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Die Kamera an ihren Fersen : Fish Tank von Andrea Arnold

Autor(en): Pekler, Michael

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Filmbulletin : Zeitschrift für Film und Kino

Band (Jahr): 51 (2009)

Heft 303

PDF erstellt am: 29.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-864072

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Die Kamera an ihren Fersen fish tank von Andrea Arnold

In manchen Momenten scheint dieser Film stillzustehen. ein. Eine leerstehende Wohnung mit verschmiertem Boden Als ob es nicht mehr weiter ginge. Dann verharren die und einer vertäfelten Wand. Wer hier gewohnt hat, der hat Menschen in ihren Bewegungen und halten kurz inne, gerade möglicherweise Glück gehabt und ist in eine bessere Gegend so, als ob sie im nächsten Augenblick die Flucht ergreifen gezogen. Ans Weggehen denkt Mia noch nicht, und doch würden, was manchmal auch tatsächlich geschieht. Bei Mia ahnt man, dass auch ihre Flucht nur eine Frage der Zeit ist. gibt es diese Momente des Stillstands beim Tanzen: Ihre einer Zunächst trainiert Mia ohne Ziel und Zweck, doch sie genauen Choreographie folgenden Hip-Hop-Schritte enden ist eine gute Tänzerin, vielleicht sogar ein verborgenes Talent. meist abrupt, und wenn sie in die Höhe springt und dabei In diesem einen leeren Zimmer gönnt sie sich eine Auszeit - Arme und Beine ausstreckt, scheint ihr Körper sogar kurz in auch als eine Form von Stillstand. Denn Probleme gibt es

der Luft zu stehen. genug: in der Schule, mit den anderen Mädchen, mit der Mutter. Mia ist fünfzehn Jahre alt und wohnt mit ihrer allein- Mia, grossartig dargestellt von der Laienschauspielerin Katie erziehenden Mutter Joanne und ihrer jüngeren Schwester in Jarvis, ist eine Aussenseiterin, bockig und verschlossen. Sie einer heruntergekommenen Wohnhausanlage irgendwo in redet kaum, aber hinter den wenigen Worten und der offen Essex. Der deutsche Begriff Wohnsilo für derartige Bauten zur Schau getragenen Aggression ist eine Verletzlichkeit zu passt auch deshalb so gut, weil er das Bild eines Speichers spüren. Und diese Verletzung wird auch geschehen. beinhaltet: Nur dass es hier statt Zement oder Futtermittel Das ist die Ausgangslage für einen der bemerkenswertesten eben Menschen sind, mit denen die Komplexe gefüllt werden. britischen Filme seit langer Zeit: fish tank heisst So viele wie möglich auf möglichst wenig Raum. Doch einer der erst zweite Spielfilm der britischen Regisseurin Andrea davon gehört nur Mia. Hierher kommt sie zum Tanzen, hier Arnold, die vor wenigen Jahren mit dem in Glasgow spielenden stellt sie ihren CD-Player aufund taucht in eine andere Welt Rachedrama red road auf sich aufmerksam machte, F ILM BULLETIN B.D9

und natürlich ist man versucht, angesichts seines Milieus Dies wird besonders in einer buchstäblich herausragenden und dessen, was allzu oft und schnell mit Sozialtristesse Szene deutlich, die unmittelbar mit dem Auftauchen beschrieben wird, an die lange Tradition des renommierten des neuen Freunds der Mutter zusammenhängt, der sich Autorenkinos eines Mike Leigh zu denken. Doch fish tank liebevoll der beiden Schwestern annimmt. Der fest im Leben ist mehr als eine Weiterführung dieses realistischen Erbes: stehende und auch deshalb besonders attraktiv wirkende Arnold interessiert sich, wie auch Leigh in seinen besten Connor kann sein Interesse für Mia nicht verbergen, und Filmen, nicht nur für die präzise Schilderung von Lebensumständen, auch sie selbst verfällt der ungewohnten Zuwendung. Doch für Menschen am Rande der Belastbarkeit, sondern als sie dem Mann nach Hause folgt, entdeckt sie eine andere erkennt die individuelle Veränderung als politische Kraft. Wahrheit, und Mias Kurzschlusshandlung inszeniert Arnold Und so tritt auch fish tank, wie seine junge Protagonistin, wie einen eigenen kleinen Film: Plötzlich scheinen Raum und selbstbewusst als ein politischer Film auf - nicht Zeit keine Rolle mehr zu spielen, endet eine Verfolgung durch aufgrund seiner Sozialkritik, sondern weil seine Heldin erst vor die Dünen beinahe in der Katastrophe, ist Mia einen Schritt diesem Hintergrund ihre Kraft entwickelt. Von der Gesellschaft zu weit gegangen. hat Mia ebenso wenig zu erwarten wie von ihrer Es sind Momente wie dieser, die fish tank seine Familie, doch Arnold geht es nicht darum, das Elend der Welt besondere Qualität verleihen und in denen sich die Kamera zu erklären. Sie stellt konkrete Fragen: Welchen Stellenwert förmlich an einer Habhaftwerdung der Körper abarbeitet. hat das Leben unter diesen oder jenen Bedingungen? Mike Denn immer sind alle unterwegs in diesem Film, halten es Leigh meinte einmal: «Die Frage ist die, ob es so ist, wie es nicht aus in den Wohnungen, den Supermärkten und auf sein sollte.» Mit Arnold könnte man antworten: «Natürlich den betonierten Plätzen. Wenn Mia loszieht, heftet sich die nicht, aber machen wir das Beste draus.» Kamera buchstäblich an ihre Fersen und verliert bisweilen Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass fish sogar die Orientierung. tank in erster Linie der Willenskraft seiner jungen Heldin Eines Tages entdeckt Mia irgendwo in der Nähe ihres traut, die sich vorbildhaft dem Sozialabbau Wohnblocks neben einer kleinen Wohnwagensiedlung ein entgegenstellt und am Ende eigene Wege geht. Doch dieser angekettetes, weisses Pferd. Wiederholt versucht sie, den Problematik und seiner möglicherweise allzu leichten Schimmel zu befreien, erkennt im Schicksal des Tieres wohl Lösung ist sich Arnold wohl bewusst, weshalb sie einen Teil ihrer selbst. Diese Schritte müssen vorsichtig Mia keineswegs als junge Frau inszeniert, an deren gesetzt sein, um sich nicht zu verraten, doch am Ende muss Unglück nur die gesellschaftlichen und familiären Mia feststellen, dass sich ihre Anstrengung anderweitig Umstände schuld sind. Es sind auch die eigene Wut und der gelohnt hat. Stolz, die Mia überwinden muss, um die entscheidenden Schritte - und zwar nicht nur beim Tanzen, denn das wäre Michael Pekler eine Frage der Übung - zu finden. Nachdem sie endlich zu einem Casting eingeladen wird, erkennt sie gerade vor R, B: Andrea Arnold; K: Robby Ryan; S: Nicolas Chaudeurge; A: Helen Scott; Ko:Jane Publikum erneut die Abhängigkeit und Diskriminierung. Petrie; M: Liz Gallagher. D (R): (Mia), (Connor), (Joanne), Rebecca Griffiths (Tyler), Sarah Bayes (Keeley), Charlotte Und dass es im Leben auch darum nicht geht, was man Collins (Sophie), Brooke Hobby (). P: Kasander, BBC Films, UKFC, Limelight. bereit ist zu tun. GB 200g. 122 Min. CH-V: Pathé Films, Zürich