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Aufsatz

Bernhard Chiari

Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944. Die lokale Per- spektive der Besatzungsgeschichte

In den von der deutschen besetzten sowjetischen Gebieten verwirklichte die nationalsozialistische Führung ihre Politik, vor allem die Rassenpolitik, am radikalsten. Gemäßigte Kräfte des Besatzungsregimes wurden ausgehebelt, und es entstand eine gigan- tische und korrupte Klientelwirtschaft, die als »atavistische Form des bloßen Personenverbandes« bezeichnet hat1. Sie wurde dominiert durch Partei und SS, doch kämpften die verschiedensten zivilen Institutionen und Behörden ebenfalls um Macht- positionen. In Erwartung eines neuen Blitzkriegerfolges konzipierte die nationalsoziali- stische Führung einen Apparat, mit dessen Hilfe die besetzten Gebiete wirtschaftlich aus- gebeutet und die Wehrmacht aus dem Land versorgt werden sollte2. Die Planungen für einen zivilen Verwaltungsaufbau begannen erst später. Mit dessen Führung betraute Adolf Hitler Alfred Rosenberg, den er am 17. Juli 1941 zum Reichsminister für die besetzten Ost- gebiete ernannte3. Als Chef der Zivilverwaltung übernahm Rosenberg nach dem 1. August 1941 vom Oberkommando der Wehrmacht die drei baltischen Sowjetrepubliken, einen Teil Weißrußlands und die Ukraine. Schon über diese Gebietszuteilung kam es zu lang- wierigen Streitereien mit den Dienststellen der Wehrmacht, die einen Teil des Territori- ums aus militärstrategischen Gründen am liebsten überhaupt nicht abgegeben hätte4. Rosenberg schuf die Reichskommissariate Ukraine und Ostland, geführt von je einem Reichskommissar in Kiew und Riga. Im Reichskommissariat Ostland übernahm Gaulei- ter Hinrich Lohse im August 1941 das Amt des Verwaltungsführers. Er war zuständig für die vier Generalbezirke Estland, Lettland und Litauen, die vom Grenzverlauf her weitge- hend mit den Sowjetrepubliken identisch waren, und Weißruthenien, das überwiegend aus denjenigen Teilen der Sowjetrepublik Weißrußland bestand, die erst nach 1939 in das sowje- tische Staatsgebiet eingegliedert wurden. Hitler hatte Hermann Göring den Auftrag zur wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete erteilt und Heinrich Himmler, dessen im Gefolge der Wehrmacht unter der Zivilbevölkerung zu wüten begannen, die Umsetzung der rassenideologischen Zielsetzungen des Feldzuges befohlen5. Rosenberg und seine Reichskommissare, die nomi-

1 Hans Mommsen, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Vortrag auf der deutsch-sowjeti- schen Historikerkonferenz vom 8—11.4.1991 in München, Manuskript, S. 9. 2 Robert Herzog, Grundzüge der deutschen Besatzungsverwaltung in den ost- und südosteuropäi- schen Ländern während des Zweiten Weltkrieges, Tübingen 1955; Horst Schustereit, Planung und Aufbau der Wirtschaftsorganisation Ost, in: Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG), 70 (1983), S. 50-70; Georg Thomas, Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungs- wirtschaft (1918—1943/45), hrsg. von Wolfgang Birkenfeld, Boppard a.Rh. 1966. 3 Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, S. 309-331. 4 Herzog, Grundzüge (wie Anm. 2), S. 27—28; Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941—1945. Eine Studie über Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958, S. 95—110. 5 Exemplarisch für die brutalen deutschen Pläne in der Sowjetunion: Der Generalplan Ost, hrsg. von Helmut Heiber, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 6 (1958), S. 281—325.

Militärgeschichtliche Mitteilungen 52(1993), S. 67—89 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg i.Br. 68 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari nellen Herren des zivilverwalteten Gebietes, hatten die kompromißlose Ausbeutungs-, Ausrottungs- und Besiedlungspolitik, aus deren Charakter zu Beginn des Unternehmens »Barbarossa« von Hitler im engeren Kreis kein Hehl gemacht wurde, abzuschirmen und keinesfalls zu stören6. Auf der anderen Seite blieben sie in dem Glauben, zwar für die Er- reichung kriegswichtiger Versorgungsziele, aber zumindest längerfristig auch an einem dau- erhaften Aufbau der besetzten Gebiete zu arbeiten. Von Anfang an existierten so die unter- schiedlichsten politischen Konzeptionen für eine Neuordnung des sowjetischen Raumes7.

Besatzungsgeschichte

Uber die Ergebnisse und das Scheitern der Zivilverwaltung in Weißruthenien besteht in der Forschung weitgehende Einigkeit, doch liegt erstaunlicherweise keine Darstellung vor, die sich mit dem Verlauf der Besatzungszeit auf unterer Verwaltungsebene und den Grün- den für das Versagen der nationalsozialistischen Administration auseinandersetzt8. Auch mit Blick auf das weißrussische Gebiet, das die Hauptlast von Ausbeutung und Vernich- tung zu tragen hatte, bestätigt sich, daß die gründliche Erforschung der deutschen Besat- zung in der Sowjetunion erst in ihren Anfängen steckt. Die Analyse der Qualifikation des Verwaltungspersonals und der Situation, in der sich die deutsche Administration auf lokaler Ebene befand, gibt Aufschluß darüber, ob dem nationalsozialistischen Versuch einer Neuordnung des zu verwaltenden Raumes und den politischen Konzepten in Weißrußland überhaupt eine ernstzunehmende Bedeutung zukam. Derartige Untersuchungen werden zeigen, daß die Verbindung zwischen Besatzern und Bevölkerung (vor dem Hintergrund des oft beschworenen Kompetenzenwirrwars) so schlecht war, daß die deutsche Administration nicht einmal über die technischen und per- sonellen Möglichkeiten verfügte, um größere Teile der Bewohner Weißrußlands zu errei- chen. Ansätze, die lediglich jene Direktiven berücksichtigen, welche vom Ostministeri- um an die untergeordneten Dienststellen weitergeleitet wurden, müssen ein verzerrtes Bild von Besatzungsrealität vermitteln. An Versuchen, sich dem Gegenstand anzunähern, mangelt es nicht. Einen Orientierungs- punkt stellt nach wie vor Alexander Dallins Arbeit aus den fünfziger Jahren dar'. Dal- lins Studie steckt den gesamten Themenkreis der Besatzungsgeschichtsschreibung geogra- phisch wie inhaltlich ab. Dadurch aber können lokale Vorgänge zwangsläufig nur am Rande behandelt werden.

6 Vgl. Rebentisch, Führerstaat (wie Anm. 3), S. 313. 7 Daliin, Deutsche Herrschaft (wie Anm. 4), S. 56—70. 8 Für die Stadt Minsk hat dies Uwe Gartenschläger versucht (Die Stadt Minsk während der deut- schen Besatzung. Magisterarbeit, Köln 1990), für die Ukraine unter besonderer Berücksichtigung der Neuen Agrarordnung Ralf Bartoleit (Die deutsche Agrarpolitik in den besetzten Gebieten der Ukraine vom Sommer 1941 bis zum Sommer 1942 unter besonderer Berücksichtigung der Ein- führung der »Neuen Agrarordnung«, Magisterarbeit, Hamburg 1987), obwohl auch seine Analyse letztlich auf einen Versuch hinausläuft, anhand eines lokalen Ausschnittes Strukturmodelle des Nationalsozialismus zu diskutieren. Theo Schulte stellte für zwei rückwärtige Armeegebiete in den Regionen um Rzev und Brjansk Alltagsgeschichte von Wehrmacht und Besatzung dar (The German Army and Nazi-policies in occupied Russia, Oxford 1989). Zum 50. Jahrestag des »Unter- nehmens Barbarossa« edierte Reinhard Rürup eine breit angelegte und eindringliche Dokumenta- tion (Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941—1945. Eine Dokumentation zum 50. Jahrestag des Uberfalls auf die Sowjetunion, Berlin 1991). 9 Daliin, Deutsche Herrschaft (wie Anm. 4). Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 69

Schon in den fünfziger Jahren war mit den Schriften des Tübinger Instituts für Besat- zungsfragen ein Uberblick über die Strukturen deutscher Besatzungspolitik zugänglich. Die Autoren der Beiträge waren ehemalige Angehörige der nationalsozialistischen Büro- kratie. Außer von ihrem teilweise apologetischen Charakter werden diese Erinnerungen in ihrer Brauchbarkeit dadurch eingeschränkt, daß die Verfasser ausschließlich aus der Sicht der zentralen Planungsbehörden berichteten10. Angloamerikanische Untersuchungen, die sich mit den beiden realisierten Reichskommissariaten Ostland und Ukraine beschäftig- ten, lieferten zwar neue Details, behielten aber ihre globale Fragestellung bei. Anfang der sechziger Jahre kompilierte Gerald Reitlinger einen solchen Uberblick. Auch hier fehlt der Aspekt der realen Verbindung und Abstimmung zwischen den verschiedenen Ebenen der deutschen Administration und damit der Realität von Herrschaft und Ausbeutung". Für die baltischen Länder liegt eine Arbeit vor, die sich ebenfalls auf der Ebene von Erlas- sen mit der Umsetzung von Besatzungspolitik beschäftigt12. Geographisch wieder erheb- lich weiter gefaßt, doch im wesentlichen nicht über Dallins Thesen und seine umrißhafte Darstellung hinausgehend, nahm zuletzt Timothy P. Mulligan eine tour d'horizon von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer vor13. Hans-Dieter Handrack hat für Weißruthenien eine funktionierende Kulturpolitik der nationalsozialistischen Verwaltung konstruiert14. Sei- ne Studie zeigt, wie leicht es ist, der Vorstellung von einem einheitlichen Verwaltungs- raum zu erliegen und Verordnungen mit ihrer Durchführung gleichzusetzen. Alle genannten Arbeiten können unter dem Begriff einer Verwaltungsgeschichtsschrei- bung subsumiert werden, die vielfach wenig über die tatsächlichen Zustände im zivil ver- walteten Teil der besetzten Sowjetunion aussagt. Sie verfolgt vielmehr die politischen und konzeptionellen Positionen von Ostministerium, SS, Wirtschaftsverbänden und Partei, stellt sie einander gegenüber und weist Veränderungen anhand modifizierter Verwaltungskon- zepte nach15. Die landwirtschaftlichen Erträge der besetzten sowjetischen Gebiete und ihre Ausbeu- tung durch das Besatzungsregime bildeten einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion. Neben Arbeiten, die Aufbau und Gestalt des Ausbeutungsapparates16 oder einen Vergleich

10 Herzog, Grundzüge (wie Anm. 2); Otto Bräutigam, Uberblick über die besetzten Ostgebiete wäh- rend des 2. Weltkriegs, Tübingen 1954; ders., So hat es sich zugetragen. Ein Leben als Soldat und Diplomat, Würzburg 1968 (Biographie). 11 Gerald Reitlinger, Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Rußland 1941—1944, Ham- burg 1962 (engl.: 1960). 12 Seppo Myllyniemi, Die Neuordnung der baltischen Länder 1941—1944, Helsinki 1973. 13 Timothy P. Mulligan, The Politics of Illusion and Empire. German Occupation Policy in the Soviet Union, 1942-1943, New York 1988. 14 Hans-Dieter Handrack, Das Reichskommissariat Ostland. Die Kulturpolitik der deutschen Ver- waltung zwischen Verwaltung und Gleichschaltung 1941—1944, Hannoversch-Münden 1981. 15 Eine Gegenüberstellung und Typisierung einzelner Ausformungen der deutschen Besatzungsver- waltung nahm Hans Umbreit vor: Die deutsche Besatzungsverwaltung: Konzept und Typisie- rung, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1990, S. 710—727; ders., Strukturen deutscher Besatzungspolitik in der Anfangsphase des deutsch-sowjetischen Krieges, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Sta- lin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«, hrsg. von , München 1991, S. 237—250. 16 Vor allem die grundlegenden Arbeiten von Rolf-Dieter Müller (zuletzt: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt 1991), sowie Karl Brandt, Management of Agriculture and Food in the German-Occupied and other Areas of Fortress Europe. A Study in Military Government, Stanford 1953; Berenice A. Car- roll, Design for Total War. Arms and Economics in the Third Reich, Den Haag 1968; Hans Schu- stereit, Planung und Aufbau der Wirtschaftsorganisation Ost, in: VSWG, 70 (1983), S. 50—70. 70 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari zwischen der Leistungsfähigkeit der Systeme vor und nach 194117 zum Inhalt haben, zielt eine andere Fragestellung auf die tatsächlichen ökonomischen Ergebnisse, deren Nachweis in der Praxis auf große Schwierigkeiten stößt18. Aufschlüsse über die Besatzungsrealität wären von der Partisanenliteratur zu erwarten19. Die westliche Forschung hat sich aber hauptsächlich mit Organisations- und Gliederungsfragen auf der einen, Erlassen und Maß- nahmen zur »Bandenbekämpfung« auf der anderen Seite beschäftigt und ist selten auf die Ebene lokaler Ereignisse herabgestiegen20. Dabei wurden als Antagonisten der Partisanen- bewegung die SS, Polizei und Wehrmacht, nicht aber die Zivilverwaltung gesehen21. Dies gilt ebenso für zahlreiche Untersuchungen zur Aufstellung sowjetischer Hilfsverbände und zur Rolle der sowjetischen Emigranten22. Sie wurden in der Regel nicht territorial einge- grenzt oder sie behandeln generell die Konzepte einheimischer Selbstverwaltung und die ideologischen Kämpfe innerhalb des nationalsozialistischen Gefüges. Der Machtkampf deutscher Behörden in der besetzten Sowjetunion bietet geradezu »Laborbedingungen« bei der Diskussion um Monokratie und Polykratie im Dritten Reich. Grundlegend für das Verständnis der Entscheidungsstrukturen innerhalb des Reichskom- missariats Ostland sind in diesem Zusammenhang die überragende Darstellung des Ost-

17 Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel. Achsenmächte und besetzte Länder, hrsg. von Waclaw Dlugoborski, Göttingen 1981, bes. S. 11—61; ders., Economic Policy of the Third Reich in Occu- pied and Dependent Countries 1938—1945. An Attempt at a Typology, in: Studia Historiae Oeco- nomicae, 15 (1980), S. 179—212; ders., Die Landwirtschaft in der Sowjetunion 1941—1944. Ein Vergleich der Situation in den besetzten und unbesetzten Gebieten, in: Agriculture and Food Supply in the Second World War — Landwirtschaft und Versorgung im Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Bernd Martin and Alan S. Milward, Ostfildern 1985, S. 143—160; Waclaw Dlugoborski/ Czeslaw Madajczyk, Ausbeutungssysteme in den besetzten Gebieten Polens und der UdSSR, in: Kriegswirtschaft und Rüstung 1939—1945, hrsg. von Friedrich Forstmeier und Hans-Erich Volk- mann, Düsseldorf 1977, S. 375-416. 18 Christoph Buchheim, Die besetzten Länder im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs. Ein Bericht der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft, in: VfZG, 34 (1986), S. 117-145. 19 Zuletzt versucht hat dies Witalij Wilenchik, Die Partisanenbewegung in Weißrußland 1941—1944, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte (FzOG), 34 (1984), S. 129—297. Seine Ausfüh- rungen enthalten grobe Ungenauigkeiten, so wird das Ergebnis einer im Herbst 1939 durchge- führten Scheinabstimmung über den Beitritt der von der Sowjetunion annektierten polnischen Gebiete zur Weißrussischen Sowjetrepublik als eindeutiges Votum der Bevölkerung für das neue System akzeptiert. Daß sich der Verfasser dabei auch noch auf die Wahlbeteiligung von fast 100 Prozent beruft, zeugt von einer gewissen Naivität (ebd., S. 145). Zu den Vergeltungs- und »Befriedungsaktionen« der deutschen Seite Ruth Bettina Birn, Zweierlei Wirklichkeit? Fallbei- spiele zur Partisanenbekämpfung im Osten, in: Zwei Wege (wie Anm. 15), S. 275—290. 20 Matthew Cooper, The Phantom War. The German Struggle against Soviet Partisans 1941—1944, London 1979; Erich Hesse hat sich mit den Kampfanweisungen der Wehrmacht zur Partisanen- bekämpfung beschäftigt und deren Zielsetzung anscheinend selbst verinnerlicht (Der sowjeti- sche Partisanenkrieg 1941 bis 1944 im Spiegel deutscher Kampfanweisungen und Befehle, Göt- tingen 1969). Lester Eckman/Chaim Lazar behandeln den jüdischen Widerstand vor allem in Minsk, doch handelt es sich bei ihren Schilderungen eher um Augenzeugenberichte, die ohne Kenntnis der Verwaltungsstrukturen abgefaßt wurden (The Jewish Resistance. The History of the Jewish Partisans in Lithuania and White Russia During the Nazi Occupation 1940—1945, New York 1977). 21 Eine Ausnahme bildet das von John A. Armstrong herausgegebene Standardwerk, das eine gründ- liche Analyse der Partisanenbewegung mit Fallstudien verbindet, die allerdings das zivil verwal- tete Weißruthenien nicht betreffen (Soviet Partisans in World War II, Madison/Wisc. 1964). 22 , Die Geschichte der Wlassow-Armee, Freiburg 1984; Hans Werner Neulen, An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1984. Deutsche Zollverwaltung in Weißrußland 1941—1944 71

ministeriums von Dieter Rebentisch23 und Reinhard Bollmus24 sowie Dietmut Majers Untersuchung über die Stellung von Polizei und SS im nationalsozialistischen Herrschafts- system25. Bei der Beurteilung der sozialen und politischen Herkunft der in den Osten entsandten Menschen ist man bislang auf Spekulationen und stereotype Pauschalurteile angewiesen. Anders als für Wehrmacht26 und SS27, wo zumindest der Beginn einer Untersuchung von Herkunft, Rekrutierung und psychologischen Abläufen innerhalb beider Organisationen gelungen ist, blieb auf westlicher Seite für den zivilen Bereich Paul Kohls Befragung sowje- tischer Überlebender einer der wenigen Versuche, diesen Aspekt der Besatzungsrealität zu vermitteln28. In der Sowjetunion war die »Partisanenrepublik Weißrußland« seit 1945 einer der wich- tigsten Topoi bei dem Versuch, das bis heute traumatisierende Erlebnis des deutschen Über- falls zu bewältigen. Der »Volkskrieg« gegen die Besatzer fand in Weißrußland seine augen- fälligste Ausprägung. Historische Darstellungen zur Besatzungszeit stilisierten die Kom- munistische Partei zum alleinigen Initiator und Befreier des Landes hoch29; auf der anderen Seite blieben die Aussagen über die deutsche Seite holzschnittartig, nicht diffe- renziert und stets auf die Ergebnisse von Ausbeutung und Terror beschränkt30. Dabei zeigt sich, daß bislang nicht einmal Organisation und Tätigkeit des Partisanenwi- derstandes wissenschaftlich aufgearbeitet sind31; ein begrenzter darstellerischer Freiraum wurde allenfalls nicht-professionellen Autoren innerhalb einer ausufernden Kriegsbelle-

23 Rebentisch, Führerstaat (wie Anm. 3), S. 309—331. 24 Reinhard Bollmus erwähnt die Gestaltung der Ostpolitik nur am Rande (Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970). 25 Dietmut Majer, Führerunmittelbare Sondergewalten in den besetzten Ostgebieten. Entstehung und Wirksamkeit, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch- administrativen System, hrsg. von Dieter Rebentisch und Karl Teppe, Göttingen 1986, S. 374—395. 26 Uber die ideologische Durchdringung der Wehrmacht zuletzt Omer Bartov, The Eastern Front 1941—1945. German Troops and the Barbarisation of Warfare, Basingstoke 1985; ebenso Klaus- Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933—1940, Stutt- gart 21988. Uber subjektive Kriegserfahrung Omer Bartov, Von unten betrachtet. Uberleben, Zu- sammenhalt und Brutalität an der Ostfront, in: Zwei Wege (wie Anm. 15), S. 326—344; für die Ebene der Mannschaftsdienstgrade Hans-Joachim Schröder, Erfahrungen deutscher Mannschafts- soldaten während der ersten Phase des Rußlandkrieges, in: Zwei Wege (wie Anm. 15), S. 309—325. 27 Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986; mehr auf die Funktion der SS im Gesamtsystem abzielend dies., Himmlers Statthalter. Die Höheren SS- und Polizeiführer als nationalsozialistische Füh- rungselite, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 15), S. 275—285. 28 Paul Kohl, Ich wundere mich, daß ich noch lebe. Sowjetische Augenzeugenberichte, Gütersloh 1990. 29 Trotz verschiedener Anläufe immer noch nicht durch ein neues Standardwerk ersetzt wurde Velikaja Otecestvennaja Vojna Sovetskogo Sojuza. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPSS, Moskau 1984, bes. S. 99-103, S. 529-540. 30 Als Beispiel der orthodox marxistischen Darstellung der deutschen Besatzungspolitik, der öko- nomischen Ausbeutung des besetzten Gebietes und des Terrors vgl. die Aufsatzsammlung Nemecko- fasistskij okkupacionnyj rezim (1941—1944 gg.), Moskau 1965. Die DDR-Historiographie hat sich der sowjetischen Interpretation und Darstellung der deutschen Besatzung und der Partisa- nenbewegung weitgehend angeschlossen; vgl. die Aufsatzsammlung Zur Geschichte der BSSR und der deutsch-belorussischen Beziehungen, hrsg. von Claus Remers, Jena 1981. 31 Als einzige Monographie zur Partisanenbewegung L.N. Byckov, Partizanskoe dvizenie ν gody Velikoj Otecestvennoj Vojny 1941—45, Moskau 1965. Die Arbeit ist im Vergleich zur Studie Arm- strongs nur wenig aufschlußreich. 72 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari tristik eingeräumt32. Politisch heikle Themen — wie die Angst der sowjetischen Führung vor der politischen Unzuverlässigkeit der eigenen Bevölkerung nach Ausbruch des Krie- ges sowie die schlechte und unrealistische militärische Vorbereitung — mußten ebenso aus der Diskussion ausgeklammert werden wie die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Partisanen, die Haltung des »sowjetischen Dorfes« und nicht zuletzt die Diffamierung heimkehrender Partisanen nach 1945 als »Kollaborateure«33. Die Veränderungen in der Sowjetunion nach 1985 haben die Erörterung dieser Fragen ermög- licht, doch hat sich die entstandene Diskussion bislang weitgehend auf innersowjetische Tabuthemen wie Stalins Rolle bei der Kriegführung und die Zahl der Kriegsopfer konzen- triert34. Schon in den sechziger Jahren begann die Veröffentlichung von umfangreichen Aktenbeständen, die für Weißruthenien von Bedeutung sind35. Auch hier fand eine über eine Schadensfeststellung hinausgehende Diskussion nicht statt. Bei der Behandlung deut- scher Agrarkonzepte geriet die sowjetische Historiographie in eine ideologische Zwick- mühle. Auf der einen Seite mußte sie die Entscheidung der deutschen Führung für eine Beibehaltung des Kolchossystems in den sowjetischen Gebieten mit besseren Unterdrük- kungs- und Ausbeutungsmöglichkeiten erklären, auf der anderen Seite fehlte ein vernünf- tiger Grund für die Attraktivität des späten Privatisierungskurses36. Ergebnis sowjetischer Darstellungen war entweder die Interpretation der deutschen Agrarpolitik als »Kulakisie- rung« oder die Konzentration auf die Opfer unter der Landbevölkerung und die Wortbrü- chigkeit der deutschen Zivilverwaltung37.

32 Ju. Bondarev u.a., Pocemu i segodnja my pisem ο vojne?, in: Literaturnaja gazeta v. 19.2.1975; eine Ubersicht liefert Ottokar Ullrich, Die Widerspiegelung der faschistischen Okkupation in der modernen belorussischen Literatur, in: Zur Geschichte (wie Anm. 30), S. 99—11. 33 Bernd Bonwetsch, Sowjetische Partisanen 1941—1944. Legende und Wirklichkeit des »allgemei- nen Volkskrieges«, in: Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard Schulz, Göttingen 1985, S. 92—124; der Autor kommt zu dem Schluß, daß die im nachhinein verherrlichte Trägerin des Volkswiderstandes selbst von der Partei für die Überwachung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten instrumentalisiert wur- de, ohne aber das Vertrauen der Sowjetregierung zu genießen. 34 Ralf Georg Reuth, Spekulation und wenig Neues, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 17.6.1991; Bernd Bonwetsch, Die Geschichte des Krieges ist noch nicht geschrieben. Die Repres- sion, das Militär und der »Große Vaterländische Krieg«, in: Osteuropa, 39 (1989), S. 1021—1034; ders., Der Große Vaterländische Krieg und seine Geschichte, in: Dietrich Geyer, Die Umwer- tung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991, S. 167—187; Hans-Henning Schröder, Die Leh- ren von 1941. Die Diskussion um die Neubewertung des »Großen Vaterländischen Krieges« in der Sowjetunion, in: Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 15), S. 608—625; Robert W. Davies, Pere- stroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991, S. 127—144. 35 Vsenarodnaja bor'ba protiv nemecko-fasistskich zachvatcikov ν Belorussii ν period Velikoj Otecest- vennoj Vojny (ijun' 1941 g.—ijul' 1944 g.), 3 Bde, Minsk 1983, enthält Gliederungen weißrussi- scher Partisaneneinheiten bis auf Gruppenebene sowie umfangreiche Daten über Zerstörungen durch die Besatzungsverwaltung sowie Dokumente. Ahnliche Dokumente der deutschen Verwal- tung und sowjetisches Propagandamaterial in: Prestuplenija nemecko-fasistskych okkupantov ν Belorussii 1941—1944, Minsk 1965; V tylu vraga. Listovki partijnnych organizacij i partizan perioda Velikoj Otecestvennoj Vojny 1941—1945 gg., Moskau 1962. 36 Aus marxistischer Sicht im Uberblick Α. A. Anikeev, Die marxistische Historiographie über die Agrarpolitik des deutschen Faschismus im Zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswis- senschaft (ZfG), 26 (1978), S. 629-634. 37 Α. A. Faktorovic, Krach agrarnoj politiki nemecko-fasistskich okkupantov ν Belorussii, Minsk 1979; V.M. Gribnev, Razrabotka fasistskoj Germaniej planov okkupacionnogo rezima ν sel'skich mestnostjach sovetskoj Rossii (1940—1941 gg.), in: Voprosy istorii 1970, 5, S. 138—145; ders., Bor'ba sovetskich krest'jan s okkupacionnym rezimom (1941—1944 gg.) i burzuaznaja istoriografija, in: Voprosy istorii 1978, 7, S. 18—29; M.M. Zagorul'ko/A.F. Judenkov, Krach ekonomiceskich pla- Deutsche Zollverwaltung in Weißrußland 1941—1944 73

Das Generalkommissariat Weißruthenien

In den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine entstand ein Verwaltungslabyrinth, in dem sich Zivilverwaltung, Wirtschaftsdienststellen, die SS, aber auch Wehrmacht, Aus- wärtiges Amt und Propagandaministerium auf verschlungenen Wegen und ohne klare Kom- petenzabgrenzung gegenseitig bekämpften. Das unorganisierbare Chaos wurde noch von der politischen, wirtschaftlichen und propagandistischen Konzeptlosigkeit der national- sozialistischen Führung verstärkt. Diese begann erst nach dem Scheitern der Blitzkrieg- Strategie im Winter 1941/42 mit halbherzigen und unkoordinierten Versuchen, das besetzte Gebiet zu organisieren und seine Bevölkerung unter dem Schlagwort des Kampfes gegen den Bolschewismus für sich zu gewinnen38. Das Generalkommissariat Weißruthenien, seit September 1941 geführt vom Gauleiter der Kurmark und Oberpräsidenten von Brandenburg und Westpreußen, Wilhelm Kube, stellte innerhalb dieses kaum zu überschauenden Netzwerkes ein Extrem dar. Ethnisch und geographisch bildete es einen völlig uneinheitlichen Raum, in dem Weißrussen, Polen, Ukrainer, Juden, Litauer und weitere Bevölkerungsgruppen zusammenlebten. Die Gebiets- kommissariate zeigten große Unterschiede in bezug auf ihre Fläche, die Dichte ihrer Besie- delung und vor allem in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Insgesamt hatten sie im Januar 1942 eine Größe von etwa 60000 qkm mit beinahe drei Millionen Einwohnern39. Zwei Beispiele seien hier gegenübergestellt40: Das Gebietskommissariat Glebokie nahm mit 11000, später 9000 qkm rund ein Drittel der Fläche Belgiens ein, besiedelt von weni- ger als 400 000 Menschen. Um diesen Raum zu verwalten, standen dem Gebietskommis- sar insgesamt 79 Deutsche zur Verfügung, 49 davon in der Abteilung Ernährung und Land- wirtschaft. Der Gebietskommissar von Lida verfügte über wenig mehr Mitarbeiter. Auf seinem Territorium, das mit 2500 qkm ein Viertel der Fläche Glebokies ausmachte, leb- ten 280000 Menschen, 215000 von ihnen waren Polen, nur 60000 Weißrussen. Ganz ver- schieden waren die Verhältnisse in Glebokie: Hier standen 250000 Weißrussen eine bedeu- tende Minderheit von etwa 100000 Polen gegenüber. Eine weißruthenische nationale Iden- tität mußten die Besatzer überall erst konstruieren: anders, als dies beispielsweise in den baltischen Teilen des Reichskommissariats der Fall war.

nov fasistskoj Germanii na vremenno okkupirovannoj territorii SSSR, Moskau 1970; Α. I. Zalesskij, Byt krest'janstva ν uslovijach nemecko-fasistskoj okkupacii Belorussii, in: Nemecko-fasistiskij okkupacionnyj rezim (wie Anm. 30), S. 240—248. Am ausführlichsten über die Organisation des deutschen Erfassungssystems Ν. I. Sinicyna/V. R. Tomin, Proval agrarnoj politiki gitlerovcev na okkupirovannoj territorii SSSR (1941—1955 gg.), in: Voprosy istorii 1965, 6, S. 32—44. 38 Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938— 1945, hrsg. von Heinz Boberach, Herrsching 1984; Wolfram Wette, Die propagandistische Be- gleitmusik zum deutschen Uberfall auf die Sowjetunion am 22.6.1941, in: Der deutsche Über- fall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941, hrsg. von Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette, Frankfurt 1991, S. 57—60; Bianka Pietrow-Ennker, Die Sowjetunion in der Propaganda des Dritten Reiches: Das Beispiel der Wochenschau, in: Militärgeschichtliche Mit- teilungen (MGM), 2 (1989), S. 79—120; mit Blick auf die frühe »Stärkung des weißruthenischen Nationalbewußtseins zur Verhinderung großrussischer Tendenzen« siehe Mitteilungsblatt Chef der Sicherheitspolizei und des , 24.6.1942, Bundesarchiv Koblenz (BA), R 58/ 225. 39 Handrack, Reichskommissariat Ostland (wie Anm. 14), S. 220. 40 Literatur zu den Vorgängen innerhalb der Gebietsverwaltungen liegt bislang nicht vor; bei vor- sichtiger Quellenkritik geben Aufschluß die Räumungs- und Erfahrungsberichte der Gebiets- kommissare, vorhanden (mit Ausnahme von Minsk-Land, Sluzk, Wileika), BA, R 93/13 und 14. 74 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari

Niedrige landwirtschaftliche Erträge machten Weißruthenien im Vergleich zur »Korn- kammer Ukraine« oder dem Baltikum wirtschaftlich relativ uninteressant. Das General- kommissariat wurde als Experimentierfeld, gleichzeitig aber als Stiefkind der Zivilverwal- tung behandelt. Deren Angehörige mußten sich personell und materiell mit dem zufrie- den geben, was anderswo als Ausschuß übrig blieb41. Für Minister Rosenberg war Weiß- rußland ein kulturell wie wirtschaftlich stark zurückgebliebener Teil der UdSSR, der sich hervorragend als Sammelplatz für Unerwünschte aus den baltischen Ländern und aus dem Generalgouvernement eignete42. Mit der in Weißruthenien starken Partisanenbewegung kam diesem Gebiet eine weitere Sonderstellung zu. Sehr bald gerieten große Teile unter die Kontrolle von »Banden«, die 1943 mit der Ermordung von Generalkommissar Kube für den Tod des höchsten deut- schen Verwaltungsrepräsentanten verantwortlich waren. Sein Nachfolger wurde der Höhere SS- und Polizeiführer, SS-Brigadeführer Kurt v. Gottberg. Er bekleidete seit Oktober 1943 beide Ämter in Personalunion. Minister Rosenberg protestierte schon seit 1941 erfolglos gegen den permanenten Machtzuwachs der SS in den besetzten Ostgebieten. Aber auch gegen diese Personalentscheidung war er machtlos. Insgesamt boten sich für SS und Wirt- schaftsdienststellen in Weißruthenien ideale Bedingungen, das Prinzip der Gesetzmäßig- keit der Verwaltung andauernd und ungestört zugunsten von anarchischen Einzelaktio- nen zu durchbrechen. Damit trieben beide sowohl eine Radikalisierung als auch eine Frag- mentierung des Gesamtsystems voran43. Ohne im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete eine wirksame Interessenver- tretung gegenüber anderen Akteuren innerhalb des Besatzungsszenarios zu besitzen44, gerieten die Repräsentanten der Zivilverwaltung schon bald in das Gestänge der deutschen Requirierungsmaschinerie und ließen sich in die »Barbarisierung der Kriegführung«45 mit- einbeziehen. Die Kreislandwirte46 schlugen Dörfer für Kontroll-, Straf- und Vernichtungs- aktionen47 vor, erfaßten eingezogene Produkte oder das Vermögen Getöteter und sollten

41 Mangelhafte und häufig erst späte Ausstattung mit Dolmetschern, Kraftfahrzeugen, Büromate- rial, Uniformen oder Waffen unterschiedlichster Herkunft, meist aus Beutebeständen: Die deut- sche Wirtschaftspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941—1943. Der Abschlußbe- richt des Wirtschaftsstabes Ost und Aufzeichnungen eines Angehörigen des Wirtschaftskommandos Kiew, hrsg. von Rolf-Dieter Müller, Boppard 1991, S. 137-138. 42 Ebd., S. 213. 43 Mommsen, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem (wie Anm. 1), S. 8. 44 Myllyniemi, Baltische Länder (wie Anm. 12), S. 280. 45 Bartov, The Eastern Front (wie Anm. 26); Klaus-Jürgen Müller, Zur Rolle der deutschen Wehr- macht im rasse-ideologischen Ausrottungskrieg gegen die Sowjetunion. Vortrag auf der deutsch- sowjetischen Historikerkonferenz vom 8.—11.4.1991 in München (unveröffentlicht). 46 Die deutsche Zivilverwaltung erstreckte sich bis auf die Gebiete (in Weißruthenien Baranowitsche, Glebokie, Hansewitsche, Lida, Minsk-Stadt, Minsk-Land, Nowogrodek, Slonim, Sluzk und Wilei- ka), unterhalb dieser Ebene war der Rückgriff auf einheimische Verwaltungsstrukturen vorgese- hen. Lediglich für den Bereich der Landwirtschaft waren mit den Kreislandwirten und ihren Mit- arbeitern Angehörige der zivilen Besatzungsmacht auch in den Kreisstädten ständig präsent. 47 An allen größeren Aktionen zur »Bandenbekämpfung« waren Landwirtschafts-Führer beteiligt, z.B. Handschriftliches Kriegstagebuch (KTB) SS-Hauptsturmführer Wilke, 17.1.1943—5.3.1943, BA, R 70 SU/14; KTB Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) für das Ostland, Einsatzstab Minsk, Partisanenaktionen vom 22.8.1942 bis 21.9.1942, R70 SU/16; Generalkommissar Weißruthe- nien (GK WR), Abt. IIIE., über die Unternehmen »Hamburg« und »Altona«, 31.12.1942, Bun- desarchiv-Militärarchiv, Freiburg (BA-MA), RW 31/251; Bericht des Kreislandwirtes Wortmann (Gebietskommissariat Wileika) über das Unternehmen »Kottbus«, 12.6.1943, BA, R 93/7a; Kreis- landwirt Iwienietz, Bericht über das Unternehmen »Dirlewanger«, 14.9.1943, BA, R 91 Minsk/1. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 75

(nach den Vorstellungen der Wehrmacht) eine zentrale Rolle bei der Aufstellung einhei- mischer bewaffneter Ordnungsdienste spielen48. In ganz Weißruthenien galten Verwaltungs- richtlinien, die eine Beteiligung von Polen am Verwaltungsaufbau verboten. Das beraubte die Zivilverwaltung um jene Elite, die die polnische Bevölkerung auch in den Teilen Weiß- rutheniens darstellte, in denen sie sich in der Minderzahl befand. Selbst als 1944 die drei ukrainischen Gebiete Pinsk, Brest und Kobryn Weißruthenien angegliedert wurden49, soll- te auch hier die Arbeit des »Weißruthenischen Zentralrates«50 wirksam werden. Was eine derart realitätsferne Verwaltungsordnung für die Möglichkeit der politischen Durchdrin- gung bedeutete — ganz zu schweigen von den ökonomischen Auswirkungen —, war den lokalen deutschen Verwaltungsführern von Anfang an klar. Ihre Reaktionen auf die Un- brauchbarkeit des Programms bei der Lösung praktischer Fragen waren unterschiedlich51. Manche umgingen die politischen Vorgaben unter dem Hinweis auf die Erreichung kriegs- wichtiger Ziele in der Produktion und versuchten, auch den polnischen Teil ihrer Bevöl- kerung in die Verwaltungsarbeit miteinzubeziehen52. Solche Versuche waren möglich, weil die Informationen und Kontrollmöglichkeiten des Ostministeriums beschränkt waren. Jeder Gebietskommissar war weitgehend sein eigener Herr. Grundsätzlich in Frage gestellt wurden aber weder das Propaganda-Schlagwort von der weißruthenischen Nationalität noch die Praxis der brutalen Ausbeutung. Es ist nicht bekannt, daß die Zivilverwaltung in einem einzigen Fall auch nur passiven Widerstand gegen die Ermordung der weißruthenischen Juden geleistet hätte53. Einzelne Verwaltungsführer förderten verbissen kulturelle Aktivitäten, errichteten Kinos oder ließen Volkstanz- und Laienspielgruppen auftreten54. Niemals erreichten sie dabei auch nur annähernd das sowjetische Vorkriegsniveau55. Das Schulwesen blieb ein Not- betrieb. Ein Interesse der Bevölkerung an kulturellen Belangen zu erwarten, war angesichts der erbärmlichen Ernährungssituation und der insgesamt menschenunwürdigen Behand- lung der Einheimischen eigentlich bloßer Zynismus. Dennoch haben die Kulturverant- wortlichen bis zum Sommer 1944 ihre Dienstgeschäfte erledigt, ohne sich um die Realität

48 Wehrmachtbefehlshaber Ostland (WBO), Ic, 26.12.1942, BA-MA, RW 41/53; Reichskommissar Ostland (RKO), Lage der Landwirtschaft in Weißruthenien, 24.2.1943, BA-MA, RW 31/252; Wirt- schaftsinspektion (Wi In) Mitte, Fü/M-Ia, B.Nr. 646/42 geh., an Wirtschaftsstab (WiStab) Ost, 6.6.1942, BA-MA, RW 31/251. 49 Die Gebiete Kobryn, Pinsk und Brest-Litowsk gehörten bis Anfang 1944 zum Reichskommissa- riat Ukraine und wurden dann sechs Monate lang vom Generalkommissar in Minsk verwaltet (Auszug aus einem Bericht des GK in Minsk an den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (RMO) vom 25.2.1944, BA-MA, RW 31/190). 50 Organ der Ende 1943 installierten Marionettenregierung unter der Führung Radaslaw Ostrows- kys. Gedacht als Zugeständnis an die »weißruthenische Eigenstaatlichkeit«, hat der Zentralrat bis zur Räumung des weißrussischen Territoriums keinerlei Bedeutung mehr erlangt. 51 Vgl. Bollmus, Amt Rosenberg (wie Anm. 24), S. 247. 52 Tätigkeits-j Räumungs- und Erfahrungsbericht des Gebietskommissars Glebokie, 16.8.1944, BA, R 93/14, S. 8. 53 Generalkommissar Kube protestierte zwar bei Polizei und SD wegen der »Verstörung« der einhei- mischen Bevölkerung gegen die brutale Behandlung europäischer Juden in Weißruthenien, die seiner Ansicht nach nicht mit den »bodenständigen vertierten Horden« im Osten gleichzusetzen waren: Aus den Akten des Gauleiters Kube, hrsg. von Helmut Heiben, in: VfZG, 5 (1956), S. 67—92. Lokale Verwaltungsführer brüsteten sich häufig damit, deren »Ausschaltung« ohne Produktions- einbußen der gewerblichen Wirtschaft bewerkstelligt zu haben. 54 Bericht der Zentralfilmgesellschaft Ost vom 13.6.1942, BA, R 55/1289. 55 Protokoll über die Tagung der Gebietskommissare, Hauptabteilungsleiter in Minsk vom 8.4. bis 10.4.1943, BA, R 93/20. 76 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari

zu kümmern56. Eine zentrale kulturelle Instanz wurde mit der »Arbeitsgruppe Weißru- thenien« beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg in Minsk geschaffen. Personelle und mate- rielle Ausstattung waren indes so schlecht, daß der Einfluß der Mitarbeiter kaum über die Grenzen der Stadt Minsk hinausreichte. Die Berichte über kulturelle Aufbauarbeit zeu- gen von einer enormen Schizophrenie der Beamten, die einerseits Kulturpolitik für Ein- heimische betrieben, sie andererseits aber als »Untermenschen« bezeichneten57. Die Entwicklung der Partisanenbewegung schränkte den Handlungsspielraum der Zivil- verwaltung so ein, daß in allen Gebieten mit Hilfe von Militär und Polizei zwar noch requiriert, aber nicht mehr regiert werden konnte. Mit diesem Zustand haben sich die Ge- bietskommissare abgefunden. Einige von ihnen zogen sich in ihre Amtssitze zurück und betrieben Pivatgeschäfte, andere hielten bis zum Schluß an der Bedeutung ihrer Position fest und ließen die Realität in ihren Verwaltungsbereichen nicht an sich heran. In Deutsch- land waren Lebensraum-Utopien als nationalsozialistische Heilsvorstellung von der sozia- len Wirklichkeit entkoppelt58; in Weißruthenien blieben sie ebenfalls Illusion.

Die »Neue Agrarordnung«

Dies gilt gleichermaßen für das zentrale Problem in den besetzten sowjetischen Territo- rien: die Neuverteilung des Bodens. Die Form landwirtschaftlicher Bewirtschaftung — be- sonders in Uberschußgebieten wie der Ukraine — war entscheidend für die Versorgung der Wehrmacht, der Bevölkerung im Deutschen Reich und, an allerletzter Stelle, jener in den besetzten Gebieten selbst. Sie bildete gleichzeitig die Grundlage für eine politische Durchdringung des Raumes und für den Aufbau einer einheimischen Selbstverwaltung. Durch die großen Hoffnungen auf eine allgemeine Reprivatisierung, die nach dem Ein- marsch der Wehrmacht innerhalb der Bevölkerung bestanden, hätte sich eine einzigartige Gelegenheit geboten, das Bild der deutschen Propaganda vom »Kampf der befreiten Ost- völker gegen den Bolschewismus« mit realen Zugeständnissen zu unterlegen. Im Rahmen der Blitzkriegstrategie wurden zunächst aber auch in Weißruthenien unter dem Gesichtspunkt besserer Kontrollmöglichkeit die staatlichen Kolchosen beibehalten. Göring änderte ihre Bezeichnung in »Gemeindehöfe«59. In den ehemals polnischen Gebie- ten, wo in der kurzen Zeit der Sowjetherrschaft die Landwirtschaft erst teilweise kollekti- viert worden war60, enteignete nun die deutsche Verwaltung die Kleinbauern und gab den von den Sowjets vertriebenen Besitzern größerer Güter (in vielen Fällen auch dann, wenn sie Polen waren) ihre Betriebe zurück oder setzte sie dort zumindest als Verwalter ein.

56 Vgl. die rührseligen Erinnerungen Constantin Graf Stamatis, der noch in den fünfziger Jahren den Standpunkt vertrat, die Kulturabteilung des Ostministeriums sei besetzt gewesen mit enga- gierten, russophilen Beamten, die von den tatsächlichen Vorgängen in den besetzten sowjetischen Gebieten nichts gewußt hätten: Zur »Kulturpolitik« des Ostministeriums, in: VfZG, 6 (1958), S. 78-85. 57 Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, BA, NS 30/148; Wochenberichte der Arbeitsgruppe Weiß- ruthenien, NS 30/149, 152. 58 Martin Broszat, Soziale Motivation und Führerbindung im Nationalsozialismus, in: VfZG, 18 (1970), S. 392-409, hier S. 403. 59 Erlaß vom 27.7.1941, zit. nach Wilenchik, Partisanenbewegung (wie Anm. 19), S. 196. 60 1939 hatten ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in Westweißrußland mehr als 52 Prozent des Ackerlandes bebaut (Wilenchik, Partisanenbewegung [wie Anm. 19], S. 145), ihre Besitzer wur- den als »polnische Herren« von den einmarschierenden Sowjets verjagt. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 77

Auf dem schon vor 1939 sowjetischen Gebiet mußten die Kolchosen, deren Boden die Bauern nach dem Rückzug der Roten Armee vielfach untereinander verteilt hatten, auf ähnliche Weise wiedererrichtet werden. Uber die Frage einer Reprivatisierung gab es innerhalb der nationalsozialistischen Füh- rung schon zu diesem Zeitpunkt sehr unterschiedliche Auffassungen. Die Ende 1941 durchgesetzte Kolchos-Lösung entsprach den Vorstellungen des Beauftragten für den Vier- jahresplan. Auch die SS segnete sie ab, und sah hier eine Möglichkeit, ihre weitgreifen- den Siedlungsziele zu verwirklichen61. Ebenso unterstützte der spätere Landwirtschafts- minister Herbert Backe diese Variante. Auf der anderen Seite setzten sich Sowjetunion- Experten wie Otto Bräutigam62 sowie Angehörige des Auswärtigen Amtes und der Ab- wehr für eine Auflösung der Großbetriebe ein63. Sie argumentierten, daß ohne eine ak- tive Mithilfe der Bevölkerung in Weißrußland keine Uberschüsse erzielt werden könn- ten, und beriefen sich auf die deutschen Besatzungserfahrungen im Ersten Weltkrieg. Bräu- tigam selbst ging so weit, die Versorgung der zu gewinnenden Menschen notfalls mit deut- schen Reserven zu fordern und sah im Krieg gegen die Sowjetunion einen »Politischen Feldzug«. Aus Versorgungserwägungen sprach auch er sich allerdings für eine Übergangs- zeit aus, in der die Staatsbetriebe weiter in Funktion bleiben sollten. Bräutigam argumen- tierte: »Da [...] Weißruthenien [...] auch nach Beendigung des Krieges mit dem Deutschen Reich in enger politischer und wirtschaftlicher Verbindung bleiben soll, ist vor allem diesen Völkern gegenüber jede Maßnahme ausbeuterischer Natur zu vermeiden, denn es wür- de später unmöglich sein, gegen den Haß einer Bevölkerung von 80 Millionen [in den gesamten besetzten Gebieten] zu regieren64.« Die Bandbreite der vertretenen Positionen wird hier deutlich. Das Ergebnis der Auseinan- dersetzungen war — nach zunächst kleinen Zugeständnissen an die Landwirte wie einer Vergrößerung des privat zu nutzenden »Hoflandes« — die Einführung der »Neuen Agrar- ordnung« im Frühjahr 1942. Sie wurde von den Deutschen mit großem Propagandaauf- wand als Privatisierung der Landwirtschaft gefeiert, obwohl in Wirklichkeit die Praxis der Großbetriebe weiter bestehen blieb. Auch nach der Einführung der Gemeinwirtschaft 1942 stellten Gartenland und gesetzlich beschränkte Viehaltung die beiden einzigen lukra- tiven Bereiche für die Bauern dar65. Eine in Aussicht gestellte Erhöhung des Viehbestan- des war in der Praxis nicht machbar, da die Verwaltung keine Futtermittel zur Verfügung hatte. Damit blieb die private Viehhaltung weiter auf das Gartenland beschränkt66. Die »Neue Agrarordnung« mit ihren Ausführungsansweisungen vom 16. März 1942 machte man den Landwirtschafts-Führern, einheimischen Agronomen und Fachleuten bekannt, wobei auf dem Land (in der nationalsozialistischen Darstellung) ein »propagandistischer

61 Müller, Hitlers Ostkrieg (wie Anm. 16), S. 94—104. 62 Otto Bräutigam, Die Landwirtschaft in der Sowjetunion. Berlin 1942, S. 129—147; ders., So hat es sich zugetragen (wie Anm. 12); Überblick (wie Anm. 12), S. 33a—37. 63 Allgemeine Richtlinien für die politische und wirtschaftliche Verwaltung der besetzten Ostge- biete, hrsg. von Robert J. Gibbons, in: VfZG, 25 (1977), S. 252. 64 Allgemeine Richtlinien (wie Anm. 63), S. 261. 65 Generalmajor Hans Nagel, der im Wirtschaftsstab Ost Schlüsselpositionen innehatte, beurteilte die Wirkung der Neuen Agrarordnung auf die Bevölkerung äußerst positiv. Allerdings krankte auch seine Darstellung daran, daß lokale Verhältnisse aufgrund der Notwendigkeit, dem gesam- ten deutsch besetzten Gebiet gerecht zu werden, unberücksichtigt blieben: Die deutsche Wirt- schaftspolitik (wie Anm. 41), S. 107—115. 66 Bericht des Wannsee-Instituts vom April 1942, Reichssicherheitshauptamt, BA, R 58/238. 78 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari

Erfolg ohnegleichen« zu verzeichnen war67. Zumindest in den Gebieten Minsk, Sluzk und Borisow68 wurden die Kolchoswirtschaften zu 100 Prozent in Landbaugenossenschaften überführt69. Für die Bauern hat diese Maßnahme aber kaum Bedeutung erlangt. Die von ihnen erstrebte Einzelwirtschaft blieb eine seltene Belohnung für besonders zuverlässige Landwirte. Bevorzugt werden sollten jene, die im Dienste der deutschen Verwaltung stan- den, ebenso verdiente »Partisanenjäger«70. Eine Gemeinwirtschaft konnte in der Theorie dann aufgelöst wreden, wenn sich in einer Vollversammlung mehr als die Hälfte der Beschäf- tigten für diesen Schritt aussprach. Den Antrag hatte der Kreislandwirt an das General- kommissariat weiterzuleiten. Erfolgte die Zustimmung der Landwirtschafts-Abteilung, wähl- te eine erneute Vollversammlung statt des Kolchosältesten einen Dorfältesten, seine Gehilfen und einen Rechnungsführer. Das Ergebnis bestätigte der Kreislandwirt. In der Praxis fan- den solche Schritte nur selten Zustimmung. Da das nötige Personal fehlte, ergaben sich lange Bearbeitungszeiten. Selbst im Fall der Auflösung wurden die entstehenden Privat- wirtschaften derart reglementiert und mit Auflagen überhäuft, daß sich an der Situation des einzelnen kaum etwas änderte. Die Forschung hat immer wieder festgestellt, die Bauern hätten die »neue Agrarordnung« — nach anfänglichem Enthusiasmus — enttäuscht abgelehnt, da von deutscher Seite de facto nicht eine Änderung der Besitzverhältnisse, sondern lediglich neue Bezeichnungen eingeführt worden seien71. Die Autoren haben sich jedoch lediglich mit dem Konzept der »neuen Agrarordnung« und seiner Wirkung auf die Bevölkerung, nicht mit der Realisie- rung durch die Zivilverwaltung auseinandergesetzt. In Weißruthenien blieben die Verord- nungen des Ostministers oder des Reichskommissars über »Gemeindehof«, »Gemeinwirt- schaft« und »Landbaugenossenschaft« als Schritte einer Privatisierung bloße Worthülsen in einer ununterbrochenen Folge politischer Hilflosigkeiten. Betrachtet man auf unterer Ebene die Maßnahmen und den Erfolg der deutschen »Kollektivierung« nach dem Ein- marsch in Weißrußland sowie die Reprivatisierungsmaßnahmen der deutschen Verwaltung, wird die Unmöglichkeit einer Durchsetzung jeder agrarischen Ordnung im besetzten Gebiet sichtbar. Schon im Februar 1942 kam eine Studie zur Neugestaltung der Agrarordnung zu dem Schluß, daß zwar das Bild, das man in Deutschland vor dem Krieg über die sowje- tischen Staatsbetriebe gehabt habe, im großen und ganzen zutreffend gewesen sei72, daß

67 Reichskommissar (RK) Ostland, Abt. lila, Lagebericht vom 30.4.1942, E.u.L., BA, R 90/427; die nationalsozialistische Presse berichtete ausführlich über die »Auflösung der sowjetischen Kol- chosen«, vgl. Presseberichte, BA, R 90/74. 68 Das Gebiet Borisow stand während der gesamten Besatzung bis auf einen kleinen Teil unter Mili- tärverwaltung. 69 GK an RMO vom 27.8.1943, Tageb.-Nr. 770/43 g„ BA-MA, RW 31/252. 70 Vgl. BA, R 6/430. 71 Dlugoborski, Die Landwirtschaft (wie Anm. 17), S. 158; Zagorulko/Judenkov, Krach ekonomices- kich planov (wie Anm. 37), S. 194, 262. 72 Im Wannsee-Institut in Berlin wurden, gestützt auf das offizielle sowjetische Zahlenmaterial, »Land- wirtschaftliche Sonderberichte« zur Lage und Leistungsfähigkeit der sowjetischen Landwirtschaft erarbeitet; z.B. die Agrarpolitik der Sowjetunion und deren Ergebnisse, 1936, ebenso Weißruthe- nien, Mai/Juni 1941 (BA, R 93/18). Die zweite Studie beschäftigt sich ebenfalls mit den wirt- schaftlichen Eigenschaften des Gebietes, doch sind die Angaben sehr allgemein. Im Vordergrund stehen historische, ethnologische und kulturelle Frage. Ähnlich Eugen v. Engelhardt, Weißruthe- nien. Volk und Land, Berlin 1943. Die Arbeit lag dem Wirtschaftsstab Ost seit dem Spätsommer 1941 als Geheimbericht vor (Die Ernährungs- und Landwirtschaft der Weißruthenischen Sowjet- republik, BA-MA, RW 31/299). Dort wurden besonders die Angaben über den Nahrungsmittel- bedarf der einheimischen Bevölkerung mit zynischen Kommentaren versehen, etwa zum Anteil Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 79 aber die eingesetzten Landwirtschafts-Führer, die »die Durchführung der landwirtschaft- lichen Aufgaben bis in die letzte Gemeinde sicherzustellen« hatten73, über keinerlei Kenntnisse des Landes verfügten und völlig unzureichende Unterlagen hatten74. Die neuen Herren waren darauf angewiesen, mit Hilfe der sowjetischen Betriebs- und Erfassungsstruk- turen sowie einheimischer Verwalter und Dolmetscher ihren Auftrag zu erfüllen. So wur- den die sowjetischen »Maschinentraktorenstationen« unter dem Namen »landwirtschaft- liche Stützpunkte« weiter betrieben. Der Ausschnitt aus einem Bericht über die Altesten- versammlung eines weißruthenischen Gebietes veranschaulicht die Stimmung: »Auf dem Podium saßen der Gebiets-Landwirtschafts-Führer, sein Dolmetscher und sechs leitende Oblso-Furiktionäre [Angehörige der einheimischen Selbstverwaltung auf Kreis- ebene, der Vf.], welche abwechselnd den Gemeindevorstehern und Kolchosleitern Anwei- sungen gaben. Das äußere Bild unterschied sich von den ähnlich gehandhabten Sowjet- konferenzen nur dadurch, daß an der Stelle des früheren kommunistischen Funktio- närs unser Landwirtschafts-Führer saß [...] Die Ausführungen und Anweisungen waren [...] zum Teil von versteckten Drohungen begleitet. Die Befehle des Landwirtschafts- Führers wurden von einem [...] Dolmetscher sehr frei übersetzt; er berücksichtigte dabei wohl auch seine eigenen Gesichtspunkte.« Die Bauern im Saal warfen den einheimischen Funktionären laut vor, ihre Anweisungen seien undurchführbar und schwachsinnig. »Dem Landwirtschafts-Führer, dem diese Auseinandersetzung flüchtig übersetzt wur- de, blieb weiter nichts übrig als die Oblso-Leute in Schutz zu nehmen und die Gemein- devorsteher mit scharfen Worten zur Gehorsamkeit zu ermahnen.« Nach der Versammlung schimpfte ein ärgerlicher Bauer: »Die Oblso-Funktionäre betrügen die Deutschen, es ist überhaupt ein Unglück, daß man mit den Deutschen wegen sprachlicher Schwierigkeiten nicht direkt sprechen kann75.« Die Anordnungen der deutschen Behörden stimmten nicht mit der Realität überein. Einer allgemeinen Konzeptlosigkeit stand das Bestreben gegenüber, sämtliche Bereiche der bäuer- lichen Wirtschaft oft auf absurde Weise zu reglementieren. Deutsche »Zentralisierungs- arbeit« wurde selbst für technische Einzelheiten der Bebauung, Fruchtfolge etc. geleistet76, so daß die betroffenen Bauern häufig den Vergleich zwischen ihren neuen Herren und den ehemaligen sowjetischen Parteifunktionären zogen, »die ihnen auch in alles hineinge- redet hätten«77. Das zu verteilende Land in Weißruthenien schrumpfte immer mehr: Die Landbewirtschaftungsgesellschaft Ostland führte im Mai 1942 genau 967 Staatsgüter, im Januar 1943 waren noch 312 in ihrer Hand. Diese verbliebenen Betriebe wurden zwar be- wirtschaftet und kontrolliert, waren aber keineswegs gegen Uberfälle von Partisanen gesi- chert. In vielen Fällen verfügten sie nicht mehr über nennenswerte Vorräte. Schon im Januar 1943 begann die Ordnungspolizei Transporte zu organisieren, mit denen gefährdete Betriebe geräumt und Vorräte in Lager der Gebietsstädte geschafft werden sollten78. Ebenso düster

der Stadtbevölkerung in Weißruthenien: »Verhungern!« Zum Prozentsatz der Landbevölkerung: »Verhungern zur Hälfte!« (BA-MA, RW 31/299, 12). Die Reihe der Beispiele läßt sich fortsetzen. 73 Mitteilungsblatt des RK für das Ostland, BA, RD 206/3-3-4, 14.1.1943. 74 K. Michael (Wannsee-Institut), Zur Neugestaltung der Agrarordnung, Februar 1942, BA, R 58/19. 75 Ebd. 76 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (RfdbO), 9.8.1941, BA, R 6/426. 77 Bericht des Sonderführers Herlit zu Fragen der Menschenbehändlung, 13.9.1943, BA, R93/6. 78 Kommandeur der Ordnungspolizei beim SS- und Polizeiführer Weißruthenien an Kommandeur (Kdr der OPol b. SSPF WR an Kdr) Gendarmerie Weißruthenien, 15.1.1943, BA-MA, RW 31/251; vgl. auch Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Armeeoberkommando (AOK) 4, Bericht über 80 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari

war die Situation bei den Arbeitskräften, Zugmitteln und den einheimischen Betriebslei- tern. Und während in Deutschland die Diskussionen über mögliche Privatisierungsschritte weitergingen, konnte im Gebietskommissariat Sluzk von ursprünglich 20 Staatsgütern nur noch ein einziges, das sich sechs Kilometer vor der Stadt Sluzk befand, auf einigermaßen gesicherten Wegen erreicht werden. Diese Entwicklung begann nicht erst im Herbst, sondern bereits zu Beginn des Jahres 1942. Ein unbarmherziges Licht auf die Situation der Zivilverwaltung wirft die Tatsache, daß lediglich 262 der 655 in der nationalsozialistischen Statistik als »verloren« geführten Staatsgüter tatsächlich zerstört wurden. 259 konnten nicht mehr kontrolliert werden, 134 wurden sogar von den Partisanen weiter bewirtschaftet, und dies so ungestört durch die Besatzungsverwaltung, daß diese Betriebe zur Ernährungsbasis der Partisaneneinheiten wur- den. In vier von neun weißruthenischen Gebietskommissariaten waren mehr Staatsbetrie- be unkontrollierbar als vernichtet; der Anteil der Betriebe unter Partisanenkontrolle lag zwischen weniger als zehn Prozent im Gebietskommissariat Hansewitsche und genau einem Drittel: dies erstaunlicherweise in Minsk-Land, also in unmittelbarer Nähe des deutschen Verwaltungssitzes79. Bis zum 31. Dezember 1942 meldete die Landbewirtschaftungsgesell- schaft Ostland den Verlust von 48 Prozent ihrer Traktoren, 42 Prozent der Dreschmaschinen, 18 Prozent der Mähmaschinen, 49 Prozent aller LKW und 31 Prozent der Molkereien80. Der Ablieferungsertrag je Hektar Ackerfläche sank vom Zeitpunkt der Übernahme bis Mai 1943 um 74 Prozent81. Im Januar 1943 wurde die »urspünglich vorgesehene weitere Durchführung der neuen Agrarordnung (Einzelhofbildung und Reprivatisierung) [...] im Hinblick auf die herrschen- den Verhältnisse im Lande abgestoppt«82. Der Generalkommissar ordnete die Registrie- rung all jener Bauern an, die ihr Ablieferungssoll zu 100 Prozent erfüllt hatten. Vorgese- hen war die Übertragung des von diesen »zuverlässigen« Landwirten genutzten Bodens in deren Eigentum: Die Bekanntgabe sollte mündlich durch die Kreislandwirte erfolgen, um die Belohnten vor Repressalien durch die Partisanen zu schützen. Den Gemeinde- und Dorfältesten war die Regelung ebenfalls bekanntzugeben und auf diesem Weg weiter zu verbreiten. De facto aber hatte die deutsche Zivilverwaltung zu diesem Zeitpunkt kein Land mehr zu vergeben83. In einem Lagebericht der Abteilung Ernährung und Landwirt- schaft vom 3. Januar 1943 an das Ostministerium hieß es, eine Besserung der Lage sei »aus eigener Kraft nicht mehr möglich«84. Dennoch erfolgte am 3. Juni 1943 per Erlaß des Ost- ministeriums die grundsätzliche Wiedereinführung des bäuerlichen Eigentums, zunächst

die Auswirkungen der Partisanentätigkeit, Frühjahr 1942. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde die Situation als dramatisch eingeschätzt, obwohl die Verstärkung der Partisaneneinheiten durch regu- läre Truppen der Roten Armee im Luftlande- und Sickereinsatz gerade erst begonnen hatte (BA- MA, RW 31/249; ebenso Berichte über Partisanentätigkeit im Sommer 1942, BA-MA, RW 31/250). 79 RK Ostland, Lage der Landwirtschaft in Weißruthenien, 24.2.1943, BA-MA, RW 31/252; Gene- ralkommissar, Hauptabteilung III (Ernährung und Landwirtschaft) (GK HA III Eu.L), Fr./Bo, TgbNr. 38/43 g, 15.1.1943, BA-MA, RW 31/251. 80 LO, Zweigstelle Minsk, Akt.z. 1/100 Fl./Cl., 15.1.1943, BA-MA, RW 31/252. 81 WiStab Ost, Stab Abt. I/IaWi, Br.Nr. 179/43 gKdos, 22.5.1943, BA-MA, RW 31/250. 82 Erlaß GK an alle Gebietskommissare vom 6.1.1943, BA-MA, RW 31/251. 83 GK HA III Eu.L Fr./Bo, Tgb.Nr. 38/43 g, 15.1.1943, BA-MA, RW 31/251. In diesem Bericht an das Ostministerium heißt es: »Ich weiß, daß sich in unserem Raum in bestimmten Bezirken eine Bekanntgabe an die Gemeinde- und Ortsältesten, da sie nicht mehr vorhanden sind, nicht durchführen läßt, bin aber trotzdem davon überzeugt, daß sich, von den Restbezirken ausgehend, unsere weitere Maßnahme [...] günstig auswirken wird.« 84 GK, HA III Eu.L, an RfdbO, 3.1.1943, BA-MA, RW 31/251. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 81 für die schon vor 1939 sowjetischen, am 30. Juli 1943 dann für alle Gebiete Weißruthe· nien5s5. Dieser Schritt muß den Funktionären vor Ort angesichts der Zustände wie blan- ker Hohn erschienen sein. Die Zivilverwaltung kontrollierte das Gebiet zu diesem Zeit- punkt so unzureichend, daß sich die Bauern längst dafür entschieden hatten, brachliegen- des Land oder Flächen aus vernichteten Staatsbetrieben einfach zu bewirtschaften, ohne den mühsamen Weg einer bürokratischen Anerkennung zu gehen. Die deutsche Bürokra- tie, die die Behandlung der Eigentumsfrage nicht aus der Hand geben wollte, war ohne- dies zu schwerfällig, um eine Privatisierung durchzuführen. Der Plan, beim Generalkom- missar in Minsk einen deutschen Privatisierungsbeamten, wenn möglich mit russischen Sprachkenntnissen, sowie einen einheimischen Fachmann einzusetzen, wurde immer weiter verschleppt. Für die Ebene der Gebiets- und Kreisverwaltungen suchten die deutschen Behörden nach einheimischen Beamten der ehemaligen sowjetischen Bodenbehörden, die direkt den Gebiets- und Kreislandwirten unterstellt werden sollten86. Otto Bräutigam hatte 1941 rückblickend über die sowjetische Wirtschaftsform geschrieben: »Die Kollektivierung hat zur völligen Isolierung der Sowjetmacht von der Bevölkerung geführt; der Schein von Ruhe und Ordnung konnte im Lande nur durch Druck des staatlichen Zwangs- und Strafapparats aufrechterhalten werden [...]. die Sowjetmachtha- ber, die sich über die wirkliche Stimmung unter den von ihnen regierten Völkern nicht aus den unzähligen bestellten Ergebenheitskundgebungen, sondern aus viel zuverlässi- geren Quellen unterrichten ließen, verrieten [...] bis zuletzt keine Lust, an die bekann- ten Mängel des kollektivistischen Landwirtschaftssystems zu rühren87.« Diesen Zustand veränderte auch die deutsche Politik bis zum Sommer 1944 nicht, denn den Kolchosen wurde eine systemerhaltende Funktion beigemessen. Dabei isolierte sich das Besatzungsregime ähnlich von der Bevölkerung, wie die sowjetische Führung dies getan hatte — allerdings ohne über die sowjetischen Kontrollmöglichkeiten zu verfügen.

Personelle Ausstattung

Die Zivilverwaltung litt an chronischem Personalmangel. Obwohl der Verlauf der militä- rischen Operationen den Plan einer ausgedehnten Administration in den besetzten Ostge- bieten88 zum Hirngespinst degradierte (vorgesehen waren vier Reichskommissare, 24 Gene- ralkommissare und mehr als 900 Gebietskommissare), konnte Reichsminister Rosenberg auch in bezug auf die tatsächlich benötigten Verwaltungsfachleute nicht allzu wählerisch sein89. Der Reichskommissar Ostland machte sich bereits Anfang 1942 darüber Gedan-

85 GK an RMO vom 27.8.1943, Tgb.Nr. 770/43 g„ BA-MA, RW31/252. 86 Mitteilungsblatt des RK. für das Ostland, 24.3.1942, BA, KD 206/3-1—2. 87 Bräutigam, Die Landwirtschaft (wie Anm. 62), S. 146. 88 Jürgen Förster, Das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in: Der Angriff auf die Sowjetunion, hrsg. von u.a., Stuttgart 1983 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4), S. 418—421; vgl. dazu die erste Unterstellung besetzten sowjeti- schen Gebiets unter die Zivilverwaltung und die Errichtung der Reichskommissariate Ostland und Ukraine durch den Führererlaß vom 20.8.1941, Beauftragter für den Vierjahresplan, V.P. 13 704 g, vom 27.8.1941, BA-MA, RW 31/187. 89 Abordnungsliste Reichsstatthalter in Lippe und Schaumburg-Lippe, Stand 1.2.1944, Kommunal- politik, Listen 1—30, Berlin Document Center (Berlin DC). Haarsträubende Fehlbesetzungen, bei denen Betriebsleiter als Ordonnanzen der Wehrmacht eingesetzt wurden, oder die Einziehung nur bedingt verwendungsfähiger Männer unter Aufhebung der Unabkömmlichkeits-Anträge ihrer Be- 82 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari ken, ob es nicht sinnvoller sei, einheimisches Verwaltungspersonal einzusetzen und auf der Ebene der Generalkommissariate die deutsche Zivilverwaltung überhaupt aufzuhe- ben, damit die Deutschen sich »unter Wahrung ihres persönlichen Ansehens« auf »Auf- sichtstätigkeit und regulierendes Eingreifen« beschränken könnten90. Der Leiter seiner Finanzabteilung sprach den Gebietskommissariaten die Fähigkeit ab, eigene Finanzabschlüs- se vorzulegen, da die »Gebietskommissare und auch manche Abteilungsleiter keine haus- haltsmäßigen Vorstellungen« hätten91. Überlegungen dieser Art wurden allerdings nur hin- ter verschlossenen Türen angestellt92, in der Form einer Neubewertung der Aufgaben und der Kompetenzen einheimischer Selbstverwaltung wurden sie nicht laut. Nach außen blieb das Bild von der auf allen Ebenen treu und effektiv ihre Pflicht erfüllenden Verwaltung ungetrübt. Dem Mangel an qualifizierten Fachleuten stand an anderen Stellen eine Perso- nalverschwendung gegenüber, die nur mit der Unkenntnis der Verhältnisse vor Ort erklärt werden kann: In Kleinstbetrieben wurden deutsche »Sonderführer« eingesetzt, um den Produktionsablauf zu überwachen. Meist aus dem regulären Armeedienst herausgelöst, fehlte diesen Männern nicht nur das notwendige Fachwissen, sondern auch eine Aufgabe — und das zu einem Zeitpunkt, da alle deutschen Dienststellen ihre Personallisten auf der Suche nach für den Armeedienst entbehrlichen Mitarbeitern durchkämmten und selbst in den besetzten Gebieten sogenannte »Heldengreifkommissionen« arbeiteten93. Uber die Zusammensetzung des Verwaltungsführerkorps herrscht Unklarheit. Die Unter- suchung Robert Herzogs94 aus den fünfziger Jahren nennt SA, SS und die Pateielite der »Ordensjunker« als Rekrutierungsbasis95. Seit dem Winter 1941/42 wurden auch hollän- dische Kolonisten als Landwirtschaftsführer eingesetzt96. Im Reich stilisierte die national- sozialistische Propaganda die »deutsche Mission im Osten« hoch. Viele, die sich für diese »Aufbauarbeit« meldeten, mögen die Stereotype noch im Ohr gehabt haben: pathetische Reden von den deutschen Besatzern als den »Nachfahren der Hanse«, über den Präventiv- krieg gegen den angriffsbereiten Bolschewismus und den Kampf für die Verschiebung der Grenzen des Kulturraumes Europa97. Die individuellen Schicksale derer, die als Repräsentanten der Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten tätig waren, entziehen sich weitgehend dem historischen Zugriff. Einen

triebe waren in der Bevölkerung ein häufiges Gesprächsthema; siehe Reichssicherheitshauptamt, BÄK, R 58/178. Siehe auch »Osteinsatz-Heimatlisten« der Reichsstatthalter und Schriftverkehr mit dem Reichsministerium des Innern, Abt. III 9 (Ost), Kommunalpolitik, Listen 1—30, Berlin DC. 90 RK Ostland, Abt. IIIa, Lagebericht vom 30.4.1942, E.u.L., BA, R 90/427. 91 Leiter Abt. Finanzen, RKO, vom 19.5.1942, BA-ZN, ZR 945, A 2. 92 Der Gebietskommissar in Pinsk in seinem Rückblick auf die Zeit der Zivilverwaltung, BA, R 93/14; siehe auch Protokoll über die Tagung der Gebietskommissare, Hauptabteilungsleiter und Abtei- lungsleiter des Generalkommissariats in Minsk vom 8.4. bis 10.4.1943, BA, R 93/20. 93 Kritischer Erfahrungsbericht des Gebietswirtschafters in Brest-Litowsk, 29.8.1944, BA, R 93/14; Mitteilungsblatt Chef der SiPo und des SD, BA, R 58/225. 94 Herzog, Besatzungsverwaltung (wie Anm. 2), S. 108. 95 Anna Bramwell, Blood and Soil. Richard Walther Darre and Hitler's »Green Party«, Bourne End/Buckinghamshire 1985, S. 137. 56 Faktorovic, Krach agrarnoj politiki (wie Anm. 37), S. 59; 416 niederländische Bauern wurden nach einer Schulung in Litzmannstadt zuerst in Riga, dann in Weißruthenien eingesetzt. 33 von ihnen fielen Anschlägen der Partisanen zum Opfer, 297 wurden wegen mangelnder Eignung wieder entlassen, Die deutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 39), S. 139. 97 Sämtliche gängigen Topoi in einem programmatischen Artikel des Reichskommissars Hinrich Lohse, der davon schwärmte, daß der Wiederaufbau der Städte und Dörfer im befreiten Land »einheimischen wie deutschen Architekten dankbare und große Aufgaben in der Neugestaltung des Gesichts dieser Landschaft« biete (Ostland baut auf, 27.7.1941, BA, R 90/126). Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 83

Ansatz, ihren »Weg in den Osten« nachzuvollziehen, kann aber die Untersuchung von Auswahlverfahren innerhalb der Verwaltung im Reich liefern. Das Hauptamt für Kom- munalpolitik in München beispielsweise leitete Meldungen aus den Kommunalverwaltungen an die Parteikanzlei weiter. Zusammen mit den Personalunterlagen wurden ein Tätigkeits- bericht und eine kurze Beurteilung des Bewerbers erstellt, die sich auf die Erfüllung der bisherigen Dienstgeschäfte bezog. Ein Unterschied zwischen den Anforderungen an Ver- waltungsfachleute in Deutschland und in den besetzten sowjetischen Gebieten machten die Behörden nicht. Nur in den seltensten Fällen konnten Bewerber Qualifikationen nach- weisen, die sie für das vorgesehene Einsatzgebiet besonders prädestiniert hätten, etwa eine Tätigkeit im Rahmen der deutschen Besatzungsverwaltung im Ersten Weltkrieg98. In der Praxis dürfte vielfach eine Auslese erst im Einsatz stattgefunden haben. Äuße- rungen wie die folgende kennzeichnen einen Personentyp, der mit dem Begriff der Ost- niete" umschrieben wurde: »Der kleindeutsche, rassisch oft selber vorwiegend ostische Mensch [...] nun in der Wei- te des Ostens, mit ursprünglich anspruchsvoll gewerteten Uniformen, Titeln, Gehältern, Tagegeldern und Zuteilungen, innerlich aufgeplustert durch mißverstandene Vokabeln vom eigenen Herrentum und fremden Niederrassen; ein Typ, der mit Revoler und Peit- sche oder entsprechendem Gehaben zu ersetzen trachtete, was ihm an natürlichem Her- rentum, an überlegener Leistung und lauterem Menschentum gebrach. [... Der] tat- und wertmindernde Typ des horizontverhängten Bürokraten [...], der ewig hungrige >Orga- nisator< mit einem Schwärm Gleichgesinnter (Ost-Hyänen), [...] die etappenmäßige Sip- pe, die mit zwei großen >W's< zu kennzeichnen wäre: mit Weibern und Wodka [...]. Leu- te, die einen umso größeren Ost-Luxus in Essen, mit Wohnung und Wagen treiben, aus je kleineren Verhältnissen sie oft daheim stammen100.« Tatsächlich bauten sich in Weißruthenien einzelne deutsche Verwalter regelrechte kleine Fürstenhaushalte auf, beschlagnahmten dafür Bauernhöfe, und hielten »leibeigene« Bauern, die rund um die Uhr für ihre persönliche Versorgung zur Verfügung stehen mußten101. Höheren Ortes waren diese Zustände nicht unbekannt. Nach der Räumung der besetz- ten Gebiete faßte ein Reichsrevisor die Erfahrungen aus der Zeit der Okkupation zusam- men und kam bezüglich der Goldfasanen102 zu dem Schluß, die Masse habe sich um eine Dienststellung im Osten nur bemüht, um sich zu bereichern. 40 Prozent galten als »poli- tisch völlig unzuverlässig«. Die Generalkommissariate forderten angeblich auf dem Dienst- weg Spirituosen und Zigaretten an, die als Zahlungsmittel für die Beschleunigung des Dienst- weges zwischen deutschen zivilen und militärischen Dienststellen unverzichtbar waren. Die Zivilverwaltung sei bis auf wenige Ausnahmen im kompletten Chaos von Inkompe- tenz und Verbrechen versunken. Wiedergegeben wird der in der weißrussischen Bevölke-

98 Schriftverkehr zwischen Hauptamt für Kommunalpolitik und Parteikanzlei, Kommunalpoli- tik, Listen 1—30, Berlin DC. Das Spektrum der Bewerber reichte vom Polizeiinspektor über städtische Angestellte bis hin zu Bürgermeistern. 99 Dallin, Deutsche Herrschaft (wie Anm. 4), S. 328—331. 100 Drei Jahre Prüfung im Osten. Bericht Gerhard Eschenhagens, der zweieinhalb Jahre bei der Pres- seführung in Weißruthenien und der Ukraine arbeitete, 20.8.1944, BA, R 93/6. 101 Ein Landwirtschafts-Führer im ukrainischen Grenzgebiet brachte es auf 28 Bedienstete, seinen Hof ließ er mit Pelztieren, Bienenstöcken etc. ausstatten. Angezeigt wurde er von einem einhei- mischen »Hilfswilligen«, als er einen alten Bauern zu Tode prügelte und ein Kind durch Schläge schwer verletzte (Reichsminsiter [RM] für Volksaufklärung und Propaganda, BA, R 55/1483). 102 Spöttische Bezeichnung für Angehörige der Zivilverwaltung, deren Uniformen eine goldbraune Farbe hatten. 84 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari rung kursierende Ausspruch, Stalin habe die General- und Gebietskommissare einmal als seine besten Propagandisten bezeichnet103. Auch Raub und Plünderung kamen nicht erst im Zuge der Räumung vor, und sie beschränkten sich nicht auf die zurückflutende Wehr- macht. Schon Ende 1942 wurden gegen Angehörige der Zivilverwaltung wiederholt Todes- urteile verhängt. Die Gerichtsentscheidungen standen allerdings nie in Zusammenhang mit Verbrechen gegen Menschen, sondern sollten in Fällen von »Sachentnahmen« die Dis- ziplin aufrechterhalten104.

Vorbereitende Ausbildung

Bis Mitte Oktober 1941 fanden zwei Einweisungslehrgänge für den Einsatz in den besetz- ten Gebieten auf der Ordensburg Krössinsee in Pommern statt105. Teilnehmer waren Stammführer und Ordensjunker, politische Leiter und Führer der Parteiorganisationen, ebenso Beamte und weibliche Angestellte106. (Im Bereich des Generalkommissars in Minsk arbeiteten im Februar 1942 rund 850 Frauen107.) Die Schulung hatte den Charakter eines propagandistischen Schnellkurses: Ausbilder waren jene Kader, durch deren Hände auf der Falkenburg die bereits bei Zeitgenossen sehr zweifelhaft beleumundete Parteielite der Ordensjunker gegangen war108. Immerhin versuchte man, eine möglichst realitätsbezogene Ausbildung zu gewährleisten. Zukünftige Mitarbeiter der Gebietskommissariate mußten Arbeitsgruppen bilden, in denen sie unter der Führung des realen Dienststellenleiters den Besatzungsalltag »probten«. Auf der Falkenburg sollten der Besatzungsverwaltung in erster Linie die Möglichkeiten vermittelt werden, Bodenschätze oder landwirtschaftliche und gewerbliche Erzeugnisse zur Versorgung der Armee und der Bevölkerung des Reichsge- bietes sicherzustellen, zu sammeln und abzutransportieren. Vorträge deutscher Hochschul- lehrer über die Besonderheiten der Bevölkerung in den besetzten Gebieten und deren Geschichte, den »Volkscharakter« und die Psychologie der Einheimischen rundeten das Bild ab109. Die Vermittlung selbst rudimentärer Sprachkenntnisse war wegen der Kursdau- er von nur wenigen Wochen unmöglich. Einen speziellen Lehrgang für den landwirtschaftlichen Bereich gab es nicht, doch haben zumindest die Gebietslandwirte wohl an der vorbereitenden Ausbildung auf der Falken- burg teilgenommen. Erst im Januar 1944 wurde in Bellenhof die »landwirtschaftliche Ver- waltungsführerschule« eröffnet. Sie unterstand direkt dem Ostministerium und war auf die Bedürfnisse der Beamten der Besatzungsverwaltung und der Landbewirtschaftungsge-

103 Erfahrungsbericht des Reichsrevisors Ohr, September 1944, BA, Sammlung Schumacher/307. 104 Mitteilungsblatt Chef der SiPo und des SD, 14.9.1942, BA, R 58/225. 105 Ruth Schmitz-Ehmke, Die Ordensburg Vogelsang, Köln 1988, S. 13; Hans-Dieter Arntz, Ordens- burg Vogelsang 1934—1945. Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich, Euskirchen 1986, S. 210. 106 Völkischer Beobachter vom 20.10.1941 über die Abstellung weiblicher Dolmetscher für den Ost- einsatz, Reichsminister des Innern vom 29.10.1941, Kommunalpolitik, Listen 1—30, Berlin DC. 107 Schriftverkehr des RK Ostland über Frauentagen, BA, R 90/229. 108 Schmitz-Ehmke, Ordensburg (wie Anm. 105), S. 17. Ahnlich urteilt auch Harald Scholtz, Die NS-Ordensburgen, in: VfZG, 15 (1967), S. 269-298. 109 Vernehmungsprotokolle deutscher Kriegsgefangener durch die sowjetische Armee, Bundesarchiv- Zentralnachweisstelle, Berlin (BA-ZN), ZM 1683, Bd 7. Befragung des Standartenführers (SA) und Gebietskommissars in Estland, Alexander Boekking, vom 13.12.1945. Boekking nahm selbst an einer Schulung teil. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 85

sellschaft Ostland zugeschnitten. Auch einheimische Verwaltungsangestellte nahmen an den Kursen teil. Praktische Auswirkungen auf die Qualifikation des Personals in den besetz- ten Ostgebieten hatte dieser Schritt in letzter Minute nicht mehr110; sofern die Betroffe- nen ihren Einsatzbereich nicht schon aus eigener Erfahrung kannten (was im Falle Weiß- rußlands ungleich seltener vorkam als in den baltischen Teilen des Reichskommissaria- tes)111, blieben sie bei der Lösung ihrer Aufgaben auf die eigene Vorstellungskraft, Sensi- bilität und Findigkeit angewiesen.

Landwirtschaftliches Führungspersonal

Alexander Daliin beziffert das Landwirtschafts-Führerkorps auf insgesamt 14000112, die, auf unterster Ebene und oft auf sich allein gestellt, riesige Gebiete zu betreuen hatten113. Als homogene Gruppe mit einheitlicher (militärisch organisierter) Ausbildung und zen- traler Personalplanung hat dieses »Korps« aber nie existiert. Zwar wurden nach offiziellen Angaben insgesamt 14000 spätere Landwirtschafts-Führer zunächst zur Wehrmacht ein- berufen, von denen etwa die Hälfte im Februar 1942 im Einsatz stand und die übrigen sich in der militärischen Ausbildung befanden114, doch ist auch diese Zahl anzuzweifeln. Die Nagel-Studie nennt einen Bedarf von 15000 Fachkräften für den Fall eines deutschen Vormarsches bis zum Don und Kaukasus, doch sollten zunächst nur 3 000 und innerhalb eines Jahres noch einmal 7000 Mann zur Verfügung gestellt werden115. Diese Männer waren aber zunächst für die Versetzung zu militärischen Wirtschaftsdienststellen oder als militärische »Sonderführer« für die Abstellung zu Truppenteilen in den besetzten Ostge- bieten vorgesehen. Die Wehrmacht rekrutierte sie aus dem Kreis der ehrenamtlichen Bauern- führer im Reichsnährstand und der Beamten in den landwirtschaftlichen Organisationen, wobei die Notwendigkeit der Geheimhaltung vor dem Uberfall auf die Sowjetunion die Auswahl behinderte116. Neben deutschen Bauern suchte man auch nach Rückwanderern aus den Ostgebieten. Welche Anforderungen stellte man an die »neuen Herren im Osten«? Als die Ostdeut- sche Landbewirtschaftungsstelle nach Beginn des Polenfeldzuges Männer zur Überwachung von Staatsgütern in die eingegliederten Gebiete schickte, suchte sie nach Landwirten mit »ausreichender praktischer Erfahrung«, jünger als 60 Jahre, »körperlich rüstig sowie per- sönlich und fachlich geeignet, einen oder mehrere Großbetriebe unter schwierigsten Ver- hältnissen mit Erfolg selbständig zu bewirtschaften, oder die landwirtschaftlichen Klein-

110 Mitteilungsblatt des RK für das Ostland, 4.2.1944, BA, RD 206/3-3-4. 111 Ingeborg Fleischhauer, »Unternehmen Barbarossa« und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSSR, in: VfZG, 30, 1982, S. 299-321, bes. S. 316. 112 Dallin, Deutsche Herrschaft (wie Anm. 4), S. 328—331. Zahl nach Brandt, Management of Agri- culture (wie Anm. 16), S. 82. Die Stärke des Landwirtschafts-Führer-Korps ist nie eingehender untersucht worden; die Zahlen Dallins übernahm zuletzt Mulligan, Politics of Illusion (wie Anm. 13), S. 28-29. 113 Zur Glorifizierung ihrer Stellung durch den Generalkommissar siehe Protokoll über die Tagung der Gebietskommissare, Hauptabteilungsleiter und Abteilungsleiter des Generalkommissariats in Minsk vom 8.4. bis 10.4.1943, BA, R 93/20. 114 Die Zeit, Reichenberg, 7.2.1942; Chefgruppe Landwirtschaft beim Wirtschaftsstab Ost, BA, R 90/72. 115 Die deutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41), S. 127. 116 Ebd., S. 128. 86 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari und Mittelbetriebe von ganzen Gemeinden zu betreuen und zu überwachen«117. Bewer- ber mußten sich selbst um eine Freistellung kümmern. Bearbeitet wurden alle Eingaben von den Orts- und Kreisbauernschaften des Reichsnährstandes. Kam es zu einer Einstel- lung des Bewerbers, hatte sich das zukünftige Gefolgschaftsmitglied, so die offizielle Bezeich- nung für die Angehörigen einer Dienststelle, vertraglich mit Versetzungen einverstanden zu erklären. Die Aussicht auf ausgedehnten Besitz in den eroberten Gebieten, so hatte man in Deutschland gemeint, werde junge Menschen dazu bringen, sich für den Beruf des Landwirtes zu entscheiden118. Nun wurde von vornherein möglichem Landhunger vorgebaut: Ein Rechtsanspruch auf die bewirtschafteten Höfe bestand nicht119. Aussagen über das Personal, das tatsächlich in Weißruthenien zum Einsatz kam, sind aufgrund der Aktenlage schwierig zu treffen. Die Forschung hat sich kaum mit Fragen der Rekrutierung von Mitarbeitern für die Zivilverwaltung befaßt. Zwar wurden immer wieder ihre Kompetenz, Flexibilität und Qualität in Frage gestellt, doch blieben solche Wertungen ohne empirische Grundlage. Besonders lohnend für die Untersuchung einer Gruppe innerhalb der Verwaltungshierarchie in Weißruthenien erschienen die Landwirt- schafts-Führer. Diese sollten die Direktiven der Besatzungsverwaltung auf unterster Ebe- ne durchsetzen. Sie bildeten zusammen mit dem Personal der Gebietskommissare jene Grup- pe, die für das Funktionieren nationalsozialistischer Ausbeutungspolitik an der Basis ver- antwortlich war. Die Masse der Verwaltungsakten wurde bei der Räumung Weißrutheniens im Sommer 1944 vernichtet120, doch Personalunterlagen entgingen häufig diesem Schicksal, da die frei- gewordenen (nicht nur landwirtschaftlichen) Mitarbeiter an Wehrmacht und zivile Dienst- stellen zwecks anderweitiger Verwendung gemeldet werden mußten121. Aus den verfüg- baren Unterlagen ließen sich rund 360 in Weißruthenien eingesetzte Landwirtschaftsbe- amte namentlich ermitteln122. Dies entspricht fast 100 Prozent der Stellen im landwirt-

117 Schreiben der Ostdeutschen Landbewirtschaftungsstelle, Abt. Landwirtschaft, vom 17.6.1940, BA, R 82/9. Ahnliche Auswahlkriterien nennt die Nagel-Studie für den Rußland-Einsatz. Landwirt- schafts-Führer durften sich aus dem Bereich der Wehrmacht bewerben, allerdings waren Angehöri- ge verschiedener Truppengattungen (fliegendes und schwimmendes Personal bei Luftwaffe und Marine) von dieser Regelung ausgeschlossen: Die deutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41), S. 128. 118 Der Deutsche Volkswirt, 5.9.1941, BA, R 43 II/213b. 119 Die deutsche Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41), S. 128. 120 Vgl. die Räumungs- und Erfahrungsberichte der Gebietskommissare. In keinem Fall ging die Verlagerung der Dienststellen nach Westen so geordnet vor sich, daß mehr als eine kleine Aus- wahl mitgeführt werden konnte. Mangels Transportraum mußten in letzter Minute oft noch Bestän- de vernichtet werden. 121 Landwirtschafts-Führer im Gebiet Baianowitsche, 26.7.1944; Gefolgschaftsmitglieder des Gebiets- kommissariats Glebokie, 1.8.1944; Gebietskommissariat Hansewitsche [Juli 1944]; Liste der La- Führer des Gebietes Lida [Juli 1944]; Gefolgschaftsmitglieder des Gebietskommisssars Minsk- Land, 20.7.1944; Landwirtschaftliche Mitarbeiter des Gebietes Sluzk, 24.7.1944; Gefolgschafts- mitglieder des Gebietes Brest-Litowsk [Juli 1944]; Gebietskommissariat Pinsk, 15.7.1944; Land- wirtschaftliche Mitarbeiter in Wileika, 12.8.1944, alle BA, R 93/10. Liste der zu entlassenden landwirtschaftlichen Mitarbeiter des Generalkommissars (freigegeben für die Wehrmacht), 22.7.1944; Meldung über zu entlassende La-Führer, deren Leistungen unter dem Durchschnitt liegen, 16.7. und 13.7.1944; Meldung über die Jahrgänge 1906 und jünger sowie Kriegsversehr- te, 13.7.1944, alle BA, R93/9. 122 Bernhard Chiari, Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944. Die Arbeit der Gebiets- kommissariate unter besonderer Berücksichtigung der Landwirtschaftsführer. Magisterarbeit, Frankfurt 1991. Ausgewertet wurden Personalakten aus folgenden Beständen: Bundesarchiv Koblenz, Bundesarchiv-Militärarchiv, Berlin Document-Center (DC), Bundesarchiv-Zentralnach- weisstelle und Bundesarchiv-Zwischenarchiv, Dahlwitz-Hoppegarten. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 87 schaftlichen Bereich des Generalkommissariats. (Über die Anzahl von Neubesetzungen während des Krieges herrscht Unklarheit.) Bei 260 war die genaue Funktion innerhalb der Zivilverwaltung feststellbar123. Unter ihnen sind neun Gebiets- und 47 Kreislandwir- te, die Mehrheit verteilte sich auf die landwirtschaftlichen Mitarbeiter, also jene Beamte, die Kreis- und Gebietslandwirte in deren Dienststellen bei ihrer Arbeit unterstützten, und die nicht näher klassifizierten Landwirtschafts-Führer. Dieser Begriff kann einmal militäri- sche »Sonderführer« meinen, die die Wehrmacht dem Generalkommissar für Erfassungs- aufgaben unterstellte. Zum anderen fallen in diese Kategorie jene Männer, die bei der Auf- lösung der Gebiete lediglich als Angehörige der Abteilung Landwirtschaft der Wehrmacht und den Arbeitsämtern weitergemeldet wurden. Insgesamt ließ sich für 201 Landwirtschafts- Führer des Generalkommissariates der Geburtsjahrgang ermitteln. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Männer war 1944 jünger als 37 Jahre. Drei Viertel der Personen gehörten der Altersgruppe zwischen 37 und 43 Jahren an. Bemerkenswert ist, daß die Gruppe der Gebiets- und Kreislandwirte von diesem Profil kaum abweicht. 35 Landwirtschafts-Führer sind mit Sicherheit Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gewesen, das Datum ihres Beitritts ist bekannt. Rund ein Drittel vollzog diesen Schritt schon vor 1933. Eine Mitgliedschaft, die bis in die »Kampf- zeit« der Partei zurückreicht, läßt sich jedoch nur in einem Fall für das Jahr 1923 feststel- len. Acht spätere Landwirtschafts-Führer traten im Jahr der Machtergreifung der NSDAP bei, 13 weitere folgten bis zum Anschluß Österreichs. Selbst nach Ausbruch des Krieges wurden noch zwei Beamte zu »Parteigenossen«. Ein Großteil der Landwirtschafts-Führer war auch im Zivilberuf Landwirt. Bei 55 Angehörigen des Generalkommissariats und der Gebietskommissariate war der letzte ausgeübte Beruf festzustellen. Unter ihnen befanden sich 46 Bauern, die entweder einen eigenen Betrieb leiteten, oder auf dem väterlichen Hof arbeiteten. Männer, bei denen man aufgrund ihrer Berufserfahrung die Fähigkeit zur Orga- nisation größerer Betriebe sowie Führungsqualitäten eher hätte erwarten können als bei einem Landwirt, der in der bayerischen Provinz einen kleinen Hof bewirtschaftete, wur- den in beinahe allen Fällen auf unterster Ebene eingesetzt124. Die Masse der Landwirt- schafts-Führer stammte aus kleinen bis kleinsten Dörfern. Beinahe 200 von festgestellten 235 Herkunftsorten hatten weniger als 3 000 Einwohner, etwa 150 weniger als 1000, wobei hier der Anteil der kleinsten Gemeinden und Gehöftegruppen ausgesprochen hoch ist125. Geographische Auffälligkeiten lassen sich nicht erkennen. Das landwirtschaftliche Perso- nal wurde aus dem Gebiet des gesamten Deutschen Reiches rekrutiert, einige Männer stammten aus dem österreichischen Teil. Personal aus östlichen Landesteilen oder ostpreu- ßischen Kreisen wurde bei der Auswahl für Weißruthenien nicht bevorzugt. Diese Zahlen vermitteln einen ersten Eindruck vom Profil jener Gruppe, die praktisch ohne eine vorbereitende Ausbildung die eroberten sowjetischen Gebiete der deutschen Wirtschaft nutzbar machen sollte. Angehörige von SA und SS sind nur in geringem Umfang berücksichtigt worden126. Die Kader, die den sowjetischen Verwaltungsapparat wieder in

123 pür ein Gebiet liegen ausführliche Angaben vor, die Aussagen auch über biographische Details ermöglichen (Stammliste der Gefolgschaftsmitglieder des Gebietskommissariates Slonim 1941— 1944, BA, R 93/2). 124 Einzelne Gutsverwalter, höhere Verwaltungsbeamte, Wirtschaftsberater etc. 125 Müllers Großes Ortsbuch, Berlin 1942 (Stand 1938). 126 Ein Gebietslandwirt trat im Juli 1941 in die SS ein, zunächst aus rein opportunistischen Grün- den. Erst im Lauf seines Einsatzes in Weißruthenien erfolgte allem Anschein nach eine weltan- schauliche Radikalisierung (Personalakte Walter Alex, Berlin DC). Auch Kreislandwirte, die bereits 88 MGM 52 (1993) Bernhard Chiari

Gang setzen sollten, waren keine Organisatoren, denn sie hatten kaum Erfahrung im Umgang mit Großbetrieben, sondern entstammten dem unteren wirtschaftlichen und sozia- len Milieu. In der Regel waren sie wohl auch keine Karrieristen in der Politik, die einen Aufstieg in der Partei mit einem Front-Einsatz hinter den eigenen Linien abrunden woll- ten. Ein auffälliges Engagement in nationalsozialistischen Organisationen läßt sich bei der Mehrzahl nicht erkennen. Bemerkenswert ist, daß zwischen den Kreislandwirten und ihren Mitarbeitern, und — soweit sich dies für diese kleine Gruppe eben nachweisen läßt — auch den Gebietslandwirten kein nennenswerter Unterschied der Persönlichkeitsprofile erkenn- bar wird. Weder was ihre Lebenserfahrung betrifft noch bei ihrer beruflichen Qualifika- tion oder bei besonderem politischen Engagement sind signifikante Differenzen festzu- stellen. Die wenigsten hatten wohl besondere Kenntnisse, die sie zur Lösung von Aufga- ben befähigt hätten, welche letztendlich alle Bereiche der Besatzungsverwaltung betrafen. Die zivilen Besatzer waren keine nationalsozialistischen Fanatiker. Für die meisten bedeutete der Einsatz in der Zivilverwaltung zunächst einen Aufstieg: Er brachte das Ende des Mili- tärdienstes und er führte auf der Hierarchieleiter um einige Stufen nach oben, weg von kleinen Bauernhöfen und allenfalls drittrangigen Funktionen in nationalsozialistischen Ortsvereinen. Auch der militärische Werdegang zeigt keine Besonderheiten. Kaum jemand kam während seines Dienstes in der Wehrmacht über den Bereich der Mannschaftsdienst- grade hinaus. Dies ist wichtig, denn in Weißruthenien hätten sich die Männer ständig inner- halb einer militärisch strukturierten Hierarchie durchsetzen müssen127, deren Wert sie zwar verinnerlicht hatten, deren Maßnahmen sie aber (zumindest als kontraproduktiv) in vielen Fällen verurteilten. Hier bestimmt aufzutreten und sich durchzusetzen, hätte eine den militärischen und polizeilichen Funktionsträgern vergleichbare Dienststellung und einen ebensolchen Erfahrungshorizont erfordert128. Es war mehr als unwahrscheinlich, daß ein Verwalter vor Ort (beispielsweise konfrontiert mit einem völlig enthemmten SS- Kommando) eindeutig Position bezog. Auch aus psychologischen Gründen mußten die deutschen Verwalter in Rußland im deutschen Amterkampf unterliegen.

Schluß

Anders als im Totenkopf-Ordenm dienten und verwalteten die Angehörigen der General- kommissariate ohne eine starke Führung. Die Zivilverwaltung bildete das schwächste Glied innerhalb der nationalsozialistischen Behördenhierarchie. Was in Weißruthenien vor sich ging, war ein rapider Bedeutungsverlust aller administrativen Strukturen zugunsten einer brutalen SS-Herrschaft. Diese schlug sich in Konzepten wie der Errichtung von Stützpunkten und Wehrdörfern nieder und führte dazu, daß auch die Landwirtschafts-Führer immer stär-

vor dem Krieg durch Parteiämter oder besonderes Engagement in der SA hervortraten, stellen die Ausnahme dar (vgl. Personalakte Johannes Reeps, Johann Grätzel, Berlin DC). 127 Vgl. die stereotype Kritik an fehlender oder mangelhafter Uniformierung des Verwaltungsfüh- rer-Korps, die in den Berichten der Gebietskommissare einen breiten Raum einnimmt. 128 Auch Einrichtungen wie die Zentralhandelsgesellschaft Ostland beklagten immer wieder, ihre Angestellen seien nicht in der Lage, sich in der Umgebung von Offizieren gewandt zu bewegen, vgl. ZHO/Riga, Arbeitsbericht der Geschäftsstelle Pleskau für die 3. Aufsichtsratsitzung am 18.11.1942, BA, R 33 H/11. Dieses Bild bestätigt auch die Nagel-Studie: Die deutsche Wirtschafts- politik (wie Anm. 41), S. 129. 129 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 415—436. Deutsche Zivilverwaltung in Weißrußland 1941—1944 89 ker in Terror- und »Befriedungsaktionen« miteinbezogen wurden und hier Erfassungsar- beit im Sinne der SS leisten mußten. Dabei gab es ständige Spannungen und Beschwerden beider Seiten über mangelnde Zusammenarbeit. Uber die Art und den Verlauf der Aktio- nen selbst klagte die landwirtschaftliche Führung nur selten. Falls überhaupt, protestierte sie gegen eine »Verstörung der Bevölkerung«, aber nicht gegen das Wüten von Einheiten wie dem »Sonderbataillon Dirlewanger« an sich. Innerhalb der Zivilverwaltung häuften sich die schriftlichen Beschwerden. Kritisiert wur- den mangelnde Dienstaufsicht, schlechte Ausstattung, unbrauchbare Direktiven und das Fehlen jeder Hilfe bei der Problemlösung. Besonders, wenn derartige Meldungen in der Form von Rechenschaftsberichten kurz vor der Räumung der besetzten Gebiete und ange- sichts der Einziehung ihrer Verfasser zu Wehrmacht oder SS entstanden, kommt ihnen ein hoher Grad an Glaubwürdigkeit zu. Aber auch der normale Schriftverkehr der Behör- den, die auf dem Papier beinahe das gesamte öffentliche Leben zu kontrollieren hatten, kann bei behutsamer Quellenkritik Aufschluß über die Funktionsweise der Verwaltung geben. Dies gilt um so mehr, als mit derartigen Äußerungen fast immer eine Schuldzu- weisung an die übergeordnete Instanz und der Versuch verbunden war, Versagen im eige- nen Zuständigkeitsbereich zu erklären und zu rechtfertigen. Eine Verbindung zwischen den Gebietskommissariaten und der Bevölkerung ist nie zustande gekommen. Die Verwaltung verfügte nicht einmal zu Beginn der deutschen Herr- schaft in Rußland über die materiellen und personellen Möglichkeiten, um Weißruthenien politisch durchdringen zu können. Spätere Diskussionen in Deutschland über die Gestal- tung der besetzten Gebiete nach dem Scheitern des Blitzkrieges liefen ohne jede Kenntnis der Verhältnisse vor Ort ab. Dieser Realitätsverlust in den Ministerien und Generalkom- missariaten ging so weit, daß jede Darstellung deutscher Verwaltungskonzepte Gefahr läuft, den inhaltlichen Zusammenhang mit der Besatzungsgeschichtsschreibung zu verlieren. Gebietskommissariate und die Dienststellen der Kreislandwirte blieben bis zur Räumung Weißrutheniens auf dem Papier arbeitsfähig. In Wahrheit bildeten sie kleine Inseln inner- halb eines von Partisanen kontrollierten Gebietes, in dem von Verwaltung nicht mehr gesprochen werden konnte. Sie wurden aus Berlin und Minsk ständig mit sinnlosen Erlas- sen, Beschlüssen zur Verwaltungsvereinfachung und Vorschlägen zur »Befriedung« des Ter- ritoriums überhäuft. Herrschaft bedeutete in Weißruthenien Requirierung und Plünderung durch die SS. Ohne Waffengewalt war sie nach 1942 nicht mehr durchzusetzen. Die Auswertung der lückenhaft überlieferten Personalakten kann die These von der fach- lichen Überforderung des deutschen Personals nicht widerlegen; allerdings hätten wohl auch hervorragend qualifizierte Fachleute vor den lokalen Umständen, dem Kompeten- zenchaos und einem Mangel an politischen Möglichkeiten kapitulieren müssen. Weißruthe- nien versank in Elend, Zerstörung und einem brutalen Machtkampf verschiedener natio- nalsozialistischer Gewalten, der hier — anders als im Deutschen Reich — völlig unkon- trolliert und noch losgelöster von den Realitäten ausgetragen wurde. Die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg ist immer noch nicht geschrieben. Vielleicht werden neue Unterlagen aus den Archiven in Moskau, Minsk oder Kiew eine Annäherung an dieses dunkle Kapitel auf dem Wege von geographisch enger gefaßten Untersuchungen ermöglichen. Dies wäre nicht nur für die neu entstehen- den Staaten der früheren Sowjetunion ein Schritt zur Ausfüllung »weißer Flecken« vor dem Hintergrund eines erwachenden nationalen Gechichtsbewußtseins, sondern auch die Chance, einer Antwort auf die Frage ein Stück näher zu kommen, wie der Nationalsozia- lismus mitten im 20. Jahrhundert Gestalt annehmen konnte.