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Wie Josias Kumpf zur Strecke gebracht wurde Zeitgeschichte. Am Donnerstag vergangener Woche starb in Wien einer der letzten mutmaßlichen NS-Täter: der ehemalige KZ-Wächter Josias Kumpf. Sein Fall zeigt, wie die Jagd nach den alten Nazis an ihre Grenzen stößt – und die Suche nach Gerechtigkeit fragwürdig wird. Von Martin Staudinger und Robert Treichler AP Josias Kumpf †

88 profil 43 • 19. Oktober 2009 s sollte ein Abschied für immer sein: Am Freitag, dem E24. April 2009, schiebt Paul Krampitz aus Racine im US- Bundesstaat Wisconsin, seinen 84 Jahre alten Schwiegervater I. Der KZ-Wächter im Rollstuhl durch die automatische Türe des Landeskranken- hauses Bregenz. Er bemüht sich, nicht aufzufallen. In der Ein- Der Trommler gangshalle umarmt er den Alten und sagt: „Ich liebe dich.“ Der Im Oktober 1942 ging ein Trommler durch Nova Pa- antwortet: „Mach dir keine Sorgen um mich.“ zova im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Dann dreht sich Krampitz um und geht. Zuvor hat er sechs 25 Kilometer westlich von Belgrad, damals 6000 Ein- Wochen lang versucht, für seinen Schwiegervater eine Unter- wohner: vorwiegend protestantische Donauschwaben, kunft zu finden. Niemand wollte den Mann im Rollstuhl neh- deren Vorfahren 1791 von den Habsburgern an der Mi- men, der rund um die Uhr betreut werden muss, an Parkinson litärgrenze zum Osmanischen Reich angesiedelt wor- und Herzproblemen leidet. Jetzt bleibt er alleine in einem frem- den waren. Nova Pazova, heute ein ländlicher Vorort den Land zurück, dessen Sprache er schon fast vergessen und der serbischen Hauptstadt, lag im Sumpfgebiet der Do- in dem er keine Angehörigen hat. nauauen, ein größeres Bauerndorf, das von Landwirt- In einer Tasche seines Rollstuhls steckt ein brauner Um- schaft und Viehzucht lebte. schlag mit Dokumenten. Als Angestellte des Bregenzer Spitals Eineinhalb Jahre zuvor, am 6. April 1941, hatte die auf den Alten aufmerksam werden, ist rasch geklärt, um wen Deutsche Wehrmacht das Königreich Jugoslawien über- es sich handelt: Josias Kumpf, geboren am 7. April 1925 in Nova rannt. Jetzt – der Vormarsch an der „Ostfront“ war ins Pazova, Jugoslawien; im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Waf- Stocken geraten, in Russland war die Rote Armee gerade fen-SS, mutmaßlich an der Erschießung von 8000 Juden betei- dabei, Stalingrad einzukesseln – brauchten die Nazis ligt; unmittelbar vor einer Anklage wegen „Verbrechens gegen dringend zusätzliche Truppen. Dabei boten sich in ers- die Menschlichkeit“ in Spanien; am 18. März 2009 aus den USA ter Linie die „Volksdeutschen“ an, Angehörige der deutsch- nach Österreich deportiert, weil ihn die amerikanische Justiz sprachigen Minderheiten in den besetzten Gebieten. als mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher enttarnt hat. Und deshalb forderte in Nova Pazova der Tromm- Der Fall Josias Kumpf ist symptomatisch für die wohl letz- ler die jungen Männer auf, in die Dorfschule zu kom- te Phase der weltweiten Jagd auf Verbrecher des Dritten Reichs. men, um sich einer Musterung zu unterziehen. Die Haupttäter sind entweder längst abgeurteilt, tot – oder Am 15. Oktober 1942 meldete sich Josias Kumpf zur konnten nie gefunden werden. In zehn Jahren werde die „bio- SS – laut seinen Anwerbungsdokumenten „freiwillig“. logische Uhr des Zweiten Weltkriegs“ abgelaufen sein, formu- Kumpf war damals 17 Jahre alt, ein Bauernbub, der nur lierte Nazi-Jäger in einem Interview in diesem drei Jahre lang die Schule besucht hatte und kaum le- Jahr. Rosenbaum ist Direktor des Office of Special Investiga- sen und schreiben konnte. Ein paar Tage später stand tions (OSI), einer Abteilung des US-Justizministeriums, die er am Bahnsteig. Der Zug fuhr nach Deutschland. Nazis in den USA aufspürt. Schon 1999 sagte er: „Es ist ein Wie die genauen Umstände waren, die dazu geführt Wettlauf gegen die Zeit.“ haben, dass Kumpf der SS beitrat, ist heute schwer nach- Mittlerweile wächst die Frustration darüber, dass die „Most zuvollziehen. Seiner Familie hat er nie etwas darüber Wanted“-Liste des Center zunehmend eine erzählt. Kartei von mutmaßlichen Leichen darstellt. , als „Ich war 16 Jahre alt. Sie holten mich und auch an- SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter Adolf Eichmanns mit- dere. Sie haben nicht gefragt. Auch wenn man Nein verantwortlich für die Ermordung an über 100.000 Juden, wäre sagte, man musste mit“, erzählte er im vergangenen heute 97 Jahre alt; , Lagerarzt im Konzentrati- Juni gegenüber profil. onslager Mauthausen, wurde zuletzt als tot gemeldet, er wäre Einerseits ist bekannt, dass der Militärdienst für die inzwischen 94. Der Jüngste auf der Liste, Mikhail Gorshkow, Nazis jungen Volksdeutschen durchaus attraktiv er- ein ehemaliger -Mann, der sich in Estland aufhalten schien: Dafür hatten die Propagandisten des Dritten soll, ist 86. Reichs bereits vor dem Krieg ideologisch den Boden Dennoch werden immer wieder NS-Angehörige belangt. bereitet. Andererseits weiß man aber auch, dass der Bei- Allerdings handelt es sich bei den Beschuldigten zunehmend tritt zur SS fallweise unter Druck erfolgte. um mutmaßliche Täter vom untersten Ende der Befehlskette. Die Geschichten der Betroffenen klingen sehr ähn- Ihre strafrechtliche Verfolgung gestaltet sich aus mehreren lich. Gründen schwierig: Zum Zeitpunkt der Verbrechen, Zum Beispiel jene von Michael Gruber, geboren in die ihnen zur Last gelegt werden, waren sie oft noch Kroatien, 1942 in Osijek zur Musterung einberufen – sehr jung – heute sind sie schon sehr alt und deshalb und wie Kumpf der SS beigetreten, in Deutschland aus- meist nicht mehr verhandlungsfähig. gebildet, nach dem Krieg in die USA ausgewandert und Und so stößt die Jagd auf die letzten Nazis an Grenzen: Man schließlich nach Österreich ausgewiesen. Ein Auszug will Gerechtigkeit für Nazi-Opfer üben, auch wenn die Justiz aus einem Interview, das profil im Jahr 2000 mit Gru- nichts mehr ausrichten kann. Verfahren werden angestrengt, ber führte: die ohne Zeugen und Beweise zu Schuldsprüchen führen sol- profil: Als Sie im September 1942 nach Osijek einberu- len. Verdächtige werden öffentlich als Kriegsverbrecher geäch- fen wurden, wussten Sie da, dass Sie zur SS kamen? tet, ohne dass es je zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Die Gruber: Wir wussten gar nichts. Motivation der Nazi-Jäger ist durchaus ehrenvoll, die Ergeb- profil: Wann haben Sie es dann erfahren? nisse ihrer Arbeit werden jedoch zusehends fragwürdiger. Gruber: Erst in Breslau, als wir eingekleidet wurden. profil untersucht aktuelle Fälle von Personen, die heute we- Aber wir wussten gar nicht, was „SS“ bedeutete. Wir gen NS-Verbrechen verfolgt werden. Einer davon ist der von dachten, das sei das Militär. Josias Kumpf. profil: Das Gericht wirft Ihnen vor allem Ihren Dienst E

19. Oktober 2009 • profil 43 89 coverstory

in Oranienburg ab 1943 vor. In welcher Einheit waren Sie da? Im Oktober 1943 wurde Kumpf nach Polen ab- Gruber: Die sagen hier „im Totenkopfbataillon“, aber ich weiß kommandiert. Sein neuer Einsatzort hieß Trawniki. nicht, was das sein soll. Einen Totenkopf haben doch alle auf den Klamotten gehabt. Wir haben Sträflinge bei der Arbeit be- wacht. Das Lager profil: Die KZ-Häftlinge von Sachsenhausen. Die Gemeinde Trawniki liegt im Osten Polens, in der Gruber: Das wussten wir nicht. Wir durften nicht einmal mit ih- Woiwodschaft Lublin. Im Jahr 1941 hatte die SS dort nen sprechen. Man sagte uns, dass es Verbrecher waren. Auch auf dem Gelände einer alten Zuckerfabrik mit Bahn- Kommunisten, hieß es. zwei Lager eingerichtet. Im ersten bildeten profil: Sie waren bewaffnet. die Deutschen zwischen Herbst 1941 und Mitte 1943 Gruber: Ja, mit einem Karabiner. Aber ich musste nie schießen. rund 5000 „Hilfswillige“ aus – vor allem Ukrainer, Gruber kam seiner drohenden Ausweisung aus den USA aber auch Balten, Polen und Volksdeutsche aus der schließlich zuvor, reiste selbst nach Österreich und nahm am 7. Sowjetunion. Die Männer waren für ihre besondere Juni 2002 Quartier im steirischen Mürzzuschlag. Brutalität bekannt und wurden zur Bewachung von Nur zwei Monate danach, am 6. August 2002, starb er. Konzentrationslagern, aber auch zur Durchführung Insgesamt wurden alleine in Jugoslawien schätzungsweise des dort stattfindenden Völkermords eingesetzt. 42.000 Volksdeutsche in die SS aufgenommen. Je mehr Verlus- Im zweiten der beiden Lager wurden vorerst die te die Deutschen, vor allem aber die SS, in Russland hinnehmen Habseligkeiten ermordeter Juden sortiert und zwi- mussten, desto mehr intensivierten sie ihre Rekrutierungsmaß- schengelagert. Später stellten dort Zwangsarbeiter so nahmen. „Die Volksdeutschen und Germanen sind die Letzten, genannte kriegswichtige Güter her – etwa Uniformen. bei denen wir bei längerer Dauer des Krieges noch einen Ein- Kommandiert wurde Trawniki von einem SS-Sturm- satz herausholen können“, schrieb SS-Obergruppenführer Gott- bannführer namens Karl Streibel (siehe auch Kasten lob Berger, Chef des SS-Hauptamtes, am 13.10.1943 an seinen „Schandurteile“, Seite 92). Vorgesetzten . Eigentlich hatten die Nationalsozialisten geplant, Trawniki zu erweitern. Im Laufe des Jahres 1943 war es aber in zwei in Ostpolen gelegenen Vernichtungs- Die Ausbildung lagern – Treblinka und Sobibor – zu Aufständen ge- Die erste Station für Josias Kumpf war Oranienburg, wo sich das kommen. Daraufhin ordnete SS-Reichsführer Hein- Hauptquartier der Inspektion der Konzentrationslager (IKL) be- rich Himmler am 22. Oktober 1943 die Auflösung al- fand, die Führungsbehörde der SS-Totenkopfverbände – also je- ler Lager im Distrikt Lublin an. ner Hilfspolizei-Einheiten, die in der Anfangsphase des Kriegs Sieben Tage später, am 29. Oktober, kam Josias vor allem für die Bewachung der KZs eingesetzt und 1940 in die Kumpf, mittlerweile 18 Jahre alt, gemeinsam mit 150 Waffen-SS eingegliedert wurden. weiteren Wachleuten in Trawniki an. Dort liefen zu die- Kumpf bekam eine schwarze SS-Uniform mit dem Totenkopf sem Zeitpunkt bereits die Vorbereitungen zur „Aktion am Kragenspiegel, eine Waffe und eine Tätowierung mit seiner Erntefest“: der Ermordung der Juden von Lublin. Blutgruppe auf den Oberarm. Nach der Grundausbildung wur- de er zur Bewachung des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingesetzt. Hier wurden zwischen 1939 und 1945 mehrere zehn- Das Massaker tausend Menschen ermordet – unter anderem in einer für Mas- Als Kumpf das Lager zum ersten Mal betrat, müssen senhinrichtungen konzipierten Genickschussanlage. Häftlinge gerade damit beschäftigt gewesen sein, Grä- Die Angehörigen der Totenkopfverbände waren dafür abge- ben auszuheben – offiziell waren sie zum Schutz vor stellt, Fluchtversuche zu verhindern; wenn nötig, mit Gewalt. Luftangriffen gedacht, in Wirklichkeit aber für das Kumpf sagt über diese Zeit, er habe am Wachturm gestanden, bevorstehende Massaker. sei aber nie dazu gezwungen gewesen zu schießen. Er habe ge- Am frühen Morgen des 3. November jagten SS- wusst, dass es im Lager eine Gaskammer gab: „Ich höre, dass sie und Polizeieinheiten in den Konzentrationslagern Leute hineinschicken, und das ist es. Sie kamen nicht mehr her­ Trawniki, Majdanek und Poniatowa die Juden aus ih- aus, das habe ich gehört“, wird er in Dokumenten des US-Jus- ren Unterkünften. tizministeriums zitiert. Es gibt nur wenige Augenzeugenberichte aus Traw- „Als Volksdeutscher stand Kumpf in der SS-Hierarchie eher niki selbst. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass unten“, sagt Bertrand Perz, als stellvertretender Leiter des Ins- sich dort das Gleiche abspielte wie im rund 40 Kilo- tituts für Zeitgeschichte der Universität Wien ein ausgewiesener meter entfernten Majdanek. Das Urteil eines lange Fachmann für die NS-Zeit. Unter anderem hat er für einen NS- nach dem Krieg in Düsseldorf durchgeführten Ge- Prozess in Duisburg ein Gerichtsgutachten über die Rolle der richtsverfahrens schildert die Situation, nachdem die Volksdeutschen in der SS angefertigt. „Aus der Sicht der Reichs- Delinquenten im Laufschritt zu den Gräben getrie- deutschen waren die oft nur mit mangelnden Kenntnissen der ben worden waren: „Dort mussten sie sich ‚dachzie- deutschen Sprache ausgestatteten Volksdeutschen keine richti- gelförmig‘ (…) mit dem Gesicht nach unten so hinle- gen Deutschen. Vielfach galten sie in den Augen dieser als ‚ras- gen, dass sich jeweils das erste Opfer auf dem Boden sisch minderwertig‘“, heißt es darin – ein Umstand, den manche und jedes nachfolgende mit dem Kopf auf dem Rü- der Gedemütigten durch besonderen Übereifer kompensierten. cken des unter ihm liegenden Opfers befand.“ Danach Während seiner Zeit im KZ Sachsenhausen wurde Josias wurden sie mit Schüssen in den Hinterkopf getötet. Kumpf befördert. Er bekam mehrfach Ausgang, den er unter an- „Nachdem die Sohle der Gräben mit Leichen gefüllt derem dazu nutzte, Berlin zu besuchen. Schließlich gewährte war, mussten die nächsten Opfer auf die Leichen stei- ihm die SS sogar Heimaturlaub in Jugoslawien. gen, eine weitere Schicht von Menschenleibern bil-E

90 profil 43 • 19. Oktober 2009 Schuldfragen Die letzten Fälle mutmaßlicher NS-Täter und der Wettlauf gegen die Zeit. Johann Leprich, 84 , 85 Geboren in Rumänien, Geboren im damaligen Königreich der Serben, Kroaten und im November 1943 der Slowenen, 1942 Rekrutierung zur Waffen-SS, Mitglied des To- Waffen-SS beigetreten. tenkopf-Bataillons und KZ-Aufseher in Sachsenhausen, Bu- Bis April 1944 Wach- chenwald und Arolsen. mann im KZ Maut­ Vorwurf: Beteiligung an hausen. Vorwurf: Be- der Judenverfolgung. teiligung an den dort Geiser bekämpft derzeit verübten Verbrechen seine Ausweisung aus den gegen die Menschlich- USA, wo er seit 1956 lebt keit. und in Pennsylvania eine Leprich wurde bereits Familie mit drei Kindern 1987 von den USA aus- gegründet hat. Zum Zeit- gebürgert, hielt sich punkt seiner Aufnahme aber bis 2003 in Nord- bei der SS war er 17 Jah-

AP amerika versteckt. Am re alt. Im Falle seiner De- 1. Juli 2003 wurde er in einem Versteck unter der Kellerstiege portation würde er mög- eines Hauses entdeckt, das er früher mit seiner Frau bewohnt licherweise nach Öster- hatte. Saß bis 2006 in Haft, musste dann aber freigelassen wer- reich verbracht, da er vor den. Sowohl Rumänien als auch Deutschland weigern sich, ihn seiner Emigration hier aufzunehmen. lebte. Anton Tittjung, 84 Michael Gruber, 1916– Geboren in Kroatien, im Oktober 1942 zur SS eingezogen und bis zum Kriegsende als Wachmann im KZ Mauthausen und 2002 dem Nebenlager Großraming eingesetzt. Vorwurf: Beteiligung Geboren in Krndija im heutigen Kroatien, SS-Mitglied im To- an den dort verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. tenkopfbataillon, Aufseher im KZ Sachsenhausen, 1956 von Die US-Staatsbürgerschaft von Tittjung wurde im Jahr 1990 Österreich in die USA ausgewandert. Arbeitete bis zu seiner aberkannt, 1994 sollte er nach Kroatien ausgewiesen werden. Pensionierung als Autolackierer und lebte im Staat New York. Er befindet sich immer noch in den USA, weil sich kein Land 2002 wurde er wegen falscher Angaben bezüglich seiner Zeit bereit erklärt hat, ihn aufzunehmen. im Dritten Reich ausgewiesen, reiste aber kurz vor seiner ­De­portation nach Österreich, wo er sich am 7. Juni in Mürz- zuschlag behördlich meldete. Zwei Monate später, am 6. Au- Iwan (John) gust, starb er. Demjanjuk, Milivoj 89 Ukrainischer „Hilfswilliger“ Asˇner, 96 der SS in mehreren Kon- Geboren in Daruvar, zentrationslagern, unter an- heute Kroatien. Im derem auch in Trawniki. Zweiten Weltkrieg ehe- Vorwurf: Bei ihm soll es sich maliger Polizeichef des um einen besonders bruta- Ustascha-Regimes. Vor- len Wachmann mit dem wurf: Beteiligung an De- Spitznamen „Iwan der portationen und Vertrei- Schreckliche“ handeln. bungen von Serben, Ju-

R euters Demjanjuk stand dafür be- den und Roma. reits Ende der achtziger Jahre in vor Gericht. Ein gegen Asˇner lebt seit seiner ihn verhängtes Todesurteil wurde wegen Zweifeln an seiner Flucht aus Kroatien im

Identität 1993 jedoch wieder aufgehoben, Demjanjuk kehrte in Egg enber g er Gert Jahr 2005 in Klagenfurt. die USA zurück. 2002 wurde ihm die US-Staatsbürgerschaft Einem Auslieferungsantrag von Kroatien wurde bisher nicht aberkannt, 2009 lieferte ihn Amerika an Deutschland aus. Dort nachgekommen. Psychiatrische Gutachten bescheinigten Asˇner wartet er im Gefängnis auf einen Prozess wegen Beihilfe zum keine Vernehmungsfähigkeit, diese sind jedoch umstritten. Mord in mindestens 27.900 Fällen.

19. Oktober 2009 • profil 43 91 coverstory

Schandurteile Holocaust vor Gericht. Die Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen wurde in Österreich halbherzig betrieben. Die Gesellschaft stand aufseiten der Täter.

ine gerichtliche Verfolgung oder E Franz Razesberger, ehemals Komman- der von Gogls Untaten hätte berichten Egar Verurteilung von Josias Kumpf deur der Sicherheitspolizei, der 1961 we- können, war kurz vor Verhandlungsbe- wäre vermutlich auch schon vor einem gen Massenerschießungen in der Ukraine ginn gestorben. halben Jahrhundert ins Leere gelaufen. angeklagt war, berief sich erfolgreich auf E Im Prozess gegen Franz Murer, den Kurze Verjährungsfristen, Amnestien so- den „Führerbefehl“ und die „damals gel- ehemaligen Stabsleiter des Gebietskom- wie der mit ehemaligen Nationalsozialis- tende Rechtsordnung“. missariats im litauischen Wilna, wurden ten durchsetzte Polizei- und Justizapparat E Die Brüder Johann und Wilhelm Mau- die Überlebenden mit grotesken De- sorgten für weitgehende Schonung der in er, die 1966 angeklagt wurden, als Ange- tailfragen traktiert. Eine Aussage wurde Österreich untergetauchten Verdächtigen. hörige der Sicherheitspolizei in Ostgalizi- als unglaubwürdig gewertet, weil ein Zeu- In den ersten Jahren nach 1945 war zwar en am so genannten „Blutsonntag“ von ge im Jahr 1947 von Murers dunkelgrauer eine Reihe von Überlebenden aus den be- Stanislau, bei dem 12.000 Menschen ge- Uniform gesprochen hatte und sie später freiten Konzentrations- und Vernich- tötet wurden, beteiligt gewesen zu sein, hell nannte. Ein anderer wurde mit der tungslagern einvernommen worden, doch gingen in erster Instanz ebenso frei. Un- Frage gequält, welches Motiv Murer denn die Protokolle wurden nicht zentral ge- ter Beifall des Publikums gaben sie im gehabt haben soll, dessen Kind vor seinen sammelt, verschwanden in alliierten Gerichtssaal antisemitische Hasstiraden Augen zu ermorden. Ein Dritter wurde ­Beständen oder blieben jahrelang unbe- von sich, während die Überlebenden in gefragt, ob er sich vergewissert hätte, dass achtet. Weinkrämpfen von Vergewaltigungen, sein angeblich erschossener Freund auch Die Republik machte sich kaum Kindesfolter und Morden berichteten. wirklich tot war, nachdem Murer die Mühe, Zeugen auszuforschen, Waffe auf ihn gerichtet hatte. Rechtshilfeansuchen wurden ver- Murer wurde 1963 freigespro- schleppt. Die Gesellschaft stand chen. aufseiten der Täter, wovon die E Nicht einmal höhere Char- Stimmung in den Gerichtssälen gen des Regimes mussten sich und auf den Geschworenenbän- der vollen Verantwortung stel- ken zeugte. len. Franz Novak, der als Mit- So manch potenzieller Zeuge arbeiter von weigerte sich nach einigen skan- die Judentransporte in die Ver- dalösen Freisprüchen im deutsch- nichtungslager organisiert hatte, sprachigen Raum, sich einem verteidigte sich vor Gericht, traumatisierenden Kreuzverhör Auschwitz sei für ihn ein Bahn- vor Gericht auszusetzen. hof wie jeder andere gewesen. Der ehemalige SS-Sturm- Erst später sei ihm aufgefallen,

bannführer und Lagerleiter Karl S Z Photo dass es „ein frequentierter Ziel- Streibel etwa – der Vorgesetzte SS-Wachmannschaft, 1939 in Mauthausen bahnhof“ war. Die Geschwore- von Kumpf und Demjanjuk in Skandalöse Freisprüche und milde Urteile in der Nachkriegszeit nen kamen zum Schluss, Novak Trawniki – wurde 1976 in Ham- sei durch die NS-Propaganda burg freigesprochen. Streibel hatte seine Die Geschworenen, unter ihnen ehemali- „irregeführt“ worden und in die Sache ­Leute zur Liquidierung von Ghettos und ge Nationalsozialisten, kamen zur Über- ­„hineingeschlittert“. Novak wurde 1972 als Wachpersonal in Vernichtungslager zeugung, die beiden Brüder hätten unter wegen der „unmenschlichen Art der ­geschickt, wo sie die Menschen in die „unwiderstehlichem Zwang“ gehandelt. Durchführung der Transporte“ zu acht ­Gaskammern trieben. Das Gericht konnte E Auch ein Kommandoführer im KZ Jahren Haft verurteilt, in der Hauptsache er dennoch davon überzeugen, erst nach Mauthausen, Johann Vizenz Gogl, wurde freigesprochen. der Rückkehr seiner Mannschaft erfahren für unschuldig befunden. Der berüchtigte Frei von Schuld waren nach Ansicht zu haben, was dort vor sich ging. SS-Mann war schon 1947 von ehemaligen der Geschworenen auch die österreichi- Ehemalige Angehörige von KZ-Wach- Überlebenden belastet worden. Sie hatten schen Bauleiter der Krematorien und mannschaften schoben die Verantwortung zu Protokoll gegeben, er habe Insassen zu Gaskammern in Auschwitz: Walter Deja- auch gern auf ehemalige Kollegen, die Tode geprügelt und erschossen, ge- co und Fritz Karl Ertl. Zwei weitere längst in Argentinien oder sonst wo unter- schwächte jüdische Häftlinge an Händen Auschwitz-Täter aus der SS-Wachmann- getaucht waren. Sie entlasteten einander und Füßen gepackt und in den elektri- schaft des Lagers, Otto Graf und Franz gegenseitig und waren weitaus besser ver- schen Lagerzaun geworfen. Als es 25 Jah- Wunsch, wollten ebenfalls nicht gewusst netzt als die Opfer. re später zum Prozess kam, behauptete haben, was in Auschwitz vor sich ging. Sie In Österreich gab es skandalöse Frei- Gogl, man verwechsle ihn mit einem an- wurden 1972 freigesprochen. sprüche und milde Urteile. deren SS-Mann. Der einzige Augenzeuge, Christa Zöchling

92 profil 43 • 19. Oktober 2009 den und sich dann in der gleichen Weise erschießen Dort, so Kumpf, wurde er von der Roten Armee gefangen ge- lassen“, heißt es in dem Urteil weiter. nommen und für den Rest des Kriegs interniert. Franz Skubinn, Angestellter eines deutschen Un- Irgendwann in dieser Zeit ätzte er sich die Blutgruppentäto- ternehmens, das in Trawniki Zwangsarbeiter beschäf- wierung, die ihn als Mitglied der SS verriet, mit Säure aus der tigte, schilderte nach dem Krieg vor Gericht die Um- Haut seines Oberarms. stände: „Die Juden begaben sich ruhig und ohne Wi- derstand zu den Exekutionsgräben. Teilweise fassten sie sich an den Händen und gingen gemeinsam … Ei- nige erkannten mich und riefen mir noch zu: ,Auf Wiedersehen, Herr Skubinn!‘“ In diesem Augenblick II. Der Amerikaner habe er an der ganzen Menschheit gezweifelt. Die Tötungen zogen sich den ganzen Tag hin. Währenddessen beschallte die SS das Lager mit lau- Die Ankunft ter Musik – unter anderem Märschen und Walzern Josias Kumpfs Tochter Anneliese kann sich noch genau an den von Johann Strauss. Augenblick erinnern, als sie zum ersten Mal die Freiheitsstatue In Trawniki kamen an diesem Tag bis zu 8000 Men- sah: Es war Abend, nach zehn Tagen auf See glitt ihr Schiff in schen ums Leben. Die Einwohner des nahe gelege- den Hafen von New York, und die riesige Gestalt mit der Fackel nen Dorfs konnten „trotz der pausenlosen Musik, der in der Hand stand hell erleuchtet in der Dämmerung. Kumpfs Schüsse aus den Gewehren (…) Schreie, Stöhnen und jüngster Sohn Egon, 3, war so aufgeregt, dass er vor Freude sei- Weinen der (…) Juden und ihrer Antreiber hören“, nen Hut ins Wasser warf. wird der Ohrenzeuge Wladislaw Hobot im Buch „Das Nach dem Krieg hatte Josias Kumpf seine Angehörigen, die Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek“ wie viele Volksdeutsche vor der Front aus Nova Pazova geflohen von Barbara Schwindt zitiert. waren, in Österreich wiedergefunden. Zwei Tage lang mordeten die SS und ihre „Hilfs- Er verdingte sich als Hilfsarbeiter auf einem Bauernhof, spä- willigen“ bei diesem „Erntefest“ im Distrikt Lublin. ter als Straßenarbeiter und in einer Ziegelfabrik. Am 8. Mai 1948 Dann waren an die 40.000 Menschen tot. heiratete er Elisabeth Eremity, die Tochter einer Familie aus der deutschen Minderheit in Rumänien, die ebenfalls nach Öster- reich geflüchtet war. Die Familie ließ sich in Ried im Innkreis Der Aufpasser nieder, drei Kinder wurden geboren. Es ist unbestritten, dass sich Josias Kumpf während 1956 suchten die Kumpfs um Visa für die USA an. Auf dem der „Aktion Erntefest“ in Trawniki aufhielt. Unklar Antragsformular gab Kumpf an, er habe für die „German Army“ ist, ob er auch persönlich an den Erschießungen teil- in Deutschland, Polen und Frankreich gedient. Von einer Mit- genommen hat. gliedschaft in der SS erwähnte er nichts. Am 23. März 1956 stell- Kumpf selbst gibt an, seine Aufgabe habe darin be- te die US-Botschaft in Österreich der Familie die Einreisege- standen, am Rand der Gruben zu stehen und zu ver- nehmigungen aus. hindern, dass eventuell Überlebende flüchten. Ein katholischer Priester in Chicago, wo sie Verwandte hat- „Ich war dort, in Trawniki. In jener Nacht. Ich war ten, half den Kumpfs, die Reise zu finanzieren. ein Wächter, am Zaun – Sie verstehen?“, erzählte er Jetzt, Ende Mai 1956, waren sie in Amerika angekommen, am im vergangenen Juni gegenüber profil. „Aber ich kam Abend des Memorial Day, einem US-Feiertag für gefallene Sol- zu spät. Als ich hinkam, hatte man sie schon erschos- daten. Über Manhattan wurde ein Feuerwerk abgeschossen. sen. Hunderte. Tausende. Mit dem Maschinengewehr. Sie lagen in den Löchern, die sie davor selbst hatten ausheben müssen. Manche von ihnen waren noch Der Aufstieg nicht tot, sie krabbelten wieder heraus. Dann schoss Von New York aus nahmen die Kumpfs einen Zug nach Chica- man nochmals auf sie, auf einen nach dem anderen. go und quartierten sich dort vorübergehend bei Elisabeths Mut- Bis sie alle tot waren.“ ter ein. Schon zwei Wochen später fanden sie eine Mietwoh-E t

Er selbst, beteuerte Kumpf auch gegen- a

über den Ermittlern der US-Justiz, habe p riv niemanden getötet. Nach der „Aktion Erntefest“ bekam Kumpf erneut Heimaturlaub, den er bei sei- ner Familie in Jugoslawien verbrachte. Da- nach kehrte er zu seiner Einheit zurück und wurde im Frühjahr 1944 nach Frankreich verlegt. Dort bewachte er Zwangsarbeiter, die Startrampen für Raketen errichteten. Nach der Invasion in der Normandie kam er erneut an der Ostfront zum Einsatz.

Kumpf mit Familie in den USA Über den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Herrschaft wurde nie gesprochen, erinnert sich Tochter Anneliese

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nung, und Josias trat einen Job als Wurststopfer bei „Angenehme Ausrede gefunden“ der Vienna Hot Dog Company in Chicago an. An- Interview. , Direktor des Simon Wiesenthal fangs hatten sie es dennoch nicht leicht. Anneliese er- innert sich, dass sie als Kinder in der Schule gehänselt Center in Jerusalem, über den Fall Kumpf und die Verant- wurden, weil sie kaum Englisch sprachen und ärmlich wortung Österreichs.* gekleidet waren. Man verspottete sie als „DP“ (Dis- placed Person, deutsch: Vertriebene), als „Leute, die vom Boot runtergekommen sind“, und als „Nazis“. profil: Sie üben seit Jahren heftige Es ging aufwärts: zwei weitere Kinder, ein Auto, Kritik, weil Österreich zu wenig für ein eigenes Haus in Chicago. die Verfolgung von NS-Kriegsver- Von Reichtum konnte allerdings keine Rede sein, brechern tut. Gilt das auch für den die weiteste Reise war ein Ausflug zu den drei Auto- Fall Kumpf? stunden entfernten Niagara-Fällen. Tochter Annelie- Zuroff: Wir sehen immer wieder, se sagt, ihr Vater habe gern an Autos herumgebastelt, dass Österreich keine Anstalten er mochte Picknicks und Familienfeiern. Er besuchte macht, diese Leute vor Gericht zu keine Englischkurse und lernte nie Lesen und bringen und für ihre Verbrechen zu ­Schreiben. Efraim Zuroff, 60, bestrafen. Im Fall Kumpf hat Öster- Während in Europa hochrangige NS-Täter vor Historiker, gilt nach dem reich offenbar überhaupt nichts un- Gericht kamen und vielfach freigesprochen wurden, Tod von Simon Wiesenthal ternommen. war der Krieg in der alten Heimat im Hause Kumpf als der letzte „Nazi-Jäger“ profil: Nach österreichischer Rechts- nie ein Thema. und koordiniert weltweit lage wären die Taten von Kumpf in- Im Februar 1964 stellte Josias Kumpf einen Antrag die Verfolgung von NS- zwischen verjährt, weil er 1943 min- auf Verleihung der US-Staatsbürgerschaft. Seine frü- Verbrechern. Seit acht derjährig war. Ist das ein Argument, here Mitgliedschaft bei der SS erwähnte er auch dar- Jahren publiziert der Lei- ihn nicht zu verfolgen? in nicht. ter des Simon Wiesenthal Zuroff: Ich kann nicht gegen die Ge- 1979 rief die Regierung der USA eine Sonderer- Center in Jerusalem jähr- setze der Republik Österreich han- mittlungsbehörde ins Leben, da publik geworden war, lich einen „Status Report“ deln. Aber die Frage ist: Gab es dass auch ehemalige SS-Angehörige in die USA ein- über seine Tätigkeit. De- nicht doch einen Weg, ihn zur Re- gereist und US-Bürger geworden waren. Das Office tails unter www.operation chenschaft zu ziehen? Ich bin kein of Special Investigations (OSI) nahm seine Arbeit auf. lastchance.org Anwalt, aber ich gehe davon aus, dass das Vorgehen in solchen Fällen durch den politischen Willen bestimmt ist. Ohne den Fall selbst bearbeitet zu haben: Mein Eindruck ist, dass die Regie- rung mit der Verjährung eine sehr angenehme Ausrede gefun- III. Der Gejagte den hat. profil: Im Fall Kumpf und in vergleichbaren Fällen gibt es kei- ne Zeugen mehr, die über individuelle Schuld Auskunft geben Die Ermittlungen können. Würden Gerichtsverfahren Ihrer Meinung nach Josias Kumpf saß auf der Veranda im Hinterhof sei- trotzdem Sinn machen? nes Hauses im County Racine, Bundesstaat Wiscon- Zuroff: Wie kommen Sie darauf, dass es keine Zeugen gibt? sin, als die Ermittler kamen. Es war ein sonniger Tag Um diese Schlussfolgerung zu ziehen, muss man eine umfas- im August 2001, Kumpf wohnte inzwischen bei sei- sende Suche durchgeführt haben. Die Frage ist: Hat Öster- ner Tochter Anneliese und ihrem Ehemann Paul, weil reich das getan? er alleine nicht mehr für sich sorgen konnte. Seine profil: Hätte sich die US-Justiz nicht auch mit seiner individu- Frau Elisabeth war im Jahr zuvor an Krebs gestorben. ellen Schuld beschäftigen sollen? Kumpf war alleine, als ihn die Männer des OSI zum Zuroff: Kann sie nicht. Das Gesetz der USA erlaubt es nicht, ersten Mal über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg be- Leute zu verfolgen, die ihre Verbrechen außerhalb der Verei- fragten. Er beantwortete ihre Fragen und unterzeich- nigten Staaten begangen haben und deren Opfer keine ameri- nete anschließend mit seinen Initialen eine Erklärung. kanischen Staatsbürger sind. Im September 2002 fuhr ein Beamter der US-Bun- profil: Wie viele Fälle haben Sie noch auf Ihrer Liste? desbehörde vor und überbrachte Josias Kumpf einen Zuroff: Es gibt eine „Most Wanted“-Liste, aber auch viele wei- Deportationsbefehl. Man würde ihm wegen falscher tere Fälle, die sich nicht auf dieser Liste finden. Das ändert Angaben in Bezug auf seine SS-Mitgliedschaft die sich auch ständig: Wir bekommen einerseits immer wieder Staatsbürgerschaft und die staatliche Pension entzie- neue Fälle, andererseits sterben Leute, die wir suchen. hen, und er müsse das Land verlassen. profil: Und im Zusammenhang mit Österreich? Mitarbeiter des OSI waren auf den Namen Kumpf Zuroff: Wir verfolgen derzeit keine spezifischen Fälle im Zu- gestoßen, als sie Dokumente aus dem Dritten Reich sammenhang mit Österreich. Aber wir haben der Regierung mit Einwanderungslisten der USA verglichen. Mit im Lauf der Jahre mehrere dutzend Namen übermittelt – in dieser Methode findet die Behörde auch heute noch keinem dieser Fälle ist etwas geschehen. immer wieder Verdächtige. In welchem Ausmaß sich Josias Kumpf während * Das Interview wurde vor Bekanntwerden des Todes von Josias Kumpf geführt. seiner SS-Zeit, vor allem aber während des Massakers von Trawniki, schuldig gemacht hat, ist bis heute un-

94 profil 43 • 19. Oktober 2009 klar und wird es wohl auch bleiben. Es gibt keine Zeu- hen hätte. Ich sagte: Ja. Dann sind Sie schuldig, sagten sie“, er- gen oder Beweise, die ihn persönlich belasten würden. zählte Kumpf im vergangenen Juni gegenüber profil. „Darum Der Historiker Bertrand Perz hält den Zeitpunkt bin ich heute hier. Dabei habe ich nichts getan. Ich habe es nur der Abkommandierung Kumpfs nach Polen nicht für gesehen. Ich kam erst hin, als sie schon fertig waren. Und wenn: zufällig: „Ende Oktober 1943 wurden mehrere hun- Damals dachten wir, es wäre richtig. Es war unser Befehl. Sie dert Angehörige von Waffen-SS und Polizeieinheiten wissen, was Befehl bedeutet, ja? Die Offiziere waren die Bosse, aus dem Generalgouvernement, aus Auschwitz und nicht die kleinen Wächter – ein 17-Jähriger, so wie ich damals.“ dem Reichsgebiet speziell für die ,Aktion Erntefest‘ Sieben Jahre lang bekämpfte Josias Kumpf diesen Bescheid. im Distrikt Lublin zusammengezogen, um die Er- Die Kosten für den Anwalt fraßen all seine Ersparnisse auf, und schießungen durchzuführen.“ am Ende waren alle Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft, und Gleichzeitig lassen Aussagen eines der wenigen Au- er hatte verloren. genzeugen des Massakers darauf schließen, dass die Im Mai 2005 wurde Kumpf die US-Staatsbürgerschaft aber- Exekutionen nicht von den einfachen SS-Wachen kannt, im Juni 2006 leitete das OSI seine Ausweisung ein, im durchgeführt wurden: „Ich glaube mich mit Sicher- Jänner 2007 ordnete das Einwanderungsgericht von Chicago sei- heit zu erinnern, dass die Schützen Angehörige des ne Abschiebung an. Zielländer: Deutschland, Österreich, Serbi- SD (des Geheimdienstes der SS, Anm.) waren“, er- en oder „jedes andere Land, das ihn akzeptieren würde“. klärte Augenzeuge Franz Skubinn nach dem Krieg vor Kumpf befand sich nun in einer bizarren Situation: Das Kö- Gericht. „Jedenfalls hatte man den Eindruck, dass es nigreich der Serben, Kroaten und Slowenen, in dem er geboren sich um geschulte Kommandos handelte.“ wurde, existiert seit mehr als sechzig Jahren nicht mehr. Serbien Aber das muss noch nicht bedeuten, dass Kumpfs wollte ihn nicht haben, Deutschland auch nicht. Bleibt Öster- Behauptung, nie auf einen Menschen geschossen zu reich, das aus völkerrechtlichen Verpflichtungen gezwungen ist, haben, den Tatsachen entspricht. Allerdings steht auch ihn einreisen zu lassen – Kumpf hatte seine Reise in die USA im der Beweis für das Gegenteil aus. Gesichert ist jeden- Jahr 1956 von hier aus angetreten, das Innenministerium in Wien falls, so der Historiker Bertrand Perz, dass die Erschie- unterzeichnete bereits damals routinemäßig eine bilaterale Er- ßungen nicht durch die jeweiligen Lagermannschaf- klärung, ihn im Fall des Falles zurückzunehmen. ten, sondern durch die zusammengezogenen Einheiten­ Josias Kumpf ist in eine Art schwarzes Loch der Geschichte unter der Leitung des Kommandeurs der Sicherheits- geraten. polizei Lublin durchgeführt wurden. Mit der Frage einer individuellen Schuld hat sich die US-Justiz nie beschäftigt, das konnte sie auch nicht: Die Ausweisung „Das Gesetz der USA erlaubt es nicht, Leute zu ver- Am 18. März 2009 wird Josias Kumpf von einem Ambulanzwa- folgen, die ihre Verbrechen außerhalb der Vereinig- gen von zu Hause abgeholt. Man legt ihn auf eine Krankentra- ten Staaten begangen haben und deren Opfer keine ge und fährt ihn zu einem nahe gelegenen Flughafen. Er darf amerikanischen Staatsbürger sind“, erläutert Efraim eine Tasche mitnehmen. „Er ist mit sehr wenigen Sachen in die- Zuroff, Direktor des in ses Land gekommen, und er verlässt es mit noch weniger“, sagt ­Jerusalem (siehe Interview links). seine Tochter Anneliese. Als der Ambulanzjet abhebt, befinden sich an Bord vier Pas- sagiere: Josias Kumpf, sein Schwiegersohn Paul Krampitz, eine Das Urteil Krankenschwester und ein Pfleger. Der Jet stoppt zweimal zum Die Argumentation der US-Behörden lautet zusam- Auftanken, einmal in Maine, einmal auf den Azoren, und landet mengefasst: Josias Kumpf hat bei seiner Einreise in die schließlich am 19. März am Flughafen Wien. Kumpf sagt zu sei- USA im Jahr 1956 verschwiegen, dass er Mitglied der nem Schwiegersohn: „Was passieren wird, wird passieren.“ SS war. Die SS ist eine verbrecherische Organisation. Kumpf führt ein offizielles Dokument der Republik Österreich Kumpf trug die Uniform der SS, er bekam von ihr eine mit sich, eine „Übernahmserklärung“ des Innenministeriums. Pistole und ein Gewehr, Sold und regelmäßig Ausgang Aber da ist niemand am Flughafen, der ihn übernehmen wür- oder Urlaub, von dem er jeweils pflichtgemäß zu sei- de. Geschweige denn, sich um ihn kümmern. ner Einheit zurückkehrte. Sein Befehl in Trawniki war Das Innenministerium, das Kumpf die Einreise ermöglicht es, eventuell Überlebende der Exekutionen mit Waf- hatte, stellt sich auf den Standpunkt, er sei ein Staatenloser, der fengewalt am Entkommen zu hindern. Selbst wenn er sich illegal im Land befinde, aber nicht abgeschoben werden nie jemandem etwas zuleide getan hätte, wurden könne – und erklärt sich für unzuständig. Damit beginnt für den Fluchtversuche alleine durch seine Anwesenheit un- Alten und seinen Schwiegersohn eine Odyssee. terbunden: „Er wurde Zeuge der Folter und Ermor- dung hilfloser Menschen und wachte darüber.“ Dadurch seien die Voraussetzungen für die Ertei- Die Irrfahrt lung des Visums weggefallen. Krampitz, der als US-Bürger kein Wort Deutsch spricht und zu- „Sie fragten mich, ob ich dort war, ob ich es gese- vor noch nie im Ausland war, besorgt sich eine Liste mit Pfle-E coverstory

geheimen in Vorarlberg und beginnt, sie abzuklappern. Vorarl- jung und Iwan Demjanjuk – zusammen. Gregorio Di- berg deshalb, weil zwei Geschwister Kumpfs in Süddeutschland onis, Leiter von Nizkor, erläutert profil gegenüber leben und ihn von dort aus zumindest besuchen könnten. Er- seine Strategie: Geklagt werde wegen Mitgliedschaft folglos. Einen mittellosen Deportierten mit NS-Vergangenheit in einer kriminellen Organisation, der Totenkopf-SS, will im „Ländle“ keiner haben. sowie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Am 3. April ruft Krampitz anonym im Amt der Vorarlberger denn ein Versuch, persönliche Schuld der vier SS- Landesregierung an und erkundigt sich nach Betreuungsmög- Wächter an konkreten Untaten nachzuweisen, sei lichkeiten für einen älteren Verwandten, der aus den USA nach nicht erfolgversprechend. Österreich eingereist ist. Er nennt den Namen von Josias Kumpf. Ismael Moreno, Richter am nationalen Gerichts- Die Beamten beginnen zu recherchieren und alarmieren ÖVP- hof in Madrid, verweist auf ein Urteil des Kriegsver- Landesrätin Greti Schmid. Jetzt wollen die Politiker nur noch brechertribunals von Nürnberg: „Das Gericht schluss- eines: den unwillkommenen Gast so schnell wie möglich wieder folgert, dass die Gräueltaten, die in diesem Lager ver- loswerden. Am 22. April fordert Landeshauptmann Herbert Saus- übt wurden, allen Mitarbeitern (…) bekannt waren gruber den Bund „umgehend auf, die Verantwortung aus der völ- und dass jene deshalb alle strafrechtlich verantwort- kerrechtlichen Verpflichtung der Übernahme wahrzunehmen“. lich waren.“ Damit wäre allein die Tatsache, dass die Am 24. April sieht Krampitz keinen anderen Ausweg mehr: vier Beschuldigten an dem jeweiligen Tatort im Ein- Er fährt mit Josias Kumpf ins Landeskrankenhaus Bregenz und satz waren, ausreichend für ihre Verurteilung. So sieht lässt ihn dort zurück. das auch Staatsanwalt Pedro Torrijos. Er hält es prin- Inzwischen hat das Land Vorarlberg bei der Caritas angefragt, zipiell für „nicht glaubhaft, dass ein SS-Mitglied im ob sie für Kumpf sorgen kann – möglichst in Wien. Für die Fi- KZ sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben nanzierung der notwendigen 24-Stunden-Betreuung werde der will“, und hält die Anwesenheit in den Lagern sowie Bund aufkommen, heißt es gegenüber der Hilfsorganisation. die Kenntnis der dort begangenen Verbrechen für ei- In der Nacht zum 6. Juni karrt ein Krankenwagen Kumpf in nen Beitrag zum Genozid. die Bundeshauptstadt. Die Caritas hat dort über ihren Tochter- Nizkor-Chef Dionis ärgert sich über das Verhalten verein „Rundum zu Hause betreut“ eine Wohnung und eine frei- Österreichs im Fall Kumpf. Es sei „schamlos“, sich zu berufliche Pflegekraft organisiert: Das nimmt Harald Walser, weigern, den ehemaligen SS-Mann vor Gericht zu Chef der Vorarlberger Grünen, zum Anlass, von einer „Luxus- stellen, nur weil er zum Tatzeitpunkt unter 20 Jahren, Betreuung“ zu sprechen. „Spanien hat ein Strafverfahren gegen also minderjährig, war und seine Verbrechen deshalb Kumpf eingeleitet, in Österreich erhält er bevorzugte Behand- in jedem Fall verjährt seien. Man habe absichtlich lung“, so Walser auf seiner Website. „Unser Land wird immer mehrere Verdächtige gleichzeitig angeklagt, weil das mehr zum ,sicheren Hafen‘ für NS-Kriegsverbrecher.“ Tatsäch- die Wahrscheinlichkeit erhöhe, „dass es einer von ih- lich ist Josias Kumpf de jure ein unbescholtener Bürger. nen bis zum Prozess schafft“, so Dionis. Keine drei Wochen nachdem Kumpf in Wien untergekom- Josias Kumpf hat es nicht mehr geschafft. men ist, steht er auch schon wieder auf der Straße. Der Sohn der Als ihn profil am Dienstag vergangener Woche im Vermieterin hat seinen Namen gegoogelt und die Vorwürfe ge- Wiener Wilhelminenspital aufsuchte, wohin man ihn gen ihn entdeckt. Nahezu gleichzeitig erfährt die Caritas, dass aus Kostengründen verlegt hatte, war er zwar bei Be- weder der Bund noch das Land Vorarlberg für Kumpf zahlen wusstsein, konnte sich jedoch nicht mehr verständlich wollen. Die Wohnung ist weg, die Pflegefinanzierung eben- machen. Seine Angehörigen in den USA hatten seit falls. zwei Monaten keine Möglichkeit mehr gehabt, mit Ein Arzt ruft die Rettung und bescheinigt einen Notfall. Am ihm zu telefonieren. Ihre Anrufe wurden nicht zu ihm 19. Juni landet Kumpf im Wiener AKH und damit in der Obhut durchgestellt. des Fonds Soziales Wien. In dieser Situation führt profil ein ers- In der Nacht zum Donnerstag, dem 15. Oktober tes Interview mit ihm. „Meine Verwandten sind weit weg“, sagt 2009, starb Josias Kumpf. Kumpf darin. „Wir haben nur manchmal Kontakt. Ich kümme- Wenn er sich schuldig gemacht hat, konnte ihm re mich um mich selbst. Ich übernachte in Unterkünften, die das nie nachgewiesen werden. gratis sind. Ich geniere mich dafür. Aber was soll man machen, Wenn er unschuldig war, konnte er das nie be­ wenn man nichts hat?“ weisen. In den folgenden Wochen und Monaten verschlechtert sich Mitarbeit: Josef Barth, Manuel Meyer/Madrid Kumpfs Gesundheitszustand rapide.

Die Anklage Josef Ba rth Währenddessen wird in Spanien ein letzter Versuch ge- startet, den Deportierten doch noch strafrechtlich zu be- langen. Kläger sind 18 ehemalige spanische KZ-Insassen, vertreten durch die Menschenrechtsorganisation Nizkor. Sie stellen eine Anklageschrift gegen Kumpf und drei weitere NS-Angehörige – Johann Leprich, Anton Titt-

JOsias Kumpf* „Meine Verwandten sind weit weg. Ich übernachte in Unterkünften, die gratis sind. Ich geniere mich dafür“ *) Im Juni 2009 beim Interview mit profil im Wiener AKH 96 profil 43 • 19. Oktober 2009