Protestation Des Gewissens: Die Rechtfertigungsschriften Der Göttinger Sieben
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Wilhelm Bleek, Bernhard Lauer. Protestation des Gewissens: Die Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben. Kassel: Brüder Grimm-Gesellschaft, 2012. 208 S. ISBN 978-3-940614-29-2. Reviewed by Hermann Wellenreuther Published on H-Soz-u-Kult (November, 2014) Die Edition der Rechtfertigungsschriften der sich knappe Biographien der Autoren der Schrif‐ Göttinger Sieben ist erfreulich und ärgerlich zu‐ ten gewünscht. gleich. Erfreulich, weil damit die wichtigsten In der Einleitung sind die Schriften der Göt‐ Quellen zur Rechtfertigung der sieben Göttinger tinger Sieben gut charakterisiert. Natürlich kann Professoren, die gegen die Entbindung von der Ei‐ man immer mehr sagen – etwa zur Verteidigungs‐ desleistung auf das Staatsgrundgesetz von 1833 schrift des Theologen Heinrich Ewald. Sie wird als protestierten, in einem ordentlichen Buch wieder „weitschweifig“ (S. 17), „dramatisch“ und „apoka‐ vorliegen, ärgerlich, weil Einleitung und Kom‐ lyptisch“ (S. 18) beschrieben, womit Ewald in die mentierung der Schriften die einseitige Tradition Ecke der theologischen Eiferer und Schwärmer der letzten einhundertsiebzig Jahre fortsetzten. gestellt wird, ohne dass damit dem Leser bei der Der Band veröffentlicht die Rechtfertigungs‐ Verortung von Ewald als wissenschaftlichem und schriften von Friedrich Christoph Dahlmann, Wil‐ theologischem Autor geholfen wird. Sein richtig helm Eduard Albrecht, Jacob Grimm, Heinrich charakterisierter Stil jedenfalls entsprach der zeit‐ Ewald und Georg Gottfried Gervinus. Die meisten genössischen Art der Theologen, sich mitzuteilen; von ihnen waren schon länger wohlbestallte Pro‐ unter den Theologen stellt Ewald kein Sonderfall fessoren an der Georgia-Augusta; nur Gervinus dar. Ähnliches gilt übrigens für die staubtrockene, war erst 1836 zum Professor berufen worden. Der eng auf die Kernfrage bezogene Schrift von Al‐ siebte der Professoren, Wilhelm Weber, ein enger brecht; auch dies entspricht dem Stil und Duktus Freund von Carl Friedrich Gauss, verzichtete der damaligen Rechtsgelehrten (übrigens bis in möglicherweise auf Drängen von Gauss auf eine die Gegenwart). Aber dies sind Petitessen. Insge‐ eigenständige Verteidigungsschrift. samt ist die Edition gelungen – dies ist denn auch Die Herausgeber Wilhelm Bleek, emeritierter der erfreuliche Aspekt. Professor für Politologie, und Bernhard Lauer, Di‐ Ärgerlich ist etwas anderes: Die Interpretati‐ rektor des Brüder Grimm Museums in Kassel, on der Schriften und ihre Kontextualisierung in sind vorzüglich ausgewiesen, ersterer durch eine der Einleitung und Annotierung der Texte. Hier Biographie zu Dahlmann und letzterer durch bleiben die Herausgeber einer langen, bis in die zahlreiche Schriften insbesondere zu Jakob und 1840er-Jahre zurückreichenden Tradition verhaf‐ Wilhelm Grimm. Die Edition der Texte ist schnör‐ tet, die die Göttinger Professoren als Helden des kellos und überwiegend präzise; für den nicht mit Widerstandes, als Verteidiger des öffentlichen Ge‐ den Göttinger Sieben vertrauten Leser hätte man wissens, als herausragende Repräsentanten des deutschen vormärzlichen Konstitutionalismus H-Net Reviews und als Vorbilder für Widerstand gegen die Obrig‐ schen Hintergrund von Leists Auffassung siehe keit feiert. Zugegeben: Sie fnden sich damit in Holger Erwin, Machtansprüche: Das herrscherli‐ hervorragender Gesellschaft. Aber besser wird che Gestaltungsrecht ‚ex plenitudine potestatis‘, dies dadurch nicht. Welchen Preis zahlen wir für Köln 2009, S. 131–133. , ist dementsprechend diese hartnäckige Heldenverehrung? Der verfas‐ ebenso parteiisch wie seine Auffassung, des Kö‐ sungsmäßige Rahmen, in dem das Phänomen nigs Tat sei ein „Willkürakt“ (S. 15). Aus der Sicht „Göttinger Sieben“ und der Konstitutionalismus von Vertretern des Patrimonialstaatsgedankens steht, wurde auf die Formel ‚Tyrannei und Frei‐ wie Leist oder D. Romeo Maurenbrecher war sie heit‘ verkürzt. Die Verfassungskonzepte ‚konstitu‐ einfach falsch Vgl. auch Katrin Stein, Die Verant‐ tionelle Monarchie‘ und ‚Konstitutionalismus‘ wortlichkeit politischer Akteure, Tübingen 2009, aber waren in den 1830er-Jahren in Deutschland S. 136–139. ; bei Teilen der Göttinger Bevölkerung im Unterschied zu den Vereinigten Staaten noch und Studentenschaft fand Albrechts Ansicht aber keineswegs Allgemeingut – weder bei der akade‐ durchaus Zustimmung. Zur Göttinger Bevölke‐ mischen Elite, schon gar nicht bei den Juristen, rung und ihrer politischen Haltung, Lampe, „Frey‐ wie die Beispiele des Göttinger Juristen und Schü‐ heit und Ordnung, S. 760–765. Die neuen Arbeiten lers von Johann Stephan Pütter, Justus Christoph zur Göttinger Bevölkerung in den 1830er-Jahren Leist, und die 1837 erschienene Arbeit von D. Ro‐ zeigen, dass möglicherweise ihre Politisierung meo Maurenbrecher zeigen, wohl aber bei Teilen weiter reichte als die mancher Göttinger Universi‐ der Göttinger Bevölkerung. Jörg H. Lampe, „Frey‐ tätsprofessoren. Ein markantes Beispiel dafür war heit und Ordnung“. Die Januarereignisse von 1831 der Göttinger Theologe, Universitätsprofessor und und der Durchbruch zum Verfassungsstaat im Kö‐ Senator der Stadt, Karl Ludwig Gieseler, der in ei‐ nigreich Hannover, Hannover 2009, bes. S. 760– nem Gutachten für den Rat der Stadt zur Frage, 765. ob die Stadt dem König huldigen solle bevor die‐ Mit einem Gutachten zur Gültigkeit der Ver‐ ser das Staatsgrundgesetz von 1833 anerkannt fassung von 1833 lieferte Leist, zu der Zeit höhe‐ habe, davon aus ging, „daß unser König nicht Kö‐ rer Justizbeamter des Landes, dem König 1837 die nig ist vermöge einer Constitution, sondern allein entscheidenden Argumente dafür, deren Aner‐ durch Gottes Gnade, vermöge der Erbfolge nach kennung zu verweigern und die Verfassung von dem Rechte der Erstgeburt“ Dies Gutachten und 1819 wieder in Kraft zu setzen. Die Zusammen‐ sein Kontext sind diskutiert in Hermann Wellen‐ hänge sind dargestellt bei Wolfgang Sellert, Die reuther, Die Göttinger Sieben, Göttingen und der Aufhebung des Staatsgrundgesetzes und die Ent‐ Verfassungskonflikt von 1837, in: Blanke u.a., Die lassung der Göttinger Sieben, in: Edzard Blanke Göttinger Sieben, S. 61–84, hier S. 71–74. ; er u.a., Die Göttinger Sieben. Ansprachen und Reden schloss daraus wie Albrecht, dass die Stadt den anlässlich der 150. Wiederkehr ihrer Protestation, Huldigungseid leisten könne, ohne deshalb des Göttingen 1988, S. 23–45. Die Ansicht von Wilhelm Königs Aufhebung des Staatsgrundgesetzes anzu‐ Eduard Albrecht, immerhin der herausragende erkennen. Denn unabhängig davon, ob der König juristische Kopf der Göttinger Sieben, in seiner das Staatsgrundgesetz anerkenne, könne Ernst Rechtfertigung der Protestation , „die Frage, [ob August als König „durch Gottes Gnaden“ die Hul‐ eine Verfassung] durch einseitige Erklärung des digung verlangen; Albrecht und Gieseler kamen Monarchen vernichtet werden dürfe, [sei] un‐ von unterschiedlichen Ausgangspunkten und auf streitig eine Lebensfrage für alle, wenigstens für verschiedenen Wegen zum gleichen Ergebnis. alle constitutionellen Staaten“ Zitat aus dem Gut‐ Auch hier wird deutlich, dass die Göttinger achten von Albrecht, Bleek, Lauer (Hrsg.), Protes‐ Sieben keineswegs eine auch nur in der Göttinger tation des Gewissens, S. 109. Zum rechtshistori‐ Professorenschaft insgesamt akzeptierte Verfas‐ 2 H-Net Reviews sungsauffassung vertraten; wohl aber teilte ein heute. Zwar zitieren die Herausgeber in der Ein‐ beträchtlicher Teil der Göttinger Bürgerschaft leitung den Aufsatz von Wolfgang Sellert, in dem ihre Ansichten – ein Kontext, der von den Heraus‐ der intellektuelle Kontext der Göttinger Ausstel‐ gebern nicht gesehen wird. Hinzu kommt, dass lung dargestellt wird – aber in der Einleitung und 1848/49 eben nicht der Konstitutionalismus und in der Kommentierung fndet dies keinerlei Nie‐ die konstitutionelle Monarchie siegten; die ältere derschlag; andere Aufsätze, die in diesem Kontext Verfassungskonzeption des Patrimonialstaatsge‐ entstanden oder neuere Verfassungskontexte zur dankens und der absoluten Monarchie, die nur hannoverschen Entwicklung verfolgen Vor allem die vom König oktroyierte Verfassung kannte, be‐ Lampe, „Freyheit und Ordnung“. , bleiben gleich‐ stand weiterhin und prägte vielfach die Verfas‐ falls unberücksichtigt. Stattdessen bleiben die sungswirklichkeit; auch die Arbeiten der Juristen Herausgeber der Tradition, die Göttinger Sieben Max von Seydel und Conrad Bornhak deuten in ausschließlich im Kontext von Widerstand, Gewis‐ diese Richtung. Stein, Die Verantwortlichkeit, sen und Tyrannei zu beschreiben, treu. Fazit: Als S. 139. Und aus der Sicht der städtischen Ord‐ Quellenveröffentlichung ist der Band wichtig; die nungsformationen vor allem Ralf Pröve, Stadtge‐ Interpretation der Quellen durch die Herausgeber meindlicher Republikanismus und die ‚Macht des ist ein schlimmes Ärgernis. Volkes‘. Civile Ordnungsformationen und kommu‐ nale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. Unter den größeren Gliedern des Reiches bildete vor allem das Großherzogtum Baden die wichtige Ausnah‐ me; und Badens wichtigster Jurist Carl Josef An‐ ton Mittermaier war auch einer der prominentes‐ ten, international und transatlantisch bedeu‐ tendsten Verfechter (neben Juristen wie Karl von Rotteck, Karl Theodor Georg Philipp Welcker und Robert von Mohl) des Konstitutionalismus. Zu Mit‐ termeiers Rolle in der transatlantischen Kommu‐ nikation des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und vor allem in der Korrespondenz mit dem deutsch-amerikanischen Vermittler und Gelehr‐ ten Franz