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Samstag, 7. Mai 2016 / Nr. 105 10 Hintergrund NEUE NEUE ZUGER ZEITUNG NEUE NIDWALDNER ZEITUNG NEUE OBWALDNER ZEITUNG NEUE URNER ZEITUNG BOTE DER URSCHWEIZ

Impression von der Nidwaldner Lands- gemeinde im Jahr 1993. Nur drei Jahre später wurde diese demokratische Urform im Kanton abge- schafft. Archivbild Neue NZ

Das demokratische Fossil lebt

LANDSGEMEINDE In den 1990er-Jahren galt ten. Schaubs Untersuchung zeigt, dass schaffung der weder in das nicht so ist; so sind Glarner und noch in -Innerrhoden die Versammlungsdemokratie als überholt, Inner rho der weder aktiver in Vereinen Thema. In Appenzell stand der Übergang Wo existiert(e) die ein Kanton nach dem anderen schaffte die noch stärker an Politik interessiert als zum Urnensystem zwar zur Diskussion, die Bürger anderer Kantone. Das Fazit nachdem der Kanton 1991 vom Bundes- Landsgemeinde? Lands gemeinde ab. Dabei hat sie auch Vorteile, des Politikwissenschaftlers ist daher, gericht zur Einführung des Frauen- KANTONE lkz. Bis ins 19. Jahr- dass keines der beiden Systeme per se stimmrechts gezwungen worden war. Die hundert kannten acht Kantone die wie ein neues Buch zeigt. Gleichwohl gibt es demokratischer ist. Stimmbürger sprachen sich klar für die Landsgemeinde: Reformbedarf. Beibehaltung der bisherigen Praxis aus. " : abgeschafft 1847 Einschüchterungsversuche Carlo Schmid war fast dreissig Jahre " : abgeschafft 1847 Wieso aber schafften Nidwalden, Ob- Innerrhoder , bevor er " Uri: abgeschafft 1928 LUKAS LEUZINGER Kantonen mit Landsgemeinde und sol- walden und Appenzell-Ausserrhoden die 2013 zurücktrat; daneben sass der CVP- " Nidwalden: abgeschafft 1996 [email protected] chen, die an der Urne abstimmen. Im Landsgemeinde ab? Eine eindeutige Politiker fast ebenso lange im Ständerat. " Appenzell-Ausserrhoden: Zentrum steht dabei die grundsätzliche Antwort auf diese Frage kann Schaub Dass die Landsgemeinde in Innerrhoden abgeschafft 1997 Die Bürgerinnen und Bürger von Frage, welches System demokratischer nicht geben. Er vermutet, dass der Zeit- weiterbesteht, hat aus seiner Sicht «ra- " : abgeschafft 1998 Glarus haben sich letzten Sonntag auf ist. Schaub untersuchte eine Vielzahl geist eine Rolle spielte: In den 1990er- tionale und emotionale Gründe», wie er " Appenzell-Innerrhoden: dem Landsgemeindeplatz versammelt, unterschiedlicher Indikatoren, mit denen Jahren wurde die Landsgemeinde viel- im Gespräch sagt. «Innerhalb von zwei nicht abgeschafft um über die Angelegenheiten des Kan- er beispielsweise mass, wie stark der fach als nicht mehr zeitgemäss betrach- Stunden erledigt man alle kantonalen " Glarus: nicht abgeschafft tons zu beraten und abzustimmen. Die Rechtsstaat, wie unabhängig die Justiz tet. In den Diskussionen vor der Sachfragen und wählt die Regierung. Auf Gemeindeebene ist das Ver- Woche davor hatten bereits die oder wie ausgebaut die direkte Demo- Abschaffung war oft die Rede davon, Betriebswirtschaftlich ist es eine ziemlich sammlungssystem stärker verbreitet: Appenzell-Inner rhoder ihre traditionel- kratie in einem Kanton ist. Als Unter- dass das Urnensystem die «modernere» effiziente Veranstaltung.» Daneben die- Bis heute haben 80 Prozent der le Landsgemeinde abgehalten. suchungsobjekte dienten die acht Kan- Form der Demokratie sei. Hinzu kamen ne die Landsgemeinde aber auch der Gemeinden eine Gemeindever- Appenzell-Innerrhoden und Glarus tone, die in ihrer Geschichte einmal die in jedem der drei Kantone spezielle Identifikation, sie halte die Leute zu- sammlung. sind die letzten Kantone, deren Bewoh- Landsgemeinde kannten oder in denen Umstände. sammen. Schmid erinnert sich daran, ner über Sachfragen nicht an der Urne sie heute noch existiert. Da die Kantone Auch der Nidwaldner Nationalrat Pe- wie er als Landammann jeweils zusam- entscheiden, sondern stattdessen einmal alle ähnlich gross und ländlich geprägt ter Keller verweist auf den «Geist der men mit den anderen Mitgliedern der pro Jahr an der Landsgemeinde zusam- sind, sind sie gut vergleichbar. Der Unter- 1990er-Jahre», der zum Ende der Lands- Standeskommission (Regierung) und der te geschätzt werden muss. Der Kanton menkommen, wie es schon seit Hun- suchungszeitraum war 1979 bis 2009. gemeinde in seinem Kanton beigetragen Gerichte auf die Tribüne stieg und sich Glarus prüft derzeit die Einführung eines derten von Jahren Brauch ist. Einst gab habe. «Der Schweiz fehlte es in dieser dem versammelten Stimmvolk gegen- elektronischen Systems. es die Landsgemeinde in acht Schweizer Überraschende Ähnlichkeit Zeit an Selbstsicherheit.» Dem schwin- übersah. «Das macht einem Eindruck.» Das Problem der tiefen Beteiligung ist Kantonen – auch in allen Kantonen der Zu einem einheitlichen Ergebnis denden Stolz auf die eigenen Traditio- schwieriger zu lösen. In Glarus ist die Zentralschweiz, abgesehen von Luzern. kommt Schaub nicht. «In einigen Be- nen fiel in den Augen des SVP-Politikers Anpassungen nötig Benutzung des öffentlichen Verkehrs am Doch ein Kanton nach dem anderen reichen schneidet das Urnensystem bes- auch die Landsgemeinde zum Opfer. In Dass die Landsgemeinde in den bei- Tag der Landsgemeinde gratis, trotzdem schaffte diese Form der Demokratie ab ser ab, in anderen die Landsgemeinde.» Nidwalden kam noch die Nichtwahl von den verbliebenen Kantonen unbestritten kommt jeweils nur etwa ein Viertel der und ging zum Urnensystem über: Beispielsweise ist in Kantonen mit Leo Odermatt in den Regierungsrat an scheint, ist laut Hans-Peter Schaub al- Stimmberechtigten. Eine weitere Mög- Schwyz und Zug bereits vor der Grün- Urnenabstimmungen das Stimmgeheim- der Landsgemeinde 1994 hinzu. Oder- lerdings keine Garantie, dass sie be- lichkeit sind laut Schaub finanzielle dung des Bundesstaats 1847, Uri folgte nis besser geschützt, und die Beteiligung matt, ein Vertreter der Partei Demo- stehen bleibt. «Auch in Nidwalden, Ob- Anreize, entweder in Form einer «Be- 1928. Zuletzt verabschiedeten sich in ist höher. Umgekehrt sind in den Lands- kratisches Nidwalden (aus der später walden und Appenzell-Ausserrhoden lohnung» der Landsgemeinde-Teilneh- den 1990er-Jahren gleich drei Kantone gemeindekantonen die direktdemokra- die Grünen wurden), unterlag seinem hätte kaum jemand zehn Jahre vor den mer oder aber der «Bestrafung» der von der Landsgemeinde – Nidwalden tischen Rechte viel stärker ausgebaut – liberalen Kontrahenten um wenige hun- Landsgemeindeabschaffungen diese vo- Nichtteilnehmer, das heisst die Einfüh- (1996), Appenzell-Ausserrhoden (1997) und werden auch häufiger genutzt. dert Stimmen. Im Nachgang der Ab- rausgesehen.» Schaub glaubt deshalb, rung einer Stimmpflicht. und Obwalden (1998). Mehr als die Unterschiede überrasch- stimmung wurden Klagen über Ein- dass die Landsgemeinden sich reformie- Das grösste Hindernis für eine regere te Schaub aber, dass die beiden Systeme schüchterungsversuche auf Wähler laut. ren müssen, um dauerhaft mehrheits- Teilnahme dürfte letztlich der Zeitauf- Systematischer VergleichF in vielen Bereichen sehr ähnliche Resul- Das dürfte das Vertrauen vieler Nid- fähig zu bleiben. Handlungsbedarf sieht wand sein. Stehen viele Geschäfte an, Die Landsgemeinde wirkt damit wie tate hervorbrachten. «Beispielsweise waldner in die Versammlungsdemo- er vor allem bei zwei Punkten: dem kann die Landsgemeinde schon einmal ein demokratisches Fossil, das in den wird oft kritisiert, durch die Landsge- kratie erschüttert haben. fehlenden Stimmgeheimnis und der tie- vier oder fünf Stunden in Anspruch verbliebenen zwei Kantonen nur noch meinde würden Minderheiten diskrimi- Für Peter Keller war die Abschaffung fen Beteiligung. nehmen. Die briefliche Stimmabgabe ist aus Traditionsbewusstsein beibehalten niert und individuelle Rechte einge- eine «Tragödie». An der Landsgemeinde da wesentlich zeitsparender. Allerdings wird; ein überkommenes Relikt aus schränkt», sagt Schaub. «Beides ist nicht habe jeder Stimmberechtigte ans Red- Knackpunkt Stimmbeteiligung fällt damit auch die unmittelbare Dis- alter Zeit, das mit den Anforderungen der Fall, jedenfalls nicht stärker als bei nerpult treten und zu seinen Mitbürgern Eine geheime Stimmabgabe wäre auch kussion vor Ort weg, die als wesentliche an eine moderne Demokratie nicht mehr Urnenabstimmungen.» sprechen können, erinnert er sich. «Das an der Landsgemeinde technisch mög- Qualität der Landsgemeinde gilt. vereinbar ist. Doch auch positive Vorstellungen von hat einem die Demokratie im wahrsten lich, und zwar mit einer elektronischen Aber ist das tatsächlich so? Hans-Peter der Landsgemeinde wurden teilweise Sinne vor Augen geführt.» Abstimmungsanlage, wie sie zum Bei- HINWEIS Schaub wollte es genau wissen: In einem entkräftet. So etwa jene, die Versamm- spiel an den Generalversammlungen Gewandelter Zeitgeist Hans-Peter Schaub: «Landsgemeinde oder Urne – neuen Buch, das dieser Tage erscheint, lungsdemokratie mache die Leute zu grosser Unternehmen eingesetzt werden. was ist demokratischer? Urnen- und Versamm- stellt der Politikwissenschaftler einen «Citoyens», die sich auch ausserhalb des Inzwischen scheint der Zeitgeist ge- Damit könnte auch das Resultat genau lungsdemokratie in der Schweiz.» systematischen Vergleich an zwischen Landsgemeinderings stärker engagier- kehrt zu haben. Jedenfalls ist die Ab- eruiert werden, anstatt dass es wie heu- Nomos-Verlag, 134.90 Franken.