Eindruck machen [würde], wenn zunächst bekannte Sachverständige in die Kommission berufen werden und diese dann sofort wiederum ihrerseits Wissenschaftler zu ihrer Beratung und Zuarbeit ein-

498 Gespräch mit Reinhard Ueberhorst, Elmshorn 20. April 2007. 499 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/3. 500 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/32ff.

122 stellen wollen: Begründbar und durchsetzbar sei dagegen ein zentraler wissen- schaftlicher Stab mit etwa sechs Mitarbeitern für die gesamte Kommission.“501 Der wissenschaftliche Stab im Sekretariat wurde aufgebaut, nachdem die Kommission konstituiert war, und auf der vierten Sitzung den Kommissionsmit- gliedern vorgestellt.502 Letztlich hatte das Sekretariat sechs Mitarbeiter aus dem Umfeld des Bundestages sowie sieben externe wissenschaftliche Mitarbeiter. Wie auf der Kommissionsebene gab es folglich auch auf der Sekretariatsebene interne und externe Mitglieder. Der Leiter des Sekretariats, Regierungsdirektor Klaus Schmölling, gehörte den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages an.503 Schmölling war Sekre- tär in einem Bundestagsausschuss und hatte sich durch verschiedene andere Projekte im Energiebereich profiliert. Ursprünglich wollte Ueberhorst das Se- kretariat von einem externen Wissenschaftler leiten lassen. Es soll feste Abspra- chen zunächst mit Jochen Benecke und dann mit Helmut Hirsch gegeben ha- ben.504 Offenbar erlaubte die Geschäftsordnung eine solche Konstruktion aber nicht. Neben Schmölling stellten die Wissenschaftlichen Dienste noch zwei Sachbearbeiter sowie drei Verwaltungsangestellte.505 Die Mitarbeiter des wissenschaftlichen Stabes setzten sich aus jungen auf- strebenden Wissenschaftlern zusammen: In der alphabetischen Reihenfolge ist zunächst Ludger Backhaus zu nennen. Der Jurist hatte sich mit rechtlichen Fra- gen zum Thema Kernenergie auseinandergesetzt.506 Rolf Bauerschmidt507 hatte seine Doktorarbeit bei Eduard Pestel geschrieben, einem der Mitbegründer des Club of Rome. Bauerschmidt selbst hatte das von Pestel geleitete Institut für angewandte Systemforschung und Prognose Hannover mitbegründet und am

501 Ebd., S. 3/34. 502 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 8. September 1979, S. 4/5. 503 Vowe zufolge war Schmölling ein Kernenergiebefürworter: Vowe, Technik im parlamen- tarischen Diskurs, FN 311, S. A IV 2–28. Dies zeigt, dass die von Altenhof festgestellte „un- geschrieben parlamentarische Regel“ für diese Enquete-Kommission nicht zutreffend ist, dass der Stabsleiter dem Kommissionsvorsitzenden politisch nahe stehe, vgl.: Altenhof, Die En- quete-Kommissionen, S. 238. Zunächst leiteten Mielke und Schmölling das Sekretariat gemein- sam, Mielke schied aber auf eigenen Wunsch aus dem Sekretariat wieder aus. PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/3. 504 Gespräch mit Reinhard Ueberhorst, Elmshorn 30. Mai 2008. 505 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 12. 506 Ludger Backhaus, Verfassungsrechtliche Fragen des Vorlagebeschlusses des Ober- verwaltungsgerichtes Münster im Kalkar-Verfahren, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 27/1977, S. 801–803. Ludger Backhaus ist heute Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Köln. 507 Rolf Bauerschmidt, Wirtschaftswachstum ohne Energiewachstum?, in: Wirtschaftsdienst 58/1978, S. 336–338.

123 zweiten Bericht an den Club of Rome sowie am Deutschland-Modell508 mitgear- beitet. Außerdem war er während eines Forschungsaufenthaltes am IIASA in Wien im Bereich Management und Innovation tätig. Der Chemiker Ulrich Höpf- ner hatte das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (IFEU) mitbegründet. Vom Kernforschungszentrum Karlsruhe kam Peter J. Jansen, ein Schüler Häfeles, der zusammen mit Bauerschmidt vor allem für die Pfadberech- nungen zuständig war. Klaus Kasper war Reaktortechniker und hatte zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kernforschungsanlage Jülich gearbeitet und war seit April 1978 im Dienste der RWE. Ebenfalls aus Jülich kam Her- mann-Josef Wagner. Manfred Schneider war wohl von Birkhofer vorgeschlagen worden und arbeitet bei der GRS. Er war vor allem für die Thematik Reaktorsi- cherheit zuständig. Die externen Mitglieder des wissenschaftlichen Stabes waren während ihrer Arbeit für die Kommission von sonstigen Aufgaben freigestellt. Außerdem wa- ren sie in Bonn angesiedelt und im Gegensatz zu den externen Sachverständigen, die größtenteils nur zu den Sitzungen und zu Gesprächen anreisten, dauernd anwesend und bei Anfragen von Ministerialen oder der Presse in den Büros an- zutreffen. Der Stab funktionierte im Prinzip wie ein ‚super anpassungsfähiger wissenschaftlicher Dienstleister‘509. Ein Großteil der wissenschaftlichen Detail- arbeit fand in diesem Rahmen statt. Es ist davon auszugehen, dass die Empfeh- lung der Kommission über grundsätzliche Gedanken zur Energieversorgung nicht hinausgegangen wäre – vermutlich wäre auch der Kompromiss nicht zu- stande gekommen.510 War die Arbeit des Stabes entsprechend wichtig für die Empfehlung der Kommission, so ist doch im Auge zu behalten, dass die inhaltli- che Diskussion, die den Weg für den Kompromiss ebnete, von den Sachverstän- digen und Abgeordneten zu leisten war. Während die Mitarbeiter des Sekretariats vor allem für organisatorische und verwaltende Aufgaben zuständig waren, arbeiteten die Mitarbeiter des wissen- schaftlichen Stabes inhaltlich. Informationen wurden gesammelt sowie Vorlagen und Synopsen erstellt. Beispielsweise erarbeitete der wissenschaftliche Stab Vorlagen zur Strukturierung und Durchführung der Kommissionsarbeit und befragte dazu zunächst die Mitglieder über ihre Vorstellungen zu den Themen.511

508 Eduard Pestel u.a., Das Deutschland-Modell. Herausforderungen auf dem Weg ins 21. Jahr- hundert, Stuttgart 1978. 509 Gespräch mit Hariolf Grupp, Karlsruhe 20. Juni 2008. 510 Die Arbeit des Stabes ließ sich in erster Linie über Zeitzeugengespräche rekonstruieren, da es über die Arbeit weder Protokolle noch sonstige Dokumente gibt, die Einblicke in die Arbeits- organisation erlauben. 511 PA DBT EK VIII, Materialbände Ordner 4, Aktennotiz über Besprechung des Vorsitzenden mit dem wissenschaftlichen Sekretariat, 6. August 1979.

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Die Mitarbeiter des wissenschaftlichen Stabes waren grob bestimmten Ar- beitsfeldern zugeordnet. Waren beispielsweise Jansen und Bauerschmidt vor allem für die Energieszenarien zuständig, beschäftigten sich Höpfner, Schneider und Wagner mit Risiken und Kriterien. Auffällig ist, dass Jansen in allen Ar- beitsfeldern außer Risiken und Kriterien vertreten war. Die wissenschaftlichen Sekretariatsmitarbeiter standen im ständigen Aus- tausch mit den Experten der Kommission und diskutierten Zwischenergebnisse sowie offene Fragen.512 Auch führten sie Gespräche mit externen Institutionen oder Wissenschaftlern wie beispielsweise der Prognos AG zum Thema Struk- turwandel der deutschen Wirtschaft.513 Einmal pro Woche traf sich der Stab mit dem Kommissionsvorsitzenden. Institutionell gesehen ist es wichtig zu wissen, dass die Sekretariatsmit- glieder üblicherweise kein Rederecht in den Kommissionssitzungen hatten. Dies wurde von Ueberhorst relativ frei gehandhabt, so konnte zum Beispiel Jansen – nachdem in der Kommission niemand Widerspruch einlegte – die Pfad- berechnungen selbst vorstellen. Bauerschmidt und Jansen diskutierten an- schließend die Ergebnisse und Vorgaben im Plenum mit den Kommissions- mitgliedern.514 Alle Vorlagen der Kommission durchliefen zunächst das Sekretariat. Es gab verschiedene Verteiler, einen für die Sekretariatsebene (S), einen für die Arbeits- gruppenebene (A) und einen für die Kommissionsebene (K). Als Kommissions- drucksachen sollten nur die Papiere firmieren, die von mindestens einem Kom- missionsmitglied vorgeschlagen worden waren.515 Außerdem wurde beschlossen, dass Studien und schriftliche Stellungnahmen der Kommission und ihrer Ar- beitsgruppen nicht vor ihrer Beratung in der Kommission an Dritte weitergege- ben werden durften. Falls ein Papier verbreitet würde, dann nur mit dem vorheri- gen Einverständnis des Autors und unter seinem Namen – es sei denn, es sei von der Kommission verabschiedet worden.516

512 Vgl. z.B.: PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Besprechungsvermerk der Arbeitsgruppen- sitzung, 5. Juli 1979. 513 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Vermerk der Besprechung zum Strukturwandel der deutschen Wirtschaft bei der Prognos AG Basel, 8. November 1979. 514 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Januar 1980. 515 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/4. 516 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 8. September 1979, S. 4/5f.

125 e. Arbeitsweise und externe Gutachten

Die Arbeit der Kommission lässt sich in vier Phasen einteilen. Die ersten drei Sitzungen dienten vor allem der Klärung von Organisations- und Verfahrens- fragen sowie der Erarbeitung eines Arbeitsprogramms. In dieser Zeit wurde das Sekretariat aufgebaut und über mögliche Anhörungen diskutiert. Nach der par- lamentarischen Sommerpause begann am 7. September 1979 der Einstieg in die Beratung der einzelnen Arbeitsfelder. Dies mündete in der 11. Sitzung am 11. Februar 1980 in der Strukturierung des Berichtes – der Phase, in der der eigentli- che Kompromiss ausgehandelt wurde. Vom 14. April bis zum 25. Juni, der 16. bis 22. Sitzung, wurden die einzelnen Berichtsteile verabschiedet. In dieser Zeit wurde die Empfehlung für den Bundestag im Einzelnen beschlossen. Enquete-Kommissionen bilden üblicherweise Arbeitsgruppen beziehungs- weise Unterkommissionen.517 Diese sind besetzt mit den Sachverständigen, die für das jeweilige Thema ausgewiesen sind, dem Vorsitzenden sowie Sekretariatsmitgliedern, die hier volles Rederecht besitzen.518 In den Arbeits- gruppen wurden die entscheidenden Vorarbeiten geleistet; hier wurden die Kommissionssitzungen vorbereitet, Dissenslinien ausgelotet und bereits im Vor- feld – also im kleinen Kreis – versucht, Kompromisse zu finden, die für die Ge- samtkommission in Frage kommen könnten. Dabei wurde das jeweilige Thema strukturiert und Vorlagen für die Kommissionssitzungen erstellt. Um die unter- schiedlichen Meinungen in der Kommission gleichberechtigt berücksichtigen zu können, wurde bei der Benennung der Berichterstatter auf ein numerisches Gleichgewicht geachtet.519 Die Auslagerung dieser Verständigungsversuche aus der Gesamtkommission war wohl wichtig für die Einigung im Großen.520 Die Kommunikation verlief folglich vor allem indirekt.

517 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 220; Ismayr, Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, S. 34. 518 Vgl. z.B.: PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Besprechungsvermerk zur 2. Arbeits- gruppensitzung, 7. August 1979. 519 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/8. 520 Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 4. Juni 2007.

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direkt indirekt

Autor Sekretariat/Vorsitzender Sachverständige der Kommission jeweilige Arbeitsgruppe Überarbeitung durch Autor Kommissionssitzung

Fig. 3: Der Weg einer Vorlage

Entsprechend den sieben Themenfeldern bildete die Zukünftige Kernenergie- Politik sieben Arbeitsgruppen. Insgesamt wurden 24 Arbeitsgruppensitzungen abgehalten, dabei gab es zwei Schwerpunkthemen, die Energiepfade (I) und das Thema Sicherheit und Risiko (II). Die beiden Arbeitsgruppen trafen sich jeweils neunmal. Siebenmal traf sich die Gruppe zur Frage der Brutreaktortechnologie (IV), fünfmal diejenige zur Entsorgungsfrage (V) und einmal die Gruppe zur Entwicklung der Kriterien (III). Da sich die Arbeitsfelder Risiken (II) und Krite- rien (III) größtenteils überschnitten, wurden sie gemeinsam behandelt. Ueberhorst betonte auf der zweiten Sitzung der Kommission: „Die Berichte [der einzelnen Arbeitsgruppen, C.A.] sollten keine großen akademischen Studien darstellen.“521 Neben den Arbeitsgruppensitzungen waren vermutlich die Gespräche für den Aushandlungsprozess entscheidend, die der Vorsitzende mit den Sachver- ständigen einzeln führte, sowie die Gespräche, die die Sachverständigen unterei- nander und auch mit Abgeordneten führten. Hier wurden die entsprechenden Einigungslinien abgeklopft.522 Die gesamte Kommission traf sich bei 22 Sitzungen, 10 davon waren zwei- tägig. In den Sitzungswochen des Bundestages wurde montags eine eintägige, in den sitzungsfreien Wochen jeweils eine zweitägige Sitzung abgehalten. Die

521 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/21. 522 Diesen Schluss lassen die Zeitzeugengespräche zu, z.B.: Gespräch mit Klaus Michael Meyer- Abich, Hamburg 31. Juli 2008; Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 4. Mai 2007; Telefon- gespräch mit Wolf Häfele, 24. April 2006.

127 zweitägigen Treffen boten den Vorteil, dass am Abend beim inoffiziellen Bei- sammensein eine erweiterte Form der Zusammenarbeit zwischen den Kommissi- onsmitgliedern möglich war. Zu den Teilnehmern an den Sitzungen zählten neben den Mitgliedern der Kommission und des Sekretariats auch Vertreter der Bundes- und der Länderre- gierungen. Anfangs wurde diskutiert, die zuständigen Referenten aus den Frakti- onen und die persönlichen Assistenten der Kommissionsmitglieder teilnehmen zu lassen. Stavenhagen wandte sich jedoch gegen die Anwesenheit von Assisten- ten, da die Gruppe dann noch unübersichtlicher werde, als sie schon sei.523 Kurze Zeit später erließ der Bundestagspräsident eine Regelung, dass Assistenten der Fraktionen an nichtöffentlichen Sitzungen der Kommission generell nicht teil- nehmen durften.524 Neben den bereits im Vergleich zu vorherigen Enquete-Kommissionen exorbitanten Wissensquellen innerhalb der Kommission und im wissen- schaftlichen Stab des Sekretariat nahm die Zukünftige Kernenergie-Politik auch in Bezug auf zusätzliche Gutachten und Anhörungen eine Vorreiterrolle ein. Gutachten zum Beispiel hatten die Vorgänger-Kommissionen gar nicht ein- geholt.525 Im Haushalt des Bundestages 1979 wurden der Enquete 100.000 DM für externe Gutachten und Anhörungen bereitgestellt.526 Auf der zweiten Sitzung diskutierten die Mitglieder des Gremiums erste Vorschläge in den verschiedenen Arbeitsbereichen.527 Vorbereitet wurden die Anhörungen durch Fragenkataloge, gemeinsam erstellt vom Sekretariat und den Berichterstattern, die den Anzuhö- renden im Vorfeld zugesandt wurden.528 Die Berichterstatter der einzelnen Ar- beitsfelder entschieden unabhängig von der Kommission, ob sie von den exter- nen Gutachtern schriftliche Stellungnahmen anforderten oder nicht. Bei Anhörungen wollte die Kommission von Fall zu Fall entscheiden.529 Diese zu- sätzliche Expertise hatte den Sinn, ‚Wissenslücken‘ in der Kommission zu fül- len,530 da das notwendige Spektrum nicht in allen Bereichen abgedeckt werden konnte; zum Beispiel war im Gremium kein Wirtschaftssachverständiger vertre-

523 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/4. 524 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 8. September 1979, S. 4/5. 525 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 226. 526 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/4. 527 Ebd., S. 2/18–2/21. 528 Z.B.: PA DBT EK VIII, II/S/14, Zusammenstellung von Fragen zum Thema „Strahlenrisiko“, 15. Januar 1980; oder beispielsweise in der Nichtöffentlichen Anhörung zur „Struktur- entwicklung der deutschen Wirtschaft und deren Auswirkung auf den Energiebedarf“: PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979. 529 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/10. 530 So Ueberhorst: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/15.

128 ten. Bereits bei der Einsetzung der Kommission wurde betont, dass die Kommis- sion die Möglichkeit haben solle, externe Sachverständige zu Rate zu ziehen.531 Neben Wissenschaftlern wurden Mitarbeiter der Ministerien bis hin zum Minis- ter für Forschung und Technologie Volker Hauff und Akteure aus der Wirtschaft befragt. Ein weiterer Baustein zur Sammlung von Informationen waren Reisen, die teils von Delegationen der Kommission, teils von Einzelpersonen unternommen wurden. Eine dieser Informationsreisen ging beispielsweise nach Wien zur Inter- nationalen Atomenergie Agentur (IAEA) und zum IIASA. Wie bei allen Enquete-Kommissionen tagte das Gremium weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Energie-Enquete begründete dies damit, dass unter dieser Voraussetzung die Diskussionen „sehr offen“ gestaltet würden und damit „gegenseitiges Verständnis“ und eine „Annäherung der verschiedenen Standpunkte“532 ermöglichten. Lediglich der Teil einer Anhörung, der von Amory Lovins und Hans Schneider, war öffentlich.533 Der WDR berichtete über diese Sitzung und begann die Sendung, wie Gerstein in der darauf folgenden Kommissionssitzung berichtete, mit dem Hinweis auf Häfeles angebliche Weige- rung, mit Lovins zu diskutieren. Dass dies eine absurde Unterstellung gewesen sein muss, wird deutlich, wenn man an das Treffen zwischen Häfele und Lovins im Hause Carl Friedrich von Weizsäckers denkt. Häfele selbst zeigte sich wenig überrascht und sah auch keine Veranlassung zu offiziellen Schritten in dieser Sache. Stavenhagen schlug daraufhin vor, derar- tige ‚Experimente‘ künftig zu unterlassen, was allerdings dem bestehenden Be- schluss widersprach, eine öffentliche Anhörung zum Thema Energiesparen ab- zuhalten, wie Ueberhorst zu bedenken gab.534 Letztlich wurde auch diese Sitzung auf Wunsch der Arbeitsgruppe unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten. Die zugrunde gelegten Papiere sollten jedoch mit Zustimmung der Autoren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.535 Ansonsten versuchte der Vorsitzende, in Pressemitteilungen über den Fort- gang der Arbeit zu informieren.536 Die Kommissionsmitglieder selbst haben sich unabhängig davon immer wieder medial zu Wort gemeldet; unter den Sachver-

531 PA DBT PlPr. VIII/145, 29. März 1979, S. 11665. 532 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 21; vgl. allgemein zu Anhö- rungen in Enquete-Kommissionen: Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 12. 533 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung (Nachmittagssitzung), 1. Dezember 1979. Während der Vormittag nichtöffentlich war und Schneider und Lovins Stellungnahmen abgegeben hat- ten, bestand der Nachmittag vor allem in Nachfragen und Diskussion. 534 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 11. Januar 1980, S. 10/6f. 535 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 7. 536 Z.B.: PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Pressemitteilung über die Kommissionssitzung vom 7./8. September 1979.

129 ständigen nehmen Günter Altner und Klaus Knizia wohl eine Vorreiterrolle in der medialen Strahlkraft ein.537 Allerdings führte die mediale Aufbereitung bis- weilen zu Unstimmigkeiten unter den Kommissionsmitgliedern; beispielsweise fand sich in der Süddeutschen Zeitung Ende November 1979 ein Artikel, in dem behauptet wurde, dass die Experten sich darauf einigen könnten, Kernenergie sei ab 2030 nicht mehr notwendig. Damit konnte sich unter anderem Helmut Schae- fer nicht identifizieren und forderte den Vorsitzenden auf, eine allgemeingültige Regelung zum Umgang mit den Medien zu finden. Um ungleichgewichtige Stel- lungnahmen wie diese zu vermeiden, beschloss die Kommission, einen Mitarbei- ter der Pressestelle des Parlamentes zu den Sitzungen einzuladen, der über den Sitzungsverlauf Bericht erstatten sollte.538 Die Öffentlichkeit wurde ausdrücklich aufgefordert, Anregungen für die Arbeit der Kommission zu geben. Ueberhorst versicherte in einer Gremiensit- zung, dass die „Vorschläge und Bedenken“ zur Kernenergie aufgegriffen und sorgfältig geprüft würden.539 Ein Beispiel dafür mag ein Treffen mit Vertretern des BBU sein, das im Anschluss an die Kommissionssitzung am 14. März 1980 stattfand.540

f. Fraktionen und Ministerien

Entscheidend für die Arbeit und die Durchsetzung der Empfehlung einer En- quete-Kommission ist die Rückkopplung einerseits mit der Fraktion und anderer- seits mit den Ministerien. Auf der Fraktionsebene ist dies institutionalisiert durch die Obleute, die allerdings erstmals in der 11. Wahlperiode in den Zwischenbe- richten der Enqueten Erdatmosphäre und Bildung im Bericht namentlich genannt wurden. Obleute sind Mitglieder der entsprechenden Fraktionsarbeitsgruppe und somit mit der Thematik vertraut. Heute firmieren sie als ‚Sprecher‘. Obleutegespräche dienen dazu, im kleinen Kreis Absprachen zu treffen, Fragen der Geschäftsordnung zu klären und gegebenenfalls Konflikte zu entschärfen.

537 Z.B. Knizia: Prof. Knizia: Es gibt keine Alternative zur Kernenergie, in: Handelsblatt, 30. Mai 1979; Zur Lage der deutschen Energie-Wirtschaft. Alles hängt am Atom, in: Welt am Sonntag, 12. August 1979; Altner: Bevor Ergebnisse der Energie-Kommission vorliegen, stellt Bonn die Weichen für Kernenergie, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19. August 1979; In der Energiepolitik sollten Spielräume genutzt werden. Für Vernunft ist noch Zeit genug, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 2. März 1980. 538 Vgl. auch: „Riskantes in der Reaktorsicherheitsdiskussion“, in: SZ, 28. November 1979; PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/4ff. 539 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/21; Atomgegner zur Mitar- beit aufgefordert, in: SZ, 10. Mai 1979; Enquete-Kommission – Kernenergie offen für Bürger- mitarbeit, in: SZ, 30. Mai 1979. 540 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 14. Sitzung, 13./14. März 1980, S. 14/5.

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Sie fungieren als Sprecher der Fraktionen, vertreten deren Interessen und sind ein Scharnier zum Bundestag. Dadurch sollen die Entscheidungen an der Arbeit in den Ausschüssen orientiert werden. Dies bezieht sich nicht nur auf die Abgeord- neten, sondern auch auf die Sachverständigen, die ebenfalls dazu geladen wer- den. Umgekehrt setzen die Obleute sich für die Belange der Enquete- Kommission in ihrer Fraktion ein.541 Die Rückendeckung der Fraktion ist für die Arbeit von Enquete- Kommissionen unabdingbar. Bereits in der zweiten Sitzung wies Reinhard Ueberhorst darauf hin, dass der Schnelle Brüter ein Thema sei, das die Kommis- sion möglicherweise nicht bis zur Berichtsvorlage am 31. Mai 1980 abschließend behandeln könne.542 Dies geschah offenbar mit dem Einverständnis der Fraktion: So soll die SPD bereits auf ihrem Bundesparteitag in Berlin im Dezember 1979 beschlossen haben, dass die Kommission ihre Arbeit bis 1981 fortsetzen solle.543 Um die Arbeit der Kommission zusätzlich abzusichern, sollten auf Vor- schlag von Ueberhorst Bundeskanzleramt, BMI, BMFT und BMWi sowie die Bundesländer jeweils einen Vertreter zur Teilnahme an den Sitzungen entsen- den.544 In der Praxis wurde das weitgehend umgesetzt. Die jeweiligen Vertreter waren regelmäßig bei den Kommissionssitzungen zugegen und ließen der Kom- mission Vorlagen und Berichte zukommen. Bereits im Vorfeld gab es im Forschungsministerium detaillierte Gedanken über die Arbeit der Kommission. Die Taktik der SPD, Optionen offen zu halten, und die im Aufgabenkatalog genannten Gesichtspunkte wiesen bereits auf die Szenarientechnik hin. Außerdem hatte Volker Hauff ein Papier verfasst, das bereits vor Beginn der Enquete-Kommission kursierte und ein Szenario mit und eines ohne Kernenergie vorschlug.545 Auch wenn die Zusammenarbeit mit den Ministerien weitgehend reibungs- los verlief, so gibt es doch hier und da Hinweise darauf, dass nachgeholfen wer- den musste. Zum Beispiel hakte Ueberhorst beim Bundesinnenministerium nach, als der für die Enquete-Kommission zuständige Ministeriumsmitarbeiter entspre- chende Unterlagen nicht im gewünschten Umfang weiterleitete. Es ging hier vor allem um Materialien, die den Brüter betrafen; sie wurden nur eingeschränkt

541 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 180. 542 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/14. 543 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 10. Sitzung, 10./11. Januar 1980, S. 8. 544 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/4. 545 AdsD Depositum Schäfer, Expose von Volker Hauff, ohne Datum (versandt an Störmer (BMFT) und Mitglieder der Kommission Energiepolitik beim SPD-Parteivorstand am 2. März 1979).

131 weitergeleitet da diese in den sicherheitsrelevanten Bereich fielen – so zumindest die offizielle Version.546 An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass nicht nur das Ministerium versuchte, durch Papiere und Stellungnahmen den Beratungsprozess aktiv mitzugestalten. Die Enquete-Kommission arbeitete ebenso daran, die Genehmigungen für Studi- en, die für ihre Arbeit von Interesse waren, im Ministerium zu beschleunigen. So wurde beispielsweise der Vertreter des Bundesforschungsministeriums nach- drücklich auf die ‚langwierige Behandlung‘ des Antrags von Meyer-Abich und von Weizsäcker zur Sozialverträglichkeitsstudie hingewiesen.547 Von Anfang an versuchte die Kommission, sich vor Druck von Außen zu schützen. Am Beispiel des SNR erklärte Ueberhorst, dass die zeitliche Richtlinie für die Kommission der Arbeitsauftrag des Bundestages und die Arbeitsplanung der Kommission sei. Die Kommission könne sich aber nicht aufgrund von exter- nen Erwartungen und Aufforderungen zu einer Thematik äußern oder gar Be- schlüsse fassen.548

g. Ausgangslage für Diskussionen um Reizthemen

„Alles zu bezweifeln oder alles zu glauben sind zwei gleichermaßen bequeme Lö- sungen, denn beide entheben sie uns des Nachdenkens.“549

Poincarés Bemerkung, wie man Nachdenken vermeiden könne, mag für die Ausgangssituation der Enquete-Kommission stehen. Im konkreten Arbeitspro- zess dominierte Ueberhorsts Aufforderung an die Mitglieder, alle Alternativen tatsächlich zu prüfen.550 Um dies praktisch umzusetzen, bedurfte es allerdings weiterer Voraussetzungen. Auf allen drei Ebenen, der der Sachverständigen, der Abgeordneten und des Sekretariats ist deutlich feststellbar, dass versucht wurde, ein breites Spektrum von Interessen und Informationen in die Kommissionsarbeit einzubinden. Zu- sammen mit Anhörungen und weiteren Beisitzern ist es wohl als rekursives Ver- hältnis zu betrachten: Auf der einen Seite erhielten Interessenvertreter Einfluss

546 PA DBT EK VIII, Materialband AF IV, Brief von Ueberhorst an Günter Hartkopf (Staats- sekretär im BMI), 23. Oktober 1979. 547 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/96f. 548 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/28. 549 Übersetzung der Autorin aus dem Französischen: „Douter de tout ou tout croire, ce sont deux solutions également commodes, qui l’une et l’autre nous dispensent de réfléchir.“ Henri Poincaré, La Science et l’hypothèse, Paris 1968, S. 24. 550 Gesucht: Meßlatte für Atommeiler. Die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie- Politik“ hat ihre Arbeit aufgenommen, in: Vorwärts, 31. Mai 1979.

132 und auf der anderen Seite konnte die Enquete-Kommission sicherstellen, dass sie auf der Höhe der Zeit war. Die Kommission versuchte, Ruhe für eine konzentrierte Arbeit zu schaffen, indem sie sich von der Öffentlichkeit abschottete. Dies war sicherlich eine Vo- raussetzung, um die Diskussion zu ‚entemotionalisieren‘. Die Kommission konnte hinsichtlich ihrer Ausstattung unter recht freiheitli- chen Bedingungen arbeiten; finanziell und wissenschaftlich war sie großzügig bedacht worden. Zahlreiche vorbereitende Arbeiten aus dem wissenschaftlichen Stab werden den Einstieg der Mitglieder in die Arbeit erleichtert haben. Die Stabsmitarbeiter waren dauerhaft in Bonn anwesend und ebenso heterogen beru- fen worden wie die Sachverständigen selbst. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden bereiteten sie die Sitzungen durch Einzelgespräche mit den Experten und Abge- ordneten vor. Zwischen den Sachverständigen gab es einerseits mit Blick auf den biogra- phischen Hintergrund zahlreiche Verknüpfungen. Beinahe alle kannten das poli- tische Parkett aus anderen Beratungssituationen. Die bisherige Darstellung mag dazu verführen, an ein ‚old boys network‘ zu denken; diese Betrachtung würde allerdings zu kurz greifen. Die Kommission war ausgesprochen heterogen zusammengesetzt, so dass die gemeinsam getragene Empfehlung durchaus erstaunen muss. Die Erwartung, dass die Sachverständigen sich einigen könnten, tendierte im Vorfeld gegen Null. Letztlich verkörperten sie die Vorstellungen, die sich auch in der gesell- schaftlichen Debatte gegenüberstanden. Schon frühzeitig war in den Enquete- Protokollen der Hinweis auf die Dystopien zu finden, die die damalige Betrach- tung möglicher Energiezukünfte bestimmten. Das sind auf der einen Seite der ‚Atom-‘ oder ‚Polizeistaat‘ und auf der anderen Seite der ‚Energiemangel-‘ oder ‚Kalorienstaat‘.551 Der ‚Atomstaat‘ war geprägt durch hohe Sicherheitsmaßnah- men, die ein freies Leben im Staate kaum noch ermöglichten. Der ‚Energieman- gelstaat‘ hatte zu wenig Energie, um den Lebensstandard zu erhalten und die Bevölkerung musste auf Energie verzichten. Mit diesem Szenario war die Furcht vor einer drohenden Planwirtschaft verbunden.

551 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/12f.; Klaus Michael Meyer-Abich, Polizeistaat oder Kalorienstaat, in: Handlungsspielräume 1980, S. 131–144; Ders., Was ist ein Atomstaat? Zur Verträglichkeit von Energiesystemen mit der gesell- schaftlichen Ordnung und Entwicklung, in: Atomkraft 1982, S. 255–302.

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V. MENSCH UND UMWELT

Ausgehend von den beiden Worst-Case-Szenarien ‚Atomstaat‘ und ‚Kalorien- staat‘ ist der Frage nachzugehen, wie über Risiken und Unsicherheiten diskutiert wurde. Zunächst denkt man bei Risiken für Mensch und Umwelt an einen Unfall im Kernkraftwerk und an die Gefahr der Strahlung radioaktiven Abfalls. Disku- tiert und gegeneinander abgewogen wurden aber auch andere Gefahren wie z. B. Arbeitsunfälle beim Bergbau, Schadstoffbelastung der Luft, die CO2-induzierte Klimaänderung sowie Erstickungsrisiken durch Isolierung und Thermopane- Fenster.

a. Mensch und Umwelt in der Kernkraftkontroverse

Auslöser für die Kernkraftkontroverse waren unter anderem das mangelnde Ver- trauen in die Absicherung der Kernkraftwerke gegen Unfälle sowie die ungelöste Frage, was mit dem strahlenden Abfall geschehen könnte. Krieg, Terror und Flugzeugabstürze wurden in den 1970er Jahren zu einem Angelpunkt der Ängste hinsichtlich der Sicherheit der Kernenergie.552 Gleichzeitig kamen Gefahren in den Blick, die von anderen Energiesystemen ausgehen wie zum Beispiel die CO2-Belastung durch Kohlekraftwerke. Insofern ist es verständlich, dass der Bundestag von der Enquete- Kommission erwartete, die Entscheidungsmöglichkeiten und Entscheidungsnot- wendigkeiten auch unter ökologischen und Sicherheits-Gesichtspunkten darzu- stellen. Dabei sollten Kriterien und Maßstäbe für die Akzeptanz der Kernenergie erarbeitet und die Möglichkeiten und Risiken anderer Energieträger vergleichend einbezogen werden.553 Als die Kommission in ihrer zweiten Sitzung über die Strukturierung der Arbeitsbereiche diskutierte, standen Begriffe wie Risiko und Sicherheit sowie der Schutz im Vordergrund. Schnell wurde deutlich, dass die Risiken der ver- schiedenen Energietechniken vergleichend zu untersuchen waren. Neben den technischen Risiken der Kernenergie sollten auch die eines möglichen Energie- mangels einbezogen werden. Zu Beginn der Gremiumsarbeit wurde fehlende Energie noch als gesellschaftliches und politisches Problem behandelt, nicht aber als Gefahr für Mensch und Umwelt; dies sollte sich im Laufe der Beratungen zumindest kurzzeitig ändern.

552 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 258. 553 PA DBT Drs. VIII/2628, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technolo- gie, 7. März 1979.

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Die Bewertung der Risiken war eng mit der Frage nach Akzeptanz verbun- den. Sicherheit wurde vor allem im Kontext des Schnellen Brüters und der Be- darfsdeckung gefordert, und es wurden Sicherheitsmaßnahmen und die Siche- rung gegen Sabotage diskutiert.554 Die Kommission bildete zwei Arbeitsgruppen, die sich auf diesen Themen- komplex bezogen: Eine zu Arbeitsfeld II zur vergleichenden Bewertung von Nutzen und Risiken der einzelnen Energieträger und eine zu Arbeitsfeld III zu Kriterien und Maßstäben für die Akzeptanz einzelner Energiesysteme. Die ‚Risi- kogruppe‘ (II) setzte sich aus Birkhofer, von Ehrenstein, Meyer-Abich, Pfeiffer und Schaefer zusammen, die ‚Kriteriengruppe‘ (III) aus Altner, Birkhofer, von Ehrenstein, Häfele und Meyer-Abich. In vielen Punkten überschnitten sich die Themen, so dass zahlreiche Vorlagen in beiden Arbeitsfeldern auftauchten.555 Wie sah die argumentative Basis aus, die der Kommissionsarbeit national und international voranging? Die Entwickler der Kerntechnik leugneten weder Risiko noch Unsicherheiten. Edward Teller, der amerikanische ‚Vater der Was- serstoffbombe‘, betonte die Gefährlichkeit des Atom geradezu; Schnelle Brüter waren nach seiner Vorstellung in der Wüste zu bauen, da bei einem Reaktorun- fall sonst ganze Städte evakuiert werden müssten.556 Auch Wolf Häfele und sein amerikanisches Vorbild, der Atomphysiker Al- vin Weinberg, waren sich des Risikos sehr wohl bewusst, ordneten es allerdings „als heroisches, spannungserzeugendes Element in die alte ‚Atomzeitalter‘- Mythologie“557 ein. Weinberg sprach von einer ‚magischen Energiequelle‘, die eine ‚nukleare Priesterschaft‘ erfordere. Und: Die Nuklear-Leute müssten einen ‚faustischen Pakt‘ schließen.558 Diesen Ausspruch, der irgendwo den Teufel ver- muten lässt, nahmen die Gegner der Kernenergie mit Freuden auf, so dass Wein- berg sich unter anderem in einem Vortrag in Karlsruhe zu einer Rechtfertigung gezwungen sah. Das Skript dieses Vortrags wurde in der Enquete-Kommission diskutiert und einem Protokoll angehängt, damit es nicht zu weiteren Missver- ständnissen käme. Diese literarische Episode zitierte auch Hans Michaelis im Handbuch Kernenergie.559 Wolf Häfele wagte einen Vergleich mit den ägypti-

554 PA DBT EK VIII, Protokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/8–2/13, 2/16f. 555 Z.B.: PA DBT EK VIII, III/K/6, Kriterien für die Bewertung von Energiesystemen, 25. Oktober 1979; PA DBT EK VIII, III/K/2, Argumente in der Diskussion um die Kernenergie, 18. Okto- ber 1979. 556 Radkau, Angstabwehr, S. 29; Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 383, 438. 557 Radkau, Angstabwehr, S. 37. 558 Alvin Weinberg, Social Institutions and Nuclear Energy, in: Science Nr. 177, 1972, S. 33f. 559 Hans Michaelis, Handbuch Kernenergie, Bd. 2, München/Düsseldorf/Wien 1982, S. 873f.

135 schen Pyramiden und den mittelalterlichen Kathedralen.560 Schließlich versprach die Atomenergie – zu Ende gedacht – eine quasi unendliche Energiequelle. In der Tat waren die Risiken nicht greifbar. In den 1970er Jahren gab es weltweit kaum bekannte praktische Erfahrungen mit Todesopfern durch die Nutzung der Kernenergie geschweige denn durch einen Unfall mit einer Kern- schmelze. Ein entsprechender Zahlenvergleich findet sich in den Kommissions- unterlagen: Danach habe es durch die Nutzung der Kernenergie in 31 Jahren weltweit sieben Tote gegeben, beim Kohlebergbau alleine in Deutschland im gleichen Zeitraum 15.968 tödliche Arbeitsunfälle ohne die Wegetoten.561 1976 gab es zwar einen Hinweis darauf, dass sich im Jahr 1957 eine Explosion im Lager für abgebrannte Brennelemente in Majak im Ural ereignet hatte, die vom sowjetischen Staat geheim gehalten wurde; der Biologe und russische Exilant Shores Medwedjew erwähnte sie gegenüber New Scientist. Zunächst wurde das Ereignis jedoch nicht für möglich gehalten, da Details seiner Darstellung als wissenschaftlich nicht haltbar eingeschätzt wurden. Medwedjew rekonstruierte den Unfall in allen Einzelheiten anhand von In- dizien in der Studie Nuclear Desaster in the Urals, die 1979 sowohl auf englisch als auch auf deutsch erschien.562 Die Resultate wurden in der Enquete- Kommission nicht erwähnt. Bis heute gehört der Unfall ungeachtet seiner Trag- weite zu den ‚Nebenschauplätzen‘ der Kernkraftgeschichte. Hintergrund mag sein, dass die sowjetische Regierung die Katastrophe erst 1989 offiziell bestätig- te, als der Unfall von Tschernobyl das mögliche Schadensausmaß bereits de- monstriert hatte. Nicht zuletzt aufgrund der ‚unfallfreien‘ Geschichte der Kernenergie galt eine anschauliche Schilderung der möglichen Folgen eines GAUs als Versuch, Hysterie und Sensationsgier zu verbreiten. Viel sauberer und sachlicher schien es da, mit Zahlen zu argumentieren. Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung sollten – ausgehend vom England Mitte der 1960er Jahre – die Zuverlässigkeit einzelner Reaktorkomponenten ermitteln.563 Die Deutsche Risikostudie Kern- kraftwerke konzentrierte sich stellvertretend auf zwei Fälle, bei denen es zu einer Kernschmelze kommen kann: einerseits durch Kühlmittelverlust und andererseits

560 Wolf Häfele, Neuartige Wege naturwissenschaftlich-technischer Entwicklung, in: Forschung und Bildung, 4/1963, S. 36f. 561 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, II/S/5, Anteil der Wegetoten im Bergbau. Gespräch mit Niggemeyer von der IG Bergbau und Energie, 6. November 1979. 562 Das Menetekel von Majak, in: Die Zeit Nr. 34, 16. August 2007; vgl. auch: van Laak, Weiße Elefanten, S. 121. 563 Radkau, Angstabwehr, S. 30, 41.

136 durch einen Transientenstörfall. In beiden Fällen geht es letztlich um ein Versa- gen der Hauptkühlleitung.564 In der Zeitschrift atomwirtschaft wurde die probabilistische Herangehens- weise 1967 noch bezweifelt; einige Fachleute lehnten es grundsätzlich ab, diese Wahrscheinlichkeitsangaben für das Genehmigungsverfahren zu verwenden, da es bedeuten würde, gegen einen Störfall alleine durch seine geringe Eintritts- wahrscheinlichkeit abgesichert zu sein.565 Adolf Birkhofer bezeichnete die Methode der Berechnung zunächst als grundsätzlich problematisch, leitete dann aber die probabilistische Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, die 1979 fertig gestellt wurde.566 Der vermehrte Einsatz der Zahlen ist sicherlich im Zusammenhang mit der zunehmenden Politi- sierung in den Genehmigungsverfahren zu sehen; das Risiko musste bezifferbar sein, um es legitimieren zu können. Radkau geht davon aus, dass der Probabilismus durchaus positive Aspekte bot: Gab er doch den Kritikern der Kernenergie eine Chance, über die bis dahin rein theoretische Möglichkeit einer Katastrophe und sogar von Todesopfern in Form einer hypothetischen Operation zu reden.567 Sicherlich war der Probabilis- mus zunächst einmal eine Technik, um mit der Unsicherheit umzugehen und sie in ein ‚berechenbares‘ Risiko zu verwandeln. Gleichzeitig machten die Proteste gegen die Kernenergie deutlich, dass ein rein quantitatives Verfahren nicht aus- reichte und die Unsicherheit bestehen blieb. Insofern musste die Enquete- Kommission, wenn sie auf der Suche nach Akzeptanz für ihre Empfehlung war, über die bisherige Methode hinausgehen.

b. Von der Angst zur Akzeptanz

In der Kommission wurde zunächst einmal diskutiert, welches Themenfeld vor- rangig zu behandeln sei – Energiebedarf oder Risiken und Kriterien. Vor allem die kernenergiebefürwortende Seite plädierte dafür, zunächst den Energiebedarf zu ermitteln und anschließend die sicherheitstechnischen Aspekte zu untersu- chen. Stavenhagen hielt gar die Bedarfsdeckung für das Ziel und die Sicherheit

564 GRS (Hg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten Risiko, Fachband 5: Untersuchung von Kernschmelzunfällen, Köln 1980, S. 6, 9. 565 Vgl.: atomwirtschaft 12/1967, S. 148. 566 Radkau, Angstabwehr, S. 43; Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 361. 567 Radkau, Angstabwehr, S. 45.

137 für eine „Nebenbedingung dieses Ziels“568. Knizia betonte das ‚Risiko der welt- weiten und nationalen Unterversorgung‘.569 Dem gegenüber stand die Haltung, dass Sicherheit und Schutz der Bevölke- rung Vorrang vor der wirtschaftlichen Nutzung hätten. Die Akzeptanz hinge, so Schäfer, in erster Linie vom Risiko ab. Auf Vorschlag des Vorsitzenden verstän- digte man sich, die beiden Felder parallel zu behandeln.570 Die Kommissionsmit- glieder wurden sich auch schnell einig, dass der Kriterienkatalog nicht hierar- chisch sein dürfe, sondern auf alle Energieversorgungssysteme und Energieträger gleichberechtigt anwendbar sein müsse.571 Von den Mitgliedern wurde grundsätzlich eine vergleichende Risikoanalyse der Energieträger angestrebt. Doch worin waren objektive und perzipierte Risi- ken zu unterscheiden? Ueberhorst zog aus der kontroversen Diskussion das Fa- zit, dass „nicht alle objektivierbaren Risiken auch im Konsens objektiviert“572 seien. Infolgedessen habe sich die Kommission auch einerseits der Objektivier- barkeit von Risiken sowie andererseits den Bedingungen einer ‚Emotionalität‘ gegenüber der Kernenergie zu widmen.573 Häfele mutmaßte, dass die Meinung der Öffentlichkeit zur Kernenergiefra- ge nicht durch objektive Aspekte, sondern durch ‚irrationale Ängste‘ bestimmt sei574 – eventuell bestärkt durch die Berichterstattung in den Medien, wie Schae- fer annahm;575 ein Argument, das bis heute in der Energiediskussion und in an- deren Debatten über Technologien eingebracht wird. Letztlich seien die Risiken häufig ‚eingebildet‘ und ‚konstruiert‘ – zumal vor dem Hintergrund der Frage, welches Risiko stärker zu gewichten sei: das eines Unfalls oder das einer Welt- mangelsituation, die beispielsweise kriegerische Auseinandersetzungen nach sich ziehen könnte,576 lautete die Argumentation der Kernenergiebefürworter. Altner vermutete umgekehrt hinter der emotionalen Ablehnung der Kernenergie eine ‚innere Rationalität‘.577 In der öffentlichen Mediendebatte wurden – nur um einen Vergleich zu zei- gen – die Gefahren anderer Energieträger neben der Kernenergie ebenfalls in affektiver Art dargestellt. Knizia sprach in einem Artikel in der FAZ über „die Furcht und das Entsetzen der Frauen [...], die bei einem schweren Grubenun-

568 PA DBT EK VIII, Protokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/8. 569 PA DBT EK VIII, Protokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/19. 570 PA DBT EK VIII, Protokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/9. 571 Ebd., S. 2/12. 572 PA DBT EK VIII, Protokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/19. 573 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/19. 574 Ebd. 575 Schaefer: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/20. 576 So Knizia: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 8. September 1979, S. 4/27. 577 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/20.

138 glück ihre Männer und Söhne verloren.“578 Für jemanden, der selbst unter Tage gearbeitet hatte, musste die Kernenergie zu diesem Zeitpunkt harmloser wirken. Zeigten sich in der Diskussion der Kommission anfangs die argumentativ ausgetretenen Pfade der Kernkraftkontroverse, so stellte sich bald heraus, dass diese in der Arbeit nicht weiterverfolgt werden konnten. Ueberhorst verwies auf die Frage der Objektivierbarkeit der Risiken; danach sollte die Akzeptanz der Kernenergie verknüpft werden mit einem rationalen und kritisch hinterfragten Umgang mit den Unsicherheiten. In den Arbeitsgruppen stieg man argumentativ und inhaltlich tiefer in die Diskussion ein. Die Kontroverse um die Risiken war sowohl auf wissenschaftli- cher Ebene aufzubereiten als auch auf außerwissenschaftlicher. Im wissenschaft- lichen Bereich gingen aus den Gesprächen, die Mitglieder des wissenschaftli- chen Stabs mit den Berichterstattern der Arbeitsfelder führten, verschiedene zu berücksichtigende Aspekte hervor. Birkhofer und von Ehrenstein stimmten in dieser Hinsicht grundsätzlich überein. Zu untersuchen waren demzufolge unter anderem ökologische Auswirkungen von Schadstoffemissionen aus fossil be- heizten Kraftwerken, Verschmutzung der Weltmeere durch Tankerunfälle sowie ein Vergleich von Störfällen in Kernkraftwerken und fossil beheizten Kraftwer- ken. Wie die Akzeptanzproblematik zu behandeln sei, darüber gingen die Vor- stellungen unter den Sachverständigen allerdings auseinander. Birkhofer wollte zwischen ‚Akzeptierbarkeit‘, die sich aus dem Risikovergleich der verschiedenen Energieträger ergeben würde, und der ‚Akzeptanz‘, die sich auf die persönliche Wahrnehmung von Risiken beziehe, und bei der man fragen müsse, wie sie sich beeinflussen ließe, unterscheiden. In ähnlicher Weise unterschied auch Meyer- Abich zwischen ‚Akzeptanz‘ als subjektivem und ‚Akzeptabilität‘ als objektivem Kriterium.579 Für von Ehrenstein reduzierte sich die Akzeptanz einerseits auf die Frage, ob sich durch spezifische bauliche und technische Eigenschaften sicherstellen ließe, dass bei ‚massivstem technischen Versagen‘ durch einen Störfall oder äußere Einwirkung keine radioaktive Verseuchung der Biosphäre stattfände, sowie andererseits auf den Ausschluss der Proliferationsgefahr.580 Sein Interesse galt folglich in erster Linie sicherheitstechnischen Aspekten. Für Schaefer waren vor allem die thermischen Belastungen und deren ökologische Folgen von Be- deutung;581 dies würde auf einen Vergleich hinauslaufen.

578 Sachverstand gegen Angst, in: FAZ, 16. August 1979. 579 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, Aktennotiz über unsere Besprechungen zu Arbeits- feld 2 und 3 von Manfred Schneider, 16. August 1979. 580 Ebd. 581 Ebd.

139

Um einen entsprechenden Vergleich zu operationalisieren, schlug Meyer- Abich vor, für das Kriterienarbeitsfeld die wichtigsten energiepolitischen Publi- kationen anhand der vier Dimensionen Wirtschaftlichkeit, Umwelt- verträglichkeit, soziale Verträglichkeit und internationale Verträglichkeit zu messen.582 Zusätzlich müssten die technischen Kriterien aufgearbeitet werden. Doch wie sollten die Risiken quantifiziert werden? Laermann wies bei- spielsweise darauf hin, dass nicht nur das hohe Gefahrenpotential zu berücksich- tigen sei, sondern auch das Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Gefahrenpoten- tial – also die klassische Betrachtungsweise. Die ‚Angst‘ vor der Kernenergie könne man nur durch vergleichende Risikostudien abbauen. Meyer-Abich ver- wies zum Thema Quantifizierbarkeit auf Norbert Bannenberg (Jülich), der vor- schlug, statt des Produkts von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential den Schadensumfang zu messen.583 Die Diskussion im außerwissenschaftlichen Bereich, die insbesondere für die Akzeptanzfrage wichtig schien, wurde von Pfeiffer zusammengefasst. Vorab wies er darauf hin, dass bislang kaum der Versuch gemacht worden sei, rationale Entscheidungsmuster zu erarbeiten. Neben den bereits auf wissenschaftlicher Ebene erfassten Bereichen fügte Pfeiffer vor allem den Aspekt der Minimierung von Gesundheitsrisiken in der Arbeitswelt hinzu.584 Darüber hinaus erstellte er einen Überblick über die Pro- und Contra-Argumente. Ganz klar trat dabei her- vor, dass der Widerstand Ergebnis dessen sei, dass nur gegenüber den Bürgern ‚Teilinfos‘ und ‚Halbwahrheiten‘ geäußert würden und diese sich daher ‚ver- schaukelt und hinters Licht geführt‘ fühlten. Dieses Misstrauen müsse durch eine ‚ehrliche und uneingeschränkte Informationspolitik‘ behoben werden.585 Dies entsprach der Kritik auf wissenschaftlicher Ebene, dass Unsicherheiten nicht offen diskutiert würden. Zusammenfassend wurde für die Kernenergie in die Waagschale geworfen, dass das CO2-Problem und die Zahl der Unfälle im Ver- gleich zur Kohlestromerzeugung geringer seien. Gegen die Kernenergie spräche, dass die Informationen über die Risiken nicht ausreichten, die Gefahren insbe-

582 Meyer-Abich hatte diese Kriterien bereits erarbeitet und publiziert: Klaus Michael Meyer- Abich, Kriterien der Sozialkosten-Nutzen-Analyse alternativer Energieversorgungssysteme, in: Carl Amery/Peter Cornelius Mayer-Tasch/Klaus Michael Meyer-Abich, Energiepolitik ohne Basis. Vom bürgerlichen Ungehorsam zu einer neuen Energiepolitik, Frankfurt am Main 1978, S. 46–81. 583 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, Aktennotiz über unsere Besprechungen zu Arbeits- feld 2 und 3 (Manfred Schneider), 16. August 1979. 584 PA DBT EK VIII, III/K/1, Kriterien und Maßstäbe der Akzeptanz von Energieträgern und Energieversorgungsstrukturen (Pfeiffer), 18. Oktober 1979. 585 PA DBT EK VIII, III/K/2, Argumente in der Diskussion um die Kernenergie (Pfeiffer), 18. Oktober 1979.

140 sondere beim Brüter zu hoch wären und die Proliferation ihrerseits nicht abzu- schätzende Risiken mit sich brächte.586 Zusätzlich wertete der wissenschaftliche Stab Meinungsumfragen und Lite- ratur aus und kam zu folgenden Ursachen für die unterschiedliche Bewertung der Kernenergie: eine Differenz beim Kommunikations- und Informationsstand, psychologische Faktoren sowie unterschiedliche Wertorientierungen, bei denen beispielsweise der Übergang von materiellen zu postmateriellen Werten Ent- scheidungen tangiere.587 Sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf außerwissenschaftlicher Ebene fanden sich ähnliche Argumente, die den Ausgangspunkt für die Kommissions- arbeit bildeten. Das Ziel ließ sich folgendermaßen zusammenfassen: Es war ein gemeinsamer Weg zu finden, die verschiedenen Energieträger mit Blick auf ihre Risiken vergleichbar zu machen, und zu einer gemeinsamen ‚Risikophilosophie‘ zu kommen. Dies hebt den Umgang der Enquete-Kommission vom Begriff der ‚Sicherheitsphilosophie‘ ab, bei dem das, was sich hinter Sicherheit verbirgt, unklar bleibt.588 Letztlich einigten sich die Arbeitsgruppen darauf, zunächst unter der Federführung von Meyer-Abich einen Kriterienkatalog zu erstellen und an- schließend die Risiken zu diskutieren. Die Kriterien bildeten einen ersten Schritt zum Kompromiss.

c. Kernpunkte der Auseinandersetzung

Die bislang beschriebenen Diskussionen sind eher als ‚Vorgeplänkel‘ zu be- trachten, auch wenn sie die Grundlage für die gemeinsame Arbeit bildeten. Zur Sache ging es in der 8. Sitzung der Kommission in München, auf der die Frage nach Risiken und Kriterien im Mittelpunkt stand. Unter dem Tagesordnungs- punkt Diskussion der Kernenergie in der Wissenschaft wurden Risiken und Grundsatzfragen, Schadenspotential und -auswirkungen sowie Sabotage, Krieg und menschliches Fehlverhalten diskutiert. Während die Berichterstatter Birkho- fer und von Ehrenstein sich vor allem mit den Risiken und Unsicherheiten der Kerntechnologie beschäftigten, kümmerten Schaefer und Häfele sich um eine vergleichende Risikobetrachtung.589

586 PA DBT EK VIII, III/K/3, Zusammenfassung der Argumente in der Vorlage von Herrn Pfeiffer (Wagner), 18. Oktober 1979. 587 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, III/K/4, Ursachen und Motive für die unter- schiedliche Wertung der Kernenergienutzung (Wagner), 18. Oktober 1979. 588 Vgl. zum Begriff ‚Sicherheitsphilosophie‘: Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atom- wirtschaft, S. 364f. 589 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979.

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Risikostudien und ihre Aussagekraft

In Bezug auf die Kernenergie konnte sich die Enquete-Kommission auf folgende Reaktorsicherheitsstudien stützen: den amerikanischen Rasmussen-Bericht (WASH-1400) von 1974 und die Studie der GRS von 1979, von der im Oktober 1979 eine Kurzfassung vorlag.590 Da Adolf Birkhofer die Studie geleitet hatte, konnte in dem Gremium auf die wichtigen Aspekte direkt zugegriffen werden. Die deutsche Risikostudie baute methodisch auf dem amerikanischen Rasmus- sen-Bericht auf 591 und ermittelte das Risiko, das bestimmt war durch Häufigkeit und Ausmaß des jeweiligen untersuchten Schadens.592 Birkhofer hatte in einer nichtöffentlichen Informationssitzung des Ausschusses für Forschung und Tech- nologie erklärt, eine solche Studie könne keine Aussagen darüber treffen, ob das mit der Kernenergie verbundene Risiko akzeptiert werden könne. Sie biete ledig- lich die Möglichkeit, den für eine solche Entscheidung notwendigen Wissens- stand zu vergrößern.593 Für die Risikostudie Kernkraftwerke war eine Phase B vorgesehen, in der Daten und Methoden von der Phase A durch verschiedene qualifizierte Gruppen überprüft werden sollten.594 Für diese Phase B hatte sich unter anderem das Öko-Institut beworben; der erste Antrag wurde allerdings vom BMFT als nicht zweckmäßig erachtet, woraufhin ein neuer Antrag gestellt wurde.595 Die GRS legte 10 Jahre später die Ergebnisse der Phase B vor; unter anderem war das Öko-Institut mit Einzeluntersuchungen einbezogen worden.596 Für die Sicherheitsbetrachtung der Kommission von Interesse war der Kemeny-Report597, der den Unfall von Harrisburg analysierte. Zum Problem einer Energieunterversorgung und zu den Gefahren alternativer Energiesysteme gab es zu diesem Zeitpunkt nur vereinzelte Studien. Beispielsweise hatte die Abwärmekommission beim Umweltbundesamt Anfang des Jahres 1979 eine

590 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, Brief von Ueberhorst an Hauff; PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 54. Sitzung, 17. Oktober 1979, S. 54/16. 591 Vgl.: GRS (Hg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Eine Untersuchung zu dem durch Störfälle in Kernkraftwerken verursachten Risiko, Fachband 4: Einwirkungen von außen, Köln 1980, S. 10. 592 GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Hauptband, S. 10. 593 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Stenographisches Protokoll der 11. Sitzung, 14. September 1977, S. 11/8. 594 Vgl. u.a.: PA DBT Ausschuß für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 54. Sitzung, 17. Oktober 1979, S. 54/18. 595 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Hauff an Schäfer, 25. April 1979; ebd., Brief von Altner an Hauff, 6. November 1979. 596 GRS (Hg.), Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Phase B, Köln 1990, S. 3ff. 597 Kemeny-Report, Der Störfall von Harrisburg.

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Aufheizung der Atmosphäre durch die Kohlendioxidvermehrung – also den ‚Treibhauseffekt‘ – beschrieben.598 Der Nutzen der Studien – es wurden in der Enquete-Kommission nur die probabilistischen Studien zur Kernenergie diskutiert – war in der Kommission umstritten: Von Ehrenstein vermutete beispielsweise, dass die Risikostudien mit ihren Berechnungen und Unfallbeschreibungen nicht unbedingt weiterhelfen. Denn, so stellte er fest, der Unfall von Harrisburg war inklusive seiner Eintritts- wahrscheinlichkeit in der Rasmussen-Studie beschrieben. Dennoch habe er auf einer Reise durch die USA feststellen müssen, dass die Fachleute von diesem Unfall ‚überrascht‘ gewesen seien. Dies ließe, von Ehrenstein zufolge, nur den Schluss zu, dass die Studie entweder nicht gelesen oder nicht ernst genommen worden sei. Eventuell seien diese Berechnungen bislang zu ‚akademisch‘ be- trachtet worden599 – quasi als Pflichtübung. Er ging noch einen Schritt weiter und äußerte: „Man hat die Rechnung vielleicht nur veranstaltet, um das Publi- kum zu beruhigen.“600 Dies entspräche einer Politisierung der Wissenschaft im Sinne der Wissensgesellschaft, in der die Wissenschaft sich politischen Anforde- rungen unterwirft. Den Grund für die Missachtung sah Birkhofer in einer ganz anderen Form von ‚Verpolitisierung der Technik‘. Die Diskussion des Rasmussen-Reports in der Öffentlichkeit habe den Eindruck entstehen lassen, dass die Studie insgesamt nicht gut sei, so dass die Genehmigungsbehörde der U.S. Nuclear Regulatory Commission (NRC) verunsichert gewesen sei und die Methoden und Erkenntnis- se der Untersuchung nur zögerlich verwendet hätte.601 Von Ehrenstein gab zu bedenken, dass sowohl die Rasmussen- als auch die Birkhofer-Studie darlegten, dass in den nächsten Jahrzehnten mit großen Scha- densfolgen durch Unfälle in Kernkraftwerken zu rechnen sei. Amerikanischen Technikern zu folge, hätten sie trotz genauer Kenntnis dieser Wahrscheinlichkei- ten und des Schadenspotentials ‚in ihrem Innersten‘ nicht mit einem solchen Störfall gerechnet. „Wenn Herr Birkhofer hier davon spreche, daß eine Verpolitisierung der Technik der Grund für die Nichtbeachtung gewesen sei, dann hätte diese Verpolitisierung höchstens über das Unterbewußtsein die Hal- tung der Techniker beeinflußt.“602 Dieser kleine Exkurs macht die unterschiedli- che Wahrnehmung der zumindest ‚berechneten‘ Risiken deutlich.

598 BMI (Hg.), Abwärme. Auswirkungen, Verminderung, Nutzung. Kurzfassung des zusammen- fassenden Berichts über die Arbeit der Abwärmekommission 1974–1982, Bonn 1983. 599 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/10f. 600 Ebd., S. 8/11. 601 Ebd., S. 8/13. 602 Ebd., S. 8/13.

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Einig war sich die Kommission darin, dass die vorliegenden Risikoanalysen nicht zu der häufig zu findenden Feststellung missbraucht werden dürften, die Sicherheit von Kernkraftwerken sei damit ‚wissenschaftlich errechnet‘. Von Ehrenstein und Altner formulierten entsprechend in einer Kommissionsvorlage: Die Risikoanalyse sei ausgesprochen nützlich, um Schwachstellen des Systems zu identifizieren. Mit Blick auf mögliche Unfälle – eventuell hervorgerufen durch böswilliges menschliches Eingreifen – seien jedoch die Zuordnung hypo- thetischer Unfälle zum ‚Restrisiko‘ und die Beschränkung auf den GAU – ver- standen als Bruch der Hauptkühlleitung – im Genehmigungsverfahren nicht hinreichend. Das Ausmaß eines möglichen Unfalls mit mehr als 100.000 Toten und der langfristigen Kontamination eines Gebietes von mehreren 1.000 km2 sei vergleichbar mit einer internationalen Klimakatastrophe. Der Umgang mit den Folgen einer Verseuchung sei bislang nur mangelhaft untersucht. Die beiden Autoren zogen aus diesen und anderen Unsicherheiten die Konsequenz, dass bis zur Klärung der offenen Fragen keine weiteren kerntechnischen Anlagen gebaut oder in Betrieb gehen und die bestehenden Anlagen nach einer angemessenen Übergangsfrist stillgelegt werden sollten.603 Birkhofer selbst argumentierte im Sinne der Risikostudie in einer Vorlage, die die Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt durch Kernenergie mit denen der Kohleverstromung verglich, folgendermaßen: Bei ‚bestimmungsmäßigem Betrieb‘ stehe die Kernenergie sicherheitstechnisch der Nutzung von Kohle in nichts nach. Beispielsweise gebe es im Kernenergiebereich weniger als einen Todesfall pro Jahr, wohingegen die Kohle durch das SO2-Problem gravierendere Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit habe; daher käme man dort auf 1 bis 25 Todesfälle pro GWe. Bislang sei kein Unbeteiligter durch einen Unfall in einem Atomkraftwerk getötet oder statistisch nachweisbar gesundheitlich ge- schädigt worden. Zudem liege das berechnete Risiko durch unfallbedingte ge- sundheitliche Spätschäden nicht höher als die rechnerisch ermittelten Risiken durch den bestimmungsgemäßen Betrieb. Tiefer gehend quantitativ zu analysie- ren sei allerdings die Frage der Landverseuchung. Zur Verbesserung der Akzep- tanz schlug Birkhofer den Bürgerdialog vor, der deutlich zu machen habe, dass für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards und zur Lösung der Zukunftsauf- gaben die sichere Energieversorgung eine unabdingbare Grundlage sei. Dies sei aber nur mit der Kernenergie zu erreichen.604 Damit lag Birkhofer argumentativ bei der Aufklärungsstrategie, die auch die Regierung verfolgte.

603 PA DBT EK VIII, III/K/8, Gründe für Skepsis gegenüber bzw. Ablehnung der Kernenergie- nutzung, insbesondere auch beim heutigen Betrieb von Leichtwasserreaktoren (Altner/von Eh- renstein), 25. Oktober 1979. 604 PA DBT EK VIII, III/K/9, Wichtige Aspekte der Sicherheit und der Umweltbeeinflussung bei Nutzung der Kernspaltungstechnik zur Energieversorgung (Birkhofer), 25. Oktober 1979.

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Unter dem Eindruck des Unfalls von Tschernobyl verstärkte sich der Ein- druck, dass probabilistische Methoden unzureichend sind, wie aus der Äußerung des Historikers Joachim Radkau im Spiegel deutlich wurde: „Was Insider längst wußten, wird offenbar: daß die Art und Weise, wie das atomare Risiko mittels der Wahrscheinlichkeitsrechnung in ein Nichts verwandelt wurde, pseudowis- senschaftlicher Humbug ist.“605

Sabotage, Krieg und Terror und die Kernenergie

Dass die Frage von Sabotage, Krieg und Terror in der Deutschen Reaktorsicher- heitsstudie so gut wie keine Berücksichtigung fand, stellte sich vor dem Hinter- grund des RAF-Terrors des ‚Deutschen Herbstes‘ zunehmend als Manko heraus, das es weiter zu diskutieren galt. Selbst Kernenergiebefürworter wie Carl Fried- rich von Weizsäcker gerieten bei der Diskussion über Krieg in Zweifel.606 Für die Kommission war zunächst einmal zu klären, ob diese Punkte als Ge- fahr angesehen wurden und falls ja, wie man damit umging. Aus Birkhofers Sicht machten die zahlreichen baulichen Barrieren und Kontrollen es Saboteuren schwer einzudringen. Aufgrund der räumlichen Trennung der wichtigen Sicher- heitseinrichtungen, sei es nicht einfach, alle lahm zu legen. Aber selbst wenn dies gelingen würde, gingen die Auswirkungen nicht über das hinaus, was in der Sicherheitsstudie untersucht worden sei607 – also eine Störung der Hauptkühllei- tung. „Kernkraftwerke seien relativ ungeeignete Sabotageobjekte“608, konzedier- te er. Die Studie des Juristen Alexander Roßnagel aus dem Jahre 1983 zeigte später anhand realer Vorkommnisse in sicherheitsrelevanten Bereichen, dass Zweifel an den existierenden Barrieren durchaus berechtigt waren und bis heute sind.609 Für andere Kommissionsmitglieder allerdings stellte Terror eine klare Ge- fahr dar, die mit der Risikostudie nicht abzudecken ist. Allein die Frage, wie wahrscheinlich ein Anschlag auf einen Reaktor ist, war umstritten. Während Birkhofer dies eher ausschloss, argumentierte Altner, dass die Kerntechnik stark emotional besetzt sei und somit aus der „Perspektive und Logik der Saboteu- re“610 besonders interessant. Meyer-Abich unterstrich dies: In der Kernenergie-

605 Die Sache hat uns kalt erwischt, in: Der Spiegel Nr. 20, 12. Mai 1986, S. 19–27, S. 27. 606 Vgl. z.B.: Carl Friedrich von Weizsäcker, Die offene Zukunft der Kernenergie, in: Niedersäch- sische Landeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Kernenergie. Lebensnotwendige Kraft oder tödliche Gefahr?, Hannover 1979, S. 9–24, S. 10, 17ff. 607 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/65. 608 Ebd., S. 8/65. 609 Roßnagel, Bedroht die Kernenergie unsere Freiheit. 610 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/69.

145 diskussion verbinde sich einiges, was rational nichts miteinander zu tun habe wie beispielsweise die Frauenemanzipation oder die Frage des Lebensstils. Die Kernenergie sei dabei ein Symbol, das für Zusammenhang zwischen den ausge- sprochen heterogenen Themen der Zeit sorge. Das führe zum einen dazu, dass mit einem sofortigen Baustopp von Kernkraftwerken das Problem nicht gelöst sei, aber zum anderen auch dazu, dass Kernkraftwerke in ihrer Symbolkraft be- wertet werden müssten. Insofern mache es vermutlich doch einen Unterschied, ob Terroristen sich an einem Wasser- oder einem Kernkraftwerk versuchten.611 Dass für die RAF die Kernenergie und die dahinter stehende Wirtschaft durchaus eine Bedeutung hatten, zeigten einerseits Flüge von RAF-Mitgliedern im Jahre 1978 über dem Kernforschungszentrum Karlsruhe612 und andererseits die Ermordung von Karl Heinz Beckurts im Jahre 1986. Beckurts war einer der führenden deutschen Kernphysiker und zum Zeitpunkt seines Todes Vorstands- mitglied sowie Leiter des Zentralbereichs Forschung und Technologie der Sie- mens AG.613 Ähnlich brisant war die Frage, inwiefern Kernkraftwerke im Falle eines Krieges eine zusätzliche Gefahr darstellten und wie man sich davor schützen könne. Birkhofer berichtete von einem Gespräch mit Vertretern des Militärs zwei Jahre zuvor, nach deren Einschätzung der Betrieb von Kernkraftwerken die ‚Verwundbarkeit‘ der Bundesrepublik nicht oder nur unwesentlich erhöhe.614 Wie sicher ein Kernkraftwerk gegen ein Geschoß sei, konnte Birkhofer aller- dings nur vermuten: Die Umhüllung eines Reaktorkerns sei wahrscheinlich schwer zu durchdringen, allerdings verstehe er zu wenig von Waffentechnik. Die größte Wirkung könne vermutlich durch eine Beschädigung des Kühlsystems erzielt werden, dies wiederum sei in der Risikostudie behandelt.615 Schnurer vom BMI ergänzte an dieser Stelle, dass die Verbunkerung der Kernkraftwerke, die sie gegen Flugzeugabstürze sichern sollten, auch Schutz gegen konventionelle Waffen biete. Die Genfer Konvention habe darüber hinaus seit zwei Jahren – also seit 1977 – auch einen Abschnitt zu Kernkraftwerken. Es sei in der heutigen Zeit, in der die Waffentechnik große Zielgenauigkeit erlaube, sowieso relativ unwahrscheinlich, dass ein Kernkraftwerk aus Versehen getrof- fen werde.616 Von Ehrenstein schränkte Schnurers Argument ein: Die Forderung der Gen- fer Konvention, in der Nähe von Kernkraftwerken keine kriegswichtigen Anla-

611 Ebd., S. 8/70. 612 Roßnagel, Bedroht die Kernenergie unsere Freiheit, S. 153f. 613 Terror: „Da waren Superprofis am Werk“, in: Der Spiegel Nr. 29, 14. Juli 1986, S. 17–29. 614 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/66. 615 Ebd., S. 8/71. 616 Ebd., S. 8/72f.

146 gen zu betreiben, werde nicht immer eingehalten. Als Beispiel nannte er Rake- tenabschussrampen. Auch bezweifelte er mit Verweis auf die Zeitschrift Science die Treffsicherheit der Raketen: Nur zwei Drittel der modernen Raketen erreich- ten mit einer Zielgenauigkeit von 500 Metern ihr Ziel. Laermann wollte Birkhofers Meinung, dass Kernkraftwerke die militärische Sicherheit nicht beeinträchtigten, ebenso wenig teilen. Dass bislang keine Waf- fensysteme bestünden, um Kernkraftwerke zu zerstören, biete keine Sicherheit wie der Zweite Weltkrieg gezeigt habe, in dem die Engländer beispielsweise spezielle Torpedos gebaut hätten, um die Möhnetalsperre zu zerstören.617 Über die Wirksamkeit der Genfer Konvention herrschte allgemein Uneinigkeit in der Enquete-Kommission. Hintergrund mag unter Umständen sein, dass dieser Ab- schnitt der Genfer Konvention noch nicht ratifiziert worden war. Stavenhagen vertrat die Meinung, Kernkraftwerke seien keine besonders attraktiven Kriegs- ziele und daher müsse das Thema in der Kommission auch nicht weiter diskutiert werden. Ein Ausweg, der nicht nur in der Enquete-Kommission, sondern zum Bei- spiel auch im Ausschuss für Forschung und Technologie diskutiert wurde, war die unterirdische Bauweise für Kernkraftwerke. Allerdings bezweifelten Manfred Popp (BMFT) zufolge einige Wissenschaftler den Gewinn an zusätzlicher Si- cherheit; darüber hinaus würde der Bau etwa 100 Millionen DM zusätzlich kos- ten.618 Diesen Aspekt wollte sich die Kommission noch einmal genauer zu Ge- müte führen. In Bezug auf Sabotage stand die Überprüfung des Bedienpersonals bis in dessen Verwandtschaft hinein auf der Tagesordnung. Stavenhagen lehnte das mit Verweis auf den ‚Atomstaat‘ ab: Diese Maßnahme sei weder notwendig, noch sinnvoll und mit Demokratie nicht vereinbar. Eine Überprüfung oder Eignungs- tests des Betriebspersonals hielt Altner für wenig überzeugend. Altner ging von der Frage der Sabotage gänzlich weg und schwenkte zur Forderung nach Trai- ning des Personals an einer Simulationsanlage über, wie es im Kemeny-Report empfohlen wurde.619 Gerstein hielt im Zusammenhang mit dem Thema Krieg die Frage für wich- tiger inwieweit ein Krieg durch Energiemangel verursacht werden könne. „Per- sönlich halte er den Mangel an Energie für den wahrscheinlichsten Grund für einen Dritten Weltkrieg.“620 „Der einzige Trost für diejenigen, die einen Verzicht auf Kernenergie beschlossen hätten, sei dann, daß dieser Krieg [aus Energieman-

617 Ebd., S. 8/73ff. 618 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 9. Februar 1977, S. 3/12. 619 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/75f. 620 Ebd., S. 8/77.

147 gel, C.A.] ohne das Risiko von Kernkraftwerken stattfände.“621 Heute werden verschiedene militärische Eingriffe mit der Sicherung von fossilen Ressourcen in Verbindung gebracht – so zum Beispiel die Invasion im Irak unter George W. Bush im Jahr 2003.622 Akuter Energiemangel spielte dabei allerdings keine Rol- le. Welche Folgen dieser haben würde, sollten die Studien, die die Enquete- Kommission am jenem Morgen beschlossen hatte, klären.623 Ueberhorst versuchte die Diskussion abzuschließen, indem er betonte, die Kommission stimme darin überein, dass die deutsche Energiepolitik als Kriegs- ursache auszuschließen sei. Er schlug vor, die Frage, ob Energiemangel einen Krieg auslösen könne, zusätzlich in die Studien mit aufzunehmen.624 Letztlich entschied die Kommission sich, zum Umgang mit Sabotage und Krieg die Bun- desregierung anzuhören und alle offenen Punkte zu behandeln. Da die Kommis- sion in der achten Legislaturperiode aus zeitlichen Gründen nicht mehr zur Bear- beitung des Themas kam, wurde empfohlen, es in einer möglichen zweiten Arbeitsphase in der neunten Wahlperiode zu behandeln.625 Dies geschah dann auch. Eine inhaltliche Einigung erschien bei diesem Thema eher unwahrschein- lich, denn alleine die Frage ob Gefahr von Terror, Sabotage und Krieg ausgehen könnte, wurde disparat beantwortet. Eine zusätzliche Prüfung und Erweiterung der Wissensressourcen war folglich im Sinne einer Einigung das Mittel der Wahl.

Risikobegriff

Bereits bei der Diskussion der Kriterien in der Arbeitsgruppe wurde die Quantifizierbarkeit von Risiken problematisiert. Insofern hatte die Kommission auf der Ebene der Zahlen neu zu diskutieren, inwieweit der bestehende Risiko- begriff für die gewünschte Akzeptanz modifiziert werden könnte. Birkhofer definierte das Risiko dem ‚klassischen‘ Risikobegriff entsprechend als Verknüp- fung von Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit. Nach den zeitgenös- sischen Berechnungen liege das Risiko, also das Produkt aus Schadenshäufigkeit

621 Ebd., S. 8/78. 622 So im Spiegel: „Das Öl ist der Hauptgrund für diesen Krieg“, in: Der Spiegel, Onlineartikel: (16. Juni 2008); Peter Hennicke/Michael Müller, Weltmacht Energie. Herausforderung für Demokratie und Wohlstand, Stuttgart 20062, S. 81. Allgemein zum Thema Energiekriege: Erich Follath: Der Treibstoff des Krieges, in: Der Spiegel spezial Nr. 5, 18. Juli 2006, S. 6. 623 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/77. 624 Ebd., S. 8/79. 625 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 23.

148 und Schadenspotential, bei etwa 10–2 oder 10–1 pro Jahr. Wichtig ist hier, dass dies für Birkhofer ein Kriterium zur Bemessung der notwendigen Sicherheitsein- richtungen war, nicht aber zur Beurteilung der Technik selbst.626 Zur Debatte stand nun, ob dies ausreichend sei. Meyer-Abich schlug vor, zur Kennzeichnung des Risikos sowohl das Schadenspotential als ‚radikalisierten GAU‘ als auch das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadens- potential zu verwenden. Somit hätte man zwei Werte, für die man eine Ober- grenze definieren könne. Gleichwohl hegte er den Verdacht, dass sich die tat- sächlichen Werte von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential nicht genau genug berechnen ließen.627 Von Ehrenstein trat dafür ein, bei der Risiko- betrachtung vor allem das absolute Schadenspotential zu bewerten.628 Damit wurde genau das diskutiert, was auch die Protestler in Wyhl umtrieb. Das entscheidende Problem für eine solche Berechnung war der ‚Risikofak- tor Mensch‘:629 Birkhofer zufolge hatten ‚Torheit‘ und ‚Gewissenlosigkeit‘ in die Risikostudie Eingang gefunden. Da sich statistische Methoden nur zur Bestim- mung mittlerer Werte eigneten, seien Ausreißer und Ungenauigkeiten durch die Angabe von Streubreiten der berechneten Werte berücksichtigt. Mit Erfahrungs- daten sei dementsprechend eine gewisse ‚mittlere Schlamperei‘ erfasst, ein ‚Verrücktspielen‘ der gesamten Betriebsmannschaft werde dabei nicht einbezo- gen. Bedienungsfehler wie im Brunsbütteler Fall seien im Sicherheitskonzept einkalkuliert.630 Im Brunsbütteler Atomkraftwerk hatte die Mannschaft die Sicherheitssysteme zur Schnellabschaltung erfolgreich außer Gefecht gesetzt, um die wirtschaftlichen Einbußen durch eine Abschaltung zu verhindern; dadurch kam es zu einem Störfall. Stavenhagen ging noch einen Schritt weiter und meinte, Harrisburg habe gezeigt, dass die Kernenergie-Nutzung ein „verblüffend hohes Maß an Schlam- perei tolerieren“631 würde. Von Ehrenstein hegte allerdings Zweifel an der Quantifizierbarkeit menschlichen Fehlverhaltens.632 Wie so oft in der Kernkraftkontroverse tauchte auch in dieser Diskussion die Warnung von Birkhofer vor einem ‚zu viel‘ an Sicherheit auf. Man müsse mit den Maßnahmen ‚vernünftigerweise‘ irgendwo aufhören, da es kein ‚narren- sicheres technisches System‘ gebe, das alle Risiken auf Null setze.633 Zwar sei die Sicherheitsforschung ein ‚konsequenter technologischer Entwicklungspro-

626 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/7f. 627 Ebd., S. 8/16. 628 Ebd., S. 8/17. 629 Vgl. zu dieser Debatte: Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, S. 364. 630 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/16f. 631 Ebd., S. 8/26. 632 Ebd., S. 8/62ff. 633 Ebd., S. 8/18.

149 zess‘, dennoch habe für die Kernkraftwerke ein Bestandsschutz zu gelten. Dieser sollte die Anlagen für fünf Jahre vor sicherheitstechnischen Veränderungen schützen. Dem konnten sich einige Kommissionsmitglieder nicht anschließen – auch wenn sie der Kernenergie tendenziell positiv gegenüber standen. Laermann beispielsweise verwies auf die Erfahrungen aus Harrisburg, nach denen man beschleunigt Rekombinatoren eingebaut und die Betriebsführung durch Fern- überwachung und Fernbedienung von Kernkraftwerken verbessert habe.634 Ueberhorst übertrug die verschiedenen Risikovorstellungen in ‚Akzeptanz- positionen‘: Erstens die Position, in der absolute Sicherheit gefordert werde, die aber in der Kommission von niemandem vertreten werde. Zweitens die Positio- nen von Ehrensteins und – auch wenn Ueberhorst dies nicht erwähnte – Altners, die davon ausgingen, dass die Nutzung der Kernenergie aufgrund des Gefähr- dungspotentials und des derzeitigen Standes der Beherrschbarkeit nicht mehr akzeptabel sei. Drittens die Position Meyer-Abichs, der für eine Akzeptanz die Einhaltung der zwei beschriebenen Grenzwerte fordere. Viertens Birkhofers Position, nach der ein ständiges Bemühen um eine Verbesserung der Sicher- heitsmaßnahmen parallel zur Technologienutzung notwendig sei, aber ohne a priori Grenzwerte für das Schadenspotential oder die Produktformel in Betracht zu ziehen. Und fünftens eine bedingungslose Akzeptanz der Kernenergie, die ebenfalls in der Kommission nicht vertreten sei.635 Man sieht an dieser Zusam- menfassung Ueberhorsts, wie alleine durch die Formulierung die Gräben zwi- schen den verschiedenen Positionen kleiner werden mussten. Denn keines der Mitglieder vertrat danach eine Extremposition.

Risikovergleich

Wenn Sicherheit sich quantifizieren ließe, so würde dies einen Risikovergleich der einzelnen Energieträger vereinfachen. Darüber hinaus könnte man auch Ge- fahren, die von der Kernenergie ausgehen, greif- und vorstellbar machen. Ein klassisches Tertium comparationis führte Birkhofer an: Bei Staudämmen, die eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit hätten, zu versagen, könne die Zahl der Todesopfer bei 100.000 liegen. Diese Feststellung habe aber nicht dazu geführt, auf Talsperren zu verzichten, vielmehr habe man hier, durch adäquate Schutz- maßnahmen versucht, der Gefahr angemessen zu begegnen.636 Von Ehrenstein führte die Crux dieses Vergleichs vor Augen. Er argumen- tierte, dass es dabei nicht wie bei einem Kernenergieunfall eine Langzeitverseu-

634 Ebd., S. 8/19ff. 635 Ebd., S. 8/25. 636 Ebd., S. 8/8f.

150 chung vergleichbar mit der radioaktiven Verstrahlung gebe.637 Birkhofer setzte entgegen, dass auch bei Dammbrüchen durch die gleichzeitige Erosion des Bo- dens Langzeitschäden aufträten, die nicht wieder beseitigt werden könnten.638 Darin gab von Ehrenstein ihm Recht mit dem Hinweis, dass dies nur zeige, dass auch anderen Technologien noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden müs- se.639 In der politischen und medienöffentlichen Diskussion wurde als Argument für die Nutzung der Kernenergie oftmals angeführt, dass die meisten Risiken des täglichen Lebens – zum Beispiel von einem Blitz getroffen zu werden – wesent- lich höher seien als diejenigen, die aus der Nutzung der Kernkraft entstünden.640 In der Kommission wurde dies produktiv genutzt. Meyer-Abich hob hervor, dass Birkhofer nicht der ‚gedanklichen Schlamperei‘ anhänge, ganz unterschied- liche Risiken wie das Verkehrs- oder Gewitterrisiko mit der Kernenergie zu vergleichen. Man dürfe nur die Risiken technischer Systeme vergleichen, die dem gleichen Zweck dienen, also zum Beispiel der Stromerzeugung.641 Birkhofer erläuterte allerdings, dass es für die Erarbeitung von Bezugs- größen durchaus zulässig sein müsse, das Individualrisiko durch Kernenergie mit den Individualrisiken anderer Einrichtungen unserer Zivilisation zu vergleichen. So habe es beispielsweise in den USA eine Studie gegeben, in der das natürliche Lebensrisiko eines 14-jährigen Mädchens mit 10–4 berechnet worden sei. Dieser Wert wurde als Maßstab für Risikoberechnungen von Technologien vor- geschlagen, bei denen die Zahl um ein paar Größenordnungen darunter liegen müsse. Er persönlich halte allerdings von solchen quantitativen Kriterien nicht viel.642 Altner pflichtete Birkhofer bei und schlug als akzeptablen Bewertungs- rahmen vor, die von der Enquete-Kommission zu erarbeitenden Szenarien so- wohl sicherheitstechnisch wie auch mit Hilfe des in der Kriteriengruppe er- arbeiteten Kriterienkatalogs zu vergleichen.643 Die Kommission kam also zu einem recht frühen Zeitpunkt zu dem Schluss, dass die quantitativen Erhebungen erst zusammen mit Kriterien eine Entscheidungsgrundlage bieten können. War die Frage, wie man die Gefahren der Kernenergie erfassen könne, da- mit gelöst, so musste noch geklärt werden, welche Gefahren lauern, falls man auf die quasi „saubere“ Kernenergie verzichtete. So sprach Helmut Schaefer in sei-

637 Ebd., S. 8/10. 638 Ebd., S. 8/12. 639 Ebd., S. 8/15. 640 Radkau, Angstabwehr, S. 28. 641 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/32f. 642 Ebd., S. 8/33f. 643 Ebd., S. 8/34.

151 nem Vortrag644 und in seiner Vorlage den Urbanen Energieumsatz und seine Auswirkungen645 an. Demnach mache die ‚stoffliche Belastung‘ der Atmosphäre durch verschiedene Energieträger bereits heute Maßnahmen erforderlich, die Umwelt in Verdichtungsräumen für Menschen lebenswert zu erhalten.646 Das, was wir heute unter dem Rubrum der Feinstaubbelastung kennen, war bereits in den 1970er Jahren Thema. Die Idee, auf Kernenergie zu verzichten, ging mit dem Thema Energiespa- ren einher, das nicht unbedingt populär war und ebenfalls mit Gefahren für die Gesundheit verbunden zu sein schien. Schaefer beispielsweise beschrieb in sei- nem Vortrag die Probleme, die sich aus einer weitgehenden Isolierung der Ge- bäude ergeben könnten, wie sie in dem von der Kommission erarbeiteten Modell Sparen 2 vorgeschlagen worden waren. Sparen 2 firmierte auch unter dem Be- griff extremes Sparen und beinhaltete auch gebäudetechnische Maßnahmen zur Reduzierung des Energieverbrauchs. Schaefer zufolge wäre es notwendig, solche Gebäude einer ‚Zwangslüftung‘ zu unterziehen – was eine Einschränkung des individuellen Lebensstils bedeuten würde. Schaefer betonte, dass die Luftwech- selrate heute über 1 liege und bei den entsprechenden strengen Sparvorgaben auf 0,5 gesenkt werden müsste. Da aber beispielsweise zahlreiche Baustoffe kon- stante Radonemissionen hätten, würde die Halbierung der Luftwechselrate eine Verdopplung der Strahlenbelastung und damit eine Verdopplung des Lungen- krebsrisikos bedeuten.647 Diese Feststellung führte Schaefer unter anderem zu der Conclusio, dass das Szenario Sparen 2 nicht akzeptabel sei, „weil dabei ext- reme Sparziele mit extremer Vernachlässigung wesentlicher humaner und sozia- ler Belange Hand in Hand gehen.“648 Dies wurde von Reuschenbach zu dem prägnanten Argument der ‚Todesfäl- le im Zusammenhang mit der Abdichtung von Fenstern‘ verkürzt.649 Allerdings wurde die Aussage von Schaefer modifiziert. Es bestehe zwar die Gefahr, aber: „Das ist ein schreckliches Beispiel dafür, daß der einzelne gewiß gut gemeinte Ratschläge unqualifiziert realisiert [...]“650. Es könne zu einer Gefahr für das Leben und sehr leicht dazu führen, dass Geld falsch investiert werde.651 Der Verzicht auf Kernenergie könne – wie es hieß – möglicherweise einen künftigen Energiemangel herauf beschwören. Die Kommission gab eine Studie

644 Ebd., S. 8/38–8/47. 645 PA DBT EK VIII, II/K/6b, Urbaner Energieumsatz und seine Auswirkungen, 25. Oktober 1979. 646 Ebd., S. 1f. 647 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/21f. 648 Ebd., S. 12/23. 649 Ebd., S. 12/62. 650 Ebd. 651 Ebd., S. 12/63.

152 zu dem Thema Risiken einer Energieunterversorgung bei Dornier Systems in Auftrag. Laermann, Gerstein und Schäfer drangen darauf, bei Prognos oder Batelle eine Parallelstudie anfertigen zu lassen.652 Letztlich kamen die beiden in Auftrag gegebenen Studien von Battelle und Dornier zu dem Schluss, dass von einem Energiemangel keine Gefährdungen für Mensch oder Umwelt ausgin- gen.653 Eine höchst umstrittene Ansicht, die immer wieder in der Diskussion auf- tauchte und im Zeichen der 1970er Jahre stand, war, dass genügend Energie bereitgestellt werden müsse, um den Hunger in den Entwicklungsländern zu bekämpfen.654 Meyer-Abich beispielsweise wandte dazu ein, „daß falls jemand nachweisen könne, daß der extensive Ausbau der Kernenergie in unserem Lande nachhaltig zur Lösung des Welthungerproblems und der sonstigen Probleme in den Entwicklungsländern beitragen könne, dann würden viele in der Enquete- Kommission – zu denen er dann auch gehöre – anders über Kernenergie den- ken.“655 Dieser argumentative Nachweis fehle jedoch. Gerstein versuchte diesen Nachweis zu liefern: Kernenergie oder Brüter sollten nicht in den Entwicklungs- ländern aufgebaut werden, die Industrieländer sollten vorwiegend von der Kern- energie Gebrauch machen. Dadurch stünden den Entwicklungsländern ausrei- chende Mengen an fossilen Energieträgern zu ‚annehmbaren Preisen‘ zur Verfügung.656 Diese Argumentation führte zu einer gewissen Missstimmung. Insbesondere Meyer-Abich forderte dazu auf, dass „niemand diese Not [der Dritten Welt, C.A.] in Anspruch nehme, um damit eine eigene bestimmte Position zu unter- mauern.“657 Er drang darauf, zu erklären, „inwiefern es anderen helfen könne, wenn es uns gut gehe.“658 Als Knizia in der Anhörung von Lovins und Schneider erneut mit der Not der Dritten Welt argumentierte, platzte Meyer-Abich buch- stäblich der Kragen: Er bezeichnete dies als Pseudoargument, das künftig nicht mehr im Mund geführt werden solle, es sei denn, es werde aufgezeigt, was es der Dritten Welt nütze, wenn „wir uns energiepolitisch in einer bestimmten Weise verhalten“659. Offenkundig konnte genau dieser Beweis aber nicht erbracht wer- den. So antwortete Knizia: „ich will nichts zu dem Beitrag von Herrn Meyer-

652 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 6; PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, S. 8/5f. 653 Vgl. z.B.: PA DBT EK VIII, Materialband zu AF II, II/K/17, Vergleichende Kurzfassung der Studien Risiko und Akzeptanzproblem einer Energieunterversorgung (Wagner), 25. März 1979. 654 Stavenhagen: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/27. 655 Meyer-Abich: Ebd., S. 8/29f. 656 Gerstein: Ebd., S. 8/30. 657 Ebd., S. 8/31. 658 Ebd. 659 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Teil, 1. Dezember 1979, S. 9a/61.

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Abich sagen; der muß sich selber, meine ich, klassifizieren.“660 Er argumentierte erneut, dass die Industrieländer den Entwicklungsländern viel billiges Öl zur Verfügung stellen müssten.661 Altner versuchte noch einmal deutlich zu machen, in welchem Punkt die Kommission sich einig sei. Es sei nicht kontrovers, dass man Öl durch Kern- energie substituieren könne, kontrovers seien nur die Kosten und Risiken. Dass man eine Energiepolitik betreiben solle, die der Dritten und Vierten Welt Öl übrig lasse, sei ebenfalls nicht kontrovers. Die Frage sei hier, wie man das am sinnvollsten mache.662 Man müsse sehr genau überlegen, welche Energiestrategie wirklich von Nutzen sei. Unter Umständen sei die rationelle Nutzung und alter- native Erzeugung von Energie eine sinnvollere Alternative.663 Laermann gab zusätzlich zu bedenken, dass ‚nicht-technische Lebensrisiken‘ wie Hunger nicht quantifiziert werden könnten. Daher lehnte er eine Definition von Grenzwerten ab, wie Meyer-Abich sie angeregt hatte.664 Um in dem Punkt der Vergleichbar- keit weiterzukommen, wurde vorgeschlagen, auch in der Frage des Verzichts auf Kernenergie nach dem Abwägungsprinzip vorzugehen.665

Kriterienkatalog

Das Abwägungsprinzip wurde anhand einer einvernehmlichen Vorlage von Meyer-Abich, Häfele und Pfeiffer über Kriterien und Maßstäbe für die Energie- versorgung verfolgt.666 Die Grundlage dieses Papiers war ein Text, den Meyer- Abich bereits vorher publiziert hatte. Um aber nicht den Eindruck entstehen zu lassen, der Kommission werde an dieser Stelle von einem Kernenergiegegner etwas ‚übergestülpt‘, wurde diese Tatsache wohl nicht weiter thematisiert.667 Die erste Diskussion des Papiers lässt diesen Schluss zu. Obgleich Häfele und Pfeiffer, die beide nicht im Verdacht stehen, kernenergiefeindlich zu argu- mentieren, das Papier mitgestaltet hatten, kritisierten die Unionspolitiker Gerstein und Stavenhagen den Text heftig. Einzelne Worte und Abschnitte wur-

660 Ebd., S. 9a/62. 661 Ebd. Vgl. ausführlich zu Knizias Argument: Klaus Knizia, Energie Ordnung Menschlichkeit, Düsseldorf/Wien 1981. 662 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Teil, 1. Dezember 1979, S. 9a/65. 663 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/32. 664 Ebd. 665 Gerstein mit Bezug auf Korffs Schrift Kernenergie und Moraltheologie: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/30f. 666 PA DBT EK VIII, III/K/16, Kriterien für die Bewertung Energiesystemen (Meyer- Abich/Häfele/Pfeiffer/Gerstein), 16. Februar 1980. 667 Gespräch mit Klaus Michael Meyer-Abich, Hamburg 31. Juli 2008.

154 den als zu undifferenziert oder ‚falsch‘ pointiert kritisiert – immer verbunden mit der Unterstellung, das Ergebnis des Papiers sei die Ablehnung der Kernener- gie.668 Zum einen habe man nicht die Wahl zwischen verschiedenen Energiesys- temen, zum andern könne man keine absoluten und gleichrangigen Kriterien für die Entscheidung über Energieversorgungssysteme festlegen.669 Auch wenn Schäfer diese Kritik nicht nachvollziehen konnte, fehlten ihm gleichwohl Vor- schläge, wie man die Kriterien in der praktischen Politik umsetzen könne.670 Meyer-Abich fiel zwar der Argumentationsstil der anderen Kommissions- mitglieder negativ auf, er konnte jedoch keinen wesentlichen Einwand gegen das Papier erkennen und bat daher darum, eventuell noch auftauchende Einwände schriftlich abzugeben.671 Gerstein hakte nach und gab zu bedenken, dass er den ‚Grundtenor‘ des Papiers für zu ‚kulturpessimistisch‘ oder zu ‚zivilisationsfeind- lich‘ halte.672 Letztlich wurde das Papier mit Gerstein gemeinsam überarbeitet und in der Gesamtempfehlung gemeinsam verabschiedet. An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass es in der Kommission nicht ausreichte, Kritik zu üben, man musste anschließend eigene Verbesserungsvorschläge vorlegen oder an der Überarbeitung mitwirken.

d. Offene Punkte im Bericht

Die Kommission schuf die Grundlagen für einen Vergleich der Risiken ver- schiedener Energiesysteme, wagte letztlich aber nicht, diese selbst anzuwenden. Grund dafür seien die fehlenden wissenschaftlichen Arbeiten zu der Thematik.673 Es gebe zwar Hinweise darauf, dass die Energieträger Kohle und Gas statistisch ungünstigere Werte für zu erwartende schwere Körperschäden aufwiesen als die Kernenergie, aber die Studien berücksichtigten keine Störfälle bei der Wieder- aufarbeitung und Endlagerung der Kernenergie. Auch fehle bislang ausreichen- des Wissen darüber, wann der Einsatz fossiler Brennstoffe zu gefährlichen Kli- maveränderungen führe. Bei Windkraft und Biomasse sei die Wirkungskraft ebenso unsicher wie mögliche Gefahren. Um diesem mangelnden Wissen abzuhelfen, empfahl die Kommission, auf diesen Gebieten die Forschung zu intensivieren und öffentlich zu fördern.674

668 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/83f. 669 Ebd., S. 8/84f. 670 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/84. 671 Ebd., S. 8/87. 672 Ebd., S. 8/91. 673 Vgl. zu den ausgewerteten Studien: PA DBT EK VIII, II/K/2, Auswirkungen von nicht- nuklearen Energieträgern und -systemen (Kasper/Wagner), 18. Oktober 1979. 674 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 290f.

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Bereits im Jahre 1980 gab es in wissenschaftlichen Mitteilungsblättern einen ersten Höhepunkt an Meldungen zum Klimawandel; auf politischer Ebene nahm die Aufmerksamkeit allerdings erst ab 1987 zu.675 Die Enquete-Kommission hatte das Thema bereits angedacht.676 Ein Beispiel für die Problematik einer risikovergleichenden Studie war die Kommissionsdrucksache von Sauermann677, in der die Umweltbelastung durch die Ableitung von Schadstoffen in der Abluft mit den Gefahren durch die Kern- energie verglichen wurde. Sowohl Höpfner (IFEU) als auch Kasper (RWE) aus dem wissenschaftlichen Stab gaben dazu eine Stellungnahme ab. Auch wenn der Fokus der beiden Mitarbeiter sich unterschied, kamen letztlich beide zu dem Schluss, dass sich die Sauermannsche Methode nicht dazu eigne, die behauptete größere Umweltfreundlichkeit von Kern- gegenüber Kohlekraftwerken nachzu- weisen. Schon alleine die gewählten Grenzwerte entsprechend der Strahlen- schutzverordnung und der Technischen Anleitung zur Reinerhaltung der Luft (TA Luft)678 seien nicht äquivalent zu bewerten.679 Folglich fehle es insgesamt an einer allgemein akzeptierten Einheit zur Quantifizierung unterschiedlicher Risiken. Zwar werde die Einheit ‚ausgefallene Arbeitstage‘ häufig verwendet, aber ebenso häufig werde sie auch kritisiert. Ausgefallene Arbeitstage waren die Maßeinheit, um bei Kernkraftwerken deren Risikoanfälligkeit darzustellen, denn wann immer ein Reaktor aus dem Ruder läuft, ist er abzuschalten und vom Netz zu nehmen.680 Während die Enquete-Kommission in der Frage des Vergleichs zu dem ein- heitlichen Votum kam, dass in weiteren Forschungsvorhaben die Unsicherheiten beseitigt werden müssten, gingen die Meinungen zur Radioökologie auseinander. Die angeforderten Gutachten konnte die Kommission in der Berichtszeit nicht mehr diskutieren, wies aber auf die in den Fußnoten des Berichts dargelegte Problematik der radioaktiven Strahlung hin. Altner und von Ehrenstein hielten es

675 Weingart/Engels/Pansegrau, Von der Hypothese zur Katastrophe, S. 40. 676 PA DBT EK VIII, II/K/13, Was ist gegen eine CO2-induzierte Klimaänderung zu tun (Meyer- Abich), 5. März 1980; ACDP I–547–009/4, Brief von Hans C. Eschelbacher (Arbeitsgruppe Forschung und Technologie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) an Stavenhagen, 17. März 1980. Dabei findet sich auch ein Brief von Reimar Lüst an die SZ vom 7. Dezember 1979, in dem er darauf hinweist, dass er Meyer-Abichs Argumentation unredlich finde, da dieser auf- grund seiner Gegnerschaft zur Kernenergie die Folgen eines Klimawandels nicht wahrhaben wolle. 677 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/17. 678 Michaelis, Handbuch Kernenergie, S. 790f. Grundlage: Bundes-Immissionsschutzgesetz vom 1. April 1974, TA Luft vom 28. August 1974. 679 PA DBT EK VIII, II/K/5a und II/K/5b, Vergleich der Umweltbelastung durch Ableitung von Schadstoffen mit der Abluft. 680 PA DBT EK VIII, II/K/2, Übersicht über Risikostudien zu nichtnuklearen Energieträgern und -systemen (Kasper/Wagner), 18. Oktober 1979.

156 für notwendig, aufgrund der besonderen Bedeutung des Themas zumindest eini- ge wichtige Aspekte zu verdeutlichen. Wichtig seien sie, da die Wirkung radio- aktiver Strahlung auf die Gesundheit bisher unterschätzt werde. Über die Krebs- gefährdung hinausgehende Auswirkungen – beispielsweise genetische Schäden – seien unzureichend erforscht. Von Ehrenstein und Altner erarbeiteten aus den Feststellungen verschiedene Forderungen. Um auch die Kernenergie befürwor- tende Seite in der Kommission zu Wort kommen zu lassen, gab es eine weitere Fußnote mit einer Stellungnahme Birkhofers zu den aufgeworfenen Fragen. Birkhofer schrieb hier das genaue Gegenteil: Es gebe zahlreiche Studien und Tierversuche, die eine „konservative Abschätzung möglicher Strahlenschä- den“681 erlaubten. Das schlagende Argument war Hiroshima: „bei den Personen, die von Atombombenabwürfen betroffen wurden, [konnten] bis dato keine zu- sätzlichen Schäden im Vergleich mit anderen Personengruppen statistisch nach- gewiesen werden“682. Letztlich stand hier Aussage gegen Aussage. Gingen die beiden Kritiker der Kernenergie von unzureichendem Wissen aus, liest sich Birkhofers Stellung- nahme, als lieferten die wissenschaftlichen Versuche einen gesicherten und end- gültigen Wissensstand. Dass die Verseuchung bei einem Unfall in einem Kernkraftwerk sich we- sentlich von der bei einer Atombombenexplosion unterscheidet, ist seit dem Unfall in Tschernobyl deutlich. Während Hiroshima wieder bewohnbar ist, wird Prypjat mit einer Sperrzone von 4.300 km2 wohl noch für Jahrzehnte nur Plünde- rer und Katastrophentouristen zu sehen bekommen. Befürchtungen über geneti- sche Schäden haben sich bewahrheitet – auch wenn die gesundheitlichen Folgen sehr unterschiedlich bewertet werden.683 Nach wie vor scheinen die Methoden zur Abschätzung der Belastungen von Mensch und Umwelt durch die Kernkraft- nutzung sowie durch einen Unfall unzureichend. Auf der einen Seite tauchen immer wieder höchst umstrittene Studien auf, die die Strahlenbelastung der Be- völkerung durch ein Atomkraftwerk bei bestimmungsmäßigem Betrieb betreffen. Auf der anderen Seite werden diese Studien hinsichtlich ihrer methodischen Sauberkeit angezweifelt.684

681 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 288f. 682 Ebd., S. 289, S. 287–290. 683 Vgl.: Edmund Lengfelder, Die Folgen von Tschernobyl für Mensch und Umwelt, in: Wolfgang Liebert/Friedemann Schmithals (Hg.), Tschernobyl und kein Ende? Argumente für den Aus- stieg. Szenarien für Alternativen, Münster 1997, S. 31–39. Die Atombombe wurde in großer Höhe gezündet, so dass die Winde das Material bereits über weite Flächen verstreuten. Der An- teil kurzlebiger radioaktiver Teilchen ist in einer Atombombe darüber hinaus sehr groß. Ein Taifun im September 1945 har für eine weitere Verteilung der radioaktiven Isotope gesorgt. 684 Zum Beispiel gab es eine intensive Diskussion nach der vom Bundesamt für Strahlenschutz in Auftrag gegebenen Epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kern-

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Der Vergleich der Auswirkungen einer Atombombenexplosion und eines Störfalls in einem Atomkraftwerk wurde von Kernenergiebefürwortern als ‚fahr- lässig‘ betrachtet und in die Schublade unnötiger ‚Panikmache‘ gesteckt. Inso- fern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass hinsichtlich der Schäden durch radioaktive Strahlung im Bericht der Enquete-Kommission ebendieser Vergleich herangezogen wurde. Zu den andiskutierten Rechtsfragen, die sich vor allem auf die Definition ‚Stand von Wissenschaft und Technik‘ zum Sicherheitsstandard bei Kernkraft- werken konzentrierten, äußerte sich die Kommission, verwies aber auf die feh- lende Zeit, um eine abschließende Empfehlung abzugeben, und schlug vor, dies in der möglichen zweiten Kommission nachzuholen.685 Es gibt eine Reihe von Sekretariatsvorlagen zu dem Rechtsbegriff ‚Stand von Wissenschaft und Tech- nik‘, der aufgrund seiner Unbestimmtheit im Verdacht stand, sowohl will- kürliches behördliches Handeln als auch Nichtstun in Sicherheitsfragen zu pro- vozieren.686 Risikotechnische Unsicherheiten des Schnellen Brüters, der auslösenden Frage zur Einsetzung der Kommission, konnten nicht geklärt werden. In der Kommission wurde ein erneute Prüfung und insbesondere ein Sicherheits- vergleich mit einem Leichtwasserreaktor für empfehlenswert gehalten.

e. Wandel des Risikobegriffs und Kriterien

Was aus der Vermessung der Argumentationen deutlich wird, ist die Tatsache, dass zwar die Risiken vieler Energieträger für Mensch und Umwelt besprochen wurden, bei zahlreichen strittigen Punkten allerdings erst einmal nur festgehalten wurde, dass die Informationen derzeit nicht ausreichen und zusätzliche For- schungen notwendig seien, ehe man weitere Entscheidungen treffen könne. Zahl- reiche Gefahren wurden wohl einfach als argumentative Floskeln verwendet und

kraftwerken. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es zu einem signifikanten Anstieg der Fälle in 5km Umgebung kommt; allerdings gab es Zweifel an der Stichprobengröße (in 25 Jahren kam es bei einem Kernkraftwerk zu 29 zusätzlichen Fällen). Vgl.: Kinderkrebsstudie. Politiker streiten, Wissenschaftler bleiben cool, in: Der Spiegel, 11. Dezember 2007; vgl. außerdem die länger zurückliegende Auseinandersetzung der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) e.V.: Roland Scholz, Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung, Berlin 1993. 685 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 292ff. 686 Vgl. z.B.: PA DBT EK VIII, II/S/7, Aspekte der Ausgestaltung des technischen Sicherheits- rechts. Möglichkeiten und Grenzen für die Legislative (Schneider), 13. November 1979; PA DBT EK VIII, III/K/14, Der Begriff „Stand von Wissenschaft und Technik“ in §7 Abs. 2 Nr. 3 AtG – Möglichkeiten einer weiteren Konkretisierung dieser Vorschrift (Backhaus), ohne Da- tum.

158 hatten keine diskursgewichtige Relevanz. Die Unsicherheiten in Bezug auf die Kernenergie sind im Rahmen der gesamten Kernkraftdebatte ein entscheidender Faktor, da nicht klar war, wer die Kosten eines Unfalls tragen sollte. Festzustellen ist aber durchaus eine argumentative Domestizierung von Be- fürwortern und Gegnern der Kernenergie. Auffällig ist, dass die Diskussion um Risiken stark von Emotionen geprägt war. In den Medien meldeten sich unter anderem auch die Kommissionsmitglieder mit affektiven Äußerungen zu Wort. Durch die Kriterien, die von allen Mitgliedern der Kommission gemeinsam an- genommen wurden, war es möglich geworden, von den Einzelfragen zu einem größeren Bewertungsmaßstab zu gelangen. Die Diskussion der Enquete-Kommission um Risiko, Restrisiko und Gefahr ging bald über die bis dahin übliche Technik hinaus, indem neben den Zahlen als weitere Entscheidungsparameter Kriterien herangezogen wurden. Diese Kriterien entstammten der Feder von Meyer-Abich und waren bereits im August 1979 in den Arbeitsprozess der Kommission eingeflossen. Die Ausarbeitung des Kata- logs erfolgte über einen abgestimmten Kommunikationsprozess zwischen Häfe- le, Meyer-Abich, Birkhofer687, Pfeiffer und Gerstein688. Dem Bericht vorangestellt sind ebendiese Kriterien zur Bewertung von Energiesystemen: Wirtschaftlichkeit, internationale Verträglichkeit, Umwelt- verträglichkeit und Sozialverträglichkeit.689 Danach sollten Energiesysteme Le- ben und Gesundheit von Menschen „so wenig wie möglich beeinträchtigen“690, die Lebensbedingungen der übrigen Biosphäre so wenig wie möglich und jeden- falls nicht irreversibel schädigen, die ökologischen Ressourcen nicht über Ge- bühr beanspruchen, ästhetischen Gesichtspunkten genügen, hinsichtlich der Langzeitbeeinträchtigung der Erde und ihrer natürlichen Bedingungen (z.B. Klima) möglichst risikoarm sein, ein möglichst geringes Unfallrisiko bergen und die Kulturgüter nicht gefährden. Auch der Aspekt der Dritten Welt war so in den Kriterien untergebracht.691 Ganz entscheidend für die Anwendung dieser Kriterien ist die Verbindung zur Quantifizierung der Risiken. Hier ging die Kommission über den bis dahin geläufigen Begriff zur Beurteilung technischer Risiken hinaus. Hatte man bis dahin Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß berechnet, fordert die Kommission folgendes: „Energiesysteme sollen in diesem Sinn sowohl hinsicht-

687 PA DBT EK VIII, II/K/16, 2. Fassung: Bemerkungen zur Reduktion von Risiken und zur Begrenzung des Schadensausmaßes bei Unfällen (Birkhofer), 27. März 1980; PA DBT EK VIII, Materialband zu AF III, Anmerkungen von Birkhofer zur Vorlage III/K/16, 4. März 1980. 688 PA DBT EK VIII, III/S/10, Kriterien für die Bewertung von Energiesystemen (Gerstein), 20. Februar 1980. 689 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 27–32. 690 Ebd., S. 31. 691 Ebd.

159 lich ihres Risikos (im Sinne des Produktes aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß) als auch hinsichtlich ihres maximalen Schadensausmaßes nach den hier entwickelten Kriterien politisch vertretbar sein.“692 Insofern bewegte die Kommission sich weg von der Reduktion auf die Macht der Zahlen. Diese neue Betrachtung der Unsicherheiten – konstruktiv umgesetzt – wur- de als eine Möglichkeit gesehen, die Akzeptanz zu vergrößern und damit die Transaktionskosten zu reduzieren. Das mangelnde Vertrauen in die Kernenergie hatte immense Kosten verursacht. Die Proteste an den Bauplätzen und die Kla- gen an den Verwaltungsgerichten hatten dazu geführt, dass einzelne Bestandteile der Genehmigung erneut überprüft wurden und der Bau der Kraftwerke sich immens verzögerte. Auch wenn in dem Gremium kein grundlegend neues Wis- sen zum Thema Risiko erarbeitet wurde, so wurden doch ausgehend vom damals aktuellen Forschungsstand Informationen aus unterschiedlichsten disziplinären Zusammenhängen zusammengetragen, ausgewertet und neu überdacht. Teilwei- se, wie im Falle der Energieunterversorgung, wurden auch erstmals Gutachten angefordert. Entscheidend ist hier wohl, dass ein Weg vorgeschlagen wurde, wie das vorhandene Wissen und die Unsicherheiten politisch handhabbar gemacht werden können. Deutlich wurde ein Wandel in der Argumentation bei den Mitgliedern des Gremiums. Bewegte sich zu Beginn der Kommissionsarbeit die Diskussion stre- ckenweise auf den ausgetretenen Argumentationspfaden, so ist festzuhalten, dass in einem intensiven Gedankenaustausch der Weg für eine gemeinsame Bewer- tungsgrundlage gefunden wurde. Auf diesem Weg gab es zwar immer wieder Stolpermomente – wie Ausfälligkeiten und Pseudoargumente –, sie konnten jedoch aufgefangen werden. Stets war die Risikoproblematik rückgekoppelt an die Frage, was der Staat tun könne und solle. Der Unsicherheit, die sich aus der Berufung auf die Probabilistik ergeben hatte, konnte nun durch eine erweiterte Betrachtungsweise begegnet werden. Insofern war Ueberhorsts Schachzug, vor einer detaillierten Diskussion zunächst einmal Kriterien für eine entsprechende Entscheidung über Energiesysteme zu entwickeln, entscheidend auf dem Weg zum Kompromiss. Schaut man sich den Diskussionsstil bis hierher an, scheint es so, als sei es in dieser Kommission tatsächlich zu einer rationalen, sich ins das Gegenüber hineindenkende Kommunikation gekommen, die die verbissene Denkweise zu- gunsten der Einsicht in die Pluralität politischer Optionen überwindet. Weitge- hend unabhängig von der eigenen Community hatten sich die Mitglieder von der ‚Produktformel‘ abgekehrt und eine neue Risikodefinition geschaffen. An die- sem Punkt weist alles auf die eingangs erwähnte heroische Tragödie hin.

692 Ebd., S. 32.

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VI. Ökonomie und Gesellschaft

Neben den Risiken für Mensch und Umwelt spielten wirtschaftliche Erwägungen in der Debatte eine entscheidende Rolle. Welche Auswirkungen haben die ver- schiedenen Energieversorgungssysteme auf Wirtschaft und Gesellschaft? Was passiert bei möglichen Fehlentwicklungen, und wie können diese vermieden werden? Schließlich hatte die Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre die Grenzen des Wachstums deutlich ins allgemeine Bewusstsein gebracht. Vor diesem Hin- tergrund bekamen die Worst-Case-Szenarien ‚Atomstaat‘ und ‚Kalorienstaat‘ noch einmal eine andere Bedeutung.

a. Aufgabe und historischer Hintergrund

Die Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums trat in den 1970er Jahren offen zutage und erschütterte das wirtschaftliche Selbstverständnis der Bundes- republik tief.693 Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, der zu Wäh- rungsschwankungen führte, und die erste Ölpreiskrise 1973/74 lösten eine schar- fe Rezession aus. Damit schien das keynesianisch geprägte Planungsdenken schon in den frühen 1970er Jahren sichtbar an seine Grenzen zu stoßen.694 Zu- dem führte der Wettbewerbsdruck asiatischer Niedriglohnstaaten zu regionaler Entindustrialisierung durch das Wegbrechen der Textilbranche – eine ausgespro- chen lohnabhängige Branche. Dies konnte auch durch Firmen im Bereich der Datenverarbeitung nicht wettgemacht werden. Es entstand eine neue Arbeits- losigkeit, die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit, die allen Gegensteuerungsmaß- nahmen standhielt und bis heute politisch nicht bewältigt ist. Gleichzeitig drang durch die Ölpreiskrise ins allgemeine Bewusstsein vor, wie entscheidend eine preisgünstige Energieversorgung für die Bundesrepublik war.695 Das Krisenmanagement belastete die sozialliberale Koalition nachhaltig. Das Instrument keynesianischer Konjunkturregulierung, das in die bundesrepublikanische Politik eingeführt und das während der konjunkturellen Delle 1966/67 noch funktionierte, konnte die Situation nicht entspannen. Dies führte zu einer Renaissance neoliberaler Wirtschaftstheorien und bereitete eine konservative Wende vor.696 Zur Belebung der Konjunktur wurden Maßnahmen wie Investitionszulagen für Unternehmen und zur Arbeitsbeschaffung ergriffen.

693 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 275. 694 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 22. 695 Jarausch, Krise oder Aufbruch, S. 3. Zum Problem der Sockelarbeitslosigkeit vgl.: Werner Abelshauser, Die wahren Wurzeln der Arbeitslosigkeit, in: Die Zeit Nr. 35, 21. August 2008. 696 Jarausch, Krise oder Aufbruch, S. 3.

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Die Energiepolitik der Bundesregierung ist Teil der Wirtschaftspolitik. Ent- sprechend politisch brisant war daher die Frage, wie man von Energielieferungen aus dem Ausland independenter werden könne, um ausreichend billige Energie für Wirtschaftswachstum – und damit indirekt gegen Arbeitslosigkeit – zur Ver- fügung stellen könne. Der Schnelle Brüter, der die Bundesrepublik auch von ausländischen Uranlieferungen unabhängiger machen sollte, drohte in Verruf zu geraten aufgrund der enormen Kostensteigerungen. Intensiv auf rationelle Ener- gienutzung zu setzen war wiederum immer mit Ängsten vor einem Energieman- gel verbunden. Drohte eine Planwirtschaft, wenn Energie sich verknappte und zugeteilt werden müsste? Neben diesen wirtschaftlichen Erwägungen stand im Hintergrund der De- batte – vor allem um eine Energiemangelsituation – latent die Sorge um den Bestand der westdeutschen Demokratie. Die teilweise gewalttätigen Proteste an den Bauplätzen von Kernkraftwerken wurden mitunter als erste Anfänge eines Staatsumsturzes gewertet. Darüber hinaus saß der Schrecken des RAF-Terrors im ‚Deutschen Herbst‘ 1977 allen in den Knochen. Befürworter alternativer Energien befürchteten, dass mit dem Großausbau der Kernenergie Sicherheits- maßnahmen einhergehen würden, die mit den freiheitlichen Rechten der Demo- kratie nicht zu vereinbaren wären. Entsprechend war es für den Bundestag von entscheidender Bedeutung, dass neben der wirtschaftlichen Komponente auch die Folgen für die Gesell- schaft in die Empfehlung der Enquete-Kommission einbezogen wurden. Das Gremium sollte ökonomische und gesellschaftliche Gesichtspunkte bearbeiten und die Möglichkeiten und Konsequenzen eines Verzichts auf Kernenergie dar- stellen und bewerten.697 Dies implizierte sowohl eine vergleichende Perspektive auf die möglichen Energieversorgungssysteme wie auch die Betrachtung eines Systems ohne Kernenergie. Ueberhorst definierte als Aufgabe der Kommission, „für die öffentliche Diskussion um die Kernenergie die Bedingungen der Mach- barkeit alternativer Vorschläge aufzuzeigen.“698 Da ein entsprechendes Papier von Hauff bereits vor Beginn der Kommissi- onsarbeit in der SPD kursierte, liegt es nahe, anzunehmen, dass die Szenarientechnik als methodische Herangehensweise für die Arbeit bereits fest- lag. Dies bot sich auch vor dem Hintergrund an, dass verschiedene Sachverstän- dige der Enquete-Kommission bereits an der Erarbeitung von Szenarien beteiligt waren: Altner und das Öko-Instituts-Szenario699, Häfele und das Szenario der IIASA sowie Meyer-Abich und das AUGE-Szenario.

697 PA DBT Drs. VIII/2628, Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Tech- nologie, 7. März 1979. 698 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/9. 699 Bossel/Krause/Müller-Reissmann, Energiewende.

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Die Szenarientechnik ist eine Methode, die in der Zukunftsforschung entwi- ckelt wurde – ursprünglich also nicht dem Planungsdenken zu zurechnen ist. Sie wird für lange Zeitspannen eingesetzt, bei denen rein quantitative Prognoseverfahren aufgrund zu vieler Unsicherheiten versagen. Es geht nicht darum, ein möglichst realitätsnahes Bild der Zukunft zu entwerfen, sondern Fak- toren zu ermitteln und die entsprechenden Wirkungszusammenhänge darzustel- len. Das berühmteste Szenario war sicherlich Grenzen des Wachstums.700 Dass eine energiewirtschaftliche Prognose über einen so langen Zeitraum wie 50 Jahre kaum möglich ist, zeigte schon die bundesrepublikanische Historie: Die Wiedervereinigung 1989 beispielsweise war ebenso wenig absehbar wie deren ökonomische und gesellschaftliche Folgen. Diese Unwägbarkeiten der Geschichte waren der Enquete-Kommission durchaus bewusst, weshalb ihr daran gelegen war, ihre Betrachtungen als Szenarien oder auch Pfade zu bezeichnen, an denen man Implikationen studieren konnte. Auch wenn die energiewirtschaftliche Zukunft nicht berechenbar war, so bedurfte es doch langfristiger energiepolitischer Maßnahmen, um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten. Ein augenscheinliches Beispiel hierfür ist die Kernenergie, deren Planung und Umsetzung sich je nach Kernkraftwerk viele Jahre bis hin zu Jahrzehnten hinzogen. Die Enquete-Kommission wollte vergleichbare Szenarien aufstellen, um zu klären, ob Kernenergie eine Möglichkeit oder eine Notwendigkeit sei. Innerhalb der Kommissionsarbeit machte die Pfadberechnung den Löwenanteil aus. Bei insgesamt sieben Arbeitsfeldern beschäftigten sich acht von 22 Sitzungen mit den Pfaden.701 Im Gremium war kein Ökonom, der sich mit den entsprechenden wirt- schaftlichen Fragestellungen auseinandergesetzt hätte, als Sachverständiger ver- treten. Die sich daraus ergebenden Wissensdefizite sollten durch Anhörungen sowie Gutachten ausgeglichen werden. Immerhin befand sich unter den Abge- ordneten ein Mitglied, das Betriebs- und Volkswirtschaft studiert und in Volks- wirtschaft promoviert hatte: Lutz Stavenhagen.

700 Vgl. zur Szenario-Technik: Ute von Reibnitz, Szenario-Technik, Wiesbaden 1991; Mirko Meyer-Schönherr, Szenario-Technik als Instrument der strategischen Planung, Ludwigsburg 1992. 701 Verantwortlich war die Arbeitsgruppe zu Arbeitsfeld I. Ihr gehörten Altner, Häfele, Knizia, Meyer-Abich und Schaefer an.

163 b. Pro und Contra in der Enquete

Die Prioritäten lagen in der Kommission ganz unterschiedlich. Während vor allem für die Unionsabgeordneten das Hauptziel der Energieversorgung in der Bedarfsdeckung lag und Sicherheit für Mensch und Umwelt Nebenbedingungen waren, sahen beispielsweise Schäfer und Altner dies genau andersherum.702 Als das Themenfeld der Szenarien abgesteckt wurde, stand neben Fragen des Kapitals, des wirtschaftlichen Nutzens von Kernenergie und des Wirt- schaftswachstums vor allem die Frage des Energiesparens kontrovers im Raum. Gerstein beispielsweise verwies auf die generelle Gefahr eines ‚Energiemangel- staats‘ und forderte eine Untersuchung, „zu wieviel Energieverzicht die Bevölke- rung bereit sei“703. Mit Letzterem stieß er auf offene Ohren beispielsweise bei Altner.704 Reuschenbach drang darauf, die Auswirkungen von Einsparungsstra- tegien auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu untersu- chen, wenn dieser Weg international gesehen im Alleingang beschritten werde. Gerstein fragte im Zusammenhang mit Energiesparmaßnahmen: „Brauchen wir einen anderen Staat?“705 Schnell wurde klar, dass man sich dem Problem einer sicheren Energiever- sorgung am Geschicktesten näherte, indem man jeweils zwei Referenzbedarfs- szenarien für den nationalen, europäischen und weltweiten Raum erarbeitete und dazu alternative Energieversorgungsszenarien diskutierte. „Über diese Art der Berechnung der Szenarien könne in der Kommission wahrscheinlich ein Kon- sens erzielt werden“706, so Stavenhagen. Verschiedene externe Sachverständige wurden für mögliche Anhörungen vorgeschlagen, unter anderem Schneider von Gerstein und Schaefer, Michaelis von Gerstein sowie Lovins von Schäfer und Knizia.707 Lovins war bei den Anzuhörenden für die Pfade der einzige, der so- wohl von einem Befürworter der Kernenergie als auch von einem Befürworter des kernenergiefreien Weges vorgeschlagen wurde. Die Pfade wurden auf der Grundlage des Matrixgenerators und Report- Writers SOPKA (System-Optimierungs-Programm Karlsruhe) berechnet. Ein Rechenprogramm, das in den Jahren 1977/78 von Peter Jansen und Dieter Klumpp am Kernforschungszentrum entwickelt worden war. Mit SOPKA konn- ten komplexe lineare Systeme abgebildet werden. Es diente der Analyse nuklea- rer Brennstoffzyklen bei der INFCE und für Analysen des Second Yellow Books

702 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/8f. 703 Ebd., S. 2/12f. 704 Ebd. 705 Ebd., S. 2/16. 706 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/7. 707 Ebd., S. 3/15, 3/30.

164 der OECD/NEA. Unter der Federführung von Jansen konnte das Programm im Rahmen der Enquete-Kommission den Energiefluss Deutschlands modellieren und die verschiedenen Vorstellungen über Energieentwicklungsmöglichkeiten abbilden.708 Die Nutzung des Computers für diese Form der Betrachtung ist auch aus technikhistorischer Sicht zu vergegenwärtigen: In den 1970er Jahren waren Computer noch weit davon entfernt, sich im häuslichen Gebrauch durchzusetzen, auch wenn serienmäßig produzierbare Mikroprozessoren immer kleiner und leistungsfähiger wurden und bereits Tischgeräte ermöglichten. Grundlage der Modellrechnungen für die Enquete-Kommission war der Energieverbrauch des Jahres 1978, einheitlich hochgerechnet auf das Modell- Basisjahr 1980 mit dem Faktor 1.075. Davon ausgehend wurde die Entwicklung des Energieverbrauchs für die Jahre 2000 und 2030 angegeben.709 Zunächst al- lerdings musste die Kommission sich auf die Ausgangsannahmen einigen.

c. Die Entwicklung der Basisdaten für Szenarien

Nach den Vorarbeiten in der Arbeitsgruppe präsentierten die fünf Berichterstatter der Gesamtkommission auf der vierten Sitzung erste Ergebnisse und die Szenari- en, die sie jeweils vertraten. Dabei handelte es sich um eine ganze Fülle von Szenarien. Bereits im Vorfeld war klar, in welchen Bereichen die Annahmen der Berichterstatter auseinander gehen würden: In der Bevölkerungsentwicklung, der Realisierbarkeit von Einsparmöglichkeiten, bei den Vorstellungen davon wie der künftige Welthandel sowie die zukünftige Entwicklungshilfe einzubeziehen seien und nicht zuletzt, wie sich Wirtschaftswachstum und Struktur der deut- schen Wirtschaft entwickeln würden.710 Häfele stellte – eingebettet in den internationalen Kontext – zwei Referenz- szenarien entsprechend der IIASA-Studie vor: Ein Szenario mit hohem Endener- gieverbrauch, das sich an den Zahlen der Weltenergiekonferenz orientierte, und eines mit niedrigerem Endenergieverbrauch durch Energiesparmaßnahmen und gedämpftes Wachstum, das sich an den Annahmen von Gerald Leach orientier- te;711 Leach hatte für Großbritannien ein solches Szenario entwickelt.712 Da alle Energieträger vom Öl bis zum Uran begrenzt sind, spielte Energiesparen in allen Szenarien eine Rolle: „Szenarien, bei denen wir in der heutigen Weise fortfah-

708 Dieter Faude, Modellrechnungen mit SOPKA-E für die Energiepfade der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“, Kernforschungszentrum Karlsruhe GmbH (KfK 3478), Karlsruhe März 1982, S. 23. Das E in SOPKA-E steht also für Energiemodell. 709 Faude, Modellrechnungen mit SOPKA-E, S. 26. 710 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/6. 711 Ebd., S. 4/7–4/21. 712 Gerald Leach, A Low Energy Srategy for the United Kingdom, London 1979.

165 ren, [Energie zu konsumieren, C.A.] rechnen sich nicht. Sie führen ohnehin zu keiner, überhaupt keiner Lösung.“713 Auf Kernenergie zu verzichten, würde Häfele zufolge die Handlungsspielräume einschränken.714 In Anbetracht der begrenzten fossilen Ressourcen sah er den Vorteil von Schnellen Brütern und der Sonnenergie darin, dass beide praktisch vollkommen unabhängig vom Ressour- cenproblem seien.715 Knizia orientierte sich in seinen Annahmen an den Zahlen der Weltenergie- konferenz und kam zu dem Schluss, dass letztlich mit der Verknappung der fos- silen Rohstoffe nur noch die Kernenergie bleibe. Für den Einsatz nuklearer Kraftwerke spräche auch, dass dies den Weltenergiemarkt entlasten und die Gefahr eines ‚Energiekrieges‘ minimiere.716 Das Szenario des Öko-Instituts, das Altner vorstellte, hatte starke Bezüge zu den Vorstellungen von Lovins, grenzte sich in einigen Punkten aber davon ab. Amory Lovins, ein amerikanischer Experimentalphysiker, beschrieb einen ‚har- ten‘, auf Großtechnologien aufbauenden und einen ‚sanften‘, auf dezentral ein- gesetzte, regenerative Energien aufbauenden Weg. Mit entsprechenden Spar- maßnahmen wäre es danach möglich, die Kernenergie bis zum Jahr 2000 auslaufen zu lassen.717 Meyer-Abich erläuterte Szenarien, deren oberster Energieverbrauch bei ei- ner Verdreifachung des Wohlstandes dem niedrigen Szenario Häfeles entsprach. Ausgangspunkt waren nicht prozentuale Wachstumsraten, sondern Wohlstands- annahmen pro Kopf. Einbezogen waren Sparmaßnahmen entsprechend der Stu- die, die Meyer-Abich mit Fichtner zusammen im Auftrag des BMFT erstellt hatte.718 Aber, erklärte der Naturphilosoph: „Diese Annahmen klingen insgesamt nicht danach, daß irgendwelche Gürtel enger geschnallt werden sollen. Im Ge- genteil, die Gürtel können weiter geschnallt werden als heute.“719 Wo Sparmaß- nahmen im Einzelnen anzusetzen wären, erläuterte Schaefer. Nach seinen Be- rechnungen lagen die Energiesparpotentiale jedoch deutlich unter denen, die Meyer-Abich angenommen hatte.720 Dies war die Grundlage für die weitere Diskussion. Die Kommission ent- schied, in einem ersten Schritt, die Anzahl der Szenarien zu reduzieren; wichtig sei es, eines mit und eines ohne Kernenergie zu berechnen. Außerdem wurden die Basisannahmen für die zu erstellenden Szenarien erarbeitet und Unsicherhei-

713 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/18. 714 Ebd., S. 4/21. 715 Ebd., S. 4/76. 716 Ebd., S. 4/22–4/27. 717 Ebd., S. 4/28–4/42. 718 Ebd., S. 4/43–4/53. 719 Ebd., S. 4/52. 720 Ebd., S. 4/54–4/59.

166 ten hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung, Sparmaßnahmen und Struktur- veränderungen der Wirtschaft ausgelotet.721

Bevölkerungsentwicklung

Auf der 4. Sitzung beschloss die Enquete, für das Jahr 2030 in der Bundesrepub- lik 50 Millionen Einwohner anzunehmen.722 Zuvor hatte es folgende Über- legungen gegeben: Während Altner723 wie auch Meyer-Abich724 den Angaben des Statistischen Bundesamtes mit 45 Millionen für 2030 folgten, wurde insbe- sondere von Seiten der konservativen Politiker ein anderer Umgang mit den Zahlen gefordert: der Einsatz ‚wünschbarer‘ Zahlen. Gerstein und Kinzia führten an, dass die EG in 20 oder 30 Jahren unter Umständen einen Staatenbund mit voller Freizügigkeit sei. Auf keinen Fall dürfe die Energieverfügbarkeit ein be- grenzender Faktor sein; daher solle man sicherheitshalber von der gleichen Be- völkerungszahl wie heute ausgehen und dies zusätzlich berechnen. Laermann hielt es für grundsätzlich problematisch, schon 1979 eine Bevölkerungszahl für 2030 anzunehmen, da die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sei, Letztlich handle es sich um eine nicht beherrschbare Größe.725 Tatsächlich stellte die Zuwanderung einen Unsicherheitsfaktor für entspre- chende Annahmen dar. Die Zahl des Statistischen Bundesamtes – 45 Millionen – beinhaltete eben diese Wanderungsgewinne nicht. Daher schlossen sich Meyer- Abich, Altner und Schaefer dem Vorschlag Gersteins an, auch eine höhere Vari- ante zu berechnen. Häfele favorisierte, gleich die sichere, sprich höhere Zahl zu wählen.726 Hinzu kam die politische Komponente, die Stavenhagen anführte: „Bei der Kommissionsarbeit gehe es nicht um die Anfertigung eines wissenschaftlichen Papiers, sondern um ein politisches Papier, in dem natürlich auch wünschbares drin stehen müsse.“727 45 Millionen seien nicht wünschbar, und das Statistische Bundesamt schreibe offenbar die bisherige Entwicklung fort, vernachlässige aber familienpolitische Entscheidungen. Auch, meinte er, dürfe man sich durch ent- sprechende energiepolitische Maßnahmen nicht den Fall verbauen, dass es doch mehr Menschen in der Bundesrepublik gebe. Falls die Bevölkerungszahl sich tatsächlich vermindern sollte, werde Deutschland einen enormen Sog auf poten-

721 Ebd., S. 4/94. 722 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/6. 723 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/32. 724 Ebd., S. 4/47. 725 Ebd., S. 4/62. 726 Ebd., S. 4/62f. 727 Ebd., S. 4/63.

167 tielle Einwanderer ausüben, daher sollte grundsätzlich eine wesentlich höhere Zahl angesetzt werden.728 Ueberhorst fasste die Diskussion so zusammen, dass die Szenarien noch einmal mit einer Variante zu rechnen seien, „die sowohl eine mögliche Zu- wanderung aus dem Ausland als auch den bevölkerungspolitischen Wunsch von Herrn Stavenhagen berücksichtige.“729 Im Bericht waren dann die Zahlen 57 Millionen für das Jahr 2000 und etwa 50 Millionen730 für das Jahr 2030 zu lesen. Nur zum Vergleich: 1979 lag die Zahl der Einwohner auf dem Gebiet der alten Bundesländer bei 61 Millionen, im Jahr 2000 bei 67 Millionen. Dementsprechend lag die Zahl der Enquete- Kommission bislang unter der tatsächlichen Entwicklung. Das Statistische Bun- desamt schätzt heute für 2030 eine Abnahme der Einwohner für das gesamte Bundesgebiet (2005: 82,5 Millionen) auf 76 bis 80 Millionen.731

Energieeinsparung

In der Kernkraftkontroverse wurde oftmals die pessimistische Annahme geäu- ßert, ein Energiemangel könne zur Planwirtschaft führen. Wenn man heute einen bestimmten Energieverbrauch anvisiere und die entsprechenden Vorsorgemaß- nahmen treffe, der tatsächliche Verbrauch aber wesentlich darüber liege, könne diese Energieknappheit eintreten – so die Befürchtungen. Entsprechend kontro- vers wurde das Thema Energiesparen in der Kommission diskutiert. Die Diskussion zeigt, dass Energiesparen nicht als wirkliche Option gehan- delt wurde. Zunächst wurde erörtert, inwieweit Elektrizität im Niedertemperatur- bereich eingesetzt werden solle und könne. Häfele schlug vor, noch einmal ge- sondert zu untersuchen, welche Vor- und Nachteile das Heizen mit elektrischem Strom habe. Zugunsten eines möglichen Ausstiegs aus der Kernenergie werde die Maxime ‚weg vom Öl‘ aufgegeben, vermutete Reuschenbach. Altner erwi- derte, dass zur Verringerung des Ölbedarfs die Antwort ‚verstärktes Energiespa- ren‘ lauten sollte und nicht ‚hin zur Elektrizität‘.732

728 Ebd., S. 4/63f. 729 Ebd., S. 4/64. 730 Entscheidung für 50 Millionen mit Wanderungsgewinnen: PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 6. 731 Bevölkerung. Bevölkerung nach dem Gebietsstand, in: Statistisches bundesamt Deutschland, Destatis (17. März 2008). 732 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/69.

168

Welche konkreten Befürchtungen waren mit dem Energiesparen verbun- den? Zunächst einmal ging es um Komfort und Fortschritt. Laermann hielt es für „nicht wünschbar“733, dass heute darüber entschieden werde, welcher Energie- komfort den Menschen in 50 Jahren zugestanden werde.734 Gerstein brachte die Ängste, die mit Energiesparkonzepten verbunden waren, folgendermaßen auf den Punkt: „Wurde bei den Bedarfsberechnungen unterstellt, daß der Bürger auf möglichen technischen Fortschritt und Komfort durch elektrischen Strom frei- willig verzichte, oder werde den Bürgern der Verzicht aufgezwungen?“735 Knizia ging hier noch einen Schritt weiter und warnte vor einer drohenden Planwirt- schaft. Für Stavenhagen lag die Obergrenze des Energiesparens dort, wo die Sparmaßnahmen zu einer Einschränkung des derzeitigen Lebensstandards führ- ten.736 Hier hakte Ueberhorst ein: „Alle Vorredner wollten und dürften wohl für sich beanspruchen, daß ihre Vorstellungen über Energieeinsparung zu keiner Verminderung des Lebensstandards führen.“737 Daneben wurden aber auch die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen mög- licher Energiesparmaßnahmen zu Bedenken gegeben. Reuschenbach befürchtete, dass sich Energieverbrauchsordnungen für elektrische Geräte negativ auf den Export und den Arbeitsmarkt auswirken könnten.738 Ein in dieser Zeit durchaus schlagkräftiges Argument, da Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung vom Export abhing und gerade die „Exportmaschine“ in den 1970er Jahren zu versa- gen schien.739 Von Ehrenstein erklärte also zunächst, worum es ihm genau ging und exemplifizierte unsinnigen Energieverbrauch: In den USA seien Klimaanlagen in Hochhäusern konstant auf Kühlen eingestellt, und die Temperatur werde das ganze Jahr hindurch mit der Heizung geregelt. Das Ziel sei also ‚intelligente Energienutzung‘. Um diese zu erreichen, sollten marktwirtschaftliche Mittel wie Investitionsanreize sowie Innovations- und Forschungsförderung eingesetzt wer- den. Die Entscheidung für eine intelligente Energienutzung liege letztlich bei Bürgern und Parlament.740 Die vorgeschlagenen Einsparpotentiale wurden allerdings stark in Zweifel gezogen. Schaefer bezweifelte die Annahmen, die Altner mit dem Szenario des Öko-Instituts vorgestellt hatte, ebenso wie die von Meyer-Abich. Vor allem meinte er, dass die Zeit, die es brauche, um die Energiesparmaßnahmen umzu-

733 Ebd., S. 4/66. 734 Ebd. 735 Ebd., S. 4/66. 736 Ebd., S. 4/71f. 737 Ebd., S. 4/72. 738 Ebd., S. 4/74. 739 Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise, S. 101. 740 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/71.

169 setzen, unterschätzt werde. Altner betonte, dass in den Berechnungen des Öko- Instituts alte Geräte und Häuser im normalen Zyklus durch energiesparende Varianten ersetzt würden und auch die Amortisationszeit beachtet worden sei. Ebenso verwies Meyer-Abich darauf, dass in seinem Szenario die Wirtschaft- lichkeit der vorgeschlagenen Sparmaßnahmen ebenso geprüft worden sei wie die Vereinbarkeit mit marktwirtschaftlichen und liberalen Prinzipien. Die Sparan- nahmen in den drei Szenarien hielt er nicht für derart different und eine Einigung der Berichterstatter in diesem Bereich für durchaus denkbar.741 Ueberhorst fasste die Diskussion folgendermaßen zusammen: Die Kommis- sion sei sich darin einig, dass Energieeinsparungen weitgehend mit marktwirt- schaftlichen Instrumenten erreicht werden sollten, und es dadurch nicht zu einem Komfortverzicht für den Bürger kommen dürfe. Die Arbeitsgruppe Pfade erhielt den Auftrag, die Realisierbarkeit der Einsparpotentiale zu prüfen und darzustel- len sowie die Frage nach dem Heizen mit Strom zu klären.742

Strukturentwicklung der Wirtschaft

Reuschenbach hielt fest, dass eine sichere Energiepolitik sich an einer optimisti- schen Zukunftsperspektive orientieren müsse. Insbesondere die Entwicklung des Wirtschaftswachstums solle nicht zu pessimistisch gesehen werden. Die Unions- abgeordneten forderten, in die Szenarienberechnungen ein – wie sie es nannten – wünschbares Wirtschaftswachstum von 3,3 Prozent einfließen zu lassen.743 Dies wurde im Jahre 1979 von einigen Experten für utopisch gehalten. Zu Zeiten des Wirtschaftswunders galten 4 Prozent noch als wahrscheinlich, Mitte der 1970er Jahre waren die Sachverständigen davon längst abgerückt und bei einer Prognose von 2 Prozent angelangt. Die Esso-Studie vom August 1979 beispielsweise ver- mutete bis 1990 ein Wachstum von 2,2 Prozent und bis 2000 nur noch 1,7 Pro- zent.744 Das Energieprogramm der Bundesregierung von 1977 ging in der Tat noch von einem Wirtschaftswachstum von 4 Prozent bis zum Jahr 1985 aus, bis 1990 wurden dann 3,5 Prozent angenommen.745 Auch in der Frage der Strukturentwicklung kam die Kommission zunächst nicht zu einer stichhaltigen Diskussion. Knizia hielt zumindest fest, dass die Entwicklung der Grundstoffindustrie sowohl von der Entwicklung des Energie-

741 Ebd., S. 4/71ff. 742 Ebd., S. 4/77. 743 Ebd., S. 4/85-4/93. 744 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Esso-Studie: Energiewirtschaft und Energiepolitik, Hamburg 1979. 745 PA DBT Drs. VIII/1357, Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, 19. Dezember 1977.

170 und Rohstoffpreises als auch von der Marktnähe abhinge.746 Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Szenarien entschieden, da es bisher auch keine entsprechenden Studien in der Fachwelt gebe, fünf Wissenschaftler zu einem Arbeitsgespräch einzuladen.747 In die Anhörung brachte die Kommission vier erste Szenarienvorstellungen ein, die alle die Ziele Vollbeschäftigung, wachsende Lebensqualität, wachsender Lebensstandard sowie die Unterstützung der unterentwickelten Länder verfolg- ten. Die Unterschiede lagen in den Annahmen zur Energieversorgung: also mit und ohne Kernenergie; die Verfügbarkeit von Öl und Gas im Jahr 2030 lag ein- mal bei 250 Millionen t SKE und einmal bei 150 Millionen t SKE. Für alle Sze- narien wurde angenommen, dass national 2030 maximal 155 Millionen t SKE Kohle gefördert und außerdem 50 bis 100 Millionen t importiert würden. Als variable Faktoren gingen die Annahmen zu regenerativen Energiequellen, zu Einsparmöglichkeiten, Strukturveränderungen und Wachstumsraten der Wirt- schaft sowie zu technologischen Innovationen ein. Die Bevölkerungszahl lag bei 50 Millionen.748

I II III IV Mit Kernenergie Ohne Kernenergie 250 Mio. t SKE 150 Mio. t SKE 250 Mio. t SKE 150 Mio. t SKE Öl + Gas Öl + Gas Öl + Gas Öl + Gas

Nationale Kohleförderung (2020): max. 155 Mio. t SKE Kohleimport (2030): 50–100 Mio. t SKE

Fig. 4: Ausgangsannahmen zur Szenarienberechnung vom September 1979 749

746 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/85–4/93. 747 Ebd., S. 4/106. 748 Ebd., S. 4/114. 749 Vgl.: PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 4. Sitzung, 7. September 1979, S. 6.

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Strukturannahme I II III IV Wirtschaftswachstum BSP BSP BSP Industriewachstum BSP BSP Hälfte vom Klein- verbrauch Grundstoffindustrie BSP Hälfte von Null pro Kopf Industrie Kleinverbrauch BSP über BSP über BSP Zugehöriges Wirt- schaftswachstum (%/Jahr) 1980–2000 3,4 2,4 2,4 1,1 2000–2030 2,3 1,3 1,3 0 Energiesparmaßnah- schwach schwach mittel stark men Szenario I II III IV Wachstumsfaktoren bis 3,8 2,5 2,5 1,25 2030, BSP Grundstoffindustrie 3,8 1,75 0,8 0,8 Rest-Industrie 3,8 2,5 2,4 1,3 Kleinverbrauch 3,8 2,65 2,9 1,3

Fig. 5: Strukturannahmen für die Anhörung „Auswirkungen von Struktur- annahmen auf Energiebedarf, Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt“ 750

750 PA DBT EK VIII, Vorlage zur Anhörung „Auswirkungen von Strukturänderungen auf Energie- bedarf, Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt“ (Jansen), 8. Oktober 1979.

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Neun Sachverständige von renommierten Wirtschaftsinstituten wie beispielswei- se dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung München, dem Institut für Welt- wirtschaft an der Universität Kiel (IfW) und dem Institut für Weltwirtschaftsfor- schung Hamburg (HWWA) sowie vom BMWi sollten helfen, die wirtschaftlichen Grundannahmen zu validieren. Außerdem waren Sachverständi- ge aus dem Feld der Gewerkschaften anwesend.751 Die Anhörung verlief jedoch nicht ganz nach den Wünschen der Kommissi- on. Zunächst begannen beinahe alle Sachverständigen ihren kurzen Vortrag mit einer Aporie: Aus wissenschaftsmethodologischen Gründen und aufgrund der zahlreichen Unsicherheiten, die mit Prognosen über 50 Jahre einhergehen, wollte sich kein Sachverständiger auf die Szenarien der Kommission einlassen. Wolf- gang Kirner (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, DIW), der sich immerhin bis zum Jahre 2000 äußern konnte, hielt schon das für einen „kühnen Zeithorizont“752, Willi Lamberts (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirt- schaftsforschung Essen, RWI) verließ bereits jenseits des Jahres 1990 seine ‚Phantasie‘753, und einigen fehlte schlicht der ‚Mut‘ zu solch ‚heroischen Aussa- gen‘754. Lothar Scholz (Ifo) bezeichnete diese Art der Szenarienbildung gar als „kreativen Akt“755. Die Kommissionsmitglieder erklärten den Grund für den langen Betrach- tungszeitraum von 50 Jahren mit ihrem Arbeitsauftrag sowie der Notwendigkeit langfristiger Überlegungen vor allem im Zusammenhang mit dem Brüter.756 Häfele erläuterte zusätzlich, dass die Szenarien keine Projektionen seien, sondern Implikationen studierten.757 Inhaltlich waren die wenigen Antworten sehr unterschiedlich; es lässt sich festhalten, dass eine Minderheit davon ausging, dass die Grundstoffindustrie gleich bleiben oder gar wachsen werde.758 Die anderen tendierten dazu, dass die Chancen der Grundstoffindustrie in der Bundesrepublik eher sinken.759 Insge- samt war die Fourastié-These, die davon ausgeht, dass der primäre Sektor (Roh- stoffgewinnung) etwa gleich bleibt, der sekundäre (Rohstoffverarbeitung) steigt

751 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/3. 752 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/7, 6/15. 753 Ebd., S. 6/28. 754 Axel Neu (Ifw), Willi Lamberts (RWI), Heinz Markmann (WSI): PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/42, 6/93, 6/37. 755 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/96. 756 Ebd., S. 6/17, 6/74, 6/81. 757 Ebd., S. 6/128. 758 Lamberts (RWI) und Kirner (DIW): ebd., S. 6/20, 6/34. 759 Z.B. Eberhard Thiel (HWWA) und Hans K. Schneider (EWI): ebd., S. 6/47, 6/52.

173 und der tertiäre (Dienstleistung) am stärksten wächst, unter den Experten um- stritten.760 Bezüglich der Energiefrage gab es einige Statements: Während Wolfgang Klauder (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit Nürnberg, IAB) die Notwendigkeit des Energiesparens betonte,761 wehrte Lothar Scholz (Ifo) sich dagegen, dies als Energiequelle zu betrachten.762 Außer- dem hob Scholz die Kostenvorteile der Kernenergie hervor – allerdings nur bis zum Jahre 1990 und ohne Brüter sowie Wiederaufarbeitung.763 Tendenziell hielten die Angehörten den Pfad II der Kommission für den re- alistischsten; bei Pfad I sei das Wachstum zu hoch764 und Pfad III und Pfad IV seien schlicht unrealistisch.765 In der anschließenden Diskussion ohne die geladenen Gäste zeigten sich die Kommissionsmitglieder enttäuscht über das Wissensdefizit zur Struktur- entwicklung im industriellen Bereich. Schnell wurde man sich einig, nach weite- ren Wissenschaftlern Ausschau zu halten, die besser auf das Anforderungsprofil des Gremiums passten; das heißt sie sollten langfristige Strukturperspektiven kennen, sich mit der am meisten betroffenen Industrie, Chemie und Eisenschaf- fend, beschäftigt haben und auch Fachkunde aus dem Ausland mitbringen. Die Punkte, an denen Kritik an den einzelnen Szenarien deutlich wurde, wollten die Kommissionssachverständigen noch einmal prüfen.766 Eine weitere Anhörung zu dem Thema fand nicht statt. Die Ausgangsannahmen wurden entsprechend an- gepasst (vgl. Fig. 6).

Energieversorgung ohne Kernenergie?

Die Kommission einigte sich mehrheitlich darauf, dem Vorschlag von Knizia und Schäfer zu folgen, das Lovinssche Szenario zu prüfen und die Annahmen unter Umständen ernsthaft in die Überlegungen der Kommission einzubezie- hen.767 Knizia hielt es für ausgesprochen wichtig, mit Lovins zu diskutieren, „da sonst die Lovinsschen Ideen – die ein völlig falsches Bild von einer möglichen

760 Vgl: Jean Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, Köln 1954 (frz. EA 1949), S. 268–281. 761 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/27. 762 Ebd., S. 6/58, 6/88. 763 Ebd., S. 6/60. 764 Scholz (Ifo): Ebd., S. 6/87. 765 Scholz (Ifo), Kirner (DIW) und Lamberts (RWI): Ebd., S. 6/114, 6/124, 6/119. 766 Ebd., S. 6/136ff. Vgl. auch: Die Enquête-Kommission ist mit den Experten unzufrieden, in: Handelsblatt, 10. Oktober 1979. 767 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/84f.

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Energieversorgung der Welt und der BRD darstellen – im Raum stehen bleiben würden.“768 Die Kommission sollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man habe ihn nicht angehört.769 Unter dem Titel Sanfte Energie und dezentrale Energieversorgung als energiepolitische Alternativlösung für die Bundesrepublik Deutschland wurden Lovins und Schneider – teilweise öffentlich – angehört. Der Physiker Amory Lovins war einer der Hauptvertreter einer dezentralen Energieversorgung mit ‚sanften‘ Technologien (Sparen und erneuerbare Energien) und hatte unter ande- rem an der IIASA-Studie mitgearbeitet. In der Zeitschrift Foreign Affairs veröf- fentlichte Lovins 1976 das Essay Energy Strategy: The Road not taken? 770, das intensiv rezipiert wurde. Außerdem war er Repräsentant der Umweltorganisation Friends of Earth. Seinen Vortrag in der Kommission hielt er auf Englisch.771 Ihm wurde in der Anhörung Hans K. Schneider zur Seite gestellt, Professor am Ener- giewirtschaftlichen Institut an der Universität Köln (EWI), der bereits drei Sit- zungen zuvor zum Thema Strukturentwicklung der Wirtschaft als Gast geladen worden war. Schneider befürwortete den Einsatz der Kernenergie und wurde in der Nachfolgeenquete von der Union als Sachverständiger berufen. Die Synopse der verschiedenen Perspektiven auf die Energieversorgung sollte eine ausgewogene Darstellung und zudem eine gründliche Prüfung der Argumente und möglichen Alternativen bewirken.772 Insgesamt lief die Diskus- sion zwischen den beiden Vortragenden nicht so kontrovers, wie man es hätte erwarten können. Lovins erklärte zunächst, das erreichbare und wirtschaftlich effiziente Ein- sparpotential sei bislang wohl unterschätzt worden. Signale für diese Annahmen gingen von den Studien von Leach, aber auch von Bossel und Krause (Öko- Institut) aus.773 Es gehe nicht darum, den Gürtel enger zu schnallen, sondern um eine effizientere Nutzung: „Ein Dach zu isolieren, darf nicht verwechselt werden mit Frieren im Dunkeln.“774 Beispielsweise sei der Einsatz von Elektrizität im Niedertemperaturbereich, „als wenn Sie Butter mit einer Kettensäge schneiden oder einen Waldbrand zum Braten eines Spiegeleis anfachen.“775

768 Ebd., S. 4/94. 769 Ebd., S. 4/94. 770 Amory B. Lovins, Energy Strategy: The Road not taken?, in: Foreign Affairs Nr. 55/1, Oktober 1976, S. 65–96. 771 Im Protokoll findet sich eine von Lovins nicht autorisierte Übersetzung auf der Grundlage von Bandaufnahmen und stenographischen Aufzeichnungen. 772 So beschrieb es Ueberhorst zu Beginn der Sitzung: PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/7. 773 Ebd., S. 9a/11f. 774 Ebd., S. 9a/13. 775 Ebd., S. 9a/24.

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Für die ‚sanften Technologien‘ sprächen vor allem wirtschaftliche Argu- mente. War Lovins, wie er berichtete, zunächst noch der Auffassung, dass Kern- energie und Kohle als Ersatz für Öl dienen könnten, habe er, nachdem er Sys- temkosten und Endenergiepreise verglichen habe, zu Sonne, Wind, Wasser sowie zu land- und forstwirtschaftlichen Abfällen gefunden. Er forderte den Abbau der institutionellen Barrieren und der Mängel des Marktes, um den ‚sanf- ten Weg‘ zu beschreiten. Nicht nur Vorschriften seien zu ändern, sondern auch Kapital und Informationen zugänglich zu machen.776 Schneider bemängelte vor allem, dass die Vorschläge von Lovins stark ex- perimentellen Charakter hätten. Er stellte den methodischen Ansatz und die grundlegenden Annahmen in Frage. So sei die Kostenschätzung für die Bundes- republik auf einer ‚unwahrscheinlich schmalen experimentellen Basis‘ gewonnen und damit nicht repräsentativ. Auch werde die Zeit unterschätzt, die es brauche, bis beispielsweise die Häuser auf ein entsprechendes Energiesparniveau umge- stellt seien. Grundsätzlich lehnte Schneider die ‚strenge Alternative‘ von Lovins ab, da sie weder technisch noch ökonomisch noch von der Art der Durchführung her gesichert sei. Sollte es im negativen Falle tatsächlich zu einer Energie- verknappung in der Bundesrepublik kommen, würde dies zu einer Änderung des Wirtschaftssystems führen, dann müsste Energie zugeteilt werden. Insofern schlug Schneider vor, Lovins Ideen in Form eines Experiments in das bestehende System einzuschleusen, um dabei zusätzliches technisches Wissen sowie öko- nomische Verbesserungen zu gewinnen.777 Dies solle in großem Maßstab erfol- gen, dann könne man in 10 Jahren mehr dazu sagen.778 Schneider hielt beide Wege für durchaus vereinbar, sprach sich aber gegen ein radikales Umschalten aus.779 Die Frage der Vereinbarkeit der beiden Wege beschäftigte die Kommission intensiv. Schaefer sah keinen Grund, für ein ‚entweder oder‘ der beiden Techno- logiearten ‚hart‘ und ‚sanft‘,780 ebenso hielt Meyer-Abich eine Koexistenz beider Wege für möglich, so dass Ueberhorst sich darum bemühte, beide Möglichkeiten zu verbinden und die Diskussion dorthin zu lenken.781 Interessant ist, dass ausgerechnet Lovins Plädoyer für ein dezentrales Sys- tem in der Kommission für Unruhe sorgte; Reuschenbach fragte Lovins, wenn er zentrale Systeme ablehne, ob er dann auch gegen die Bahn sei.782 Knizia warf implizit vor, der ‚sanfte Weg‘ sei einer, der sich gegen den Fortschritt wende.

776 Ebd., S. 9a/26, 9a/32f. 777 Ebd., S. 9a/37, 9a/39, 9a/41, 9a/44f. 778 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9b/10. 779 Ebd., S. 9b/6. 780 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/56. 781 Ebd., S. 9a/68f. 782 Ebd., S. 9a/46.

176

Man wolle anhalten und auf zusätzlichen Fortschritt verzichten, da alles andere unangenehmes Nachdenken und unbequeme Entscheidungen bedeute.783 Eine ähnliche Debatte lieferten Knizia und Lovins sich bereits auf dem Gorleben- Hearing.784 Zweifel an der Wirksamkeit der erneuerbaren Energien wurden ebenfalls laut: So gehe der Wind, wie der liebe Gott es wolle785, und Deutschland sei auch nicht eben von der Sonne verwöhnt.786 Lovins konnte allerdings ebenso wie bei den Energiespartechnologien darauf verweisen, dass er nur von bereits bekannten und kommerziell verfügbaren Technologien ausgegangen sei.787 Generell wurde der Methode und den grundlegenden Annahmen von Lovins ganz im Zeichen der Kontroverse misstraut.788 Meyer-Abich legte den Zweiflern nahe, dieselben Fragen der Kernenergie von vor 30 Jahren zu stellen. Im An- fangsstadium einer Technologie seien entsprechende Antworten schwer zu ge- ben.789 Entscheidend in der Diskussion waren die ‚Ängste‘ vor einem Energieman- gel790 und den daraus resultierenden Folgen für die Gesellschaft durch die Ver- folgung des ‚sanften Pfads‘. Häfele verglich die Folgen eines Energiemangels gar mit Kriegsverhältnissen.791 Und an anderer Stelle bezeichnete der Vater des Brüters Lovins Ideen als ein ‚Experiment‘ mit der Volkswirtschaft und dem ganzen Volke, dem er sich nur widersetzen könne.792 Letztlich stelle sich ihm die Frage, ob Lovins Rezept nicht eines sei, das auf die USA, nicht aber auf die dicht besiedelte Bundesrepublik zugeschnitten sei793 – ein ähnlicher Einwand, wie ihn Gegner des Brüters anführten. Schließlich hatte Edward Teller gesagt, der Brüter gehöre aufgrund seiner Gefährlichkeit in die Wüste – eine Variante, die in Deutschland nicht möglich ist. Blieb noch die Frage, wie man die ‚sanften‘ Technologien einführen könne: Schneider argumentierte, dies habe den Regeln der Marktwirtschaft zu folgen. Lovins erwiderte, dass es unter rein marktwirtschaftlichen Bedingungen auch keine harten Technologien gäbe.794 In der Tat wäre in Deutschland ohne die massiven Staatssubventionen in den 1950er und 1960er Jahren die Entwicklung

783 Ebd., S. 9a/56. 784 Hatzfeldt/Hirsch/Kollert, Der Gorleben-Report, S. 39–46. 785 Reuschenbach: PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9b/75. 786 Schneider: ebd., S. 9b/8. 787 Ebd., S. 9b/19. 788 Z.B. Gerstein: Ebd., S. 9a/46; Schaefer: Ebd., S. 9b/76. 789 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/60. 790 Vgl. z.B. Gerstein: PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9b/16. 791 Ebd., S. 9b/52. 792 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/68. 793 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9b/52. 794 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979, S. 9a/85f.

177 der nuklearen Technologie zur Energienutzung auf halber Strecke stehen geblie- ben. Insgesamt zeichnete sich ab, dass sich unter anderem Schneider, Lovins, Meyer-Abich, Altner und Ueberhorst vorstellen konnten, beide Wege erst einmal koexistent zu verfolgen. Für Häfele, Knizia, Stavenhagen und Gerstein war dies mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Das Lovinssche Szenario als eigenen Pfad in die Kommissionsarbeit aufzunehmen, wurde zu diesem Zeitpunkt nicht gefordert. Die Gefahr einer Energieunterversorgung wurde in zwei parallelen Studien von Dornier und Battelle geprüft: Problematisch würde ein Energiemangel dem- nach, wenn sehr hohe Energiepreise einzelne gesellschaftliche Gruppen gefähr- deten. Auch abrupte Ausfälle wurden berücksichtigt; allerdings konnte zum Zeitpunkt der Studien nicht auf längere Erfahrungen mit aussetzender Energie- versorgung zurückgegriffen werden, da die bisherigen sich höchstens auf Stun- den (abrupt) oder Monate (schleichend) beliefen und auch nicht zu nachhaltigen Verhaltensänderungen bei der Bevölkerung führten. Den Studien zufolge verhielt die Bevölkerung sich ruhig, so dass die in Diskussionen immer wieder geäußerte Befürchtung, die gesellschaftliche Ordnung sei in Gefahr, sich nicht bestätigen ließ.795 Wirtschaftliche Folgen zeigten sich bei einem Blackout im Nordosten der USA und im Süden Kanadas: Als im August 2003 die Menschen bis zu vier Tage ohne Strom blieben, wurde der volkswirtschaftliche Schaden alleine für die USA auf vier bis 10 Milliarden Dollar geschätzt.796 Als Folgen einer langfristigen Unterversorgung für die Wirtschaft diagnos- tizierten Batelle und Prognos Wettbewerbsprobleme, Standortverlagerungen, Arbeitsplatz- und Know-how-Verluste sowie bei staatlichen Eingriffen Wettbe- werbsverzerrungen und nicht zuletzt eine Überlastung des Kapitalmarktes.797 Die Pfade I und IV betrachteten Dornier und Battelle kritisch; im einen Fall aufgrund des extrem hohen Energieverbrauchs und im anderen aufgrund der eventuell dirigistisch ausfallenden Sparmaßnahmen. Beide Studien empfahlen umfangrei- che Sparmaßnahmen. Insofern bestätigten die Studien, dass auch bei einem Aus- bau der Kernenergie Energiesparmaßnahmen auf Dauer notwendig und sinnvoll seien.

795 PA DBT EK VIII, Drs. 8/36, Dornier System GmbH, Risiko- und Akzeptanzprobleme einer Energieunterversorgung; Drs. 8/38, Battelle-Institut e.V., Risiko- und Akzeptanzprobleme einer Energieunterversorgung. 796 Hennicke/Müller, Weltmacht Energie, S. 143. 797 PA DBT EK VIII, Drs. 8/36, Dornier System GmbH, Risiko- und Akzeptanzprobleme einer Energieunterversorgung; Drs. 8/38, Battelle-Institut e.V., Risiko- und Akzeptanzprobleme einer Energieunterversorgung.

178 d. Wandel durch Pfadbetrachtung

Eingeführt wurde der Begriff ‚Pfad‘ als Alternative zum Begriff ‚Szenario‘ von Gerstein und Stavenhagen. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass die Zeit für Entscheidungen gekommen und es politisch nicht mehr verantwortbar sei, energiepolitische Optionen offen zuhalten.798 Die ersten durchgerechneten Pfade (Fig. 6) wurden von der Kommission auf der 12. Sitzung diskutiert und führten zu einer unerwarteten Wende. Der Verlauf dieser Sitzung war entscheidend für die folgende Kommissionsarbeit; ein ‚Konsens‘ schien tatsächlich möglich zu sein.

Pfad I II III IV Verbrauch 1980 BSP-Wachstum (%/Jahr) 1980–2000 3,1 2,3 1,7 2000–2030 2,0 1,0 0,8 Grundstoffindustrie BSP BSP/2 Null Energiesparmaßnahmen Trend stark sehr sehr stark stark Kernenergie GWe 10 2000 70 40 0 0 2030 340 120 0 0 davon Brüter 115 50 0 0 0 Kohle Mio. t SKE/Jahr 115 2000 175 145 145 2030 210 160 160 Öl/Ergas 1,3 260 2000 250 200 200 2030 250 150 150

798 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 11. Sitzung, 11. Februar 1980, S. 6.

179

Erneuerbare Energie- 10 träger 2000 22 34 45 2030 27 42 52 Primärenergie (ohne 400 Sonne) Mio. t SKE/Jahr 2000 600 465 380 2030 1270 610 350

Fig. 6: Zusammenfassung der vier Pfade vom Februar 1980799

Energiesparmaßnahmen waren eine grundlegende Annahme in allen Pfaden, auf die sich alle einigen konnten. Kontrovers wurde nur die Frage nach dem Wie viel gehandelt. Dafür wurde ein „Zahlenwerk“800 vorgelegt: erstens Sparen I von Schaefer und zweitens Sparen II von Meyer-Abich und Altner. Sie beruhten auf unterschiedlichen Basisannahmen, da die Arbeitsgruppe sich nicht einigen konn- te.801 Dies lief Ueberhorsts Vorstellungen zuwider, die Enquete müsse sich bei den Sparszenarien auf einen Konsens einigen, der keinen „Diskussionsrest“802 zulasse. Meyer-Abich hob hervor, dass die Uneinigkeiten sich auf zwei Bereiche beschränkten: erstens auf den, bei dem es an Wissen mangele, und zweitens auf den, in dem die politische Beurteilung divergiere.803 Schaefer sah den Hauptunterschied vor allem in den Annahmen zum Raum- heizungsbedarf. Das war der größte Anteil des Energieumsatzes in der Bundes- republik, und es herrschte Unsicherheit darüber, welche Einsparungen noch als denkbar zu sehen sei. Schaefer forderte eine klare Unterscheidung zwischen technischen Möglichkeiten und „realitätsgerechten“804 Maßnahmen. Nur so könnten auch wirtschaftliche und soziale Faktoren einbezogen werden. Eine

799 PA DBT EK VIII, I/K/19, Kurzbeschreibung der vier energiepolitischen Pfade (Jansen), 15. Februar 1989, S. 10. 800 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/12. 801 Ebd., S. 12/19. 802 Ebd., S. 12/23. 803 Ebd., S. 12/24. 804 Ebd., S. 12/14.

180 volle Realisierung des technisch Machbaren hielt Schaefer auch in ferner Zu- kunft nicht für sinnvoll.805 Insofern bezeichnete er die Einsparraten von Sparen II als extreme Ansätze, „die die Prinzipien wirtschaftlich-rationellen Handelns außer acht lassen.“806 Zudem ließen die Basisannahmen sich nicht exakt quantifizieren. Man wolle den Energieverbrauch um jeden Preis beschneiden, um auf die Kernenergie verzich- ten zu können, und nehme dabei beispielsweise den Abriss von Altbauten und Zwangslüftung in Kauf. Insbesondere letzteres sei eine Einschränkung des indi- viduellen Lebensstils.807 Schnell entwickelte sich eine ähnliche Diskussion wie bei der Sicherheit der Kernenergie. Dem ‚Atomstaat‘ wurde der ‚Kalorienstaat‘ oder auch ‚Sparstaat‘ gegenübergestellt. Reuschenbach befürchtete Blockwarte, die zur täglichen Kon- trolle kämen.808 Gerstein verwies auf die ‚Wünschbarkeit‘: Sparen II ließe die menschliche Seite des Problems außer acht. Außerdem seien die Einflüsse von Markt und Preis wichtiger als Verbote.809 Man dürfe sich nicht zum „Sklaven der Energieversorgung“810 machen lassen. Stavenhagen sprach von ‚hartem Sparen‘ und hielt Sparen I für das äußerste, was überhaupt realistisch und machbar sei.811 Pfeiffer zufolge dränge sich eine ähnliche Akzeptanzfrage wie bei der Kernener- gie auf, und die Kommission habe nun herauszufinden, was in einem demokrati- schen Staate machbar sei.812 Sparen II lag noch kein Maßnahmenkatalog zugrunde, allerdings ließ sich der Sparkatalog von Sparen I für beide Wege anwenden – mit Unterschieden im quantitativen Ausmaß, wie Schaefer erläuterte.813 Ueberhorst versuchte heraus- zufinden, ob – im Sinne des von ihm wohl angestrebten Kompromisses – die beiden Sparwege für 10 bis 20 Jahre parallel verlaufen könnten. Schaefer meinte, dass dies nur teilweise möglich sei.814 Die Hauptkritik an Sparen II zielte auf die damit verbundenen Unsicher- heiten. Ebenso wie bei der Sicherheit der Kernenergie stand in dieser Diskussion das Zahlenmaterial auf dem Prüfstand. Häfele kritisierte, dass die Annahmen zum Sparen nicht entsprechend valide seien wie die Sicherheitsannahmen zum Schnellen Brüter: „Ausdrücklich oder nicht ausdrücklich ist es so, daß der

805 Ebd., S. 12/11f. 806 Ebd., S. 12/18. 807 Ebd., S. 12/19–12/22. 808 Ebd., S. 12/30; auch: Ebd., S. 12/74. 809 Ebd., S. 12/31f., 12/67f. 810 Ebd., S. 12/34. 811 Ebd., S. 12/36. 812 Ebd., S. 12/45f. 813 Ebd., S. 12/63. 814 Ebd., S. 12/38.

181

Schnelle Brüter auf der Anklagebank sitzt. Er hat sich zu rechtfertigen. Er muß durchleuchtet werden bis in die letzten Einzelheiten.“815 Aber, so fuhr Häfele fort und verwies auf die wesentlich geringere Arbeitszeit zum Thema Sparen: „Eine symmetrische Behandlung der Problematik würde [...] ein gleichermaßen inten- sives Durchleuchten des Horrorszenario 2 beinhalten“816 – also von Sparen II. Soviel zu den Einsparmöglichkeiten, viel entscheidender für den Verlauf und die Empfehlung der Kommission waren die Pfade. Stavenhagen kommen- tierte, die Ergebnisse der Berechnungen seien genau das, was er habe vermeiden wollen: eine Szenarien-Betrachtung, „wo wir uns irgendwie dem Diktat des Computers unterordnen, und dies kann nicht Sache der Politik sein.“817 Hinter- grund war wohl, dass er einen Blick auf die Pfadberechnungen geworfen hatte und diese ihm gar nicht behagten. Stavenhagen hatte an den letzten Vorarbeiten in der Arbeitsgruppe nicht teilgenommen, insofern werden ihn die Ergebnisse überrascht haben.818 Insbesondere der Pfad I löste eine interessante Diskussion aus. Pfad I be- ruhte beim Wirtschaftswachstum (3,1 Prozent bis 2000, danach 2 Prozent) vor allem auf den Vorgaben der Unionsmitglieder. Alle Industriebereiche wuchsen, und es fand kein sektoraler Strukturwandel statt. Die Sparanstrengungen be- schränkten sich aufs Trendsparen – also wie es die derzeitige Energiepreisent- wicklung als Trend erwarten ließ. Aus diesen Annahmen folgte unter anderem ein Bedarf von 115 GWe Brütern im Jahre 2030.819 Bei den beiden anderen Pfaden (Pfad IV existierte noch nicht)820 war der Stabsmitarbeiter Jansen umgekehrt vorgegangen, denn dort hatte die Kommissi- on die Ressourcen vorgegeben, woraus sich das maximale Wachstum bei opti- maler Nutzung der Technologien ergab.821 Dies führte bei Pfad II mit Sparen I und leichter Strukturänderung zu zwei neuen Kernkraftwerken pro Jahr.822 Die Reaktionen auf Pfad I waren allgemein sehr ablehnend. Stavenhagen hatte erwartet, dass er nach dem Prinzip ‚all-out-effort‘ vorzustellen sei – das heißt, es sollten alle nur denkbaren politischen Möglichkeiten radikal genutzt werden. Die aus den Berechnungen zu folgernden Maßnahmen hielt er allerdings für politisch nicht durchsetzbar. Die Wachstumsannahmen für das kommende

815 Ebd., S. 12/47. 816 Ebd., S. 12/48. 817 Ebd., S. 12/88. 818 PA DBT EK VIII, Materialband zu AF I, Ergebnisprotokoll der 6. Arbeitsgruppensitzung, 11. Februar 1980. 819 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/114–12/117, 12/135. 820 Ebd., S. 12/124. 821 Ebd., S. 12/136. 822 Ebd., S. 12/118ff.

182

Jahrhundert seien zu hoch. Er werde seine Unterschrift weder unter 115 noch unter 50 Brüter setzen. Insofern sei Pfad I ebenso zu korrigieren wie Pfad IV, da ein Lovins-Szenario nicht abgesprochen sei. Er habe allgemein Probleme mit 50- Jahres-Prognosen – er bevorzuge einen leichten ‚Nebel‘ ab dem Jahr 2000.823 Genau wie Stavenhagen hatte auch Knizia das Gefühl, die Modelle seien nicht konsistent.824 Gerstein seinerseits suchte nach dem Pfad, der mit größter Wahr- scheinlichkeit eintreten werde.825 Altner erklärte, die Kommission habe Wachstum gewollt: „Daß man da langfristig in Zahlen hinein kommt, die einen Schummern [sic!] lassen, darüber stimmen wir ganz überein.“826 Aber wenn man Wachstum wolle, müsse man auch in den ‚sauren Apfel‘ beißen.827 In der Tat wurde hier deutlich, was Szena- rien über einen so langen Zeitraum bewirken können: Bis dahin politisch vertre- tene Programme werden überprüft und bisweilen sogar für nicht umsetzbar be- funden. Die Berechnungen wurden von den Mitgliedern der Kommission schnell als entscheidender Erfolg ihrer Arbeit gewertet. „Das sind die besten Pfade, die ich überhaupt je gesehen habe“828, so Meyer-Abich; sie seien nicht ‚gefühlsmäßig‘, sondern zu Ende durchgerechnet.829 Auch Stavenhagen hielt die Rechnungen für sehr anschaulich, „denn sie sind etwas anderes als das, was einige hier im Be- richt haben wollten.“830 Ähnlich formulierte es auch Häfele: „Wir treten jetzt in den Iterationsprozeß ein. Da zeigt sich die Tugend des quantitativen Behandelns von Annahmen. Man merkt nämlich erst zum Schluß, daß sie sich gegenseitig beißen.“831 Dass Pfad I verändert werden musste, war schnell klar. Die Frage, wie das aussehen könnte, führte zu einer Diskussion über alternative Technologien, die bis dahin ausgeklammert worden waren.832 Letztlich wurde Pfad I nach Knizias Vorgaben verändert und von der gesamten Kommission positiv aufgenommen. Das entstandene Ungleichgewicht zu Pfad IV wurde aufgehoben, indem dort das Öko-Institut-Szenario eingesetzt wurde.833

823 Ebd., S. 12/126ff. 824 Ebd., S. 12/128. 825 Ebd., S. 12/132. 826 Ebd., S. 12/134. 827 Ebd. 828 Ebd., S. 12/141. 829 Ebd., S. 12/140. 830 Ebd., S. 12/141. 831 Ebd., S. 12/149. 832 Ebd., S. 12/155–12/160. 833 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 17. Sitzung, 25. April 1980, S. 17/12.

183

Nach den kathartischen Erlebnissen des vorangegangenen Abends folgte am Morgen des zweiten Sitzungstages eine intensive und relativ entspannte Diskus- sion darüber, in welchen Punkten man denn nun zu einem Kompromiss finden könne. Ueberhorst schlug gleich zu Beginn vor, eine gemeinsame Empfehlung für die Energiepolitik der kommenden 10 bis 15 Jahre abzugeben, die sich ver- mutlich zwischen den Pfaden II und III befinden würde. Bei diesem Vermitt- lungsversuch sollten die unterschiedlichen Zielvorstellungen in der Kommission aber keinesfalls verdeckt werden.834 Häfele folgte Ueberhorst und meinte darüber hinaus, die Kommission könne keinen Handlungsvorschlag für die kommenden 50 Jahre abgeben – „denn das wäre Hybris.“835 Einmütig wurde beschlossen, dass man nicht mit den anfänglichen Positio- nen aus der Kommission wieder hinausgehen solle.836 Dann könne man zwar – wie Stavenhagen formulierte – seinen Freunden sagen: „Nun haben wir unsere Meinung sauber durchgetragen, bis zum bitteren oder schönen Ende.“837 Aber dies dürfe nicht das Ziel sein, darin waren sich die Kommissionsmitglieder aller Parteien – auch der Union, die später einen Rückzieher machte – und aller Insti- tutionen einig. Häfele fand einen konstruktiven Kompromiss für die kommenden 10 Jahre wünschenswert.838 Stavenhagen ergänzte dies um den Vorschlag, statt von Spa- ren I und II zu reden, einen gemeinsamen Maßnahmenkatalog im Sinne eines ‚Geben‘ und ‚Nehmen‘ zusammen zu stellen. Bezogen auf den Gesamtkompro- miss habe die Kommission dann erreicht, dass Befürworter und Gegner ein Jahr lang diskutiert und manchmal gestritten hätten und sich etwas bewegt habe.839 Gerstein stimmte dem ebenso zu wie Altner.840 Differenzen gab es lediglich hinsichtlich der Klassifikation des Kompromisses: Schäfer wollte ihn nicht wie Stavenhagen als ein ‚Geben‘ und ‚Nehmen‘ bezeichnet wissen. Das sei ein unnö- tig ‚fauler Kompromiss‘, da die Einigung der Kommission von der Sache her begründet und begründbar sei.841 Zu diesem Zeitpunkt befand die Kommission sich auf dem Höhepunkt ihrer Arbeit, denn alle Mitglieder verfolgten das klare Ziel einer gemeinsamen Emp- fehlung. Allerdings war auch schon unverkennbar, dass es in den Detailfragen nicht so einfach werden würde, einen vergleichbaren Kompromiss zu finden. Stavenhagen fühlte sich gar an die Camp-David-Gespräche erinnert – in Camp

834 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/169. 835 Ebd., S. 12/170. 836 Häfele: Ebd., S. 12/170. 837 Ebd., S. 12/171. 838 Häfele: Ebd., S. 12/170; Meyer-Abich: Ebd., S. 12/178. 839 Ebd., S. 12/171ff. 840 Ebd., S. 12/174. 841 Ebd., S. 12/179.

184

David hatte Jimmy Carter das Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel 1979 vermittelt. Für den Unionspolitiker stellte sich die Situation in der Enquete- Kommission ganz ähnlich dar: „Die große Umarmung ist relativ einfach, und wenn es dann an das Eingemachte geht, wird es noch schwierig.“842 Ueberhorst betonte dieser ‚methodische Konsens‘ werde für die weitere Arbeit hilfreich sein.843 In der Tat hätte man aufgrund dieser 12. Sitzung erwarten können, dass der Weg weitgehend gemeinsam gegangen werden könnte. Bei der berichtorientier- ten Arbeit zeigten sich aber alsbald wieder grundlegende Konflikte. Insbesondere die Abgeordneten der Union versuchten vier Sitzungen später, dem Bericht eine andere Nuancierung zu geben. Nachdem Gerstein die Meinung vertreten hatte, der Berichtsteil über das Sparen sei zu tendenziös geschrieben, verwies Altner auf die Grundlage des Kompromisses: Energieeinsparen sei eine wichtige Kom- ponente und solle voll ausgereizt werden. Falls davon nun abgewichen werde, sei er an einer weiteren Mitarbeit in der Kommission nicht mehr interessiert.844 Die Gefahr des Auseinanderbrechens konnte verhindert werden, zwei getrennte Emp- fehlungen jedoch nicht.

e. Bericht der Enquete

Revolutionär an der veröffentlichten Empfehlung der Enquete-Kommission war die Vorstellung vier vergleichbarer Pfade. Damit lag im Endeffekt der Beweis vor, dass die Bundesrepublik nicht zwingend auf Kernenergie angewiesen war. Natürlich hatten die einzelnen Gremiumsmitglieder Präferenzen: Pfad I baute auf hohes Wirtschaftswachstum (3,3 Prozent, nach 2000: 1,4 Prozent), einen mittle- ren Strukturwandel in der Wirtschaft und auf Trendsparen. Trendsparen ent- spricht etwa der Hälfte des Einsparerfolges von Pfad II. Hier würden im Jahr 2000 etwa 77 Kernkraftwerke in Betrieb angenommen, 2030 dann 165. Diesem Pfad ordneten sich die Unionsabgeordneten zu,845 und auch Knizia tendierte in diese Richtung.846 In Pfad II wuchs die Wirtschaft um 2,0 Prozent (nach 2000: 1,1 Prozent), der Strukturwandel verhielt sich wie in Pfad I, und es wurde stark gespart. Laer- mann bevorzugte wohl diesen Weg,847 ebenso Schaefer und Birkhofer.848 Pfad

842 Ebd., S. 12/183. 843 Ebd., S. 12/188. 844 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 16. Sitzung, 14. April 1980, S. 16/5, 16/7f. 845 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 97–110. 846 Ebd., S. 157–163. 847 Ebd., S. 128–131 848 Ebd., S. 183–191.

185

III ging vom gleichen Wirtschaftswachstum aus wie Pfad II, allerdings mit star- kem Strukturwandel und sehr hohen Energieeinsparungen. Schäfer forderte, die energiepolitischen Maßnahmen auf diesen Pfad auszurichten.849 Ähnlich äußer- ten sich Ueberhorst850 und Meyer-Abich851. Pfeiffer und Reuschenbach hingegen favorisierten einen Mischpfad aus II und III, der sich von Pfad IV nur noch durch die extrem starken Energiesparmaßnahmen unterschied. Mit einer weiteren sys- tematischen Bewertung kristallisierte sich für Altner und von Ehrenstein dieser Pfad als die ‚bevorzugte energiepolitische Lösung‘ heraus.852

Pfad I Pfad II Pfad III Pfad IV Charakterisierung

Wirtschaftswachstum

– vor 2000 3,3% 2,0% 2,0% 2,0%

– nach 2000 1,4% 1,1% 1,1% 1,1%

Strukturwandel in der Wirtschaft mittel mittel stark stark

Wachstum Grundstoffindustrie wie BSP/2 wie BSP/2 Null Null

Energieeinsparungen Trend stark sehr stark extrem

1978 2000 2030 2000 2030 2000 2030 2000 2030 Nachfrageseite Primärenergiebedarf 390 600 800 445 550 375 360 345 310 Endenergiebedarf 260 365 446 298 317 265 250 245 210 Strombedarf* 36 92 124 47 57 39 42 36 37 Nicht-energetischer 32 50 67 43 52 34 34 34 34 Verbrauch

849 Ebd., S. 113–120. 850 Ebd., S. 120–128. 851 Ebd., S. 163–172. 852 Ebd., S. 131–151.

186

Angebotsseite

Stein- und Braunkohle 105 175 210 145 160 145 160 130 145

Erdöl und Erdgas 265 250 250 190 130 190 130 165 65

Kernenergie in GWe 10 77 165 40 120 0 0 0 0

– davon Brutreaktoren – – 84 – 54 – – – –

Regenerative Energie- 8 40 50 40 50 40 70 50 100

quellen Sonstiges

Kohleverstromung 65 80 80 29 22 76 77 52 33

Synthetisches Erdgas – 18 50 18 56 – – – –

aus Kohle

Stromanteil in %

– an der Raumwärme 3 14 17 5 7 3 2 2 0

– an der Prozesswärme 7 19 17 8 8 8 8 7 6

Natururanbedarf in

1000 t kumuliert bis 2030 bis 2030

– ohne Wiederauf- 650 425

arbeitung

– mit Brutreaktoren 390 255 * Der Strombedarf bezieht sich auf den Endenergiebedarf an Strom, nicht auf die Bruttostromerzeu- gung. Er ist hier in Millionen t SKE angegeben. 1 Millionen t SKE entspricht etwa 8,13 TWh.

Fig. 7: Ergebnisse der Berechnungen für die vier Pfade853 (Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Werte auf Millionen t SKE)

Was während der Kommissionsarbeit nicht geklärt werden konnte, war die Durchrechung der Pfade in Bezug auf ihre volkswirtschaftlichen Kosten. Eine Linie der Kritik an der Kernenergie verwies auf die fehlende Wirtschaftlichkeit dieser Energieerzeugungsart, sie sei, wenn alle verdeckten Kosten, also auch

853 Ebd., S. 76.

187 staatliche Forschungsförderung und Entsorgungskosten, mit eingerechnet wür- den, gegenüber anderen Energieerzeugungsarten im Nachteil.854 Fragen zur tat- sächlichen Wirtschaftlichkeit gab es in der Kommission zahlreiche: Meyer- Abich beispielsweise hielt die Wirtschaftlichkeitsberechnungen zum Schnellen Brüter nur für reell, wenn die Industrie sich überwiegend am Bau der Prototypen beteiligte und Prototypen nicht fast ausschließlich vom Staat bezahlt und in ihrer Wirtschaftlichkeit beurteilt würden.855 Diese Probleme waren von der Nachfol- geenquete zu klären. Zusammenfassend lassen sich aus dem Arbeits- und Diskussionsprozess der Kommission verschiedene Aspekte herauskristallisieren, die für den Kompro- miss ausschlaggebend waren. Es wurde versucht, ein möglichst breites Wissens- spektrum in den Beratungsprozess einzubeziehen. Dies zeigte sich einerseits an der Anhörung von Lovins, und andererseits daran, dass Pfad I zunächst entspre- chend politischer Vorgaben berechnet wurde. Auch herrschte die Offenheit, diese Dinge wieder zu verwerfen, sobald sie sinnlos erschienen. Dadurch konnte eine partielle Loslösung von politischen Zielvorgaben erfolgen. Weiterhin erwies sich die Taktik, die Zahlen in einer 50-Jahresperspektive zu betrachten, als aus- gesprochen fruchtbar. Auch wenn gerade in der wirtschaftlichen Praxis 10 Jahre als Maximum angesehen wurden, führte die konsequente Durchrechnung politi- scher Forderungen nach einem bestimmten Wirtschaftswachstum und einer be- stimmten Zahl an Kernkraftwerken zu einem Überdenken ebendieser Vorstellun- gen. Deutlich wurde, dass ähnlich wie bei der Frage der Sicherheit gegenüber Mensch und Umwelt auch bei der Sicherheit gegenüber Wirtschaft und Gesell- schaft die reine Macht der Zahlen sich als nicht ausreichend erwies. Insofern erwies sich der Kriterienkatalog mit Sozialverträglichkeit, wirtschaftlicher Ver- träglichkeit und internationaler Verträglichkeit als zusätzlicher Entscheidungshil- fe als ausschlaggebend. Ein Problem im Umgang mit Ressourcen – seien es das Uran oder die Sparmaßnahmen –, war die Tatsache, dass es zu viele unsichere Parameter gab. Hier zeigte sich erneut der Vorteil der gegenseitigen Prüfung, durch die Unsi- cherheiten herausgefiltert und ein gemeinsamer Weg gefunden wurde, mit ihnen umzugehen. Ein über 10 Jahre hinausgehender Kompromiss hätte sicherlich nicht gefun- den werden können, dies wurde aus den Argumenten deutlich. Auch wurde of- fensichtlich, dass insbesondere zu Beginn und am Ende der Kommissionsarbeit die Argumentation parteipolitisch und wenig offen verlief – die ‚wünschbaren‘

854 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 258. 855 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10/11. Januar 1980, S. 10/48.

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Faktoren standen im Vordergrund. Sie wurden im Laufe der Beratungszeit zum Teil den Berechnungen angepasst. Zur Problematik der Diskussion über die Rolle des Staates, die nicht nur den Bereich Gesellschaft und Ökonomie sondern auch Mensch und Umwelt betrifft, führte Joachim Radkau folgendes aus: „Gegenüber der noch immer vor- herrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie mit ihrem Vertrauen auf die Steuerungskraft des Marktes werden Umweltschäden und auch Risiken der tech- nischen Entwicklung häufig für die Notwendigkeit einer ausgedehnteren regula- tiven Politik des Staates ins Feld geführt. Auf der anderen Seite sind die histori- schen Erfahrungen mit zentralistischer Planung, so wie sie sich heute darstellen, nicht eben ermutigend. Die Frage, wieweit staatliche Politik in diesen Bereichen überhaupt konstruktive Leistungen zu erbringen vermag, und auf welchen Ebe- nen wirksame Lösungen durchzusetzen sind, ist immer noch weithin offen.“856 Betrachtete man die Vorgänge zynisch, könnte man zu dem Ergebnis kom- men, die Enquete-Kommission habe letztendlich nur das ausgeführt, was ihr vom Bundesforschungsministerium aufgetragen worden war. Schließlich hatte Hauff die Szenarien bereits in einem Papier vorgezeichnet. Die Empfehlung der Kom- mission für die kommenden 10 Jahre war in Sachen Kernenergie letztlich dilato- risch. Den ‚schwarzen Peter‘, die Frage, ob man den Brüter in Betrieb nehmen solle, hatte man an die Nachfolgekommission weiter gereicht. Das Bekenntnis zum Energiesparen aber ist auch kein Meilenstein, denn niemand wird ernsthaft für Energievergeudung plädieren – ganz im Sinne der Komödie ‚wissenschaftli- ches Politikberatungstheater‘. Gleichwohl spricht auch einiges für die ‚heroische Tragödie‘, in der die Kommissionsmitglieder erkannten, dass Energiepolitik selbst ein Umgang mit Unsicherheiten ist. Sie lösten sich daraus, in dem sie mehrere mögliche Politik- pfade identifizierten – weitgehend unabhängig von den eigenen Positionen und der eigenen Community. In dieser als reizvoll empfundenen Diskussion konnte auch die Option der vielen Brütern als Absurdität abgehakt werden.

856 Joachim Radkau, Technik und Umwelt, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, Mün- chen 1996, S. 119–136, S. 136.

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VII. Ein ‚Historischer Kompromiss‘?

Die Konfliktlinien zwischen den Kommissionsmitgliedern verschoben sich im Laufe der Zusammenarbeit. Während sich anfangs die Befürworter der ver- schiedenen Energieversorgungsarten argumentativ eher separiert gegenüber- standen, bewegten sie sich im Laufe der Beratungen in einem Minimalkonsens aufeinander zu. Erst kurz vor Ende der Beratungen bildete sich wieder ein harter Block – die Unionsabgeordneten sonderten sich unter politischen Legitimie- rungsaspekten als Minderheit ab. Doch wie funktionierte die Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten und Sachverständigen in der Kommission und welche Ziele verfolgten sie? Welche Rolle spielten externe Interessen, und gab es Ver- suche, kritische Informationen bewusst aus dem Beratungsprozess heraus- zuhalten?

a. Sachverständige und Politiker argumentieren

Die Kritik an den verschiedenen Energiesystemen war zu Beginn der Kommissi- onsarbeit argumentativ durchaus vergleichbar. Sowohl die Befürworter der ‚sanf- ten‘ Technologien als auch die Befürworter der ‚harten‘ Technologie mahnten bei dem jeweils anderen Energieversorgungssystem an, dass es sich um ein ‚Re- alexperiment‘ an der Bevölkerung handele, das mit zahlreichen Unsicherheiten verbunden sei. Die dabei zunächst eingebrachten Berechnungen seien entweder methodisch nicht haltbar oder aber für eine Bewertung unvollständig. Genau diese Haltung änderte sich mit der Pfadberechnung, die die jeweiligen Argumen- te quantifiziert vergleichbar nebeneinander stellte. Soweit die inhaltliche Ebene, wirft man einen Blick auf das Rollen- verständnis und die rhetorische Ebene der Auseinandersetzung, zeigen sich wich- tige Aspekte der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Politikern in einem solchen Politikberatungskontext. Zunächst zum Rollenverständnis: Die Sitzungen und viele Papiere, die für die Kommissionsarbeit maßgeblich waren, wurden in den Arbeitsgruppen und Einzelgesprächen vorbereitet; zum Beispiel hatten Meyer-Abich, Häfele und Pfeiffer gemeinsam eine Vorlage zu Kriterien und Maßstäben erarbeitet. In der Sitzung, in der über dieses Papier diskutiert wurde, war nur Meyer-Abich anwe- send. Nachdem detaillierte Kritik von den Politikern kam, die sofort erklärten, sie könnten das Papier unter keinen Umständen annehmen, erklärte Meyer- Abich, dass er die Reaktion auf die Arbeit ‚ein wenig als Anfechtung‘ empfinde. Er wies darauf hin, dass die Kommission aus 15 Mitgliedern bestünde, die ei- gentlich alle einen Beitrag leisten sollten. Auf der vorangegangenen Sitzung sei

190 um Kritik und Anregungen zu dem Papier gebeten worden, aber nichts derglei- chen sei eingegangen. Die „Sachverständigen [seien] nicht die Arbeitssklaven dieser Kommission [...], sondern eigentlich würde er gern davon ausgehen, daß alle etwas tun.“857 Das Zeitbudget der externen Kommissionsmitglieder sei nicht unbegrenzt, und die Erarbeitung des Papiers habe durchaus Zeit gekostet.858 Ueberhorst schlug daraufhin vor, die Bearbeiter zu wechseln; die Abgeordneten Gerstein und Schäfer sollten das Papier weiter bearbeiten.859 Den Vorschlag Ueberhorsts griff Gerstein auf und erklärte sich bereit, auf der Basis des Protokolls, seiner Notizen und mit Hilfe des Stabes das Papier weiter zu bearbeiten.860 Meyer-Abich begrüßte die Anregung des Vorsitzenden ebenfalls: „Er würde es prinzipiell gut finden, wenn auf den Kommissions- vorlagen nicht immer nur die Namen der Sachverständigen erschienen.“861 Schäfer hingegen hielt davon nichts. Schließlich habe der Bundestag den externen Sachverstand erbeten, damit die Abgeordneten diesen in ihre politische Bewertung mit einbeziehen könnten. Wenn man als Abgeordneter, sobald man Fragen oder Kritik anbringe, verpflichtet werde, Papiere vorzulegen, sei das ein Missverständnis: „So würden die Abgeordneten ihre Aufgabe in der Kommission nicht verstehen.“862 Gerstein stimmte Schäfer zu, dass es einen Unterschied gebe zwischen Ab- geordneten und Sachverständigen bei der Kommissionsarbeit. So habe bei- spielsweise Meyer-Abich durch seine Hochschultätigkeit ganz andere Arbeits- voraussetzungen als ein Politiker.863 Dennoch versuchte der CDU-Abgeordnete, das Kriterienpapier um die entsprechenden kritisierten Punkte zu erweitern.864 Die Anregungen fanden Eingang, und die aktive Mitarbeit an dem Papier trug Gerstein die Anerkennung der Sachverständigen ein.865 Der Ansatz, die Abgeordneten stärker in die vorbereitende Arbeit ein- zubeziehen, hatte nicht nur den Grund, dass das Engagement aller Mitglieder ausgeglichener werden sollte, sondern auch das Motiv, die Perspektive der Par- lamentarier von Anfang an zu integrieren. In der Diskussion über Energiespar- maßnahmen, gegen die die Unionsabgeordneten sich wehrten, betonte Altner, wie notwendig es sei, dass die Abgeordneten aktiv mitarbeiten, „sonst erleben wir von Sitzung zu Sitzung die gleiche Diskussion, daß nämlich immer wieder

857 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/86. 858 Ebd., S. 8/82–8/86. 859 Ebd., S. 8/89. 860 Ebd., S. 8/91. 861 Ebd., S. 8/92. 862 Ebd., S. 8/92f. 863 Ebd., S. 8/94. 864 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/231ff. 865 Gespräch mit Klaus Michael Meyer-Abich, Hamburg 31. Juli 2008.

191 gesagt wird, dies führe immer noch nicht nahe genug an das heran, was im Hin- blick auf den Haushalt und anderweitige politische Probleme diskutiert werden müsse.“866 Neben der Frage der Gleichberechtigung gab es Unterschiede zwischen Po- litkern und Sachverständigen darüber, wie man die Probleme lösen könne. So der Versuch einzelner abgeordneter Kommissionsmitglieder, die Diskussion zu- zuspitzen und zu polarisieren. Dies stand ganz im Sinne der von der Union be- reits vor Einsetzung der Kommission klar ausgesprochenen Haltung, die Zeit sei reif für politische Entscheidungen und nicht für wissenschaftliche Erörterungen. Gerstein forderte beispielsweise in einer Debatte über Risiken und Sicherheit: „Die Kommission solle jetzt entscheiden, ob entweder das, was Herr Birkhofer behaupte, oder das, was Herr von Ehrenstein behaupte, richtig sei.“867 Dieser Anspruch zeigt deutlich die Differenz zwischen wissenschaftlicher und politi- scher Betrachtung sowie die Problematik des Expertendissenses im politischen Raum. Auf die Forderung von politischer Seite nach der einen Wahrheit reagier- ten beide betroffenen Sachverständigen in der Enquete-Kommission mit dem Angebot ihre Argumente noch einmal zu überarbeiten.868 Während in diesem Fall Einigkeit unter den Sachverständigen im Umgang mit differenten Aussagen herrschte, stellte sich das in der Entsorgungsfrage an- ders dar. Stavenhagen postulierte, man müsse irgendwann eine politische Ent- scheidung fällen, sonst warte man ewig auf die beste Lösung. Man solle die verschiedenen Entsorgungsalternativen gar nicht erst vergleichen, da sie einen unterschiedlichen Entwicklungsstand aufwiesen, das eine Konzept sei sowieso nur eine ‚Papierstudie‘. Papierstudien hätten den Nachteil, dass sie zunächst überbewertet würden, die Nachteile erfahre man erst in der Praxis. Birkhofer teilte die Meinung im Punkte Vergleichbarkeit.869 Häfele sprach sich sogar dafür aus, sich frühzeitig für eine Lösung zu ent- scheiden und diese dann auch bis zum Teststadium durchzuhalten, worin ihm Stavenhagen und Gerstein sofort folgten. Er begründete den Ansatz damit, dass es unmöglich sei, verschiedene Optionen objektiv zu vergleichen, ohne sie vor- her zu bauen oder zu testen.870 Insbesondere in der Brüterfrage – dem auslösenden Moment für die En- quete-Kommission – hielt Stavenhagen es für notwendig, bereits im Zwischen- bericht eine Empfehlung abzugeben. Er habe durchaus Verständnis dafür, dass einige Sachverständige noch Fragen beantwortet haben wollten, aber als Kom-

866 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/66. 867 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/61. 868 Ebd. 869 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 24. September 1979, S. 5/67f. 870 Ebd., S. 5/72f.

192 mission des Bundestages müsse man neben der wissenschaftlichen auch die politische Seite sehen. Ein lückenloser und vollständiger Nachweis lasse sich ohnehin nicht erbringen.871 Damit sprach Stavenhagen sich im Prinzip dafür aus, die wissenschaftliche Debatte klar von der politischen Entscheidung zu trennen. Unsicherheiten, die es zu berücksichtigen gelte, sah er beim Brüter nicht mehr. Während Ueberhorst versuchte, einige strittige Fragen im Sinne eines breit ange- legten Kompromisses und aufgrund der knappen Zeit in die Ferne zu rücken, strebten die Unionsabgeordneten danach, alle Fragen auf einen Schlag vom Tisch zu bekommen. Ein Topos, der die Mitglieder der Kommission deutlich unterschied, tauchte in den Diskussionen immer wieder auf: Wunsch und Wünschbarkeit. Zum Bei- spiel der Wunsch, den Knizia immer wieder äußerte, den Entwicklungsländern unter die Arme zu greifen.872 Meyer-Abich argumentierte, dass über den Wunsch, die Energie so zu verteilen, dass sie denjenigen, die sie am dringends- ten brauchen, zur Verfügung stünde, kein Dissens bestehe. „Der Dissens kann nur bei der Frage anfangen, ob dieser Wunsch auch politisch realisierbar ist.“873 Dies sei allerdings nur in einer Welt vorstellbar, in der ein ‚weiser Welt- Generaldirektor‘ die Ressourcen gerecht verteile.874 Stavenhagen hielt die Dis- kussion zur Entwicklungshilfe für ‚zu akademisch‘. Das Problem der Menschen in der Dritten Welt sei nicht die Sozialverträglichkeit, sondern ob sie verhungern oder überleben. „Die Entwicklungsländer seien nicht daran interessiert zu erfah- ren, was schlaue Leute in vollklimatisierten Räumen huldvoll an Entwicklung und Fortschritt zur Verfügung stellen wollten.“875 Als nicht wünschbar galt unter anderem, dass man heute entscheide, wel- chen Energiekomfort sich die Menschen in 50 Jahren leisten dürften.876 So solle man von wünschbarem Wirtschaftswachstum, wünschbaren Bevölkerungszahlen und einer wünschbaren Entwicklung der Wirtschaftstruktur ausgehen. Dieser Konflikt wurde von verschiedenen Abgeordneten und Knizia angestoßen und richtete sich gegen die Wissenschaftler. Gefordert wurde damit eine ‚Kunden- mentalität‘ der Wissenschaft, die beinhaltete, dass „wir alle ein Recht auf be- queme Wahrheiten haben.“ 877 Den Unterschied zur Rolle des Politikers definierte Stavenhagen folgen- dermaßen: Dem Wissenschaftler falle es leichter, distanziert aufzulisten, was möglich sei, ein Politiker könne das nicht: „Er kann im Grunde nur bewertend

871 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10./11. Januar 1980, S. 10/130. 872 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/22ff., 873 Ebd., S. 4/44f. 874 Ebd., S. 4/45. 875 Ebd., S. 4/103f. 876 Laermann: Ebd., S. 4/66. 877 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 314.

193 auflisten.“878 Denn er müsse sich mit dem, was er aufliste, auch identifizieren.879 Darüber hinaus sei der politische Kontext des Abgeordneten einzubeziehen, in den er sich entsprechend einordnen müsse – sei es als Kontrahent einer Parteili- nie oder als deren Befürworter. Auf rhetorischer Ebene gab es neben den bislang dargestellten, vornehmlich sachorientierten Formen der Diskussion personale Argumentationsfiguren, ge- nauer gesagt, verdeckte Demontagen. Soweit man aus den Protokollen herausle- sen kann, hielt sich dies in vertretbaren Grenzen. Grundlage waren jeweils die aus der Medienöffentlichkeit bekannten Argumentationen. Ein Beispiel: Gerstein befragte von Ehrenstein in einer Diskussion über die Risiken der Kernenergie: „Hat er von Ehrenstein richtig verstanden, daß dieser die absolute Sicherheit bei Technik und menschlichem Leben fordere?“880 Darauf ließ er Ausführungen darüber folgen, dass es „kein Werk von Menschenhand [gebe], das vollkommen sei.“881 Der Physiker verwies darauf, dass er das gar nicht beanspruche, sondern lediglich aufgrund des besonderen Gefährdungspotentials bei der Kernenergie einen hohen Grad an Vollkommenheit fordere; Gerstein setzte mit einem Zitat aus der Vorlage des Physikers nach. Von Ehrenstein zitierte eine Autorität, Alvin Weinberg, der geschrieben habe, „daß die Kernenergie-Nutzung eine ununter- brochen höchste Aufmerksamkeit erfordere.“882 Bei der Kernenergie handele es sich um einen ‚erheblichen technischen Sprung nach vorne‘, der besondere Maß- nahmen erforderlich mache. Diese Aussage griff Gerstein für eine erneute Demontage auf: „Er möchte behaupten, daß es in der Zivilisationsgeschichte bereits ähnlich große Technolo- giesprünge gegeben habe, wie bei dem Übergang zur Kernenergie-Nutzung.“883 Von Ehrenstein beendete den Disput mit einer Analogie: Vor 20 Jahren hätten Befürworter der Kernenergie einen Papst zitiert, der etwa im Jahre 900 prophe- zeit habe, die Erfindung der Armbrust würde die Menschheit ausrotten. Dies sei nicht geschehen, insofern hätten die Gegner der Kernenergie ebenso unrecht wie dieser Papst. Auf eine solche Ebene der Diskussion wolle er sich nicht bege- ben.884

878 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/36. 879 Ebd., S. 12/36f. 880 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/14. 881 Ebd., S. 8/14. 882 Ebd., S. 8/15. 883 Ebd. 884 Ebd., S. 8/15f.

194 b. Ziele von Sachverständigen und Politikern

Im Vordergrund der Kommissionsarbeit stand das Ziel von Reinhard Ueberhorst, die Kommission zu einem Erfolg zu führen – der nach seinen Vorstellungen in einem ‚Konsens‘ bestand. Nur auf der Grundlage einer gemeinsamen Empfeh- lung könne eine Politik vorbereitet werden, die Widersacher in Fragen der Ener- giepolitik akzeptieren könnten. Dies scheint auch im Einklang gestanden zu haben mit den Vorstellungen des Forschungsministers, wie Hauffs Papier zur Konzeption der Kommissionsarbeit zeige. Nach Aussagen verschiedener Kom- missionsmitglieder hatte der Vorsitzende von vornherein eine klare Vorstellung davon, was das Gremium erreichen sollte.885 Auch wenn Ueberhorst der Ruf vorauseilte, der Kernenergie skeptisch gegenüber zu stehen, zeigte er sich in der Enquete-Kommission ergebnisoffen. So äußerte er in der Anhörung zu Wirt- schaftsfragen, dass es noch gar nicht feststehe, dass ein Szenario ohne Kernener- gie überhaupt dargestellt werden sollte.886 In den Diskussionen des Gremiums hielt er seine eigenen Vorstellungen zum Thema eher zurück, versuchte, vermit- telnd einzugreifen und die Linien eines möglichen Kompromisses in seinen Zusammenfassungen herauszuarbeiten. Ueberhorst machte immer wieder klar, dass die Kommission für die Diskus- sion um die Kernenergie die Bedingungen der Machbarkeit alternativer Vor- schläge aufzeigen müsse.887 Insgesamt erscheint es nicht abwegig, dass ihr Leiter die Kommission in erster Linie als ‚moderatorische Herausforderung‘ be- trachtete, zumal er verschiedentlich betonte, wie sehr die Schule bei Eberhard Schnelle sein Denken beeinflusst habe.888 Wichtig war dem Vorsitzenden der Kommission, dass der Bericht ‚keine große akademische Studie‘ sein sollte;889 die Forderung nach Lesbarkeit einte ihn mit dem Oppositionspolitiker Stavenhagen.890 Über die politische Dimension der Arbeit waren sich alle Beteiligten im Klaren. Vor allem die Sachverständigen betonten, dass es sich um ein politisches Gremium handele und daher nicht nur technische Fragen, sondern auch politische Zielsetzungen und Konsequenzen zu behandeln seien.891 Das Ziel der Sachverständigen war offenkundig, ihre Interes-

885 Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008; Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 4. Mai 2007. 886 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, S. 6/14. 887 Z.B.: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/9. 888 Ueberhorst, Demokratie, Wirtschaft und langfristige Leitbilder, S. 247ff.; Gespräch mit Rein- hard Ueberhorst, Elmshorn 20. Oktober 2005. 889 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 28. Mai 1979, S. 2/21. 890 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/7. 891 Z.B. Häfele: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 4. Sitzung, 7./8. September 1979, S. 4/16.

195 sen und wissenschaftlichen Erkenntnisse politisch wirksam zu vertreten.892 Gleichwohl wollte man einen Schritt über das Bisherige hinausgehen. Die größte Gefahr wurde von den Mitgliedern darin gesehen, dass die Kommission zu einem ‚Alibi‘ für die unterschiedlichsten Interessen werden könnte. Die Unionspolitiker Stavenhagen und Gerstein hoben – ganz auf der Linie der bereits im Vorfeld der Kommissionsarbeit von der CDU geäußerten Sorge – hervor, dass aufgrund der Existenz der Kommission politische Entschei- dungen nicht hinausgeschoben oder gar nicht erst getroffen werden dürften.893 Altner befürchtete eine Alibifunktion vor allem dann, wenn die Kommissi- on nur eingesetzt werde, um die erregten Gemüter in Sachen Kernenergie zu besänftigen und von den Problemen abzulenken, während gleichzeitig dieselbe Energiepolitik verfolgt werde wie zuvor.894 In Anbetracht des Zeitdrucks wurde die Frage kontrovers beurteilt, ob das Gremium im Mai 1980 einen End- oder einen Zwischenbericht abliefern könne. Während die Unionsabgeordneten immer wieder betonten, dass bis dahin alle Aufgaben zu erfüllen seien und entsprechend eine endgültige Empfehlung – insbesondere zum Brüter – ausgesprochen werde müsse, deutete Ueberhorst schon frühzeitig an, dass in dem einen Jahr in manchen Fragen vermutlich keine abschließende Aussage zu treffen sei. Er argumentierte vor allem mit zahlreichen Unsicherheiten in verschiedenen Punkten, wie eben dem Schnellen Brüter, der Entsorgung oder auch der Wiederaufarbeitung. Schäfer betonte, die Kommission müsse sorgfältig arbeiten, ihre Ergebnisse dürften nicht durch Ereignisse wie einen Unfall oder eine erneute Ölkrise wertlos werden. Schließlich versuche das Parlament erstmals mit Hilfe der Enquete- Kommission eine Technikfolgenabschätzung durchzuführen.895 Auch Laermann war der Meinung, die Kommission könne sich nicht erlauben, einen oberflächli- chen oder unvollständigen Text als Endbericht vorzulegen.896 Auffällig ist, dass einige Mitglieder auf dem Weg zum Kompromiss mit großen Schritten vorangingen. Dazu zählen wohl vor allem Ueberhorst, Häfele und Meyer-Abich. Ueberhorst ging davon aus, dass ohne einen ‚konsensualen‘ Weg keine vernünftige Energiepolitik betrieben werden könne. Für Häfele, der die strategische Bedeutung von Schnellem Brüter und Energieeinsparung gleich- rangig beurteilte, war wichtig, dass die Kommission sich um einen möglichst

892 U.A.: Gespräche mit Klaus Michael Meyer-Abich, Hamburg 31. Juli 2008, Adolf Birkhofer, Garching 4. Mai 2007, Dieter von Ehrenstein, Bremen 28. Mai 2008, Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 893 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 11. Sitzung, 11. Februar 1980, S. 7. 894 Günter Altner, Plädoyer für Offenheit, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 30. September 1979. 895 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 11. Sitzung, 11. Februar 1980, S. 7. 896 Ebd., S. 8.

196 weitgehenden ‚Konsens‘ bemühe. Auf ähnlicher Ebene ist auch Meyer-Abichs Agieren in der Kommission zu sehen. Schließlich war ein Punkt in der Kompro- missbildung erreicht, an dem es schwierig war, von den bis dahin erfolgten Eini- gungen zurückzutreten. Dieser Punkt scheint definitiv auf der 12. Sitzung über die Pfade erreicht gewesen zu sein, in der eine einheitliche Empfehlung aller Kommissionsmitglie- der möglich schien. Sie waren sich einig: Die Kommission habe ihren Auftrag verfehlt, wenn jeder mit der Meinung wieder hinausginge, mit der er hinein- gegangen sei. Häfele ging noch einen Schritt weiter: Wenn das Gremium bis Mai nicht einige Schritte weiterkomme gegenüber dem Standpunkt zu Beginn der Arbeit, müsse es seine Arbeit beenden.897 Wenn man Akzeptanz wolle, müsse man in wesentlichen Fragen konsensfähig sein.898 Noch am Abend der 12. Sit- zung schrieb Häfele einen Brief an Ueberhorst, dass für einen ‚konstruktiven Kompromiss‘ insbesondere bei der Formulierung des Berichts noch einige Klip- pen zu umschiffen seien. „Der Erfolg ist noch nicht garantiert“899. Für dieses Ziel gingen Sachverständige und Politiker tatsächlich bis an die Grenze ihrer Kom- promissfähigkeit. Häfele sprach in dem Brief deutlich aus, dass Sparen II für ihn „das Ende unserer gesellschaftlichen und staatlichen Seinsweise“900 sei und er klar für Kernenergie II eintrete. Damit keine Missverständnisse aufkämen, müsse im Bericht deutlich nachvollziehbar sein, warum dieser Kompromiss von den Mit- gliedern verfolgt worden sei: Weil man mit den Menschen, die eine andere Mei- nung hätten, zusammenleben, nicht aber deren Meinung teilen müsse.901 Um den Kompromiss zu verstehen, muss man die Sitzungsräume der Kommission verlassen: So sagte Häfele im Gremium, dass er den Brüter, wenn er nur unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen gebaut werden könne, nicht haben wolle.902 Die draußen tobende Protestbewegung gegen Atomkraftwerke blieb für die Verhandlungen sicherlich nicht ohne Wirkung und kam zwischen April 1979 und Juni 1980 nicht zur Ruhe: Im Mai 1980 beispielsweise wurde die Bohrstelle 1004 in Gorleben besetzt und die ‚Republik Freies Wendland‘ gegründet. Dass die verschiedenen Protagonisten auf dem Weg zum Kompromiss die Interessen nicht so vertraten, wie es von ihnen erwartet wurde, liegt auf der Hand. Der BBU beispielsweise forderte seinerzeit den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie, die KWU hingegen den extensiven Ausbau der Kernenergie.

897 Ebd. 898 Z.B. Schäfer: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 12. Sitzung, 21./22. Februar 1980, S. 12/179. 899 ACDP I–547–009/4, Brief von Häfele an Ueberhorst, 18. März 1980. 900 Ebd. 901 Ebd. 902 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 20. Sitzung, 12./13. Juni 1980, S. 17f.

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Der Kompromiss der Kommission wurde beiden Seiten nur teilweise gerecht. Als sich dies andeutete, kamen die entsprechenden Einflussgruppen auf den Plan, um das Ergebnis der Kommission wenigstens teilweise noch in ihre Rich- tung zu ziehen.

c. Handlungsspielräume und Reflexivität

Versuche, Einfluss zu nehmen, gab es verschiedentlich. Der Vorsitzende hatte gleich zu Beginn der Kommissionsarbeit öffentlich dazu aufgerufen, dem Gre- mium Anregungen mitzuteilen, damit diese aufgenommen werden könnten. Die Integration der verschiedenen Akteure in den Beratungskontext diente größeren Wirkungschancen der Kommission selbst.

Ministerien auf Bundes- und Landesebene

Die Ministerien übten in vielfältiger Weise Einfluss auf die Kommission aus und vice versa. Hier sind drei Felder zu nennen: Erstens wurden Ministerialbeamte als Sprecher zu Anhörungen eingeladen, zweitens waren Landes- und Bundes- ministeriale bei den Sitzungen anwesend und drittens bestanden Kontakte auf persönlicher Ebene zwischen Ministerialen und Kommissionsmitgliedern. Um die Positionen und die Informationen in die Arbeit zu integrieren, wur- den zu verschiedenen Arbeitsfeldern Mitarbeiter der Ministerien zu Anhörungen geladen. Beispielsweise sprach Günter Hartkopf vom Innenministerium zur Ent- sorgungskonzeption deutscher Kernkraftwerke903 und Hans Tietmeyer vom Wirtschaftsministerium referierte zum Thema Strukturentwicklung der deutschen Wirtschaft.904 Auf allen Sitzungen der Enquete-Kommission waren Vertreter ver- schiedener Ministerien zugegen. Regelmäßig nahmen Manfred Popp und W. von Osten vom BMFT, Helmut Schnurer vom BMI und Rolf Geberth vom BMWi teil. Die genannten Ministerialbeamten meldeten sich in den Sitzungen auch zu Wort. Zum Beispiel brachte Popp sich ein, als das Arbeitsprogramm der Kom- mission diskutiert wurde. Er favorisierte ebenso wie Geberth unter anderem Häfeles Vorschlag, ein hohes und ein niedriges Bedarfsszenario zu berechnen, wie es dann auch umgesetzt wurde.905

903 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 24. September 1979, S. 5/6–5/30. 904 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979, 6/64–6/134. 905 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/14.

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Intensiv wurde die Beteiligung der Ministerien während der berichts- orientierten Arbeit. Beim Thema Reaktorsicherheit nahm der Bundesinnenminis- ter beinahe zu jedem Abschnitt Stellung. Veränderungen der ursprünglich ge- planten Empfehlungen blieben dabei nicht aus. Zum Beispiel befürwortete die Kommission, dass zum Katastrophenschutz im Falle eines schweren Reaktorun- falls Pläne für einen 30-km-Radius entwickelt, veröffentlicht und Evakuie- rungsmaßnahmen erprobt werden. Der Bundesinnenminister verwies auf vor- handene Pläne für einen 25-km-Radius und darauf, dass die Bevölkerung in einem 10-km-Radius über behördliche Maßnahmen durch Informationsblätter aufgeklärt werde. Darüber hinaus fänden in unregelmäßigen Abständen Übungen statt. Zunächst diskutierte die Kommission, den Absatz zu streichen, einigte sich letztlich aber darauf, dass die Katastrophenschutzpläne zu veröffentlichen sei- en906 – eine Forderung, die die FDP sich bereits vorher auf ihre Fahnen geschrie- ben hatte.907 In Amerika führte ein vergleichbares Ansinnen – die praktische Demonstration von Evakuierungsplänen der Bevölkerung – zur Stilllegung min- destens eines Kernkraftwerkes.908 Die Sache hat zwei Seiten: Auf der einen kann durch die Integration der Ministerien in den Beratungsverlauf eher sichergestellt werden, dass die Arbeit einer solchen Kommission nicht aufgrund mangelnder Strahlkraft ins Leere läuft. Laermann äußerte sich in der ersten Lesung des Berichts im Bundestag dazu – vermutlich weil kurz zuvor in der Presse das Gerücht kursierte, die nordrhein- westfälische Landesregierung habe im Zusammenhang mit der Risikoorientierten Studie interveniert.909 Die sachliche Zuarbeit von Institutionen und Organen der Exekutive sowie der Genehmigungsbehörde sei – dem FDP-Politiker zufolge – die Voraussetzung für eine wirkungsvolle Enquete-Arbeit.910 Die Anwesenheit der Ministerialbeamten wurde von den Kommissionsmit- gliedern nicht zuletzt auch genutzt, um Forderungen nach ausstehenden und für die Arbeit relevanten Berichten zu stellen. Schäfer beispielsweise erinnerte Schnurer (BMI) nachdrücklich an einen Bericht zu Sicherheitsmaßnahmen im Falle kriegerischer Einwirkung, Sabotage, Terrorismus, der dem Innenausschuss bereits im Januar 1978 vorliegen sollte.911 Ebenso konnte die Kommission direkt beim Forschungsminister nachhaken, als sie Auskünfte von den Forschungszen-

906 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 15. Sitzung, 27./28. März 1980, S. 15/32. 907 Vgl. z.B.: Beschluß Energiepolitik des 30. Ordentlichen Bundesparteitages der F.D.P. in Bre- men vom 15. bis 17. Juni 1979, in: Verheugen, Programm der F.D.P., S. 555–569, S. 566. 908 Krohn/Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, S. 7. 909 Weitere Verzögerung in der Kernenergie-Kommission, in: FAZ, 14. Juni 1980; NRW: Kein Druck auf Kommission. Einmischung beim Schnellen Brüter bestritten, in: Kölner Stadt- Anzeiger, 20. Juni 1980. 910 PA DBT PlPr. VIII/229, 3. Juli 1980, S. 18635. 911 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 8. Sitzung, 22. November 1979, S. 8/67.

199 tren wünschte. Hauff hatte in einem Brief zugesichert, dass die Mitglieder der Enquete-Kommission kritische Informationen, die offizielle Regierungskonzepte eventuell in Frage stellten, auch unaufgefordert von den Mitarbeitern und nicht nur von der Projektleitung erhalten sollten. Obwohl dieses Schreiben zwei Mo- nate zurückliege, seien die Mitarbeiter der Zentren nicht darüber informiert. Hauff sicherte zu, dass er seinen Einfluss geltend machen werde. Da es sich allerdings um eigenständige GmbHs handele, seien sie nicht an die Weisungen des Ministeriums gebunden.912 Durch die Informationen der Ministerien konnten die Empfehlungen diffe- renzierter und abgestimmt auf laufende Programme und bereits existierende Initiativen erfolgen. Auf der anderen Seite muss man sich die Frage stellen, wie unabhängig eine Enquete-Kommission ihre Aufgaben wahrnehmen kann, wenn die Ministerien und Vertreter der Länder direkte Möglichkeiten haben, einzugreifen. Ein Beispiel für die Teilnahme am Kommissionsgeschehen durch persönli- che Kontakte ist Joachim Grawe aus dem baden-württembergischen Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr, der nicht nur an den Sitzungen der En- quete-Kommission teilnahm, sondern auch mit dem Baden-Württemberger Sta- venhagen in Briefwechsel stand. Hier findet sich ein Schreiben vom 3. April 1980, das Grawe an das Staats- ministerium und in Kopie an Stavenhagen schickte: Darin berichtete er nicht nur detailliert von seinen Erfahrungen aus der Enquete-Kommission, auch die Ver- teilung der Meinungen wurde einzeln aufgeschlüsselt. Danach sei der Vorsitzen- de bemüht, Kompromisse zu erzielen, und käme den Kernenergiebefürwortern in allen Fragen von nichtstrategischer Bedeutung sehr weit entgegen – alles mit dem Ziel, das seit 1977 bestehende De-facto-Moratorium für Kernenergie min- destens bis Mitte der 1980er Jahre zu verlängern. Gleichzeitig beklagte Grawe in seinem Bericht, dass scheinbar nicht alle Kernenergiebefürworter ihre Sache richtig ernst nähmen. Es gebe keine erkennbare Koordination – im Gegensatz zu den Kernenergiegegnern – und jeder kämpfe nur auf seinem Gebiet. Um einen zu ‚negativ gefärbten Bericht‘ abzuwenden, machte Grawe verschiedene Vorschlä- ge: Unter anderem müssten die Kernenergiebefürworter es bei strategisch wich- tigen Fragen auf Kampfabstimmungen ankommen lassen. Pfad III dürfe nicht als Möglichkeit akzeptiert werden, da er die Überflüssigkeit der Kernenergie bewei- se; der Bau einer kleineren Wiederaufarbeitungsanlage müsse vorangetrieben und der Kalkarer Brüter zügig fertig gestellt werden: „Zu diesen Punkten sollte notfalls auch ein Eklat (bis hin zum Rücktritt von Kernenergiegegnern als Kom-

912 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10./11. Januar 1980, S. 10/118ff.

200 missionsmitglieder, mit dem diese durchaus als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele drohen könnten) in Kauf genommen werden.“913 Einen Brief ganz grundsätzlicher Natur erhielt Stavenhagen kurz darauf vom baden-württembergischen Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr, genauer von Rudolf Eberle: Der bevorstehende Bericht – soweit er ihn gelesen habe – werde das Ziel der Union erschweren, mit der Strategie Kohle und Kernenergie in den nächsten Jahren mit dem Bau neuer Kernkraftwerke zu beginnen.914 Grawe äußerte sich sehr detailliert – beispielsweise zu einer Vorlage von Birkhofer und Pfeiffer über die Entsorgungsfrage.915 Sie sei gerade noch hin- nehmbar, allerdings würden einige Aussagen, die in Richtung einer rückholbaren Endlagerung in einigen Monaten wiesen, durch die vergleichende Studie aus Karlsruhe für das BMFT überholt sein. Er empfahl, wie zu votieren sei: Falls die Mehrheit der Kommission sich hier auf einen Kompromiss einigen sollte, solle man zustimmen.916 Interessant ist an dieser Stelle, dass bei der ersten Diskussion der Vorlage in der Kommission am 28. März Stavenhagen ausgesprochen kom- promissorientiert agierte. Bereits hier gab es jedoch einen Punkt, dem er sich nicht anschließen wollte: die Forderung nach einer Studie zur Größe der Wieder- aufarbeitungsanlage.917 Grawe hatte in seinem Brief ausdrücklich darauf hinge- wiesen, dass diese Anlage keineswegs als Versuchsanlage fungieren, sondern kommerziellen Charakter haben solle; insofern war die Kapazität der Anlage wichtig. Als Beschlüsse in der Sitzung zu fassen waren, hatte die Union ein ei- genes Votum erarbeitet. Und obwohl Häfele nach eigenen Aussagen inhaltlich auch dem Unionspapier hätte zustimmen können, entschied er sich im Sinne des Kompromisses für das Papier von Ueberhorst. Damit erhielt das Minderheitsvo- tum der drei Unionsabgeordneten, das keine weiteren Prüfungen zum Thema Entsorgung vorsah, vier Enthaltungen und acht Gegenstimmen, während das Mehrheitsvotum mit 12 Stimmen angenommen wurde.918 Zwar fanden sich keine vergleichbaren Zeugnisse zur SPD und FDP, es ist aber durchaus anzunehmen, dass ähnliche Stellungnahmen und Aufforderungen auch an die Abgeordneten der anderen Parteien gingen. Diese Archivfunde füh- ren direkt zu der Frage, die die Kommissionsmitglieder und ebenso die Presse im Nachhinein beschäftigte: Warum gingen die Unionsabgeordneten im Kompro- miss so weit mit und machten dann im letzten Augenblick mit dem Sondervotum

913 ACDP I–547–009/4, Brief von Grawe an das Staatsministerium, 3. April 1980. 914 ACDP I–547–009/4, Brief von Eberle an Stavenhagen, 10. April 1980. 915 PA DBT EK VIII, V/K/7, Vergleich von Entsorgungskonzepten (Birkhofer und Pfeiffer). 916 ACDP I–547–009/4, Brief von Grawe an Stavenhagen (Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr Baden-Württemberg), 16. April 1980. 917 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 15. Sitzung, 27. März 1980, S. 62–80. 918 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 21. Sitzung, 20. Juni 1980, S. 21/8–21/14.

201 einen Rückzieher vom maßgeblichen Kompromiss der Kommission, sowohl den alternativen Energien als auch der Kerntechnik bis 1990 eine ausgeglichene Chance zu geben?

Fraktionen und Lobbies

Zum Abstimmungsverhalten der Konservativen gab es zwei Thesen: Die Frakti- on hat sich eingeschaltet oder die Wirtschaft hat interveniert. Wie sich gleich zeigen wird, gibt es für beide Theorien Anhaltspunkte. Die Äußerungen von Fraktion und Interessenvertretern zur Kommissionsarbeit waren ambivalent. Zunächst einmal zu einer positiven Wahrnehmung des Gremiums: Im Janu- ar schrieb Hans-Joachim Preuß (KWU) zu dem Gliederungsentwurf des Kom- missionsberichtes an Stavenhagen, dass er einen Kompromiss, wie ihn Meyer- Abich vorschlage, mit begrenztem Ausbau und ernsthaften Energieeinsparungen für ausgesprochen interessant halte. Allerdings wolle er gerne wissen, was unter ‚ernsten‘ Energiesparmaßnahmen zu verstehen sei.919 Ganz anders äußerte sich der Fraktionsvorsitzende der Union, Helmut Kohl. Er wies Stavenhagen in mehreren Gesprächen und dann noch einmal in einem Brief vom April sehr deutlich darauf hin, wie weiter vorzugehen sei: In entschei- denden Fragen sei der ‚eindeutige Kurs‘ der Union fortzusetzen, es sollten keine Kompromisse eingegangen und auch keine ‚Kompensationsverhandlungen‘ in den Formulierungen mit den Kernenergiegegnern in der SPD geführt werden. „Die Position der Union darf in der Frage der friedlichen Nutzung der Kernener- gie nichts an ihrer bisherigen Klarheit und Eindeutigkeit einbüßen.“920 Bei dem Abschnitt über Energiepolitik sei insbesondere darauf zu achten, dass die Grund- sätze der sozialen Marktwirtschaft durchgehalten werden; das würde von großen Teilen der SPD bei der Energieeinsparungspolitik nicht beachtet.921 Dieser Hin- weis des Fraktionsvorsitzenden hatte sicherlich einen höheren Stellenwert als die Kommentare der Lobbyisten, deren Äußerungen nichts an Deutlichkeit zu wün- schen übrig ließen. Horst Petrat von der Kernkraftwerke Süd GmbH (KWS) forderte Stavenha- gen Ende Mai auf, „den als Kompromiß angepriesenen Vorschlag des Vorsitzen- den der Enquete-Kommission mit aller Entschiedenheit abzulehnen.“922 Mit der Formulierung, dass es ‚derzeit weder nötig noch möglich sei, sich endgültig für oder gegen die Nutzung der Kernenergie auszusprechen‘, sei eine ‚Denkpause‘

919 ACDP I–547–009/4, Brief von Preuß (KWU) an Stavenhagen, 28. Januar 1980. 920 ACDP I–547–009/4, Brief von Kohl an Stavenhagen, 21. April 1980. 921 Ebd. 922 ACDP I–547–010/1, Brief von Petrat an Stavenhagen, 27. Mai 1980.

202 eingeläutet.923 Diese Formulierung wurde letztlich auf Wunsch von Knizia ab- gemildert, der sich dadurch dem Kompromiss anschließen konnte. Auch wenn im Hauptkompromiss die Worte ‚nicht notwendig‘ gestrichen wurden, findet sich ebendiese Formulierung an anderen Stellen wieder.924 Den Unionsabgeord- neten war zu diesem Zeitpunkt vermutlicht die Möglichkeit genommen, sich dem Kompromiss anzuschließen; darüber hinaus war das Minderheitsvotum bereits formuliert. Der Präsident des Deutschen Atomforums, Rudolf Guck, hatte sich zu- nächst für die Arbeit der Enquete-Kommission begeistert, da sie zeige, dass die Energieversorgung Deutschlands ohne Kernenergie nicht sicherzustellen sei.925 Er kritisierte die Arbeit der Unionsabgeordneten im September 1980 gar als ‚Konfrontationsstrategie‘, da sie den von Ueberhorst vorgeschlagenen Kompro- miss nicht mitgetragen hatten. Darauf schrieb der energiepolitische Sprecher der Union, Christian Lenzer, einen Brief an Heinz Riesenhuber, der damals Leiter des Bundesausschusses für Energie und Umwelt der Union war, und bezeichnete die Äußerungen von Guck als Desavouierung der Arbeit der CDU/CSU im Kernenergiebereich: „Die Herren Kollegen des Präsidiums des Deutschen Atom- forums sollten wissen, daß die CDU/CSU nicht mehr bereit ist, die Fahne der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu schwenken, wenn in den Reihen der Interessenten bereits der ungeordnete Rückzug angetreten worden ist.“926 Diese Aussage ist gleich in mehrerlei Hinsicht interessant: Schwenkte die Union nur eine Fahne im Sinne der Lobbyisten, ohne hinter ihr zu stehen? Hätten die CDU/CSU-Mitglieder der Kommission eventuell doch dem Kompromiss zu- stimmen können, ohne dass der scheinbar von der Union schwer befürchtete Verlust ihrer ‚klaren Linie‘ eingetreten wäre? Letztlich weist alles darauf hin, dass die Intervention der Fraktion im vo- rauseilenden Gehorsam gegenüber der eigenen Klientel dafür sorgte, dass die Unionsabgeordneten in der Kommission den angestrebten Kompromiss nicht mehr mittragen wollten. In der Tat scheint zu diesem Zeitpunkt nicht nur „das Bekenntnis zum Brüter eine Art Ehrensache“927 für die Union geworden zu sein. Allerdings wird an diesen Briefen erneut deutlich, dass die Interessen der Indust- rie und der Energiewirtschaft nicht derart eindeutig waren. Zudem konnten die von der Union befürworteten Sachverständigen nicht überzeugt werden, diesen Weg mitzugehen.

923 Ebd. 924 Z.B.: Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 295. 925 ACDP I–547–009/4, atominformationen. Deutsches Atomforum e.V. zur Enquête-Kommission ‚Zukünftige Kernenergiepolitik‘, 26. Juni 1980. 926 ACDP I–547–010/1, Brief von Lenzer an Riesenhuber, 26. November 1980. 927 Radkau, Angstabwehr, S. 47.

203

Der Eklat in der Enquete-Kommission ging so weit, dass die CDU/CSU- Mitglieder nicht an der Pressekonferenz teilnahmen, auf der das Ergebnis der Kommission präsentiert wurde. Sie übten bereits vor Vorlage des Berichtes öf- fentlich Kritik.928 Die kernenergiefavorisierenden Sachverständigen der Enquete-Kommission wurden im Anschluss an die Kommissionsarbeit zur Rechenschaft gezogen, da man ihr Abstimmungsverhalten nicht dulden wollte. Birkhofer ging daraufhin zu Helmut Kohl und erklärte ihm, dass es seine Aufgabe sei, als unabhängiger Sachverständiger zu der Kommissionsarbeit beizutragen und auch entsprechend abzustimmen.929 Er wurde in der Nachfolgeenquete von der Union berufen, wo- hingegen Wolf Häfele auf Ticket der SPD in der Kommission saß.930 Welche Folgen die Kommissionsentscheidungen für die Berater auf der Ebene ihrer je- weiligen wissenschaftlichen und lobbyistischen Community hatten, lässt sich nur schwer abschätzen. Auch in diesem Fall ist die Aktenlage auf Seiten der SPD dünner. Aller- dings gab es Treffen, um die Argumentationslinien der Befürworter alternativer Energiesysteme abzustecken: Hermann Graf Hatzfeldt-Wildenburg-Dönhoff lud die Sachverständigen Altner, Meyer-Abich und von Ehrenstein scheinbar ein- zeln, aber auch als Gruppe auf sein Wasserschloss Crottorf in Kirchen ein.931 Der Wirtschaftswissenschaftler und Forstwirt engagierte sich auf umweltpolitischer Ebene; nicht nur war er Vorstandsmitglied des Öko-Instituts, er hatte auch den Gorleben-Report mit herausgegeben. Die Befürworter von erneuerbaren Energien und Sparmaßnahmen bereiteten sich gemeinsam strategisch vor – die Abgeordneten zusammen mit den Sach- verständigen. Auf der Seite der Kernenergiebefürworter scheint dies nicht in dem Maße geschehen zu sein. Die Union sollte aus dem ‚Kompromissschock‘ – der Tatsache, dass die CDU/CSU-Abgeordneten den Sachverständigen in der Kom- mission bei Abstimmungen alleingelassen gegenüberstanden – später lernen und in der Nachfolgekommission den Sitzungen vor- und nachgelagerte Treffen veranstalten.932

928 Z.B.: „Wärme-Leck-Ermittlung“ und „Energie-Anlagenverordnung“, in: FAZ, 16. Juni 1980. 929 Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 4. Mai 2007. 930 Vgl. dazu mehr in C.VII. 931 Gespräch mit Klaus Michael Meyer-Abich, Hamburg 31. Juli 2008. 932 Z.B.: ACDP I–547–009/4, Brief von Stavenhagen an die CDU/CSU-Gruppe der Enquete- Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 24. August 1982.

204

Vorlage Arbeitsgruppenebene Kommissionsebene Externe Ebene Votum Bericht

Fig. 8: Von der Vorlage zum Bericht

Diese Hinweise lassen den Weg einer Vorlage hin zum Votum und zum Bericht besser nachvollziehen. Die Informationen durchliefen einen Diskussionsprozess auf verschiedenen Ebenen, bevor sie, falls sie es so weit schafften, Eingang in den Bericht fanden. Die externe Ebene war dabei letztlich Teil des Aushand- lungsprozesses in der Kommission.

d. Informationen: Inklusion und Exklusion

Insgesamt betrachtet ging man in der Kommission offen mit zusätzlichen Infor- mationen um. Sobald ein Kommissionsmitglied vorschlug, dass ein Text oder eine Person in den Beratungsprozess einbezogen werden sollte, wurde dies ohne Umstände zugelassen.933 Eine Gatekeeper-Position scheint es nicht gegeben zu haben. Allerdings gab es gegen dieses Vorgehen auch Proteste, vor allem von Seiten der Unionsabgeordneten. Ein Beispiel war die Arbeitsmappe zur Plutoniumwirtschaft 934 vom Öko- Institut und BBU, die zwar – so Gerstein – als Vorlage mit einer Nummer verse- hen sei, an der man im Einzelnen aber härteste Kritik üben müsse. Ueberhorst verteidigte, dass er, um eine gewissen Offenheit zu zeigen, jede Anregung von außen zulasse und daher alle Stellungnahmen von Industrie, Bürgerinitiativen, Instituten oder Gewerkschaften verteilt würden. Allerdings müsse man unter- scheiden, was ein Dokument und was ein Thema der Enquete sei, denn dies sei auf der Kommissionssitzung festzusetzen. Laut Stavenhagen wurden aber bei der Einordnung der Papiere subtile Unterschiede gemacht, und es bestehe eine ge- wisse Einseitigkeit, was weitergegeben wurde. Konkrete Beispiele sind im Pro-

933 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 3. Sitzung, 19. Juni 1979, S. 3/4. 934 PA DBT EK VIII, IV/K/3, Arbeitsmappe zur Plutoniumwirtschaft (Öko-Institut und BBU).

205 tokoll nicht zu erkennen.935 Die Unionsabgeordneten sahen sich allerdings auch deshalb in einer schwächeren Position, da in ihren Augen der wissenschaftliche Stab vor allem dem Vorsitzenden zuarbeitete.936 Beschwerden über eine asymmetrische Informationspolitik finden sich au- ßerdem an anderen Stellen. Beispielsweise beklagte von Ehrenstein, dass er und andere nicht die gleichen Informationen hätten wie Birkhofer. Es ging dabei um einen Fragenkatalog der RSK, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich sei. Eben- so seien beim Genehmigungsantrag der DWK zum integrierten Entsorgungszent- rum sicherheitstechnische Fragen ungeklärt geblieben.937 Im Beratungsprozess selbst konnte keine nachhaltige Exklusion von Infor- mationen gefunden werden. Ein wichtiger Faktor für die relativ ausgewogene Kommissionsarbeit war sicherlich, dass der Leiter gleich zu Beginn deutlich gemacht hatte, dass ein Argument, wenn es kritisiert werde, sachlich widerlegt werden müsse. Dies erforderte, dass die Kommissionsmitglieder sich mit allen vorgeschlagenen Lösungen intensiv auseinandersetzen mussten. Insofern wurde im Prinzip nach scholastischer Methode gearbeitet: Ehe man sich der Diskussion stellen konnte, musste man sich die Position des Gegenüber soweit angeeignet haben, dass man sie selbst hätte vertreten können. Dadurch kam zum einen ein intensiver fachlicher Diskurs zustande, und zum andern konnte die Diskussion über den Punkt hinausgehen, an dem die Akteure nur von ihren Standpunkten ausgehend argumentieren. Die Form der ‚diskursiven Methode‘, die der Vorsitzende der Kommission pflegte, war vermutlich eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass die Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik zu einer teilweisen ge- meinsamen Empfehlung kam. Ueberhorst unterschied zwischen ‚positioneller Politik‘, die ausgerichtet sei auf die Durchsetzung einer bestimmten Position, und ‚diskursiver Politik‘, die von verschiedenen Positionen ausgehe und versu- che eine Position zu erlangen, die die maximale Zustimmung finden könne.938 Die Frage, ob der Schnelle Brüter in Betrieb genommen werden solle, wur- de von der Enquete-Kommission nicht beantwortet. Für eine entsprechende Empfehlung befand sie weitere Studien für notwendig. Vorangegangen war die- ser Entscheidung eine Debatte über das Wissen und die Unsicherheiten, die bis- lang zu dem Reaktor vorlagen.939 Letztlich wurde nach einigen Nachrecherchen in der berichtsorientierten Phase der Enquete-Kommission anvisiert, zusätzliche

935 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10./11. Januar 1980, S. 10/71f. 936 ACDP VIII–001–1061/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 24. Juni 1980, S. 13. 937 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 24. September 1979, S. 5/76. 938 Vgl. zu diesem Ansatz z.B.: Ueberhorst, Positionelle und diskursive Politik, S. 369–373. 939 PA DBT EK VIII, Protokoll der 10. Sitzung, 10. Januar 1980.

206

Studien zu empfehlen.940 Nachdem die endgültige Abstimmung über den Text mehrmals verschoben und auch mit der nordrheinwestfälischen Genehmigungs- behörde abgestimmt worden war, lagen am Ende zwei Texte vor: einer von den drei Unionsabgeordneten und einer von Ueberhorst.941 Bis zur letzten Minute wurde über genau diesen Berichtsteil diskutiert, und es ist die einzige Empfeh- lung, in der alle kernenergiebefürwortenden Mitglieder der Kommission mit Ausnahme von Häfele nicht dem Text des Vorsitzenden zustimmten.942 Beide Voten empfehlen eine Risikoorientierte Studie, um den Brüter sicher- heitstechnisch mit dem Leichtwasserreaktor zu vergleichen, und eine Studie zu Bethe-Tait-Störfällen. Allerdings forderte nur das Mehrheitsvotum, auch Wis- senschaftler heranzuziehen, die Gegner des Brüters sind.943 Erstaunlich ist, dass das Konkurrenzprojekt zum SNR300, der THTR, als Alternative in der Kommission nicht weiter diskutiert wurde; erstaunlich auch deshalb, weil mit Knizia der Vorstandsvorsitzende der Firma in der Kommission saß, die den Reaktor in Hamm-Uentrop baute. Der THTR war allerdings deutlich weniger umstritten als der SNR300. Auch Kernenergieskeptiker bewerteten diesen Reaktortyp positiv.944

e. Konsens oder Kompromiss?

„Dabei stellte sich heraus, daß auf Grund der Argumentation, die von Seiten der Be- fürworter und der Kritiker zum Teil auf verschiedenen Ebenen geführt wurde, eine Verständigung zwischen den beiden Standpunkten ohne eine längere, offene Diskus- sion fast unmöglich ist.“945

So die Zusammenfassung des Expertengesprächs ‚Schneller Brüter‘ im BMFT aus dem Mai 1977, an dem von Ehrenstein, Häfele und andere teilnahmen. Diese längere Diskussion ist in der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie- Politik zustande gekommen. Auch wenn es zu keiner gemeinsamen Empfehlung kam, so einigten sich Gegner und Befürworter der Brütertechnologie doch auf Unsicherheiten, die es vor der Inbetriebnahme des Reaktors zu minimieren galt.

940 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 14. Sitzung, 13. März 1980, ab S. 14/9. 941 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 20. Sitzung, 12. Juni 1980, S. 15. 942 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 332. 943 Ebd., S. 330f., 344. 944 Gespräche mit Harald B. Schäfer, Offenburg 19. Februar 2008, und mit Karl Hans Laermann, Wuppertal 8. September 2008. 945 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie, Anlage 2 zum Kurzprotokoll der 9. Sit- zung, Anhörung Expertengespräch „Schneller Brüter“, 25. Mai 1977.

207

Die Gemeinsamkeiten gingen soweit, dass beispielsweise Altner erklärte, er habe in der Kommissionsarbeit gelernt, nicht nur die Argumente der Gegenseite, sondern auch die der eigenen Seite sorgfältig zu prüfen.946 Die wissen- schaftlichen Sachverständigen der Enquete-Kommission stimmten allen Empfeh- lungen für zusätzliche Studien zu, sei es in Fragen der Kerntechnologie oder in Fragen erneuerbarer Energien. Dass die von der Gegenseite wahrgenommenen Unsicherheiten zum Teil im Gespräch vermindert und unter Umständen durch eine zusätzliche Studie geklärt werden sollten, ist gegenüber vergleichbaren Veranstaltungen, die vorher stattfanden, ein großer Fortschritt. Das Gorleben- Hearing war eher eine Aneinanderreihung von Statements, auch wenn einige Redner aufeinander eingingen.947 Das Ergebnis der Enquete-Kommission ist weniger als Konsens denn viel- mehr als Kompromiss zu bezeichnen. Dies exemplifiziert folgende Äußerung von Häfele: Wenn die Kommission verschiedene Voten zum Brüter abgeben würde, sei seine eigene ‚Konsensfähigkeit‘ zu allen übrigen Punkten der Arbeit in Frage gestellt. Er könne sich nicht – Häfele spielte vermutlich auf den Ener- giesparkatalog an – in Bereiche begeben, die er für gefährlich halte, wenn an anderer Stelle – dem Brüter – die Gegensätze so deutlich blieben.948 Entspre- chendes äußerte Altner, als die Unionspolitiker versuchten, den Energiesparkata- log zu beschneiden.949 An diesem Punkt zeigte sich Ueberhorsts eiserner Wille, eine gemeinsame Empfehlung zu finden. Eine abschließende Entscheidung über die Inbetriebnah- me des Brüters könne zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen werden, und die Kommission müsse eine „konsensfähige, für die ungeklärten Fragen damit auch pluralistische Formulierung finden“950. Ansonsten würde der ‚Konsens‘ auch an anderer Stelle zusammenbrechen. Alleine an dieser Formulierung wird deutlich, dass genau das, was Staven- hagen in der 12. Sitzung als ‚geben und nehmen‘ bezeichnete, der Fall war. Hä- fele war bereit, Sparmaßnahmen mit zu tragen, solange der Brüter nicht an- getastet wurde – auch wenn er den Weg zu dem Kompromiss als „außer- ordentlich mühsam und gelegentlich schmerzvoll“951 bezeichnete. Altner war bereit, den Brüter weiterbauen zu lassen, solange entsprechende Sparmaßnahmen ergriffen würden. Auch von Ehrenstein äußerte, dass die in den Papieren des Vorsitzenden formulierten Kompromisse für ihn und andere Kommissionsmit-

946 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 15. Sitzung, 27./28. März 1980. 947 Radkau, Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur, S. 319. 948 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 14. Sitzung, 13./14. März 1980, S. 14/20. 949 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 16. Sitzung, 14. April 1980, S. 16/7f. 950 PA DBT EK VIII, Ergebnisprotokoll der 14. Sitzung, 13./14. März 1980, S. 14/20. 951 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 17. Sitzung, 25. April 1980, S. 17/12f.

208 glieder schon bis ans Äußerste gingen. „Dies werde in der Erwartung getan, daß dann nicht ein anderes Papier, das für ihn nicht konsensfähig sei, über Fußnoten am Ende doch noch eine Mehrheit bekomme.“952 Das sind die Grundlagen eines inhaltlichen Kompromisses. Der Konsens bestand sicherlich in methodischer Hinsicht, und zwar darin, bis 1990 eine gemeinsame Empfehlung abzugeben und danach die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen. Sprachliche Detailarbeit war Teil dieses Kompromisses; das Wort ‚Option‘ beispielsweise – das von der Energiepolitik der SPD besetzt war – durfte auf keinen Fall im Bericht auftauchen. Stavenhagen setzte sich sehr für den von Meyer-Abich eingebrachten Begriff der ‚aktiven Koexistenz‘ ein.953 Die Unions- politiker gingen in vielen Teilen den Kompromisspfad mit und beteiligten sich aktiv am Bau des Weges, zweigten aber kurz vor Ende unter dem Druck der eigenen Fraktion davon ab. Im Ergebnis hielt Häfele folgendes fest: „im Vergleich zu ähnlichen Arbei- ten in der Welt stelle diese Arbeit der Enquete-Kommission einen wesentlichen Fortschritt dar. Die energiepolitische Situation in der Bundesrepublik werde durch die Pfadbetrachtungen in symmetrischer Weise ausgeleuchtet.“954 Handelt es sich also um einen ‚historischen‘ Kompromiss? Altenhof wid- mete sich dieser Frage und verwies auf die zahlreichen Minderheits- und Son- dervoten.955 Er zählte insgesamt 29 gegensätzliche Voten, wobei auch nicht als Sondervoten gekennzeichnete Dissense – also die Fußnoten – mitgezählt wur- den.956 Ob das allerdings als Maßstab für das ‚Historische‘ gelten kann, ist frag- lich. Divergierende Voten – in welcher Form auch immer geäußert – waren an- scheinend für den Kompromiss unabdingbar. Es ist anzunehmen, dass manch ein Kommissionsmitglied seine eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt sah, wenn nicht auf irgendeine Weise eine differenzierte Betrachtung zum Ausdruck ge- bracht wurde. Nicht zu unterschätzen ist aber, dass die Kommission an ganz entscheiden- den Stellen zu Kompromissen kam, mit denen zu Beginn der Arbeit nicht zu rechnen gewesen war. Die gemeinsame Empfehlung umfasste dabei nicht nur die wissenschaftlichen Sachverständigen des Gremiums, sondern auch den kern- energiebefürwortenden Teil der SPD sowie der FDP. Zudem war es gelungen – von Kernenergiebefürwortern und -gegnern abge- segnet – aufzuzeigen, dass es theoretisch die Varianten mit und ohne Kernener- gie gebe und beide möglich wären. Alle vier Pfade wurden von allen Mitgliedern

952 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 21. Sitzung, 20. Juni 1980, S. 21/9. 953 Z.B.: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 15. Sitzung, 27./28. März 1980, S. 15/9. 954 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 17. Sitzung, 25. April 1980, S. 17/13. 955 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 278. 956 Ebd.

209 als machbar, wenn auch im Einzelnen nicht alle als wünschbar angesehen. Da- durch waren die verschiedenen Energieversorgungsoptionen erstmals vergleich- bar gegenübergestellt. Einigkeit herrschte darüber, dass Energiesparmaßnahmen mehr als überfällig waren, unabhängig davon welchen Weg man wählte. Zudem stimmte die Kommission darin überein, dass die Sicherheit des Brüters zusätz- lich geprüft werden müsse. Insofern wurden viele ‚alte Hüte‘ in einer systemati- schen Betrachtung aufgearbeitet. Man lehnt sich gewiss nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man das Ergeb- nis als kleine ‚Revolution‘ bezeichnet. Angesichts der verhärteten Fronten, die sich auch während der Kommissionsarbeit immer wieder auftaten, ist das Ergeb- nis in der Tat erstaunlich. Es wurde zunächst einmal eine Brücke geschlagen, um die Spaltung der Regierungsparteien innerhalb und untereinander zu überwinden. Möchte man das Ergebnis aber als ‚historischen Kompromiss‘ bezeichnen? Der Compromesso storico, bei dem 1973 die bedeutendsten demokratischen Parteien in Italiens Parlament zusammenarbeiteten, um einen möglichst breiten Konsens innerhalb der demokratischen Institutionen zu bilden und die demokra- tischen Strukturen Italiens vor autoritativen Angriffen zu schützen, war nur von kurzer Dauer. Letztlich förderte der Kompromiss die Radikalisierung von rechts- und linksgerichteten militanten Gruppierungen. Ein direkter Vergleich mit dem italienischen historischen Kompromiss hinkt schon alleine deshalb, weil die Union, die zweite wichtige Partei im deutschen Bundestag, den Kompromiss der Enquete-Kommission nicht mit trug. Zudem kann die Wirkung des Compromesso storico kaum als erstrebenswert angesehen werden. Die Verände- rungen und die Auswirkungen des ‚historischen Kompromisses‘ der Enquete- Kommission bedürfen unabhängig davon weiterer Klärung.

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VIII. Die Revolution und das ‚Krötenschlucken‘

Der Weg zu der kompromissreichen Empfehlung der Kommission war von eini- gen wichtigen Schachzügen gekennzeichnet: Als erstes ist die Auswahl der Sachverständigen zu nennen, durch die nicht nur die Themenfelder absteckt wurden, sondern auch eine gewisse Ausgewogenheit hinsichtlich der unter- schiedlichen Interessen erreicht wurde. Die verschiedenen Verknüpfungspunkte zwischen den einzelnen Akteuren haben den Gesprächen ein gewisses Funda- ment gegeben, hätten aber hinsichtlich der weit reichenden Anforderungen zur Kompromissbereitschaft alleine nicht ausgereicht. Ein zweiter entscheidender Punkt war die Einrichtung des wissen- schaftlichen Stabes im Sekretariat, der als quasi Dienstleister die auftauchenden Argumente faktisch belegte und dafür sorgte, dass die großen Gedanken auch im Detail nachweisbar waren. Während des Beratungsprozesses kam der dritte entscheidende Schritt: die Entwicklung klarer konsensfähiger Kriterien. Auf der Grundlage eines von Meyer-Abich im Vorfeld publizierten Textes erarbeitete die Kommission in ideologisch übergreifender Zusammenarbeit Kriterien, die sie gemeinsam vertrat. Die Kriterien und ein erweiterter quantitativer Risikobegriff stellten eine neue Bewertungsgrundlage für Technologien im Energiebereich dar. Der vierte Schachzug war die Berechnung der vier energiepolitischen Sze- narien. Für alle Mitglieder der Kommission wurde anschaulich, welche Folgen die eigenen Vorstellungen haben könnten – und insbesondere die Union hinter- fragte ihre Forderungen zum anzunehmenden Energieverbrauch. Die fünfte Maßnahme waren die Schlußfolgerungen für die 1980er Jahre. Für 10 Jahre akzeptierten sowohl Kernenergiebefürworter als auch Befürworter des so genannten sanften Pfades, dass beide Wege gleichmäßig verfolgt werden sollten. Das sechste Hilfsmittel war sicherlich, einige brisante Entscheidungen – wie die über den Brüter – zu verschieben. Das Zugeständnis der Kernenergiebefürworter bestand in einem nur mäßi- gen Ausbau der Kernenergie und einer deutlichen Intensivierung sowohl der Energiesparmaßnahmen wie der Förderungsmaßnahmen für alternative Energie- techniken. Für die Kernenergiekritiker waren der weitere Ausbau der Kernener- gie und die Fertigstellung des Brüters die dicken ‚Kröten‘, die es zu schlucken galt. Auf diese Weise ist tatsächlich eine Empfehlung zustande gekommen, die über den bis dahin bestehenden Diskurs zwischen Kernenergiegegnern und Kernenergiebefürwortern maßgeblich hinausging – dies kann mit Blick auf das Zeitgeschehen durchaus als revolutionär bezeichnet werden.

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C. Die Enquete und ihre Rezeption

Nach der kontroversen Diskussion in Politik und Öffentlichkeit kam die En- quete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik also zu einem durchaus revo- lutionären Ergebnis. Wie aber wurde die Empfehlung in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit aufgenommen, und wie wirkte sie sich auf die Kernkraftkon- troverse aus? Die Ergebnisse sind rückzukoppeln mit der Institution Enquete- Kommission. Zu diesem Zweck wird der Beratungsprozess der Nachfolgeen- quete unter der Leitung von Harald B. Schäfer verfolgt. Welche Schlüsse lassen sich mit Blick auf das Konzept der Wissensgesellschaft und die Expertise zie- hen?

IX. Der Einstieg in den Ausstieg?

Schon kurz vor der Verabschiedung des Berichtes kam es zu einem Bruch in der Kommission. Die Unionsabgeordneten wollten, nachdem sie ihr Minderheits- votum zu den 1980er Jahren abgegeben hatten, das Ergebnis nicht auf einer ge- meinsamen Pressekonferenz vorstellen. Aus der Perspektive des Binnen- geschehens in der Kommission war zum einen der Erfolg einer Empfehlung zu verzeichnen, der von allen Sachverständigen getragen wurde. Andererseits traten bereits die Bruchstellen zu Tage, die auch die Rezeption des Berichtes prägen sollten.

a. „Die vier Pfade in die Zukunft“: Der Bericht

Am 25. Juni 1980 verabschiedete die Kommission in einer nächtlichen Sitzung den letzten Berichtsteil, die Gemeinsamen Schlußfolgerungen für die Energiepo- litik der 1980er Jahre – das Herzstück des Kompromisses. Dass die Unions- abgeordneten ein Sondervotum dazu abgeben würden, war bereits im Vorfeld klar. In letzter Minute konnte Knizia durch die Streichung von drei Worten noch umgestimmt werden und votierte „um des politischen Kompromisses Willen

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[sic!]“957 für die Vorlage des Vorsitzenden; damit wurde der Text mit einer Mehrheit von 12 Stimmen und mit drei Gegenstimmen verabschiedet. Das ent- sprechende Papier der drei Unionsabgeordneten erhielt drei positive Voten und neun Gegenstimmen; Birkhofer, Knizia und Schaefer enthielten sich der Stimme und kommentierten dies in einer Fußnote damit, dass sie dem Text zwar inhalt- lich nicht zustimmen könnten, das Papier des Vorsitzenden allerdings einen breiten politischen Konsens ermögliche.958 Man beachte, dass Wolf Häfele sich dieser ‚Sonderfußnote‘ nicht anschloss. In dieser Sitzung war bereits bekannt, dass die CDU/CSU-Abgeordneten nicht nur ein eigenes Votum formuliert, sondern auch eine eigene Presse- konferenz für den folgenden Tag anberaumt hatten – entgegen Ueberhorsts Pla- nungen. Ueberhorst hatte dann ebenfalls eine eigene Pressekonferenz vorgese- hen. Er versuchte allerdings, ein letztes Mal zu vermitteln: Wenn die Union ihre Pressekonferenz absage, wäre er seinerseits bereit, zugunsten einer gemeinsamen Pressekonferenz abzusagen. Reuschenbach bedauerte das Ausscheren der Union – anscheinend beginne bereits am Tage nach der letzten Sitzung der Wahlkampf. Stavenhagen erklärte, dass die Union lediglich ihre Position erläutern wolle, nicht aber die Darstellung der Kommissionsarbeit vorwegnehmen. Einigen konn- ten sich die Mitglieder der Kommission in dieser Frage nicht mehr, so dass tat- sächlich zwei Pressekonferenzen stattfanden.959 Zwei Tage nach der letzten Sitzung des Gremiums lag dem Bundestag der Zwischenbericht960 vor – mit einem Monat Verspätung gegenüber dem ursprüng- lich anvisierten Termin; debattiert wurde er bereits in der folgenden Sitzungswo- che. Damit war die Kommission im Zeitplan geblieben und der Bericht konnte noch in der gleichen Wahlperiode im Bundestag diskutiert werden. In der Presse war der Bericht der Kommission bereits seit Ende Mai mit Spannung erwartet und kommentiert worden.961 Von den Pfaden962 über einzelne Energiesparmaßnahmen963 bis hin zu Formulierungen aus dem Bericht964 war einiges bereits an die Öffentlichkeit gedrungen. Intensiv wurde diskutiert, ob und

957 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 22. Sitzung, 25. Juni 1980, S. 22/14. 958 Ebd., S. 22/18; Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 1, S. 198. 959 PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 22. Sitzung, 25. Juni 1980, S. 22/20f. 960 PA DBT Drs. VIII/4341, Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘ über den Stand der Arbeit und die Ergebnisse, 27. Juni 1980. 961 Z.B.: Fauler Kompromiß, in: General-Anzeiger, 17. Mai 1980; Mühsame Suche nach ein- heitlicher Aussage, in: Handelsblatt, 22. Mai 1980; Bonner Kernenergie-Bericht erst im Juni, in: FAZ, 22. Mai 1980. 962 Auf Sparflamme, in: Wirtschaftswoche Nr. 22, 30. Mai 1980. 963 Das Sparprogramm trägt zum Teil stark dirigistische Züge, in: Die Welt, 30. Mai 1980. 964 Eine Entscheidung über die Kernenergie erst in zehn Jahre?, in: FAZ, 16. Mai 1980.

214 wie die Kommission zu einer Einigung kommen könnte.965 Erste Resümees wur- den gezogen: Das Hamburger Sonntagsblatt beispielsweise meinte, die Kommis- sion habe mit „Fleiß für das Archiv gearbeitet“966. Als der Bericht am 27. Juni vorlag, war die Reaktion in der Presse ent- sprechend vielfältig: Die Union wurde zitiert, die das „Gespenst des Energiespar- Staats“967 sehe; der Kompromiss der Kommission sei ein „frommer Selbstbe- trug“ und eine „Milchmädchenrechnung“968. Der Bericht erfuhr durchaus auch positive Würdigung: So sei es eine ‚Überraschung‘, dass letztlich auch mit der Union trotz Minderheitsvotum weitgehend Übereinstimmung herrsche.969 Die Süddeutsche Zeitung hob hervor, dass die Kernenergie nun für informierte Bür- ger nicht mehr zum ‚billigen Wahlkampfthema‘ gemacht werden könne, da der Bericht auch vom Votum der von der Union vorgeschlagenen Sachverständigen mitgetragen werde.970 Dass in der Kommissionsempfehlung die wirkliche Ent- scheidung über Kernenergie um 10 Jahre verschoben sei, war in verschiedenen Zeitungen zu lesen – allerdings mit unterschiedlicher Wertung.971 Eine statistische Auswertung der Presseberichterstattung vom wissen- schaftlichen Stab der Kommission kam zu dem Ergebnis, dass es über 130 Pres- semitteilungen zur Enquete gegeben habe: davon ein Drittel nach Abgabe des Berichts, ein Drittel nach der Bundestagsdebatte und ein Drittel in der Zeit von Mitte Juli bis Mitte September. Der Bericht sei direkt nach Abgabe der Empfeh- lung häufig dahingehend falsch verstanden worden, dass alle Entscheidungen bis 1990 aufgeschoben seien. Kommentierende Pressemitteilungen werteten das Ergebnis der Kommission sowohl positiv als auch negativ, die negativen Wer- tungen überwögen dabei ganz leicht. Oftmals würden Teilergebnisse wie das Energiesparen einseitig hervorgehoben, so dass das Anliegen der Kommission, eine ‚faire Konkurrenz‘ von Energiesparen und Ausbau der Kernenergie zu initi- ieren, nicht deutlich werde.972

965 Z.B.: Keine gemeinsamen Empfehlungen, in: Die Welt, 16. Juni 1980; Keine Einigung der Kernenergiekommission?; in: FAZ, 12. Juni 1980; Energiekommission in Kernpunkten uneins, in: SZ, 12. Juni 1980; In der Kernenergiefrage ein Zug zum Kompromiß, in: SZ, 2. Juni 1980; „Historischer Kompromiß“ in der Kernenergie-Kommission?, in: General-Anzeiger, 30. Mai 1980. 966 Mit Fleiß für das Archiv gearbeitet, in: Sonntagsblatt, 22. Juni 1980. 967 Union sieht das Gespenst des Energiespar-Staats, in: FR, 27. Juni 1980. 968 Beides: Milchmädchenrechnung, in: Neue Westfälische, 27. Juni 1980. 969 Eine Überraschung, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 27. Juni 1980. 970 Kompromiß der Energieexperten, in: SZ, 27. Juni 1980. 971 Z.B.: Kernenergie-Entscheidung soll erst in zehn Jahren fallen, in: Die Welt, 27. Juni 1980; Entscheidung über Kernenergie noch offen, in: SZ, 27. Juni 1980. 972 ACDP I–547–009/3, Auswertung der Presse zum Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünfti- ge Kernenergie-Politik‘ vom Sekretariat (Höpfner, Wagner), 20. Oktober 1980.

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Die ambivalenten Reaktionen auf den Bericht sind sicher zum einen als Produkt der Medienpolitik der Unionsabgeordneten zu betrachten, die ihr Son- dervotum vor allem mit Hinweis auf die ‚dirigistischen Sparmaßnahmen‘ und auf 10 Jahre ‚Nichtstun‘ im Bereich der Kernenergie begründeten. Dadurch ging der Kern des Kompromisses teilweise unter. Zum andern deuten sie bereits auf die Rezeption auf Lobbyebene hin, die ebenfalls gespalten waren; die Bruchlinie verlief aber keineswegs entlang der Haltung für oder gegen Kernenergie.

b. Der Bericht auf den Pfaden durch die Ausschüsse

Bei der Rezeption der Kommissionsergebnisse traten die strategischen Finessen des Vorsitzenden vor und während der Kommissionsarbeit deutlich hervor und brachten manchen Kritiker der Empfehlung in die Bredouille. Zu diesen Finessen zählt zum einen die Entscheidung, die Sachverständigen mit einer gemeinsamen Liste zu berufen. Damit wurde eine Distanzierung von einzelnen Personen ad absurdum geführt, denn die Parteien hatten sich auf die jeweiligen Experten geeinigt. Zum anderen waren die entscheidenden Papiere immer von einem kernenergiebefürwortenden und einem kernenergiekritischen Sachverständigen gemeinsam verfasst worden. Einer polarisierenden Kritik konnte immer entge- gengesetzt werde, dass die Ergebnisse sich der gemeinsamen Arbeit von Kern- energiebefürwortern und Gegnern verdanken. Dem Verdacht der Einseitigkeit war damit jede Grundlage entzogen. Drittens war der Hauptkompromiss, die Energiepolitik für die 1980er Jahre, nicht nur von allen Abgeordneten von SPD und FDP, sondern auch gemeinsam mit allen Sachverständigen – sogar einem Vertreter der Energieversorgungsunternehmen – verabschiedet worden.

Debatte im Bundestag

Vor diesem Hintergrund ist auch die erste Bundestagsdebatte über den Kommis- sionsbericht am 3. Juli 1980 zu lesen. Erwartungsgemäß beschrieb Stavenhagen das Endprodukt als einen ‚Formelkompromiss‘, der die in der Kommission ver- tretenen Meinungen nicht abdecke, sondern vielmehr als ‚Tarnkappe‘ diene. Der Auftrag, eine Handlungsempfehlung abzugeben, sei nicht erfüllt. Auch werde der Kompromiss der Akzeptanz von Kernenergie nicht weiter aufhelfen, stattdessen aber der Glaubwürdigkeit der Kommission schaden. Erneut verwies der CDU- Politiker darauf, dass eine Umsetzung des Sparkataloges, wie die Kommissions- mehrheit ihn vorschlage, staatlichen Zwang erfordere. Laermann und Reuschenbach hätten sich durch Fußnoten quasi ‚heraus gewunden‘. Die zusätz-

216 lichen Studien zum Schnellen Brüter und zur Wiederaufarbeitungsanlage hätten den Hintergrund, dass die Kernenergiegegner erkannt hätten, dass sie auf dem direkten Wege die Kernenergie nicht zu Fall bringen könnten, daher werde auf zeitliche Verzögerung gesetzt.973 Das Abstimmungsverhalten der Sachverständigen kommentierte Stavenha- gen folgendermaßen: „Sie stimmten dennoch für den schwammigen Kompromiß, weil sie glaubten, damit zu mehr Akzeptanz beizutragen. Das ist ein verhängnis- voller Irrtum, wie ich fürchte.“974 Darüber hinaus sei es eine groteske Situation, dass die Opposition die Kernenergiepolitik der Regierung gegenüber ‚un- berechtigten Angriffen‘ in Schutz nehme.975 Gerstein ergänzte, dass sich bei sachlicher Anwendung der Kriterien eine eindeutige Überlegenheit der Kern- energie ergebe.976 Die Befürworter des Kompromisses erklärten den Gewinn, der durch den Kompromiss entstanden sei und kritisierten das Verhalten der Unionsabgeordne- ten. Als wichtigstes Ergebnis der Kommission beschrieb Ueberhorst, dass die Sachverständigen unabhängig von ihrer Haltung zur Kernenergie einstimmig ein Ergebnis tragen konnten. Insofern sei es auch ein ‚heilsamer Zwang‘ der Arbeit gewesen, dass weder Opposition noch Koalition Mehrheiten gewinnen konnten, sondern dass es erforderlich war, die Sachverständigen zu gewinnen; insofern seien acht Stimmen von Sachverständigen wohl besser als die Null für das Min- derheitsvotum. Stavenhagens Kritik am Sparkatalog wies er zurück: Wenn Sach- verständige wie Schaefer und Pfeiffer einen solchen Katalog ausgearbeitet hät- ten, „dann können Sie diesen Katalog doch nicht mit Wahlkampfvokabeln aus Ihrer Mottenkiste belegen.“977 Die Experten seien schließlich gemeinsam berufen worden. Das Bemühen um Kompromisse bezeichnete Ueberhorst als demokrati- schen Grundwert; demgegenüber reiche es nicht aus, lediglich Mehr- und Min- derheiten festzustellen.978 Laermann zufolge lag der Bericht durchaus auf der Linie der Regierung, denn die Szenarien stellten lediglich Eckwerte für die Bandbreite möglicher Ent- wicklungen dar. Durch die Kombination von Sparen und Kernenergie sei die Chance gegeben, das Energieproblem für alle gesellschaftlichen Gruppen zufrie- den stellend zu lösen.979 Reuschenbach wurde in seiner Kritik am Verhalten der Unionspolitiker recht deutlich. Nicht nur seien die CDU/CSU-Abgeordneten im März aus der

973 PA DBT PlPr. VIII/229, 3. Juli 1980, S. 18624ff. 974 Ebd., S. 18626. 975 Ebd. 976 Ebd., S. 18635ff. 977 Ebd., S. 18628. 978 Ebd., S. 18627ff. 979 Ebd., S. 18630–18635.

217 gemeinsamen Kommissionsarbeit ausgeschert, sie hätten es noch nicht einmal zu einer gemeinsamen Pressekonferenz geschafft: „Sie konnten das Wasser ja über- haupt nicht mehr halten. Nachts um 1 Uhr haben wir die Beratungen abgeschlos- sen, und am andern Morgen um 10 Uhr mußten sie unbedingt Ihre Pressekonfe- renz abhalten.“980 Die Argumentation mit der bedrohten Marktwirtschaft zählte für den SPD-Politiker nicht: „Die Energiewirtschaft hierzulande ist seit Jahr- zehnten und auch in jüngerer Zeit überhaupt nicht von der Jungfräulichkeit der Marktwirtschaft geprägt.“981 Das Problem sei, dass der Bericht zwischen den Wahlen fertig geworden sei. FDP und SPD stellten sich in der Diskussion geschlossen hinter die Emp- fehlungen der Kommission. Die Union bemühte sich, den Kompromiss zu dis- qualifizieren und das Minderheitsvotum als regierungskonform zu qualifizieren. Nach der Debatte kritisierte die Presse, dass trotz der von den Politikern als ‚Jahrhundertentscheidung‘ bezeichneten Thematik die Debatte vor weitgehend leeren Rängen stattfand.982 Aufgrund der Bundestagswahlen folgte nun zunächst einmal eine ver- längerte Sommerpause. In die Koalitionsgespräche ging die SPD mit dem Ge- fühl, dass nicht nur im Zahlungsbereich, sondern auch im Energiebereich Schwierigkeiten vorlagen. Zum Thema Energiepolitik hielt man an folgenden vier Eckpunkten fest: Energieeinsparung, Förderung von Kohle, Forschung und Schaffung von Ersatzenergie sowie die Unverzichtbarkeit von Kernenergie. In der Regierungserklärung, die unter dem Motto ‚Mut zur Zukunft‘ stand, wurde explizit auf die Zwischenergebnisse der Kommission eingegangen, und es war sicher, dass sie weiterarbeiten sollte.983 Bundeskanzler Helmut Schmidt verkündete entsprechend vor dem Bundestag: „Die Kernenergie darf dem Bürger nicht übergestülpt werden.“984 Insofern sollte nur ein begrenzter Ausbau der Kernenergie mit gleichzeitiger Förderung ‚sanfter Energien‘ erfolgen. In dem Bericht der Enquete sah der Bundeskanzler wichtige Beiträge zur Versachli- chung der Diskussion.985 Das Energieprogramm signalisierte also, dass die Er- gebnisse der Enquete-Kommission zur Kenntnis genommen worden waren, aber gleichzeitig auch die Unverzichtbarkeit der Kernenergie – die nach der Analyse der Kommission eben nicht zwingend war.

980 Ebd., S. 18637f. 981 Ebd., S. 18638. 982 Kernenergie. Später entscheiden, in: Stuttgarter Zeitung, 4. Juli 1980. 983 AdsD 000135, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 31. Oktober 1980, S. 2. 984 Regierungserklärung von Helmut Schmidt: PA DBT PlPr. IX/5, 24. November 1980, S. 30. 985 Ebd.

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Ausschussberatungen

Ein halbes Jahr später wurde der Kommissionsbericht auf einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP986 hin ohne weitere Debatte vom Bundes- tag an die Ausschüsse überwiesen.987 Federführend war der Ausschuss für For- schung und Technologie, der am 11. Februar 1981 mit den Beratungen begann und Ende November des Jahres dem Bundestag eine Beschlussempfehlung vor- legte.988 Insgesamt berieten neun Ausschüsse den Bericht, sieben davon nahmen Stellung. Auf der Grundlage dieser Stellungnahmen verfasste der Ausschuss für Forschung und Technologie eine Empfehlung für den Bundestag.989 Reinhard Ueberhorst gehörte zu dem Zeitpunkt, als der Bericht den Weg durch die Ausschüsse ging, nicht mehr dem Bundestag an. Zwar war er in der 9. Wahlperiode wiedergewählt worden, legte sein Mandat aber nieder, als Hans- Jochen Vogel ihn von Bonn nach Berlin holte und zum Senator für Gesundheit und Umweltschutz berief.990 Damit fiel ein wichtiges Scharnier zwischen Kom- missionsarbeit und Umsetzung der Empfehlung weg. Drei der Ausschüsse waren für die Energiepolitik relevant, die anderen Gremien äußerten sich in erster Linie zu einzelnen Energiesparmaßnahmen. Im Innenausschuss wurde vornehmlich die Empfehlung zur Entsorgung diskutiert. Trotz Diskussionen darüber, ob der ‚parallele Ansatz‘ verfolgt werden solle, der vorsah, verschiedene Entsorgungsalternativen nach der Zwischenlagerung paral- lel zu prüfen,991 befürwortete der Ausschuss nicht nur die Weiterverfolgung des parallelen Ansatzes in der Entsorgung mit dem Bau einer Demonstrationsanlage für Wiederaufarbeitung, es sollten auch ergänzend zum Häfele-Gutachten weite- re Stellungnahmen eingeholt werden. Die Frage, ob Gorleben geeignet sei, solle unter Einbeziehung alternativer Möglichkeiten weiter geprüft werden. Für kom- merzielle Brüter- und Wiederaufarbeitungsnutzung seien Risikostudien unab- dingbar. Auch die Integration Sachverständiger mit unterschiedlicher Haltung zur Kernenergie in diese Studien befürwortete der Ausschuss.992 Damit bestätigte der Innenausschuss wichtige Punkte der Kommissionsempfehlung.

986 PA DBT Drs. IX/126, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Bericht der Enque- te-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 29. Januar 1981. 987 PA DBT PlPr. IX/19, 30. Januar 1981, S. 856f. 988 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 21f. 989 PA DBT PlPr. IX/73, 10. Dezember 1981, S. 4193. 990 Ueberhorsts Mandat lief bis zum 11. Juni 1981; nach dem Machtwechsel in Berlin war der SPD-Politiker bis 1985 Mitglied des Berliner Landtags. 991 PA DBT Innenausschuss IX, Protokoll der 16. Sitzung, 9. September 1981, S. 16/34f. 992 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 26f.

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Der Ausschuss für Wirtschaft setzte zur Bearbeitung der Enquete- Empfehlung extra einen Unterausschuss ein;993 ihm gehörten auch die beiden Kommissionsmitglieder Gerstein und Reuschenbach an. Der Unterausschuss sah es als Desiderat des Berichtes an, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der verschiedenen alternativen Szenarien nicht ausgeleuchtet seien. Dies sei ebenso wie die Betrachtung von gesellschaftlichen und internationalen Aspekten in der neu eingesetzten Kommission nachzuholen, denn bislang reichten nach Auf- fassung des Ausschusses für Wirtschaft die Pfade als Entscheidungshilfe noch nicht aus. Da die Bundesregierung in einem Sachstandsbericht erläutert hatte, dass bereits ein Großteil der von der Enquete empfohlenen Energiespar- maßnahmen in der einen oder anderen Form aufgenommen worden sei, be- schränkte sich der Ausschuss für Wirtschaft auf eine Zusammenfassung von 21 Themen, auf die sich die Bundesregierung konzentrieren sollte. Neben dieser von allen Fraktionen gemeinsam abgegebenen Empfehlung legte jede Partei zu verschiedenen Einzelpunkten Sondervoten ab.994 Auch das Urteil des Ausschusses für Forschung und Technologie fiel weit- gehend positiv aus. Einige Empfehlungen wurden abgelehnt, einige seien schon umgesetzt oder in Vorbereitung, und einige wurden – wenn auch teilweise ver- ändert – zur Umsetzung empfohlen. Allerdings gab es verschiedene Diskus- sionen zur Auslegung des Berichtes. So war in einer Fußnote des Berichts ver- merkt worden, dass die Studie zur Größe einer Wiederaufarbeitungsanlage parallel von einem Befürworter und einem Gegner der Kernenergie bearbeitet werden solle – es war aber nur Wolf Häfele als Gutachter verpflichtet worden. Als Catenhusen (SPD) sich danach erkundigte, antwortete Stahl (BMFT), dass kein Dissens bestehe, da entsprechende Gespräche zwischen Häfele, Ueberhorst und Schäfer stattgefunden hätten. Auf erneutes Nachhaken des SPD-Politikers wurde darauf verwiesen, dass der Bundestag zu dem Gutachten noch eine Stel- lungnahme einholen könne.995 Im März 1981 hatte der Ausschuss für Forschung und Technologie be- schlossen, die Risikoorientierte Studie zum Brüter in Auftrag zu geben, die bis Mitte Januar 1982 vorliegen sollte. Das Nuklearkabinett hatte bereits im Februar beschlossen, die Studie zu vergeben, und am 9. März Adolf Birkhofer damit betraut – also knapp 10 Tage vor der Entscheidung des Ausschusses für For- schung und Technologie. Ebenso hatte das BMFT Professor Harde vom Kernfor- schungszentrum Karlsruhe beauftragt, die Literaturstudie zur maximalen Leis-

993 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX, Kurzprotokoll der 13. Sitzung, 16. Juni 1981, S. 13/21. 994 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX, Kurzprotokoll der 16. Sitzung, 16. September 1981, S. 16/17f., 16/24f., 16/26–16/30. 995 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie IX, Kurzprotokoll der 11. Sitzung, 16. Juni 1981, S. 11/10f.

220 tungsexkursion bei einem Bethe-Tait-Störfall zu erstellen.996 Das dritte von der Enquete-Kommission geforderte Gutachten zur Größe einer Demonstrations- Wiederaufarbeitungsanlage lag bereits im Mai 1981 vor und der Ausschuss für Forschung und Technologie forderte eine baldige Prüfung der Genehmigungsfä- higkeit einer solchen Anlage.997 Obwohl die Enquete-Kommission in einer Fußnote angeregt hatte, dieses Gutachten parallel, das heißt von Kernenergiebefürwortern und -gegnern bear- beiten zu lassen, wurde es als Einzelgutachten vergeben. Die hessische Landes- regierung wollte die Diskussion über die Wiederaufarbeitungsanlage nicht erneut auf der Tagesordnung sehen. So kam es wohl, dass hier nur Häfele ein Gutachten schrieb.998 Die im hessischen Volkmarsen geplante Anlage lag hinsichtlich ihrer Kapazität unterhalb der von Häfele entwickelten Größenordnung; sie wurde aber nie gebaut. Ebenso wenig konnten die Pläne für eine Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf umgesetzt werden.999 Massive Proteste behinderten den Bau, das Ende besiegelte jedoch die Vereinigte Elektrizitäts- und Berg- werks-AG (VEBA), die aus wirtschaftlichen Gründen einen Vertrag zur Wieder- aufarbeitung in Frankreich mit der COGEMA schloss.1000 Noch vor Vorlage der Ausschussvoten beantragten SPD und FDP im Mai 1981 die Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission.1001 Die Union wollte sich unter keinen Umständen daran beteiligen und stellte stattdessen drei Kampfan- träge, die das Minderheitsvotum des Gremiums unterstützen sollten.1002 Dennoch wurde der Empfehlung der Enquete-Kommission entsprechend am 26. Mai 1981 vom Bundestag die Neuberufung beschlossen.1003 Die Empfehlungen der Enquete-Kommission zu Studien und zur Wieder- einsetzung wurden also weitgehend umgesetzt, allerdings nicht in dem Zeitplan, den das Gremium anvisiert hatte.

996 Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 82. 997 Ebd., S. 76f. 998 PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 1981. 999 Wackersdorf: Nach jahrelangen Auseinandersetzungen verzichteten – gegen das Votum der konsternierten Landes- und Bundesregierung – die beteiligten Unternehmen im Frühjahr 1989 auf das Projekt. Statt dessen wurden Verträge zur Wiederaufarbeitung mit La Hague und Sellafield abgeschlossen; vgl.: Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 253. 1000 Otto Keck, Information, Macht und gesellschaftliche Rationalität. Das Dilemma rationalen kommunikativen Handelns, dargestellt am Beispiel eines internationalen Vergleichs der Kern- energiepolitik, Baden-Baden 1993, S. 305f. 1001 PA DBT Drs. IX/504, Antrag der Fraktionen von SPD und FDP: Enquete-Kommission ‚Zu- künftige Kernenergie-Politik‘, 25. Mai 1981. 1002 ACDP VIII–001–1064/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 25. Mai 1981, S. 8ff. 1003 PA DBT PlPr. IX/39, 26. Mai 1981, S. 2054.

221 c. „Gucken Sie mal genau nach!“1004: Aussprache im Bundestag

Eineinhalb Jahre nach der Vorlage des Berichts wurde im Dezember 1981 die Empfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie im Bundestag debattiert.1005 Der Text der Beschlussempfehlung war im Ausschuss mit der Koalitionsmehrheit durchgesetzt worden. Argumentativ blieb vieles gleich, aber es gab auch neue Entwicklungen. Gerstein hielt zunächst einmal fest, dass die Kommission sich geirrt habe hinsichtlich der 10 Jahre, die man noch mit einer Entscheidung warten könne. Die vorgeschlagenen Energiesparmaßnahmen seien weitgehend im Sinne des Minderheitsvotums umgesetzt worden. Nach Gersteins Aussagen waren insge- samt 14 Empfehlungen wörtlich umgesetzt worden, 14 hätten sich inzwischen er- ledigt, 14 seien teilweise übernommen und 20 gänzlich abgelehnt worden. Wie bereits in der Nachlese der Kommissionsarbeit verwies der Unionspolitiker auf die besagten ‚dirigistischen Maßnahmen‘. In Sachen Kernenergie sei es nun notwendig, voranzukommen. Seit 1978 habe man Zeit verloren, in der Frank- reich sich einen enormen technologischen Vorsprung habe verschaffen können und in der der Teilverzicht in der Bundesrepublik einen enormen Schaden ange- richtet habe.1006 Nun müssten Entscheidungen fallen: „Keiner kann rufen: Haltet die Erde an, ich will aussteigen!“1007 Genauso verhalte es sich mit der Kernener- gie, aus der man 1990 ebenso wenig aussteigen könne. Heinz Jürgen Prangenberg (CDU) beklagte, dass die zusätzlichen Studien zum Brüter wiederum nur einer Verzögerung dienten. Die Jugend sei zunehmend technikfeindlich und habe in erster Linie ihre Selbstverwirklichung vor Augen. Darüber vergesse sie die Dritte Welt, in der Menschen unter anderem deswegen sterben, weil sich die Bundesrepublik nicht durchringen könne, auf eine andere Energieform als das Öl zu setzen.1008 Während die Unionsabgeordneten versuchten, die Empfehlung auf die Aus- sagen der Minderheit zu reduzieren, lobte Catenhusen (SPD) die Arbeit der Mit- glieder der Enquete-Kommission: „Sie haben, von sehr unterschiedlichen Aus- gangspunkten kommend, gezeigt, daß demokratischer Dialog nicht Selbstzweck und Verzicht auf Entscheidungen bedeutet, sondern Hilfen für die Politik bringt.“1009 Laermann bezeichnete die Einigung gleich als „wesentlichen Beitrag

1004 PA DBT PlPr. IX/73, 10. Dezember 1981, S. 4198. 1005 Ebd., S. 4193–4221. 1006 Ebd., S. 4193–4196. 1007 Ebd., S. 4197. 1008 Ebd., S. 4215ff. Diese Argumentation entsprach voll und ganz der Linie, die Helmut Kohl bereits lange zuvor in der Fraktionssitzung vorgeschlagen hatte, vgl.: ACDP VIII–001–1061/1, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 24. Juni 1980, S. 18. 1009 PA DBT PlPr. IX/73, 10. Dezember 1981, S. 4200.

222 zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion um die friedliche Nutzung der Kernenergie“1010. Dieser Arbeitsstil solle in der Nachfolgeenquete vor allem für die Fragen nach der internationalen Einbindung sowie nach den Risiken durch Sabotage, Krieg und Terror fortgesetzt werden.1011 Nachdem Reuschenbach die lange Beratungszeit des Parlaments kritisiert hatte, sprach er von dem ‚Wunder‘, das sich in der Enquete und auch in den Beratungen danach gezeigt habe: Zwar gebe es formal und verbal ein Minder- heits- und ein Mehrheitsvotum, doch in den Hauptpunkten herrsche weitgehende Übereinstimmung. Wären die Schlussberatungen der Kommission nicht ins Wahljahr gefallen, hätte es wahrscheinlich noch mehr Einigkeit gegeben. Auch betonte er, dass die Kommissionsmehrheit schließlich unter anderem aus Birkho- fer, Schaefer, Häfele und Pfeiffer bestanden habe1012 – um dem Vorwurf der Einseitigkeit der Empfehlung entgegenzuwirken. Schäfer wies darauf hin, dass die eigentliche energiepolitische Herausforde- rung nun das Sparen sei. Der Bericht der Enquete sei kein Dokument der Ent- scheidungsunfähigkeit, sondern die Forderung, entwicklungs- und forschungs- politisch alles Notwendige zu unternehmen, so auch beispielsweise die Demon- strations-Wiederaufarbeitungsanlage.1013 Am Ende wurde die Beschlussempfehlung des Ausschusses gegen zwei Änderungsanträge der CDU/CSU-Fraktion angenommen – also gegen die Stim- men der Union.1014 Während die Union in ihrer Bewertung also die Linie ver- folgte, dass letztlich der Energiesparkatalog der Minderheit umgesetzt worden sei, und eine Forcierung des Kernenergieausbaus forderte, kamen die Abgeord- neten von FDP und SPD zu dem Schluss, dass Opposition und Koalition sich näher ständen als erwartet, und betonten die Bedeutung des Kompromisses.

Energieprogramm und politische Maßnahmen

Im Jahre 1978 war das Energiesparprogramm der Bundesregierung, das so ge- nannte 4,35-Mrd.-Programm, angelaufen. Und nach der Einsetzung der Enquete- Kommission stand die energiepolitische Welt nicht still: Verschiedene Maßnah- men waren angeregt und teilweise auch in Angriff genommen worden.

1010 Ebd., S. 4200; auch Zywietz lobte die Versachlichung durch die Kommissionsarbeit: ebd., S. 4213. 1011 Ebd., S. 4201ff. 1012 Ebd., S. 4208ff. 1013 Ebd., S. 4217ff. 1014 Ebd., S. 4220f.

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In der Zeit zwischen 1976 und 1980 häuften sich im Bundestag die Anfra- gen zum Thema Energieeinsparung. Dies betraf zum Beispiel eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen, Stromeinsparungen bei der Weihnachtsreklame, Einsparungen im Wohnbereich durch eine messtechnische Ausstattung zur Verbrauchserfassung und die gezielte Aufklärung privater Ver- braucher. Insgesamt handelt es sich um 98 Anfragen.1015 In der neunten Wahlpe- riode, in der Zeit von 1980 bis 1983, waren es hingegen 26.1016 Der zwei Jahre zuvor gestellte Antrag der Union zur Förderung der Solar- energie wurde im Ausschuss für Forschung und Technologie weiter beraten.1017 Auch regten CDU und CSU die Förderung von Elektrofahrzeugen im Nahver- kehr an, um der Verknappung des Öls entgegenzutreten.1018 Entsprechende Gesetzesentwürfe wurden zeitgleich zur Kommission bear- beitet. Beispielsweise hatte der Bundesrat im Januar 1980 einen Gesetzentwurf zur Förderung energiesparender Maßnahmen1019 vorgelegt. Im April diskutierte der Ausschuss für Wirtschaft das Konzept, nachdem mit Hilfe steuerlicher Son- derabschreibungen der Einbau von Wärmepumpen, Wärmerückgewinnungs-, Solar- und Windkraftanlagen gefördert werden sollte – mit dem Ziel, Mineralöl bei der Energieversorgung einzusparen. Die Bundesregierung wandte sich gegen die Vorlage, da sie erstens nicht ausgewogen sei, zweitens das Verhältnis zu anderen Förderprogrammen, insbesondere zum 4,35-Mrd.-Programm, nicht rege- le, und drittens keine Schätzung über die finanziellen Auswirkungen der Maß- nahmen vorliege. Der Ausschuss entschied, auch wenn der Entwurf in die richti- ge Richtung gehe, seien zunächst die Erfolge des 4,35-Mrd.-Programmes zu prüfen, um dann zu entscheiden, ob er noch in dieser Wahlperiode weiterverfolgt werde.1020 Deutlich ist, dass die Empfehlungen der Enquete-Kommission, ins- besondere zum Energiesparen, in einem sachlichen Kontext standen, der eine Separierung von Neuerungen durch die Kommission von bereits Vorhandenem

1015 Vgl.: PA DBT Sachregister VIII, S. 820–826. 1016 Vgl.: PA DBT Sachregister IX, S. 517f. 1017 PA DBT Drs. VIII/1268, Antrag der CDU/CSU-Fraktion: Förderung der Solartechnik in der Bundesrepublik Deutschland, 29. November 1977; PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 49. Sitzung, 13. Juni 1979; sowie: ebd., Kurzprotokoll der 50. Sitzung, 20. Juni 1979. 1018 PA DBT Drs. VIII/2691, Antrag der CDU/CSU-Fraktion: Förderung des Einsatzes von Elektro- fahrzeugen, 21. März 1979; beraten im: PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie VIII, Kurzprotokoll der 57. Sitzung 1980. 1019 PA DBT Drs. VIII/3557, Gesetzentwurf des Bundesrates: Entwurf eines Gesetzes zur Förde- rung energiesparender Maßnahmen, 16. Januar 1980. 1020 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft VIII, Kurzprotokoll der 79. Sitzung, 23. April 1980, S. 79/19ff.

224 erschwert.1021 Dies betrifft zumindest Energiesparmaßnahmen im Einzelnen. Inwieweit jedoch wurde die Empfehlung der Zukünftigen Kernenergie-Politik in politischen Programmen rezipiert? Die Signale der sozialliberalen Regierung gingen deutlich in eine kernener- giebefürwortende Richtung – allerdings gegen zahlreiche Abgeordnete der eige- nen Parteien. Die Union versuchte, diese Situation für ihre Zwecke auszunutzen, und wollte von der Bundesregierung eine Stellungnahme zum Bericht der En- quete-Kommission anhand von 23 Fragen fordern.1022 Gerstein schlug im Aus- schuss für Forschung und Technologie gar vor, mit eigenen Beratungen zu war- ten, bis ein entsprechendes Papier der Regierung vorliege. Der parlamentarische Staatssekretär des Forschungsministeriums Stahl erklärte, dass die Bundesregie- rung keine Stellungnahme abgegeben habe, weil es sich bei der Enquete- Kommission um eine Initiative allein des Parlaments handele. Für Hilfestellun- gen stünde allerdings das BMFT zur Verfügung.1023 In die Dritte Fortschreibung des Energieprogramms seien nach Aussagen von Regierungsvertretern die Anregungen der Enquete-Kommission aufgenom- men worden. Dabei wurde auch das Missverständnis aufgeklärt, dass es sich nicht um Vorschläge handele, sondern um Prüfempfehlungen.1024 Nicht aufge- nommen wurden die staatlichen Energiedienste, eine Höchstverbrauchsnorm für Kraftfahrzeuge sowie die Einführung von Kraftstoffmessgeräten. Eine Ge- schwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen wurde ebenfalls nicht auf- gegriffen;1025 der ADAC kämpfte dagegen schon seit Jahren mit der Kampagne Freie Bürger fordern freie Fahrt.1026 Ebenso wenig sah die Bundesregierung eine Chance für die Einführung einer Entfernungspauschale. Energieversorgungs- unternehmen als Kapitalgeber für Einsparinvestitionen einzusetzen, sei nicht Teil der Tarifgenehmigung. Wärmeschutzvorschriften seien nicht notwendig, da sich dies von selbst auf marktwirtschaftlichem Wege über den Energiepreis regele. Über die Abwärmeabgabe sei ein Gutachten vergeben worden, und an Stelle einer Energieanlagenverordnung habe die Hausgeräteindustrie freiwillige Ein- sparungen zugesagt. Auch gebe es Fälle, wo die Taktik der Union, sich auf die

1021 Vgl. zu Initiativen für Energiesparmaßnahmen z.B.: Beschluß Energiepolitik des 30. Ordentli- chen Bundesparteitages der F.D.P. in Bremen vom 15. bis 17. Juni 1979, in: Verheugen, Pro- gramm der FDP, S. 555–569. Eine Forderung war auch hier wieder die Umlegung der Kraft- fahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer: ebd., S. 561. 1022 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie IX, Anlage zum Protokoll der 4. Sitzung, 18. Februar 1981. 1023 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie IX, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 18. März 1981, S. 5/19f. 1024 Vgl. dazu: Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 215ff. 1025 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX, Kurzprotokoll der 23. Sitzung, 25. November 1981, S. 23/13. 1026 Z.B.: Der Club wirkt in der Stille, in: Der Spiegel Nr. 36, 29. August 1977, S. 36.

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Marktkräfte zu verlassen, nicht wirke, wie beispielsweise bei der Ölverdrängung aus Kraftwerken.1027 Soweit die Äußerungen zur Empfehlung der Enquete-Kommission. Bei der Lektüre der Dritten Fortschreibung fällt allerdings auf, dass neben all den er- wähnten Energiesparmaßnahmen die Kerntechnologie einen Aufschwung erlebte und nicht mehr wie bei der Zweiten Fortschreibung lediglich zur Deckung des ‚Restenergiebedarfs‘ vorgesehen war. Hier hatte sich das kernenergiefreundliche Lager durchgesetzt: Bis 1995 sollte die gesamte Kraftwerkskapazität von etwa 80.000 MWe 1981 auf 122.000 MWe hoch gesetzt werden. Der Anteil der Atomenergie war mit 31 Prozent veranschlagt, damit hätten bis 1995 etwa 30 bis 35 neue Atomkraftwerke betriebsbereit sein müssen. Die von den Wirtschaftsinstituten DIW, RWI und EWI erstellten Energie- verbrauchsprojektionen wurden diesmal von der Bundesregierung, anders als bei dem vorigen Energieprogramm, sehr zurückhaltend in das Energieprogramm einbezogen. Die Prognosen der Zweiten Fortschreibung wurden nach den ent- sprechenden wirtschaftlichen Vorgaben der Bundesregierung erstellt.1028 Bei der Unterrichtung des Bundestages über die Dritte Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung im Januar 1982 hob Lambsdorff expli- zit hervor, dass die Einsparpolitik die 62 empfohlenen Maßnahmen weitgehend abdecke. Es gebe nur wenige Ausnahmen, die entweder in die Zuständigkeit der Länder fielen oder aber bei denen man glaube, dass marktgerechte Lösungen wirksamer seien.1029 Wie schon auf einer Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft vertrat Riesenhuber die Meinung, nicht die 62 Energiesparvorschläge seien um- gesetzt worden, sondern vielmehr das Minderheitsvotum der Union; aber auch er sah einen direkten Zusammenhang zwischen der Arbeit der Kommission und dem Energieprogramm.1030 Die Anregung der Kommission, neue Energiequellen zu nutzen, seien aufgenommen worden.1031 Insgesamt wurde von allen Parteien in der Debatte immer wieder auf die Kommission Bezug genommen, wenn auch mit unterschiedlichen parteipolitischen Schwerpunkten.1032 Es liegt allerdings eine Differenz vor zwischen Selbstbeschreibung, Erklä- rung des Wollens und tatsächlichem Handeln. Sicherlich mag eine Reihe von

1027 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX, Kurzprotokoll der 23. Sitzung, 25. November 1981, S. 23/13f.; vgl. außerdem: AdsD Depositum Schäfer, BMWi, Energieprogramm der Bundes- regierung, Dritte Fortschreibung, 4. November 1981. 1028 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 254. 1029 PA DBT PlPr. IX/76, S. 4363. 1030 PA DBT Ausschuss für Wirtschaft IX, Kurzprotokoll der 23. Sitzung, 25. November 1981, S. 23/13; PA DBT PlPr. IX/76, 14. Januar 1982, S. 4367. 1031 Wolfram: PA DBT PlPr. IX/76, 14. Januar 1982, S. 4375. 1032 Z.B. von Beckmann (FDP): ebd., S. 4376; Reuschenbach (SPD): ebd., S. 4387; von Bülow (SPD): ebd., S. 4392; Kansy (CDU/CSU), ebd.: S. 4394.

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Energiesparmaßnahmen ergriffen worden sein, diese waren jedoch nicht der Kern der Empfehlung der Enquete-Kommission für die 1980er Jahre. Eine faire Chance für den ‚harten‘ und ‚sanften‘ Pfad war mit einem Ausbau der Kernener- gie, wie geplant, sicherlich nicht gegeben. Rolf Bauerschmidt, Mitarbeiter des wissenschaftlichen Stabes der Enquete-Kommission, bezeichnete das Energie- programm als ‚Schlag ins Gesicht‘.1033 Das Programm sorgte aber auch andern- orts für Verwunderung, wie der Kommentar von Klaus Traube im Spiegel nahe legte.1034 Die Umsetzung der Enquete-Empfehlung ist folglich im Sinne der politi- schen Programmatik eher mager. Allerdings folgte das BMFT der zwar generell geplanten, von der Zukünftigen Kernenergie-Politik aber nachdrücklich geforder- ten Einbeziehung von Wissenschaftlern, die der Kernenergie skeptisch gegen- über standen, in die Phase B der Deutschen Risikostudie. Lothar Hahn vom Öko- Institut sollte mit der Projektleitung betraut werden. Dieser Tatbestand führte dazu, dass von Abgeordneten der Union im Ausschuss für Forschung und Tech- nologie sowie im Bundestag in der Fragestunde suggestiv die Wissenschaftlich- keit des Instituts in Frage gestellt wurde. Darüber hinaus wurde gefragt, ob die Bundesregierung es für nützlich halte, mit Steuermitteln Kernenergiegegner zu fördern, die eine Meinung vertreten, die den Zielen der Bundesregierung wider- spreche.1035

Fraktionsebene

Soweit zunächst zur Ebene der Bundesregierung, auf Fraktionsebene wurden die Ideen der Enquete-Kommission weitergedacht. So sollen die Ergebnisse der Enquete-Kommission Hans Matthöfer zu dem ‚Ölpapier‘ unter dem Titel Mut zur Vollbeschäftigung 1036 vom April 1982 angeregt haben.1037 In dieser Schrift legte Matthöfer dar, dass Energiesparmaßnahmen immer dann forciert werden, wenn Krisensituationen wie gestiegene Ölpreise dazu an- regen. Um sich aber vor Folgen wie Wirtschaftskrisen, Nachfragerückgang und Leistungsbilanzungleichgewicht zu schützen, sei eine langfristige Energiespar-

1033 Gespräch mit Rolf Bauerschmidt, Bremen 29. März 2008; ähnlich äußerten sich alle befragten Kommissionsmitglieder. 1034 Drei Atomkraftwerke pro Jahr? Klaus Traube über die Dritte Fortschreibung des Energie- programms, in: Der Spiegel Nr. 49, 30. November 1981, S. 66–80. 1035 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie IX, Kurzprotokoll der 18. Sitzung, 28. Oktober 1981, S. 18/15f.; ebd., Kurzprotokoll der 21. Sitzung, 25. November 1981, S. 21/8f. 1036 Hans Matthöfer, Mut zur Vollbeschäftigung, 3. April 1982. 1037 Vgl. zum ‚Ölpapier‘ und seiner Rezeption: Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder, S. 516– 532.

227 strategie notwendig. Und der Preis, so Matthöfer, sei in einer Marktwirtschaft das „wirksamste Mittel zur Nachfragebegrenzung“1038. Die Erschließung weite- rer Einspartechnologien erfordere strukturverändernde Investitionen des Staates, die aus höheren Energiesteuern finanziert werden könnten.1039 Damit geht Matt- höfers Papier in einem wesentlichen Punkt über den Energiesparkatalog der Enquete-Kommission hinaus, in dem Anreize in erster Linie in Form von Steuer- subventionen angedacht wurden. Gleichzeitig finden sich Anklänge an und Zita- te aus dem Enquete-Katalog bei Matthöfers Sparvorschlägen wie beispielsweise die Aufnahme des Faches Bauökonomie in die Studienordnung von Architek- ten.1040 Reinhard Ueberhorst seinerseits erstellte 1983 im Auftrag der Fraktion und nach Absprache mit Hans-Jürgen Junghans ein Gutachten Ökonomische und ökologische Kostenbetrachtungen zu den Pfaden 2 und 3 der Enquete- Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘.1041 Aber auch in anderen Beratungsprozessen ist der Einfluss des Kommissi- onsberichtes erkennbar. Das Sondergutachten des Rats von Sachverständigen für Umweltfragen vom März 1981 nahm immer wieder Bezug auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission.1042 Dass ein grundlegender Wandel in der Betrachtung der Energiepolitik ein- setzte, zeigt unter anderem das Wahlprogramm der FDP aus dem Juni 1980, in dem klar auf Energiesparmaßnahmen gesetzt wurde, die mit marktwirtschaftli- chen Mitteln und ohne staatliche Reglementierung durchzusetzen waren. Mittel zum Zweck war die Regelung über den Preis. Außerdem sollten die Möglichkei- ten zur besseren Beobachtung der Monopole der Energieversorgungsunterneh- men, die sich durch die Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkun- gen ergeben, durch das Bundeskartellamt genutzt werden. Gefördert werden sollte das Energiesparen beispielsweise über steuerliche Absetzungsmöglichkei- ten für energiesparende Investitionen. Ein Prüfsiegel eines unabhängigen Insti- tuts für alternative Energien sollte zur Marktorientierung beitragen. Vor allem aber wurde festgehalten, dass alle Sparmaßnahmen und alternativen Energien so stark auszureizen seien, dass die Kernenergie überflüssig werde. Die Sicherheits- lücken in der Kerntechnologie sollten geschlossen und die Unsicherheiten besei-

1038 Matthöfer, Mut zur Vollbeschäftigung, S. 19. 1039 Ebd.: S. 16–21. 1040 Ebd., S. 31f.; Deutscher Bundestag, Zukünftige Kernenergie-Politik, Bd. 2, S. 225. 1041 AdsD Depositum Schäfer, Brief von (Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion) an Wolfgang Roth, Volker Hauff, Harald B. Schäfer, Ulrich Steger und Hans Jürgen Junghans, 3. November 1983. 1042 PA DBT Drs. IX/872, Energie und Umwelt. Sondergutachten März 1981 des Rats von Sach- verständigen für Umweltfragen, 16. Oktober 1981.

228 tigt werden. Dazu zählte auch, dass beispielsweise alle Katastrophenschutzpläne offen zu legen waren.1043 Diese Befunde lassen darauf schließen, dass es zwar zu keiner Veränderung der aktuellen Politik kam, dass aber der Wissensfundus des Kommissionsberich- tes weiterverarbeitet wurde.

d. Wahrnehmung von außen

Nachdem die Rezeption auf politischer Ebene nachvollzogen wurde, ist nun zu fragen, wie Interessenverbände und Lobbies, aber auch die Wissenschaft mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission umgingen.

Interessenverbände und Lobbies

Interessenvertreter und Wirtschaftsunternehmen reagierten gegenüber der Union sehr ambivalent. Die Kerntechnische Gesellschaft nannte den Kompromiss der Enquete bei aller im einzelnen anzuführenden Kritik im Oktober 1980 einen ‚Meilenstein‘ auf dem Weg zur Versachlichung der Kernenergiediskussion und zur Überwindung „emotioneller Vorurteile“1044 gegen die Kernenergie – er sei eine Basis für die Energiepolitik im kommenden Jahrzehnt. Die Kommission habe eine ‚überwiegend kompetente Arbeit‘ geleistet.1045 Rudolf Guck vom Deutschen Atomforum äußerte sich wie auch schon ge- genüber der Union in einem ersten Resümee ausgesprochen positiv zu den Er- gebnissen: Nun sei klar bestätigt, dass die Energieversorgung ohne Kernenergie nicht gesichert werden könne. Gleichwohl wolle man den Bericht im Hause eingehend prüfen.1046 Allerdings hat es ganz den Anschein, als sei dieses Urteil ohne intensivere Kenntnis des Berichtes entstanden. Denn eineinhalb Monate später bedankte Guck sich bei Stavenhagen für die Zusendung des Berichts – des ersten Exemplares im Hause. Nun bedauerte er das Ergebnis der Kommission und brachte sein Unverständnis für das Abstimmungsverhalten einiger Mitglie- der zum Ausdruck. Entschuldigend führte er an, dass die erste – positive – Stel-

1043 Wahlprogramm der Freien Demokratischen Partei für die Bundestagswahlen am 5. Oktober 1980, in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hg.), Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Pro- grammarbeit der F.D.P. 1980 bis 1990, Baden-Baden 1990, S. 12–84, S. 54–59. 1044 ACDP I–547–009/3, Kerntechnische Gesellschaft e.V., Stellungnahme zum Bericht der En- quete-Kommission des 8. Bundestages, 23. Oktober 1980. 1045 Ebd.; vgl. auch: Konsens begrüßt, in: Handelsblatt, 27. März 1981. 1046 ACDP I–547–009/4, Deutsches Atomforum e.V. zur Enquête-Kommission ‚Zukünftige Kern- energie-Politik‘, in: atominformationen, 26. Juni 1980.

229 lungnahme, der er schließlich auch zugestimmt habe, nach einer lebhaften Kont- roverse entstanden sei.1047 Klaus Barthelt von der KWU sah den großen Vorteil des Beratungs- ergebnisses darin, dass sich trotz der ‚verpassten Möglichkeiten‘ doch alle Mit- glieder der Kommission positiv zum Weiterbau von Kernkraftwerken, Wieder- aufarbeitungsanlage und Brüter geäußert hätten. Die ‚Standfestigkeit‘ der Unionsabgeordneten wurde besonders honoriert.1048 So ‚milde‘ urteilten nicht alle: Horst Petrat (KWS), der sich ja bereits wäh- rend der Gremienarbeit gegenüber Stavenhagen zu dem Thema geäußert hatte, meinte gar, Ueberhorst sei es gelungen, einen Teil der Experten und sogar die Öffentlichkeit über die tatsächliche Bedeutung des Kompromisses zu ‚täuschen‘. Auf Dauer werde sich das Minderheitsvotum bewahrheiten.1049 Rudolf von Bennigsen-Foerder, Vorstandsvorsitzender der VEBA, soll am 31. März vor dem Deutschen Atomforum gesagt haben – so berichtete Catenhusen vor dem Bundestag –, dass im Sinne einer Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Energiepolitik alle sich zusammensetzen und einen Kon- sens finden müssten. Er habe sich dafür ausgesprochen, der Empfehlung der Enquete-Kommission Rechnung zu tragen und die langfristige Nutzung ver- schiedener Energiesysteme zum Thema eines demokratischen Dialogs zu ma- chen.1050 Ganz anders wiederum äußerte sich Wolfgang Müller-Michaelis von der Deutschen BP AG und verglich die Kommission mit einem Chirurgenteam, das sich über einen todkranken Patienten beuge, sich aber zu der unaufschiebbaren Operation nicht entschließen könne, da es darauf hoffe, dass das rettenden Medi- kament noch erfunden werde.1051 Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sah große Gefah- ren für die Volkswirtschaft, wenn der Ausbau der Kernenergie verzögert werde. Hier wurde ein entscheidender Aspekt eines möglichen Stillstands in der Kern- kraftpolitik eingebracht: die Folgen für den Export von Technologie und den Verlust von Know-how. Die Bundesrepublik gehörte zu diesem Zeitpunkt zu den führenden Nationen in der Kernkrafttechnik – vor allem in der Sicherheitstech- nik. Weiterhin beklagte der BDI die Gefahren einer möglichen Energieunterver- sorgung für das Investitionsklima. Der Abschlußbericht sei „ein Dokument der verpaßten Chancen“1052. Im Februar lag eine ausführlichere Stellungnahme vor,

1047 ACDP I–547–009/4, Brief von Guck an Stavenhagen, 14. Juli 1980. 1048 ACDP I–547–009/4, Brief von Barthelt (KWU) an Kohl, 28. Juni 1980. 1049 ACDP I–547–009/4, Brief von Petrat (KWS) an Stavenhagen, 4. Juli 1980. 1050 Catenhusen: PA DBT PlPr. IX/73, 10. Dezember 1981, S. 4198. 1051 „Wir können nicht zehn Jahre warten“, in: Die Welt, 2. Dezember 1980. 1052 Enquete-Kommission für Ausbau der Kernenergie, in: Stuttgarter Zeitung, 27. Juni 1980.

230 die von den zuständigen Gremien des Verbandes erarbeitet worden war. Dort kam man zu dem Schluss, dass die Kommission zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen habe, dass aber aus industrieller Sicht Schwachstellen zu kritisieren seien.1053 Das Problem aller Kritik am Bericht der Enquete-Kommission war jedoch, dass die Empfehlung von international anerkannten Wissenschaftlern und von Abgeordneten unterzeichnet worden war. In dieser Richtung äußerte sich der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrenn- stoffen: Danach wurden Befürchtungen gehegt, dass die Aussagen eben aufgrund dieser Unterzeichner ein „enormes politisches Gewicht vollkommen unabhängig von ihrer sachlichen Widersprüchlichkeit erhalten“1054. Auf der Seite der Kernenergiekritiker wurde das Ergebnis der Kommission nicht mit Jubel begrüßt – die Reaktionen waren ebenso unterschiedlich wie auf Seiten der Kernenergiebefürworter. Für den BBU war der Zwischenbericht in wichtigen Punkten enttäuschend. Die Kommission sei hinter ihren eigenen Er- kenntnissen zurückgeblieben, und darüber hinaus sei nicht mehr erarbeitet wor- den, als in anderen Beschlüssen bereits vorhanden sei. Dennoch wurden die Pfa- de und der Energiesparkatalog positiv gewürdigt.1055 Josef Leinen, SPD-Mitglied und Vorstandsvorsitzender des BBU, forderte in einem Brief an Forschungsmi- nister von Bülow im März 1981, dass, gerade weil der Kompromiss der Kom- mission nicht den Vorstellungen der Bürgerinitiativen entspreche, es um so wichtiger sei, bei der praktischen Umsetzung nicht dahinter zurückzufallen. Insbesondere die parallele Bearbeitung der Themen durch kernenergiebefürwor- tende und kernenergiekritische Wissenschaftler lag ihm am Herzen.1056 Ein anderer Verband, die Arbeitsgemeinschaft ökologischer Forschungsin- stitute, begrüßte den Bericht als wertvolle Grundlage für eine rationale öffentli- che Diskussion.1057 Ulf Lantzke, der damalige Chef der Internationalen Energie Agentur, (IEA) hielt die Idee eines Verzichts auf Kernenergie für hochproblematisch. Auch er verwies auf die internationale Komponente mit Ölpreiskrisen und Bedürfnissen der Entwicklungsländer. Allerdings sprach er sich stark für die Energiesparmaß- nahmen aus. Insbesondere Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen und

1053 ACDP I–547–009/4, Brief von John von Freyend (BDI) an Stavenhagen, 25. Februar 1980. 1054 ACDP I–547–009/4, Brief vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen an Stavenhagen, 24. April 1980. 1055 Enquete-Kommission für Ausbau der Kernenergie, in: Stuttgarter Zeitung, 27. Juni 1980. 1056 ACDP I–547–009/4, Brief von Leinen (BBU) an von Bülow, 7. März 1981. 1057 Institute: Auf Kernenergie verzichten, in: SZ, 1. Juli 1980.

231 die Kennzeichnung von Geräten bezüglich ihres Energieverbrauchs befand er für notwendig.1058 Neben diesen Reaktionen, die zeitnah an dem Ereignis lagen, findet bis heu- te eine Rezeption statt: Zitiert wurde der Bericht der Enquete-Kommission bei- spielsweise in programmatischen Schriften wie Hermann Scheers (SPD) Ener- gieautonomie1059 oder Weltmacht Energie1060 von Peter Hennicke und Michael Müller (SPD).

Wissenschaft

Dass die Arbeit einer solchen Kommission im politischen Umfeld und in den betroffenen Interessengruppen rezipiert wird, liegt in der Natur der Sache. Dass Methoden und Ergebnisse allerdings in Forschungsprojekten und wissen- schaftlichen Publikationen weiterverfolgt werden, darf sicherlich nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), 1958 gegründet von Carl-Friedrich von Weizsäcker und anderen Atomwissenschaftlern der Göttinger 18, trug von 1980 bis 1983 das Forschungsprojekt Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen, das im Auftrag des BMFT erfolgte. Angesiedelt in Essen und Frankfurt wurde es von Klaus Michael Meyer-Abich und Bertram Schefold ge- leitet. Im Rahmen dieses Projektes untersuchte der Jurist Alexander Roßnagel anhand von Pfad II der Enquete-Kommission, wie sicher die Atomenergie vor Terrorismus, Sabotage, Agenten und Verrückten ist. Grundlage seiner Unter- suchung war das von Faude und Klumpp im Kernforschungszentrum weiter- entwickelte Rechenmodell der Enquete-Kommission.1061 Die Studie von Roßnagel, die 1983 in der Beck’schen Schwarzen Reihe erschien, kam unter anderem zu dem Fazit, dass die mit einem Energiesystem verbundenen Sicher- heitszwänge die Freiheiten verändern würden und Energiepolitik damit immer auch Gesellschafts- und Rechtspolitik sei.1062 Dem Projekt entstammte auch die Arbeit von Rolf Bauerschmidt, Mitarbei- ter des Sekretariats der Enquete-Kommission, mit dem Titel Kernenergie oder Sonnenenergie. Auf Grundlage der vier Pfade verglich der Systemanalytiker die

1058 Peter Hampe (Hg.), Ein historischer Kompromiß in der Energiepolitik? Wirtschaftspolitisches Forum zum Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukünftige Kern- energie-Politik“ 20.–21. März 1981, Tutzing 1982, S. 33ff., 81–84. 1059 Hermann Scheer, Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien, München 2005. 1060 Hennicke/Müller, Weltmacht Energie. 1061 Roßnagel, Bedroht die Kernenergie unsere Freiheit. 1062 Ebd.: S. 251.

232 beiden Energieversorgungswege.1063 Bauerschmidt prüfte außerdem die Investi- tionserfordernisse der Pfade II und III.1064 Ein weiteres Produkt war die Arbeit von H. Meixner, der die wirtschaftspolitischen Implikationen der Pfade unter- suchte.1065 Zwei Studien von Meyer-Abich und Schefold standen ebenfalls in enger Korrelation zu den Ergebnissen der Kommission. In dem Band Wie möchten wir in Zukunft leben? 1066 wurden die beiden alternativen Energieversorgungssysteme ‚sanft‘ und ‚hart‘ mit Blick auf Wirtschaftsstil und Lebensstil untersucht. In den Grenzen der Atomwirtschaft 1067 stellten die beiden Autoren detaillierte Rech- nungen zu den verschiedenen Energieversorgungssystemen an. Auf dieses Buch antworteten Hans Michaelis und Waldemar Pelz, beauftragt vom Bundes- ministerium für Forschung und Technologie, mit einer Gegenstudie. Ziel war es, zu zeigen, dass die Studie von Meyer-Abich und Schefold aufgrund methodi- scher Inkonsistenzen nicht geeignet sei, politischen Rat zu erteilen.1068 Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen wurde mit klarem Bezug auf die Ergebnisse der Ueberhorst-Kommission auch von der Programmgruppe „Technik und Gesellschaft“ der Kernforschungsanlage Jülich getragen, deren Arbeitsgruppe „Mensch und Technik“ die Studie durchführte. Geleitet wurde das Projekt von Wolf Häfele, E. Münch und Ortwin Renn und im wissenschaftlichen Beirat saßen unter anderem Adolf Birkhofer und Klaus Michael Meyer- Abich.1069 Unabhängig von diesem groß angelegten Forschungsprojekt fand die Arbeit der Enquete-Kommission auch an anderer Stelle Einfluss in wissenschaftliche Arbeiten. Dieter Faude und Klumpp entwickelten die Berechnungsgrundlage der Pfade am Kernforschungszentrum Karlsruhe weiter. Faude stellte in einer kurzen Studie die Energiepfade und ihre Entstehung dar und verglich sie außerdem mit

1063 Rolf Bauerschmidt, Kernenergie oder Sonnenergie, München 1985. 1064 Rolf Bauerschmidt, Die Investitionserfordernisse verschiedener Energiestrategien. Eine Ver- gleichsrechnung für die Pfade 2 und 3 der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, in: Konjunkturpolitik (Sonderdruck), 1983. 1065 H. Meixner, Langfristige Energiestrategien und Wirtschaftspolitik. Ökonomische und energie- politische Implikationen einer K(ernenergie)-Strategie und einer S(onnenenergie/Spar)- Strategie für die Bundesrepublik Deutschland. Forschungsvorhaben: die Sozialverträglichkeit verschiedener Energiesysteme in der industriegesellschaftlichen Entwicklung. Vorbericht, Frankfurt am Main 1984. 1066 Klaus Michael Meyer-Abich/Bertram Schefold, Wie möchten wir in Zukunft leben. Der „harte“ und der „sanfte“ Weg, München 1981. 1067 Klaus Michael Meyer-Abich/Bertram Schefold, Die Grenzen der Atomwirtschaft. Die Zukunft von Energie, Wirtschaft und Gesellschaft, München 19862. 1068 Hans Michaelis/Waldemar Pelz, Grenzen der Kernenergie – Eine kritische Auseinandersetzung mit Meyer-Abich und Schefold, Düsseldorf 1987. 1069 Vgl.: Helmut Jungermann u.a. (Hg.), Die Analyse der Sozialverträglichkeit für Technologie- politik. Perspektiven und Interpretationen, München 1986.

233 den Gutachten des EWI, RWI und DIW zur Entwicklung des Energieverbrauchs in der Bundesrepublik bis zum Jahre 1995, die von der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Dritten Fortschreibung des Energieprogramms in Auf- trag gegeben worden waren. Die nicht vollendeten Neuberechnungen der Pfade unter volkwirtschaftlichen Aspekten der Nachfolgeenquete legte Faude ebenso dar wie seine Ergänzungen und Verarbeitung zu neuen Rechenläufen.1070 Grupp und Wagner sorgten am Fraunhofer Institut für einen Indikatorkatalog.1071 Die Rezeption des Berichtes erfolgte vor allem über Wissenschaftler – so- wohl Mitglieder der Enquete-Kommission als auch Mitglieder des wissen- schaftlichen Stabes –, die an der Kommissionsarbeit selbst beteiligt waren. So wurden die Ergebnisse durch die verschiedenen Forschungsinstitute weiter bear- beitet. Auch auf kultureller Ebene fand sich ein Niederschlag. Es gab beispiels- weise im Dezember 1981 eine Veranstaltung im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mit dem Titel Strahlende Zukunft. Eine Revue über fünf Jahre Gorle- ben, deren Prolog von Loriot stammte. Die vier Energiepfade hingen vergrößert im Foyer. Altner wollte vorschlagen, dass die Enquete-Kommission der 9. Wahl- periode eine Dienstreise zu dem Stück unternehme, verzichtete dann aber mit Blick auf das ‚Humordefizit‘ in der Kommission darauf.1072

e. Zukünftige Energiepolitik?

Der Bericht der Enquete-Kommission wurde in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien deutlich wahrgenommen. Das Ausscheren der Unionspolitiker aus der Kompromisslinie beeinflusste die Bewertung teilweise. Vor allem wurde durch die Hervorhebung der ‚dirigistischen Sparmaßnahmen‘ der Inhalt des gesamten Kompromisses zerrissen. Da es der Union scheinbar wichtig war, sich möglichst frühzeitig vom Mehrheitsvotum zu distanzieren, lancierte sie noch vor Ende der Kommissionsarbeit in der Presse entsprechende Hinweise und hielt direkt nach Abschluss eine eigene Pressekonferenz ab. SPD und FDP versuchten die Kritik quasi als ‚Scheinkampf‘ zu klassifizieren. Letztlich aber konnte der geschickt ausgehandelte Kompromiss nur schwer disqualifiziert werden. Alle Sachverständigen, alle von Rang und Namen, hatten dem Konzept für die 1980er Jahre zugestimmt. Von einigen Beteiligten wurde

1070 Faude, Modellrechnungen mit SOPKA-E. 1071 Hariolf Grupp/H.-W. Wagner, Die vier Energiepfade der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“ auf der Basis eines Indikatorkatalogs, in: A. Stegelmann, Energiedebatte, München 1984, S. 181–189. 1072 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an Schäfer, 5. Dezember 1981.

234 der Kompromiss danach weiter in Schriften zitiert. Neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind programmatische Schriften wie Knizias Energie Ord- nung Menschlichkeit zu nennen, in der er für Pfad I plädierte.1073 Die Umsetzung der Empfehlungen erfolgte nur partiell. Alle von der Kom- mission vorgeschlagenen Studien wurden in Auftrag gegeben, die Kommission wurde wiedereingesetzt, wenn auch in anderer Besetzung, zahlreiche Energie- sparmaßnahmen wurden ergriffen, und in die Risikostudie der Phase B wurden Einzeluntersuchungen unterschiedlicher Institutionen, unter anderem des Öko- Instituts, einbezogen.1074 Allerdings schien die Regierung sich zunehmend von ihren Parteien abzukoppeln. Während in der SPD die Frage eines Ausstieges aus der Kernenergie diskutiert wurde, wollte die Spitze nach den langen Diskussio- nen wieder zu einer Intensivierung der Kernenergie zurückkehren. Die Reaktionen der Interessenverbände waren ambivalent, und positive wie negative Bewertungen fanden sich auf kernenergiebefürwortender wie auf kern- energieskeptischer Seite. Dies kann durchaus als Qualitätssiegel gelten. Aller- dings ist an dieser Stelle zu bedenken, dass der Bericht es durch die vier Pfade jedem erlaubte, sich entsprechend einzuordnen. Die kritische Frage nach der Inbetriebnahme des Brüters wurde nicht beantwortet. Inhaltlich hatte die Kommission das Rad nicht neu erfunden. Aspekte wie Energiesparen waren international zu dieser Zeit längst in der Popkultur ange- kommen. So gab es im Jahre 1979 zwei Mickey-Mouse-Hefte Mickey Mouse and Goofy Explore Energy1075 und Mickey Mouse and Goofy Explore Energy Conservation1076, in Deutschland zusammen unter dem Titel Mickey Mouse und Goofy auf Entdeckungsreise1077 erschienen. Am Umgang mit der Frage Kern- energie in diesen Heften wird bemerkbar, dass Exxon daran beteiligt war. Neben Energiesparen wird auch die Förderung der Kohlenutzung, der Kernenergie und der Offshore-Ölförderung vorgeschlagen, um das Energiedefizit auszugleichen. Auch gab es 1979 bereits eine erste Briefmarke zum Thema Energiesparen, die allerdings etwas missglückt erscheint. Darauf ist eine Glühbirne abgebildet, deren eine Hälfte hell und die andere dunkel ist. Dies legt die unerwünschte Assoziation nahe, dass man durch Energiesparen im Dunkeln sitze. Zu einer Beruhigung des Konfliktes konnte der Bericht direkt scheinbar nicht beitragen. In Brokdorf eskalierte 1981 die Lage, als 100.000 Menschen gegen den Bau eines Atomkraftwerkes demonstrierten. Dabei gerieten militante

1073 Knizia, Energie Ordnung Menschlichkeit, S. 210–221. 1074 GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke. Phase B, S. 3ff. 1075 Mickey Mouse and Goofy Explore Energy. Available from Public Affairs Department, Exxon, U.S.A., Burbank 1976. 1076 Mickey Mouse and Goofy Explore Energy Conservation. Available from Public Affairs De- partment, Exxon, U.S.A., Burbank 1978. 1077 Mickey Mouse und Goofy auf Entdeckungsreise, Hamburg 1979.

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Atomkraftgegner und Polizisten aneinander. Die Zustände erinnerten an einen Bürgerkrieg mit Einsatz von Gummiknüppeln, Schlagstöcken, chemischen Keu- len und Wasserwerfern. Aus Hubschraubern wurden Tränengasgranaten abge- worfen. Demgegenüber standen Demonstranten mit Spaten und Knüppeln. Das Kernkraftwerk wurde dennoch errichtet und nahm 1986 seinen Betrieb auf.1078 Auf politischer Ebene allerdings geriet die Kernenergiefrage wieder in den Hin- tergrund. Die Ölpreise waren gesunken und erste Energiesparerfolge machten sich bemerkbar. Die Rezeption in der Zeit direkt nach der Vorlage des Berichtes lassen aber noch nicht auf den Erfolg oder Misserfolg der Kommission schließen. Zunächst ist ein Blick auf die Nachfolgeenquete zu werfen, ehe die langfristige Wirkung analysiert wird. Zur Ironie der Geschichte zählt sicher, dass der Titel des vom Bundestag herausgegebenen Bändchens Zur Sache über den Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie und die Aussprache im Plenum Zukünftige (Kern-) Energiepolitik lautet. Der Kern ist in Parenthesen gefangen, wo doch bis dahin – ganz im Stil der 1970er Jahre – Kernenergie und Politik durch einen Bindestrich mühsam miteinander verbunden waren. Wenn man allerdings einen Blick in das Heft wirft, so stellt sich schnell heraus, dass diese letztlich doch richtungweisen- de Petitesse sich nur in den Titel geschlichen hat.

X. Die Nachfolgeenquete: Beschwörung eines Geistes

„Ich habe den Eindruck, dieses Thema [Schneller Brüter, C.A.] ist wie ein zäher Kaugummi, der nachts schon dreimal am Bettpfosten geklebt hat. Er verfolgt uns in zahllosen Zeitungs-, Ausschuß-, Versammlungs- und auch in Plenarabhandlungen. Lustlos wird er mit den bekannten Argumenten in immer dieselbe Zahnlücke ge- schoben.“ 1079

Diese Worte des SPD-Politikers Ulrich Steger anlässlich der Bundestagsdebatte über die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters in Kalkar am 14. Dezember 1982 fassen die Vorgänge nach dem ‚historischen Kompromiss‘ der Enquete- Kommission recht prägnant zusammen. Inwiefern konnte die Nachfolgeenquete an die Ergebnisse ihrer Vorgängerin anknüpfen? Innerhalb der Enquete-Kommission gab es auf personeller Ebene zahlreiche Kontinuitäten, auf der Ebene des Umgangs mit Wissen und unsiche- rem Wissen änderte sich jedoch einiges.

1078 Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 402. 1079 PA DBT PlPr. IX/134, 3. Dezember 1982, S. 8307.

236 a. Der Auftrag an die Kommission

Entsprechend der mehrheitlichen Empfehlung der Enquete-Kommission der 8. Wahlperiode wurde das Gremium Zukünftige Kernenergie-Politik wieder einge- setzt. Es sollte die Teile des Arbeitsauftrages erledigen, die nicht eingelöst wur- den, sowie die in Auftrag gegebenen Gutachten auswerten. Zentrale, zeitlich vorrangig zu bearbeitende und politisch brisanteste Auf- gabe der Enquete-Kommission war es, eine Empfehlung zur Inbetriebnahme des Brüters zu erarbeiten (Arbeitsfeld I). Grundlage dafür sollten die von der Vor- gängerkommission angeregten Gutachten sein: erstens die Literaturstudie zu Bethe-Tait-Störfällen, die vom Bundesministerium für Forschung und Technolo- gie an das Kernforschungszentrum Karlsruhe vergeben worden war,1080 und zweitens die Risikoorientierte Studie zum Vergleich von SNR300 mit einem Leichtwasserreaktor vom Typ Biblis B in einem parallelen Forschungsverfahren. Das heißt, dass Gegner und Befürworter des Brüters an der Studie beteiligt wur- den. Entsprechend wurde die Risikoorientierte Studie auch oftmals verkürzt als Parallelforschung bezeichnet. Der Hauptauftrag für die Parallelforschung wurde vom BMFT an das Kommissionsmitglied Adolf Birkhofer vergeben, der mit einer Gruppe der GRS das Gutachten von kernenergiebefürwortender Seite er- stellte. Birkhofer vergab seinerseits im Auftrag des BMFT einen Unterauftrag an Jochen Benecke, der eine eigene Forschungsgruppe – die Forschungsgruppe Schneller Brüter (FGSB) – zusammenstellte. Die Ergebnisse, die dem Auftrag des Ministeriums zufolge bis zum 30. April 1982 vorzuliegen hatten, sollten vorrangig einer Empfehlung der Enquete-Kommission zugeführt werden. Hin- tergrund der zeitlichen Eingrenzung der Brüterempfehlung war der äußere Hand- lungsdruck vor allem durch die Finanzierungsfrage. Zu den weiteren Aufgaben der Enquete-Kommission gehörte es, mögliche alternative Folgelinien des Leichtwasserreaktors und alternative Brenn- stoffkreisläufe zu beraten (II). Mit Hilfe der Vorarbeiten bezüglich der Energie- pfadberechnungen sollten Vorschläge zur Verhinderung von Fehlentwicklungen gemacht werden (III). Nutzen und Risiken der Kernenergie für die weltweite Energieversorgung mit Fokus auf die Entwicklungsländer sollten dargestellt werden; in diesem Zusammenhang waren auch Vorschläge zur Verhinderung von Proliferation zu machen (IV). Und nicht zuletzt war zu strittigen Fragen wie dem Risiko von radioaktiver Strahlung bei der zivilen Kernenergienutzung Stel- lung zu nehmen (V).1081

1080 Wolf Häfele hatte das geforderte Gutachten zur Größe einer Demonstrations- und Wiederauf- arbeitungsanlage erstellt. 1081 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 1. Sitzung, 15. Juni 1981, S. 1/4f.

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Während SPD und FDP eine Empfehlung zur möglichen Inbetriebnahme bis zum 31. Juli 1982 vorsahen,1082 wurde zunächst vom BMFT an der Be- fristung bis Ende des Jahres 1981 festgehalten. Mit dieser terminlichen Vorgabe war bereits klar, dass die Enquete-Kommission die Frage des Schnellen Brüters nicht gemeinsam mit den volkwirtschaftlichen Berechnungen beraten konnte. Eine vergleichbare Kompromissformel, zu der in der Vorgängerenquete gefun- denen, war damit bereits vor Beginn der Gremienarbeit unwahrscheinlich. Im Ergebnis konnte die Kommission lediglich eine Empfehlung zum Brüter abgeben, was nicht zuletzt an der deutlich verkürzten Bearbeitungszeit lag. Hin- tergrund waren das konstruktive Misstrauensvotum Ende des Jahres 1982, der daraus resultierende Regierungswechsel und die durch die Vertrauensfrage aus- gelösten Neuwahlen, mit denen automatisch auch alle laufenden Enquete- Kommissionen aufgelöst waren. Vowe beschrieb in seiner Habilitationsschrift, dass diese Kommission „zu- meist als das unrühmliche Ende eines schwungvollen Auftakts“1083 gesehen und ihr dies nicht gerecht werde. Er charakterisierte sie als „lehrreich, voller aussage- kräftiger Konflikte und Entwicklungen, aber eben völlig anders als die KE8“.1084

b. Berufung und Zusammensetzung

Anders als bei den Enquete-Kommissionen Auswärtige Kulturpolitik und Ver- fassungsreform sowie Frau und Gesellschaft, bedeutete bei der Zukünftigen Kernenergie-Politik die Neuberufung eine einschneidende Zäsur.1085 Das im Mai 1981 eingesetzte Gremium startete unter deutlich anderen Voraussetzungen als sein Vorläufer. Dies betrifft einerseits die Außenbedingungen und andererseits die Strukturen innerhalb der Kommission.

Politisches Umfeld

In der vorangegangenen Legislaturperiode hatte die Union es zunächst abgelehnt, eine Enquete-Kommission in der Energiefrage zu Rate zu ziehen – gleichwohl hatte sie danach einen eigenen Antrag zur Einberufung eingebracht. Mit dem Zwischenbericht des Gremiums hielten CDU und CSU die Arbeit für endgültig

1082 PA DBT Drs. IX/504, Antrag der Fraktionen von SPD und FDP. Enquete-Kommission ‚Zu- künftige Kernenergie-Politik‘, 25. Mai 1981. 1083 Vowe, Technik im parlamentarischen Diskurs, S. 328. 1084 Ebd., S. 328. 1085 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 155.

238 erledigt und sahen 1981 keine Notwendigkeit mehr für eine erneute Berufung. Dementsprechend wurde der Antrag von SPD und FDP1086 auf Wiedereinsetzung im Mai von den Unionsparteien abgelehnt. Wie auch drei Jahre zuvor wurde als Hauptargument angeführt, dass man keine Entscheidungen aufschieben wolle – diesmal mit der Begründung, dass die vorgängige Enquete ‚misslungen‘ sei.1087 Einer erneuten Einsetzung konnte die Union letztlich nichts entgegensetzen, denn zum einen handelt es sich bei diesem Politikberatungsinstrument um ein Minderheitenrecht und zum anderen waren SPD und FDP in der Mehrheit. Die Union hatte ihrerseits für die Plenardebatte Anträge eingebracht, die gemeinsam mit dem Vorschlag für die Wiedereinsetzung der Zukünftigen Kern- energie-Politik debattiert wurden. Dabei handelte es sich – dem Minderheitsvo- tum der Unionsabgeordneten in der Empfehlung der vorherigen Enquete- Kommission entsprechend – um einen Antrag auf Ausbau der Kernenergie,1088 auf Verwirklichung der Beschlüsse von Bund und Ländern bezüglich der Ent- sorgungsfrage1089 sowie auf Förderung der Fortgeschrittenen Reaktorlinien.1090 Vom Fraktionsvorstand der SPD wurden diese als ‚Kampfanträge‘ bezeich- net.1091 Die Anträge der Union machen deutlich, dass aus Sicht der Konservati- ven kein weiterer Wissensbedarf im Rahmen eines Beratungsprozesses zu eruie- ren war, um die ‚politische Verantwortbarkeit‘ einer intensiven Nutzung der Kernenergie gewährleisten zu können. Die Regierungskoalition von SPD und FDP verband mit der Weiterführung der Kommissionsarbeit das Ziel, die ursprünglichen Aufgaben zu Ende zu führen und das Vertrauen für die künftigen energiepolitischen Entscheidungen in der Bevölkerung zu stärken.1092 Schäfer sprach zudem explizit davon, dass der Bun- destag „Herr der energiepolitischen Entscheidungen bleiben“1093 wolle.

1086 PA DBT Drs. XI/504, Antrag der Fraktionen der SPD und FDP: Enquete-Kommission ‚Zukünf- tige Kernenergie-Politik‘, 25. Mai 1981. Der Antrag wurde am 25. Mai in der Fraktionssitzung der SPD besprochen: AdsD IX–2/BTFI–000021, Bundestagsfraktion der SPD, Sitzungsproto- koll, 12. Mai 1980. 1087 PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 2026; vgl. auch: ebd., S. 2028, 2040. 1088 PA DBT Drs. IX/440, Antrag der CDU/CSU, Zukünftige Kernenergie-Politik. Ausbau der Kernenergie, 14. Mai 1981. 1089 PA DBT Drs. IX/441, Antrag der CDU/CSU, ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘. Entsorgung, 14. Mai 1981. 1090 PA DBT Drs. IX/442, Antrag der CDU/CSU, ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘. Fort- geschrittene Reaktorlinien, 14. Mai 1981. 1091 AdsD IX–2/BTFI 000096, SPD-Fraktionsvorstands, Sitzungsprotokoll, 25. Mai 1981. 1092 PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 2028ff., 2035. 1093 PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 2029.

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Die Haltung im Ministerium gegenüber der Enquete-Kommission hatte sich mit dem neuen Forschungsminister1094 gewandelt. Grundsätzlich hielt Andreas von Bülow einen Ausstieg aus der Kernenergie für unrealistisch; er stützte sich dabei auf die IIASA-Studie.1095 Angesichts der fehlenden Akzeptanz in der Be- völkerung sei es notwendig, nur das an Kernenergie einzusetzen, was absolut notwendig sei.1096 Die rasant steigenden Kosten des Schnellen Brüters war er anders als seine Vorgänger nicht mehr bereit zu tragen – die schmale Haushalts- lage hätte dies auch nicht zugelassen. Er wollte die Elektrizitätswirtschaft finan- ziell in die Pflicht nehmen. Dies machte eine Aufhebung des Inbetrieb- nahmevorbehaltes notwendig.1097 Dementsprechend war er an einer schnellen und positiven Empfehlung der Enquete zum Kalkarer Reaktor interessiert. Die Finanzmisere betraf auch andere Energieforschungsprojekte wie bei- spielsweise die Kohleverflüssigungsanlage, die Volker Hauff gemeinsam mit dem amerikanischen Energieminister Charles Duncan in Virginia geplant hatte. Andreas von Bülow wollte sich aufgrund der massiven Kostensteigerungen so- wie der Haushaltskürzungen aus dem Projekt zurückziehen.1098 Außerdem führte die schmale finanzielle Basis zu einer steigenden Konkurrenz zwischen THTR und SNR.1099 Entsprechend der Dritten Fortschreibung des Energieprogramms tat der Bundeskanzler seine Meinung, dass er die Bewältigung eines Ausstiegs aus der Kernenergie für unwahrscheinlich halte, nun unumwunden kund.1100 Aufgrund der bröckelnden Macht über NATO-Doppelbeschluss, Kernenergie und Haushalt schien auch von dieser Seite das Interesse groß gewesen zu sein, den Inbetriebnahmevorbehalt zügig aufzuheben und damit die ‚Regierungsfähigkeit‘ unter Beweis zu stellen. Hans Apel beschreibt in seinem Politischen Tagebuch, dass die zweite Ölpreisexplosion als eine zentrale Ursache der wirtschaftlichen Probleme anzusehen war und sich daher die Überlegungen auf die Frage fokus- sierten, wie man die Abhängigkeit von Ölimporten verringern könne. Einigkeit herrschte über die Förderung von Kohle und die Notwendigkeit von Energie-

1094 Nach den Wahlen von 1980 wechselte Volker Hauff ins Verkehrsministerium und Andreas von Bülow übernahm am 6. November seinen Posten. Andreas von Bülow war zuvor Parlamentari- scher Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung. 1095 Von Bülow: Der Ausstieg aus der Kernenergie ist unrealistisch, in: PPP Nr. 64, 2. April 1981. 1096 PA DBT Ausschuss für Forschung und Technologie IX, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 21. Januar 1981, S. 2/34; vgl. zum Brüter: Schneller Brüter. Geht langsamer, in: Der Spiegel Nr. 17, 20. April 1981, S. 37. 1097 Von Bülow: Der Ausstieg aus der Kernenergie ist unrealistisch, in: PPP Nr. 64, 2. April 1981. 1098 Energie. Erheblich geschwächt, in: Der Spiegel Nr. 4, 19. Januar 1981, S. 46ff. 1099 Vowe, Technik im parlamentarischen Diskurs, S. 198. 1100 Spiegel Gespräch. „Einen Zwiespalt gibt es bei mir nicht.“ Bundeskanzler Helmut Schmidt über Energie, Rüstung und den Streit in der SPD, in: Der Spiegel Nr. 9, 23. Februar 1981, S. 24–29, S. 24.

240 einsparungen. Auf Lambsdorffs Bekenntnis zur Kernenergie beim Jahreswirt- schaftsbericht Ende Februar und Stoltenbergs volle Unterstützung der Bundesre- gierung bei Brokdorf hin begannen Teile der SPD zu protestieren. Brandt erklärt den Beschluss zur Kernenergie als ein kräftiges ‚Sowohl als auch‘.1101 Darüber hinaus zeigte sich von Seiten der Brüter-Lobby wenig Verständnis für den Arbeitsauftrag der Kommission und insbesondere das Parallelgutachten. Denn wie Willy Marth (KfK) an Stavenhagen schrieb, seien alle technischen Punkte von der Genehmigungsbehörde in den vergangenen acht Jahren detailliert untersucht worden. Und dies habe bereits zu Bauverzögerungen beigetragen. Wenn jetzt erneut in der Enquete-Kommission ein ‚so genanntes kritisches Ge- gengutachten‘ erstellt werde, so werde man zu keinen anderen Ergebnissen kommen, aber den Ablauf des Projektes wiederum verzögern und damit die Kos- ten erhöhen. Abgesehen davon sei der atomrechtliche Genehmigungsprozess nicht die Aufgabe einer parlamentarischen Kommission.1102 Die äußeren Umstände waren folglich geprägt durch zunehmenden Druck. Aufgrund der finanziellen Lage war der Regierung daran gelegen, die Hemmnis- se für den Brüter schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen. Zudem wuchs der gesamtpolitische Druck: Innerhalb der Regierungskoalition häuften sich die Auseinandersetzungen – unter anderem um den Ausbau der Kernenergie. Die Opposition witterte Morgenluft und zeigte sich zu weiteren parlamentarischen Diskussionen über das Thema nicht mehr bereit. Diese Bedingungen schränkten die Handlungsmöglichkeiten für die Enquete-Kommission bereits im Vorhinein ein.

Änderungen in der Enquete-Kommission

Auch innerhalb der Kommission kam es zu einigen Veränderungen. Die SPD als – zumindest partiell – treibende Kraft der Kommissionspläne wollte den Vorsitz im Gremium wahren. Daher beantragte sie zunächst eine ‚Vorschalt-Enquete‘, deren Führung der stärksten Fraktion im Bundestag, also der Union zukam, näm- lich zu Informations- und Kommunikationstechniken.1103 Dieses Vorgehen wurde in der Welt als „Enquete-Korruption“1104 bezeichnet.

1101 Apel, Der Abstieg, S. 149ff. Der Parteivorstand verfasste daraufhin eine Schrift „Unsere Ver- antwortung. Zur Lage der Partei im Februar 1981“, mit der wieder jeder seine Meinung vertre- ten konnte. 1102 ACDP I–547–009/4, Brief von Marth (KfK) an Stavenhagen, 27. März 1981. 1103 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 172. 1104 Enquete-Korruption, in: Die Welt, 26. Mai 1981.

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Der bisherige Vorsitzende der Enquete-Kommission Reinhard Ueberhorst stand nicht mehr zur Verfügung, da er zwischenzeitlich als Senator für Gesund- heit und Umweltschutz in den Berliner Senat berufen worden war. Seine Amts- zeit dauerte bis zum 11. Juni 1981, als die CDU mit Richard von Weizsäcker die Oberbürgermeisterwahlen in Berlin gewann. Ueberhorst blieb bis 1985 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Vorsitzender der neuen Enquete-Kommission wurde Harald B. Schäfer. Pe- ter Reuschenbach verblieb wie Schäfer im Gremium, so dass ein weiteres SPD- Mitglied gefunden werden musste. Über die Benennung dieses dritten Ab- geordneten gab es Auseinandersetzungen innerhalb der SPD. Die Fraktions- führung wollte zwei Kernenergiebefürworter entsenden, was Harald B. Schäfer zu verhindern suchte.1105 Verschiedene Politiker waren im Gespräch, wie der schleswig-holsteinische SPD-Landesvorsitzende Günter Jansen, die beiden nordrhein-westfälischen Abgeordneten Wolf Catenhusen und Josef Vosen sowie der Saarländer Hajo Hoffmann. Gegen den kernkraftkritischen Jansen legte der für Brokdorf engagierte norddeutsche DGB Bedenken ein. Letztlich wurde der Hesse Klaus Kübler in die Kommission gebracht. Der Jurist hatte sich beruflich mit der Strahlenfrage beschäftigt,1106 galt aber nicht als ausgewiesener Kernener- giebefürworter. Er war Mitglied des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie des Finanzausschusses. Laermann vertrat wie zuvor die FDP. Auch in der Union schied ein abgeordnetes Mitglied aus der Kommission aus – Stavenhagen und Gerstein blieben erhalten. Paul Gerlach, über dessen mangelnden Arbeitseinsatz in der vergangenen Kommission verschiedentlich geklagt worden war,1107 wurde von den Christsozialen durch Rudolf Kraus er- setzt. Der Baukaufmann war Mitglied des Aufsichtsrates der AGIP AG. Außer- dem saß er im Bundestagsausschuss für Wirtschaft. Konnte die Union schon die Einsetzung der Enquete-Kommission nicht verhindern, so beabsichtigte sie doch, die Sachverständigen diesmal eigenständig und ohne Absprachen mit den anderen Parteien zu bestimmen. SPD und FDP, so äußerten sich zumindest Schäfer und Laermann, schienen hingegen Interesse daran zu haben, aus Gründen der Kontinuität die gleichen Sachverständigen beizubehalten und diese auch erneut fraktionsübergreifend zu ernennen. Damit konnten sie sich nicht durchsetzen.1108

1105 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 182. 1106 Die Vorschläge des Fraktionsvorstandes wurden auf der Fraktionssitzung am 25. Mai be- schlossen: AdsD IX–2/BTFI 000021, SPD-Bundestagsfraktion, Anlage 11 zum Sitzungs- protokoll, 25. Mai 1981. 1107 Z.B.: Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 4. Juli 2007. 1108 PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 2034f., 2037.

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Es sollten neun statt acht Sachverständige in der Kommission sitzen. Als Grund hierfür sah die FAZ, dass die Opposition – nach dem Eklat über das Kom- promissverhalten Wolf Häfeles im vergangenen Gremium – den ‚Vater des Brü- ters‘ nicht benennen wollte. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er dennoch – er hatte inzwischen die Nachfolge des Vorstandsvorsitzes von Karl Heinz Beckurts in der Kernforschungsanlage Jülich angetreten – von der SPD als Sach- verständiger berufen.1109 Von Seiten der Sozialdemokraten gab es offenkundig die Idee, an den Kompromiss der Vorgängerenquete durch die Achse Häfele – Meyer-Abich anzuknüpfen. Die Union schien ihre Sachverständigen für dieses Gremium ausschließlich nach dem Kriterium ‚klarer Kernenergie-Befürworter‘ auszusuchen.1110 Zusätzlich zu Adolf Birkhofer wurden drei neue Experten beru- fen: Hans K. Schneider, Wolfgang Stoll und Hans Michaelis. Der Kernenergiebefürworter Hans K. Schneider hatte bereits in der Vorgän- gerenquete mehrfach als Gutachter fungiert: einmal im Zusammenhang mit der Strukturentwicklung der Deutschen Wirtschaft1111 und einmal gemeinsam in der Anhörung mit Amory Lovins,1112 in der er die gleichzeitige Verfolgung des ‚har- ten‘ und ‚sanften‘ Pfades für möglich gehalten hatte. Der geschäftsführende Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) hatte an der Studie des Workshop on Alternative Energy Strategies (WAES) mit- gewirkt. Der WAES war von Carrol Lewis Wilson (MIT, Boston) ins Leben ge- rufen worden und kam zu alarmierenden Ergebnissen – selbst bei seinem güns- tigsten Szenario. Er forderte optimale Bedingungen für die Kernenergie zu schaffen, um die energiepolitische Herausforderung auch nur ansatzweise lösen zu können. Diese Empfehlung wurde von Hans Michaelis – zur Kernenergie durchaus positiv eingestellt – wiederum als „radikal“ bezeichnet.1113 Das EWI wurde bereits damals von der Universität Köln und der Gesellschaft zur Förde- rung des EWI getragen, zu deren Mitgliedern private und öffentliche Unterneh- men sowie Verbände zählen. Hans-Karl Schneider war später Vorsitzender der fünf Bonner Wirtschaftsweisen. Damit saß nun auch ein Wirtschaftler in der Enquete-Kommission. Hatte Hans Michaelis während der Laufzeit der vergangenen Kommission die Union hinter den Kulissen beraten, wurde er diesmal direkt als Sachverstän- diger berufen. Er hatte Mathematik, Naturwissenschaften und anschließend Volkswirtschaft studiert und war seit 1969 Honorarprofessor an der Universität

1109 Energiepolitische Entscheidungen gefordert. Bundestagsdebatte/Die Zusammensetzung der zweiten Kommission, in: FAZ, 27. Mai 1981; außerdem: Gespräch mit Wolf Häfele, 24. Mai 2006. 1110 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 197. 1111 PA DBT EK VIII, Protokoll der 6. Sitzung, 8. Oktober 1979. 1112 PA DBT EK VIII, Protokoll der 9. Sitzung, 1. Dezember 1979. 1113 Michaelis, Handbuch Kernenergie, S. 130ff.

243 zu Köln mit dem Lehrauftrag für Energiepolitik – Kernenergieentwicklung. Aus seiner Feder stammt das Handbuch Kernenergie, das 1977 einbändig unter dem Titel Kernenergie und 1982 als Handbuch erschien. Für die Energieversorgungsunternehmen saß nun Wolfgang Stoll in dem Gremium. Er hatte Chemie studiert und eine Ausbildung auf dem Gebiet der Kerntechnik zunächst mit der Erforschung und Herstellung von Kernbrenn- stoffen in Chalk River (Kanada) angeschlossen. Diese setzte er auf dem Gebiet der Plutoniumtechnologie in Hanford/Washington fort. Seit der Gründung 1963 war er technischer Geschäftsführer der Alkem GmbH, die Brennelemente her- stellte. Die Firma produzierte auch den Reaktorkern des Schnellen Brüters, der bis heute nicht in Betrieb genommen wurde.1114 Das Unternehmen geriet 1986 in die Schlagzeilen der Kritik, da es in mehreren Fällen Veränderungen des Be- triebs und der Anlage vorgenommen hatte, ohne eine entsprechen Genehmigung nach dem AtG einzuholen. Mit auf der Anklagebank saßen neben den Geschäfts- führern Stoll und Alexander Warrikoff drei Ministerialbeamte, die ‚Vorab- Zustimmungen‘ abgegeben haben sollen.1115 Stoll hatte als Befürworter der Kernenergie am Gorleben-Hearing in Hannover teilgenommen.1116 Während sich in der Vorgängerenquete keinerlei Hinweise darauf finden ließen, dass die Union die Sitzungen in internen Besprechungen mit den Sach- verständigen vorbereitete, wie es FDP und SPD taten, lud Stavenhagen nun die Mitglieder der CDU/CSU-Gruppe regelmäßig zu Strategiegesprächen ein und forderte sie zur Anwesenheit bei Kommissionssitzungen auf.1117 SPD und FDP beriefen als sachverständige Mitglieder Klaus Michael Meyer-Abich, Günter Altner, Alois Pfeiffer, Dieter von Ehrenstein und Wolf Häfele. Dass sich damit die Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die Haltung zur Kernenergie veränderten, sollte sich später als ein Problem in der Kommission erweisen. Von insgesamt neun Sachverständigen waren fünf auf der Seite der Kernenergie.

1114 Der Reaktorkern, der dem Energieunternehmen RWE/RSNR gehört, befindet sich in staatlicher Verwahrung in Hanau. 1115 Die Sünden der Vergangenheit, in: Die Zeit Nr. 44, 24. Oktober 1986. 1116 Seine Aussagen auf dem Hearing wurden von Dieter von Ehrenstein in der Enquete der 8. Wahlperiode zitiert: PA DBT EK VIII, Kurzprotokoll der 5. Sitzung, 24. September 1979, S. 5/39f. 1117 ACDP I–547–009/4, Briefe von Stavenhagen an die Mitglieder und Sachverständigen der CDU/CSU-Gruppe der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 16. November 1981, 22. Januar 1982, 26. Februar 1982, 1. März 1982, 15. September 1982, 24. September 1982.

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Auch wenn die Kontinuität in Gefahr geraten war, konnte die wissenschaft- liche Ausrichtung des Sekretariats erhalten bleiben1118, dessen Leitung Klaus Schmölling wieder übernahm.

c. Der Beratungsprozess

Die Kommission nahm ihre Arbeit auf und versuchte, die Aufgabe unbelastet von den äußeren Umständen zu erfüllen. Harald B. Schäfer stellte gleich in der ersten Sitzung klar, dass die bisherigen Ergebnisse und Empfehlungen für die neue Enquete-Kommission weder zur Diskussion noch zur Disposition stünden, sondern dass auf ihnen aufzubauen sei. Das Gremium solle sich bei seiner Arbeit „um den Geist der Konsensorientierung, der die frühere Enquete-Kommission ausgezeichnet habe,“1119 bemühen. Wie auch in der Vorgängerenquete wurde in der Kommission extensiv ex- ternes Wissen herangezogen. Dem Politikwissenschaftler Altenhof zufolge war die Enquete-Kommission bei der Vergabe von Gutachten erneut Vorreiter.1120 Es wurden 21 Anhörungen abgehalten, von denen eine öffentlich war,1121 dabei wurden Mitarbeiter der Ministerien und externe Wissenschaftler eingeladen. Wie bereits in der Vorgängerenquete folgte man dem Credo, dass sich hier Be- fürworter und Kritiker der Kernenergie die Waage halten sollten. Zusätzlich reisten Mitglieder der Kommission im August 1982 zu dem Themenbereich Proliferation und Weltenergieversorgung nach Brasilien, Mexiko und Ameri- ka.1122 Auch die Baustelle des SNR300 in Kalkar wurde besucht. In dieser Enquete-Kommission firmierten die sechs Arbeitsgruppen unter dem Titel Unterkommissionen;1123 dabei handelte es sich lediglich um eine ‚Umetikettierung‘ aus rechtlichen Gründen. Sie waren mit drei Sachverständigen und jeweils einem Vertreter der Fraktionen besetzt.1124 Nur das erste Arbeitsfeld zum Schnellen Brüter erfuhr eine intensive Bearbeitung. Für die anderen Sektio- nen wurden zwar zahlreiche Gutachten eingeholt, aber die Gruppen trafen sich

1118 AdsD Depositum Schäfer, Briefe von Günter Altner an Harald B. Schäfer, 19. Mai 1981 und 11. Juli 1981. 1119 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 1. Sitzung, 15. Juni 1981, S. 1/7; ähnlich äußerte sich Schäfer auch in der Parlamentsdebatte zur Einsetzung der Enquete-Kommission: PA DBT PlPr. IX/38, 26. Mai 1981, S. 2034. 1120 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 232. 1121 Ebd., S. 222. 1122 AdsD, Depositum Schäfer, Brief von Schäfer an (Parlamentarische Geschäfts- führerin der SPD-Bundestagsfraktion), 14. Mai 1982. 1123 PA DBT EK IX, Ergebnisprotokoll der 2. Sitzung, 7. Juli 1981, S. 7. 1124 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 7. Juli 1871, S. 20.

245 entweder kaum oder gar nicht. Dies war nicht nur Resultat der terminlichen Trennung des Arbeitsauftrages, sondern auch der Probleme, die bei der Erstel- lung des Parallelgutachtens auftraten. Harald B. Schäfer hatte, nachdem sich die Schwierigkeiten manifestierten, den Abstimmungsprozess durch Anhörungen der Protagonisten in die Enquete-Sitzungen verlagert, so dass dies den Hauptteil der Beratungen einnahm.1125 Ab Januar 1982 thematisierten nur noch drei von 18 Sitzungen andere Arbeitsfelder. Der Arbeitsprozess der Enquete-Kommission lässt sich in drei Phasen glie- dern: Von September bis Dezember 1981 fanden verschiedene Anhörungen und Beratungen zu den Arbeitsfeldern II bis V statt, also zu fortgeschrittenen Reak- torlinien, zur Präzisierung der Pfadberechungen, zur Weltenergieversorgung und zur Proliferation sowie zum Strahlenrisiko. Spätestens seit November wurden Probleme bei der Forschungsgruppe Schneller Brüter offenkundig. In der zweiten Phase von Januar bis Juli erfolgte hauptsächlich die Ausei- nandersetzung mit dem Parallelforschungsgutachten – also der eigentlichen Ba- sis für die Beratungen von Arbeitsfeld I. Im Januar kündigten einige Mitarbeiter der FGSB an, ihre Arbeit aufgrund der Arbeitsbedingungen, die von enormem Zeitdruck und schleppendem Informationsfluss gekennzeichnet seien, einzustel- len. Zu diesem Zeitpunkt war klar – der Stand der Arbeit machte das deutlich –, dass bis April wohl kein gemeinsames Gutachten der beiden Gruppen vorliegen würde. Die Kommission versuchte das durch entsprechende Anhörungen in En- quete-Sitzungen aufzufangen. Nach der parlamentarischen Sommerpause folgten ab dem 10. September die Beratungen über die Empfehlung und den Bericht – die dritte Phase, die am 23. September in eine Befürwortung der Inbetriebnahme mündete. Danach folg- ten noch Planungen über die weitere Arbeit sowie über einen Bericht zum Stand der Arbeit. Die letzte Sitzung fand am 13. Dezember 1982 unter dem Eindruck der bevorstehenden Vertrauensfrage von Helmut Kohl statt.

Auseinandersetzungen in der Kommission

Die Auseinandersetzungen innerhalb der Kommission lassen sich auf drei Ebe- nen verfolgen: Die erste Ebene ist die der Parlamentarier, die zweite die der Sachverständigen und die dritte die der Gesamtkommission. Unter den Parlamentariern kam es insbesondere zwischen den Unionsabge- ordneten und dem Vorsitzenden zu Differenzen. Stavenhagen hatte in der zwei- ten Sitzung betont, dass seine Fraktion die Enquete-Kommission nicht für

1125 AdsD IX–2/BTFI 000118, Anlage zur Bundestagsfraktionssitzung der SPD. Vorlage von Harald B. Schäfer, 8. März 1982.

246 zweckmäßig gehalten habe; statt weiterer Beratungen sei eine baldige Entschei- dung notwendig gewesen, die offenen Fragen sollten in Ausschüssen bewältigt werden.1126 Diese Haltung kam im Beratungsgeschehen vor allem dadurch zum Ausdruck, dass die konservativen Mitglieder immer wieder Formalia und Ver- fahrensfragen diskutieren wollten. Im Gegensatz zur Vorgängerenquete- Kommission, wo selten auf Verfahrensfragen rekurriert wurde, geschah dies in der 9. Wahlperiode in beinahe jeder Sitzung. Die Konfrontation kulminierte in der 24. Sitzung in einem heftigen Wort- wechsel zwischen Gerstein und Schäfer, in dessen Folge Stavenhagen Protest gegen die Verhandlungsführung des Vorsitzenden einlegte. Als Schäfer die Kri- tik zurückwies, verließen die Unionsabgeordneten geschlossen die Sitzung.1127 Stavenhagen mahnte anschließend in einem Brief an, dass die Art des Vorsitzen- den, „einzelne Kommissionsmitglieder lautstark zurechtzuweisen, [...] eindeutig Buchstabe und Geist der Geschäftsordnung“1128 widerspreche. Dieser Konflikt spielte sich vor allem auf Parlamentarierebene ab. Allerdings kommentierte der Sachverständige Hans Michaelis seinerseits diesen Vorfall hinsichtlich des Pro- tokolls. Dort stünde, Gerstein und Stavenhagen hätten als einzige den Sitzungs- saal verlassen. Dadurch könne der Eindruck entstehen, andere Kommissionsmit- glieder hätten sich von der Kritik der beiden Unionspolitiker distanzieren wollen. Er seinerseits sei aus anderen Gründen über die Verhandlungsführung ‚nicht glücklich‘ gewesen.1129 Diese Form der Konfliktaustragung ist ein Novum ge- genüber der Ueberhorst-Kommission Verglichen mit der Vorgängerkommission kam es auf der Ebene der Sach- verständigen ebenso zu ungewöhnlichen Reibereien. Beispielsweise kritisierten Birkhofer und Häfele das Hearing zur Studie Kritische Bewertung der Literatur zu hohen Energiefreisetzungen bei hypothetischen Störfällen in natriumgekühlten schnellen Brutreaktoren des KfK mit dem emeritierten Physiker Heinz Maier- Leibnitz und dem Bremer Physikstudenten Richard Lothar Donderer: Dass ei- nem gestandenen Nobelpreisträger ein Diplomand mit Turnschuhen und Schal gleichwertig gegenübergestellt werde, erschien ihnen nahezu als ‚Sakrileg‘.1130 Sicherlich ist das Aufeinandertreffen derart unterschiedlicher Wissenschaftler- generationen1131 außergewöhnlich, doch es regt auch zum Nachdenken an, was das über das damalige Wissenschaftssystem aussagt. Ganz bildlich wurde hier vor Augen geführt, mit welchen Problemen es verbunden war, Wissenschaftler

1126 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 7. Juli 1981, S. 2/5. 1127 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 24. Sitzung, 2. Juli 1982, S. 12. 1128 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Stavenhagen an Schäfer, 5. Juli 1982. 1129 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Michaelis an Schäfer, 16. Juli 1982. 1130 Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching, 4. Juli 2007; Telefongespräch mit Häfele, 24. Mai 2006. 1131 Donderer absolvierte 1984 seine Diplomprüfung.

247 zu finden, die sich skeptisch zur Kernenergie äußerten. Gleichzeitig sagt es aber auch etwas über den Stellenwert symbolischen Handelns aus, hinter das die Fra- ge nach wissenschaftlicher Qualifikation zurücktrat. Donderer ist heute als Gut- achter für die RSK tätig. Einmal mehr wird an diesem Beispiel deutlich, dass die Frage, wer Experte ist und als solcher akzeptiert wird, im Beratungsprozess be- antwortet wird. Ein weiterer Fall symbolischen Handelns sorgte ebenfalls für Konfliktstoff. Günter Altner ließ sich von einer Anhörung der Bundesregierung ausschließen, in der es um sicherheitsrelevante Aspekte im Fall von Sabotage, Krieg und Ter- ror ging.1132 Um an der Sitzung teilnehmen zu dürfen, musste man sich einer Sicherheitsprüfung durch den Geheimschutzbeauftragten des Bundestages unter- ziehen. Altner lehnte diese mit der Begründung ab, er habe sich immer gegen die ‚Sicherungszwänge‘ gewandt, die aus dem Risikopotential der Kernenergie er- wüchsen, daher müsse er nun die Konsequenz ziehen, sich nicht erkennungs- dienstlich behandeln zu lassen und damit auch nicht an der Anhörung teilnehmen zu können.1133 Im Anschluss an die Sitzung erklärte er schriftlich, sein Verhalten sei für einige sicherlich nicht nachvollziehbar, da Auskünfte über geheimhal- tungsbedürftige Schwachstellen geradezu gezielte Angriffe auf Kernkraftwerke provozieren könnten, aufgrund der wachsenden Risikopotentiale und schwin- denden Kontrollmöglichkeiten durch die Öffentlichkeit erschiene es ihm jedoch unumgänglich, auf die ‚beängstigende Fehlentwicklung‘ hinzuweisen. Insbeson- dere Sabotage, Terror und Krieg müssten öffentlich diskutiert werden.1134 Die unionsgeführte Kommissionsmehrheit – inklusive der Sachverständigen – verfasste daraufhin eine Presseerklärung, in der sie zu Bedenken gab, dass der Staat mit der Geheimschutzvorschrift „seine ihm übertragene Schutzfunktion“ wahrnehme. Die Befürworter kämen „ihrem Staatsverständnis in dem Wunsch, die Institutionen dieses Staates zu bejahen und ihre Funktion zu befördern und nicht in Frage zu stellen“1135, nach. Dies veranlasste wiederum Meyer-Abich zu einer persönlichen Erklärung, da Altner damit das „rechte Staatsverständnis“ abgesprochen werde. Er betrachte das Schriftstück als „Mißbrauch der Mehr- heitsverhältnisse in der Kommission, der die weitere Arbeit im Sinn des vom Bundestag erteilten Auftrags gefährdet.“1136

1132 PA DBT EK IX, Protokoll der 5. Sitzung, 12. Oktober 1981. 1133 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an Schäfer, 2. September 1981. 1134 PA DBT EK IX, Anlage 2 zum Ergebnisprotokoll der 5. Sitzung, Erklärung von Altner, 12. Oktober 1981; vgl. auch: Interview mit Altner, in: PPP Nr. 195, 13. Oktober 1981, S. 4f. 1135 PA DBT EK IX, Anlage 3 zum Ergebnisprotokoll der 5. Sitzung, Presseerklärung, 13. Oktober 1981. 1136 PA DBT EK IX, Anlage 4 zum Ergebnisprotokoll der 5. Sitzung, Persönliche Erklärung von Meyer-Abich, 12. Oktober 1981.

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Schäfer entschied sich in diesem Fall, von öffentlichen Interviews zu der Sitzung abzusehen, in der Hoffnung, „daß sich der Geist des Aufeinanderzugehens in der Enquete-Kommission wieder einstellen“1137 werde. Hier wird einerseits etwas deutlich, was auch in der vorigen Kommission zu beobachten war: Die Frage nach Kernenergie und ihrer Sicherheit war auf das Engste verknüpft mit der Frage nach der Art von Staat und der Frage der Demo- kratie. Andererseits zeigt sich auch eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Sachverständigen, die in der Vorgängerenquete-Kommission nicht so offen zuta- ge getreten war. Signifikant für die Dissonanzen zwischen den Sachverständigen scheint fol- gendes Beispiel: Häfele bezeichnete Beneckes Vorgehen, mit Hilfe von Navier- Stokes-Gleichungen das Kochen von Wasser zu berechnen, schlicht als „Schmarrn“1138. Benecke versuchte daraufhin, Häfele zu verdeutlichen, dass er kein ‚technikfeindlicher Spinner‘ sei, der nur aus ‚mangelnder Erfahrung auf technischem Gebiet‘ zu einer anderen Beurteilung des Brüters gekommen sei.1139 Beide Wissenschaftler kommen aus der Astrophysik. Die Diktion zeigt deutlich, wie viel Spannung in der Kommissionsluft lag. Die Ebene der Gesamtkommission war vor allem von Konflikten über den Umgang mit Kommissionsvorlagen geprägt. Texte, die Sachverständige ein- bringen wollten, hatten sie in der Vorgängerenquete dem Sekretariat übergeben, dort erhielten sie einen Stempel als Kommissionsvorlage und wurden an alle Kommissionsmitglieder verteilt. Die vor allem von den CDU/CSU-Ab- geordneten und Häfele eingeführte Neuerung war, dass nur die Texte Eingang in den Beratungsprozess fanden, die mehrheitlich angenommen wurden. Das scheint zunächst eine Formalie zu sein, doch aufgrund der angespannten Situati- on sowie der Zusammensetzung der Kommission konnte auf diese Weise der Einfluss von kernenergieskeptischen Materialien effektiv verhindert werden. Beispielsweise wurde eine Stellungnahme von Bischöfen abgelehnt.1140 Die Konfliktlinien verliefen in dieser Kommission klar entlang der Haltung zur Kernenergie. Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen war die Risi- koorientierte Studie. Dass die Parallelforschung innerhalb der Enquete- Kommission abgehandelt wurde, federte Konflikte im kommissionsinternen Beratungsprozess sicher nicht ab. Vielmehr führte es dazu, dass Dissens nicht im Vorhinein abgeklopft werden konnte und wissenschaftliche Details diskutiert wurden, die bei den Abgeordneten vermutlich für Ermüdungserscheinungen sorgten.

1137 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 6. Sitzung, 13. Oktober 1981, S. 6/4. 1138 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Häfele an Benecke, 19. Juli 1982. 1139 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Häfele, 29. Juli 1982. 1140 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner an Schäfer, o.D.

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Soweit die Konflikte. Auf der anderen Seite gab es immer wieder Versuche in der Kommission, die angespannte Situation abzumildern und aufeinander zuzugehen. Die sachliche Diskussion, die sich auch in der Empfehlung nieder- schlug, darf insofern nicht unterschätzt werden. Es gab zum Beispiel den Ver- such von Meyer-Abich und Häfele, durch ein gemeinsames Papier innerhalb der Kommission zu einer Kompromisslösung zu kommen. Sie arbeiteten an einer möglichen Gliederung für den Sicherheitsvergleich von SNR300 und Leichtwas- serreaktor. Ende Juli 1982 lag eine dritte Fassung vor, die sie für „sachlich in Ordnung und konsensfähig“1141 hielten, die aber nicht auf fruchtbaren Boden fiel.

d. Wissen und Macht: Das Parallelgutachten

Obwohl die Risikoorientierte Studie rein organisatorisch gesehen nicht Sache der Kommission gewesen wäre, kristallisierte diese sich als Hauptproblem der Gremiumsarbeit heraus. Anhand der Entstehungsgeschichte dieses Gutachtens lässt sich die Verbindung von Wissen und Macht im Wechselspiel zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zeigen. Verschiedene Machtmittel kamen zum Einsatz, die sich vor allem auf die Limitierung der Zeit, der Wissens- ressourcen und der Zusammenarbeit der Mitarbeiter bezogen. Zunächst einmal ist zu klären, wer die Akteure waren. Adolf Birkhofer, der sich in der Empfehlung der Vorgängerenquete gegen ein paralleles Verfahren bei dieser Studie ausgesprochen hatte, fungierte als Hauptauftragnehmer des BMFT. Für die Erstellung des Gutachtens von Seiten des kernenergiefreundlichen La- gers versammelte er eine Forschergruppe der GRS hinter sich; für die Seite des kernenergieskeptischen Lagers vergab Birkhofer im Auftrag des BMFT einen Unterauftrag an Jochen Benecke vom Max-Planck-Institut.1142 Dieser war von Reinhard Ueberhorst vorgeschlagen worden.1143 Anscheinend war es notwendig, einen Mann an die Spitze der Forschungsgruppe zu stellen, der durch Titel aus- gewiesen war.1144 Nun galt es, eine entsprechende kernenergiekritische For- schergruppe zusammenzustellen. Diese Gruppe gründete einen Verein, die FGSB, um rein juristisch den Auftrag erfüllen zu können.1145 Anders als die

1141 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Häfele und Meyer-Abich an Schäfer, 26. Juli 1982. 1142 Zum Auftrag an Benecke: AdsD Depositum Schäfer, Brief von von Bülow an Birkhofer (GRS), 9. März 1981. 1143 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ueberhorst an Hauff (BMFT), 8. Oktober 1980. Hiernach habe Ueberhorst entsprechend einer Absprache mit Popp die VdW als Träger der Studie und Benecke und Dürr als Projektleiter vorgeschlagen. Dürr wollte mitberaten. 1144 Vgl. z.B.: Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 1145 Vgl. zur Vereinsgründung auch: AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Schäfer, 15. Februar 1981.

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GRS-Leute, die bereits an einem Institut zusammenarbeiteten, war diese Gruppe völlig neu zusammengewürfelt und auch geographisch nicht homogen. Bereits im Juni 1980 hatte Reinhard Ueberhorst damit begonnen, ein Team von Wissenschaftlern zusammenzustellen, das sich Benecke zufolge im Spät- sommer 1980 tatsächlich konstituierte. Zu ersten konkreten Verhandlungen mit dem BMFT sei es erst Ende Juni 1981 gekommen.1146 Ueberhorst hatte ein ‚star- kes persönliches Interesse am Zustandekommen der Studie‘ geäußert.1147 Es gab seit Sommer 1980 in unregelmäßigen Abständen Treffen von Mitgliedern der FGSB mit Altner, von Ehrenstein, Meyer-Abich, Schäfer und Ueberhorst; seit November 1981 war auch Kübler dazu geladen. Grupp erläuterte in einem Schreiben, dass es sich nicht um eine Fraktionierung innerhalb der Kommission handele, sondern vielmehr das Interesse am Thema verbindend sei.1148 Somit hatten beide Forschergruppen, die der GRS und die FGSB, selbständige Kontak- te zu Mitgliedern der Enquete-Kommission. Dieser Ausgewogenheit standen aber andere Probleme gegenüber: Inner- halb der Gruppe kernenergieskeptischer Wissenschaftler gab es Unstimmigkeiten über Benecke als Leiter, so dass zwischenzeitlich ein Viererteam die Leitung übernahm. Das Verhalten von Benecke sei kritisiert worden, und Ueberhorst habe die Meinung vertreten, dass bei ‚gescheiterem Vorgehen‘ die alleinige Vergabe der Studie an die GRS hätte vermieden werden können.1149 Es bestand folglich gleich zu Beginn der Parallelforschung ein institutionalisiertes Un- gleichgewicht zwischen Kernenergiebefürwortern und -skeptikern: einerseits bezüglich der Auftragsvergabe und andererseits bezüglich der jeweiligen inter- nen Gruppenstruktur. Parallelforschung war etwas durchaus Umstrittenes zu dieser Zeit. Begrün- det lag dies schlicht und ergreifend in Vorbehalten gegenüber Wissenschaftlern, die der gängigen Lehrmeinung – insbesondere in der Atomenergie – widerspra- chen. Das zeigten Äußerungen von Klaus Traube.1150

Problemfaktor Zeit

Ein entscheidender Faktor, der zunehmend als Machtmittel eingesetzt wurde, war das zeitliche Korsett, in das die Arbeit eingezwängt war. Die Enquete-

1146 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an von Bülow, 17. Juli 1981. 1147 AdsD Depositum Schäfer, Notiz über Telefongespräch mit Grupp, 22. April 1981. 1148 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Grupp an Schäfer und Kübler mit handschriftlicher Notiz für Kübler, 9. November 1981. 1149 AdsD Depositum Schäfer, Notiz über Telefongespräch mit Grupp, 22. April 1981. 1150 Vgl.: Kapitel B.III.

251

Kommission der 8. Wahlperiode war davon ausgegangen, dass sofort im An- schluss an ihre Tätigkeit die Gutachten vergeben würden. De facto verging bei- nahe ein Jahr und das BMFT erteilte den Auftrag am 19. März 1981.1151 Der Unterauftrag an die FGSB erging jedoch erst am 10. Dezember – also in dem Monat, in dem nach ursprünglicher Planung das Gutachten hätte vorliegen sol- len. Für die Zeit davor wurde eine Vorfinanzierung zur Verfügung gestellt, es gab erste Absprachen zwischen Birkhofer und Benecke. Die erste gemeinsame Arbeitssitzung fand am 23. Juli 1981 statt.1152 Das Dilemma, das sich aus dem engen zeitlichen Rahmen ergab, wurde in der Enquete-Kommission bereits in der zweiten Sitzung – also im Juli – themati- siert. Birkhofer mahnte an, dass die Parallelgruppe noch keinen Auftrag habe und Schwierigkeiten haben werde, wie vom BMFT gewünscht bis zum Jahres- ende Ergebnisse vorzulegen, zumal die Gruppe bislang keine Erfahrung mit Brutreaktoren habe und sich erst einarbeiten müsse. Ähnliche Bedenken hegte auch Wolf Häfele.1153 In der Folge musste das Abgabedatum zwei Mal verschoben werden. Bei der ersten Verlängerung ergab sich wenig Widerspruch. Harald B. Schäfer hatte Gespräche mit Andreas von Bülow geführt, der zusicherte, dass bei entsprechend sachgerechter Begründung eine Verlängerung möglich sei. Benecke fehlte bei einem wichtigen Treffen am 1. Dezember 1981 zu dem Thema, obwohl er das Datum zuvor bestätigt hatte.1154 Der Bundestag wurde im Dezember um eine Verlängerung gebeten und stimmte dieser zu – die neue Deadline war der 31. April 1982. Allerdings war zu diesem Zeitpunk längst klar, dass auch dieser Termin nicht würde eingehalten werden können. Daher wurde gleich in den Antrag mit eingebaut, dass die Gutachtergruppen sich bis zum Juni aktiv am Kommissionsgeschehen beteiligen und entsprechend Berichtsteile nachliefern könnten. Im März 1982 beantragte Harald B. Schäfer eine zweite Arbeitszeit- verlängerung für die Risikoorientierte Studie. Er begründete dies vor allem mit drei Punkten, den Schwierigkeiten bei der Diskussion mit den ‚etablierten‘ Brüterwissenschaftlern, Schwierigkeiten innerhalb der FGSB sowie Hindernisse bei der Beschaffung von Unterlagen für die Kritikergruppe. Diesmal allerdings votierte der Forschungsminister von Bülow in der Bundestagfraktion der SPD dafür, an den Terminen – Ende April sollte die Studie und vor der Sommerpause die Kommissionsempfehlung vorliegen – festzuhalten, den Gruppen aber Gele-

1151 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Haunschild (BMFT) an Schäfer, 7. August 1981. 1152 AdsD Depositum Schäfer, Protokollnotiz der FGSB zur Risikoorientierten Analyse zum SNR300, 24. Juni 1981. 1153 PA DBT EK IX, Kurzprotokoll der 2. Sitzung, 7. Juli 1981, S. 2/6, 2/9. 1154 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ehrenstein an Schäfer, 26. März 1982.

252 genheit zu geben, bis zum 30. Juni ergänzende Beiträge begleitend zur Diskussi- on in der Kommission zu liefern.1155 Der Forschungsminister begründete seine Entscheidung einerseits mit inhaltlichen Fragen der Skeptiker-Studie und ande- rerseits mit der Finanzierung des Brüters. Horst Ehmke, stellvertretender Frakti- onsvorsitzender der SPD, versuchte, in einer dreieinhalbstündigen Diskussion mit den von der Koalition benannten Mitgliedern der Enquete-Kommission eine gemeinsame Linie im Sinne des Fraktionsvorstandes zu finden, was ihm aber nicht gelang.1156 Von Bülow erklärte, die Finanzierung, die aufgrund der leeren Haus- haltskassen von der Industrie gestützt werden sollte, sei bei jeder Art von Verzö- gerung in Gefahr.1157 Der Kurs des Forschungsministers besagte – so Die Zeit – „Beteiligung der Industrie oder Baustopp“1158. Häfele lehnte es in einer „sehr emotionalen Erklärung“ ab, „sich ‚erpressen‘ zu lassen“1159. Während Laermann und Pfeiffer dem positiv gegenüberstanden, stimmte Reuschenbach gegen einen vorgeschlagenen Kompromiss, der besagte, dass die Abgabefrist der Empfehlung auf den 15. Oktober verschoben werde und die Enquete in der Zeit die fertigen Teile der Benecke-Studie und der Birkhofer-Studie beraten solle. Im Ergebnis wäre damit ein Monat Zeitverzögerung für die Entscheidung des Bundestages eingetreten. Ehmke hielt die ablehnende Haltung für „politisch sehr kurzsichtig“, da bei einem Auseinanderfallen der Kommission der Zeitplan der Bundesbera- tungen und damit die Finanzierung erst recht durcheinander gerieten.1160 Nachdem dieser Versuch einer Einigung gescheitert war, verfassten Günter Altner, Dieter von Ehrenstein und Klaus Michael Meyer-Abich einen Brief, in dem sie drohten, die Enquete-Kommission zu verlassen, wenn der Kritikergrup- pe nicht eine Arbeitszeitverlängerung bis September zugestanden werde. Als Grund nannten sie, dass die Kritikergruppe sonst nicht angemessen beteiligt werden könne und die Glaubwürdigkeit der Kommission darunter leiden würde. Solange die Koalitionsfraktionen den beantragten Zeitraum nicht verbindlich zusichern könnten, würden sie an der Arbeit der Kommission nicht mehr teil-

1155 Beide Anträge wurden in der Sitzung der Bundestagsfraktion der SPD am 8. März 1982 vor- gelegt: AdsD IX–2/BTFI 000118, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 8. März 1982. 1156 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ehmke an Wehner, 17. März 1982. 1157 Weißer Elefant am Ufer des Rheins. Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor bleiben weiter umstritten, in: Vorwärts, 23. September 1982. 1158 Zitiert nach: Brüter – nein danke! Die neuen Reaktoren sind unwirtschaftlich, in: Die Zeit, 5. November 1982. 1159 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ehmke an Wehner, 17. März 1982. 1160 Ebd.

253 nehmen. Den Brief leiteten sie auch an die Presse weiter.1161 An der Zeitfrage drohte die gesamte Kommission zu zerbrechen. In der Enquete-Kommission war mit acht zu acht Stimmen eine Patt- Situation entstanden. Wolf Häfele war ursprünglich bereit gewesen, für eine Zeitverlängerung zu votieren, hätte er von Andreas von Bülow ein positives Signal erhalten, dass dies nicht zu einer massiven Verzögerung beim Brüterbau und zu Finanzierungsschwierigkeiten führe.1162 Schäfer hatte vor der Abstim- mung ein entsprechendes Treffen in der Nachmittagspause organisiert, allerdings erschien von Bülow nicht wie zugesagt und war auch nicht zu erreichen; Häfele stimmte also mit der Unionsgruppe gegen eine Arbeitszeitverlängerung. Die mangelnde Erreichbarkeit des Forschungsministers lässt vermuten, dass Schäfers Ansinnen einer Arbeitszeitverlängerung seinen Interessen zuwiderlief. Harald B. Schäfer bezeichnete dies in einem Brief an von Bülow als „unerhört“ und „leichtfertig“. Damit sei „eine wichtige Chance vertan worden“1163. Anschlie- ßend wandten Laermann und Schäfer sich in einem Brief an den Bundeskanzler mit der Bitte, das Anliegen einer Verlängerung der Laufzeit der Kommission zu unterstützen.1164 Am 27. April wurde der Antrag von SPD und FDP auf eine Fristverlänge- rung vom 31. Juli bis spätestens 23. September 1982 in der Bundestagsfraktion der SPD besprochen.1165 Letztlich gelang es, den Vorschlag durchzubringen. Warum aber dieses zweite Terminzugeständnis so mühsam erkämpft werden musste, verwundert: Verlängerungen scheinen prinzipiell durchaus nichts Ehren- rühriges gewesen zu sein. Die Vorgängerenquete hatte ihren Bericht mit einmo- natiger Verspätung abgegeben. Die Enquete-Kommission Jugendprotest, geleitet von (CDU), die parallel zur Zukünftigen Kernenergie-Politik lief, konnte den Abgabetermin ebenfalls nicht einhalten.1166 Insofern muss davon ausgegangen werden, dass die Frist hier als Indiz für die Interessenlage zu wer-

1161 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner, von Ehrenstein und Meyer-Abich an Schäfer, 19. März 1982. 1162 AdsD IX–2/BTFI 000180, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, Vorlage für den Frakti- onsvorstand von Schäfer, 22. März 1982. 1163 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Schäfer an von Bülow, 19. März 1982; vgl. außerdem: ebd., Brief von Schäfer an Ehmke und Jürgen Linde. Vermerk: Weitere Arbeit der Enquete- Kommission, 22. März 1982. 1164 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Laermann und Schäfer an Helmut Schmidt, 24. März 1982. 1165 AdsD IX–2/BTFI 000050, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 27. April 1982. 1166 Harald B. Schäfer, Brutreaktorpolitik, in: Tagesdienst. Informationen der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion Nr. 437, 29. April 1982, S. 3.

254 ten ist. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte nach dem Verlängerungsantrag, dass der Enquete-Kommission „ein intensives Tauziehen“ bevorstehe.1167

Problemfaktor Informationsfluss

Aber nicht nur die Ressource Zeit war knapp, auch Informationen und Doku- mente gab es nur spärlich. Der Wissensfluss von GRS und BMFT in Richtung FGSB schien immer wieder zu stocken. Die FGSB warf dem BMFT und der GRS-Forschungsgruppe um Birkhofer vor, Gutachten und andere Materialien bewusst nicht zur Verfügung zu stellen. Dies wurde von Seiten der FGSB bereits seit August 1981 moniert.1168 Nach verschiedenen Absagen witzelte Benecke: „Der Ministör, der Ministör: Ein Nadelöhr, ein Nadelöhr.“1169 Auf der einen Seite mag hier die Begründung zutreffen, dass es sich um sensible Unterlagen handelte, die industrielles Know-how betrafen. Gegen die Weitergabe solcher Arbeiten hatte beispielsweise die SBK Bedenken.1170 Inso- fern liegt es gewissermaßen auf der Hand, dass erst nach Abschluss der Verträge im Dezember eine Rechtsgrundlage geschaffen worden war, die es KfK, SBK und der Firma Interatom erlaubte, brüterspezifische Unterlagen weiterzuge- ben.1171 Auf der anderen Seite scheint aber in den Begründungen immer wieder der Hinweis durch, die Informationen, die die FGSB anfordere, gehörten nicht zu ihrem Aufgabenfeld. Entsprechend erklärte von Bülow der Süddeutschen Zei- tung, die Schwierigkeiten seien dadurch entstanden, dass die mit der Brütertechnologie kaum vertrauten Forscher erst „in einem längeren internen Diskussionsprozess die für die Arbeitsziele erforderliche Auswahl aus der Fülle des national und international vorliegenden Materials treffen konnte.“1172 Ähn- lich argumentierte das KfK: Die Datensätze, mit denen bereits an anderer Stelle gearbeitet wurde, würden nicht an die FGSB weitergegeben, da sie vorläufig seien und die Ergebnisse daher nicht relevant.1173

1167 Harte Zeiten für den sanften Weg. Der zweiten Enquete-Kommission zur Energiepolitik steht ein intensives Tauziehen bevor, in: SZ, 16./17. April 1981. 1168 AdsD IX–2/BTFI 000118, SPD-Fraktionsvorstand, Anhang zum Sitzungsprotokoll von Harald B. Schäfer, 8. März 1982. 1169 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Schäfer, 6. November 1981 (Eingangsdatum). 1170 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Rudolf Harde (KfK) an Schäfer, 20. Oktober 1981. 1171 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an von Bülow, 23. März 1982. 1172 In: SZ, 22. März 1982. 1173 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Heusener (KfK) an Schäfer, 4. März 1982.

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Birkhofer mutmaßte, dass man nur die Informationen bekomme, von denen angenommen werde, dass man mit ihnen auch umgehen könne.1174 Dies signali- siert unter Umständen einen entscheidenden Faktor, an dem die Zusammenarbeit scheiterte: das mangelnde Vertrauen. Dafür sprächen die Briefe von der Messer- schmidt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB), deren Mitarbeiter einen Bericht für das Parallelgutachten erstellten, sich aber über den Umgang mit ihren Ergebnissen von Seiten der FGSB ärgerten. Nicht nur würden Copyright-Regelungen miss- achtet,1175 Benecke reiße auch Zusammenhänge wissentlich auseinander und kennzeichne eigene Interpretation und MBB-Aussage nicht als solche.1176 Diese Kritik unterstreicht das mangelnde Vertrauen in die Arbeitsmethoden der FGSB. Ganz grundsätzlich scheint der Informationsfluss zu den Gegnern der Kern- energie eher stockend verlaufen zu sein. Ähnliche Beschwerden finden sich übrigens auch im Bericht über das Gorleben-Hearing, wo die Weitergabe des Sicherheitsberichts der DWK sich ebenso schwierig gestaltete wie die Versen- dung der Gutachten durch RSK und SSK.1177

Problemfaktor Zusammenarbeit

Letztlich scheiterte eine Zusammenführung der Ergebnisse beider Gruppen nicht nur am engen Zeitkorsett und dem stockenden Wissensfluss, sondern vor allem an Missstimmungen – genauer, dem fehlenden Vertrauen: Um in der kurzen Zeit noch zu einer Diskussion der Ergebnisse von beiden Gruppen zu kommen, wur- den Vorbereitungen getroffen, um in einer dreitätigen Klausurtagung, moderiert von Reinhard Ueberhorst, eine gemeinsame Synopse der beiden Gruppen zu erarbeiten. Ueberhorst betonte in einem Brief gegenüber Benecke die Notwen- digkeit einer gemeinsamen Darstellung, da zwei konträre Gutachten nur der ‚Brütercommunity‘ zugute kämen.1178 Der Auftrag an Ueberhorst, der auch die anschließende Redaktion einge- schlossen hätte, sollte gemeinsam von Birkhofer und Benecke erteilt werden.1179 Als Ueberhorst sich allerdings bereit erklärte, hatte Birkhofer sein Einverständ- nis zurückgezogen.1180 Hintergrund war, dass Benecke nicht unbedingt für ver- trauensbildende Maßnahmen gesorgt hatte: Ein Gutachten, das die Arbeit der

1174 Gespräch mit Adolf Birkhofer, Garching 5. Mai 2007. 1175 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Heise (MBB) an Benecke, 16. September 1982. 1176 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Heise (MBB) an Benecke, 28. September 1982. 1177 Hatzfeldt/Hirsch/Kollert, Der Gorleben-Report, S. 12. 1178 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ueberhorst an Benecke, 5. Juli 1982. 1179 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Ueberhorst, 25. Juni 1982. 1180 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Ueberhorst, 17. Juli 1982, S. 3.

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Birkhofer-Gruppe kritisierte, ging zunächst an die Süddeutsche Zeitung1181 an- statt an die betroffenen Wissenschaftler. Klaus Köberlein, Mitarbeiter der GRS, bezeichnete es in einem Brief an Benecke als befremdlich, durch die Presse von den Ergebnissen eines solchen Gutachtens über die eigene Arbeit informiert zu werden, während die beiden Gruppen gerade daran gingen, die unterschiedlichen Standpunkte in Abstimmungsgesprächen zu diskutieren. Es sei ein ‚Mindestge- bot der Fairness‘, dieses Gutachten zunächst der kritisierten Gruppe zur Kenntnis zu geben. Die GRS zog daraus die Konsequenz, für weitere im Juli geplante Abstimmungsgespräche nicht zur Verfügung zu stehen.1182 Benecke versuchte danach den Vorfall zu klären – es habe sich um einen ‚unglücklichen Zufall‘ gehandelt – und bemühte sich um eine Aussprache für die Endredaktion.1183 Als „spannend bis dramatisch“ bezeichnete Reinhard Ueberhorst, der zunächst weiter in die Arbeiten einbezogen wurde, die Situation.1184 Als nächstes stellte das BMFT sich gegen einen Unterauftrag an Ueberhorst.1185 Dies hatte zum einen formale Gründe, so fehlten diverse Unterla- gen, zum andern gab es Bedenken, da ein solcher Auftrag über naturwissen- schaftlich-technische Fragen hinausginge und eine politische Bewertung mit einbeziehe, die Aufgabe der Enquete-Kommission, nicht aber der Parallelfor- schung sei.1186 Nachdem ein gemeinsamer Auftrag an Ueberhorst von Benecke und Birkhofer vorlag, wandte sich auch Schäfer noch einmal mit der Bitte an von Bülow, dem Anliegen nachzukommen. Er wisse, „daß die Vergabe eines Auf- trags durch Benecke politisch nicht ohne Sensibilität“ sei. Da nun aber ein ge- meinsamer, begrenzterer Auftrag vorliege, würden die politischen Bedenken nicht durchschlagen.1187 Letztlich kam es nicht dazu. Im September 1982 gab es noch einmal ein Seminar in Garching, bei dem der Versuch unternommen wer- den sollte, die Ergebnisse der GRS- und FGSB-Studie miteinander zu verglei- chen und – wenn möglich – aufeinander abzustimmen. Die Mitglieder der Kommission waren dazu eingeladen, als „stille Beobachter“ teilzunehmen.1188 Der Umgang mit Informationen stellte sich durchgängig als Hindernis in der Zusammenarbeit dar. Im September gab es erneut den Vorwurf eines „groben

1181 Schlicht abenteuerlich ..., in: SZ Nr. 135, S. 34. 1182 AdsD Depositum Schäfer, Brief von GRS (Köberlein und Werner) an Benecke, 8. Juli 1982. 1183 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Köberlein und Werner (GRS), 8. Juli 1982; vgl. auch: ebd., Brief von Benecke an Schäfer, 8. Juli 1982. 1184 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ueberhorst an Schäfer, 19. Juli 1982. 1185 Vgl. zum Antrag Beneckes: AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Karl-Heinz Krewert (Min.Rat im BMFT), 4. August 1982. 1186 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Krewert (BMFT) an Benecke, 28. Juli 1982. 1187 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Schäfer an von Bülow, 4. August 1982. 1188 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Schmölling an die Kommissionsmitglieder, 20. August 1982.

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Vertrauensbruches“ Beneckes von Seiten Birkhofers. Dabei ging es um Ton- bandaufnahmen der gemeinsamen Sitzungen, die Benecke in dem Bericht veröf- fentlichen wollte. Benecke erklärte seinerseits, dass dies bekannt gewesen sei und das Tonbandgerät offen auf dem Tisch gelegen habe.1189 Letztlich waren die Probleme des Parallelgutachtens Resultat einer unglei- chen Ressourcenverteilung: Die betrifft nicht nur die Zeit, sondern auch Informa- tionen und Vertrauen. Das mangelnde Vertrauen zwischen Befürwortern und Gegnern des Brüters ist sicherlich zu guten Teilen auf undiplomatische und un- geschickte Aktionen der FGSB zurückzuführen. Ungeachtet der Schwierigkeiten kam das Experiment Parallelforschung zu ersten Ergebnissen. Am 6. September sandte Erwin Stahl, der Parlamentarische Staatssekretär beim BMFT, den Ergebnisbericht der FGSB und den Schlussbe- richt der GRS an die Enquete-Kommission; es standen noch Anhänge der FGSB sowie eine Stellungnahme der GRS zum Bericht der FGSB aus.1190 In einer folgenden Pressekonferenz erläuterte der Sekretariatsleiter Klaus Schmölling – nicht etwa der Vorsitzende –, weshalb die Kommission über das Benecke-Gutachten zunächst innerhalb des Gremiums diskutieren wolle.1191 Laut Schmölling sei die Enquete bestrebt, erst eine eigene Meinung zu bilden. Dabei prognostizierte er, dass sich die Kommission bei der Empfehlung zum Schnellen Brüter in ein Minderheits- und ein Mehrheitsvotum spalten werde.1192 Benecke hatte vom Bundesforschungsministerium offenbar ein Presseverbot erhalten.1193 Das Parallelgutachten wurde immer mehr innerhalb der Enquete-Sitzungen bearbeitet, um zwischen den beiden Gruppen vermittelnd einzugreifen und den Arbeitsprozess abzukürzen. Dies belastete die Enquete, da zum einen die anderen Arbeitsfelder daraufhin vollkommen vernachlässigt wurden; zum anderen wur- den die Konflikte und Auseinandersetzungen der beiden Gruppen ungefiltert in die Kommission hineingetragen. Die Chance, Konsenslinien vorher abzustecken, war also auf ein Minimum reduziert. Gleichzeitig wäre ein gewisser Abschluss der Studie, wie er in Ansätzen gefunden wurde, ohne dieses Vorgehen nicht möglich gewesen. Die Leistung, die Harald B. Schäfer immer wieder zugeschrieben wurde, war gerade eben dies: Als absehbar war, dass die Parallelstudie nicht parallel zu Ende geführt werden konnte, zog er diese Arbeit in die Kommissionssitzungen

1189 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Benecke an Birkhofer, 20. September 1982. 1190 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Erwin Stahl an Schäfer, 6. September 1982. 1191 Ministerium untersagt Pressekonferenz, in: Die Welt, 15. September 1982. 1192 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 242f. 1193 Weißer Elefant am Ufer des Rheins. Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor bleiben weiter umstritten, in: Vorwärts, 25. September 1982.

258 hinein, um zumindest eine gewisse ausgewogene Wissensgrundlage für die Emp- fehlung der Kommission zu schaffen.1194

e. Das Ergebnis der Enquete-Kommission

Die Kommission musste ihre Empfehlung auf der Grundlage zweier kontroverser Gutachten und nicht – wie gewünscht – einem gemeinsamen Bericht der beiden Forschergruppen erstellen. Immerhin lagen Gutachten beider Seiten vor, so dass die Forderung der Vorgängerenquete, Kernenergiekritiker einzubeziehen, zu- mindest teilweise erfüllt war. Die bestehende Kommission war trotz der massi- ven Dissonanzen nicht zerbrochen und in der Lage, eine Empfehlung hinsichtlich einer möglichen Inbetriebnahme des Reaktors in Kalkar abzugeben – wenn auch, wie erwartet, keine gemeinsame. Diese legte sie dem Bundestag am 27. Septem- ber 1982 als ‚Zwischenbericht‘ überschriebene, inhaltlich allerdings als Einzel- bericht zu charakterisierende Schrift vor. Die Voten sind in manchen Teilen durchaus überraschend. Zwar empfahl die Mehrheit erwartungsgemäß, den Schnellen Brüter in Betrieb zu nehmen; das Risiko des SNR300 liege „in der gleichen Bandbreite wie jenes der in Betrieb befindlichen Leichtwasserreaktoren“1195. Allerdings entsprach diese Aussage nur teilweise den Ergebnissen der GRS-Studie, auf die sich die Kommissionsmehr- heit in ihrer Begründung stützte.1196 Die Studie ging wesentlich weiter und kam zu dem Schluss, dass der SNR300 in verschiedener Hinsicht ‚wesentlich siche- rer‘ sei als ein Leichtwasserreaktor.1197 Mit der Annahme einer vergleichbaren Sicherheit galt eine Inbetriebnahme den Vorgaben der Vorgängerenquete ent- sprechend als politisch verantwortbar. Zur Frage der politischen Verantwortbarkeit fügte die Mehrheit ihrer Be- gründung eine Anlage an. Darin wurde das bereits während des Beratungs- prozesses immer wieder dokumentierte mangelnde ‚Vertrauen‘ in die Studie der FGSB aufgrund ihrer Methoden, Eingangsdaten und Wertungen zum Ausdruck gebracht. Von einer Stellungnahme zu dem öffentlich heiß diskutierten Punkt,

1194 So äußerten sich alle von der Kommission befragten Sachverständigen. 1195 Deutscher Bundestag (Hg.), Der „schnelle Brüter“ in Kalkar. Beschluß des Bundestages zur Inbetriebnahme. Bericht und Empfehlung der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie- Politik“. Stellungnahme des Ausschusses für Forschung und Technologie. Aussprache und Be- schluß des Plenums (Zur Sache 2/83), Speyer 1983, S. 20. 1196 Ebd., S. 35. 1197 Ebd., S. 32: Die Wahrscheinlichkeit eines Bethe-Tait-Störfalls sei deutlich kleiner als bei einem LWR.

259 dem rasant steigenden Investitionsbedarfs beim SNR300, distanzierte man sich, da diese Frage nicht zum Mandat der Enquete-Kommission gehöre.1198 Hinzu kam eine weitere Anlage, ein Sondervotum zu den Ergebnissen der FGSB-Studie, das nur von einem Teil der Mehrheit – Adolf Birkhofer gehörte nicht zu den Unterzeichnern – getragen wurde. In diesem Votum wurden die Unfallfolgen, die die FGSB-Studie mit 2,7 Millionen Toten und einer langfristig verseuchten Fläche in der doppelten Größe des Landes Nordrhein-Westfalen be- zifferte, als ‚unhaltbare Behauptung‘ zurückgewiesen. Aufgrund der ‚un- glaubhaften‘ Resultate folgerte die Gruppe, dass die Ergebnisse insgesamt kein Vertrauen verdienten. Der Versuch einer Einbeziehung ‚so genannter Kritischer Wissenschaftler‘ in Entscheidungen sei gescheitert.1199 Damit nicht genug, zur Begründung des Mehrheitsvotums gab es darüber hinaus ein Sondervotum von Reuschenbach und Pfeiffer, die als Motiv ihrer Entscheidung ‚Mut zur Technologieentwicklung und die damit zwangsläufig verbundene Risikobereitschaft‘ anführten. Sie erkannten die Parallelforschung insofern an, als diese die bisherige Sicherheitsdiskussion erweitert habe und eine wertvolle Dokumentation des Wissensstandes darstelle.1200 Personell hatte sich die Votenverteilung gegenüber der Vorgängerenquete dahingehend verändert, dass Häfele und Laermann mit der unionsgeführten Mehrheit stimmten. In der politischen Wertung war die Empfehlung damit frak- tionsübergreifend sowie vom DGB-Vertreter gestützt – aber auch in sich umstrit- ten. Auch wenn das Minderheitsvotum der Schäfer-Kommission zunächst weder inhaltlich noch personell sonderlich überraschte, so stützte es sich ebenfalls nur begrenzt auf die erstellten Gutachten. Die entscheidende Begründung gegen eine Inbetriebnahme war, dass für eine politische Wertung der Beweis geführt werden müsse, dass der Nutzen des Reaktors es rechtfertige, das damit verbundene Risi- ko zu akzeptieren. Dieser Beweis sei weder erbracht worden noch möglich, vielmehr sei das, „was vor zwei Jahrzehnten für den SNR sprach, [...] durch die tatsächliche Entwicklung weitgehend überholt“1201. Neben der Sicherheitstechnik wurde im Minderheitsvotum auf die energiewirtschaftliche und energiepolitische Notwendigkeit verwiesen, die nicht mehr gegeben sei. Lange Vorlaufzeit, enor- me Kosten und geringe Innovationsimpulse – zusammengefasst volkswirtschaft- liche Erwägungen – sprächen letztlich gegen eine Inbetriebnahme des Reak- tors.1202

1198 Ebd., S. 36f. 1199 Ebd., S. 38f. 1200 Ebd., S. 55f. 1201 Ebd., S. 23f. 1202 Ebd., S. 24.

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In ihrer Begründung verfuhr die Kommissionsminderheit ähnlich wie die Mehrheit: Die Methode der GRS-Studie, die Wahrscheinlichkeit, mit der der Auslegungswert der Freisetzung mechanischer Energie beim SNR überschritten werde, mit Hilfe einer Expertenbefragung im Umkreis von Brüterentwicklern zu berechnen, wurde in ihrer Valenz in Frage gestellt. Die Unterzeichner sahen sich veranlasst, die von der GRS-Studie behaupteten Unfallwahrscheinlichkeiten als ‚wissenschaftlich nicht hinreichend gesichert‘ zu bezeichnen.1203 Eine ähnliche, wenn auch geringfügig elegantere Argumentation als bei Teilen des Mehrheits- votums. Abschließend wurde im Minderheitsvotum noch einmal versucht, an die Kompromisslinie der Vorgängerenquete anzuknüpfen: Man könne über eine Inbetriebnahme diskutieren, wenn Maßnahmen bezüglich der Nutzung von Son- nenenergie sowie der Intensivierung des Energiesparens verstärkt ergriffen wür- den und wenn zudem der Nutzen des Schnellen Brüters einsichtig werde.1204 In einem Punkt waren Mehrheit und Minderheit sich einig: Im Laufe der Studie – und dies ist vermutlich das stärkste Argument für den Sinn eines sol- chen parallelen Vorgehens – wurden sechs Schwachstellen des SNR300 offen- kundig, die beseitigt werden sollten. Dies nahm der Ausschuss für Forschung und Technologie in seine Empfehlung auf.1205 Nach Abgabe der Empfehlung der Enquete-Kommission drängte die Zeit, da die geplante Finanzbeteiligung am Schnellen Brüter der Wirtschaft nicht län- ger zuzumuten sei. Um die parlamentarische Beratungszeit zu verkürzen, wurde darauf verzichtet, den Wirtschaftsausschuss mitberatend einzusetzen. Jeder zu- sätzliche Ausschuss hätte laut Ulrich Steger ein zusätzliches Risiko dar- gestellt.1206 Mit der Brüterempfehlung war die Arbeit der Enquete-Kommission prak- tisch abgeschlossen. Zwar trat Reuschenbach noch im Dezember auf eigenen Wunsch aus der Enquete aus und wurde durch Josef Vosen ersetzt. Parallel dazu wurde jedoch bereits über Neuwahlen diskutiert, die automatisch eine Auflösung der Kommission bedeuteten.1207 Aufgrund des Machtwechsels legte das Gremi- um abschließend lediglich einen Bericht über den Stand der Arbeit vor. Dieser enthielt außer einem Vorschlag der Minderheit, in der 10. Wahlperiode die En- quete wieder einzusetzen, keinerlei Empfehlungen. Mit der Minderheit stimmten die drei Abgeordneten der SPD und vier ihrer Experten – Häfele blieb auf Seiten

1203 Ebd., S. 96f. 1204 Ebd., S. 110. 1205 Ebd., S. 158. 1206 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Ulrich Steger an Reuschenbach (Stellvertretender Vorsit- zender des Ausschusses für Wirtschaft), 1. September 1982. 1207 AdsD IX–2/BTFI 000072, SPD-Bundestagsfraktion, Sitzungsprotokoll, 7. Dezember 1982, S. 1.

261 der Union. Die unionsgeführte Mehrheit hielt eine erneute Berufung der Kom- mission für eine von mehreren Möglichkeiten.1208 Das Sekretariat stellte „im Auftrag der Kommission, aber in eigener Verantwortung“1209 einen Materialien- band mit den in der Kommission kontrovers ausgefallenen Positionen zu ener- giepolitischen Fragen zusammen.1210 Die Enquete-Kommission als Ganze fand keinen Abschluss und konnte ihren Auftrag nur teilweise erfüllen.1211 Beispiels- weise wurden die vier Pfade im Hinblick auf volkswirtschaftliche und Kostenge- sichtspunkte im Plenum nicht diskutiert – dies kann allerdings nicht der Enquete- Kommission angelastet werden, sondern in erster Linie den politischen Ereignis- sen. Die Gutachten, die für die anderen Arbeitsfelder erstellt wurden, fanden ei- ne zweite Nutzung: Altner und Meyer-Abich versuchten, vieles aus der Kon- kursmasse der Kommission zu retten: Vorarbeiten wie die volkswirtschaftlichen Berechungen der Pfade flossen in die Studie Soziale Verträglichkeit von Ener- giesystemen. Auf die politische Empfehlung der Enquete-Kommission scheinen die Er- gebnisse der beiden Studien nur marginalen Einfluss gehabt zu haben. Sie wur- den zwar legitimatorisch angeführt, hatten aber in der kurzen Begründung beider Voten keinen nachhaltigen Stellenwert.

f. Rezeption der Kommissionsarbeit

In den Medien wurde die Parallelforschung aufmerksam verfolgt. Die Gutachten wurden, noch bevor irgendwelche Ergebnisse vorlagen, in den Medien kommen- tiert. Dies scheint das Ergebnis einer bewussten Pressepolitik verschiedener Sachverständiger gewesen zu sein. So kommentierte die FAZ bereits am 28. Juli die Risikoanalyse mit der Überschrift „Mängel und falsche Erwartungen“1212. Martin Urban von der Süddeutschen Zeitung hielt eine Spaltung der Kom- mission für absehbar: „Zu stark divergieren die Vorstellungen und teilweise auch die Interessen der Mitglieder dieser Kommission; was freilich schon in ihrer

1208 PA DBT Drs. IX/2438, Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘ über den Stand der Arbeit, 24. März 1983. 1209 PA DBT Drs. IX/2439, Materialband zum Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kern- energie-Politik‘ über den Stand der Arbeit, 24. März 1983, Fußnote Nr. 281. 1210 PA DBT Drs. IX/2438, Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘. Über den Stand der Arbeit, 24. März 1983. 1211 Altenhof, Die Enquete-Kommissionen, S. 264. 1212 Risikoanalyse – Mängel und falsche Erwartungen, in: FAZ, 28. Juli 1982, S. 23.

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Bestallung abzusehen war.“1213 Der Autor sah ganz offensichtlich das Ergebnis der Enquete-Kommission kritisch: Er verwies auf die Problematik, dass die Gut- achter der GRS Umfragen unter selbst ausgewählten Experten herangezogen hätten, „um mittels ‚subjektiver Wahrscheinlichkeiten‘ zu dem Schluß zu kom- men, daß der SNR300 nicht explodieren könne.“1214 Die Glaubwürdigkeit wurde außerdem insofern in Frage gestellt, als Wolf Häfele, dessen „Irrtumsmarge [...] auch dann groteske Dimensionen [erreicht], wenn man die Mehrkosten durch neue Sicherheitsauflagen außer acht läßt“1215, zusammen mit dem Hersteller der Brennelemente als Experte herangezogen worden war. Die Gutachten blieben für Urban „höchst unbefriedigend.“ Die FAZ erläuterte das Mehrheitsvotum und deutete am Ende kurz an, dass sich hinter der sicherheitstechnischen Bewertung des Reaktors auch ein Metho- denstreit verberge; Gegner und Befürworter warfen sich gegenseitig vor, mit unwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten. Erwähnt wurde weiter der Vorwurf der Befürworter, dass die Kritiker zahlreiche Fehler gemacht und unkritisch Außenseitermeinungen übernommen hätten, „die zu einer ‚extrem pessimisti- schen‘ Beurteilung der Schadensanfälligkeit des Brutreaktors verleitet hät- ten.“1216 Als der Bericht der Enquete-Kommission1217 am 30. September 1982 erst- mals im Bundestag debattiert wurde, waren die FDP-Minister bereits zurückge- treten. Die Probleme in der Koalition über den NATO-Doppelbeschluss, den Bundeshaushalt und die Kernenergiefrage hatten sich soweit zugespitzt, dass Lambsdorff mit seinem Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachs- tumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit quasi ein ‚Scheidungs- papier‘ einreichte.1218 Eine Verhärtung der Positionen hatte sich bereits im Au- gust 1981 bei den Koalitionsverhandlungen angekündigt. Apel zufolge fehlte es Lambsdorff und Genscher an Kompromissbereitschaft. Letztlich lenkte die FDP teilweise ein, setzte in den Verhandlungen aber mehr durch als die SPD.1219 Die Bundestagsdebatte über die Enquete-Kommission wurde mit dem Zwi- schenruf von Steger eröffnet: „Die Kommission hat gebrütet und sich gleich

1213 Eine Mehrheit für den Schnellen Brüter. Risiken und Kosten der Versuchsanlage schrecken die Befürworter in der Enquêtekommission nicht ab, in: SZ, 24. September 1982. 1214 Ebd. 1215 Ebd. 1216 Für Inbetriebnahme des Schnellen Brüters. Mehrheitsempfehlung der Enquete-Kommission Energiepolitik, in: FAZ, 25. September 1982. 1217 PA DBT Drs. IX/2001, Zwischenbericht der Empfehlungen der Enquete-Kommission ‚Zukünf- tige Kernenergie-Politik‘ über die Inbetriebnahme der Schnellbrüter-Prototypanlage SNR300 in Kalkar. 1218 Zum wirtschaftspolitischen Konflikt der Koalitionsparteien vgl.: Abelshauser, Deutsche Wirt- schaftsgeschichte, S. 441f. 1219 Apel, Der Abstieg, S. 158f.

263 gespalten!“1220 Tatsächlich wurden in der Sitzung die maßgeblichen Konflikte der Kommission deutlich. Gerstein erklärte, dass die Union gemeinsam mit der Kommissionsmehrheit die Arbeit und den ‚Konsens‘ der Ueberhorst- Kommission ‚konsequent‘ weitergeführt habe – ganz im Gegensatz zur Minder- heit. Er legte die Zweifel an der Kompetenz und Qualifikation der FGSB dar; Grundlage dieser Kritik sei der Fehlernachweis von Birkhofer, der genauso lang sei wie der Bericht der FGSB selbst.1221 Schäfer seinerseits griff die Kritik aus dem Minderheitsvotum auf, wissen- schaftlich fundierte Wahrscheinlichkeitsannahmen seien den Studien der GRS nicht zu entnehmen.1222 Laermann betonte die positiven Seiten der Parallelfor- schung und beschrieb, dass es quasi unmöglich sei, eine derart komplexe Frage in Parlamentsausschüssen aufzuarbeiten. Ein Parlamentarier könne kaum die wissenschaftliche Qualifikation von der Eleganz des Vortrages und der besser passenden Krawatte unterscheiden. Schäfer warf er vor, dass dieser das Risiko in seinem Gesamtzusammenhang nicht aber in der Frage der technischen Sicherheit beurteile. Der Gesamtzusammenhang sei erst in einer zweiten Phase der Kom- missionsarbeit zu erledigen.1223 Hier zeigen sich die Beschränkungen, die aus dem Splitting der Aufgabestellung resultieren. Die Kommissionsempfehlung wurde in der Sitzung federführend an den Ausschuss für Forschung und Technologie und mitberatend an den Innenaus- schuss und den Ausschuss für Wirtschaft überwiesen.1224 Am Tag darauf erfolgte das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. In der Abstimmung gewann Helmut Kohl, der zwei Stunden später als Kanzler vereidigt wurde. Die weitere Beratung der Kommissionsempfehlung fand vor dem Hintergrund des Machtwechsels statt. Helmut Schmidt erklärte am 26. Oktober vor der SPD-Bundestagsfraktion, warum er nicht mehr als Kanzler zur Verfügung stehe. In den beiden kontrover- sen Punkten NATO-Doppelbeschluss und Kernenergie könne er die Politik, die er für richtig halte, nicht mit der SPD vollziehen.1225 Zur Brüterfrage wurde in der SPD-Bundestagsfraktion eine Vorlage der Ar- beitskreise Innenpolitik und Wirtschaftspolitik angenommen, die empfahl, den Vorbehalt zur Inbetriebnahme nicht aufzuheben. In der Begründung hieß es unter anderem, dass die von der Enquete in Auftrag gegebenen Arbeiten zur Sicher-

1220 PA DBT PlPr. IX/117, 30. September 1982, S. 7122. 1221 Ebd., S. 7123f. 1222 Ebd., S. 7125f., 7128. 1223 Ebd., S. 7129ff. 1224 Ebd., S. 7132. 1225 Apel, Der Abstieg, S. 228f.

264 heitsanalyse gezeigt hätten, dass wichtige Sach- und methodische Fragen der Sicherheitsanalyse noch nicht geklärt seien.1226

Zur Inbetriebnahme des Brüters

Der Bundestag hob am 3. Dezember 1982 auf Grundlage der Mehrheits- empfehlung der Enquete-Kommission und einer Bestätigung derselben durch den Ausschuss für Forschung und Technologie mit Mehrheit den am 14. Dezem- ber 1978 beschlossenen Vorbehalt gegen die Inbetriebnahme des Schnellen Brü- ters auf. Stavenhagen bezeichnete dies als „Signal der Hoffnung und Ver- nunft“1227. Die endgültige Entscheidung über die Inbetriebnahme war von der zuständigen Genehmigungsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen zu treffen. Vorangegangen war eine Debatte mit zwei Anträgen: zum einen die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie zum Zwi- schenbericht der Enquete-Kommission1228 sowie zum andern der Antrag der SPD-Fraktion, den Inbetriebnahmevorbehalt nicht aufzuheben.1229 Damit schlos- sen sich die Sozialdemokraten aber nicht der Minderheitsempfehlung der En- quete an, die Inbetriebnahme zu verweigern. Steger (SPD) fasste die Diskussion mit dem einleitend angeführten ‚Kaugummi-Zitat‘ zusammen. Für Lenzer (CDU) war die Notwendigkeit der Inbetriebnahme aus wirt- schaftlicher und forschungspolitischer Sicht dringlich.1230 Laermann (FDP) be- fürwortete die Inbetriebnahme, da ihre politische Verantwortbarkeit nun nach- gewiesen sei. Die Finanzierung sei eine andere Frage, der aber der Bundestag nicht im Weg stehen dürfe.1231 Der Kreis zur Bundestagsdebatte von 1978 schloss sich mit den Reden von zwei früheren ‚Brüterrebellen‘. Die inzwischen fraktionslose Helga Schuchardt erinnerte an die FDP-Parteitagsbeschlüsse und an die Aufgabe, die persönliche Freiheit des Einzelnen vor dem drohenden Über- wachungsstaat zu schützen.1232 Steger (SPD) legte dar, warum die Inbetriebnah- me nicht erfolgen solle; dabei schilderte er das ‚Experiment‘ Parallelforschung

1226 AdsD IX–2/BTFI 000070, SPD-Bundestagsfraktion, Anlage zum Sitzungsprotokoll, 23. No- vember 1982; PA DBT Drs. IX/2130, Antrag der Fraktion der SPD, 24. November 1982. 1227 Zitiert nach: Für Inbetriebnahme des Schnellen Brüters. Mehrheitsempfehlung der Enquete- Kommission Energiepolitik, in: FAZ, 25. September 1982. 1228 PA DBT Drs. 9/2205, Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie zum Zwischenbericht und der Empfehlung der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘, 1. Dezember 1982. 1229 PA DBT Drs. IX/2130, Antrag der Fraktion der SPD, 24. November 1982. 1230 PA DBT PlPr. IX/134, 3. Dezember 1982, S. 8305f. 1231 Ebd., S. 8310f., 8313. 1232 Ebd., S. 8313.

265 folgendermaßen: „Es war kein Ruhmesblatt für die deutsche Nuklearforschung, daß hier Diplomanden gegen etablierte Professoren antreten mußten, weil die für die Glaubwürdigkeit notwendige Pluralität der Nuklearwissenschaft auf diesem Fachgebiet nicht anders zu demonstrieren war.“1233 Die Inbetriebnahme solle nicht erfolgen, da keine Entscheidungsgrundlage vorhanden sei, eine Neubewer- tung ausstehe, die Finanzierung nicht gesichert sei und die Aussagen der En- quete-Kommission unvollständig seien.1234 Den neuen Mehrheitsverhältnissen entsprechend wurde die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie angenommen und der Antrag der SPD abgelehnt.1235 Zwei Wochen später folgte die Vertrauensfrage von Helmut Kohl. Die Neuwahlen am 6. März 1983 bestätigten Kohl im Amt. In der nachgelagerten Debatte zeigte sich, dass der Diskurs vor allem von den Begriffen ‚Glaubwürdigkeit‘ und ‚Vertrauen‘ geprägt war. Die Qualifikation der Wissenschaftler sowie der von ihnen angewandten Methoden wurden disku- tiert, und beiden Forschergruppen wurde Interessengeleitetheit vorgeworfen. Während die SPD keine Entscheidung auf der Grundlage von unsicherem Wis- sen fällen wollte, reichte der Union das Wissen über Sicherheit. Gleichwohl übernahm die Union nicht die Aussage der kernenergiebefürwortenden Experten. An der Oberfläche behielt die etablierte deutsche Nuklearwissenschaft zunächst die Deutungshoheit – wenn auch mit Rissen, die sich dann in der Folgezeit ver- größerten und mit dem Unfall von Tschernobyl 1986 für einen partiellen Um- schwung sorgten. Die strukturelle Diskussion dominierte über die inhaltlichen Fragen.

Inbetriebnahme des Brüters?

Dass sich Überzeugung und Regierungshandeln nicht unbedingt decken, zeigte sich, als Forschungsminister Andreas von Bülow nach seiner Amtszeit im No- vember 1982 verlautbaren ließ: „Ich hätte dem Kabinett empfohlen, beide fortge- schrittenen Reaktorlinien einzustellen.“1236 Innerhalb seiner Amtszeit hatte er sich für beide Reaktorlinien eingesetzt, wie sein Verhalten gegenüber der En- quete-Kommission zeigte. Anscheinend hatte von Bülow eine Neubewertung durch seine Ministerialreferenten Peter Kutschke und Hermann-Friedrich Wag- ner eingeleitet, die ihn zu dem Schluss brachte, dass die neuen Reaktoren auch

1233 Ebd., S. 8308. 1234 Ebd., S. 8309. 1235 Ebd., S. 8315. 1236 Zitiert nach: Brüter – nein danke! Die neuen Reaktoren sind unwirtschaftlich, in: Die Zeit, 5. November 1982.

266 bis weit ins kommende Jahrtausend hinein nicht konkurrenzfähig zu Leichtwas- serreaktoren werden würden. Dies allerdings hatte nach dem Übergang des Am- tes auf Heinz Riesenhuber nur noch wenig Bedeutung; der Bundesminister trieb die Fertigstellung der Reaktorlinien voran.1237 Auf dem Dortmunder Wahlparteitag der SPD begann der Ausstieg der ge- samten Partei aus der bisherigen Politik in Sachen Kernenergie. Erstes ‚Opfer‘ war der Schnelle Brüter; die Nutzung der Kernenergie wurde als „immer weniger zu verantworten“ bezeichnet.1238 Im Juni des folgenden Jahres, unter der Kohl-Regierung, wurde ein Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion Die Grünen einge- reicht, dass der Bericht über den Stand der Arbeit der Enquete-Kommission – also nicht die Empfehlung zum Brüter – an den Ausschuss für Forschung und Technologie federführend und an den Innenausschuss sowie den Wirtschaftsaus- schuss mitberatend überwiesen werden solle.1239 Im Jahre 1985 sollte eine ab- schließende Beratung der Enquete-Kommission stattfinden. Zu diesem Anlass legte die Unionsfraktion im Ausschuss für Forschung und Technologie einen Antrag vor, dass der Brüter in Kalkar unverzüglich fertig gebaut und in Betrieb zu nehmen sei. Darin enthalten war auch ein Appell an die Genehmigungsbehör- de Nordrhein-Westfalens, keine Verzögerungen zuzulassen. Den Auftrag der Enquete-Kommission sah die Union dabei als erfüllt an.1240 Die SPD hingegen trat für eine Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission ein, was jedoch vom Innenausschuss abgelehnt wurde.1241 Der Ausschuss für Forschung und Technologie empfahl mehrheitlich, die Bundesregierung solle die kommerziell nutzbaren Nachfolgeanlagen des SNR300 und THTR in eigener Verantwortung weiter verfolgen und dabei die Stellungnahmen der Enquete-Kommission berücksichtigen. Die SPD votierte dafür, dass die Bundesregierung Studien zu den noch offenen Fragen erstellen sollte wie zum Beispiel zu den volkswirtschaftlichen Berechnungen. Die Grünen hatten sich dem Minderheitsvotum der Enquete-Kommission angeschlossen und forderten eine Wiedereinsetzung.1242 Die Empfehlung wurde am 7. November

1237 Ebd. 1238 Apel, Der Abstieg, S. 243. 1239 PA DBT Drs. X/154, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion der Grünen, Bericht der Enquete-Kommission ‚Zukünftige Kernenergie-Politik‘ über den Stand der Arbeit, 15. Juni 1983. 1240 AdsD Depositum Schäfer, Antrag der Fraktion der CDU/CSU im Bundestagsausschuß für Forschung und Technologie, 23. April 1985. 1241 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Axel Wernitz (Vorsitzender des Innenausschusses) an Sabine Bard (Vorsitzende des Ausschusses für Forschung und Technologie), 13. März 1985. 1242 PA DBT Drs. X/3409, Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie, 24. Mai 1985.

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1985 im Bundestag gemeinsam mit sieben weiteren energiepolitischen Anträgen debattiert. Im Vorfeld hatte der Parteirat der SPD eine erneute Diskussion der Frage des Schnellen Brüters anberaumt und lud dazu Harald B. Schäfer als ehe- maligen Vorsitzenden der Enquete-Kommission ein; dieser sagte ab.1243 Als der Brüter 1985 fertig gestellt wurde und betriebsbereit war, verweiger- te die nordrhein-westfälische Landesregierung unter Friedhelm Farthmann die Inbetriebnahme gegen den Willen der Bundesregierung. Auch sein Nachfolger Reimut Jochimsen verhinderte durch langwierige Prüfungen die Beladung des Reaktors mit Brennelementen. Der Bundeshauptausschuss der FDP forderte 1988 eine endgültige Ent- scheidung in Sachen Brüter, da die Kosten nicht mehr vertretbar seien. Eine kommerzielle Nutzung des Schnellen Brüters wurde ausgeschlossen. Deutlich wurde wieder einmal, dass der Hochtemperaturreaktor wesentlich zukunftsträch- tiger erschien, als der Brüter.1244 Am 21. März 1991 verkündete Forschungsminister Heinz Riesenhuber das endgültige Aus für den Reaktor. Letztlich setzte sich damit das Votum der Min- derheit durch, die schon zuvor mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen argumen- tiert hatte; eine kommerzielle Nutzung der Brütertechnologie sei nicht zu erwar- ten.1245 Inzwischen wird das Reaktorgelände als Vergnügungspark ‚Kernwasser Wunderland‘ genutzt. Der Verkaufspreis soll im einstelligen Millionenbereich gelegen haben, das heißt – verglichen mit den Investitionskosten – für einen ‚Appel und ein Ei‘.

g. Sicherheitstechnisches Wissen in der Politikberatung

Diese Enquete-Kommission unterscheidet sich in ihrer Ausprägung stark von ihrer Vorgängerin. War einerseits deren Kompromiss ein Vorbild, dem das Gre- mium hätte folgen können, belastete er gleichzeitig die Arbeit der Nachfolgerin mit einer Hypothek. Teil des Kompromisses der Ueberhorst-Kommission war es unter anderem, zu dem hart umkämpften Feld der Inbetriebnahme des Kalkarer Brüters keine Stellung zu beziehen. Das wurde an das Nachfolgegremium wei- tergegeben.

1243 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Dieter Lasse (SPD-Parteivorstand) an Schäfer (hand- schriftlicher Vermerk: abgesagt), 27. September 1985. 1244 Bundeshauptausschuß der FDP, Thesen der F.D.P. zur Deutschland- und Berlinpolitik, 19. November 1988, in: Friedrich-Naumann-Stiftung, Das Programm der Liberalen, S. 773–794, S. 792f. 1245 Deutscher Bundestag, Der „schnelle Brüter“ in Kalkar, S. 111.

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Inhaltlich konzentrierte die Arbeit des Gremiums der 9. Wahlperiode sich entsprechend auf die Frage der politischen Vertretbarkeit der Risiken des Schnel- len Brüters. Dies implizierte wesentlich mehr politische Faktoren als Pfadbe- rechnungen und Einsparmaßnahmen – und damit ein verhärtetes Konfliktpoten- tial. In der Enquete-Kommission wurden von den Mitgliedern immer wieder der ‚Geist‘ der alten Enquete-Kommission und deren ‚konsensorientierter Arbeits- stil‘ beschworen.1246 Letztlich konnte eine vergleichbare offene Diskussions- atmosphäre nicht hergestellt werden. Als Gründe sind vor allem äußere Faktoren zu nennen: der Druck, zu einem möglichst baldigen Ende der Brüterdebatte zu kommen. Diese spiegelten sich in der praktischen Arbeit in knappen Ressourcen an Zeit, Wissen und Vertrauen. Da das Parallelgutachten in den Beratungsprozess hineingezogen wurde, ist es als Teil der Kommissionsarbeit zu sehen. Das Modell Parallelforschung wurde – wenn auch nicht bis zum Ende – im parlamentarischen Zusammenhang durch- geführt. Damit hatten Wissenschaftler auf der kernenergiekritischen Seite die Möglichkeit, Zugang zu Daten und Materialien über den Brüter zu erhalten. Dies war aus rechtlichen Gründen mit Schwierigkeiten verbunden, aber es fand ein gewisser Austausch von Informationen zwischen den beiden Forschergruppen statt. Für die politische Empfehlung hatten die Gutachten vor allem legitimatorischen Charakter; sowohl Minderheit als auch Mehrheit stützten sich in ihren Begründungen nur sekundär auf sie. Die beiden Enquete-Kommissionen spiegeln sehr unterschiedliche Bilder des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik wider. Während auf der einen Seite eher ein kompromissorientierter, langfristiger Ansatz verfolgt wurde und die Politik in einer Situation der Unsicherheit Rat suchte, führten auf der anderen Seite die äußeren Einflüsse zu einer entscheidungsbezogenen Arbeit, zumal hier die Politik bereits im Vorhinein wusste, wie sie entscheiden würde. Die Ergeb- nisse der Analyse führen hier nun dazu, das Konzept wissenschaftlicher Politik- beratung und ihren Umgang mit Wissen und Unsicherheit auf einer abstrakteren Ebene zu untersuchen.

1246 AdsD Depositum Schäfer, Brief von Altner, von Ehrenstein und Meyer-Abich an Schäfer, 19. März 1982.

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XI. Expertenmeinung und Wissen im politischen Prozess

Ist eine Enquete-Kommission vergleichbar mit den Ascidiacea, den maritim lebenden Chordatieren, die zunächst munter durch den Ozean schwimmen und sich dann als unbewegliche Knollen auf dem Meeresgrund niederlassen und ihr primitives Gehirn auflösen?1247 Für das Politikberatungsinstrument würde das bedeuten, dass die im Rahmen des Beratungsprozesses erarbeiteten Infor- mationen und die Empfehlung selbst nach ihrer Beratung im Bundestag keinen weiteren Eingang auf politischer und wissenschaftlich-technischer Ebene finden. a. Zukünftige Kernenergie-Politik und die Energiepolitik

Anhand des eingangs entworfenen Erfolgsrasters werden die beiden Enquete- Kommissionen mit Blick auf Arbeitsprozess, Ergebnisse und Rezeption vergli- chen, um Rückschlüsse auf der Ebene der Politikberatung zu ziehen. Stellt man die institutionelle Dimension und die Rahmenbedingungen der beiden Enquete-Kommissionen einander gegenüber, wird schnell deutlich, dass sich vor allem die Startbedingungen stark unterschieden. In ihrer Ausstattung ähnelten die beiden Gremien sich. Beide verfügten über einen wissenschaftlichen Stab im Sekretariat, sie hatten eine großzügige finanzielle Ausstattung für exter- ne Gutachten und Anhörungen. Die politischen Rahmenbedingungen hingegen unterschieden sich deutlich: Während die Ueberhorst-Kommission in einer Si- tuation eingesetzt wurde, in der die Regierung ohne dieses Instrument keine Mehrheit für die Fortschreibung des Energieprogramms bekommen hätte und so – fast entscheidender – die Legitimationsbasis für ihre Politik neu aufbauen musste, war die Schäfer-Kommission erheblichem Entscheidungsdruck ausge- setzt. Der Inbetriebnahmevorbehalt gegen den Schnellen Brüter sollte möglichst schnell aufgehoben werden, um die Finanzierung des Reaktors sicherzustellen. Anfang der 1980er Jahre kam es kurzzeitig zu einer Stagnation in der Kern- energiefrage. Der Soziologe Dieter Rucht zeigte anhand der Anfragen im Bun- destag die Konjunkturen des Themas: Gab es in der Zeit von 1976 bis 1980 17 Anfragen, waren es von 1981 bis 1983 noch neun; danach allerdings zwischen 1983 bis 1987 waren es 55.1248 Überraschend ist dies nicht: Erstens stand zwi- schen 1981 und 1983 vor allem die Regierungskrise der SPD im Vordergrund; zweitens waren die Grünen, die sich den Ausstieg aus der Kernenergie auf die Fahnen geschrieben hatten, 1983 in den Bundestag eingezogen, und drittens kam

1247 Zur Ascidiacea vgl.: Wissenschaft. Fauler Sack, in: Der Spiegel Nr. 14, 4. April 1994, S. 231. 1248 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 254.

270 es infolge des Unfalls von Tschernobyl im April 1986 zu einem erhöhten Nach- frageaufkommen im Bundestag.1249 Wichtig für die Ueberhorst-Kommission und ihr Ergebnis waren vor allem folgende äußere Rahmenbedingungen: Ein fraktionsübergreifender Antrag zur Einsetzung der Kommission von allen Parteien, eine gemeinsame Berufungsliste aller Parteien für die externen Sachverständigen, Rückendeckung von wichtigen politischen Akteuren wie Herbert Wehner und Volker Hauff sowie ein klar um- rissenes Aufgabenfeld, das hinsichtlich des Arbeitsablaufes und zeitlicher Vor- gaben in der eigenen Verantwortung der Kommission lag. Die Einsetzung der Schäfer-Kommission wurde hingegen lange verschoben; einer der Gründe war, dass die SPD den Vorsitz behalten wollte. Nur SPD und FDP beantragten eine erneute Einsetzung des Gremiums, und entsprechend konnten sie sich mit der Union diesmal auch nicht auf eine gemeinsame Beru- fungsliste einigen. Über der Kommission hing das Damoklesschwert der Finan- zierungsmisere von Schnellem Brüter und THTR sowie das der Regierungskrise. Die Aufgabenstellung war zwar klar umrissen, es gab jedoch Vorgaben bezüg- lich der Bearbeitungsreihenfolge. Zunächst sollte die Frage geklärt werden, ob der Schnelle Brüter politisch verantwortbar sei. Grundlage dieser Empfehlung war die Risikoorientierte Studie, deren Fertigstellung nicht in der Macht des Gremiums lag und zahlreiche Probleme aufwarf, die sich direkt auf das Kom- missionsgeschehen auswirkten. Ein entscheidendes Problem der Schäfer-Kommission ist in der Aufgaben- stellung zu suchen, denn wenn man sich die Idee des politikberatenden Instru- ments Enquete anschaut, wird schnell deutlich, dass die geforderte Ja/Nein- Entscheidung zur Inbetriebnahme des Brüters aufgrund einer solchen Studie nicht hätte Thema sein dürfen. Letztlich ist durch die verschiedenen äußeren Faktoren eine Form von technischer Gutachtertätigkeit auf das Gremium zuge- kommen, die nicht in seinem Aufgabenbereich liegen sollte. Wäre die Antwort auf die Brüterfrage, wie ursprünglich geplant, im Zusammenhang mit den volkswirtschaftlichen Berechnungen der vier Pfade zu erbringen gewesen, wäre die Bewertung anders ausgefallen. Dann wäre die sicherheitstechnische Frage Teil der Arbeit gewesen und mit dem andern Teil, den wirtschaftlichen Faktoren Kosten und Nutzen, abgewogen worden. Eine derart eingegrenzte Aufgabestel- lung fragt jedoch gerade in einem heterogen zusammengesetzten Gremium stark nach den Interessen. Mit dem Votum zur Inbetriebnahme des Brüters wurde letztlich eine vom Bundestag zu treffende Entscheidung vorweggenommen. Die Rahmenbedingungen der beiden Kommissionen unterschieden sich also stark, sieht man von wissenschaftlichem Stab und finanzieller Ausstattung ab.

1249 Vgl.: PA DBT Sachregister X, S. 2067f.

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Wurde die erste Kommission eingesetzt, um den Ausweg aus einem politischen ‚Dilemma‘ zu finden, schränkte äußerer politischer Druck während der Laufzeit der zweiten Kommission die Verhandlungsmöglichkeiten ein. Von der institutionellen nun zur prozessualen Dimension: Ein nicht zu un- terschätzender Faktor für die Unterschiede zwischen den beiden Enquete- Kommissionen waren die beteiligten Akteure. Wenn man sich die Mitglieder der beiden Kommissionen vergegenwärtigt, erscheinen die Differenzen auf den ers- ten Blick nicht enorm. Auf Seiten der Politiker gab es zwei neue Abgeordnete, Kübler und Kraus, die an die Stelle von Ueberhorst und Gerlach traten; auf Sei- ten der Sachverständigen wurden zwei Experten, Schaefer und Knizia, durch drei neue ersetzt, Michaelis, Stoll und Schneider; folglich wurde ein Drittel der Kommission verändert. Wichtige Akteursgruppen wie der DGB, die Bürgerbe- wegung, die Reaktorsicherheit oder die Energiewirtschaft wurden in beide Kommissionen aufgenommen. Auf den zweiten Blick waren die Veränderungen der personellen Konstella- tionen eklatanter: Der Austausch der CSU-Politiker, Gerlach und Kraus, ist ver- mutlich zu vernachlässigen. Dass allerdings Ueberhorst durch seine Berufung als Senator die Kommission nicht mehr leiten konnte, hatte nachhaltigen Einfluss auf das Gremium. Der junge, von Wehner protegierte Ueberhorst stand in der Gunst von Befürwortern und Gegnern der Kernenergie – ein für diese Position wichtiger Faktor. Er war zudem kein ausgewiesener Kernenergiegegner. Im Aushandlungsprozess der ersten Kommission konnten die Dissonanzen unter den Mitgliedern relativ unauffällig durch persönliche Gespräche und Verhandlungen minimiert werden. In der zweiten Kommission verließen zweimal Mitglieder unter Protest die Sitzung oder drohten öffentlich damit, aus dem Gremium aus- zuscheiden. Dies mag zum einen sicherlich den ungünstigeren äußeren Faktoren geschuldet sein, mag aber zum andern auch die Verhandlungstaktik des Vorsit- zenden und seinen kernenergiegegnerischen ‚Stallgeruch‘ als Grund haben. Zu bedenken ist darüber hinaus, dass es sich bei den Leitern um zwei verschiedene Generationen handelt. Zwischen ihnen liegen 10 Jahre. Schäfer wurde 1938 geboren, Ueberhorst 1948, ein Jahrgang, der sicherlich von den studentischen Ideen der 1968er-Bewegung beeinflusst war. Das Denken in technischen Sach- zwängen wie auch die technokratischen und großplanerischen Gedanken der 1960er Jahre lagen ihm vermutlich ferner. Das neue ‚Zauberwort‘ war die ‚Al- ternative‘1250 oder auch das ‚Denken in Alternativen‘. Die Veränderungen auf der Sachverständigenebene scheinen auf den ersten Blick harmlos: Schneider hatte sich in der Ueberhorst-Kommission als fairer Gesprächspartner zu Lovins präsentiert, Stoll und Michaelis verfolgten sicherlich

1250 Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977.

272 eine andere Herangehensweise als ihre Vorgänger Knizia und Schaefer. Schaefer galt als energieneutral, wenn er auch der Kernenergie nicht abgeneigt war, und Knizia zeigte sich in der Ueberhorst-Kommission in vielen Punkten diskussions- bereit und ließ sich am Ende auf den Kompromiss ein. Soweit die personellen Unterschiede, die für sich genommen vermutlich noch handhabbar gewesen wären. Ein Knackpunkt war allerdings, dass Häfele von der SPD in die Kommis- sion berufen worden war. Dies änderte zunächst einmal die Mehrheitsverhältnis- se. In Kombination mit der primären Aufgabenstellung, der Beantwortung der Frage, ob der Schnelle Brüter in Kalkar in Betrieb genommen werden solle, wirkte es sich massiv aus – zumal Wolf Häfele das Brüter-Projekt in seinen An- fängen in Karlsruhe geleitet hatte. Dass dies nachhaltige Interessenkonflikte nach sich ziehen sollte, verdeutlicht die Äußerung eines Kommissionsmitglieds in der Zeit: „Der Vater des Brüter ist auch sein Mörder.“1251 Ein Erfolgsaspekt auf prozessualer Ebene, der den beiden Kommissionen gemeinsam ist, war, dass in ihnen die Vertreter verschiedener Interessengruppen – trotz der veränderten Mehrheitsverhältnisse – erfolgreich in einer solchen Poli- tikberatungssituation zusammenwirken konnten. Während es der Ueberhorst- Kommission glückte, die Sachverständigen ungeachtet ihrer heterogenen Interes- sen in eine Kompromissempfehlung einzubinden, gelang es der Schäfer- Kommission, die Sachverständigen und Mitglieder der Risikoorientierten Studie gleichwertig in die Beratungen aufzunehmen. Es gab in der zweiten Kommission sicherlich stärkere Reibereien, was die Offenheit im Umgang mit Papieren be- trifft; die Einflusssphären der unterschiedlichen Interessengruppen scheinen aber ausgewogen geblieben zu sein. In keiner der beiden Gremien gingen die einzel- nen Positionen in einem ‚Konsens‘ unter, wie Lompe es befürchtete,1252 denn durch Stellungnahmen, Sondervoten und Fußnoten ist aus beiden Berichten die Linie klar nachvollziehbar. Insofern wurden die in der Kommission vertretenen unterschiedlichen Interessen und Werte transparent und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar. Ebenso wichtig wie die Integration verschiedener Interessengruppen scheint auf der sachlichen Ebene – auf der es um die Bedeutung von Informationen im Beratungsprozess geht – zu sein, inwieweit Parteiprogramme und vergleichbare Vorgaben relevant waren. In der Ueberhorst-Kommission war zu beobachten, dass sich die Sachverständigen und Abgeordneten weitgehend unabhängig ver- hielten; auch die Unionsabgeordneten wären dem Kompromisspfad gefolgt, hätte nicht der ‚Wink mit dem Zaunpfahl‘ ihrer Fraktion sie kurz vor Ende der Bera- tungen zu einem Minderheitsvotum veranlasst. Ganz anders zeigten sich die Beratungen und Abstimmungen in der Schäfer-Kommission, die von Parteipro-

1251 Zitiert nach: Schneller Brüter – langsam gebrütet, in: Die Zeit Nr. 13, 26. März 1982. 1252 Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, S. 64.

273 grammen und Interessenkonfrontationen wesentlich stärker geprägt wurden. Bei genauer Lektüre der Voten wird aber auch hier deutlich, dass dies nicht für alle Mitglieder galt. Mit Blick auf die inhaltliche Dimension und den Einfluss auf Paradigmen wird die Differenz zwischen beiden Kommissionen eindeutig: Während die Schäfer-Kommission einen direkten Einfluss auf die anstehende politische Ent- scheidung hatte, danach aber weitgehend in Vergessenheit geriet, wurde die Empfehlung der Ueberhorst-Kommission nicht direkt umgesetzt, hatte aber lang- fristigen Einfluss auf die Diskussionen über mögliche Energiezukünfte. Die Ergebnisse der Schäfer-Kommission, die sich im Unterschied zu denen ihrer Vorgängerin auf einen Einzelaspekt der Energiepolitik beziehen, fanden Eingang in den Genehmigungsprozess des Schnellen Brüters, und die Mehrheits- empfehlung wurde vom Bundestag bestätigt. Die Landesregierung in Nordrhein- Westfalen zögerte vor und nach dem Parlamentsvotum die Genehmigung hinaus. Die Empfehlung der Ueberhorst-Kommission wurde in der Dritten Fort- schreibung des Energieprogramms vor allem argumentativ als Legitimation her- angezogen, wenngleich die Regierung – ganz im Gegensatz zur Empfehlung der Kommission – auf eine verstärkte Nutzung der Kernenergie setzte. Eine ‚faire Chance‘ für einen Weg ohne Kernenergie wurde nicht eröffnet, wenngleich die Energiesparmaßnahmen intensiviert wurden. Dies mag allerdings eher dem Öl- preis sowie dem Zeitgeist zuzuschreiben zu sein als der Empfehlung des Gremi- ums, denn verschiedene Aktivitäten zur rationelleren Energienutzung wurden bereits vor und während der Laufzeit der Enquete ergriffen. Viel gewichtiger ist allerdings die Weiterverarbeitung der Empfehlung im parteipolitischen sowie wissenschaftlichen Bereich. Verantwortlich dafür, dass die Ergebnisse der En- quete-Kommission in den folgenden zehn Jahren nicht in Vergessenheit gerieten, sind wohl verschiedene Faktoren: Erstens war der Bericht auf grundsätzliche Überlegungen zur Energiepolitik aufgebaut und hatte dadurch für energiepoliti- sche Erwägungen innerhalb der SPD, der FDP und der Grünen Diskursgewicht, und zweitens fand eine Verwertung auf wissenschaftlicher Ebene in Forschungs- projekten statt. Angeführt wurde diese von den Mitgliedern der Kommission und des wissenschaftlichen Stabes. Nach der Theorie des Politikzyklus stand die Ueberhorst-Kommission an der Schwelle von ‚fragmentation of authority‘ zu ‚contestation‘. Neue Akteure in der Debatte waren bereits stärker geworden und das Interesse an alternativen Lösungen war gewachsen. Die Kommission konnte in der Kontroverse, an der sich immer mehr Experten, politische Akteure und Medien beteiligten, eine Ver- bindung zwischen den beiden Paradigmen herstellen. Damit stand sie am Beginn der Paradigmenkonkurrenz und bereitete langfristig die Politikimplementation durch den Atomkonsens 2000 vor. Die Schäfer-Kommission begann ihre Arbeit,

274 als die Diskussion des Schnellen Brüter bereits in der Phase der ‚contestation‘ angekommen war – als also die Frage, ob der Reaktor in Betrieb genommen werden sollte, auf politischer und gesellschaftlicher Ebene bereits klare Für- und Gegensprecher hatte.1253 Die Kernenergie wurde immer mehr zu einer Streitfrage zwischen der Bun- des- und den Landesregierungen. Die Ausbaupläne wurden von den sozialdemo- kratischen Landesregierungen durch Verzögerungen des Geneh- migungsverfahrens letztlich desavouiert.1254 Außerdem wandelte sich die Haltung zur Kernenergie auch in den Interessengruppen langsam; beispielsweise wurden die Gewerkschaften zunehmend skeptischer gegenüber der Plutonium- wirtschaft. Diese Wendung innerhalb der SPD mag unter dem prägenden Einfluss des Unglücks von Tschernobyl verstärkt worden sein. So hatte der Parteivorstand am Abend des 29. Aprils 1986, als die Sowjetunion bereits zugegeben hatte, dass es einen Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl mit zwei Todesopfern gegeben habe,1255 die Plutoniumwirtschaft als Abweg und die Nutzung der Kernenergie als eine Übergangslösung deklariert.1256 Mit den vier energiepolitischen Pfaden war der Weg für den vorläufigen Ausstiegsbeschluss der SPD aus der Kernener- gie am 27. August 1986 auf dem Nürnberger Parteitag bereitet.1257 Dem ‚Heils- versprechen‘ der nuklearen Technologie, festgehalten im Godesberger Pro- gramm, widersprach die Partei fast einstimmig. Vielmehr sollte innerhalb der kommenden zehn Jahre der Ausstieg aus der Kernenergie erfolgen.1258 Faktisch war der Ausbau der Kernenergie längst zum Stillstand gekommen. Bis auf das Kernkraftwerk Ohu, das 1982 bestellt wurde und 1988 in Betrieb ging, beruhten alle nach 1980 in Betrieb genommenen Kernkraftwerke wie Ne- ckarwestheim, Grohnde und Brokdorf auf Bestellungen aus dem Jahr 1975 oder früher.1259 Eine ähnliche Entwicklung ist übrigens auch in anderen Ländern zu beobachten: In den USA wurde beispielsweise im Januar 1978 mit dem Bau des neuesten und vorerst letzten kommerziellen Atomkraftwerks begonnen.1260

1253 Vgl.: Peter Hall, Policy Paradigms, Experts, and the State. The Case of Macroeconomic Policy- making in Britain, in: Stephen Brooks/Alain-G. Gagnon (Hg.), Social Scientists, policy, and the State, New York 1990, S. 53–78, S. 68f. 1254 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 254. 1255 Astrid Amelungse, Tschernobyl – vier Wochen im Spiegel der Presse, in: Armin Hermann/Rolf Schumacher (Hg.), Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, S. 267–304, S. 268f. 1256 Krohn/Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, S. 10. 1257 Gespräch mit Günter Altner, Berlin 17. März 2008. 1258 „Wir können damit auch siegen“, in: Der Spiegel Nr. 36, 1. September 1986, S. 21–25. 1259 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 264f. 1260 IAEA, Nuclear Power Plant Info, http://www.iaea.org/programmes/a2/index.html (27. Juni 2008).

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Die FDP äußerte sich 1987 zur Kernenergie nach wie vor vorsichtig. Lag al- lerdings die Betonung im Jahre 1980 noch darauf, dass man unter allen Umstän- den versuchen müsse, aus der Kernenergie auszusteigen, liest es sich 1987 so, dass die FDP an der Kernenergie solange festhalte, wie nicht durch andere um- weltfreundlichere Energiegewinnungsarten der Bedarf gedeckt werden könne.1261 Als die FDP forderte, sich in einer entsprechenden Enquete-Kommission inten- siv mit der Einführung regenerativer Energien auseinanderzusetzen, wurde auf die Zukünftige Kernenergie-Politik verwiesen.1262 Mit den so genannten Konsensgesprächen begann 1992/93 der Ausstieg. Vertreter der Elektrizitätswirtschaft verhandelten zunächst mit der SPD- geführten Landesregierung Niedersachsens und in der Folge mit einem breiteren Kreis von Politikern verschiedener Parteien die Zukunft der Kernenergie.1263 Zu einer Vereinbarung, an der lediglich die rot-grüne Bundesregierung sowie die Energiewirtschaft beteiligt waren, kam es im Jahre 2000. Die Nutzung der vor- handenen Kernkraftwerke wurde befristet und der eingereichte Genehmigungs- antrag der RWE für das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich zurückgezogen. Die Bundesregierung gewährleistete ihrerseits bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen einen ungestörten Betrieb der Anlagen. Bis 2005 sollten Trans- porte zur Wiederaufarbeitung möglich sein, ab diesem Zeitpunkt wurde auf di- rekte Endlagerung gesetzt. Die Erkundung des Salzstocks in Gorleben wurde bis zur Klärung konzeptioneller und sicherheitstechnischer Fragen zunächst für drei bis zehn Jahre ausgesetzt.1264 Mit einer Novelle des Atomgesetzes trat der Atom- konsens 2002 in Kraft. Damit waren die Diskussionen um die Kernenergie freilich nicht beendet. Zum einen kritisierten Kernenergiegegner die langen Laufzeiten der noch beste- henden Atomkraftwerke, zum andern wird bei jedem Wahlkampf erneut – vor allem von konservativer Seite – eine neue Zukunft der Kernenergie ins Spiel gebracht. Inzwischen dient der Klimaschutz vermehrt als Argument für die Kernenergie. Zugleich ist aber das Problem der Entsorgung nuklearen Materials bis heute nicht gelöst. Schwierigkeiten der bestehenden Technologien zeigen

1261 Bundsparteitag Kiel 5./6. September 1987, in: Friedrich-Naumann-Stiftung, Das Programm der Liberalen, S. 606–627, S. 619–623. 1262 Bundeshauptausschuß der FDP 19. November 1988. Thesen der F.D.P. zur Deutschland- und Berlinpolitik, in: Friedrich-Naumann-Stiftung, Das Programm der Liberalen, S. 773–794, S. 787. 1263 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 254f. 1264 Bundesministerium für Umwelt, Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energie- versorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000, Internetquelle (3. März 2008).

276 sich aktuell beim Salzstock Asse.1265 Wie Terroranschläge auf Kernkraftwerke verhindert werden könnten, wurde anlässlich der Anschläge auf das World Trade Center in New York im September 2001 erneut diskutiert – ohne Ergebnis.1266 Ebenso wie die politischen Auseinandersetzungen verliefen auch die Protes- te in Wellen. Seit 1994 fanden zahlreiche, massenhafte Proteste gegen die Cas- tor-Transporte statt, mit denen abgebrannte Brennelemente aus deutschen Kern- kraftwerken und hochradioaktive Abfälle aus der Wiederaufarbeitung in Frankreich und Großbritannien in Stahlbehältern nach Gorleben und Ahaus ge- bracht wurden.1267 Festzuhalten ist, dass sowohl politische Maßnahmen im energiepolitischen Bereich wie auch Proteste der Bevölkerung gegen die Kernenergie1268 vor allem reaktiv sind. Auf äußere Ereignisse wie die Ölpreiskrise und Tschernobyl erfolg- ten Handlungen. Bis heute fehlt es an einer langfristig ausgelegten Energiepoli- tik, die nicht mit jedem Regierungswechsel aus ideologischen Gründen eine andere Akzentuierung erfährt. Der parteienübergreifende nukleare Konsens, der bis 1976 im Bundestag herrschte, wurde bis heute nicht in einen parteien- übergreifenden energiepolitischen Konsens überführt.

b. Wissenschaftliche Expertise in der Politikberatung

Die Kernkraftkontroverse gilt als das Paradebeispiel des Expertendilemmas: Wissenschaftlicher Sachverstand wurde zunehmend politischen Positionen zuge- ordnet, sah sich einer Gegenexpertise gegenüber und führte damit die Un- sicherheit wissenschaftlicher Erkenntnisse vor Augen. Das Ziel der Legitimation politischer Entscheidungen schien durch den Dissens der Experten ausgehöhlt zu werden. Und wissenschaftlich erworbenes Wissen erweckte den Eindruck der Brüchigkeit und mangelnder Zuverlässigkeit. Der Expertendissens zeigt aber ganz im Gegenteil, dass handlungsorientierte Wissenschaft mit einer Wertbasierung einhergeht.1269 Die wissenschaftlich-technischen Experten befanden sich in einer ausge- sprochen vertrackten Situation: Ihre Glaubwürdigkeit beruhte auf der Produktion objektiven und verlässlichen Wissens, das sich auf einen Konsens der Wissen- schaftler gründen sollte. Genau da aber liegt der Haken, denn von Seiten der

1265 Chef-Strahlenschützer unterstellt systematische Sorglosigkeit, in: Der Spiegel, Onlineausgabe: (6. September 2008). 1266 Vgl. z.B.: Gefahr ohne Grenzen, in: Der Spiegel Nr. 44, 29. Oktober 2001, S. 40ff. 1267 Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 255. 1268 Zu dem Zusammenhang zwischen äußeren Ereignissen und Protesten: Rucht, Anti-Atomkraft- bewegung, S. 256. 1269 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 92.

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Wissenschaft ist jeder Konsens zum einen unvollständig und zum andern revidierbar. Das heißt, der Experte muss gegenüber Politik und Öffentlichkeit Erkenntnisse als abgeschlossen und verlässlich darstellen, die aus wissenschaftli- cher Perspektive hypothetisch sind.1270 Als Experte leistet er den Hauptbeitrag dazu, wissenschaftlich probabilistisches Wissen in politisches Entscheidungswissen zu transformieren. Damit wird er zwangsläufig parteiengebunden und handelt im politisch- wirtschaftlichen Interesse seiner Klientel. Es muss jedoch der Schein der Objek- tivität erhalten bleiben, da Entscheidungen im Interesse der Auftraggeber ihren Wert verlören. Weingart und Krohn sprechen von der „Doppelrolle des Exper- ten[,] einerseits als Sachwalter einer wissenschaftlich-technisch kompetenten Politik (Festlegung von Risikobewertung und Schadensgröße, Schwellen- und Grenzwerten“1271 und anderem) und „andererseits als Mitglied der ‚scientific community‘, die alle Festlegungen für hypothetisch und durch Forschung revidierbar hält“1272, zu fungieren. Diese Janusgesichtigkeit sei in der modernen Verflechtung von Wissenschaft und Gesellschaft unvermeidlich.1273 Damit ist der Experte weit entfernt vom Baconschen Experten, der nur der Wahrheit verpflichtet ist und fern von sachfremden Bindungen berät.1274 Demge- genüber steht das Modell, dass alle Berater abhängig sind und ihre Expertise Interessen und Werte widerspiegelt. Popper schlägt entsprechend vor, einen pluralistischen Ansatz zugrunde zu legen, so dass die verschiedenen Interessen durch eine paritätische Auswahl der Experten in Schach gehalten werden. Aus dem Streit von Gutachtern und Gutachten entstünde sachadäquate Beratung.1275 Nach diesem Prinzip funktionierte – grob gefasst – die Enquete- Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik. Innerhalb der beiden Enquete- Kommissionen ist auffällig, dass wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse auf die Empfehlungen großen Einfluss hatten. Sie wurden dabei nicht un- hinterfragt übernommen, sondern in einem weiteren Abwägungsprozess unter Sachverständigen und Bundestagsabgeordneten an das Ziel einer politisch hand- habbaren Empfehlung angepasst. Entsprechend war die Empfehlung der Kommission vergleichsweise praxis- bezogen. So wurden sowohl gesellschaftliche Wertorientierungen wie auch an-

1270 Krohn/Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, S. 8; Weingart, Wissenschaftssoziologie, S. 97ff. 1271 Krohn/Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, S. 8. 1272 Ebd. 1273 Ebd. 1274 Francis Bacon, Neues Organon I–III, lateinisch-deutsch, hrsg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn, Hamburg 1990 (EA:1620), I. 68, I. 97. 1275 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Berlin 19722, S. 103–123, S. 112.

278 wendungsrelevante Untersuchungen einbezogen. Zugleich war es selbstverständ- lich nicht möglich, in der Kernenergiefrage angesichts der mannigfaltigen Inte- ressen und Unsicherheiten ein Deutungsmonopol zu erreichen. Insbesondere die Expertise der ersten Enquete-Kommission scheint An- sprüchen nach Robustheit der Beratung gerecht zu werden: Für einen Spezialfall wurde Handlungswissen erarbeitet, das vor allem auf hypothetischem Prognosewissen fußte. Dabei kamen Ressourcen aus den unterschiedlichsten Disziplinen zum Einsatz und wurden neu zusammengesetzt und aufbereitet.1276 Die Erkenntnisse der verschiedenen Sachverständigen hatten relativ gleich- berechtigten Einfluss. Basis dafür waren einerseits das moderatorische Vorgehen des Vorsitzenden und andererseits die Verknüpfungspunkte unter den Sachver- ständigen, die mutmaßlich den gegenseitigen Respekt befördert haben: Zu er- wähnen sind hier einerseits die wissenschaftliche Ebene und andererseits theolo- gische und philosophische Motivationen. Die ganze Kommission einte ab einem gewissen Punkt das gemeinsame Ziel, in der Kernenergiediskussion einen Schritt voranzukommen und ein konsensuales Ergebnis zu erzielen. Die persönliche biographische Komponente spielte für das Ergebnis folglich eine nicht zu unter- schätzende Rolle. Die Politik in der Enquete-Kommission der achten Wahlperiode wurde nicht zur „Gefangene[n] wissenschaftlicher Diskurse und Problemstellun- gen“1277. Es gab Situationen, in denen wissenschaftlich-technische Diskussionen beispielsweise in Gestalt der Frage, ob das Loop- oder das Pool-System beim Brüter sicherer sei, die politischen Erwägungen dominierten. Dies zählt aber eher zu den Ausnahmen. Bei der Nachfolgeenquete wurden Wissenschaft und Politik wechselseitig zu ‚Gefangenen‘: die Wissenschaft insofern, als der politische Druck, eine klare Entscheidung zum Brüter zu fällen, enorm war, und die Politik insofern, als aufgrund der Probleme in der FGSB die wissenschaftlichen Diskus- sionen direkt in den Beratungsprozess der Gesamtkommission hineingezogen wurden. Insbesondere in der Ueberhorst-Kommission gelang es durch verschiedene Strategien, wissenschaftliche Erkenntnisse in den breiteren politischen Prozess einzubringen. Die Ausdifferenzierung der größeren Ideen – wie die Bundesre- publik mit Energie versorgt werden könnte – in eine detaillierte Empfehlung, die verschiedene Verzweigungen aufweist, ist ein entscheidender Faktor. Dies wäre ohne den wissenschaftlichen Stab nicht möglich gewesen. Ein Transfer der In- formationen in den größeren Politikprozess ist nachvollziehbar, wenn auch nicht in konkreten Gesetzesvorlagen darstellbar.

1276 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 301. 1277 Weingart, Wissenschaftssoziologie, S. 92.

279

Einige Mitglieder der Enquete-Kommissionen wechselten in der Folgezeit die Seiten: Klaus Michael Meyer-Abich wurde in Hamburg zum Senator beru- fen. Reinhard Ueberhorst seinerseits wurde in der Enquete-Kommission Technik- folgenabschätzung zum externen Sachverständigen ernannt. Insofern zeigen sich fließende Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik. Die Beteiligten der Enquete-Kommission verfassten darüber hinaus diverse Schriften, in denen sie sich mit der Frage, wie Politikberatung wirksam sein könne, auseinandersetzten.1278 Dies deutet darauf hin, dass die Enquete- Kommission von den Beteiligten als Phänomen wahrgenommen wurde. Ironischerweise waren es Politiker, die eine Verquickung des zu Rate ge- zogenen Sachverstandes mit eigenen Interessen ausdrücklich vermeiden wollten, indem sie von den Experten Unabhängigkeit forderten. Unmut löste nur aus, wenn sie dies bei Abstimmungen zu sehr beherzigten, wie die Beispiele Häfele und Birkhofer zeigten. Das Expertendilemma in seiner vollen Ausprägung war nach dem Kern- kraftwerksunfall bei Tschernobyl erneut zu beobachten. Gesundheitsministerin Rita Süssmuth warb am 14. Mai 1986 in einer Rede um Vertrauen für die unter Autoritätsverlust leidenden 16 Wissenschaftler der Strahlenschutzkommission. Sie kritisierte, „daß jede Gruppe, jeder Minister sich seinen eigenen Wissen- schaftler hält, und diese dann gegen den unabhängigen Sachverstand [der GRS, C.A.] ausgespielt werden“1279, beschrieb dabei aber eher unfreiwillig die tat- sächliche Situation oder die Situation, wie sie wahrgenommen wurde: Das Er- gebnis von beinahe 15 Jahren politisierter Kernkraftkontroverse waren ebenso politisierte Experten.1280 Inzwischen hat man aus den Erfahrungen des Expertendilemmas gelernt; zumindest legt die Strategie des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) dies nahe, das sich aus Klimaforschungsinstituten und Regierungs- vertretern zusammensetzt. Damit die Experten sich mit ihren Stellungnahmen nicht gegenseitig die Argumentation entkräften, haben sie die Aufgabe, vertrau- lich und konsensorientiert zu arbeiten. Erst wenn dies erfolgt ist, werden Ergeb- nisse und Empfehlungen an die Öffentlichkeit gegeben.1281

1278 Z.B. Häfele: Karl Ulmer/Wolf Häfele/Werner Stegmair, Bedingungen der Zukunft. Ein natur- wissenschaftlich-philosophischer Dialog, Stuttgart 1987. 1279 Krohn/Weingart, „Tschernobyl“ – das größte anzunehmende Experiment, S. 12. 1280 Ebd. 1281 Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, S. 164.

280 c. Wandel der Politikberatung

In den 1980er und 1990er Jahren sind deutliche Veränderungen in der Politik- beratung festzustellen. Erstens gestaltete sich die Sachverständigenlandschaft im Bereich Energiepolitik und Sicherheitsforschung um, zweitens vergrößerte sich der politische Beratungsbedarf zum Thema Energie und Technik, und drittens wandelte sich die Nutzung des spezifischen Instruments der Enquete- Kommission. Ende der 1970er Jahre wurden die Forschungsinstitute gegründet, die sich als Gegenpol zu der in den vorhandenen Großforschungseinrichtungen geltenden Lehrmeinung verstanden. In den beiden Enquete-Kommissionen wurde dieser Sachverstand einbezogen, damit auch die Interessen der Bürgerinitiativen vertre- ten waren. Dies bedeutete für die Forschungseinrichtungen gleichzeitig, dass sie sich einen Platz in der Beratungslandschaft erarbeiten konnten. Verbunden mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag 1983 waren die Forschungsinstitute fortan ein fester Bestandteil. Dies hatte wiederum Rückwirkungen auf die Wissenschaftslandschaft, denn junge Wissenschaftler begannen zunehmend auch dann Berufschancen zu erhalten, wenn sie sich nicht der Lehrmeinung anschlossen. In diesem Zusammenhang genügt ein Blick auf die Biographien der ehema- ligen Mitglieder der wissenschaftlichen Stäbe der Kommission und der Mitarbei- ter der Risikoorientierten Studie. Richard Donderer gutachtet seit seiner Diplom- prüfung immer wieder für die RSK; Hariolf Grupp war bis zu seinem Tod an der Universität Karlsruhe Professor für Systemdynamik und Innovation sowie Leiter des Fraunhofer Instituts System und Innovationsforschung; Rolf Bauerschmidt war in der Energiewirtschaft tätig – um nur einige Beispiele zu nennen. Die von der Enquete-Kommission nachdrücklich geforderte Partizipation kernenergiekritischer Wissenschaftler am Beratungsprozess hatte eine Politisie- rung der Wissenschaft zur Folge. Zuvor wurden die gegensätzlichen Positionen zwar durchaus angehört, aber eine Institutionalisierung der Gegenmeinungsfin- dung wurde in den Enquete-Kommissionen praktisch demonstriert. Dadurch wurden neue Bedingungen und Kontrollmöglichkeiten entwickelt, in deren Rahmen die Techniken implementiert werden dürfen. Dies geht heute bis hin zu Bürgerkonferenzen, in denen Laien und Wissenschaftler in einen Dialog eintre- ten.1282 Der Aufstieg partizipativer Verfahren signalisiert gleichzeitig eine Ver-

1282 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 233; vgl. dazu auch den Sammelband: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Beteiligung und Bürger- engagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Baden-Baden1997.

281 schiebung des Interesses von Umwelt- und Sozialverträglichkeit hin zu ‚Demo- kratieverträglichkeit‘.1283 Dementsprechend war die Enquete-Kommission sicherlich ein Puzzlestück, um neben den staatlichen Forschungseinrichtungen auch weitere Forschungsein- richtungen und think tanks wie beispielsweise das Öko-Institut in der Politikbe- ratung zu etablieren. Inzwischen existiert, Weingart und Küppers zufolge, in Umweltfragen gar eine Konkurrenz zwischen dem Umweltbundesamt und dem Öko-Institut.1284 Auch wurde mit dieser Enquete-Kommission endgültig die Ära eingeläutet, in der Forschungsaufgaben sich derart umfassend gestalten, dass die Frage der Nachhaltigkeit in allen nur denkbaren Handlungsbereichen einzubeziehen ist – insbesondere beim Thema Umweltschutz. In den folgenden Jahren wurden daher technologiepolitische Beratungsinstanzen ausgebaut.1285 Seit der Kernkraftkontroverse sind Risiken und Folgen neuer Technologien für Mensch und Umwelt im Allgemeinen fester Bestandteil der Entscheidungs- prozesse geworden. Technikfolgenabschätzung und Umweltschutz haben sich als eigene Politikfelder etabliert. Allerdings werden die Ziele der Umweltpolitik und der Technikfolgenabschätzung nach wie vor als Widerspruch zur Wirtschaft gesehen.1286 Die Energiepolitik liegt gleichwohl auch heute noch in der Verant- wortung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Infolge des Unfalls von Tschernobyl wurde 1986 ein Ministerium für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eingerichtet, für Bereiche, die bis dahin in das Aufgabengebiet des Bundesministeriums für Inneres fielen. Zu den Auf- gaben des neuen Ministeriums gehörte unter anderem die Förderung alternativer Energietechnologien. Der Analyse van den Daeles und Neidhardts zufolge ist der Versuch, ein- flussreiche gesellschaftliche Gruppen zu überzeugen ein Charakteristikum mo- derner Demokratien; dies soll Blockaden verhindern. Daher verfolgen sie einen Politikstil, der unterschiedliche gesellschaftliche Perspektiven bei der Definition und Lösung von Problemen einschließt.1287 Um die gesellschaftliche Legitimati- on nicht zu verlieren, ist es notwendig, sachliche Rationalität nachzuweisen.

1283 Barbara Sutter, Von Laien und guten Bürgern. Partizipation als politische Technologie, in: Alexander Bogner/Helge Torgersen (Hg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik, Wiesbaden 2005, S. 220–240, S. 220. 1284 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 78. 1285 Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung, S. 210. 1286 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 231. 1287 Wolfgang van den Daele/Friedhelm Neidhardt, „Regierung durch Diskussion“ – Über Versu- che, mit Argumenten Politik zu machen, in: Dies., Kommunikation und Entscheidung. Politi- sche Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, Berlin 1996, S. 9– 50, S. 12.

282

Legitimation ist das zentrale Problem wissenschaftlicher Politikberatung. Mo- derne Demokratien beruhen auf einer doppelten Legitimation: erstens durch die demokratische Wahl und zweitens durch die Rationalität politischer Entschei- dungen. Aus der Erfahrung mit den Protesten gegen die nukleare Technologie, wur- de in der Folgezeit versucht, die Akzeptanz neuer Technologien vor ihrer Im- plementierung zu prüfen wie zum Beispiel durch die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin, bei der die Gentechnologie auf den Prüfstand gestellt wurde. Gentechnologie ist mit durchaus vergleichbaren Hoffnungen und Ängsten verbunden wie die nukleare Technologie. Auch diese Kommission war beauftragt, Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung, Diagnostik und Therapie sowie ihrer Anwendung zu entwickeln. Leitend war die Wahrung der Menschenwürde. Auch im Schlussbericht dieses Gremiums wurden Sonder- voten abgegeben, allerdings ist kein vergleichbares Blockverhalten wie in der Zukünftige Kernenergie-Politik zu beobachten.1288 In Bezug auf das Politikberatungsinstrument Enquete-Kommission ist auf- fällig, dass viele Aspekte der Neudefinition, die die Zukünftige Kernenergie- Politik vornahm, weitergeführt wurden. Auch die folgenden Enquete- Kommissionen orientierten sich vermehrt an gesellschaftlich brisanten Themen; das Instrument erhielt eine stärkere Öffentlichkeitswirkung als zuvor.1289 Damit einher ging auch eine intensivere Heranziehung externer Sachver- ständiger. Die Zukünftige Kernenergie-Politik war die erste Kommission, in der mehr Sachverständige als Abgeordnete saßen. In späteren Zeiten war dies an der Tagesordnung. Auch die zusätzliche Anforderung externer Gutachten sowie die Angliederung eines wissenschaftlichen Stabes – insbesondere bei technikorien- tierten Kommissionen – zählen zu den Bestandteilen, die sich im Beratungswe- sen von Enquete-Kommissionen seither etabliert haben. Mit diesem Wandel ging eine zusätzliche Verlagerung der ursprünglichen an Kontrolle und Legitimation orientierten Funktion zur Aufklärungs- und Partizipationsfunktion einher.1290 Ein erster Erfolg der Enquete-Kommission war, dass sie den Be- wertungshorizont erweiterte. Die Risikophilosophie vor der Enquete- Kommission war deutlich stärker an technischen Kriterien orientiert als an den sozialen und ökologischen Folgen. Nachdem wissenschaftlich erworbenes Wissen in der Kernkraftkontroverse eine so zentrale Rolle eingenommen hatte, dass sich eigens Institute gründeten,

1288 Zur politischen Brisanz des Themas z.B.: Konflikt am Kabinettstisch, in: Der Spiegel Nr. 10, 5. März 2001, S. 44f.; Deutscher Bundestag (Hg.), Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin. Schlußbericht (Zur Sache 2/2002), Berlin 2002. 1289 Krevert, Funktionswandel wissenschaftlicher Politikberatung, S. 211. 1290 Vgl. auch: ebd., S. 231ff.

283 um es für die Kontroverse zur Verfügung zu stellen, veränderten diese neuen Zentren auch die Konstellationen zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. So ist aufgrund der neuen Zentralität wissenschaftlich erworbenen Wissens der Begriff der Wissensgesellschaft durchaus angebracht. Wissenschaftlich erworbe- nes Wissen hat in diesem Falle zu einer Veränderung und Untergrabung der vorhandenen Institution Energiepolitik geführt.1291

d. Rationale Entscheidungen

Das so genannte Kalkar-Urteil vom 8. August 1978 forderte ‚Rationalität‘ als leitende Prämisse staatlichen Handelns. Danach sollten einer politischen Ent- scheidung nicht mehr nur demokratische Verfahren vorangehen, sondern auch die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung geprüft werden.1292 Nachdem klar war, dass die bis dahin angewandten Methoden zur Technikbewertung nicht das erwünschte Vertrauen erbrachten, zielte die Empfehlung der Kommission darauf, grundlegende Parameter für eine rationale Entscheidung und für eine Risikoab- wägung zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt gab es zur Risikobewertung keine adäquaten Standards.1293 Perzipierte Risiken sollten ebenso wie Realrisiken, also den von Experten mit Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung angenommenen Risiken, in die Betrachtung einfließen.1294 Die Autoren wichtiger probabilistischer Studien wie des WASH-1400 und der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke waren sich darüber im Klaren, dass der aktuelle Wissensstand nicht ausreichte, um eine vollständige Analyse abzugeben.1295 Bei Skeptikern häuften sich Zweifel daran, dass Sabotage, Terror, menschliches Versagen und Krieg sich als Gefahren aus- reichend quantifizieren ließen. Die Philosophin Kristin Shrader-Frechette betonte zudem, dass auch die scheinbar objektiven probabilistischen Methoden nicht ohne Werte und Bewertungen auskommen.1296 Folglich sind für rationale Ent- scheidungen nicht nur die Ergebnisse zu betrachten, sondern auch die Methoden zu prüfen, die zu diesen Ergebnissen führten.1297 Betrachtet man diese Erkenntnisse als Basis einer rationalen Entscheidung, so waren die Diskussionen in beiden Enquete-Kommissionen sowohl über die

1291 Frei nach: Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 229. 1292 Vgl.: Patzwaldt, Die sanfte Macht, S. 83. 1293 Kristin Shrader-Frechette, Risk and Rationality. Philosophical Foundations for Populist Re- forms, University of California Press 1991, S. 6. 1294 Zur Unterscheidung zwischen „perceived risks“ und „actual risks“ vgl.: ebd., S. 77–88. 1295 GRS, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Hauptband, S. 5. 1296 Shrader-Frechette, Risk and Rationality, S. 95–98. 1297 Ebd., S. 190.

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Berechnungen zu den Ressourcen erneuerbarer Energien und Energiesparmaß- nahmen wie auch über die Berechnungen zum Risiko des Brüters und der Leichtwasserreaktoren ein wesentlicher Fortschritt. Da die Befürworter der ver- schiedenen Energiesysteme ihre Annahmen gemeinsam überprüften, kam es zu einer Demokratisierung und Versachlichung des Bewertungsprozesses. Die alleinige Betrachtung der technischen Seite, reichte nicht mehr aus. Nicht nur kosteten die Reaktorbauten letztlich wesentlich mehr, als zunächst veranschlagt, auch die prognostizierten Strompreise, die durch den Schnellen Brüter wesentlich sinken sollten, stiegen zunehmend, so dass das Argument der billigen nuklearen Energie an Glaubwürdigkeit verlor. Gleichzeitig waren die Kosten für erneuerbare Energie sowie Energiesparmaßnahmen unsicher. Da zu dieser Zeit angenommen wurde, der wichtigste Schritt aus der hohen Arbeits- losigkeit sei eine prosperierende Wirtschaft, deren Grundlage wiederum billige Energie sei, galt es, neben den Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft die Wirtschaftlichkeit in die Technikbewertung einzubeziehen. Die vier Kriterien, die die Kommission aufstellte, waren folglich eine notwendige Ergänzung zur probabilistischen Abwägung der Technologie selbst. Seit die Kommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen unter der Leitung der damali- gen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtlandt 1987 ihren Be- richt vorgelegt hatte, wurde das Konzept der Nachhaltigkeit international disku- tiert.1298 Die Aspekte Umweltverträglichkeit und wirtschaftliche Entwicklung, die bis dahin als unvereinbar galten, wurden hier zusammengebracht.1299 Im Laufe der 1980er Jahre tauchte eine neue Technologie auf, die eine Risi- koabwägung nach sich zog: die Gentechnologie. Im Gegensatz zur nuklearen Technologie zielte die Politik nun darauf, Chancen und Risiken vor der Imple- mentierung abzuwägen. Entsprechend wurde eine Enquete-Kommission ein- gesetzt.

e. Unsicherheit und Emanzipation in der Wissensgesellschaft

Mangelnde Transparenz der staatlichen Entscheidungsfindung, unzureichende parlamentarische Kontrolle und fehlende bürgerschaftliche Mitbestimmung – dies alles waren Punkte, die die Anti-Atomkraftbewegung in den 1970er Jahren kritisierte.1300 Mit der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik versuchte der Bundestag, an diesen Punkten anzusetzen. Auf politischer Ebene

1298 Volker Hauff (Hg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987. 1299 Gespräch mit Volker Hauff, Köln 28. November 2008. 1300 Vgl. dazu: Rucht, Anti-Atomkraftbewegung, S. 257f.

285 waren mit der Einsetzung des Politikberatungsinstrumentes verschiedene Ziele verbunden. Wissen spielte im politischen Prozess in erster Linie eine instrumentelle Rolle. In der Frage der Energiepolitik sollte die Enquete-Kommission einen Rat zur Lösung der ausgesprochen umstrittenen und unbequemen Frage der Kern- energiepolitik geben. Die Politik musste sich zu Wissen, das auftauchte, verhal- ten. Als Schriften zur Kostenexplosion und Sicherheit des Schnellen Brüters, zu Energiesparmöglichkeiten und erneuerbaren Energien sowie zur Sicherheit von Kernkraftwerken bei Sabotage und Terror und nicht zuletzt auch zu den Grenzen des Wachstums kursierten, gab es für die Regierung verschiedene Möglichkeiten: Erstens konnten die entsprechenden Schriften ernst genommen, geprüft und kommentiert werden; zweitens konnte man sie unterdrücken und durch Gegen- expertise die Unsicherheiten dieses Wissens ‚enttarnen‘ und damit die Experten als unglaubwürdig darstellen.1301 Zunächst wurde letzteres versucht und in Auf- klärungskampagnen erläutert, warum Kernenergie notwendig und sicher sei. Doch letztlich gelang es nicht, die kernenergiekritische Expertise unter den Tisch fallen zu lassen. Die Einsetzung der Enquete-Kommission stellte eine Möglichkeit dar, die zahlreichen Informationen und Interessen in die Beratungen einzubeziehen. Bei- den Kommissionen glückte es, den verschiedenen Strömungen in der Empfeh- lung gerecht zu werden – auch wenn sich Art und Form des Rates stark unter- schieden. Die Kommissionen hatten zur Folge, dass Veränderungen sich nicht nur auf der Ebene der Energiepolitik ergaben, auch das Beraterwesen und die Bera- tungsnachfrage auf politischer Ebene wandelten sich. Mit ihren Empfehlungen zur konkreten Energiepolitik für die 1980er Jahre und ebenso mit den 62 Energiesparmaßnahmen kam die Ueberhorst-Kommission zu früh, um entsprechend wahrgenommen und umgesetzt zu werden. Die gesam- te Empfehlung und insbesondere die vier Pfade läuteten jedoch ein generelles Nachdenken ein und für die SPD vermutlich auch den Ausstiegsbeschluss. Insofern war der Kompromiss der Enquete-Kommission, bei dem alle Pfade von sämtlichen Sachverständigen als möglich, wenn auch nicht wünschbar be- zeichnet wurden, der entscheidende Coup. Bezeichnete Hayek die Nachahmung naturwissenschaftlicher Methoden, wie sie mit den Berechnungen erfolgte, auch als eine ‚Anmaßung‘ des Wissens,1302 so ist doch ein deutlicher Lerneffekt durch die logische Weiterführung energiepolitischer Vorstellungen erkennbar. Der Staat stellte mit der Einberufung der Enquete-Kommission seine Funk- tionsfähigkeit unter Beweis. In einer Situation in der das Vertrauen in die politi-

1301 Weingart/Carrier/Krohn, Nachrichten aus der Wissensgesellschaft, S. 230. 1302 Vgl.: Hayek, Die Anmaßung von Wissen, S. 3–15.

286 schen Entscheidungen fehlte, wurde den wachsenden Wissensbeständen ver- schiedener Interessengruppen Rechnung getragen. Im Beratungsprozess kam die unterschiedliche Bewertung der Risiken zum Tragen, und es wurde eine Mög- lichkeit aufgezeigt, mit diesen rational umzugehen. Der Staat begann, die ge- wünschten unternehmerischen Entscheidungen durch Subventionen und andere Steuerungsmaßnahmen vorzubereiten.

ANGEBOTSORIENTIERTE ENERGIEPOLITIK

Akteure der Ener- - Ministerien giepolitik: - Energieversorgungsunternehmen - Großforschungseinrichtungen

Herausforderungen: - Limits to Growth - Widerstand an Kernkraftwerksbau- plätzen

Schocks: - Ölpreiskrise - Inbetriebnahmevorbehalt des Bun- destages

‚DEMOKRATISIERUNG‘ DER ENERGIEPOLITIK

Neue Akteure der - Abgeordnete Energiepolitik: - Bürgerinitiativen - neue wissenschaftliche Einrichtun- gen

NACHFRAGEORIENTIERTE ENERGIEPOLITIK

Fig. 9: Wandel der Energiepolitik

287

Das Bild (Fig. 9) zeigt den Weg zu einer Demokratisierung der Energiepolitik, der jedoch bis heute nicht vollständig beschritten wurde. Allerdings ist ein deut- licher Wandel wahrzunehmen. Lagen die energiepolitischen Entscheidungen bis Mitte der 1970er Jahre vor allem bei Ministerien und Energieversorgungs- unternehmen, spielt nun vor allem der Bundestag eine kontrollierende und mit- bestimmende Rolle. Spürbar ist der Wandel in der Energiepolitik insofern, als diese bis in die 1970er Jahre in erster Linie angebotsorientiert ausgerichtet war. Erst mit den Jahren entwickelte sich eine nachfrageorientierte Energiepolitik. Wie auch im- mer dieser Weg verfolgt wird, sei es in Anlehnung an die Property-Rights- Theorie über Umweltzertifikate oder in Anlehnung an Arthur Pigou1303 durch ökologische Steuerreformen: die Internalisierung der externen Kosten ist das gemeinsame Ziel. Blickt man auf die 1970er Jahre und versucht Rückschlüsse auf jenes Jahr- zehnt zu ziehen, werden auf politischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene Emanzipationserscheinungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft deutlich. Zunächst zur politischen Ebene: Der Bundestag erhielt Anfang der 1970er Jahre Zugang zu weiteren Informations- und Wissensressourcen, und es gelang ihm, ein Instrument wie das der Enquete-Kommission erfolgreich zur Kontrolle der Regierungspolitik zu nutzen. Darüber hinaus begannen die Bürger sich unab- hängig von Parteien und Verbänden zu organisieren, um ihre Interessen selbst zu vertreten. Dies wurde von den Parteien ausdrücklich goutiert; die FDP formulier- te dazu: „Angepaßtes Verhalten liegt nicht im Interesse der Demokratie.“1304 Und es entstand erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine neue Partei, die zu einem Faktor in der Politik wurde. Innerhalb der SPD fand eine Emanzipation der Partei von der Regierungspolitik statt. Während sich die gouvernementale Politik abzuschotten versuchte, gewann die innerparteiliche Opposition zuneh- mend an Gewicht und ließ sich nicht an den Rand drängen.1305 Auf wissenschaftlicher Ebene ist festzustellen, dass eine Emanzipations- bewegung weg von der Lehrmeinung stattfand. Die Forscher organisierten sich in neugegründeten Instituten und wurden zunehmend ein Faktor im politischen Prozess. Ausgehend von dem anfänglichen Ziel, die Atomkraftgegner für die politischen und juristischen Auseinandersetzungen argumentativ zu wappnen, wurden sie ein fester Bestandteil des politischen Beratungswesens. Hatten Wis- senschaftler, die die Kernenergie skeptisch betrachteten, in den 1970er Jahren

1303 Arthur C. Pigou, The Economics of Welfare, London 1920. 1304 Wahlprogramm der Freien Demokratischen Partei für die Bundestagswahlen am 5. Oktober 1980, in: Friedrich-Naumann-Stiftung, Das Programm der Liberalen, S. 12–84, S. 27. 1305 Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise, S. 107.

288 kaum Chancen auf eine wissenschaftliche Karriere, öffneten sich im Laufe der 1980er Jahre zunehmend Möglichkeiten. Auf gesellschaftlicher Ebene wurde in der Literatur eine Diversifizierung des individuellen Lebens diagnostiziert, die sich auch in den Bürgerbewegungen und Organisationen zeigte.1306 Ronald Inglehart sprach 1977 vom Wertewandel, der sich von den materialistischen Bedürfnissen hin zu postmaterialistischen Werten verschoben habe. Dies mag hier für eine der Zeitdiagnosen stehen, die in den 1970er Jahren einen Wandel auf gesellschaftlicher Ebene wahrnahmen. Wolfgang Fach bezeichnete die ‚Stadtindianer‘, Hausbesetzer und Pazifisten als ‚Anomalien‘ und „Teil der großen ‚Entkrustung‘, die in den 70er Jahren das Modell Deutschland flexibilisiert, sprich: modernisiert haben“1307. In den 1980er Jahre trat die Umwelt immer mehr in den Vordergrund der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Diskutierte man auf der einen Seite die Prob- lematik des sauren Regens, etablierten sich auf der anderen Seite durch den Trend zum ökologischen Bauen Wärmedämmung und Wassersparen.1308 Resümiert man die Effizienz der Enquete-Kommission Zukünftige Kern- energie-Politik der 8. Wahlperiode, so kommt man zum dem Ergebnis, dass gerade die Offenheit des Kompromisses sowie die wissenschaftliche Fundierung sie vor dem Schicksal der Ascidiacea bewahrte. Ihr Gehirn war weder primitiv, noch hat es sich aufgelöst, sondern wurde ganz entgegengesetzt Teil des folgen- den Diskurses. Dies ist ein nicht zu unterschätzendes Beispiel einer Möglichkeit nachhaltiger Politik.

1306 Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirt- schaftswunder bis heute, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 258f. 1307 Fach, Das Modell Deutschland und seine Krise, S. 105. 1308 Werner Faulstich, Überblick: Wirtschaftliche, politische und soziale Eckdaten des Jahrzehnts, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der achtziger Jahre, München 2005, S. 7–20, S. 12f.; Ri- carda Strobel, Das Jahrzehnt des Designs: Architektur, Alltagsgegenstände und Mode, in: Wer- ner Faulstich (Hg.), Die Kultur der achtziger Jahre, München 2005, S. 51–67, S. 53.

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XII. Eine Frage der Zeit?

Der Faktor Zeit war gleich auf mehreren Ebenen maßgeblich für die Empfehlung der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergie-Politik. Als erstes ist die Ebe- ne der politischen Behandlung des Berichtes zu betrachten. Eineinhalb Jahre nach Vorlage der Empfehlung wurde sie anhand der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie im Bundestag beraten. Reinhard Ueberhorst, verantwortlich für den Antrieb in Sachen Enquete-Kommission, war inzwischen Senator in Berlin und konnte die Rezeption nicht mehr mitgestalten. Die für die Empfehlung zur Inbetriebnahme des Brüters notwendige Risikoorien- tierte Studie wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie so spät vergeben, dass sich die Bearbeitungszeit sowohl für die Beteiligten an der Analyse als auch für die Kommission selbst drastisch verkürzte. Die Gesamt- kommission konnte aufgrund der verkürzten Legislaturperiode zu keinem Ab- schluss kommen, wichtige Aufgaben wie die volkswirtschaftlichen Berechnun- gen wurden nicht erledigt. Der zweite Aspekt zum Thema Zeit ist der Zeitgeist. Setzte die Kommission in Sachen Politikberatung Maßstäbe, schwamm sie mit den Energiesparmaß- nahmen so weit auf der Welle der Zeit, dass schon mit der Umsetzung eines Teils der Empfehlungen der gute Wille demonstriert werden konnte. Mit der Empfehlung, sowohl den ‚harten‘ als auch den ‚sanften‘ Pfad in den folgenden 10 Jahren gleichwertig zu fördern, war die Kommission ihrer Zeit voraus – schlimmer noch, sie kam zu früh. Auch wenn das Argument, die deutsche Wirt- schaft werde ohne Kernenergie leiden, mit den Energieszenarien entkräftet wor- den war, konnte es sich lange halten und wird noch heute in die Diskussion ein- gebracht. Erst in Reaktion auf den Unfall bei Tschernobyl nahm die SPD den Ausstiegsbeschluss auf. Umgesetzt mit dem Atomkonsens 2000, steht der Aus- stieg immer wieder in der Kritik, wohl nicht zuletzt deshalb, weil eben nicht beide Wege gleichwertig verfolgt und die erneuerbaren Energien ebenso wie die Energiesparmaßnahmen nur zögerlich gefördert wurden.

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Epilog

Ausgangspunkt der Arbeit war die Annahme, die Empfehlung der Ueberhorst- Kommission stelle eine kleine Revolution dar und ihr Umgang mit Wissen und Unsicherheit, ihr Arbeitsprozess und die Rezeption in Politik und Öffentlichkeit könne als Modell für die Entscheidungsvorbereitung vergleichbarer Konflikte gelten. Insofern stehen einerseits die Funktionsfähigkeit des Politikberatungsin- strumentes und andererseits die des Staates auf dem Prüfstand. Als die Kommission 1978 eingesetzt wurde, verharrte die Kontroverse um die Energiepolitik auf politischer Ebene in einer Art ‚Duldungsstarre‘. Die öf- fentlichen Proteste gegen die Kernenergie ließen sich durch Aufklärungskam- pagnen nicht beruhigen. In den Parteien mehrte sich die Unsicherheit, ob der Ausbau der Kernenergie aus wirtschaftlicher und sicherheitstechnischer Perspek- tive der richtige Weg sei. Dass es im BMFT eine Anhörung zum Schnellen Brü- ter gab, zu der auch Gegner des Projektes geladen wurden, kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass auch innerhalb des Ministeriums Zweifel laut wur- den. Durch das fehlende Vertrauen in die Regierungspolitik in Sachen Energie stiegen die Transaktionskosten. Nicht nur die Proteste auf den Bauplätzen, sondern auch die immer neuen Forderungen der Genehmigungsbehörden verzögerten die Fertigstellung der Projekte und ließen die Kosten steigen. Der eingeschlagene Weg musste erneut geprüft und entweder mit zusätzlichen Informationen legitimiert oder geändert werden. Vor allem galt es, die zur Diskussion stehenden Probleme zur Reaktor- sicherheit zu minimieren. Flankiert von Einschnitten wie der ersten Ölpreiskrise, der Wirtschaftskrise, dem Terror der RAF und einer Bevölkerung, die verstärkt auf ihr Mitsprache- recht pochte, stand mit der eskalierenden Kernkraftkontroverse die Funktionsfä- higkeit der bundesdeutschen Demokratie auf dem Prüfstand. Akuter Anlass für die Enquete-Kommission war der Schnelle Brüter, dessen jährliche Raten vom Bundestag nicht mehr bewilligt werden sollten. Durch das Machtmittel des Haushalts, konnte das Parlament sich die Inbetriebnahme des SNR300 vorbehalten und forderte zunächst eine Verbesserung der Informations- lage. Vorangetrieben von Reinhard Ueberhorst war die Heranziehung dieses Instruments der Preis, den die Regierung zahlen musste, damit die innerparteili- che Kontroverse der SPD nicht zu einer Ablehnung des Energieprogramms führ-

291 te. Damit kam sie günstiger weg als die FDP, bei der sechs Brüterrebellen dafür sorgten, dass Minister mit ihrem Rücktritt und der Vertrauensfrage des Kanzlers drohten – ein von den Medien aufmerksam verfolgter Eklat. Die Union, auch wenn sie den Ausbau der Kernenergie klar befürwortete, konnte sich den Forde- rungen nach einer solchen Kommission nicht entziehen, schließlich hatte sie ein Jahr zuvor mit ihrem Votum den Brüter noch blockiert – damals mit der Begrün- dung, dass es innerhalb der SPD zu viele Querelen gebe. Auf Länderebene mach- te die Kernkraftkontroverse auch den CDU-Ministerpräsidenten Schwierigkeiten. Besonders betroffen war der damalige niedersächsische Ministerpräsident Alb- recht, der sein Ja zu Gorleben nicht geben wollte. Für alle Fraktionen machte es also Sinn, ein solches Gremium zu Rate zu ziehen, und sei es nur, um die politi- sche Auseinandersetzung dorthin zu verlagern. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission stellte ein Experiment dar, um zunächst einmal auf politischer Ebene die Energiepolitik weiterführen zu können und auf gesellschaftlicher Ebene zu demonstrieren, dass die Befürchtungen der Bevölkerung gegenüber Kernkraftwerken ernst genommen wurden. Bei der Ein- setzung der Kommission wurden die verschiedensten Ziele ins Auge gefasst: Erstens konnte die Lösung des Problems aufgeschoben werden, zweitens hofften die Kernenergiebefürworter, dass die Kommission die Notwendigkeit der Kern- energie nachweisen könne, die Kernenergiegegner hofften auf das Gegenteil. Utopisten hofften, wieder zurückzufinden zu einer ‚konsensualen‘ Energiepoli- tik, und wieder andere glaubten, dass das Gremium gar nicht erst zu einem Er- gebnis käme. Mit der Einsetzung der Kommission konnte der Bundestag seiner Kontrollfunktion gegenüber der Regierung gerecht werden. Aufgrund der Gemeinsamkeiten konnten die Sachverständigen über eine gemeinsame Liste berufen werden, der Verhandlungen der Parteien vorausgin- gen. Die externen Sachverständigen waren Personen, die bereits auf dem politi- schen Parkett in beratender Funktion unterwegs waren und in der Öffentlichkeit, sei es in den Medien, sei es in Vorträgen, um ihre Meinung gebeten wurden. Um die Informationsbasis möglichst breit zu gestalten und die verschiedenen sozia- len Netzwerke einzubinden, gab es unter anderem einen Vertreter der Bürgerbe- wegung, der Energieversorgungsunternehmen, der Gewerkschaften und zusätz- lich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen. Für den Beratungsprozess nicht zu unterschätzen ist ganz offenkundig die personale Komponente. An verschiedenen Punkten waren die Sachverständigen miteinander verknüpft. Ein wesentlicher Faktor neben dem Willen zur wissen- schaftlich-technologischen Klärung ungesicherter Erkenntnisse scheinen philo- sophisch-theologische Motivationen gewesen zu sein. Dies klingt zunächst irra- tional, aber es macht plausibel, warum beispielsweise Knizia sich letztlich auf den Kompromiss einließ: In seinen Schriften versuchte er, Natur- und Geistes-

292 wissenschaften, die durch das enorme Anwachsen des Wissens getrennt worden seien, über den Energiebegriff wieder miteinander zu vereinen. Für den Aus- handlungsprozess in einer solchen Kommission können ideelle Ansätze dieser Art neben wissenschaftlich-technischem Wissen hilfreich sein. Auch wenn es sich dabei nicht um ein Erfolgsrezept handelt, ist es als Puzzlestück auf dem Weg zu berücksichtigen Grundlage für die Beratung war in erster Linie das in der Person der Sach- verständigen herangezogene Wissen. Ergänzt wurde es durch einen ‚flexiblen wissenschaftlichen Dienstleister‘, den wissenschaftlichen Stab im Sekretariat, der ebenfalls mit externen Wissenschaftlern besetzt war. Dies war ein Novum in der Geschichte der Enquete-Kommissionen – eines damals noch wenig geteste- ten Politikberatungsinstrumentes des Bundestages. Darüber hinaus gab die Kommission Gutachten in Auftrag, lud zu Anhörungen deutsche und auch aus- ländische Sachverständige ein und arbeitete das aktuell in Publikationen verfüg- bare Wissen zur Energiefrage ab. Die Aufgabenstellung der Kommission ging weit über den Schnellen Brüter hinaus und verfolgte als Ziel die Klärung der Frage, welche unterschiedlichen Energieversorgungssysteme bei einem Energiemix für die Bundesrepublik nötig sind. Durch wissenschaftliche Detailarbeit, die sich vor allem in den Pfad- berechnungen niederschlug, konnten die Argumente der Energiedebatte, die bis dahin nicht vergleichbar nebeneinander gestellt wurden, überprüft und in ein Verhältnis zueinander gebracht werden. Der gedankliche Reifeprozess fand selbstverständlich auf der Ebene der Kommissionsmitglieder statt. Dieses Vor- gehen führte auf der Kommissionsebene zur Vertiefung der Argumentation, die tatsächlich einen Lernprozess nach sich zog und bewirkte, dass man sich aufei- nander zu bewegte. Konnte hinsichtlich der Frage, welche Risiken die Alternativen ‚harter‘ oder ‚sanfter‘ Weg gegenüber Gesellschaft und Demokratie bergen, insbesondere das Argument einer drohenden Energieunterversorgung entkräftet werden, verblie- ben in der Frage der Risiken der Kernenergie für Mensch und Umwelt Unsicher- heiten. Die Grenzen des Wissens wurden dadurch offen gelegt. In einem Mini- malkonsens einigte die Kommission sich darauf, diese in weiteren Studien prüfen zu lassen. Mit Hilfe der Kriterien und einem erweiterten quantitativen Sicherheitsbegriff wurde eine Möglichkeit erarbeitet, die Risiken der verschiede- nen Energieversorgungsvarianten gegeneinander abzuwägen, um zu einer ratio- nalen Entscheidung zu gelangen. Politisch motiviertes ‚Wunschdenken‘ wurde in die Szenarien integriert soweit es für umsetzbar gehalten wurde. Auf diese Weise kam das Gremium zu einer weitgehend gemeinsam getra- genen Empfehlung. Mit Hilfe von Kriterien, Energiepfaden und Energiespar-

293 maßnahmen einigte man sich darauf, für die 1980er Jahre sowohl die Kernener- gie wie auch erneuerbare Energien sowie Energiesparmaßnahmen gleichwertig auszubauen. Im Laufe des Beratungsprozesses konnten zahlreiche bis dahin einseitig vorgetragene Argumente überprüft und teilweise entkräftet werden. Insbesondere die Energiepfade führten vor Augen, wohin auf lange Sicht die jeweiligen politischen Strategien führen würden. Der Kompromiss war hart erarbeitet und erforderte von allen Seiten Zuge- ständnisse, die sich in den Fußnoten und Sondervoten nachvollziehen lassen. Für Kernenergiegegner war die vorläufige Fortsetzung der nuklearen Forschungspro- jekte sowie der Bau zusätzlich notwendiger Kernkraftwerke sicherlich die größte ‚Kröte‘, die sie zu schlucken hatten. Für die Befürworter der Kernenergie stellte der Energiesparkatalog die größte Hürde dar. Zu einigen Fragen konnte die Kommission keine Antworten geben. Dazu zählt in erster Linie die Frage nach der Inbetriebnahme des Schnellen Brüters. Das Thema wurde in der Kommission kaum behandelt, obgleich es letztlich der Auslöser für ihre Einsetzung war. Das Gremium war sich weitgehend einig, dass eine zusätzliche Sicherheitsprüfung nicht schade, auch wenn dies eigentlich Teil des Genehmigungsverfahrens sein sollte. Auch zur Wiederaufarbeitung wurde eine zusätzliche Studie empfohlen. Die volkswirtschaftlichen Berechnungen sollten von einer neu einzusetzenden Kommission geprüft werden, anhand der Kriterien sollte eine entsprechende weiterführende Empfehlung abgegeben werden. Von der Idee her steht eine gleichzeitige Bearbeitung der Risikoorientierten Studie und der volkswirtschaft- lichen Berechnungen in der logischen Folge der bis dahin von der Kommission verfolgten Kompromissstrategie. Sie führt zu der Frage, die in der Energiepolitik leitend sein sollte: Welche Form der Energieversorgung kann man unter den Aspekten Volkswirtschaft und Risiko befürworten? Die Ueberhorst-Kommission ist ein Beispiel dafür, dass ein solches Gremi- um nicht nur der politischen Auseinandersetzung, sondern auch sachverständiger Beratung dienen kann. Vergegenwärtigt man sich, dass der erarbeitete Kompro- miss, 10 Jahre lang sowohl den ‚harten‘ wie auch den ‚sanften‘ Technologien eine gleichwertige Chance zu geben, politisch kaum umgesetzt wurde, kann man mit Klaus Michael Meyer-Abich zu Recht von einem „verschleuderte[n] Kom- promiß“1309 sprechen. Mit dem Ansatz, sowohl Gegner als auch Befürworter der Kernenergie zu Wort kommen zu lassen, stellte die Kommission eine Vertiefung und Weiterfüh- rung des Bürgerdialog Kernenergie dar. In einer Debatte, die bis dahin vor allem auf Konfrontation angelegt war, erreichte das Gremium die Etablierung einer neuen Diskussionskultur.

1309 Klaus Michael Meyer-Abich, Der verschleuderte Kompromiß, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 4. Juli 1982.

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Die nachfolgende Kommission, die erst nach einigem Hin und Her einge- setzt wurde, stand unter keinem guten Stern. Angefangen mit personellen Um- strukturierungen innerhalb der Kommission, über zunehmenden Entscheidungs- druck von Ministerium und Industrie sowie erheblichen Verzögerungen in der Auftragsvergabe und Erstellung der Risikoorientierten Studie, die letztlich nie die angestrebte Form erreichte, bis hin zu einer verkürzten Legislaturperiode: Die Rahmenbedingungen für eine ergebnisorientierte Arbeit konnten ungünstiger kaum sein. Dies erklärt, warum die Kommission letztlich nur eine fragmentari- sche Empfehlung abgab. Eine Mehrheit votierte für die Inbetriebnahme. Die restlichen Arbeitsfelder wurden kaum bearbeitet. Dass es der Kommission trotz der widrigen Umstände gelang, zumindest die anvisierte Studie in ihre Empfeh- lung aufzunehmen, und auch dafür zu sorgen, dass sie vorläufige Ergebnisse brachte, ist als Erfolg zu werten. Eine enge Rückkopplung an die Ministerien und die Fraktionen kann so- wohl eine Chance wie auch eine Einschränkung bedeuten. Notwendig ist sie, um eine auf die aktuelle Tagespolitik und laufende Programme ausgerichtete Emp- fehlung erarbeiten zu können und auch die Grenzen des politisch ‚Machbaren‘ auszuloten. Hinderlich wird sie, wenn einerseits gleichsam im vorauseilenden Gehorsam eine bestimmte Politik von den Kommissionsmitgliedern gefordert wird und andererseits das Interesse an zusätzlicher Beratung nicht vorhanden ist – wie im Falle des Brüters. Wirksame Politikberatung ist stets davon abhängig, ob sie in der erbrachten Form überhaupt erwünscht ist. Unabhängig davon stellte die bundesdeutsche Demokratie mit beiden En- quete-Kommissionen ihre Funktionsfähigkeit unter Beweis. Der Bundestag kon- trollierte die Regierungspolitik, indem er zusätzliche externe Informations- quellen heranzog. Mit den Ergebnissen beider Enquete-Kommissionen konnten einige Unsicherheiten minimiert werden, wenngleich auch einige neue auftauch- ten. Entsprechend den differenten Formen der Empfehlung unterscheidet sich auch die Wirkung der beiden Kommissionen. Während die Mehrheitsempfeh- lung der Schäfer-Kommission vom Bundestag übernommen, aber letztlich nie umgesetzt wurde, wirkte der Bericht der Ueberhorst-Kommission langfristig nach. Zum Teil entsprangen einzelne Bestandteile dem Zeitgeist wie beispiels- weise die Energiesparmaßnahmen, die allerdings in ihrer Grundsätzlichkeit nicht entsprechend den Vorstellungen der Mehrheit des Gremiums umgesetzt wurden. Auch wenn die Regierung zunächst in Richtung auf einen Ausbau der Kernener- gie agierte, stockte dieser bereits seit 1975, da keine neuen Kernkraftwerke mehr bestellt wurden. Die Grundlagen des Kompromisses wurden von Politikern wie von Wissen- schaftlern immer wieder in programmatischen Schriften aufgegriffen. Das zeigt,

295 dass es naiv wäre, von einer solchen Kommission konkrete Vorgaben für die Politik erarbeiten zu lassen. Das ist Aufgabe des Bundestages. Die Stärke des Ueberhorst-Kompromisses ist im Durchspielen der verschiedenen Alternativen zu sehen, was erst eine konkrete politische Entscheidung möglich macht. Einen zusätzlichen Wert stellt eine solche Empfehlung dar, wenn sie zum Weiterden- ken anregt und Grundlagen zur Weiterentwicklung bietet. Ein Beispiel hierfür ist das ‚Ölpapier‘ Matthöfers. Das Politikberatungsinstrument Enquete-Kommission erfuhr eine Neu- definition. In der Folgezeit wurde ein solches Gremium häufiger benutzt, insbe- sondere, wenn es um die Bewertung neuer Technologien wie der Gentechnologie oder um die möglichen Gefahren für die Erdatmosphäre oder für die Gesellschaft durch AIDS ging. In mancher Hinsicht setzte die Kommission Maßstäbe für spätere Kommis- sionen. Dazu zählen der wissenschaftliche Stab, die Quantität der externen Gut- achter und die Auswahl der Sachverständigen. Besonders eklatant ist der Wandel des Beratungswesens in der Energiefra- ge. Zwar wurden vom Ministerium für Forschung und Technologie auch vor Einsetzung der Kommission Wissenschaftler eingeladen, die nicht aus den an- erkannten Forschungsinstituten stammten. In den 1980er Jahren begannen die Gegeninstitutionen aber sich fest in den Beratungsalltag zu integrieren, so dass es heute völlig selbstverständlich ist, diese bei Entscheidungen mit einzu- beziehen. Leiter der GRS ist heute ein Mitglied des Öko-Instituts. Die Entscheidungen in Sachen Energie haben sich zumindest teilweise de- mokratisiert. Allerdings war der Atomkonsens 2000 das Ergebnis von Verhand- lungen zwischen Regierung und Energieversorgungsunternehmen. Zahlreiche von den Kommissionen diskutierte Problemfelder sind bis heute keiner Lösung zugeführt. In erster Linie sind hier Sabotage, Krieg und Terror zu nennen. Der Anschlag auf das World Trade Center im September 2001 machte deutlich, dass die in den 1970er Jahren vertretene Annahme, es sei ein Hauptziel des Terroris- mus, Aufmerksamkeit zu erreichen, den ‚modernen‘ Terroristen nicht mehr ge- recht wird. Das Thema Proliferation geriet immer wieder in die Diskussion, genannt seien hier lediglich Nordkorea, Iran und Libyen. Problem der Debatte – und dies betrifft nicht nur Risiken und Chancen der nuklearen Technologien, sondern ebenso Risiken und Chancen alternativer Energien und Energiespartechnologien – ist, dass sie von großer Ver- gesslichkeit1310 geprägt ist. Einem politischen Beratungstheater mag man die Kommission letztlich nicht zuordnen. In der Kommission ist inhaltlich einiges Innovative geschaffen

1310 Dies diagnostizierte Joachim Radkau für den Diskurs um Kernenergie bereits 1986: Radkau, Angstabwehr, S. 29.

296 worden – seien es die Abkehr von der Produktformel oder die Pfadberechnung. Einhellig sprachen die Mitglieder der Kommission vom Reiz der intellektuellen Auseinandersetzung während der Arbeit. Gleichwohl muss man eingestehen, dass die Ueberhorst-Kommission Fragen offen ließ, an denen mutmaßlich der Wille zum Kompromiss gescheitert wäre, hätte man sie als Ja/Nein-Fragen ge- stellt. Auch wurde immer wieder deutlich, dass niemand zu weit von eigenen Vorstellungen abweichen konnte und wollte – da nicht zuletzt die eigene Glaub- würdigkeit auf dem Spiel stünde. So enthalten beide Geschichten, die heroische Tragödie und die Komödie, einen Quäntchen Wahrheit. Alles andere wäre ange- sichts der Prozesse im politischen Feld naiv. Die Analyse machte sehr deutlich, dass aus dem Streit von Gutachtern unter günstigen Rahmenbedingungen dennoch sachadäquate Beratung resultieren kann. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden ermöglicht schließlich eine höhere Qualität von Politik. Wie wichtig die persönliche Qualifikationen der Mitglieder für den Erfolg einer Kommissionsarbeit sind, wurde klar – nicht nur für die strategische Position des Vorsitzenden sondern auch für die Zusammen- setzung der Gruppen der Gutachter und Abgeordneten. Hier gelang es für kurze Zeit zu schauen, was es außer der ‚Schulmeinung‘ noch gibt, etwas, das heute in vielen Bereichen nicht gelingt: Neben der Kern- energie könnte man hier den Klimawandel oder die Medizin nennen. In all die- sen Bereichen sind die Kritiker der Schulmeinung in ihren Ressourcen erheblich eingeschränkt. Eine Untersuchung des Wissenschaftssystems und der entspre- chenden Subventionierung durch den Staat ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung. In der Energiefrage bestand damals ein ähnliches Problem wie oft- mals auch heute noch in der Medizin: die Verabsolutierung eines Paradigmas. Es reicht keineswegs aus, die verschiedenen Positionen in einem parallelen Ansatz vortragen zu lassen. Viel effizienter wäre es, nach dem Vorbild der mit- telalterlichen Scholastik zu verfahren: Der Streit zwischen zwei Kontrahenten beginnt erst dann, wenn jeder den Standpunkt des anderen fehlerfrei verteidigen kann. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass wichtige Informatio- nen nicht in einer oberflächlichen Pro- und Contra-Diskussion untergehen. Die Hemmnisse zur Umsetzung energiesparender Maßnahmen sind nach wie vor immens. Heute wird die Einführung eines Energiepasses für Wohnhäu- ser als Fortschritt gefeiert, den die FDP spätestens 1988 in ihrem Programm vor- geschlagen hatte.1311 Wer heute über Energie spricht, agiert mit Großkonzepten – wie seinerzeit die Vorstellung, nur auf Kernenergie zu setzen. Insofern bedeutete es einen enormen Fortschritt, nicht nach der einen großen Lösung zu suchen, sondern den Markt der Ideen für unterschiedliche große und kleine Lösungen zu

1311 Bundeshauptausschuss Berlin 19. November 1988, in: Friedrich-Naumann-Stiftung, Das Pro- gramm der Liberalen, S. 773–794, S. 782.

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öffnen. Beispiele dafür gibt es viele – eines, das sich nicht auf mitteleuropäische Verhältnisse anwenden ließe im globalen Kontext aber interessant erscheint, ist das sogenannte ‚Energieschwein‘: Die Entwicklungshilfe-Organisation Plan International stellt chinesischen Bauern einen Mikrokredit von umgerechnet etwa 150 Euro zur Verfügung. Damit können sie sich eine Ein-Schwein- Biogasanlage kaufen und müssen nicht mehr mit Kohle heizen. Die Kohle hat, da in diesen Regionen keine Filter eingesetzt werden, nicht nur den Nachteil der enormen Luftbelastung, sondern auch der erhöhten Feuergefahr. Neben dem Biogas ist ein Nebenprodukt der Anlage Dünger, der keine Krankheitskeime mehr enthält und das Feld der Familie durch eine erhöhte Stickstoffkonzentration effizienter düngt. Soviel zu nur einigen der Vorteile des Energieschweins gegen- über der Kohleheizung.1312 Wie die Meinung über die verschiedenen Energieerzeugungsarten und ihre Möglichkeiten sich im Laufe der Zeit wandelt, lässt sich mit Thomas Henry Huxley betrachten. Im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie legte er dar, dass die meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse zunächst als Ketzerei betrach- tet, dann als Aberglaube angesehen, ehe sie als Erkenntnisse anerkannt wer- den.1313

1312 Frau Shang und ihr Energieschwein, in: Der Spiegel, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518, 550215,00.html, (30. April 2008). 1313 „History warns us, however, that it is the customary fate of new truths to begin as heresies and to end as superstitions; and, as matters now stand, it is hardly rash to anticipate that, in another twenty years, the new generation, educated under the influences of the present day, will be in danger of accepting the main doctrines of the ‚Origin of Species,‘ with as little reflection, and it may be with a little justification, as so many of our contemporaries, twenty years ago, rejected them.“ Thomas Henry Huxley, The Coming of Age of „The Origin of Species“. An evening lecture at the Royal Institution, Friday 9th April 1980, in: Ders., Science and Culture and other Essays, London (Macmillan) 1881, S. 310–324, S. 312.

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