Günter Knopf

„„HHiinntteennnnaacchh ggeesseehheenn““ Hintennach gesehen

Fast 90 Jahre bin ich im Rätselrachen des Lebens gesessen, konnt´s nicht ergründen, konnt´s doch nicht ermessen. Bald fahr´ ich heim, doch will ich nicht klagen, bin ich zu Haus, wird´s Gott selber mir sagen.

(obiges Signet und Text nach Hans Thoma (1839 – 1924).

© 2009 3 Inhaltsverzeichnis

Vorwort / Rückschau ...... 5 Der Nachholbedarf ...... 9 Neuanfang ...... 20 Der Ruf...... 27 Jährlicher Höhepunkt: Das Ferienlager ...... 36 Alltag...... 44 Endlich Jugendleiter...... 47 Meine neue Heimat ...... 49 Mein Chef...... 53 In Politik unterentwickelt?...... 58 Knopf auf Freiersfüßen...... 65 Neu-Orientierung...... 69 Vorbild oder ...?...... 71 Weg oder Umweg?...... 74 Es wird Ernst!...... 76 Zu neuen Ufern ...... 84 Da waren’s plötzlich Drei!...... 97 Endlich in „Amt und Würden“...... 101 Ein Haus wird gebaut ...... 107 Flurstraße – ein Kinderparadies ...... 115 Kindermund ...... 125 ... und “kluge” Reden der Alten...... 126 Die 60er Jahre – Studienfahrt nach Israel ...... 129 Die Vergangenheit meldet sich: Der Auschwitz-Prozess . 136 Studeinreise nach Rom1965 ...... 137 Schulalltag ...... 139 Kurze Familienchronik...... 142 Studenten-Unruhen – Die „68er“ ...... 144 Ein Ausweg? ...... 151 Hilf Dir selbst, dann ... (die Verbandsgründung) . 152 Mein Kirchen-Kampf...... 156 Ein Blick in die Politik ...... 160 Meine „Nebenberufe“ ...... 161 Die Familie „en detail“ ...... 165 Die Familie „en gros“...... 174 Ein seltsamer “Grenzverkehr”...... 176 4 Die Schule (ein letztes Mal?)...... 181 Mein Drittes Leben ...... 182 Das Reisemobil ...... 184 Die Jungfernfahrt...... 191 Englandfahrt mit Werner...... 192 Spanien-Reise mit Dora ...... 196 Studienfahrten in die Sowietunion ...... 200 Nordlandfahrt ...... 202 Eine folgenschwere Wendung ...... 205 Jugoslawien – Montenegro mit Wilhelm ...... 206 8-Pässe-Fahrt mit Werner und Wilhelm...... 209 Benelux-Fahrt mit Dora und Gudrun...... 210 Türkei-Fahrt...... 213 LT-Israel-Reise...... 225 Norwegen, Spanien, Pässefahrt mit Werner...... 232 Mauerfall ...... 233 Das Ende ...... 235 Was nun?...... 241 Eine außergewöhnliche Reise auf die Krim ...... 242 Epilog ...... 247 Dank...... 249

Bildnachweis ...... 249 Abkürzungen ...... 250 5 „„HHiinntteennnnaacchh““ ggeesseehheenn

Motto:

Die zweite Hälfte seines Lebens verbringt der Weise damit, sich von den Torheiten, Vorurteilen und irrigen Ansichten zu befreien, die er sich in der ersten zu eigen gemacht hat. Jonathan Swift

Vorwort

Dies soll der zweite Teil zu meinen wahr halten“ oder „ich weiß es nicht genau“. Erinnerungen „...wie es dir selber gefällt“ Bei dem, was wir unter christlichem werden. Er beginnt nach der Rückkehr aus Glauben verstehen, bedeutet glauben das meiner Gefangenschaft in Sevastopol auf aber nur ganz selten, sondern vertrauen, der Krim (1945 – 49). Der Zeit nach ist es sich auf jemanden oder auf etwas also mehr als die Hälfte meines Lebens, verlassen, es als Grundlage seiner fast zwei Drittel. Ich bin auch kein Weiser, Überlegungen und Handlungsweisen ein- hoffe aber, dass ich durch das Mehr an setzen. Wer das erleben will, muss sich Zeit (fast 60 Jahre) das Minus an Weisheit auf dieses Wagnis oder Abenteuer einlas- ausgleichen kann sen. Denn: „gelebt werden muss vorwärts“. Von Sören Kierkegaard 1 stammt die So verlasse ich mich z. B. darauf, Erkenntnis: „Das Leben versteht man nur dass die Geschichte in 2. Mose 33, 20 – im Rückblick. Gelebt werden aber muss es 23 im Kern wahr ist. In ihr wird ein Erlebnis vorwärts“. Durch Hintennach sehen denke von Mose geschildert. Ihn quälte es offen- ich, mehr Erkenntnisse von den Hinter- bar auch, dass immer wieder von Gott gründen meiner oft einfachen Erlebnisse gesprochen wird; aber beweiskräftig gibt zu gewinnen. Vielleicht löst sich auch hier es von ihm nichts. Er würde gerne einmal und da das Rätselhafte im Zeitpunkt des – nachdem er so oft gespürt hat, dass Gott Erlebens. die Hand im Spiel hatte - ihm gegenüber Darüber hinaus müsste etwas deut- stehen. Warum gestattet er es ihm nicht? lich werden von dem, was man Glau- Er, der Mensch, würde es nicht überleben, benserlebnisse nennt, d. h. welche Rolle läßt Gott ihn wissen. Vielleicht ist es so das gespielt hat, was als Höchstwert im ähnlich, wie wenn wir in die helle Sonne Denken und Handeln meines Leben sehen; das verträgt das Auge auch nicht. bestimmend war. So gesehen ist hier jeder Mose aber durfte wenigstens „hintennach“ Mensch gefragt, auch wenn er von sich sehen. behauptet: „Ich glaube nichts“. Oder wie Es ist daher sehr schwer, glaubhaft mein Ausbildungsgeselle während meiner von Gott reden zu wollen, wenn es über- Mechaniker-Lehrzeit in diesem Fall in sei- haupt möglich ist. Was zu sagen ist, muss nem hessischen Dialekt gesagt hat: „Ich aus Lebensvollzügen erkennbar werden. glaab, dass e Pund Rindflaasch e gud Bonhoeffer 2 soll sich in dieser Hinsicht Supp gibt“. Er hatte durchaus seine Prin- zipien, bei denen ich oft die Konsequenz 2 Dietrich, *1906, evgl. Theologe, 1931 bewundert habe, mit der er sie anwendete. Studentenpfr., 1934 beratendes Mitgl. des Leider heißt glauben (Glaube) in unserer Ökumen. Rates; Leiter des (illegalen) Sprache im täglichen Gebrauch meist „für Predigerseminars der BK, schloss sich der polit. Widerstandsbewegung um Canaris an. Am 5. 3. 43 verhaftet u. am 9. 1 Dänischer Philosoph und Theologe, 4. 45 im KZ Flossenbürg hingerichtet. Er 1813 – 1855. versuchte eine nichtreligiöse 6 geäußert haben: „Biographie und Theologie warteten, das konnte ich im Traum nicht sind untrennbar miteinander verknüpft“. ahnen – aber ich habe sie erlebt! Das Folgende habe ich am 31. De- Wir heutigen Menschen überprüfen zember 2004, Altjahrsabend, begonnen. den Wahrheitsgehalt eines Vorgangs Während ich diese Zeilen schrieb, fiel mir gerne mit der Frage, ob es „Tatsache“ war ein, dass ich genau auf den Tag vor 60 oder ist. Schüler im Religionsunterricht Jahren – also am 31. Dezember 1944 - (RU) erklärten immer wieder, dass sie am nach einigen Tagen Fronturlaub wegen liebsten Tatsachenberichte lesen: „Da des Fliegerschadens meiner Eltern mich weiß man, wie es war.“ Dabei zeigt der auf der Bahnfahrt von Hanau zurück zu Blick in unsere Literatur, dass es in ihr meiner Stuka 3-Staffel befand. Der Ab- Formen gibt, die alles andere sind. Man schied war schwer, besonders der von bedenke, welche lebenswichtigen Er- meiner Mutter. Vor wenigen Monaten hatte kenntnisse, die wahr sind, z. B. in Fabeln, sie die furchtbare Nachricht vom Solda- Märchen, Anekdoten oder Romanen tentod ihres ältesten Sohnes, meines lie- stecken, obwohl in ihnen meist auch nicht ben Bruders Werner, zutiefst getroffen. die kleinste Tatsache enthalten ist. Sie Nun mussten meine Eltern nach einem sind aber im Ganzen „wahr“: sie sind schweren Bombenangriff ihre schöne komprimierte = verdichtete Wahrheit:. Neubauwohnung in der Friedrichstraße Nehmen wir, um dies zu verdeutli- aufgeben; sie waren zwangseingewiesen chen, einmal die Lafontaine-Fabel vom worden in einige Zimmern der vorigen Fuchs und dem Raben. Sie enthält absolut Wohnung in der Leipzigerstraße. Dort war nichts an Tatsachen: Kann ein Fuchs mit ich zur Welt gekommen, und dort hatten einem Raben sprechen? Ist ein Fuchs wir viele glückliche Jahre erlebt. Durch oder Rabe scharf auf Käse? Der Verfasser den Sonderurlaub konnte ich ihnen helfen, war bestimmt nicht so blöd, nicht zu wis- sich in den beengten Verhältnissen eini- sen, dass beide, Fuchs und Rabe, alles germaßen wohnlich einzurichten. Das andere lieber fressen als ausgerechnet Weihnachtsfest feierten wir noch gemein- stinkigen Käse. Er wird ihn gewählt haben, sam. Aber zwei Tage vor dem Jahres- damit ja keiner auf den Gedanken kommt, wechsel musste ich zurück zur Truppe. er erzähle womöglich ein eigenes Erleb- Noch sehe ich meinen Vater auf dem nis, eine Tatsache. Wer herausbekommen Bahnhof mir zum Abschied winken. Nie- will, was die Fabel meint, erreicht dies nur, mand von uns wusste, dass es für immer wenn er interpretiert (auslegt). Für die war. ganz Dummen hat Lafontaine die Quintes- Eigentlich fuhr der Zug durch bis senz noch angehängt: „Merke! Der Krakau, dem Standort meiner Einheit. Lag Schmeichler lebt auf Kosten dessen, der sie noch dort? Ich erkundigte mich auf der ihn anhört“. Dies ist die Wahrheit dieser Frontleitstelle in Breslau mit dem gehei- Erzählung: Wer sie naturwissenschaftlich men Wunsch, dass der Zug inzwischen beurteilt, geht völlig in die Irre. Wenn das weiter fahren würde. Ich wollte den Jah- doch so mancher Bibelkritiker beachten reswechsel nicht auf der Bahn zubringen. würde! Nun hatte ich faktisch für den Aufenthalt Ich habe also die Hoffnung, dass die amtliche Erlaubnis: Der nächste Zug durch meine Erfahrungen und Erlebnisse fuhr nämlich erst am darauf folgenden hindurch nicht nur deutlich wird, was da Tag. alles an mehr oder weniger Interessantem Die Glocken läuteten zum Mitter- passiert ist. Es müsste hier und da auf- nachtsgottesdienst, den ich dann auch in leuchten - bei allem was sich da auf der einer evangelischen Kirche erlebte. Wel- Bühne des Lebens ereignet hat – was che Wunder nach meiner Rückkehr zu hinter den „Kulissen“ geschehen ist. war meiner Einheit in der Folgezeit auf mich das, was wir „Gott“ nennen, beteiligt? Und wenn ja, in welcher Weise? Womöglich war er sogar der Regisseur? Das erfahren Interpretation bibl. Begriffe, betonte die zu wollen ist natürlich ein hoher Anspruch. Diesseitigkeit des Christentums in einer Aber was soll eigentlich dieser Glaube mündig gewordenen Welt. 3 wert sein, wenn nicht durch ihn ganz Junkers Modell 87, Sturzkampf- handfeste Realitäten in Form von Hilfen Flugzeug. oder Lenkungen, und zwar hier in diesem 7 Leben, erfahren werden können?! Das herkommt, wo eure Wurzeln sind. Die Woher solcher Eingriffe wird – wenn über- Lektüre wird unter Umständen zu einer haupt - in der Regel erst im Rückblick er- Auseinandersetzung mit euren Vorfahren kannt. oder – mit euch selbst. Ich bin zwar nur Aber erzähltes Leben ist eben auch ein ganz normaler Mensch und Zeit- eine Besonderheit. Kinder, lest nach! Euer genosse; aber vielleicht gerade da ist Großvater oder eure Mutter waren viel- Leben einen Bericht wert. Was ich schrei- leicht gar nicht so langweilige Menschen, be, soll ein Geschenk sein, auf Papier wie ihr wohl manchmal gedacht habt. Lest! gebanntes Leben. Denn womöglich hört ihr plötzlich den alten Schreiber sprechen. Ihr merkt, wo ihr

Rückschau

Ich kann nicht damit rechnen, dass Verhältnissen in der Natur, orientieren im die Lesenden des Folgenden den gesam- Gelände, Karten lesen, Umgang mit dem ten ersten Teil meines Lebensberichtes Kompass, Sternen- und Wetterkunde, „...wie es dir selber gefällt“ kennen. Daher Natur beobachten, das Einrichten einer möchte ich, bevor ich mich ans Schreiben Kochstelle und Abkochen (und das Ergeb- über n a c h meiner Rückkehr nis dann auch essen!) - und was es da aus der sowjetischen Kriegsgefangen- noch Interessantes zu erleben gab: Es war schaft mache, da anknüpfen, wo ich „einsame Spitze!“ Fast hätte ich verges- neben meinem Elternhaus die Hauptim- sen: die Treffen und gemeinsamen Veran- pulse für den nun beginnenden Abschnitt staltungen mit anderen Sippen aus Hanau, meines Lebens erhalten habe. und Umgebung mit ihren Wett- Es waren dies die evangelischen kämpfen, Singen und Musizieren, Thea- Jugendkreise und insbesondere die Pfad- terspielen und lustigen Sketches! Über- findersippe „Walter Flex“ in Hanau. Es ist haupt: Zu Lachen gab es immer wieder, bemerkenswert, dass der Hintergrund besonders über den Lagerzirkus. Es wäre mich damals weniger beeindruckte. Was noch viel aufzuzählen. Ich muss mich mir gefiel, war der Geist und die Kamerad- bremsen! schaft, die hier herrschten. Es wurde ja Wichtig war uns damals auch, dass sogar eine Freundschaft daraus, die mich wir zu einem größeren Verband gehörten, mit dem Führer der Sippe, Horst Fortun, der zwar in Konkurrenz stand zu anderen bis zu seinem Soldatentod 1943 in der Gruppierungen; es war aber dennoch ein Schlacht im Kursker Bogen verband. Ich großes Gemeinsamkeitsgefühl vorhanden, könnte eine ganze Reihe von Namen von ja eine gewisse Sehnsucht nach einer – Menschen nennen, die mir im Laufe mei- zwar nicht uniformen – aber doch einer nes Lebens in der Jugendarbeit begegnet deutschen Jugend. War es da ein Wunder, sind, die entscheidend waren für wichtige als nach dem 30. Januar 1933, dem Tag, Weichenstellungen. Dass wir angehalten an dem Hitler Reichskanzler wurde, die wurden, nach einem jugendgemäß Möglichkeit sichtbar wurde, aus dem vie- gestalteten Leseplan täglich fortlaufend len Miteinander, ja auch Gegeneinander, einen Abschnitt aus der Bibel zu lesen, eine große deutsche Jugend erfolgreich das taten wir mehr aus Gehorsam und anzustreben, eine Einheit in der Vielfalt? weil „es alle taten“: es gehörte halt offen- Aus heutiger Sicht erscheint dieser bar bei diesem „Verein“ dazu. Gedanke blauäugig. Man wird diese Zeit Aber die Wanderungen zu Fuß oder und unser Verhalten überhaupt nur ver- mit dem Fahrrad, das Übernachten in stehen, wenn man den Rahmen nicht Zelten oder Jugendherbergen (es waren ja außer Acht läßt, innerhalb dessen sich das damals noch keine „Jugendhotels“), das alles vollzog. Aber nach der Parole der war „zünftig“. Hinzu kam Erlernen der Nationalsozialisten: „Ein Volk, ein Reich, Pfadfinderkünste: leben unter primitivsten ein Führer!“, die allgemein eine große 8 Begeisterung auslöste, lag es nahe, auch gleich mit dem Land Hessen war, einen ein großes Miteinander aller Jugendbünde Vertrag ausgehandelt, mit dem wir nicht zu versuchen. nur auf dem Boden der örtlichen Kirchen- So war es nicht zu verwundern, dass gemeinden weiter existieren konnten, wir dem Ruf nach einer einheitlichen deut- sondern auch unsere Zentrale beibehalten schen Jugendorganisation gegenüber auf- durften. Indem man in dieser Abmachung geschlossen waren. Nur wenige unter uns uns alles Bündische und Sportliche unter- standen der neuen Regierung kritisch oder sagte, warf man uns auf das zurück, was gar ablehnend gegenüber. Manche konn- ja Kern und Stern unserer Gruppen war: ten es gar nicht abwarten und liefen vor- Bibel und Evangelium. Jetzt erst, als wir zeitig zur Hitlerjugend über, obwohl sie an förmlich mit der Nase draufgestoßen wur- manchen Orten vor dem Machtwechsel den, entdeckten wir das eigentliche Fun- mickrig und unbedeutend war. Als wir dament unserer Gemeinschaften. Damit dann im September im Frankfurter Raum war auch mir die Lebensgrundlage zuge- noch vor der gesamten evangelischen wachsen – so pietistisch und hier und da Jugend Deutschlands geschlossen einge- auch hinterwäldlerisch sie auch war - auf gliedert wurden, war weithin die Enttäu- der ich das Kommende, vor allem schung groß, in welchen Sauhaufen wir da zunächst einmal Arbeitsdienst, Militär, geraten waren. Krieg, und Gefangenschaft, bestehen Aber wir hatten wenigstens mit der konnte. HJ-Gebietsführung, die ungefähr deckungs- 9 Der Nachholbedarf ...

... von uns Spätheimkehrern aus Bewegung des gewaltlosen Widerstandes sowjetischer Gefangenschaft (9. 11. 1949) hatte dazu einen entscheidenden Beitrag war unsagbar groß – zu viel hatten wir in geleistet und damit den Beweis erbracht, der Zeit 1945 - 1949 versäumt, leider oder dass man politische Ziele auch ohne zum Glück? Zunächst galt es also, sich Gewalt erreichen kann. 1948 wurde er erst einmal zu orientieren, was da vor und durch einen fanatischen Hindu ermordet. - nach 1945 noch alles geschehen war, von Die Niederlande verzichteten nach jahre- dem wir nichts erfahren hatten oder falsch langen schwierigen Auseinandersetzun- informiert worden waren. gen 1949 auf ihre Kolonien in Südost- Im Bereich der Politik waren dies z. asien. B. die ersten Abwürfe der Atombombe auf Ein besonders wichtiges Ereignis Hiroshima und Nagasaki (6. und 9. August war die Proklamation des unabhängigen 1945) durch die Amerikaner, von denen Staates Israel und der damit ausgelöste wir nur sehr wenig gehört hatten. Die Wir- israelisch-arabische Krieg, der erst 1949 kung dieser Luftangriffe war grauenhaft. durch einen Waffenstillstand ein vorläufi- Zahlen von Hunderttausenden von Toten, ges Ende fand - vorläufig deshalb, weil bis unzähligen Schwerstverwundeten und heute ein Friede zwischen Palästinensern lebenslang Strahlenkranken erschreckten und Juden nicht möglich ist. Die Juden die Weltöffentlichkeit; eine ganze Land- erlebten mit dieser Staatsgründung die schaft war ja auf längere Zeit unbewohn- Erfüllung eines Jahrhunderte langen bar, weil verseucht. Traumes: endlich wieder – nach einer Zeit Japan kapitulierte noch im selben der Verfolgung und unbeschreiblicher Monat. Der Bedeutung dieses Atombom- Qualen und Diffamierungen – eine eigene benangriffs auf die Zivilbevölkerung wurde Heimstätte zu haben! Die Palästinenser man sich erst viel später so richtig aber fühlten sich auf diesem „Fleckchen bewusst: Eine neue Aera der Kriegsfüh- Erde“ ebenso zu Hause. rung war damit angebrochen. Wir Gefan- Viele dieser Ereignisse haben genen fragten uns, ob so etwa die „Wun- irgendwie einen Zusammenhang mit dem derwaffe“ Hitlers ausgesehen hatte, von von uns vom Zaun gebrochenen Krieg. Mir der wir eine Wende unseres Kriegsglücks ist klar, dass manche unserer deutschen in letzter Minute erhofften? Unvorstellbar Mitbürger auch heute noch unsere Ver- diese Wahnsinnswaffe in der Hand derer, antwortung bestreiten. Es besteht aber z. die einst sangen: „Und liegt auch vom B. kein Zweifel mehr, dass Hitlers Kampfe in Trümmern die ganze Welt Behauptung am 1. September 1939, Polen zuhauf, das soll uns den Teufel kümmern, habe durch militärische Angriffe unser wir bauen sie wieder auf“ (und im Refrain) Vorgehen herausgefordert, und deshalb „Wir werden weiter marschieren, wenn werde „ab 5 Uhr 45 zurück geschossen“, alles in Scherben fällt...“.Fortsetzung: eine glatte Lüge war. Die Neutralitätsver- „denn heute da hört uns Deutschland und letzung der Staaten Holland, Belgien und morgen die ganze Welt“. Die Übermütigen Luxemburg beim Einmarsch in Frankreich sangen statt ´hört´ „gehört“. war ein unerhörter Vertrauensbruch. Das Mehrere Kolonialvölker waren gilt auch für Dänemark und Norwegen und erwacht und forderten Freiheit und Selbst- vor allem für den Beginn des Krieges bestimmung: Im Juli 1946 erlangten die gegen die Sowjetunion, mit der wir ja Philippinen die Unabhängigkeit. - Frank- sogar einen Nichtangriffspakt abgeschlos- reich, das nach schweren Rückzugsge- sen hatten. Das war eindeutig ein völker- fechten in einem Teil seiner Kolonien rechtswidriger Vertragsbruch. Da hilft auch seine Mandate in Syrien und Libanon auf- nicht die Behauptung, wir seien nur einem geben musste, stand in Indochina schwe- Angriff Stalins zuvorgekommen. Der Aus- ren Aufständen der kommunistischen gang des Krieges war also die Folge unse- Vietminh gegenüber. Die Kämpfe gingen res Größenwahnsinns („und morgen die nahezu nahtlos in den Vietnam-Krieg über. ganze Welt!“), der in vielen Teilen seines - Großbritannien zog sich 1947 aus Indien Vollzugs der Geschichte des Turmbaus zu zurück. Mahatma Gandhi als Haupt der Babel gleicht. In diesem biblischen Bericht 10 handelt es sich ja auch nicht um ein histo- nicht nur die Abtretung Ostpreußens und risches Ereignis, das man mehr oder Oberschlesiens an Polen und die Abtren- weniger interessant finden könnte. Sie ist nung der Saar und des Gebietes zwischen vielmehr eine ernste Warnung (z.B. vor Rhein und Mosel zugunsten Frankreichs Hybris 4) für alle Zeiten, deren Missachtung vor; er wollte aus ganz Deutschland ein im privaten Bereich, in der Wirtschaft und Weideland machen und forderte die voll- auch in der großen Politik verhängnisvolle ständige Zerstörung aller Industrie- und Folgen hat. Kohleförderanlagen. Welch ein herrliches und großes Als es dann 1945 an die Verteilung Vaterland hatten wir doch damals! Zwar der Beute ging, wurde manches zum reichte es nicht „von der Maas bis an die Glück nicht so heiß gegessen, wie es einst Memel, von der Etsch bis an den Belt“; in gekocht worden war. Andererseits kam es diesen Zeilen der deutschen National- zu Gebietsabtretungen und Vertreibungen, hymne stimmte ja sowieso nur der Reim: mit denen man vor Kriegsende kaum „Deutschland, Deutschland über alles, gerechnet hatte. Eine Völkerwanderung über alles in der Welt“. War es nicht groß ohne Beispiel begann, wobei das Wort genug von Königsberg bis zum Saarland Wanderung eine schlimme Verharmlosung und von Flensburg bis nach Innsbruck.? dessen war, was da vor sich ging. Zum Doch schauen wir nun auf die Ereig- Teil stark zerstörte Städte und Land- nisse nach Kriegsende, die unser Land schaften sahen sich vor die schier unmög- betrafen: Die Machtübernahme 1945 liche Aufgabe gestellt, Millionen von durch unsere ehemaligen Feinde ent- Flüchtlingen aufzunehmen, die ihre Hei- sprach nicht gerade den erhabenen Prin- mat im Osten oft nur mit dem Notwendig- zipien, auf die sich die Alliierten in der Zeit sten verlassen mussten. Die ersten „Frie- ihres Bündnisses geeinigt hatten. So soll- densjahre“ brachten so für die meisten ten keine territorialen Veränderungen vor- Überlebenden des Krieges Hunger und genommen werden ohne die freie Willens- harte Entbehrungen, die denen vieler äußerung der betroffenen Völker. In der Kriegsgefangener gleichkamen. Nicht alle „Atlantik Charta“ war davon die Rede, litten bittere Not. Wie immer in solchen dass sie das Recht haben sollten, sich die Zeiten gab es auch welche, die als Regierungsform selbst auszusuchen, Kriegsgewinnler eher profitiert als entbehrt unter der sie leben wollten. In der „Formel hatten. Betrug und Korruption waren hoch von Jalta“ wollten sie ja eigentlich nur den im Schwange. In dieser Hinsicht hatten wir deutschen Militarismus und Nazismus zer- in fremdem Gewahrsam nichts versäumt. - schlagen. Ein großer Schrecken war für uns Gefan- Vergessen war auch, was Churchill gene die Rede des amerikanischen 1942 in einem geheimen Memorandum Staatssekretärs Byrnes im September verlangt hatte: „nach dem Krieg eine 1946 in Stuttgart, die von vielen als der Sperre gegen die kommunistische Barba- Beginn des „Kalten Krieges“ zwischen Ost rei aufzubauen“. - Während Stalin in und West angesehen wird. einem Tagesbefehl Februar 1942 erklärt Von der Ministerkonferenz, die im hatte: „Es wäre lächerlich, die Hitlerclique März 1947 in Moskau begann, hatten wir mit dem deutschen Volk [...] zu identifizie- Gefangenen keine Ahnung. Wir hörten nur ren. [...] die Hitler kommen und gehen, gerüchteweise, dass als Termin der Ent- während das deutsche Volk und der deut- lassung der deutschen Kriegsgefangenen sche Staat bleiben“, war Roosevelt der der 31. Dezember 1948 festgelegt worden Meinung (in einem Memorandum 1944): sei. Es war der einzige Beschluss von „Es muss dem deutschen Volk in seiner Bedeutung, den diese Konferenz fasste. Gesamtheit gründlich in den Kopf hinein, Im Übrigen begann man mit gegenseitigen dass die ganze Nation in einer hem- Beschuldigungen, so dass sie als mungslosen Verschwörung gegen die gescheitert angesehen werden musste. Gesetze der modernen Zivilisation ver- Immer mehr zeigte sich eine neue Zwei- strickt ist“. Der Morgenthau-Plan 1944 sah teilung der Welt: hier Kapitalismus und dort Kommunismus. Die Grenze ging mit-

4 ten durch Deutschland hindurch; sie wurde (gr.) frevelhafter Übermut, immer undurchdringlicher und gefährli- Selbstüberhebung, Vermessenheit. cher. 11 Es war zunächst privater Initiative in alles zu verdanken haben, ist m. E. eine Amerika zu verdanken, dass bald nach Überlegung wert. Kriegsende Hilfssendungen in Deutsch- Schon in Teheran 1943 hatten die land eintrafen. Vor allem waren es wohl Alliierten die Teilung Deutschlands nach humanistische und christliche Gruppierun- Kriegsende diskutiert. Roosevelt z. B. gen, die das Freund/Feind-Denken des schlug die Herauslösung Preußens und Krieges durchbrachen. Gut dran waren die Bildung von zwei oder drei Staaten auch die Deutschen, die „drüben“ Ver- vor. Stalin gab zu bedenken, dass damit wandte hatten. 1946 wurde in Amerika der Druck der Deutschen zu einer Wieder- CARE (Cooperative for American Remit- vereinigung (!!) ausgelöst würde. Churchill tances to Europe) gegründet, eine unei- meinte, es sollte ein bayrischer Staat gennützige Organisation, die Paketaktio- gebildet werden. Die künftige Ostgrenze nen gegen die Not in Europa durchführte. wurde ausgiebig diskutiert. Es kam aber In großem Maßstab begann dann eine damals zu keiner Entscheidung. Sie fiel Hilfsmaßnahme für europäische Länder eigentlich erst kurz vor Jalta im Februar auf Anregung G. C. Marshalls nach seiner 1945 und wurde dann richtig anerkannt, Rede im Juni 1947, berühmt unter dem als die spätere DDR-Regierung dies 1949 Namen „Marshall-Plan“. Bei ihm ging es und die Bundesrepublik 1970 im vor allem um hohe Politik, denn es war Deutschpolnischen Vertrag taten. Die inzwischen deutlich geworden, dass ein Besatzungszonen wurden in Jalta festge- wirtschaftlich am Boden liegendes legt. Eine französische Zone gab es Deutschland (und Europa!) dem Kommu- zunächst nicht. Sie entstand später durch nismus verfallen würde. Diese Überlegun- Einigung der Amerikaner und Briten. Diese gen hatten ja schon zur Ablehnung des bildeten ein einheitliches Wirtschaftsge- Morgenthau-Planes geführt. Ein kommuni- biet, die „Bizone“, der 1949 die Franzosen stisches Deutschland oder sogar Europa zur „Trizone“ beitraten. Im Osten entstand war in Washington und London verständli- die sowjetische Besatzungszone (SBZ – cherweise eine Horrorvorstellung. später DDR = Deutsche Demokratische Statt dessen begann – immer noch Republik), deren Ostgrenze die Demarka- ganz ohne uns Gefangene – in unserem tionslinie zu Polen (Oder-Neiße) war. Heimatland das Wirtschaftswunder zu blü- Die wirtschaftliche Situation war in hen. Zweifellos war es vor allem eine den einzelnen Besatzungsbereichen sehr Frucht der damaligen Weltpolitik und das verschieden, am schlechtesten in der Ergebnis des enormen Fleißes und Auf- SBZ. Aber auch in dem von Frankreich bauwillens der „Davongekommenen“. Da besetzten Teil war sie nicht gut. Über die waren es besonders die Frauen, deren so entstandenen Grenzen hinweg ent- Männer im Krieg gefallen waren oder sich stand ein lebhafter „Hamsterverkehr“, der noch in Gefangenschaft befanden, die z. an der SBZ und an der französischen T. Übermenschliches leisteten bei den Zonengrenze am gefährlichsten war. Aufräumungsarbeiten in den vom Bom- Postverkehr war zwischen den besetzten benkrieg zerstörten Städten. „Trümmer- Gebieten, auch zur SBZ, möglich, und so frauen“ wurden sie voller Hochachtung wanderte manches aus Care-Paketen und genannt. Trotzdem ist das Wort „Wunder“ später auch Dinge aus den Marshall-Plan- keineswegs unpassend. Es ist ein Irrtum, Lieferungen weiter – vor allem in die SBZ. wenn es nur da am Platze wäre, wo uner- Zu ihr war die Möglichkeit, über die „Grüne klärbare, geheimnisvolle Kräfte im Spiel Grenze“ zu kommen, im Anfang immer sind. Mit Recht „wundern“ wir uns über noch gegeben, da die Kontrollen erst den damaligen Lauf der Dinge. Wer hätte später genauer wahrgenommen wurden. 1945 mit einer solchen Wende gerechnet? Die offizielle Ausreise aus der Ostzone Vielleicht aber ist auch hier das abgewan- war sehr erschwert, fast unmöglich. So delte Wort gültig: „Zufall ist das Pseudo- kamen zunehmend Flüchtlinge bei Nacht nym Gottes, wenn er inkognito bleiben will“ (A. Schweitzer 5). Wem wir also das Lambarene u. wirkte dort bis zu seinem Tod als Missionarsarzt, 1951 Friedens- 5 1875-1965, ev. Theologe, Arzt und preis des Börsenvereins des Dt. Buchhan- Organist, gründete das Tropenhospital dels, 1952 Friedensnobelpreis. 12 und Nebel mit dem notwendigsten Gepäck 1948) auch für den Westsektor über diese Grenze. Die spektakulärste eingeführt wurde, antwortete die Sowjet- Flucht war wohl die einer Familie, die mit union mit der Sperre der Zugangswege in einem heimlich selbst gebauten Heißluft- die Viersektorenstadt. Es entstand eine ballon die Grenze überwand und in der äußerst gefährliche Situation, in der mit Nähe von Hof in Bayern landete. militärischen Aktionen gerechnet wurde. Die politischen Verhältnisse in den Aber die Briten und Amerikaner starteten deutschen Besatzungszonen entsprachen eine Versorgung der Berliner Bevölkerung der totalen Kapitulation des 3. Reiches. durch die Luft, ein Unternehmen ohne Anders war es in der Weimarer Republik Beispiel. Sie ließen so den Versuch der nach dem 1. Weltkrieg gewesen, wo nach Sowjets, abzuwürgen, kläglich dem Waffenstillstand die deutsche Repub- scheitern. Die Luftbrücke mit ihren „Rosi- lik ausgerufen wurde und ein deutsches nenbombern“ hat wohl über die Versor- Parlament im Amt war. In ihm hatte die gung mit lebenswichtigen Gütern hinaus SPD die Mehrheit. Da der deutsche Kaiser nicht nur die Berliner Bevölkerung zu einer sich ins neutrale Holland abgesetzt hatte, besseren Einstellung zu den Besatzungs- fiel den Abgeordneten dieser Partei die mächten gebracht. undankbare Aufgabe zu, für die Verhand- Schließlich beendete das Besat- lungen mit den Siegermächten zur Verfü- zungsstatut die Militärregierung (4/49), gung zu stehen. Sie wurden dafür beson- und nun überstürzten sich förmlich die ders von den Nationalsozialisten als die Ereignisse zur Errichtung der Bundesre- Novemberverbrecher und Vaterlandsver- publik Deutschland mit der vorläufigen räter diffamiert. Hauptstadt Bonn am 23. Mai. Die DDR August 1945 übernahm der „Alliierte antwortete am 30. Mai mit der Bestätigung Kontrollrat“ die umfassende Verantwor- einer eigenen Verfassung. Ihre Hauptstadt tung für das gesamte öffentliche Leben in war Berlin. Die ersten Wahlen in der Bun- den Besatzungszonen, denn vor der Ent- desrepublik brachten eine Mehrheit für die nazifizierung galt zunächst einmal jede/r CDU und damit den ersten Bundeskanzler Deutsche als politisch belastet, so lange, Adenauer 6 (15. September), nachdem am bis er/sie durch eine grandiose Fragebo- 12. September Heuss 7 Bundespräsident genaktion in eine von 5 Kategorien zuge- geworden war. ordnet werden konnte. Die NSDAP mit Im April 1949 schlossen eine ganze allen ihren Gliederungen und Verbänden Reihe Staaten (Belgien, Dänemark. Frank- wurde verboten, die Hauptverantwortli- reich, Griechenland, Großbritannien, chen, soweit man ihrer habhaft werden Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Nie- konnte, vor das Internationale Militärtribu- derlande, Norwegen, Portugal, Spanien, nal gestellt („Nürnberger Prozess“ –

1945/46). Nur ganz allmählich konnten 6 Konrad, 1876-1967, Jurist, trat 1906 wichtige öffentliche Ämter und wirtschaftli- dem Zentrum bei (die durch Zusammen- che Positionen mit integeren Personen schluss kath. Abgeordneter im preuß. oder zurückgekehrten Emigranten besetzt Landtag und im Reichstag 1870/71 ent- werden. Das reichte natürlich nicht, und so standene Partei. Nach der Machtergrei- wurden zunehmend mehr oder weniger fung Hitlers 1933 stimmten die Zentrums- belastete Personen in ihre alten Ämter Abgeordneten dem Ermächtigungsgesetz wieder eingesetzt. Das gab aus verständ- zu, im Juli löste sich das Z. zwangsweise lichen Gründen viel Ärger. auf), 1917-1933 Oberbürgermeister von Die Gründung von politischen Par- Köln, 1944 Verhaftung, 1945-66 Partei- vors. d. CDU, , 48/49 Präses d. Parla- teien wurde erlaubt. Es entstanden vor mentarischen Rates, 1949-63 Bundes- allem die später großen Parteien: kanzler. CDU/CSU, FDP, SPD, KPD. Aus ihnen 7 Theodor, 1884-1963, dt. Politiker u. entstand 1948 der Parlamentarische Rat, Publizist, 1924-28 u. 1930-33 Mitgl. d. der eine neue Verfassung beriet: das Reichstages, 1920-33 Dozent an der Grundgesetz der Bundesrepublik Hochschule für Politik in Berlin, Mitbe- Deutschland (23. Mai 1949). gründer der FDP nach 1945 u. ihr erster Die Beziehungen zwischen der Tri- Vors., maßgebl. Mitarbeit an der Schaf- zone und der SBZ verschlechterten sich fung des GG, 1959 Friedenspreis d. zunehmend. Als die Währungsreform (Juni deutsch. Buchhandels. 13 Türkei und USA) zur gemeinsamen Ver- „agreement“... und „the virtual elimination teidigung den Nordatlantikpakt (NATO – of the Catholic Church in the Reich“. 8 North Atlantic Treaty Organization), in den Eine ähnliche Entwicklung war in der auch die Bundesrepublik 1953 aufge- evangelischen Kirche schlecht vorstellbar, nommen wurde. (In einer Gegenaktion da sie sich angesichts der Entstehung der schlossen sich einige Ostblockstaaten „Deutschen Christen“(DC) bald in zwei 1955 zum Warschauer Pakt zusammen). Teile gespalten hatte. Die DC wären So sah die Welt also aus, als ich aus durchaus zu einer Art Kapitulation vor dem der Gefangenschaft zurückkehrte. Man totalen Staat Hitlers bereit gewesen. Die könnte meinen, dass wir Heimkehrer, als bekenntniswidrigen Äußerungen vieler wir am 9. November 1949 endlich unseren DC-Führer aber veranlassten Niemöller 9, Entlassungsschein in der Hand hielten, den Pfarrer-Notbund zu gründen, aus dem uns wie „ins gemachte Nest“ gekommen dann schließlich nach der ersten Bekennt- fühlten. Davon konnte natürlich nicht die nissynode der Deutschen Evangelischen Rede sein. Ein Rundgang durch Hanau Kirche (DEK) die „Bekennende Kirche“ belehrte mich schnell anders. Trotz einer (BK) hervor ging. Diese Synode ist bewundernswerten Aufbauleistung lag berühmt geworden durch die sog. „Barmer noch viel in Trümmern. Erklärung“ (29. – 31. Mai 1934). Der wich- Ich habe hier versucht, an die dra- tigste Satz lautet wohl: „Wir verwerfen die matischen Ereignisse seit Kriegsende zu falsche Lehre, als könne und müsse die erinnern und dabei zu bedenken, was wir Kirche als Quelle ihrer Verkündigung durch die Gefangenschaft nicht „mitge- außer und neben dem Worte Gottes auch kriegt“ hatten. Das wirkt vielleicht fast so, andere Ereignisse und Mächte, Gestalten als wollte ich den historischen Ablauf der und Wahrheiten als Gottes Offenbarung deutschen Geschichte zwischen 1945 und anerkennen.“ 1949 wiedergeben. Dazu wäre das Leider sind mir diese und ähnliche Gebotene viel zu lückenhaft. Diese Zeit Vorgänge in den großen Kirchen insbe- besser zu verstehen, wird man gescheite- sondere während der Kriegszeit wenig ren Büchern überlassen müssen. Es ist bekannt geworden. Der „Kirchenkampf“ jedenfalls in den heutigen Verhältnissen war uns schon in der Jugendarbeit in sei- kaum vorstellbar, so lange und so umfas- ner letzten Bedeutung nicht so wichtig. Er send als Kriegsgefangener von solch erschien uns eher als Theologengezänk. wichtigen Geschehnissen und politischen Es war uns klar, dass nach einem Sieg Veränderungen abgeschnitten gewesen unseres Landes – etwas anderes konnten zu sein. wir uns gar nicht vorstellen – die Ausein- Eine wesentliche Frage fehlt noch: andersetzungen zwischen Kirche und Welche Folgen hatte der Nationalsozialis- Staat in größerer Schärfe beginnen wür- mus und der Krieg für die Kirchen? Es den. Das war mit ein Grund, unsere Pflicht hatte vor dem Krieg, im Juli 1933, allge- als Soldaten treu zu erfüllen, um dann mein überrascht, als die katholische Kir- mitreden zu können und uns nicht dem che nach ihrer feindlichen Einstellung ge- genüber dem Nationalsozialismus vor der 8 auf deutsch: „...praktisch die Beseitigung Machtübernahme Hitlers nun durch den der Katholischen Kirche im Vatikan ein Konkordat mit der Reichsre- Reich“. (Übersetzung: GK).aus; „Summa gierung abschloss . Es brachte einerseits injuria – oder – Durfte der Papst schwei- für die neue Regierung den nicht zu über- gen?“ Hochhuths „Stellvertreter“ in der schätzenden Vorteil der internationalen öffentlichen Kritik, hrsgb. von Fritz J. Raddatz, rororo Rohwohlt, 1963, S. 208, Anerkennung durch den Hlg. Stuhl. Wel- cher Nutzen andererseits für die katholi- 9 Martin, *1892-1984, im 1. Weltkrieg U- sche Kirche selbst dabei vorlag, dürfte bis Boot-Kommandant, 1937-45 wegen sei- heute umstritten sein. Vielleicht war es die ner Opposition gegen die nationalsoziali- Sorge um die Freiheit des öffentlichen stische Kirchenpolitik im KZ, 1945-56 Bekenntnisses, wie es nach einem Leiter des kirchlichen Außenamtes, 1947- Gespräch des Kardinalstaatssekretärs 64 Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Pacelli mit dem britischen Botschafter im Hessen und Nassau, 1961-68 einer der August 1933 anzunehmen ist: Man habe sechs Präsidenten des Ökumenischen zu wählen gehabt zwischen einem Rates (Weltrat der Kirchen). 14 Vorwurf ausgesetzt zu sehen, die Last des muss unsere Losung sein: Zurück zu Chri- Krieges nicht mit getragen zu haben. Wäh- stus und zurück zum Bruder.“ Scharfsich- rend der Kriegsgefangenschaft waren die tige wie Paul Schempp 11 haben schon Informationen über die Vorgänge in der damals und auch später ein klareres Wort weiten Welt und in unserer Heimat spär- von der Schuld der Kirche erwartet. Er lich oder gleich Null – und wenn es welche lehnte jede Selbstrechtfertigung ab mit gab, so waren sie durch unsere Gewahr- „daneben ein bisschen Bußfertigkeit“ [...]. samsmacht ideologisch gefiltert. Und von wegen „zurück – zurück“ [...]. Der württembergische Landesbi- Sollte es vielleicht ein Zurück geben „zu schof Wurm 10 war einer der Ersten, der es den christlichen Werten der schwarz-weiß- sich wegen seiner mutigen Haltung wäh- roten Zeit?“ (zu der „Kaiserzeit“ – GK) rend des „Tausendjährigen Reiches“ Friedrich von Bodelschwingh 12 rich- leisten konnte, nun nach dessen Zusam- tete einen Brief an die „Glieder und menbruch sich öffentlich zu den Ursachen Freunde der „Bethel-Gemeinde“, der da- der eingetretenen Katastrophe und deren nach weite Verbreitung fand. Darin schrieb Folgen kritisch zu äußern. Es war nicht er u. a.:„...Narrheit war es, dem deutschen ungefährlich, nach den unvorstellbar gro- Volk die Wurzel seiner Frömmigkeit abzu- ßen Zerstörungen deutscher Städte durch schneiden...Torheit war es zu glauben, die anglo-amerikanischen Luftangriffe und man könne gegen die ganze Welt Krieg in der hoffnungslosen Situation, in der sich führen und zugleich gegen den lebendigen die meisten Deutschen zum Zeitpunkt des Christus [...]. Der durch ritterlichen Kampf Kriegsendes befanden, nicht nur nach tapferer Männer blankgehaltene Ehren- dem Grund des allgemeinen Elends zu schild des deutschen Volkes wurde durch fragen, sondern auch bereits die Schuld- die Taten hemmungsloser Gewalt so sehr frage anklingen zu lassen. Dies um so befleckt, dass wir jetzt der Verachtung der mehr, als schon die nach dem 1.Weltkrieg Völker preisgegeben sind. Von dieser einsetzende Diskussion um die „deutsche schmerzlichen Entwicklung spreche ich Kriegsschuld“ bei den älteren Bürgern in nicht erst jetzt, [...] sondern ich habe in schlimmer Erinnerung war. den vergangenen Jahren immer wieder Aber schon am Himmelfahrtstag, mit maßgebenden Männern der Partei und dem 10. Mai 1945, zwei Tage nach der des Staates im gleichen Sinne gespro- Kapitulation, verlas Wurm im Anschluss an chen“. einen großen Gottesdienst in Stuttgart, Diese beiden Männer wandten sich vom Balkon der fast unversehrten Staats- nicht nur an Menschen im eigenen oper (alle Kirchen der Stadt waren zu die- Bereich; es sind auch Äußerungen sem Zeitpunkt zerstört!) eine Erklärung an die versammelte Menschenmenge. Unter 11 Württembergischer Gemeindepfarrer, anderem sagte er: „...Heute kann jeder ein tiefgründiger und zugleich unerbittli- sehen, wohin es führt, wenn ein Volk, das cher theologischer Denker, der sich zeit- früher reiche Segnungen von Christus und lebens mit seiner Kirchenleitung und dem seinem Evangelium empfangen haben Bischof herumschlug und dies in so gro- durfte, mit seiner besten Überlieferung ber und schonungsloser Weise tat, dass bricht“ [...] “Wir wollen also nicht von Gott schließlich sein Ausscheiden aus dem Rechenschaft fordern, warum er so Pfarramt erfolgte.

Furchtbares hat geschehen lassen, son- 12 dern wir wollen in der Abkehr von ihm und Sohn und Nachfolger des Begründers von seinen Lebensordnungen die tiefere der Heilstätten Bethel, heute in Bielefeld, wurde 1933 zum Reichsbischof desi- Ursache unseres Elends erblicken. Darum gniert, musste aber Hitlers Vertrauens- mann L. Müller weichen; rettete seine 10 Kranken vor dem nationalsozialistischen Theophil, 1868-1953, in der NS-Zeit Euthanasieprogramm (giech. Sterbehilfe) einer der Wortführer des kirchlichen für unheilbar Kranke und Schwerstver- Widerstandes. Er trat damals insbeson- letzte. Unter der nat.-soz. Herrschaft dere gegen „seinen“ NS-Gauleiter Murr diente die Bezeichnung „E.“ zr Verschleie- auf. Im „Schwabeländle“ kursierte in die- rung der Vernichtung „lebensunwerten ser Zeit der Satz: „Es wurmt den Murr, Lebens“. wenn der Wurm murrt“. 15 bekannt, die bewusst an Christen in den Thielicke 14 meldete sich zu Wort: seitherigen Feindländern gerichtet waren. „Haben nicht die Gegner Deutschlands Sie scheuten sich dabei nicht, sie an ihre von 1914 – 1918 die furchtbare Reaktion Mitverantwortung am Aufkommen des des Hitler-Regimes mit auslösen helfen? Nationalsozialismus zu erinnern. Kritisch Haben sie das deutsche Volk nicht in wird man sagen müssen, dass in diesen Radikalismus und Brutalität hineintreiben und anderen Äußerungen immer noch helfen, dadurch, dass sie die deutschen ungebrochen die Sicht der nationalen Politiker, die Recht und Erfüllung wollten, Kreise der Weimarer Republik zum Aus- mit Strich und Faden sabotiert haben...?“ druck kommt. Jedoch waren sie an Deut- Er übersah dabei, wie jene vom Volk als lichkeit und Härte kaum zu übertreffen, „Verzichtler und Erfüllungsgehilfen“ diffa- wenn z. B. Wurm ganz konkret wurde und miert worden waren. Und wenn es weiter erklärte: „Wir entschuldigen nichts,...Wir bei ihm heißt: „Es geht mir ja nur darum, verurteilen insbesondere die Geiselmorde zu zeigen, dass wir alle aneinander eine und den Massenmord an den deutschen Rechnung zu begleichen haben. Und dass und polnischen Juden.“ es trotz aller Grausigkeiten des Hitler- Da er ja im Unterschied zu den mei- Regimes keineswegs um eine einseitige sten anderen nicht geschwiegen, sondern Schuld geht“, so wird man den Verdacht sich immer wieder tapfer an die Verant- nicht los, dass solche Äußerungen wortlichen gewandt und sich auch öffent- womöglich schon der Anfang für die lich geäußert hatte, bis ihm 1944 mit mas- wachsende Selbstrechtfertigung in den siven Drohungen der Mund verboten folgenden Jahren waren. Schließlich wird wurde, glaubte er sich jetzt wohl auch um- in diesem Artikel in etwas penetranter gekehrt zu der Mahnung berechtigt: Weise die geistlichen Erfahrungen der BK „...dass die Siegermächte sich nicht der- herausgestellt: „Wir Christen von selben Verstöße gegen Recht und Deutschland haben von ferne das (Offb. 11, 7) gesehen; Menschlichkeit schuldig machen dürften. wir haben sehr nahe bei den Dämonen [...] Der Glaube an die Gewalt ist nicht nur gewohnt [...] Und wahrlich, sie hat den sondern auch bei englischen, amerikani- Dämonen ins Auge gesehen.“ – Karl Barth schen, französischen, russischen. [...] soll, wie man sich erzählte, zur letzteren Wenn die Völker jetzt nicht lernen, ihre Äußerung sarkastisch bemerkt haben: Beziehungen auf Vergebung und Ver- „Thielicke hat dem Dämon ins Auge gese- trauen zu gründen statt auf Rache und hen? Da wird sich der Dämon aber sehr Vergeltung, ist eine letzte Weltkatastrophe verschrocken haben!“ unvermeidlich...“ So zeigten schon die ersten Stim- Es war natürlich unmöglich, Über- men nach dem Ende des Krieges die griffe und Gewalttaten bei der Besetzung, Auslegungsmöglichkeiten und Ziele, und - die nicht nur im Osten geschahen, mit den obwohl sie alle von der BK herkamen - Gräueln der Vernichtungslager gleich zu verschiedene Ansatzpunkte zu politischen setzen. Aber nachdem das Wort von der Entscheidungen: Einerseits führten sie zur eigenen Schuld gesagt war – das gilt ins- Mitbegründung einer christlichen Partei, in besondere nach der Stuttgarter Schuld- der sich im Gegensatz zur früheren Zen- erklärung – sah man keine Bedenken, die trumspartei evangelische und katholische Mahnung an die Siegermächte hinausge- Christen zusammenfanden. Denen hen zu lassen. Auch Karl Barth 13 sprach in gegenüber vermieden andere Theologen jenen Tagen davon, die Alliierten seien eine programmatische Festlegung der „jetzt im Begriff, sich an Deutschland zu Partei auf christliche Prinzipien und sahen versündigen und schuldig zu machen“. die Aufgabe darin, das politische Gesche- hen durch ihr Zeugnis zu begleiten, das sie aus ihrer Erkenntnis der biblischen 13 (1886-1968) Schweizer reformierter Botschaft gewonnen hatten. Daraus folgte, Theologe; Professor f. systematische Theologie, Begründer der dialektischen Theologie, lehrte auch in Deutschland. 14 Helmut *1908-1986, ev. Theologe, Mit- glied der Bekennenden Kirche (BK). 16 dass die einen „zur Rettung des Abend- August 1945 in Frankfurt am Main trafen. landes vor der Bedrohung durch den Man befürchtete neben einem verfestigten Atheismus (= Kommunismus)“ den Konfessionalismus eine drohende Restau- Hauptwert auf die Westintegration und ihre ration der Kirche und wollte verhindern, militärische Stärke legten; die anderen dass Persönlichkeiten in leitende Funktio- strebten eine Brückenfunktion zwischen nen berufen würden, die in der Vergan- Ost und West an und die Stärkung der genheit nicht in der Lage waren, einen inneren Kräfte zum Aufbau der Demokra- „kompromisslosen Kurs zu steuern“ (so tie. Obwohl sich also beide Seiten auf Niemöller). Barmen beriefen, dachten die einen mehr Karl Barth sprach am Abend seines daran, die Kirche auf ihre eigentliche Auf- Ankunftstages über seine Entwicklung seit gabe der Verkündigung des Gotteswortes seiner Trennung vor 10 Jahren, konkret zu verweisen; sie lehnten ein konkretes über „die Kirche und die politische Frage“: Hineinsprechen biblischer Weisungen in „...Ja, selbstverständlich hat die Kirche den Raum politischer Ermessensfragen eine politische Verantwortung [...]. Wir sind ab, das sie als Politisierung der Kirche beteiligt an den Obrigkeits-Angelegenhei- ansahen. Die anderen fürchteten, dass ten“. Es folgte eine Absage an den christli- schweigendes Geschenlassen Zustim- chen Nationalismus und damit nicht nur an mung zu politischen Zielen signalisieren Hitler, sondern auch an Friedrich den könnte. Großen und Bismarck: „...Untertan, parie- Zur Vorbereitung der Kirchenführer- ren: Das war es“. Damit standen dem konferenz in Treysa trafen sich die unter- lutherischen Block gegenüber die bewegli- schiedlichen Gruppierungen in verschie- cheren und aktivieren Vertreter aus den denen Orten, um ihren Kurs in den bevor- Bruderräten. stehenden Verhandlungen zu besprechen Vom 27. – 31. August 1945 fand und festzulegen. Es wurden dabei mas- dann die Kirchenführertagung in Treysa sive kirchenpolitische Interessen sichtbar. statt. Dort schilderte Wurm, wie es ihm zur Dies gilt besonders für den Rat der lutheri- unabweisbaren Aufgabe geworden sei, die schen Kirchen, der kurze Zeit vor dem Zusammenführung der Getrennten zu eigentlichen Termin der Kirchenführer- erreichen: Er bekannte sich in bewunde- konferenz tagte. Es ist kaum zu glauben, rungswürdiger Offenheit zur Solidarität mit dass es trotz der noch gegen Ende des der deutschen Schuld und zur Selbstkritik Krieges einsetzenden Einigungsbestre- gegenüber der nationalistischen Welle in bungen auf evangelischer Seite beinahe der Weimarer Zeit: [...] „denn wir haben zu einer von den anderen Gruppierungen lange Zeit gebraucht, um den Betrug ganz getrennten lutherischen Kirche gekommen zu durchschauen, und wir haben unsere wäre mit einem Erzbischof (!!) an der Zeugenpflicht sehr zaghaft angefasst. [...] Spitze. Dies geschah gemäß einem Ent- Wir, auch die Pfarrer, auch die kirchlichen wurf, der auf Vorarbeiten in der NS-Zeit Kreise, ließen uns durch die Folgen des basierte; er ging von der Vorstellung einer Versailler Diktates und die alliierte Nach- im ganzen Reichsgebiet dominierenden kriegspolitik weithin in nationalistische lutherischen Kirche aus. Mit ihm wollte Gedankengänge hineintreiben und waren man vollendete Tatsachen schaffen. Dies dadurch unfähig, die Gefährlichkeit der verhindert zu haben, war vor allem das völkisch-rassischen Denkweise rechtzeitig Verdienst des württembergischen Landes- zu entdecken und grundsätzlich zu bischofs Wurm. bekämpfen“. Eine andere Gruppierung waren die So kam er auch auf die „Sünden der Bruderräte (BR) 15 , die sich vom 21. bis 23. protestantischen Vergangenheit“ zu spre-

15 die von der Barmer Synode (29. – 31. seiner Organe aufgerufen hatten. Deren Mai 1934) gewählten und mit der Führung Nachfolger sahen sich auch nach Beendi- der Geschäfte beauftragten 140 Synoda- gung des Krieges u. a. angeregt, organi- len (darunter 50 Nichttheologen und die siert in einem Reichsbruderrat und in Landesbischöfe Meiser und Wurm, die Landesbruderräte, die Voraussetzungen Pfarrer Asmussen u. Niemöller), die zum zu schaffen für einen grundsätzlichen Widerstand gegen das widerrechtliche Neubau der evangelischen Kirche in Kirchenregiment des Reichsbischofs und Deutschland. 17 chen: „In Ermangelung einer wirklichen Kirche mit den das Alte und Herkömmliche nach ihrem eigenen Wesen geleiteten Kir- konservierenden Mächten hat sich schwer che hatte der deutsche Protestantismus an uns gerächt. Wir haben die christliche den Staat zur Kirche, ja schließlich zu Gott Freiheit verraten, die uns erlaubt und gemacht, den man über alles lieben, gebietet, Lebensformen abzuändern, wo fürchten und dem man vertrauen müsse das Zusammenleben der Menschen sol- [...]. Nun ist dieser Gott, der ein Götze war, che Wandlung erfordert. Wir haben das gefallen, und es fragt sich, ob wir Recht zur Revolution verneint, aber die Evangelischen [...] zusammen bleiben, Entwicklung zur absoluten Diktatur gedul- weil wir in den Nöten des Bekenntnis- det und gut geheißen“. kampfes gelernt haben, was Kirche ist, Ich gehe sicher nicht zu weit, wenn was sie fordert und was sie gibt“. ich behaupte, dass die Bereitschaft der Auch an die Besatzungsmächte Kirche auch heute noch immer sehr gering wandte sich Wurm: Er forderte sie auf, ist, ihre Geschichte im 19. Jahrhundert, „sich über die psychologische Wirkung insbesondere die der Begegnung einer derjenigen Strafmaßnahmen Rechen- verbürgerlichten Kirche mit der Arbeiter- schaft abzulegen, die über den Kreis der bewegung, kritisch zu betrachten und ent- Verantwortlichen und Schuldigen hinaus sprechend aufzuarbeiten. Dass die sog. die weitesten Volkskreise aufs empfind- unteren Bevölkerungsschichten kaum ver- lichste treffen [...] Pg. ist nicht Pg. (Partei- treten sind, es sei denn als Objekte der genosse, GK), und selbst SS ist nicht Caritas, ist verwunderlich, wo doch Jesus gleich SS“. – wenn überhaupt – eine Vorliebe für die Wenn eine Einheit innerhalb der Armen und „kleinen Leute“ hatte. evangelischen Denominationen schon so Das wird besonders im 5. Absatz schwer war, braucht es nicht zu verwun- angesprochen: “Wir sind in die Irre gegan- dern, dass ein Zusammengehen der gen, als wir übersahen, dass der ökono- evangelischen und katholischen Kirche mische Materialismus der marxistischen nach dem Krieg überhaupt nicht in Frage Lehre die Kirche an den Auftrag und die kam. Hier hatten sich leider die Erfahrun- Verheißung der Gemeinde für das Leben gen in Krieg und Gefangenenschaft für die und Zusammenleben der Menschen im beiden großen christlichen Kirchen kaum Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir ausgewirkt. Im Sevastopoler Lager wurde haben es unterlassen, die Sache der nicht nach Konfessionen gefragt. Selbst Armen und Entrechteten gemäß dem das Abendmahl feierten wir gemeinsam in Evangelium von Gottes kommendem tiefster Eindrücklichkeit, wie vorher nicht Reich zur Sache der Christenheit zu und auch nachher nie wieder. machen.“ Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ Eine schwere Unterlassung vom 18./19. Oktober 1945 und das „Darm- erscheint mir in beiden Erklärungen, der städter Wort“ vom 8. August 1947 waren Stuttgarter und der Darmstädter, dass in die notwendige Konsequenz insbesondere ihnen nicht konkreter von der Schuld der Tagung in Treysa. Nach meiner Heim- gegenüber den Juden, Scinti und Roma kehr habe ich von diesen beiden Doku- die Rede ist, auch nicht von der Vernich- menten lange nichts erfahren, obwohl das tung des sog. „unwerten Lebens“ (Eutha- erstere ja die Wiederaufnahme in den nasie). So sind auch die Unmenschlich- Kreis der Kirchen der anderen Länder keiten gegenüber Polen und Russen nicht bewirkt hatte, besonders derer, die uns als erwähnt. Was da nämlich in unserem Feindmächte gegenüber gestanden und Namen und durch uns geschehen ist, wird unter deutscher Besatzung z. T. schwer den deutschen Namen noch in Jahrhun- gelitten hatten. Dabei erscheint mir das derten belasten. Darmstädter Wort konkreter zu sein. Das Es hätte deutlicher hervorgehoben wird m. E. besonders im 3. Absatz deut- gehört, dass es sich bei beiden Erklärun- lich. Er beginnt wie alle anderen: „Wir sind gen ausschließlich um Äußerungen der in die Irre gegangen,“ und fährt fort: „als Kirchen im Hinblick auf sich selbst handelt. wir begannen, eine `christliche Front´ auf- Sie haben also lediglich von ihrer Schuld zurichten gegenüber notwendig geworde- innerhalb unseres Volkes gesprochen, und nen Neuordnungen im gesellschaftlichen nicht von der Schuld unseres Volkes Leben der Menschen. Das Bündnis der gegenüber den anderen Völkern. Dies 18 wird deutlich durch die z. T. heißen Dis- von uns fordert. Diese Haltung ist falsch, kussionen, die um das Ganze und um ein- ...“ 16 Kenner des Vorgangs meinten darauf- zelne Formulierungen geführt worden hin: “Wenn der schon nach acht Jahren sind. Leider hat die Öffentlichkeit wenig KZ von seiner Schuld spricht, was will da oder überhaupt nichts davon erfahren. unsereiner sagen?“ Deswegen folgen hier Ausschnitte Trotzdem breitete sich das Missver- eines Diskussionsbeitrages von Martin ständnis von einer Kollektivschuld aus, Niemöller. Er sprach als Vorsitzender des obwohl sie in der Auseinandersetzung klar Reichsbruderrates und zugleich als Leiter verneint worden war. Geredet wurde des kirchlichen Außenamtes: „Ich muss lediglich von einer Kollektiv-Verantwor- hier einen Ton anschlagen, der in allem, tung. Diese kann ja wohl kaum verneint was wir bisher gehört haben, zweifellos zu werden. Dennoch wurde von den Verfas- kurz gekommen ist. [...] Die Not geht nicht sern in einem Sturm der Entrüstung als zurück auf die Tatsache, dass wir den von Vaterlandsverrätern und von Nestbe- Krieg verloren haben. Wer von uns schmutzern gesprochen. möchte wünschen, wir hätten ihn gewon- Gelegentlich wurde auch behauptet, nen? [...] Unsere heutige Situation ist aber ein Schuldbekenntnis sei der Kirche von auch nicht in erster Linie die Schuld unse- außen aufgenötigt worden, geradezu als res Volkes und der Nazis. Wie hätten sie Vorbedingung einer Hilfsaktion für die den Weg gehen sollen, den sie nicht hungernden Deutschen. Dem steht die kannten? Sie haben doch einfach bereits im Mai 1943 verfasste Denkschrift geglaubt, auf dem rechten Weg zu sein! – des Ökumenischen Rates der Kirchen Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der (ÖKR) entgegen. In ihr schrieb sein Vor- Kirche, denn sie allein wusste, dass der sitzender Visser´t Hooft: „Eine der größten eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und dringendsten Aufgaben der ökumeni- und sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie schen Bewegung nach dem Kriege wird es hat das geschehene Unrecht nicht aufge- sein, echte Versöhnung zwischen den deckt oder erst, wenn es zu spät war. Und Kirchen der kriegführenden Länder zu hier trägt die Bekennende Kirche (BK) ein erreichen. Das traurige Schauspiel der besonders großes Maß von Schuld; denn Kirchen, die sich ein Jahrzehnt nach sie sah am klarsten, was vor sich ging und Kriegsende (nach dem 1. Weltkrieg, GK) was sich entwickelte. [...] Wir, [...] die Kir- über Recht und Unrecht ihrer Länder im che, haben an unsere Brust zu schlagen Kriege streiten, dürfen wir der Welt dies- und zu bekennen: meine Schuld, meine mal nicht bieten“. Hier war sogar zunächst Schuld, meine übergroße Schuld! [...] „ an ein gemeinsames Schuldbekenntnis „Das ist der Ton, den ich hier und der Kirchen gedacht. Es ist bemerkens- anderwärts bislang vermisst habe [...] und wert, dass man nicht als erstes eine Initia- der auch der Grundton hier in Treysa sein tive aus Deutschland abwartete, sondern muss.“ [...] „Wenn heute jeder kleine Pg. von der Ökumene aus den ersten ent- Amt und Brot verliert, dann ist es unmög- scheidenden Schritt tat: lich, dass Männer in der Kirchenleitung Eine Delegation, u. a. aus Frank- gehalten werden, die sich in Hirtenbriefen reich, Holland und der Schweiz unter der oder in gedruckten Äußerungen oder Leitung des Generalsekretärs des Öku- sonst irgendwie so über den Nationalso- menischen Rates, Visser´t Hooft, war sich zialismus und seine Weltanschauung aus- in einem Vorgespräch in Genf klar, dass gesprochen haben, dass der kleine Mann „die Weltkirche für eine gerechte und dadurch das gute christliche Gewissen humane Behandlung Deutschlands arbei- bekam, sich der Partei anzuschließen.“ [...] ten und helfen muss, Menschen vorm „Aus einem falsch verstandenen Verhungern zu retten, ob die Kirche in Luthertum heraus haben wir gemeint, dem Deutschland die Schuld [...] anerkennt Staat gegenüber keine andere Verant- oder ob sie das nicht tut“. Diese Delega- wortung zu tragen, als dass wir ihm tion erschien ziemlich überraschend auf gehorchen und die Christenheit zum Gehorsam ermahnen und erziehen, 16 solange der Staat keine offenbare Sünde Zitate und sonstige Informationen nach: Karl Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Radius Bücher 1989. 19 der ersten Vollsitzung des Rates der EKD dort vor allem in den Kirchen. So antwor- (Evangelischen Kirche in Deutschland) in tete der Exekutivausschuss des Bundes- Stuttgart (18,/19. Oktober 1945). Die rates der amerikanischen Kirchen im Grußansprache enthielt den Satz: „Wir Januar 1946: „... Wir bekennen mit Reue sind gekommen, euch zu bitten, dass ihr unser eigenes Versagen.“ – Der Erzbi- uns helft, euch zu helfen.“ schof von Canterbury versicherte im Bischof Hans Asmussen nahm als Februar 1946 trotz der allgemeinen Vor- erster das Wort. Unter anderem erklärte behalte in England gegenüber einer eige- er: „Gerade weil ich mein Volk lieb habe, nen Schulderklärung: „... Alle haben wir kann ich nicht sagen: Alles, was sich mein gesündigt und versäumt, Gott die Ehre zu Volk zuschulden kommen ließ, das geht geben.“ Bischof Bell aber, dem das zu mich nichts an. [...] Ich stehe zu dem, was wenig war, schrieb einen Tag danach in mein Volk tat. Und nun bitte ich: Verzeiht einem offenen Brief: „Die Gerechtigkeit mir! [...] Was ihr aus meinen Worten und der Glaube an Gott erfordern, dass macht, ihr Brüder aus der Ökumene, das wir Nicht-Deutschen...ebenfalls unsere muss die Liebe Christi in euch wirken. [...]“ eigene Schuld bekennen.“ „... So war auch Niemöller schloss sich ihm an: „Nach die- unsere und anderer Völker Passivität sen Worten habe ich nicht mehr viel zu kaum weniger augenfällig und kaum weni- sagen. [...] Wir bitten, dass Gott uns diese ger tadelnswert.“ Dies war zwar nicht die unsere Schuld vergeben möchte, und Meinung der Mehrheit. Um so eindeutiger diese Schuld, indem er sie uns vergibt, zu sprach die ganze Kirche in Holland. Äuße- einem neuen Motor für die ganze Welt rungen der Selbstzufriedenheit oder Zei- werden lassen möchte.“ chen einer politischen Verwendung des Die Leitung der Sitzung lag spürbar Wortes waren nirgends zu vernehmen. - bei Asmussen und Niemöller. Es wurde Ich habe die Vorgänge um die Eini- aber ausdrücklich festgestellt, dass es sich gung der Evangelischen Kirche in nicht um persönliche Äußerungen han- Deutschland, die Entstehung der beiden dele, sondern um die einheitliche Auffas- Schulderklärungen und ihres Echos insbe- sung der Leitung der evangelischen Kir- sondere in den ehemaligen Feindländern che. Eine entsprechende Erklärung wurde deshalb ausführlicher beschrieben, weil am Abend des 18. Oktober 1945 beraten ich mich selbst als Glied der Kriegsgene- und am nächsten Morgen der Delegation ration mitschuldig fühle. Andererseits bin unterbreitet. So entstand noch an diesem ich aber ein klein wenig stolz, einer Kir- Tag die denkwürdige „Stuttgarter Erklä- chengemeinschaft anzugehören, die ihre rung“. Schuld anzuerkennen sich nicht scheute. Verblüffend war die Wirkung des Es wurde mir auch nach meiner Heimkehr Schuldbekenntnisses besonders im ehe- aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft mals feindlichen Ausland. Es ist bestimmt klar, dass mein Leben nach meinen nicht übertrieben, wenn man von einem Kriegs- und Gefangenschaftserlebnissen Umschlag der Stimmung gegenüber unse- nicht so verlaufen konnte, als wäre nichts rem Volk spricht. Seinen Anfang nahm er geschehen. 20 Neuanfang! (?)

Etwas poetischer würde ja eigentlich dem ich einige Tage im Heim hospitierte, klingen: „Pflüget ein Neues!“ So steht es empfahl er mir, zunächst bei ihm als oft über Zeitungsartikeln oder Appellen zu Erzieher anzufangen und in Ruhe das irgendwelchen Aktivitäten. Eigentlich heißt Weitere zu planen. dies - und ich habe ja in meiner Arbeits- Es war mitten im Advent, und dienstzeit das Pflügen (mit Pferden und jedesmal, wenn in den Jahren danach – Ochsen!) gelernt und weiß, wovon ich wo auch immer – die schönen Adventslie- rede - : das gesamte Feld wird umgebro- der gesungen wurden, erinnerten sie mich chen, buchstäblich das Unterste zuoberst an die kurzen Abendandachten damals im gekehrt. War das nicht durch den Krieg in Schülerheim Korntal. Besonders ein Lied brutaler Weise geschehen? Man konnte hatte es mir angetan. Es war mir merk- froh sein, wenn man nicht mit unter- würdigerweise bis dahin gänzlich unbe- gepflügt worden war. Ein anderes Bild trifft kannt: Der Morgenstern ist aufgedrungen meine Erlebnisse jedoch noch besser: Ich (eg 69). Gesungen von den frischen fühlte mich wie ein Holzscheit, das man Stimmen der 9 bis 18-jährigen, war es vor aus dem Feuer gerissen hatte. Das allem ein Vers, der mich heute noch tief Glücksgefühl war unbeschreiblich! berührt: Für die Zeit der wieder gewonnenen Freiheit habe ich während der Gefangen- Christus im Himmel wohl bedachte, schaft nicht gerade ein Gelübde abgelegt wie er uns froh und selig machte oder gar irgend etwas geschworen. Aber und wieder brächt ins Paradies, es war jetzt klar: Ich konnte nicht einfach darum er Gottes Himmel gar verließ. zur Tages ordnung übergehen. Gewis serma- ßen lag das Leben wie ein frisch gepflüg- Dieses Lied sprach mich weniger tes Feld vor mir. Der ehemals geplante deswegen an, weil wir gerade dem „Para- Ingenieurberuf war abgehakt; nun galt es dies der Arbeiter und Bauern“ entronnen das anzupeilen, was Kameraden – oder waren, sondern mehr wegen der span- besser Brüder – während der Gefangen- nenden Frage, welche Zukunft mir nun schaft nach ernsten, gemeinsamen Über- beschert sein sollte. Niemand – am wenig- legungen und Erfahrungen mir geraten sten ich – hätte gedacht, dass es so wunder- hatten: „Du musst einen Beruf ergreifen, bar werden würde. Natürlich war es kein wo du es in der Hauptsache mit Menschen Paradies! Aber immer wieder – wie ein zu tun hast!“ Blitzstrahl – hatte mein Leben paradie- In einem Brief, den mein Mitgefange- sische Züge. Dies mit großem Dank zu ner Werner Reininghaus 17 (Bild 1) seiner schreiben, möchte ich heute nicht ver- Frau aus der Gefangenschaft geschrieben säumen. und den ich bei meiner Heimkehr durchge- Zum Glück hatte ich unzählige Behörden- schmuggelt hatte, muss er mich über den gänge, Besorgung von ziviler Bekleidung grünen Klee gelobt haben. Leider ist die- und ärztliche Untersuchungen schon vor- ses Dokument nicht mehr verfügbar. Er her erledigt. Aber immer noch standen vor hat darin seine Frau Agnes gebeten, sich mir eine Reihe von Besuchen bei Ver- für mich bei seinem Bruder Robert zu ver- wandten, bei Freunden und Bekannten. wenden, um mir bei der Verwirklichung Natürlich nahm ich auch sehr bald meines Berufsplanes zu helfen. Robert die Beziehung zu unserer Wallonisch-Nie- war Studienrat am Gymnasium in Korntal derländischen Kirchengemeinde auf. Die (Kleinstadt bei Stuttgart) und Leiter des beiden früher relativ selbständigen Großen Schülerheimes der Evangelischen Gemeinden hatten sich vereinigt. Von den Brüdergemeinde. Bei einem Besuch, bei beiden „Kirchen unter einem Dach“ war ja ohnehin nur noch eine Ruine übrig geblie- 17 Mitgefangener im Lager Sevastopol, vor ben, bei der man versuchte, einen weite- dem Krieg Gemeindepfarrer in Heilbronn, ren Verfall zu verhindern. Die nötigen im Krieg Divisionspfarrer in einer Geldmittel fehlten, um den Wiederaufbau Gebirgsjäger-Einheit. in der ursprünglichen Form zu ermögli 21 chen. Die sonntäglichen Gottesdienste Im Schülerheim bezog ich ein gro- und die sonstigen Veranstaltungen fanden ßes Zimmer, das ich mit einem Theologie- in einem der beiden Gemeindehäuser Studenten teilte. Für ihn war die Tätigkeit statt, das die Luftangriffe einigermaßen des Erziehers ein Teil seiner Pfarrer-Aus- gut überstanden hatte. Pfarrer Pribnow bildung. Wir beide verstanden uns, zumal passte als liberaler Theologe recht gut in er als guter Klavier- und Querflötenspieler die Tradition der beiden alten Gemeinden. mich dazu brachte, fast meine alte Form Zur EKD standen sie über den Reformier- als Geigenspieler wieder zu erlangen. ten Bund in Verbindung, gehörten aber Eingesetzt wurde ich als Erzieher der weiterhin nicht wie die übrigen Hanauer Bewohner der „Brunnenstube“, Schüler Gemeinden zur Landeskirche, der Evan- der Sexta bis Quarta im benachbarten gelischen Kirche in Kurhessen und Wal- Gymnasium. Meine Aufgabe war, sie all- deck. gemein zu betreuen, bei den Schulaufga- Anfang Januar 1950 war endlich der ben zu helfen und ihnen die Freizeit zu Umzug fällig. Er gestaltete sich denkbar gestalten. Im Wechsel mit anderen Erzie- einfach. Das Gepäck war zwar größer als hern war ich verantwortlich für die Aufsicht bei dem Wechsel von Sevastopol nach im ganzen Haus und für die Einhaltung der Hanau. Es passte aber noch alles in einen Tagesordnung (Wecken am Morgen, Koffer, den ich in Leipzig beim Besuch Essenszeiten, Abendprogramm und – meines Freundes aus der Gefangenschaft Andacht). Carl-Ernst Schulz (Bild 2) erworben hatte. In dem Hausvater Robert Reining- Das Geld zum Kauf stammte aus meinem haus, von den Schülern kurz „Boss“ Konto in Borna, auf dem die Mieten mei- genannt, hatte ich eine gute Stütze, was nes von meinem Großvater geerbten Hau- andererseits zu manchem Argwohn bei ses (Bild 3) aufgelaufen waren. Ich konnte den immer wieder vorkommenden Mei- es leider nicht in die Westzone trans- nungsverschiedenheiten zwischen Leitung ferieren. Carl-Ernst half mir durch seine des Hauses und der Erziehergruppe Kenntnis von Geschäften, in denen mit führte. Anlass war meistens Roberts Frau einigermaßen guter Qualität der Ware zu Sigrid, eine resolute Person, die für rechnen war. Auf diese Weise konnte ich Wäsche und Küche verantwortlich war und mein Westgeld-Konto schonen, mir die gelegentlich in andere „Ressorts“ „hinein- nötigsten Dinge (Unterwäsche, Wäsche regierte“. Dass ich mit Robert und Sigrid usw.) zulegen und dann sogar unbean- im privaten Bereich per Du war, ließ sich standet durch die scharfen Kontrollen an auf Dauer nicht verheimlichen und brachte der Zonengrenze mit dem Hinweis kom- weitere Anlässe zu Misstrauen. men, das sei alles mein Reisegepäck, zum Im Ganzen aber war die Atmosphäre Teil auch Geschenke von Freunden und entspannt, wenn nicht fröhlich. Für mich Verwandten. Denn auch in Schmölln bei war die Aufgabe nicht schwer. Der meinem Onkel Hermann und meiner Tante Umgang mit dieser Altersstufe entsprach Marie hatte ich kurz „reingeschaut“; kurz der Jungschararbeit, die ich vor dem Krieg deswegen, weil mich in ihrer Wohnung in Hanau in mehreren Kreisen geleitet eine starke Allergie befiel, die mich zum hatte. (Bild 4) Die Schulaufgaben-Betreu- Abreisen zwang. ung war leicht. Vor allem die naturwissen- Zu meinem Umzugsgepäck gehörte schaftlichen Fächer erinnerten mich an auch eine Geige, die mir mein Freund aus meine eigene Sextaner- und Quintaner- der Zeit der Jugendarbeit vor dem Krieg, zeit. Bei der Gestaltung der Freizeit konnte Günter Dietrich, leihweise überlassen und ich das anwenden, was wir auf Ferienla- später geschenkt hatte, und mein alter gern früher durchgeführt hatten, vor allem Notenständer, der durch alle Luftangriffe in Ball- und Laufspiele. Da konnte ich sogar Hanau gut hindurch gekommen war. Als mit unbekannten Wettkämpfen aufwarten, erstes Buch war im Gepäck die gleiche die die Jungen sehr begeisterten. An Bibel, die es noch in demselben Druck gab Wochenenden wurde in der nahen Umge- wie meine alte, die mich durch Krieg und bung gewandert oder es fanden Besichti- Gefangenschaft begleitet hatte, und die gungen statt. Die Abendandachten zu ich beim Abschied in Sevastopol Werner gestalten war nicht leicht, da meine Reininghaus zur Weitergabe überlassen „Gemeinde“ von Sextanern über Oberpri- hatte. maner bis zu Erzieher-Kollegen reichte. 22 Aber gerade aus dieser Abendver- angestellt. Als Invalide konnte er viel anstaltung ergaben sich immer wieder früher als ich mit einem Krankentransport Einzelgespräche, insbesondere mit den nach Hause fahren. Es blieb nicht bei dem älteren Schülern des Hauses, die sich vor kurzen Wiedersehen. Als gute Freunde allem für meine Erlebnisse in Krieg und trafen wir uns später immer wieder. Bei Gefangenschaft interessierten seinem jüngsten Sohn (7 Kinder!) wurde Von dem Erbe meiner Eltern, das leider ich sogar Pate. durch die Währungsreform 1948 nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Wertes Die Vormittage in der Woche während des betrug, konnte ich mir ein Fahrrad leisten. Schulunterrichtes hatte ich frei. Da war Bei abendlichen Ausfahrten begleiteten Zeit für mich zum Lesen oder zum Musi- mich öfter ältere „Semester“. In Hanau zieren mit meinem Zimmergenossen. Bei stand ja auch noch mein NSU-Quick einem pensionierten Rektor nahm ich Kleinmotorrad bei meinem Freund und Unterricht in Schreibmaschinen-Schreiben früherem Mitarbeiter Hans Schlegel. Er (10-Finger-Blind-System), Kurzschrift und hatte es im Keller unseres Hauses in der Buchführung, was mir später in beruflichen Friedrichstraße noch gegen Ende des und nebenberuflichen Tätigkeiten sehr Krieges sichergestellt, zusammengebaut nützlich war. Selbst dieser Bericht profitiert und im Dienst als hauptamtlicher Jugend- noch davon: Reste des Erlernten sind bis leiter im Evangelischen Jungen- und heute geblieben, und ich muss ihn jetzt Jungmännerwerk gefahren. Ich holte es nicht im 2-Finger-Such-System tippen. nach Korntal und war damit für die dama- lige Zeit ungewöhnlich beweglich, was ich Die Bezahlung war relativ dürftig. Aber in meiner Freizeit weidlich ausnutzte. Es zunächst hatte ich neben einer Arbeit, die stellte sich heraus, dass ein Hausbewoh- mir viel Freude machte, eine Unterkunft, ner der Oberstufe die gleiche Maschine gutes Essen und Versorgung mit all dem, besaß. Wir zwei (Bild 5) machten herrliche was noch nötig war, z. B. Wäsche Fahrten durch den Schwarzwald und waschen und bügeln. Das war für einen besuchten dabei Verwandte, Bekannte ehemaligen Kriegsgefangenen schon und den ehemaligen Mitgefangenen Otto geradezu luxuriös. In der Familie Reining- Harzer, Pfarrer in einem Schwarzwalddorf. haus fand ich überaus freundliche Auf- Ihn hatte ich, der ich als „Obersani“ im nahme und war sehr oft zu Gast. Zentral-Lazarett war, als Wachposten Bild 1 Agnes und Werner Reininghaus

Bild 2 Besuch in Leipzig bei Carl-Ernst Schulz (rechts)

Bild 3 Mein Häuschen bei Borna 24 Bild 4 Schüler in Korntal

Bild 5 Mit dem Motorrad unterwegs 26 27 Der „Ruf“

Schon während des Krieges hatte dung so schnell nicht mehr geboten wer- ich mir vorgenommen, wie mancher mei- den dürfte. Diese Stelle kann nun nicht ner Mitarbeiter-Freunde ein paar Jahre als mehr länger als äußersten Falles bis zum hauptamtlicher Jugendleiter dem Werk zur 1. Juni 1950 offen gehalten werden. Bis Verfügung zu stehen, bevor ich dann end- dahin muss jemand gefunden sein.“ gültig irgend einen Beruf – „Umgang mit Paul Both hatte ich bei einem Menschen“ - ansteuern würde. In diesem Besuch noch im November 49 meine Sinn hatte ich mich Paul Both (Bild 6) ge- Bereitschaft erneut erklärt, wenn erforder- genüber (dem Leiter unseres Jugendwer- lich eine begrenzte Zeit hauptberuflich als kes) geäußert - sogar schon aus der Mitarbeiter zur Verfügung zu stehen. Hein- Gefangenschaft heraus über einen Mitge- rich Mohn hatte ich abgesagt, der großes fangenen, der wegen Krankheit heimkeh- Verständnis für meine Entscheidung ren durfte. Aber PB reagierte zu meiner zeigte, nach Korntal zu gehen und für und meiner Freunde Verwunderung über- meine PB in Aussicht gestellte Zusage. haupt nicht. Trotzdem zeigte ich beim Sein Angebot aber erhielt er aufrecht für ersten Gespräch mit ihm nach meiner den Fall, dass ich irgendwann vielleicht Heimkehr meine Bereitschaft. Aber doch noch Neigung hätte, einen techni- irgendwie war ich wohl damals für ihn schen Beruf zu ergreifen. Kurt Friedgé riet nicht der richtige Mann. mir, gegenüber PB zurückhaltender zu Mitte März 1950 besuchte mich Kurt sein. Er kannte ihn schon länger und „ver- Friedgé, ein Freund aus der Hanauer Zeit ehrte“ ihn nicht so wie die meisten Glieder vor dem Krieg. Mit ihm hatte ich gleich der Mitarbeiterschaft des Jugendwerkes nach Rückkehr aus der Gefangenschaft (und ich!!). meine beruflichen Pläne besprochen. Er Am 1. April schrieb mir PB u. a. :„Es war ein kluger Mensch, und so war ein steht [...] vor Dir nicht nur die berechtigte ausgewogener Rat zu erwarten. Als Pflicht der Vorbereitung auf einen Lebens- nüchterner Typ und Mitarbeiter in unserem beruf, sondern auch die Not unserer Brü- Jugendwerk kannte er die Verhältnisse der im Werk, die nächstens nicht mehr dort sehr genau. Es ging dabei für mich wissen, wie sie die Arbeit hindurch tragen um drei Möglichkeiten im Hinblick auf mei- sollen. Aber gehe nun einmal Deinen Weg nen beruflichen Weg. Korntal, wo ich ja weiter, doch halte Dich offen für einen Ruf nun zugesagt und meinen Dienst ange- von uns.“ Das mit dem „Brüder“ war eine treten hatte, war auf keinen Fall eine Übertreibung, die ich damals nicht durch- Sache von Dauer. schaute. In Not war er zunächst ganz Ein zweiter Weg ergab sich aus allein, denn sein jahrelanger Fahrer und einem Brief von Heinrich Mohn, (Bild 7) Büroangestellter Ernst Leutheusser hatte Betriebsleiter der Heraeus-Quarzschmelze gekündigt. Er selbst besaß keinen Führer- in Hanau, mit dem ich schon seit der Vor- schein und war schon aufgrund seiner kriegszeit befreundet war. Er kannte Wohnung am Rand von Oberstedten im meine technische Qualifikation vor allem Taunus nicht nur auf einen „fahrbaren durch meine zwei Siege im Reichsberufs- Untersatz“, sondern auch auf einen wettkampf in den dreißiger Jahren. Er Chauffeur angewiesen. schrieb mir am 26. 4. 1950: „P. B. (Paul Die Villa im Grünen (Bild 8) hatte er Both GK) rief mich an und schilderte die „Haus Heliand“ 18 genannt. Dieser „Heliand“, Lage. Die Entscheidung liegt allein bei Dir, die Beschreibung des Lebens und Leidens lieber Günter. [...] Wenn das Werk Jesu in Simrocks Übertragung, entsprach (Jugendwerk, GK), dem wir um SEINET- unserer Vorkriegs-Vorstellung von Jesus WILLEN verpflichtet sind, in Not ist, so als germanischem Helden. Bei unserer müssen wir ernstlich prüfen, inwieweit wir Bibellese spielte sie keine besondere dann die hauptamtliche Mitarbeit versagen dürfen bzw. müssen, [...] Ich kann dazu 18 in Anlehnung an das altsächsische nur eins sagen: In unserem Betrieb ist Dir stabreimende Epos, abgefasst nach dem z. Zt. eine Stelle angeboten, die Dir in Hin- Vorbild von Tatians Evangelienharmonie sicht auf Deine weitere berufliche Ausbil- 28 Rolle; lediglich zur „Waldweihnacht“, die kann man den Termin des Löschens nicht wir in kleineren Kreisen draußen an einer lange hinausschieben und hilft so schnell lebenden Tanne mit unseren Mitarbeitern wie nötig! Ich bitte Dich daher, Herrn Dr. feierten, wurde die Geburtsgeschichte R. zu sagen, dass ein Missverständnis Jesu nach dem Heliand gelesen. Die aufzuklären sei, als wollten wir Dich dort innerhalb des Jugendwerkes bestehende `herausholen´, sondern er hat nicht das Pfadfinderschaft, die noch vor dem Krieg Recht über die gesetzliche Kündigungsfrist aus der allgemeinen christlichen Pfadfin- hinaus Dich uns vorzuenthalten. Hier steht derschaft (CP) 19 ausgetreten war, nannte das selbstverständliche Recht jedes sich eines Tages Heliand Pfadfinderschaft. Diakonen- und Diakonissenhauses an Ebenso wurde die 1939 gegründete seinen Gliedern über jedem anderen Kriegsbruderschaft (die im Felde stehen- Dienst. Da auch kein schriftlicher Vertrag den Mitarbeiter des Werkes) nach Kriegs- vorliegt und wir hier in fürchterlicher Not ende in Heliand Bruderschaft umbenannt. sind (ich bitte mir das aufs Wort zu Um den 20. April herum erhielt ich glauben), müssen wir Dich zum 1. Juni von PB eine Spruchpostkarte „Niemand möglichst bereits zu den Pfingst-Feierta- lasse den Glauben daran fahren, dass gen hier erwarten können.“ [...] “Dass Du Gott an ihm eine große Tat tun will“. Ich jetzt einmal in den Dingen der Ordnung hatte nie vor, gemäß diesem Lutherwort unseres Werkes eine gewisse Spannung irgend wann einmal eine große Tat zu mit einem Glaubensbruder außerhalb des vollbringen. Aber ich wußte jetzt bereits, Werkes auf Dich nehmen musst, ist doch was die Stunde geschlagen hatte. Mit sicher nicht so schlimm. Ein alter Soldat Robert Reininghaus war natürlich längst sollte in diesen Dingen ruhig und bestimmt die Angelegenheit besprochen. Er war den Weg der Verpflichtung gehen. Wir nicht schlecht erschrocken, dass ich, haben z. Zt. keine Auswahl für unseren kaum bei ihm angestellt, schon wieder verwaisten Posten, als nur Günter Knopf - gehen wollte (sollte!). Ich sagte ihm, dass Herr Dr. R. findet weit eher einen Erzieher. von Wollen keine Rede sein könne, und [...] „Also, komm herüber und hilf uns sehr versuchte ihm zu erklären, in welchem bald.“ (frei zitiert nach Paulus in Apostel- Verhältnis ich zu dem Frankfurter geschichte 16, 9) Jugendwerk stand. Ich hatte ja vor Jahren Da erreichte uns Anfang Mai die – noch vor dem Krieg (1937) – bei meiner sensationelle Nachricht, dass mein Ernennung zum Mitarbeiter im Diakonat Gefangenschafts-Freund und Roberts eines evangelischen Werkes versprochen: Bruder Werner entlassen worden sei. Die „Treue gegenüber Werk und Führung in Freude und Überraschung war natürlich Wort, Tat und Haltung, im Opfern und riesengroß, und wir konnten es kaum geduldig sein, gleichgültig an welchem Ort abwarten, bis ein Treffen möglich war. Am und ohne an mich zu denken [...]“. 8. Mai fand das große Wiedersehen in In einem Brief vom 30. 4. 1950 wies Heilbronn statt. Dorthin war Werner mich PB darauf hin, dies „alles sind zurückgekehrt, und dort hielt er seine erst Bestandteile unserer Ordnung und Deines Predigt in der Südkirche im Rahmen eines Verspruchs. Über diese Dinge diskutieren Dankgottesdienstes unter der Losung: wir mit niemandem außerhalb unserer „Der Heimkehrer Dank – Der Gefangenen Reihen. Viele beneiden uns, andere miss- Hilfe – Der Wartenden Trost“. Es war ein billigen es – wir wissen, was wir an unse- festlicher Gottesdienst um Psalm 126 – rer geistlichen Heimat haben und möchten unseren „Gefangenenpsalm“! dieses Werk nicht treulos verlassen, auch Eine Abordnung der Korntaler Rei- wenn wir draußen nicht verstanden wer- ninghaus-Familie nahm daran teil. Ich hat- den.“[...]. “Wir, das Bruderhaus, rufen te dazu einen alten Opel P 4 gemietet und einen in Korntal vorübergehend unterge- brachte die ganze Gesellschaft – mit Kin- kommenen Bruder zurück, da es bei uns dern 7 Personen! – zu dieser Veranstal- [...] `brennt´. Wenn es aber brennt, Günter, tung. Sogar Werners und Roberts alte Mutter und Tante waren mit von der Par- tie. Die erste Autofahrt nach so langer 19 selbständige christliche Pfadfinder- Pause am Steuer (über 4 Jahre) wurde für schaft ohne Bindung an die Gemeinde- mich eine ziemlich mulmige Angelegenheit Jugend – auf der Autobahn mit so viel Personen. Bild 6 Paul Both

Bild 7 Heinrich („Heiner“) Mohn, ca. 2002

Bild 8 Haus Heliand, Oberstedten/Ts. 30 Bild 9 Haus Heliand, Ferienheim Bild 10 Mein Zimmer im Ferienheim 32 33 Zum Glück herrschten damals im Straßen- wird; und das läßt uns trotz allem getrost verkehr noch nicht die heutigen Verhältnis- und freudig sein.“ Während sie diese Zei- se. len schrieb, war ihr Mann schon auf dem Im Anschluss an den Gottesdienst Weg zu ihr! trafen wir uns noch zu einem ausführliche- Zum Zeitpunkt von Werners Rück- ren Bericht des glücklichen Heimkehrers: kehr meldete die TASS 21 (am 4. Mai 1950) Bald nach meinem Abschied von ihm im unter der Überschrift: „UdSSR entließ alle Sevastopoler Lager ist er in ein Simfero- Kriegsgefangenen“, dass „die überwie- poler Gefängnis eingeliefert worden. Dort gende Mehrheit der deutschen Kriegsge- erwartete er in einer Art Untersuchungs- fangenen bereits bis Ende 1948 aus der haft den angekündigten Prozess. Erst viel Sowjetunion nach Deutschland repatriiert später erfuhr er, unter welchem der drei worden war und dass die Repatriierung Anklagepunkte er sich verantworten sollte: der dort verbliebenen Kriegsgefangenen 1. amerikanischer Spion, weil er in den nach einem von der Sowjetregierung USA studiert und bei seiner Rückkehr bestätigten Plan durchgeführt und im nach Deutschland den indirekten Weg Laufe des Jahres 1949 abgeschlossen über Japan – Indien gewählt hatte; 2. psy- werden sollte. [...] Damit ist die Repatriie- chologische Unterstützung der deutschen rung der deutschen Kriegsgefangenen aus Soldaten als Kriegspfarrer im Kampf der Sowjetunion nach Deutschland bis gegen die Sowjetunion; 3. antisowjetische zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollständig Agitation als Pfarrer im Gefangenenlager. abgeschlossen worden“. „Lediglich 9717 Als er nach kurzer Verhandlung schließlich Mann, die wegen Kriegsverbrechen ver- zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt urteilt waren, ferner 3815 Mann, gegen die worden war, fragte er das “Hohe Gericht“, noch ein Verfahren anhängig sei, sowie 14 wie es mit den beiden anderen Anklage- Kranke, die nach ihrer Gesundung heim- punkten stehe. Darauf bekam er zur Ant- kehren sollten, würden noch zurückge- wort, ob ihm 25 Jahre nicht genügten? halten.“ 22 Seine Entlassung in die Heimat erfolgte Die „14 Kranke, die nach ihrer aus dem Gefängnis heraus, in dem er Gesundung heimkehren“ sollten, hörten eigentlich auf den Abtransport ins Strafla- sich rührend an und sollten wahrscheinlich ger wartete. Eine Begründung für diese die Seriosität dieser Meldung belegen. Es unbegreifliche Wende wurde nicht geliefert bestand nämlich weiterhin der begründete und ist auch bis heute nicht bekannt Verdacht, dass diese Nachricht nicht geworden. Das Ganze war typisch und stimmte. Gleichwohl erschienen in der deckte sich mit unseren Erfahrungen bis DDR Meldungen, wonach die Existenz dahin im Umgang mit den Sowjets: deutscher Kriegsgefangener in der Geheimhaltung bis zur letzten Minute Sowjetunion heftig geleugnet wurde. Die schien bei ihnen oberstes Gebot zu sein. Bundesregierung und die Westmächte Werners Frau Agnes hatte mir noch wurden als Hetzer und Lügner bezeichnet. am 16. April geschrieben: „[...] bis Novem- Das änderte sich mit dem Wechsel ber letzten Jahres hatte ich nicht an eine in der Führung der UdSSR nach dem Tod Verurteilung gedacht. Wenn ich auch im Stalins am 5. 3. 1953. Nach dem Aufstand Gebet die Heimkehr Werners nie gefordert am 17. Juni 1953 in der DDR bemühte habe, so war es doch das stille Hoffen auf sich auf einmal die DDR-Führung in Ver- diesen Tag, das mich all die Jahre in handlungen mit der UdSSR in Moskau Freud und Leid begleitet und getragen vom 20. bis 22. August um eine Vereinba- hat.- Ich halte mich daran, daß Gott, der rung zur Heimführung der seither noch uns einst aus dem wütenden Flammen- geleugneten Gefangenen. In einer sowje- 20 meer rettete , auf unserem ferneren Lebensweg uns führen und beistehen 21 Sowjetische Nachrichtenagentur 22 Zahlen und Informationen aus „Sowjeti- 20 der schwerste Luftangriff auf Heilbronn sche Kriegsgefangene in Deutschland – am 4. Dezember 1944, bei dem die Stadt Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjet- zu 80% zerstört wurde und Agnes ihre union – Droste Verlag Düsseldorf – gesamte Habe verlor. Sie konnte buch- Begleitbuch zur Ausstellung vom 1. Juni stäblich nur ihr nacktes Leben und das bis 24. September 1995, Seiten 88 ff. ihrer beiden Töchter retten. 34 tischen Pressemeldung wurde Grotewohl 23 sich faktisch die von Ost und West aner- eine baldige Entlassung zugesagt. Dar- kannte Zweiteilung Deutschlands. aufhin durften noch einmal über 12.000 (!!) Dazu ein Zitat:„Was blieb von Ade- Kriegsgefangene heimkehren. Es wurde nauers spektakulärer Reise nach Moskau? betont, dass die Begnadigung dieser Erstens die Zementierung der Teilung „Kriegsverurteilten“ der Initiative der DDR Deutschlands. Zweitens der Mythos, es zu verdanken sei. Mit dieser Darstellung sei Adenauer gewesen, der durch zähes gelang der DDR-Führung ein Beitrag zur Verhandeln die letzten deutschen Solda- Stabilisierung ihrer innenpolitischen Situa- ten aus der sowjetischen Kriegsgefangen- tion nach den Ereignissen des 17. Juni . schaft befreit habe. Drittens die absolute Konrad Adenauer wird bis heute als Mehrheit für den Kanzler bei der Bundes- der „Befreier“ deutscher Soldaten aus tagswahl 1957.“ 25 – Die Kirchenglocken sowjetischer Gefangenschaft gefeiert. Seit läuteten überall und Dankgottesdienste Öffnung der Archive in Ost und West aber wurden gefeiert, aber gleichzeitig war die muss man dieses Bild korrigieren. Es geht Knechtschaft der 17 Millionen Deutschen hier um die Moskaureise Adenauers vom in der DDR für Jahrzehnte besiegelt wor- 9. – 13. September 1955 auf Einladung den. Dies war offensichtlich der Preis für der sowjetischen Regierung. Mit der Auf- die Entlassung der deutschen Kriegsge- nahme der Bundesrepublik in die NATO fangenen. (9. 5. 1955) war sie „automatisch“ souve- Die deutsche Presse feierte gleich räner Staat geworden. Der SU konnte dies einen doppelten Sieg des Kanzlers: nur gelegen sein, da sie mittlerweile die Befreiung der deutschen Kriegsgefange- „Zwei-Staaten“-Theorie für Deutschland nen und weitere internationale Anerken- vertrat. Besiegelt sollte alles werden durch nung durch die Aufnahme der diplomati- die gegenseitige Anerkennung. Eigentlich schen Beziehungen mit der SU. Irritiert war Adenauer dagegen. Das geht aus reagierte das Ausland. Ein Teil der Aus- dem hervor, was Hallstein 24 dem britischen landspresse titelte: „Demütigende Nieder- Botschafter in Bonn gesagt hatte, er sei: lage für Adenauer“, „Großer Erfolg der „gegen die Aufnahme diplomatischer sowjetischen Diplomatie“, und Adenauers Beziehungen mit der Sowjetunion“. „Politik der Stärke am Ende“. 26 Aber die Sowjets bekamen doch, Nach dem erfreulichen Bericht von was sie wollten. Die immer wieder ge- der Heimkehr Werners und dem damit schickt lancierte Kriegsgefangenenfrage verbundenen Problem der letzten Heim- machte es möglich: nicht am Verhand- kehrer nun wieder zurück zu den Tagen in lungstisch, sondern während des Korntal: Galaempfangs am vorletzten Tag im Am 22. Mai erhielt ich erneut Post Zwiegespräch zwischen Adenauer und von PB, in der er mitteilte, dass er mich in Ministerpräsident Bulganin. Merkwürdi- einem Brief an Dr. R. auf Mitte Juni anfor- gerweise stimmte Adenauer dem gemein- dern werde, gewissermaßen ein Kompro- samen Kommuniqué zu. In ihm wurden die miss der Art, „dass wir uns mit Ihnen in die Kriegsgefangenen mit keinem Wort strittige Zeit von Mai bis Juli redlich teilen“. erwähnt, obwohl er dies gewünscht hatte. Dieser Brief, der mir im Doppel zuging, Hier musste sich der Kanzler mit der enthielt eine Übertreibung, die mir erst deutlich wurde, als ich die Stelle angetre- mündlichen Zusage der Sowjetführung ten hatte: „Wir (haben) hier alle möglichen begnügen. Schriftlich gab es nur die Ver- Versuche gemacht, eine andere Kraft zu einbarung der Aufnahme diplomatischer finden, sind aber immer wieder belehrt Beziehungen zwischen der Sowjetunion worden, dass für diesen einzigartigen und der Bundesrepublik. Daraus ergab Vertrauensposten in unserem Werk z. Zt. nur unser Bruder Knopf in Frage kommt“. Die „Tätigkeiten des besonderen Vertrau- 23 Otto, 1894-1964, zwang 1946 die SPD in der SBZ (Sowj. Besatzungszone) zum Zusammenschluss mit der KPD, seit 7. 25 Joseph Foschepoth, Professor der 10. 1949 Ministerpräsident und Vorsitzen- Zeitgeschichte an der Universität Frei- der des Ministerrates der DDR. burg. In „Dokumentation“ der Frankfurter 24 1951-58 Staatssekretär im Auswärtigen Rundschau v. 1. 9. 2005, Seite 9. Amt. 26 a.a.O., S. 9. 35 ens“ waren zunächst: Kraftfahrer („Chef- 3. Juli meine Nachfolge. Damit hatte fahrer“), Bürodienste und Bauarbeiten in Robert, der „Boss“, vollen Ersatz für mich, dem Haus Heliand benachbarten Ferien- mit dem er sehr zufrieden sein konnte – heim. (Bild 9) und er war es auch . Es war schon Juni, kurz vor meiner Nach all dem Hin und Her war klar, Abreise von Korntal, da erreichte mich dass ich bei PB nicht mit Pauken und abermals ein Brief von PB, in dem er mir Trompeten empfangen wurde. Es erfolgte u. a. folgendes eröffnete: „1. Es erscheint schnellstens eine Einweisung in mein nunmehr fast ausgeschlossen, dass wir für Tätigkeitsfeld, und ich übernahm zuerst Deine Stelle im Werk vor Ostern 1951 eine ein mickriges Auto, einen „Adler“ Zweitakt. andere Kraft haben werden. Da Du nun Er zählte nach dem damaligen Sprachge- auch erst jetzt, 14 Tage vor den Sommer- brauch zu den Leukoplastbombern, weil lagern, kommst, ist es ja ohnedies eine die Karosserie infolge des Mangels an reichlich kurze Zeitspanne, wenn Du am Stahl aus Ersatzstoffen gefertigt war. Trotz 30. 9. schon wieder ausscheiden würdest. allem war er für die Nachkriegszeit eine Immerhin aber sprachen wir bislang vom Kostbarkeit, auch wenn er noch aus der Herbst. Und nun? Kannst Du Dir die Freu- Zeit vor dem Krieg stammte. Er zählte digkeit schenken lassen, über den Winter aber damit zur Friedensware, eine bei uns auszuhalten? – 2. Wegen des Bezeichnung, die wenigstens - wie auch starken Andranges zu den Sommerlagern bei vielen anderen Dingen - für Qualität werden wir jede Ecke des Ferienheimes in bürgte. Er hatte eine Anhängerkupplung, H (Haus Heliand – GK) bis Anfang August und ich fragte mich, was er wohl ziehen brauchen. Du müßtest daher provisorisch sollte, wo er doch eigentlich mit sich selbst in das Zimmer unserer Hausangestellten genug zu tun hatte. (in der Villa) ziehen. Meine lb. Frau will mit Ein Dienstvertrag mit vier Paragra- der Neueinstellung einer Kraft bis dahin phen wurde noch am Ankunftstag vorge- warten (!)“. legt und unterschrieben. §1 enthielt die Punkt 2 war für einen ehemaligen Höhe meines Gehaltes: DM 181,50 Kriegsgefangenen überhaupt kein Pro- (monatlich!) „außerhalb des Tarifs“ [...], blem. Bei „1“ war es mir wichtig, dass „das Recht wechselseitiger monatlicher wenigstens auf diese Weise schriftlich der Kündigung, jedoch wird in der Regel ein Herbst als Endzeitpunkt dokumentiert war, Ausscheiden aus der hauptamtlichen Mit- denn dieses Datum ging in der Folgezeit arbeiterschaft des Werkes nur zu Herbst völlig unter, auch wenn ich mir die „Freu- und Frühjahr jeden Jahres möglich sein.“ digkeit schenken ließ“, fast 7 Jahre „aus- §2 beschreibt das Arbeitsgebiet: Büro- zuhalten“. Man verzeihe mir den sarkasti- dienst in Oberstedten und Frankfurt, War- schen Ton, aber diese in manchen christli- tung und Bedienung des Wagens, Arbei- chen Kreisen grassierende „freundliche“ ten in Haus und Gelände des Anwesens in Art, vermischt mit (oft aus dem ursprüng- Oberstedten und gelegentlicher Jugend- lichen Zusammenhang genommenen) bib- dienst. §3 und 4 betrafen allgemeine Ver- lischen Sprachelementen, schlägt mir pflichtungen zu gewissenhafter Arbeit und heute noch stark aufs Gemüt; damals (lei- den Beginn der Gültigkeit des Vertrages. der) noch nicht - vermutlich war ich selber Unterkunft fand ich, wie angekün- „einer von der Sorte“. digt, zunächst im Zimmer der Angestellten Ich packte also Mitte Juni meine des Hauses, später im Ferienheim ein Sieben Sachen (viel mehr waren es auch kleines Zimmer (Bild 10) mit einer Schlaf- nicht), schickte sie per Post nach H und kammer, wenig größer als eine Gefäng- setzte mich auf meine Quick. Fahrrad und niszelle. Waschgelegenheit bestand in Geige blieben zurück und warteten auf Form eines Hahns im Keller des Jugend- eine geeignetere Transportmöglichkeit. heimes. Ich zog es aber vor, nach dem Der Abschied war nicht leicht; da es mir morgendlichen Waldlauf weit oberhalb des aber gelungen war, selbst einen Ersatz für Hauses an einer günstigen Stelle des mich zu gewinnen, fuhr ich wenigstens mit Mühlenbaches zu baden. Das war „zünf- besserem Gewissen ab. Carl-Ernst Schulz tig“ und gefiel mir sehr, zumal im Heim in Leipzig, von dem ich wusste, dass er Wasser gespart werden musste; denn es sich gerne einmal im „Westen“ umgese- stammte aus einem privaten, immer wie- hen hätte, interessierte sich für die Tätig- der versiegenden Brunnen der Villa. keit als Erzieher und übernahm bereits am 36 Jährlicher Höhepunkt: das Ferienlager

Nach einigen Tagen Arbeit im Büro, 1. 5. des Jahres abgeschafft, aber der wo mir meine Kenntnisse in Stenographie freie Lebensmittelmarkt funktionierte noch und Schreibmaschinen-Schreiben zugute nicht richtig. Eine große Hilfe waren kamen, wurde ein Einachs-Anhänger Bestände aus Stiftungen der Amerikaner: gepackt. Jetzt wusste ich, wozu der vor allem Trockenmilch, Trockengemüse, „Adler“ die Kupplung hatte. Das erste Trockenkartoffeln und Teigwaren. große Ferienlager nach dem Krieg außer- Meine Aufgabe bestand im Wesent- halb unseres 40 Betten-Ferienheimes lichen aus Arbeiten in technischer Hin- stand bevor: 120 Jungen in dem traditio- sicht. Viel musste noch vor Ankunft der nellen Ferienheim Haslachmühle im Lagerteilnehmer repariert werden. Hier Bodenseeland. Traditionell deswegen, weil brannte das elektrische Licht nicht und schon dieses Haus von Boths Vorgänger, dort waren die Doppelstock-Betten nicht Albert Hamel, vor dem 1. Weltkrieg zu gebrauchen. Improvisation hatte ich ja benutzt worden war. Der Anhänger war in Russland gelernt, während des Krieges schwer beladen. Wohltuend klein war und in Gefangenschaft. Der Hausmeister, mein Gepäck: die Nachwirkungen der der neben dem Heim im einzigen kleinen Gefangenschaft machten sich hier noch Steinbau wohnte, lieferte das nötige bemerkbar. Die Fahrtstrecke verlief auf Werkzeug und half selbst nach Kräften. Es der Autobahn ab Bad Homburg über zeigte sich, dass der „einzigartige Vertrau- Frankfurt – Karlsruhe. Die Steigung von da ensposten in unserem Werk“, für den „nur an in Richtung Pforzheim machte unserem unser Bruder Günter Knopf in Frage“ kam „Audöle“ (schwäbisch) schwer zu schaf- (Originalton PB in seinem Brief v. 25. Mai), fen. Mehrmals mussten wir anhalten und darin bestand, dass ich zum „Mädchen für unser „Wägele“ verschnaufen, d. h. alles“ wurde. Das änderte sich im Grunde abkühlen lassen. Wenn ich mich recht auch in der Folgezeit kaum. erinnere, endete für unser Ziel die Auto- Da das Lagerleben eine solch große bahn in Ulm, und wir fuhren – wie man so und prägende Rolle im Jugendwerk sagt – über die Dörfer zur Haslachmühle, spielte, möchte ich etwas ausführlicher wo wir bei Dunkelheit endlich anlangten. darüber berichten. Über allen Lagern für Immerhin: der „Adler“ hatte durchgehalten! 13 – 17Jährige stand die ständige Losung Am nächsten Morgen, bei Tages- aus 2. Timotheus 1, 7: Gott hat uns nicht licht, inspizierten wir das Heim. Es war ein gegeben den Geist der Furcht, sondern durch das Alter schwarz gewordener der Kraft, der Liebe und der Zucht. Dieser Holzbau für die Unterkünfte und die Spruch hing schon in der NS-Zeit in Form Küche, getrennt davon – ebenfalls auch eines Großplakates bei jeder Freizeit für aus Holz – der Tagesraum mit Speisesaal. Jungen hinter dem Leitertisch, für alle Das ganze Anwesen lag idyllisch in einem sichtbar. Heute heißt es ja nicht mehr Tal, von einem Bach durchflossen, mitten „Zucht“, sondern „Besonnenheit“. Ich weiß in einem Waldgebiet. Schon am Nachmit- nicht, ob dies die bessere Übersetzung ist, tag sollten die Jungen kommen. Bis dahin und ob er in dieser Form noch von PB waren noch viele Arbeiten fällig: die Zim- ausgewählt worden wäre. Denn Zucht mereinteilung und vor allem die für die gehörte zu den beliebtesten Wörtern in Küche. Sie war „primitivst“. Gekocht wurde seinem Repertoire, es kam gleich nach in großen Aluminium-Töpfen auf Herden, Gehorsam! die mit Holz und Kohlen zu heizen waren. Ein Tag eines solchen Lagers (in der Da staunten die drei Mütter, die sich NS-Zeit hieß das Rüstzeit, später Freizeit) ehrenamtlich gemeldet hatten, für das verlief nach einem Normal-Tagesplan und leibliche Wohl der ganzen Gesellschaft zu begann mit der Losungsausgabe (das sorgen. Aber die Kriegs- und Nachkriegs- Lager war dazu – wenn Platz vorhanden – zeit hatte uns alle bescheiden gemacht, im Karree angetreten, Bild 11). Losungen und so klappte es in den kommenden waren in der Regel ausgewählte Bibel- Tagen vorzüglich. Die Versorgungsfrage verse, möglichst mit einem pädagogischen war immer noch recht schwierig. Zwar Inhalt. Sie war eingerahmt von dem Mor- waren die Lebensmittel-Marken seit dem genlied „Lobet den Herren, alle die ihn Bild 11 Losungsausgabe im Ferienlager

Bild 12 Geländespiel 38 Bild 13 „Morgentoilette“ am Bach 40 41 ehren ...“ Danach Einrücken in den Spei- sahen. Die Gesamtverantwortung, auch sesaal zum Frühstück. Am Vormittag fand für den Speiseplan, die Anlieferung der meistens eine Bibelarbeit statt. Sie wurde Lebensmittel und die Abrechnung trug der natürlich in jungengemäßer Form gestal- Küchenleiter, zumeist ein hauptamtlicher tet. Wenn es gelang, in dieser Stunde Mitarbeiter. Ich hospitierte bei ihm und Probleme der vorhandenen Altersstufe sah, dass die Aufgabe zu dieser Zeit, 120 anzusprechen, dann war es keinesfalls Mäuler zu stopfen, nicht leicht war. langweilig. Immer wieder wurde von Teil- Schlimm wurde es, wenn die Jungen nehmern erklärt, dass sie auf diesen Teil meinten: hier musst du dich „ran halten“, des Tagesprogramms nicht verzichten sonst kriegst du nicht genug. Wenn die möchten. „Meute“ bei einem Essen mitbekam, dass In der nun folgenden Zeit wurden für die laufende Mahlzeit die Vorräte zu Spiele oder irgend ein Sport veranstaltet, Ende gingen, da bekam sie erst so richtig meistens in der Form von Wettkämpfen. Hunger. Das war eine peinliche Situation Das Lager war vom ersten Tag an in eine für den Küchenchef. Er musste dann z. B. blaue und eine rote Mannschaft eingeteilt, für belegte Brote oder ähnliches sorgen. die sich aus kleinen Gruppen zusammen Dieses psychologische Problem löste ich setzten. Ältere Mitarbeiter waren die später als Küchenchef mit folgendem Abteilungs- und Gruppenleiter. Am Trick: Bei der ersten Mahlzeit musste „Schwarzen Brett“ konnte man aus der immer wieder Nachschub angeboten wer- Punktzahl den aktuellen Stand des Wett- den. Das ging am besten mit Nudeln. bewerbs zwischen Blau und Rot verfolgen. Daher kommt wohl auch der Ausdruck Nach dem Mittagessen gab es eine „nudeln“ – eine andere Form des Mästens. “Stille Freizeit“; auf das „still“ wurde großer Es wurde also eine Riesenmenge im Wert gelegt. Das Lager sollte ja auch Überfluss gekocht, sodass der Küchen- Erholung und Besinnung bringen. Kleine chef bei der Mahlzeit immer wieder erklä- Wanderungen, Sport oder Spiele standen ren konnte: „Es ist noch Essen da, Leute, anschließend auf dem Programm bis zum was ist mit euch los? Es muss viel mehr Abendessen, vor dem eine kurze „Fertig- gegessen werden!“ Wenn dann viel übrig mach-Freizeit“ geschaltet war zum blieb, wurde das bei der nächsten Mahlzeit Waschen, Putzen u. dergl. entsprechend verplant. Das war bei Der Tag klang aus mit einer Abend- Nudeln kein Problem. andacht, die wiederum von einer „Stillen Gesungen wurde aus „Unsere Lie- Zeit“ eingeleitet wurde. Da konnte man – der“, eine Auswahl im Selbstverlag des auch zu zweit oder dritt - sich im näheren Jugendwerkes. Der erste Teil enthielt Heimgelände ergehen; es sollte aber nicht geistliches Liedgut, zumeist aus dem Kir- mehr laut werden. Es war meist schon chengesangbuch, natürlich solche, die für dunkel, wenn danach alle noch einmal im Jugendliche geeignet waren. Der zweite Karree antraten. Es erklang aus einem Teil war eine kurze Sammlung von Volks- Lautsprecher irgend eine Melodie. Nach und Wanderliedern, dabei auch insbeson- dem Gesang des Abendliedes „Auf denn, dere für die Jungschar (9 – 13-Jährige) die Nacht wird kommen...“ begaben sich einige lustige oder sog. „Schnaderhüpferl“. alle zur Nachtruhe. Das war so gegen 22 Diese Auswahl hat sich m. E. gut bewährt Uhr. Für die Leiter und Mitarbeiter war gegenüber großen Liederbüchern. Die damit der Tag längst nicht zu Ende. Das beschränkte Zahl und die dadurch Programm des nächsten Tages musste bedingte öftere Wiederholung ließ die noch besprochen und die verschiedenen Jugendlichen sehr schnell einen kleinen Dienste eingeteilt werden. Tagesschluss Stamm lernen. In immer wieder neuen für sie war meistens erst lange nach Mit- Auflagen wurde dieses Heftchen ergänzt ternacht. und auf den neuesten Stand gebracht. Die Die Küche hatte ihr eigenes Leben. Jungen konnten sie zu einem geringen Die ehrenamtliche Arbeit der zwei bis drei Preis in den Gemeinde-Jugendstunden Mütter bestand in der Zubereitung der oder auch auf den Lagern erwerben. Mahlzeiten. Alle anderen Tätigkeiten wie Ein Spiel hat zwei Kriege überstanden, Auftragen, Abtragen und Spülen war obwohl es nicht gerade friedlich war: das Sache des Küchendienstes, den im Speerspiel. Schon als 10-jährigen hat es Wechsel Gruppen von Blau und Rot ver- mich begeistert. Selbst in der Verbots- 42 zeit, also ab 1933, haben wir es – wenn Bei allen Wettkämpfen standen sich wir „unter uns“ waren – hervor geholt. Die „Rot“ und „Blau“ als Gegner gegenüber. Speere bestanden aus Tonkin-Stäben (so Insbesondere bei Einzelausscheidungen etwas Ähnliches wie ein „Spanisch-Rohr- wurden die Kämpfer von ihrer Partei stock“, nur etwas stärker im Durchmes- angefeuert und beim Sieg mit lautem ser), ca. 1,50 m lang; am einen Ende war Getöse gefeiert. Ich habe damals begei- ein dicker Korken fest angeleimt, vorne stert mitgemacht, denn es gab auch gepolstert. Die Herstellung und die immer Duelle unter den Leitern. Leider erst spä- wieder notwendige Reparatur nannten wir ter habe ich mich gefragt – wie auch bei romantisch „Speerschmiede“. Und mit die- militärisch anmutenden Ordnungsformen, ser „Waffe“ wurden die verschiedensten ob ich nicht als Teilnehmer eines grausa- Kämpfe ausgefochten: Duelle, Flussge- men Krieges eher hätte Einspruch erhe- fechte und Geländespiele. Beim Duell ben sollen. Bei dieser Meinung bin ich bis standen sich zwei Kämpfer in getrennten heute geblieben, besonders wenn bei den Feldern gegenüber, unterstützt durch je Pfadfindern sog. Ordnungsübungen in einen Sekundanten. Auf einen Pfiff ödes Exerzieren übergingen: „Rechts um! begannen beide sich gegenseitig „abzu- – Links um!“ usw. Aber kämpferische werfen“. Treffer galten im KO-System nur Spiele sind in dem Alter, in dem unsere an den Beinen. Die Sekundanten hatten jungen Lagerteilnehmer damals standen, die Aufgabe, Speere, die aus den Feldern nicht unbedingt gefährlich. Wenn ich heute heraus geflogen waren, in der hinteren sehe, wie Kinder am Computer Kämpfe linken Ecke wieder bereit zu legen. Mit der mit Maschinengewehren und Maschinen- einen Hand wurde geworfen, mit der ande- pistolen stundenlang begeistert austragen, ren wurden evtl. Treffer mit den Reserve- wobei es immer um nicht wenige Tote Speeren abgewehrt. Ein Schiedsrichter geht, oder wenn der Superman reihen- zählte die Treffer, begann und beendete weise seine Feinde „umlegt“, dann meine das Spiel. Dann benannte er den Sieger. ich, dass demgegenüber unsere früheren In ähnlicher Weise gab es „Fluss- Kampfspiele vergleichsweise noch harm- gefechte“, bei dem sich zwei Parteien in los waren, in Bewegung brachten – und zwei durch einen „Fluss“ getrennten Fel- Fairness förderten. dern gegenüber standen. Durch Pfiff Schließlich sind ja auch die deut- wurde der Kampf begonnen und wieder schen Märchen oft ganz schön blutrünstig. beendet. Gekämpft wurde, bis in einer Ich denke da nur an „Rotkäppchen und Partei der letzte Kämpfer „abgeworfen“ der Wolf“, der die Großmutter verschlun- worden war. Hier konnte der Unparteiische gen hat; an Hänsel und Gretel, wo die natürlich im Kampfgetümmel nicht jeden Hexe an den durch das Gitter gestreckten Treffer beobachten. Daher galt bei diesem Fingern maß, ob Hänsel nicht bald Spiel für alle Teilnehmer unbedingte Ehr- schlachtreif waren, und an das arme lichkeit. Es war Ehrensache, dass man Schneewittchen, das die neidische Mutter das Feld verließ, wenn man getroffen mit einem Apfel vergiftet hatte. Und so wurde, auch wenn es „niemand gesehen was lesen wir ja unseren Kindern unbe- hatte“. kümmert vor. Höhepunkt des Speerkampfes war Eine Besonderheit war der Tage- das Geländespiel (Bild 12): Jeder Teilneh- sausflug mit einem gecharterten Omnibus mer hatte bei Beginn ca. 5 Speere und über den Bodensee hinaus in die Schwei- einen gut sichtbaren Wollfaden – den zer oder Österreichischen Alpen, für Lebensfaden - um den rechten Oberarm, Jugendliche, die durch Krieg und Nach- den er selbst abriss, wenn er bei einem kriegszeit daheim oft kaum über die Orts- Treffen mit dem Gegner „ab“ war. Auch grenzen hinaus gekommen waren, ein hier war wieder unbedingte Ehrlichkeit grandioses Erlebnis. Natürlich kam auch Voraussetzung für das Gelingen. Es war der Humor nicht zu kurz. Der Lagerzirkus ehrenvoller, als Getroffener das Spiel zu gab dazu ausreichend Gelegenheit. Mit verlassen, als mit einem schlechten lustigen Sketches in abenteuerlichen Ver- Gewissen weiter zu kämpfen. Interessant kleidungen und allerlei Schabernack wett- war, dass es ganz selten Streit gab über eiferten die einzelnen Gruppen miteinan- die Frage, wer wen getroffen hatte. der, bei denen die jeweiligen Zuschauer sich förmlich ausschütteten vor Lachen. 43 Zu schnell ging ein solches Lager zu Bibellese? Ich habe ja selbst einmal als Ende. Der letzte Abend wurde besinnlich 11-jähriger solche Lager oder Jugend- gestaltet mit Musik, Vorlesen und einer kreise besucht. Ich könnte darauf keine Abschluss-Andacht. Zum letzten Mal eindeutige Antwort geben. War es die sammelte sich die Lagergemeinschaft im Atmosphäre, das Vorbild dieses oder großen Karree und sang das Abendlied. jenes Leiters oder Führers, die Freund- Dann gingen alle still in ihre Unterkünfte. schaften, die hier begannen und zum „Still“ wurde nur angesagt, aber nicht größten Teil bis heute gehalten haben? direkt befohlen, aber es war klar, dass der War es das Natur- und Gemeinschaftser- sonst immer wieder vorkommende Abend- lebnis auf Fahrt und Lager, die Spiele oder oder Nachtspuk jetzt ausfiel. Irgendwie die Geschichten, die vorgelesen wurden? waren die Jungen auch ein wenig stolz Was heißt hier übrigens „Atmos- darauf, dass „man sich gelegentlich mal phäre“? War dies der Geist, der im Gro- zusammennehmen kann.“ ßen und Ganzen dort herrschte? Hat sich Man wird vielleicht fragen, ob eine vielleicht doch das ausgewirkt, was hier solche Veranstaltung für die einzelnen und da in einer Andacht oder Bibelarbeit Teilnehmer überhaupt bezahlbar war. angeklungen war? Es muss doch mehr Staatliche Zuschüsse und die der gewesen sein, als nur eine oberflächliche einzelnen Kirchengemeinden sowie ein Begeisterung, sonst hätte es bei vielen großer Freundeskreis des Jugendwerkes nicht durchgehalten, ein ganzes Leben sorgten dafür, dass aus finanziellen lang, bis heute. Es hat uns schließlich Gründen keiner daheim bleiben musste. auch Anderes begeistert und ist dann nur Die Lager hatten unter anderem eine Episode geblieben! Sollte dies hier auch eine segensreiche Wirkung bis in die womöglich mit dem Heiligen Geist einzelnen Jungenkreise hinein, in denen ja zusammenhängen, mit dem zu rechnen vorher auch für die Teilnahme geworben auf einem evangelischen Jugendlager worden war. Interessant ist auch, mit wel- nicht gerade unpassend wäre? Es geht ja chen Gründen viele Eltern für die Teil- dabei nicht um religiöse Verzückungen mit nahme ihres Sprösslings waren: „Da lernt „verzwerbelte Aage“ (verdrehten Augen), er nichts Schlechtes!“ war die am weite- wie es der Frankfurter Mundartdichter sten verbreitete Meinung. Sicherlich hatten Friedrich Stoltze einmal ausgedrückt hat; sie damit nicht Unrecht; auch wenn es Verhaltensweisen also, die jedenfalls mit allgemein etwas zu „billig“ war. Denn dieser Welt nichts zu tun haben. Ich mancher Junge lernte bei uns auch dies glaube immer mehr, dass es zutiefst und das, was Eltern schätzen, und wenn natürliche Vorgänge sind, wenn Gott, wie es in Zukunft nur die sauberen Fingernä- ihn uns Jesus vorgestellt hat, in unsere gel waren, die wir vor dem Einrücken zum Welt hinein wirkt. Er ist nicht nur etwas Frühstück immer wieder mal überprüften. „Jenseitiges“. Und was waren da oft für schwarze „Picobello“ sauber verließen wir „Schippen“ dabei. „Werde mir nur nicht zu unsere alte Haslachmühle am Ende der fromm!“ war dagegen die Angst mancher Freizeit und wussten, dass es nicht das Eltern, wenn ihr Junge mit uns „auf Lager“ letzte Mal gewesen war, dort Lager durch- ging. geführt zu haben. Unser „Adler“ mit Es ist schwer zu sagen, was hier Anhänger brachte uns gut wieder nach und da auch Anlass zu tiefer gehenden Hause, das heißt nach Haus Heliand, wo Erlebnissen gab. War es „nur“ die abendli- nun Lager mit kleineren Teilnehmerzahlen che Andacht oder die morgendliche auf uns warteten. 44 Alltag

In der Zeit zwischen den Lagern, die Gespräch geführt. Aussprachen über grö- in ihrer Mehrzahl in dem werkseigenen ßere, zeitraubende Probleme fanden in H Heim bei Haus Heliand stattfanden, war statt. Man fuhr dazu mit der Tram Nr. 25 ich gewissermaßen ein „Mehrzweck- von Frankfurt über Oberursel fast bis zur Angestellter“. Da kamen mir die Bastelar- Hohemark und ging dann zu Fuß einen beiten und Experimente im Elternhaus Waldweg ca. 30 Minuten nach Haus zusammen mit meinem 7 Jahre älteren Heliand . Bruder, meine handwerkliche Lehre, Ich selbst machte an diesen Freita- meine Erfahrungen als Kraftfahrer im gen Besorgungen in der Stadt oder half Krieg und meine vielfachen Tätigkeiten als bei anfallenden Büroarbeiten in der Kanz- Kriegsgefangener zugute. Der „Adler“- lei. Von 1952 an fuhr ich mit dem Schnell- Kraftwagen war nicht nur sehr schwach, er bus am frühen Nachmittag nach Bad war auch mittlerweile ein klappriger Homburg zurück, wo man mir die männli- Kasten geworden. Da musste ständig che Jugendarbeit in der Erlöser-Gemeinde irgend etwas repariert werden. Es gab und in Gonzenheim übertragen hatte. also viel zu tun. Zum Glück änderte sich Spätabends – nach 22 Uhr – kehrte ich das nach dem Kauf eines neuen VW- zur Kanzlei zurück, wo PB seine Nachtsit- Cabriolets. Das war natürlich für mich ein zungen mit Pfadfinderführern oder Mitar- „edles“ Fahrzeug, das nur in der Einfahr- beitern hielt. Weit nach Mitternacht kehr- periode besondere technische Pflege ten wir nach H zurück, oft erst in der Mor- brauchte. gendämmerung. Mit diesem Wagen chauffierte ich PB An dem darauffolgenden Samstag- durch die Lande. Regelmäßige Fahrten Vormittag hatte ich theoretisch frei. Viel führten uns freitags nach Frankfurt. Dort wurde aus der Ruhe aber nicht, weil ich befand sich in der Stadtmitte, in der Neuen froh war, in dieser „Frei“-Zeit Arbeiten Schlesinger Gasse, die „Kanzlei“, die erledigen zu können, die dringend getan Zentrale des Gesamtwerkes des „Evange- werden mussten. Der Samstag war auch lischen Jungen- und Jungmännerwerkes günstig für Hausbesuche bei den Eltern in Hessen und Nassau“. Der/die aufmerk- der Jugendlichen, die es zu schätzen same Leser/in merkt, dass wir mit Mäd- wussten, wenn ich mich als der Leiter der chen (leider!) nichts zu tun hatten. Die Jugendgruppe ihres Sohnes vorstellte. Ich einzige weibliche Person weit und breit war zwar kein kirchlich Angestellter; aber war die Büroleiterin der Kanzlei in Frank- was unsere Arbeitszeit anbetraf, galt auch furt, Frau Hoffmann, eine ältere Dame. Sie im Geheimen für uns der Liedvers „Gott war zuverlässig, arbeitsam und wusste vor soll´n wir billig loben“. (Im neuen Kirchen- allem mit den Jugendlichen umzugehen, gesangbuch ist der Wortlaut des letzten die hier täglich aus- und eingingen. Sie Verses von Lied Nr. 249 „Lob Gott getrost ließ sich von ihnen nicht auf der Nase mit Singen“ zum Glück abgeändert wor- herum tanzen. Im Ganzen war sie das, den. Er lautet jetzt: „Gott soll´n wir fröhlich was man eine „treue Seele“ zu nennen loben“.) pflegt. Den hauptamtlichen Mitarbeitern, Da der Sonntag ja weithin der Tag die in der Kanzlei so etwas wie ihr Haupt- ist, an dem außer den Gottesdiensten quartier sahen, war sie nicht vorgeordnet; kirchliche Veranstaltungen stattfinden, war aber sie konnte geschickt ihr „Revier“ der Cheffahrer Knopf selbstverständlich verteidigen. auch gefragt. Aber da freute ich mich mehr An diesen Freitagen in der Kanzlei darüber, immer wieder einmal im hessi- hielt PB vor allem Dienstbesprechungen schen Land herum zu kommen. mit den haupt- und nebenamtlichen An den Wochentagen in H hatte ich Jugendleitern. Da war auch für Mitarbeiter im Büro zu tun. Diktierte Briefe wurden auf Gelegenheit, den Oberleiter des Werkes, der Schreibmaschine (Jahrgang 1935 – der zugleich der „Erstführer“ (EF) der „Hammerwerk“) geschrieben und ver- Pfadfinderschaft war, zu sprechen. Beides sandfertig gemacht. Arbeitspläne und – war ja in Personalunion Paul Both. Hier material wurden mittels Wachsmatrítzen wurde auch manches seelsorgerliche vervielfältigt und versandt. Eine Kartei der 45 Förderer unseres Jugendwerkes, des FEJ ähnlich wie bei der Pfadfinderschaft, der (Freunde evangelischer Jugendarbeit) Wille als geeignet herausgestellt, Glau- wurde angelegt und musste auf dem Lau- bensziele zu erreichen. Bonhoeffers Buch fenden gehalten werden; die alte war „Gemeinsames Leben“ wurde von PB oft unbrauchbar geworden. An Computer zitiert, aber dass dieser bei einer solchen dachte damals noch kaum jemand. Da Gemeinschaft eher Wert darauf legte, bastelte ich eine Art Lochkartei, mit deren dass sie wachse und ein Geschenk des Hilfe (und einer Stricknadel) ich schnell Geistes Gottes sei, dazu war der „Macher“ und problemlos bestimmte Personenkreise PB viel zu ungeduldig. Ihm genügte eine aussortieren konnte. gewisse christliche Begründung. Sehr bald wurde ich auch Mitglied Da entsprechend der Gefangen- der Heliand-Bruderschaft. Sie war im schaftsgespräche mein Berufsziel die Frühjahr 1938 aus dem Kreis älterer Pfad- Leitung eines Jugendheimes o. ä. war, finder gegründet worden und bei Beginn hätte ich gerne in weitere Arbeitsgebiete des Krieges in „Kriegs-Bruderschaft“ für dieses Berufes geschaut. So wäre es z. B. die Mitarbeiter umbenannt, die als Solda- von großem Nutzen für mich gewesen, die ten eingezogen oder dienstverpflichtet Kassen- und Buchführung für das Heim zu waren. Unter selbst gewählter Losung übernehmen. Da war aber bei PB nichts wurde ich feierlich in den Kreis der Brüder zu machen! Dieses Ressort hatte er einem aufgenommen. Ich hatte mich für einen älteren ehrenamtlichen Mitarbeiter über- Text aus der Bergpredigt Jesu (Matthäus tragen, und es war selbstverständlich, 6, 33) entschieden, der gegen Ende der dafür nicht eine bezahlte Kraft einzuset- Gefangenschaft für mich immer mehr an zen. Meine Tätigkeit in der „Leitung“ des Bedeutung gewonnen hatte: „Trachtet am Jugendheimes beschränkte sich also nur ersten nach dem Reich Gottes und nach darauf, Renovierungs- und Umbauarbeiten seiner Gerechtigkeit, so wird euch das auszuführen und bei der Pflege der gro- andere alles zufallen.“ Viele Ehemalige ßen Gartenanlage mitzuhelfen. aus der Zeit der Kriegsbruderschaft fehl- Das Haus musste in vielen Teilen ten, da sie aus dem Krieg oder der Gefan- noch ausgebaut werden, da während des genschaft nicht zurückgekehrt waren. Krieges und in der Nachkriegszeit dazu Diese Art des Zusammenschlusses kein Geld und Material zur Verfügung wird man heute kaum noch verstehen. Sie standen. So sollte im großen Tagesraum sollte ein Gremium sein, das sich als Tat- die Decke „abgehängt“ werden. Die Kon- gemeinschaft mit dem „Ältesten“ zusam- struktion aus der Zeit des Krieges eignete men (natürlich PB) für die gesamte sich nicht zum Verputzen. „Fischer-Dübel“ Jugendarbeit verantwortlich fühlte. Hier gab es damals noch nicht, Kippdübel bestand die Chance einer demokratischen waren noch nicht erfunden. Aber eine Entwicklung in der Führung des Werkes – ähnliche Form stellte ich selbst her, und aber nicht mit Paul Both. „Ordnung“ war damit gelang es mir, eine Art Kassetten- bei ihm schon ein wichtiger Begriff. Er decke einzubauen. schlug aber bei ihm leider zu oft in „Unter- Ein ungelöstes Problem war die ordnung“ um. Toilette, und zwar in den beiden Bedeu- Und so wurde für manchen aus der tungen dieses Wortes. Die morgendliche „HB“ zunehmend eine Gemeinschaft der Toilette im Haus beschränkte sich aufs mittlerweile alt und älter gewordenen Zähneputzen. Mehr war nicht möglich, ehemaligen Mitarbeiter, die auch durch nicht nur wegen der Wasserknappheit. Beruf und Familie der Jugendarbeit immer Zum Glück fließt hinter dem Gelände der ferner rückten. Außerdem sehe ich schon „Mühlenbach“, in dessen Oberlauf ich in der Grundlegung eine Schwachstelle: nach dem morgendlichen Waldlauf Diese Gemeinschaft sollte das Ergebnis „badete“. An dieser Stelle war er auch von „stillem und zähem Gehorsam an der sehr sauber. Nicht so hinter dem Heimge- Stelle der Gemeinde Jesu“ (sein), „wo wir lände: einer Papiermühle nur wenige hun- hingestellt sind“ 27 “.Damit wurde bei Both, dert Meter oberhalb diente er zum Antrieb

27 Klaus Neumeier, Evangelische Ju- Evangelischer Regionalverband Frankfurt gendarbeit unter Paul Both im 3. Reich, am Main, 1988, S. 217 46 der Maschinen. Das änderte nicht die Latrine: Eine Grube wurde ausgehoben Wasserqualität; aber beim Schwemmen und darüber ein Häuschen gemauert mit des Papiers wurde das weiter fließende zwei Eingängen und mehreren abge- Wasser fast milchig weiß. Diese Verunrei- trennten Sitzen. Die Grube wurde von Zeit nigung verlor sich leider nicht auf der kur- zu Zeit von einem Bauern leer geschöpft. zen Strecke bis zu uns. Das war zwar Zum Glück gehörte das nicht auch noch hygienisch nicht bedenklich, aber dennoch zu meinem Arbeitsbereich („einzigartiger ein Schönheitsfehler. Das störte nieman- Vertrauensposten in unserem Werk“ - s. den, am wenigsten unsere Buben. Die Brief PBs an mich v. 22. Mai 1950). Die waren durch Krieg und Nachkriegszeit Tarnbezeichnung „MW“ stammt - gemäß Schlimmeres gewöhnt. Es wurde also einem Abkürzfimmel (Aküfi!) bei Pfadfin- Wasser mit Schüsseln aus dem Bach dern - von „mit Wasser“), auch wenn meist geschöpft und nach dem Gebrauch ein Wasser nicht im Spiel war. Irgendwie hat gutes Stück unterhalb zurück geschüttet. sich wohl herumgesprochen, dass der Heute wäre ein solches Verfahren unmög- Erbauer dieses Prachtgebäudes ich war, lich, denn es gibt gerade für Jugendheime sodass es eines Tages den Namen z. T. sehr pingelige Vorschriften. Aber „Knopfschachtel“ erhielt. Der „Erfinder“ damals hatte dieses System sogar so dieses Namens ist unbekannt. Wenn etwas wie Romantik an sich (Bild 13). schon ein Denkmal, dann hätte ich mir ein Anders war dies bei der Klosettan- würdigeres gewünscht, aber ???- . Heute lage. Die zwei Wasserklosetts im Haus ist dieses „Monument“ einer vorbildlichen reichten buchstäblich „vorne und hinten“ Wasch- und Toilettenanlage gewichen, nicht aus. Eine Kanalisation war nicht vor- wie überhaupt das ganze Haus mit Küche, handen bzw. der Anschluss war zu weit Tages- und Schlafräumen nicht nur grö- weg. Also musste Knopf ein „Plumps-Clo“ ßer, sondern natürlich auch komfortabler bauen, in der Soldatenspache eine geworden ist. 47 Endlich: Jugendleiter

Damit hatte PB wohl nicht gerech- ich mich vor Beginn meines Einsatzes net: dass ich Freude an der eigentlichen vorgestellt hatte. Es gelang mir, zu ihnen Jugendarbeit bekommen könnte! Als er ein gutes Vertrauensverhältnis aufzu- mir die Leitung der Jugendkreise im bauen. Dekanat Bad Homburg übertrug, sollte ich Dies galt besonders bei dem Gon- eigentlich nur so etwas wie ein Lückenbü- zenheimer Pfarrer, Dekan Schmidt. Als er ßer sein, bis er einen anderen Hauptamtli- rfuhr, dass ich zwar in Oberstedten (5 km chen gefunden hatte. In meiner Dienstan- oberhalb von Bad Homburg) wohnte, zu weisung vom 1. 10. 1950 stand ja unter den Jugendkreisen aber von Frankfurt her Punkt „d“: „gelegentliche Jugendarbeit“. Es kam und dorthin zurückfahren musste, war war ihm gar nicht recht, als ich mit voller ich von da an Gast in seiner Familie am Pulle einstieg. Jedenfalls hatte ich einen Abendbrottisch. Die Kreise fanden nämlich Teil meines Berufszieles nun erreicht: alle an einem Nachmittag und Abend statt. vorwiegend mit Menschen zu tun zu Nach dem Jungenkreis trafen sich noch haben. um 20 Uhr die Besucher des „Jungmän- Material zur Gestaltung der Jugend- nerkreises“ (ab 18. Lebensjahr). Im Um- stunden stand von Seiten des Jugendwer- gang mit dieser Gruppe hatte ich über- kes reichlich zur Verfügung. Außerdem haupt keine Erfahrung. Noch nicht einmal kramte ich aus meinem Gedächtnis alles meine eigene Erinnerung an dieses Alter heraus, was ich noch aus der Zeit meiner konnte mir helfen; denn was nützten mir Mitarbeit kurz vor dem Krieg vorfand. Vor die Erlebnisse im Arbeitsdienst, Militär allem in der Jungschar, den 9- bis 13- oder gar in der Gefangenschaft? jährigen, gelang es mir wahrscheinlich, So war nun eine Situation entstan- den richtigen „Ton“ zu finden. Es dauerte den, in der ich faktisch hauptberuflich bei nicht lange, so sammelten sich in den bei- PB angestellt war. „Nebenberuflich“ stand den Gemeinden, Bad Homburg-Erlöser- ich in der direkten Jugendarbeit, denn eine gemeinde und Gonzenheim (einem Vorort Entlastung im Bereich meiner bisherigen von Bad Homburg), je an die 60 bis 70 Arbeitsbereiche konnte nicht gewährt wer- Jungen. Auch durch Hausbesuche und den. Sie war ja auch in diesem Ausmaß Gespräche mit den Eltern gelang es mir, nicht vorgesehen. Angesichts der öden dass die beachtliche Zahl von Teilneh- Arbeit im Büro, als Kraftfahrer und in der mern kein Strohfeuer war. Verantwortung für das Jugendheim wurde Was heißt Eltern? Es waren mei- der Einsatz in der praktischen Jugendar- stens nur Mütter, die ich bei den Hausbe- beit für mich zur Hauptsache. Oder hätte suchen antraf. Es stellte sich heraus, dass ich in diesem Sektor mit halber Kraft „fah- oft Väter überhaupt nicht da waren: im ren“ sollen? PB übertrug mir noch zusätz- Krieg gefallen oder in der Gefangenschaft lich die Verantwortung für die Jugend- umgekommen. Und immer wieder erklär- kreise in Friedrichsdorf 28 und wunderte ten mir diese Mütter, wie froh sie seien, sich, dass dies gelegentlich auf Kosten dass ihre Buben durch die Jugendkreise meiner „eigentlichen“ Dienstanweisung mit Männern zu tun bekamen – und wenn ging. Ich sah mich in der Situation eines es nur der Jugendleiter war. Da war es nebenamtlichen Mitarbeiters, der neben auch kein Problem, bei Unternehmungen seinem Beruf (hier: Angestellter bei Paul wie Wanderungen, Fahrten und Freizeiten Both) ehrenamtlich in der Jugendarbeit genügend Jungen zu gewinnen. stand, und der natürlich hier und da in sei- Schwieriger war die Arbeit in den nem Hauptberuf Abstriche machen Jungenkreisen (14 – 17Jährige), auch musste. Vollends rätselhaft war es, dass wenn ein gewisser Stamm von meinem ich – wenn auch nur vorübergehend – Vorgänger her vorhanden war. Ich be- zwei Jugendkreise in Bad Vilbel 29 über- suchte Konfirmandenstunden und warb dafür, dass die Jungen nicht aus der Kir- 28 Kleinstadt im Hochtaunuskreis bzw. im che „hinauskonfirmiert“ wurden. Natürlich Dekanat Bad Homburg hatte ich solche Unternehmungen vorher 29 Stadt nördlich von Frankfurt mit den Pfarrern besprochen, bei denen 48 nehmen musste. Dieses „Vorübergehend“ ich zwar schon gewonnen, aber keiner dauerte dazu fast ein Jahr. wäre imstande gewesen, die Gesamtver- Wer wollte es mir da verdenken, antwortung zu übernehmen. Dazu war die dass ich PB Anfang 1952 daran erinnerte, Zeit zu kurz gewesen. Auch war mir diese dass ursprünglich doch nur von einer Zeit Arbeit inzwischen zu sehr ans Herz bis Herbst 1950 mit einer eventuellen gewachsen, und ich hätte kein gutes Verlängerung um ein Jahr die Rede gewe- Gewissen gehabt. So sagte ich mit gro- sen sei. Er argumentierte, es habe sich ßem Bedauern ab. Auch Heiner Mohn tat aber nun doch herausgestellt, dass ich wie es Leid, denn er hatte wohl auch im Stillen geboren sei zur Ausfüllung all der Ämter, damit gerechnet, dass ich in Hanau, mei- die ich mittlerweile übernommen hatte. ner Heimatstadt, nebenberuflich in die Welche Zeichen ich noch erwartete, um zu dortige Jugendarbeit einsteigen würde. erkennen, dass dies doch wohl Gottes Damit waren für längere Zeit für Wille sei? Es sei nicht gut, „sich ständig mich die Würfel gefallen. Ich nahm mit von einer Reichsgottes-Arbeit wegzuseh- etwas mehr Elan an dem zweijährigen nen“. Jugendleiter-Kursus des Werkes teil, der Es wurde immer deutlicher, dass fast ausschließlich von PB geleitet wurde. mein eigentlicher Plan im Frankfurter Erst viel später erkannte ich, dass das Jugendwerk nicht zu verwirklichen war. Ich Gebotene reichlich „dünn“ war: Die Kir- hatte zwar durch die Übernahme der chengeschichte z. B. brachte nichts Kriti- Jugendarbeit im Dekanat Bad Homburg sches, obwohl dazu die Zeit besonders wenigstens eine Tätigkeit erhalten, bei der nach dem 1. Weltkrieg genügend Anlass ich mit Menschen zu tun hatte. Aber ein gegeben hätte, ganz zu schweigen von Beruf auf Dauer war dies nicht. Außerdem den Jahren des 3. Reiches. Das war ja war ich ja mittlerweile über dreißig Jahre eigentlich unser selbst erfahrenes und alt und damit über das Alter hinaus, wo ein durchkämpftes Leben. Das Gleiche galt für Jugendleiter eher zur Karikatur zu werden die gebotene Theologie. Die Erfahrungen droht. PB dachte nicht im Traum daran, aus der Zeit des Kirchenkampfes fanden mir eine Zukunftsperspektive zu bieten. kaum ihren Niederschlag. Barmer Erklä- Ohne eine Ausbildung mindestens als rung, Stuttgarter Schuldbekenntnis oder Diakon oder dergl. war es unmöglich, die das Darmstädter Wort wurden kaum Leitung eines Heimes für Jugendliche, erwähnt, geschweige denn diskutiert. Die etwa für schwer Erziehbare o. ä., übertra- soziale Komponente des Evangeliums gen zu bekommen. Sicher hätte er mir verschwand fast vollkommen hinter dem irgendwann (aber wann?) geholfen, in pietistisch verstandenen persönlichen Heil einen Beruf zu wechseln. Aber ich wollte des einzelnen Menschen. Philosophie und nicht eines fernen Tages aus seinen Gna- Psychologie beschränkten sich aus- den in eine Arbeit vermittelt werden, in der schließlich auf den (männlichen) Jugendli- ich ihm womöglich auch noch zur Dank- chen, wie er in unseren Kreisen vertreten barkeit verpflichtet gewesen wäre. Mein war: als Schwerpunkt nämlich der „höhere Verhältnis zu ihm, den ich als Jugendlicher Schüler“. Im Ganzen war der Leiterkursus vor dem Krieg bewundert hatte, war mitt- also mehr oder weniger eine Einführung in lerweile ziemlich abgekühlt. Es kam über die Interna des Jugendwerkes; und da war das eines Vorgesetzten zum Untergebe- er sehr informativ. Mit dem bestandenen nen nicht hinaus. Da war ich durch Krieg Abschluss verbunden war die am 10. und Gefangenschaft anderes gewöhnt! Dezember 1953 vor der versammelten Anfang 1952 erhielt ich von Heiner Mitarbeiterschaft ausgesprochene Beru- Mohn, der von meinen Schwierigkeiten fung zum Jugendleiter des Werkes. Ich wusste, ein erneutes Angebot einer Stelle bestand mit dem Gesamturteil „Im Ganzen bei seiner Firma Heraeus-Quarzschmelze gut“, nach der damaligen Zählung also 2 in Hanau. Aber zu diesem Zeitpunkt hätte bis 3. Leider hatte dieses Zeugnis in der ich den gerade begonnene Aufbau der Öffentlichkeit (auch in der kirchlichen!) Jugendkreise im Dekanat Bad Homburg keinerlei Bedeutung, galt also nur inner- im Stich lassen müssen. Mitarbeiter hatte halb des Werkes. 49 Meine „neue“ Heimat ...

... war inzwischen das „Schwabe- Hausmädchenstelle bei einer bekannten ländle“ geworden. Ich hatte wohl noch Familie wurde sie verfrachtet, um erst Verwandte in Hanau, die aber eher ent- einmal volljährig zu werden. Und das täuscht waren über meinen beruflichen waren damals 21 Jahre! An ein Medizin- Weg nach meiner Heimkehr aus der Studium war bei ihrer Rückkehr verständ- Gefangenschaft. Schwerer wog da die licherweise nicht mehr zu denken. Freundschaft mit Werner Reininghaus, Zu den zwei Töchtern Elli und Doro dem ehemaligen „Lagerpfarrer“ in Seva- (Elisabeth und Dorothee) wurde als drittes stopol. Er hatte als Pfarrer eine Religions- Mädchen im Februar 1951 Adelheid gebo- lehrerstelle an der Lehrer-Oberschule in ren, zu deren Taufe am Pfingstfest ich Nagold im nördlichen Schwarzwald ange- Pate wurde. Es sind schöne Erinnerungen, nommen. Bei ihm und seiner Familie ver- die ich an diese Zeit habe. Für Elli und brachte ich bereits 1951 das Weihnachts- Doro war ich der Onkel Günter. Von den fest und in den folgenden Jahren auch vielen gemeinsamen Spaziergängen und meine Urlaube. Unternehmungen ist mir noch besonders Für meine alte NSU-Quick war die im Gedächtnis die „Moggele-Aktion“: Im Entfernung von Bad Homburg dorthin zu Wald sammelten wir Tannen- und Kiefern- groß. Ich kaufte mir also ein schönes zapfen zum Feuer anmachen, die wir in DKW-Motorrad (250 ccm, Bild 14), das Säcken mit einem Leiterwagen – hoch mich auch am Ort beweglicher machte. bepackt und obenauf Doro - nach Hause Für die damaligen Straßenverhältnisse brachten (Bild 15). Wir waren immer eine war dies eine beachtliche Maschine mit fröhliche Gesellschaft. Anlässe gab es einer Spitzengeschwindigkeit von 90 km/h. genug. So schenkte einmal Doro ihrer Den größten Teil der Strecke – von Bad Mutter zum Geburtstag für die Tomaten- Homburg bis Pforzheim - benutzte ich die pflanzen im Garten einen vollen Eimer Autobahn und dann die Straße durch das Pferdeäpfel. Sie hatte sie selbst gesam- idyllische Nagoldtal. melt und war ganz stolz über ihr eigenwil- In der Reininghaus-Familie fühlte ich liges Geschenk. – Als der Schreinermei- mich sehr wohl. Agnes, Werners Frau, war ster X einmal in der Wohnung einige eine resolute, tüchtige Hausfrau - eine Arbeiten ausführte, verfolgte sie unter dem echte Schwäbin. Unserer Gesundheit galt Tisch hockend den Fortgang mit größtem ihre besondere Fürsorge. Buchstäblich Interesse. Dann fragte sie plötzlich den marmeladeimerweise schleppte sie von Handwerker: „Wisset Sie eigentlich, Herr der Molkerei die Buttermilch an. Diese X, was das größte Hobby von mei´m Vad- Aera wurde abgelöst durch die Dinkel- der is?“ – Er wusste es natürlich nicht. Da Periode. Ein Säckchen voll davon bekam meinte sie: „Spaare, Herr X, spa-a-re!“ ich mit auf die Heimreise. Als ich beim Damit war übrigens das größte Lob aus- nächsten Besuch stolz Vollzugsmeldung gesprochen, das man einem Schwaben machte und berichtete, dass ich alles auf- ausstellen konnte. gebraucht hätte, musste ich mir sagen Im Kreis der Erwachsenen wurde lassen, dass Weizenkeime viel gesünder nicht nur oft musiziert, sondern vor allem und jetzt „dran“ seien. Beim nächsten auch diskutiert. Es ging hauptsächlich um Besuch stand Grünkernsuppe als Früh- theologische und kirchliche Probleme. stück auf dem Speiseplan. Agnes war eine Heute wundere ich mich, dass wir kaum „verhinderte Ärztin“ und wollte wirklich über politische Themen ins Gespräch einmal Medizin studieren; denn sie hatte kamen. Dazu wäre in vielfacher Hinsicht tatsächlich – wie man so sagt – nicht nur Anlass genug gewesen, denn da war ja das Zeug dazu, sondern auch die entspre- unendlich viel nicht nur in unserer Abwe- chend guten Noten in der Schule. Da senheit geschehen. War es die alte (Un- wurde nichts draus, nachdem sie sich als )sitte, seine politische Überzeugung nicht Teilnehmerin an einem Jugendlager in den zu offenbaren? Während der Nazizeit jungen Pfarrer verguckt hatte, der in der hatte sie ja ihre gewisse Berechtigung Leitung mitarbeitete: ein „schweres Fami- gehabt; aber auch schon vorher war sie lienproblem“! Bis nach Bulgarien auf eine üblich. Dadurch habe ich z. B. ganz selten 50 bei meinen Eltern erlebt, dass „politisiert“ Heliand-Pfadfinderschaft im Gegensatz wurde. zur CP, dass die Jungen nicht nur die So kehrte ich immer wieder nach Gemeinde-Jugendkreise zu besuchen, schönen und erholsamen Tagen nach sondern in ihnen auch mitzuarbeiten hat- Haus Heliand und zu PB zurück. Dort ten. Die Mitgliedschaft in der Sippe war begannen am Ferienhaus die Arbeiten regelrecht vom Besuch der Kreise abhän- zum An- und Umbau. Und da waren meine gig. Diese Verquickung mit der Gemeinde- Fähigkeiten als Handwerker gefragt. Diese Jugendarbeit entstand in den zwanziger Berufsbezeichnung machte mir nichts aus. Jahren 30 und war eine Forderung (und Längst hatte ich meine Minderwertigkeits- Erfindung!) Paul Boths. Sie führte damals komplexe abgelegt; denn nur wer diesen zum Austritt aus der CP. Der Wahlspruch Beruf einmal ausgeübt hat, weiß, wieviel „Allzeit bereit“ wirkte sich also nicht nur auf Kopfarbeit und Erfindergeist hier gefordert die täglichen Verhaltensweisen aus - als werden Teil der berühmten Verpflichtung: „Jeden Außerdem hatte ich ja auch noch Tag mindestens eine gute Tat!“ (gemäß „meine“ aktive Jugendarbeit. Als Jugend- der Karikatur, der alten Oma über die leiter wurde ich nicht nur in den Kirchen- Straße zu helfen, obwohl sie gar nicht vorstand, sondern von da in die Dekanats- wollte). Es entstand dadurch eine gewisse synode berufen, von der böse Zungen Verantwortlichkeit für das Leben des Krei- zwar behaupteten, sie sei die organisierte ses. Mit der Hilfe der Pfadfinder konnte Bedeutungslosigkeit. Das störte mich man also als Leiter rechnen, und zwar wenig. Sie war für mich die Plattform, von gemäß der Losung der drei G: „Ganz, der für die Jugendarbeit manche Hilfe gern, gleich!“ Die Herkunft unseres Wer- ausging. kes aus der Arbeit an den höheren Schü- Aus den Jungenkreisen war mittler- lern (BK 31 ) war unverkennbar. Der größte weile eine Pfadfindersippe herausgewach- Teil der Besucher unserer Kreise kam ja sen, nachdem einige für diese Form der auch vom Gymnasium und der Oberreal- Gemeinschaft Begeisterte in Frankfurt schule, evtl. auch aus der Mittelschule. hospitiert hatten. Eine solche Jungenge- Der Volksschüler (heute: Hauptschüler) meinschaft ohne „Nest“, das ist nur eine war eine seltene Ausnahme. Darauf waren halbe Sache. Es gelang mir im Bad Hom- wir sogar stolz. „Wir“ heißt zu diesem Zeit- burger Stadtteil Gonzenheim nach der punkt: auch ich! Fertigstellung des neuen Gemeindehau- Was aber damals von uns nicht so ses die alte Holzbaracke hinter der Kirche deutlich gesehen wurde: Die Stellung der – das alte Gemeindehaus - vor dem Abriss Pfadfinderschaft brachte auch eine Ein- zu retten. Nach einigen Reparaturen stand engung. Diese war ohnehin schon gege- sie nun fast ausschließlich den Pfadfin- ben durch unsere Herkunft aus dem BK. dern zur Verfügung, übrigens bis zum Er wurde für Höhere Schüler Ende des 19. heutigen Tage. Jahrhunderts gegründet, da sie die CVJM- Bei der Gründungsfeier erhielt die Kreise an ihrem Wohnort - wie übrigens Sippe den Namen „Gustav Adolf“. Zu die- alle Vereine - gemäß der Schulordnung sem Ereignis war es mir gelungen, ein nicht besuchen durften. Man traf sich also großes Bild „Gustav Adolf vor der Schlacht in der Schule, etwa am Nachmittag. Diese bei Lützen“ aufzutreiben, ein Werk eines Gruppen gehörten zu einem Verband mir heute nicht mehr bekannten Künstlers. neben dem CVJM 32 . Ihre Selbständigkeit Auf ihm war der schwedische König vor behielten sie in einer gewissen Rivalität der Front seines angriffsbereiten Heeres auch nach dem 1. Weltkrieg. Dieses Erbe betend – mit zum Himmel erhobenen, „verfolgte“ uns auch noch nach dem 2. gefalteten Händen (mit Schwert?)- darge- Weltkrieg. stellt. Es gefiel merkwürdigerweise damals mir mehr als den Jungen. Krieg und Gefangenschaft hatten offenbar bei mir noch nicht ausgereicht zu einer mehr zivi- 30 des 20. Jahrhunderts len Einstellung zum Leben. 31 Abkürzung für Bibel- Kreise 32 Die Pfadfindersippe war eine damals: Weltbund der Christlichen Ver- enorme Bereicherung für die Kreisarbeit. eine Junger Männer; heute:... Junger Es gehörte nämlich zur Spezialität der Menschen. Bild 14 Mit der DKW unterwegs

Bild 15 „Moggele“ sammeln! 52 53 Mein Chef

Die straffe Disziplin der Pfadfinder Aber er hatte nun einmal eine entsprach nicht mehr dem Lebensgefühl Schwäche für den „soldatischen Men- der Nachkriegs-Jugendlichen. Hinzu kam schen“. Bis in die von ihm verfassten die Pfadfindertracht: sie war gewiss nicht Pfadfinder-Regeln hinein zeigte sich dies. die Erfindung der Hitler-Jugend; es war Da wurde sogar exerziert, was in der eher umgekehrt. Es half auch nichts, dass Pfadfinderschaft der Vorkriegszeit nicht immer wieder darauf hingewiesen wurde, üblich war: „Rechts um, links um, im dass „Tracht“ etwas anderes sei als Uni- Gleichschritt marsch!“ Und Knopf machte form. Aber für die Öffentlichkeit spielte das da noch mit! Es imponierte natürlich z. B. keine Rolle: Uniform war nicht mehr „in“. beim Kirchentag in Frankfurt 1956, bei Verschärfend zeigte sich die Vorliebe PBs dem ein Großteil des Ordnungsdienstes für soldatische Zucht. Leider ist er selbst von den „Grünhemden“ des Frankfurter nie Soldat gewesen. Vielleicht wäre da Jugendwerkes gestellt wurde: Es klappte manches anders gelaufen. Aus gesund- selbstverständlich alles wie „am Schnür- heitlichen Gründen blieb er während des chen“. Denn da wurde nicht nur mit klarem Krieges davor verschont. Aber er hatte Befehl und Gehorsam gearbeitet. Aufträge nun einmal einen Hang dazu. Schon vor mussten wie ehemals bei Preußens wie- 1933 galten bei ihm als Ideal-Berufe, für derholt und natürlich genau ausgeführt die er immer wieder Propaganda machte, und zurückgemeldet werden. der des Soldaten (natürlich der des Offi- Apropos Preußen: Boths großes ziers!) und der des Pfarrers. Vorbild war der Soldatenkönig Friedrich Das änderte sich während des Krie- Wilhelm I. Wem er gut gesonnen war und ges. Da empfahl er uns in den „Grünen mit dem er „noch `was vorhatte“, der Briefen“, die als Verbindung mit den ehe- erhielt mit einer Widmung den Roman von maligen Mitarbeitern zu uns an die Front Jochen Klepper, „Der Vater“, ein dicker hinaus gingen, nur noch den Beruf des Wälzer, den vielleicht viele der Be- Pfarrers. Es war ihm wohl klar geworden, schenkten nie ganz gelesen haben (wie dass bei einem Sieg des Hitler-Staates Nationalsozialisten „Mein Kampf“ von dieser Beruf für die Verkündigung des Adolf Hitler). Zweifellos könnte dieser Evangeliums eine zentrale Bedeutung Monarch in seiner Schlichtheit, Frömmig- erlangen würde. Dieser Rat kostete ihn keit, Unbestechlichkeit, Gradheit und sei- beinahe das Leben, weil er ihm als „Wehr- nem Gerechtigkeitssinn manchem Politiker kraftzersetzung“ ausgelegt wurde. Die heute als Vorbild dienen. Einer seiner Gestapo 33 inhaftierte ihn. Er erlebte die markigen Wahlsprüche lautete: „Könige schweren alliierten Luftangriffe auf Frank- müssen mehr leiden als andere Men- furt im obersten Stockwerk des in der schen“. Er hat wohl auch danach gelebt. Stadtmitte Frankfurts gelegenen Gefäng- Es sind leider auch von ihm manche nisses. Durch Initiativen seiner tapferen Schrullen bekannt, vor allem die Vorliebe Frau und eines ehemaligen Mitarbeiters im für seine Leibgarde, die „Langen Kerls“. höheren Wehrmachtsrang gelang es, ihn Irgendwie war er ein „Kommisskopp“. Ori- vor dem Schlimmsten (Konzentrations- ginell war auch die Art, wie er seine Unter- Lager) zu bewahren und schließlich ohne tanen mit dem Stock gezwungen habe: Verurteilung frei zu bekommen. „Ihr sollt mich doch lieben!“ Dass er kein Demokrat war, wird ihm heute niemand

33 vorwerfen. Aber nachdenklich darf man Abkürzung für Ge heime Sta at spo lizei , doch werden, mit welcher Begründung er politische Polizei und wesentliche innere abgelehnt haben soll, dass Untergebene Stütze des NS-Regimes in Deutschland, ein Wort mitreden, wenn es um ihre Vor- nicht uniformiert, geheim, von Verwaltung und Justiz unabhängig, berüchtigt wegen gesetzten ging: Er frage ja auch nicht skrupelloser Fahndungs- und Verhörme- seine Esel, wer Stallmeister werden soll. thoden. 1946 im Nürnberger Kriegsver- Diese Geschichte hat PB gern erzählt. Ob brecherprozess zur verbrecherischen er damit sein System der Auswahl der Organisation erklärt. Pfadfinderführer begründen wollte? 54 Auch den Sohn des Soldatenkönigs lich war es, dass dieses Lied auch nach verehrte PB, obwohl dieser Freigeist 1945 noch in den Pfadfindersippen auf- gerade nicht das Muster eines Christen tauchte. war. Nach meinen Kriegserlebnissen Warum überhaupt das „Kriegshand- schaudert es mich noch heute, dass PB im werk“ zu allen Zeiten als etwas Ehrbares Rahmen einer Andacht auf einem dargestellt wurde, ist eigentlich merkwür- Jugendlager vom „Alten Fritz“ erzählte, dig. Schon der Begriff „Handwerk“ ist – wie er nach einer Schlacht einen schwer zumal in der heutigen Zeit – eine glatte verwundeten Offizier am Wegrand, der vor und dumme Lüge. Allein die Wortwahl um Schmerzen laut schrie, vom Pferd herab den Vorgang „Krieg“ müsste uns stutzig anherrschte: „Junker, stirb´ er anständig!“ machen. Aber vielleicht ist uns das alles PBs Vorliebe für die Hohenzollernkönige nicht recht bewusst. Dass Franzosen und galt sogar dem letzten deutschen Kaiser Engländer dies nicht entdeckten, ist klar. Wilhelm II. Es störte ihn nicht dessen Denn das, was mit dem deutschen Wort unrühmliche Abdankung, Flucht nach „Schlacht“ gemeint ist, das klingt bei ihnen Holland am Ende des 1. Weltkrieges und ja nicht so brutal, wenn sie „bataille“ oder sein aufwändiges Leben dort. Man kann „battle“ sagen, zumal bei den Franzosen wohl sagen, dass er ein wenig reflektiertes das Wort für Stock – „baton“ hindurch Verhältnis zu Preußen hatte. klingt. Ich weiß nicht, wie in den beiden Ihn faszinierte wohl am Preußentum genannten Fremdsprachen die Angele- am meisten der Stellenwert von Ordnung genheit etymologisch 34 erklärt wird; bei und Befehl. Aber die Zeit war vorbei, in der uns im Deutschen ist der Fall ganz klar: ein preußischer Beamter Gewissenbisse „Schlacht w: Mhd. slaht(e), slahd. slatha hatte, wenn er mit dem Dienstbleistift sich `Tötung“ 35 . Worum es da also geht, dürfte eine Bemerkung in sein privates Notizbuch niemandem deutlicher sein als uns Deut- machte. Auch wird man den Begriff des schen: Hier wird also nicht nur gekämpft „Gehorsams“ nach seinem Mißbrauch im und geschlagen, sondern geschlachtet. 60 letzten Krieg nicht mehr in seiner absolu- Millionen Menschen sind das „Schlachter- ten Bedeutung gebrauchen können. Aber gebnis“ des 2. Weltkrieges! die Rolle des Soldaten hatte es ihm nun Vor dem 20. Jahrhundert mag das einmal angetan. Er zitierte gerne die Wort Schlacht noch relativ harmlos ver- Erzählung aus Matthäus 5, 8ff: „Der standen worden sein, obwohl der Degen Hauptmann von Kapernaum“. Christsein oder das Schwert dem Schlächtermesser und Soldatentum gehörten für ihn zusam- des Metzgers noch ähnlicher sind als dem men. Im Jugendwerk war er schließlich ja Stock. In diesem Sinn haben wir als Jun- auch ein Monarch, und die Auswirkungen gen noch ziemlich unbedarft gesungen: davon auf das Werk waren bestimmt nicht „Drum auf in die düstere, lohende von Vorteil. Schlacht, der Feinde starrenden Rachen, Dass wir nach dem ersten und vor und trifft uns Tod und deckt uns die Nacht, dem zweiten Weltkrieg vom Soldaten im Himmel, Herr, lass uns erwachen“. Als schwärmten, ist eigentlich kaum zu ver- Pfadfinder hatten wir noch mit gepolster- stehen, denn seit den fürchterlichen Mate- ten Speeren gekämpft. Die Chance, diese rialschlachten um Verdun und Douaumont „Veranstaltung“ zu überleben, war noch war es eigentlich vorbei mit der alten „Sol- gegeben. Reichlich härter geht es zu, datenherrlichkeit“. Aber vielleicht waren es wenn heute Jugendliche bei Computer- mehr die Schilderungen von Kamerad- Spielen mit der MP den „Feind umlegen“. schaft und das Durchhaltevermögen, die Aber seit der Erfindung des Maschinen- uns begeisterten, und die schon vor Hitler gewehrs oder gar der Atombombe hat sich in mehreren Kriegsfilmen verherrlicht wor- „Krieg“ nicht nur graduell, sondern im den waren. Remarques Buch und Film „Im Wesen verändert, sind die Auswirkungen Westen nichts Neues“ wurde dagegen dieser Waffen unvorstellbar. damals als „jüdisches Machwerk“ denun- ziert, in dem angeblich die Ehre des deut- 34 die Wissenschaft von der Herkunft der schen Soldaten in den Dreck gezogen Wörter- 35 wurde. So war es verwunderlich, dass wir aus: Der Große Duden, Herkunftswör- begeistert das Filmlied „Wir die letzten, die terbuch Etymologie, Dudenverlag; mhd = geblieben ...“ sangen. Völlig unverständ- mittelhochdeutsch, ahd = althochdeutch. 55 Man muss nur einmal den Bericht schnellsten ihr Ziel erreichen. Es ist schon eines Maschinengewehrschützen oder lange her, dass ich in der Fahrschule den eines Schlachtflieger-Piloten gehört § 1 der Straßenverkehrsordnung gelernt haben, um zu erkennen, dass das Bild habe. Aber dem Sinn nach kann ich ihn eines Schlachthofes im Vergleich zu dem, noch heute hersagen: „Jeder Teilnehmer was da geschieht, eine klare Untertreibung am Straßenverkehr hat sich so zu verhal- ist. Mit dieser Erkenntnis dürfte die Szene- ten, dass kein anderer gefährdet, geschä- rie eines Krieges der Zukunft klar umris- digt oder mehr als nach den Umständen sen sein: Er ist seit der Atombombe die unvermeidbar behindert oder belästigt „unmögliche Möglichkeit.“ Daher gilt das wird.“ Dieser Paragraph ist also kein har- Wort von Heinemann 36 : „Nicht mehr der tes, oder gar unmenschliches Gesetz, Krieg, sondern der Friede ist der Ernstfall“. sondern – so möchte man sagen – eine Dies ist also die einzige Alternative! segensreiche Anweisung oder Empfeh- Nachzutragen wäre noch die lung. In diesem Sinn macht es ja auch z. Beachtung einer schwerwiegenden und B. Freude, zu helfen, jemandem beizuste- äußerst wichtigen Überlegung, dass die hen, überhaupt seinen Mitmenschen Pfadfinderarbeit eigentlich aus theologi- gegenüber freundlich zu sein. Da kann scher Sicht nicht unbedingt dem Evange- man erleben: Wie man in den Wald hinein lium gemäß ist. Sie kann ihre Herkunft aus ruft, so schallt es wieder heraus. Der der Zeit nicht verleugnen, in der die Ver- Pfadfinder wird diese Verhaltensweisen in kündigung des Gotteswortes hauptsäch- der Regel schon in der Gemeinschaft sei- lich unter dem Gesichtspunkt von „Gesetz ner Sippe zu schätzen wissen und dann und Evangelium“ geschah mit dem „nachleben“. Schwerpunkt Gesetz. Da passten ja vor- Deutlich wird dieses Problem am züglich die Pfadfinder-Maximen: „Du Lied der Pfadfinder (so etwas wie eine sollst...,“ „der Pfadfinder ist ehrlich und Nationalhymne). Es hat auch mich als aufrichtig.“ „Jeden Tag eine gute Tat!“ Aus Jugendlichen angesprochen und bewegt: pädagogischen Gründen allerdings ist sie im jugendlichen Alter sehr wohl geeignet; Allzeit bereit, den kurzen Spruch es müsste nur spätestens im Jungmänner- als Losung ich erkor, Kreis-Alter (17/19 Jahre) mehr auf den ihn schreib ich in mein Lebensbuch, Gesichtspunkt Evangelium „umgeschaltet“ ihn halt ich stets mir vor. werden. Das gibt dem Leben Zweck und Ziel, Es ist unzweifelhaft: In der Erzie- gibt Mut und Heiterkeit; hung kann man auf klare Anweisungen, zu heil´gem Ernst, zu frohem Spiel: „Spielregeln“ und Grenzen nicht verzich- Allzeit bereit! ten. Dem/der Jugendlichen muss zunächst einmal gesagt werden, was „Sache“ ist. In Allzeit bereit, dem zu entfliehn, der Befolgung besteht durchaus die Mög- was mir das Herz befleckt. lichkeit, dass er/sie oder sogar schon ein Nichts Schlechtes soll mich abwärts ziehn, Kind entdecken: Es gibt Grenzen, deren hoch ist mein Ziel gesteckt. Überschreitung Konsequenzen hat. Dies Gott zum lebend´gen Eigentum zu verdeutlichen ist eigentlich unser Stra- sei Leib und Seel´ geweiht. ßenverkehr sehr gut geeignet. Die Be- Zu seines Namens Ehr und Ruhm: achtung der Verkehrsregeln ist die Vor- Allzeit bereit aussetzung dafür, dass möglichst viele Verkehrsteilnehmer am sichersten und am Allzeit bereit! Wahr sei der Mund, unwandelbar die Treu, 36 Gustav, 1899-1976, deutscher Politiker, rein sei das Herz, fest sei der Bund, 1949-55 Präses der Synode der Evange- der Wandel ohne Scheu. lischen Kirche in Deutschland (EKD), Hilf mir, o Gott, du starker Hort, 1949/50 Bundes-Innenminister, 1952 dass ich kann jederzeit Austritt aus der CDU, Gründung der GVP erfüllen treu das Losungswort: (Gesamtdeutsche Volkspartei); seit 1957 Allzeit bereit! im Vorstand der SPD-Fraktion; 1966 Bun- des-Justizminister, 1969-74 Bundespräsi- Dieses Lied ist Ende des 19. Jahr- dent. hunderts entstanden. Als Melodie sangen 56 wir die von einem unserer ältesten Pfad- dazu hilft, dass wir ohne „Fehl und Tadel“ finder, Ernst Wolff, komponierte; die alte sind, wirft mancher Jugendliche irgend- war uns zu lahm. In den letzten Jahren vor wann die Flinte ins Korn, hält das alles für 1933 – also vor Hitler - hatte er sogar einen frommen Schwindel und pfeift auf Fanfarenklänge dazu gesetzt. Erst spät Pfadfindersippe, Jugendkreis und Kirche. entdeckte ich: Es steckt voller Appelle, Wozu hilft Gott aber dann? Er ist der Anweisungen, Aufforderungen und ist liebevolle Vater, wie ihn uns Jesus vor daher leicht falsch zu verstehen: Ich soll Augen gestellt hat: Er kennt unsere Un- etwas tun, damit etwas (von Gott her) vollkommenheit, und es macht ihm geschieht. Evangelium heißt jedoch auf Freude, uns zu verzeihen. Mir hat hier ein deutsch: Frohe Botschaft. Was ist an Beispiel aus unserem modernen Leben Geboten oder Befehlen („Du sollst! ..., „du geholfen: Die Windschutzscheibe unseres musst!“ ...) froh machend? Jesus von Wagens wird, je nach Witterung, immer Nazareth, auf den unser Glaube zurück- wieder schmutzig, undurchsichtig. Da hilft geht, hat uns eine andere Motivation für nur ein funktionierender Scheibenwischer. „gute Taten“ vorgelebt: Ich tue etwas, nicht Gott wischt immer wieder den „Dreck“ damit es Gott oder meinen Mitmenschen unserer Schuld weg, sofern wir ein Inter- gefällt oder um mich beliebt zu machen esse daran zeigen. Wir können weiter (mein Schlosser-Lehrgeselle Schleich „fahren“, auch bei einem „Wolkenbruch“. hätte an dieser Stelle gesagt: „Du wirfst Es gibt nicht den „reinen“ Menschen und mit der Worscht nach em Schinke“) – son- auch nicht das gute Gewissen. Es gibt nur dern aus Dank, weil ich etwas von Gottes den durch Gottes Vergebungsbereitschaft Güte erlebt und begriffen habe, handle ich Gerechtfertigten und das bereinigte – oder so und nicht anders „getröstete“ Gewissen. Daher hat die „selbstlose“ Tat nach Das alles sind Erkenntnisse, die Jesus allein folgenden Antrieb: Er zeigt auch mir erst sehr spät in meinem Leben uns Gott nicht als einen, der ständig Vor- zugewachsen sind. Nun verstehe ich die bedingungen stellt, als einen unbarmher- Vorbehalte gegen unsere Jugendarbeit, zigen Herrscher, der uns mit allen mögli- die manche Theologen (und damit viele chen oder unmöglichen Forderungen nervt Gemeindepfarrer) hatten, und die wir und uns verfolgt bis „ins letzte Schubfach“. damals nicht verstanden haben. Ganz Wir haben eine freundliche „Gottheit“! sicher ist die Nichtbeachtung dieses Wenn wir bedenken, dass Gott die Quelle Problems auch der Grund, warum uns alles Guten ist, dass wir ja von ihm alles viele Jugendliche, wenn sie älter gewor- haben, unser Leben, Gesundheit, eine den waren, nicht nur den Rücken zuge- Welt, in der und von der wir leben, so ent- kehrt, sondern auch rundweg abgelehnt steht in uns tiefe Dankbarkeit. Aus ihr her- haben. aus tun wir dann alles und nicht aus Spe- Ich fürchte, dass selbst Paul Both kulation. diese Zusammenhänge nicht deutlich genug gesehen hat. Für ihn war das Werk Außerdem merkt der älter gewor- die „Reichsgottesarbeit“ schlechthin. „Von dene und wache Jugendliche irgendwann Haus aus“ war er Pädagoge, ausgebildet bestimmt die Wahrheit, die in der Liedzeile auf dem Lehrerseminar in Usingen.- Er zum Ausdruck kommt:“...es ist doch unser soll zwar einige Semester Theologie wäh- Tun umsonst auch in dem besten rend seiner Tätigkeit als Volksschullehrer Leben....“(eg 299, 2). Mit anderen Worten: (heute Grundschullehrer) an der Uni Eine hundertprozentige Erfüllung der Frankfurt gehört haben. Aber wann war Gebote ist nicht möglich. Nicht nur Pfad- das, und welche Dozenten hatte er? finder, sondern jeder Mensch wird immer Sicher fehlte da eine gewisse Breite des wieder scheitern, insbesondere an den theologischen Spektrums. Forderungen des letzten Verses: „wahr sei Durch seinen Vorgänger in der Lei- der Mund, unwandelbar die Treu, rein sei tung des Werkes, Albert Hamel, den er das Herz , fest sei der Bund, der Wandel eine Zeit lang sehr verehrte, war er stark ohne Scheu“ . Er singt zwar gleich danach: pietistisch geprägt. Von ihm ist bekannt, „Hilf mir, o Gott, du starker Hort, dass ich dass er ein Theologie-Studium rundweg kann jederzeit erfüllen treu das Losungs- abgelehnt und ihm auch abgeraten hat, wort: Allzeit bereit!“ Da aber Gott nicht weil man „da an seinem Glauben irre wer- 57 den kann“. Für die wörtliche Wiedergabe müssen. Aber die Jugendarbeit war PBs dieses Zitates kann ich mich nicht verbür- ureigenstes Ressort, in das er sich von gen. Aber dem Sinne nach halte ich es für niemandem hineinreden ließ. authentisch. Das war übrigens unsere Dieser Bruderrat war eine der ganz Meinung im „Werk“ allgemein - besonders wenigen evangelischen Widerstandsgrup- in der Zeit des 3. Reiches. So entstand pierungen gegen die Nazi-Willkür, vor auch damals das verhängnisvolle Miss- allem gegen die Übergriffe ins kirchliche verständnis, dass die Auseinandersetzun- Leben durch Bespitzelung, Verbote, Ver- gen im Raum der Evangelischen Kirche haftungen und eigentlich ungesetzlicher für uns „Theologengezänk“ waren. Noch in Freiheitsberaubung. Dies geschah regel- der Nachkriegszeit war diese Überzeu- mäßig an der Justiz vorbei in von der SA gung bei uns vorhanden; und die Vorbe- und SS gegründeten Konzentrationsla- halte, die z. B. gegenüber dem Bruderrat gern. Martin Niemöller war nicht das ein- der EKD bestanden, stammten aus dieser zige Opfer, das als „der persönliche Gesinnung. Obwohl dessen Zentrale im Gefangene des Führers“ hinter Stachel- selben Haus der Neuen Schlesinger draht festgehalten wurde. Gasse in Frankfurt lag - zu unserer Kanz- Die Geschäftsstelle des Bruderrates lei nur durch ein Stockwerk getrennt - kam befand sich ein Stockwerk unter unserer es zu keinem fruchtbaren Gedankenaus- Zentrale in der Neuen Schlesinger Gasse tausch. Martin Niemöller war der Leiter 24 in Frankfurt. Unverständlich ist mir des Bruderrates, der unsere Arbeit trotz noch heute, dass es keine Verbindung mancher Bedenken sehr schätzte. Mit ihm zwischen den beiden Zentralen gab. hätte also ein Gespräch möglich sein 58 In Politik unterentwickelt?

Erst heute wird mir so richtig den.“ Die Zeit war wohl noch nicht reif für bewusst, wie politisch unbedarft ich diese Erkenntnis Martin Luther Kings und damals war. Es entstand für mich die Dietrich Bonhoeffers. Letzterer meinte, Frage, wohin ich bei der nächsten man dürfe Opfer nicht nur behandeln und Bundestagswahl mein Kreuz machen ihre Wunden verbinden. Es müsse hier sollte. Der Vater eines meiner Mitarbeiter und da auch einmal wahnsinnigen spielte während der 50er Jahre in Bad „Kraftfahrern“ in die Speichen gegriffen Homburg bei der „Deutschen Partei“ (DP) werden. Jedenfalls hatte die ungenügende eine führende Rolle. In seiner Art Reaktion und das Unverständnis für die imponierte er mir, und da mir die politische soziale Frage verheerende Folgen für das Linke immer noch suspekt war, wählte ich öffentliche Leben, ganz besonders aber diese Partei, später die CDU. Letztere für die Kirchen; sie wirken ja bis auf den sprach mich wegen des „christlich“ an. heutigen Tag nach. Aus der Weimarer Zeit hätte mich die Vergessen hatte man da wohl das Erfahrung mit der Zentrums-Partei warnen eigene unsoziale Verhalten Mitte und müssen. Es war doch eine ungute Rolle, Ende des 19. Jahrhunderts angesichts der die sie damals gespielt hat. In der Industrialisierung unserer Arbeitswelt. politischen Auseinandersetzung wirkt m. Mahner wie Kolping ( 1865) auf der E. eine Partei, die behauptet, christlich zu katholischen Seite und Wichern ( 1881) sein und womöglich noch die Bezeichnung sowie Stöcker ( 1909) und andere auf der „christlich“ im Namen führt, klerikal in dem evangelischen - geradezu weitsichtige und Sinn, als wolle (könne?) sie die Botschaft prophetische Männer - konnten die Kir- der Kirchen in direkter Weise in ihre Politik chen (insbesondere die evangelischen) umsetzen - und als habe sie das, was mit nicht in Bewegung bringen. Dazu war in christlich gemeint ist, „allein gepachtet“. ihnen das Verständnis für die soziale Der Christ wird, wenn er Mitglied dieser Frage nicht lebendig genug. Das große Partei ist, automatisch – ob er es will oder Elend, das auf den ersten Generationen nicht - zum Gegner aller anderen Parteien, der Industriearbeiter lag, hat sie kaum obwohl er eigentlich in allen demokra- berührt; ja die betroffenen Menschen wur- tischen Parteien mit gutem Gewissen mit- den vielfach in ihrer Armut und ihre Nied- arbeiten könnte (und sollte!). rigkeit verachtet. Bestenfalls kam man – So wurde schon im Parlament der trotz mancher Ausnahmen – über eine Kaiserzeit aus Gegnerschaft – von der ein weithin persönliche, caritative Wohltätig- Parlament ja lebt – Feindschaft. Die Pro- keit nicht hinaus. bleme der aufkommenden Industrialisie- Auf diese Weise verloren die Kirchen rung, verbunden mit den wachsenden große Teile der Arbeiterschaft an die unzumutbaren Arbeitsverhältnissen und damals rein marxistisch orientierte Sozial- der zunehmenden Verarmung ganzer Be- demokratie. Sie wurden ihnen völlig ent- völkerungskreise, wurden in ihrer Bedeu- fremdet. Das war das traurige Ende der tung für das gesellschaftliche Leben kaum evangelischen Sozialpolitik im 19. Jahr- von den bürgerlichen Parteien erkannt. hundert. Die Nachwirkungen sind bis Was die protestantischen Kirchen anbe- heute zu spüren. Ein entscheidendes und langt, so kamen sie - bis auf ganz wenige entschuldigendes Wort zu diesen ver- Ausnahmen - über karitative Bemühungen hängnisvollen Vorgängen von Seiten der kaum hinaus. Der „Barmherzige Samari- Kirchen ist m. W. bis heute nicht ergan- ter“ (Lukas 10, 30-37) als Leitbild reicht gen. Luther war es wohl, der einmal unter solch katastrophalen Entwicklungen, gesagt hat, Buße (= Umkehr) sei ein freu- wie sie am Ende des 19.Jahrhunderts diges Geschäft. Jeder Wanderer kann dies entstanden waren, nicht aus. „Eines Tages bestätigen, wenn er in die Irre gegangen müssen wir begreifen, dass die ganze ist und dann den richtigen Weg doch noch Straße nach Jericho geändert werden gefunden hat. Ich verstehe nicht, warum muss, damit nicht fortwährend Männer und sich die Kirche bis heute diese Freude Frauen geschlagen und ausgeraubt wer- versagt. Hoffentlich rechnet sie nicht mit 59 dem schlechten Gedächtnis der Nachfah- mehr eine Waffe in die Hand nehmen!“ ren der damals Betroffenen! Franz Joseph Strauß 38 soll sogar erklärt Mit den Schlagworten „Kommunist“ haben: “Wer noch einmal ein Gewehr in und „Kapitalist“ konnte man (und kann die Hand nehmen will, dem soll die Hand man noch heute) jedes Gespräch und jede abfallen.“ Er war 1955 in der Regierung Diskussion ohne weiteres totschlagen, Adenauer Atomminister und 1956 Vertei- obwohl der heutige Kapitalismus im Zeit- digungsminister. Ein „Scherz“, den man alter der Globalisierung einen das Fürch- einem Kabarettisten nie abgenommen ten lehren kann. Wer´s nicht glauben will, hätte. Aber vielleicht musste er als Vertei- der sehe nur in die heutige moderne digungsminister auch tatsächlich nie eine Arbeitswelt und betrachte das Schicksal Waffe anfassen?? der Millionen Arbeitslosen. „Hire and Schon im neuen Grundgesetz, der fire“ 37 , das ist die Losung weithin für viele Verfassung der Bundesrepublik Deutsch- Arbeitgeber. Man werfe mir bitte nicht vor, land, im Mai 1949 verkündet, ist mit der heute noch kommunistische Ideen zu ver- Einführung der Kriegsdienstverweigerung treten. Wenn dies je der Fall war, so bin die Möglichkeit von Streitkräften nicht ich durch das, was ich während meiner ausgeschlossen worden. Alfred Grosser sowjetischen Kriegsgefangenschaft zu schreibt dazu: „Der Kanzler und seine sehen und erleben bekommen habe, Partei werden daraus den Schluss ziehen, immun geworden. dass die Wiederbewaffnung ex negativo Diese Probleme beschäftigten mich verfassungskonform ist“! 39 . Politiker aller damals, bevor ich meine Mechaniker- Couleur beteuerten unisono ihre Abnei- /Schlosserlehre antrat, überhaupt nicht. gung gegen jegliche Form der Bewaff- Unser Glaube war ein subjektives Chri- nung. Konrad Adenauer, damals Landes- stentum, allein auf die eigene Person vorsitzender der CDU in Nordrhein-West- bezogen; es ging kaum über den „Näch- falen, sagte an der Jahreswende sten“ hinaus. Was um uns herum und 1946/47:“...Wir sind einverstanden, dass draußen in den Völkern geschah, berührte wir völlig abgerüstet werden, dass unsere uns nur am Rand – es war halt die „böse reine Kriegsindustrie zerstört wird... Ja, ich Welt“. Wir waren im Pietismus gegründet will noch weitergehen: Ich glaube, dass mit seiner Betonung der individualistisch- die Mehrheit des deutschen Volkes ein- verinnerlichten Frömmigkeit. Eines unse- verstanden sein würde, wenn wir wie die rer liebsten Lieder war z. B.:„Stern, auf Schweiz völkerrechtlich neutralisiert wür- den ich schaue, Fels, auf dem ich steh´, den...“ 40 Führer, dem ich traue, Stab, an dem ich geh. Brot, von dem ich lebe, Quell, an dem ich ruh, Ziel, das ich erstrebe, alles, Herr bist du!“ Sieben mal „ich“ allein in der ersten Strophe! In dieser Diktion stehen 38 * 1915, 1953-55 Bundesminister f. auch die beiden anderen. Was Wunder, besondere Aufgaben, 1955/56 Bundes- dass dieses Desinteresse gegenüber der Atomminister, 1956-62 Bundes-Verteidi- beginnenden Diskussion um die Wieder- gungsminister; seit 1961 Vors. der CSU bewaffnung sogar in unserem Jugendwerk (Christlich-Soziale-Union), 1966 – 69 bestand. Dabei wäre es sehr wichtig Bundes-Finanzminister, 1978 – Mini- gewesen, die Jugendlichen in unseren sterpräsident v. Bayern, + 3. 10. 1988. Kreisen auf diese Problematik vorzube- Zu der Äußerung (aus dem Bundes- reiten. Aber das empfanden wir nicht als tagswahlkampf 1949) betr. `Gewehr in die Hand nehmen...´ erklärte Strauß unseren Auftrag. selbst: „Die ist nur im Zusammenhang Wer gehörte damals nicht zu den zu verstehen...“.(Internet: ACSP, NL Menschen, die den Krieg in seiner ganzen Strauß Slg. Kray I 75/40. Härte und Unmenschlichkeit erlebt hatten? 39 Alfred Grosser, „Geschichte Deutsch- Die meisten schworen nicht nur: „Nie wie- lands seit 1945“, Deutscher Taschen- der Krieg!“, sondern auch: „Ich werde nie buchverlag GmbH, 1974, S.133). 40 aus „Sozialkundebriefe für Jugend und Schule, Hessische Landeszentrale 37 (engl.) anstellen und entlassen - wie´s für politische Bildung, Reihe G/15, März gerade den Arbeitgebern passt! 1968, Seite 14. 60 Der Sozialdemokrat Professor Carlo Läden volle Schaufenster. Zwar war der Schmid 41 erklärte Anfang 1946:“[...]Wir offizielle Tauschkurs für alle 1:10; aber wollen unsere Söhne niemals mehr in die Bauern, Fabrikbesitzer und Kaufleute Kasernen schicken, und wenn noch ein- hatten heimlich Vorratslager angelegt und mal irgendwo der Wahnsinn des Krieges wurden dafür belohnt, dass sie gesetzliche ausbrechen sollte, dann wollen wir eher Vorschriften missachtet hatten. Typisch untergehen und dabei das Bewusstsein der Apotheker, der noch am 17. Juni haben, dass nicht wir das Verbrechen bedauerte, „einer Mutter nicht das eine begangen und gefördert haben...“ 42 . Diese oder andere Medikament für ihr krankes Vorstellungen [...] waren noch lebendig Kind geben zu können. Am 20. hatte sich und wirksam, als im Dezember 1949 (4½ das Wunder ereignet: Er verkaufte dieses Jahre nach Kriegsende!- GK) die Diskus- Medikament, ohne dass in der Zwischen- sion um den deutschen Wehrbeitrag zeit ein Lieferwagen vor seiner Tür gehal- begann.“ 43 Zur selben Zeit, im Dezember ten hätte“ 49 . 1949, erklärte v. Brentano 44 für die Immer mehr zeigte sich die alte CDU/CSU: “[...] Dem deutschen Volk liegt Feindschaft: hie Kapitalismus, da Kommu- ... der Gedanke einer Wiederaufrüstung nismus. Leider war das Dekret des Hl. fern [...]“. Und Erich Ollenhauer 45 unter- Offiziums v. 1. 7. 1949 50 mit der zuvor strich: „[...] Die sozialdemokratische Frak- unter Papst Pius XII ausgesprochenen tion lehnt es ab, eine deutsche Wieder- Exkommunikation aller Kommunisten nicht aufrüstung nur in Erwägung zu ziehen“. 46 geeignet, Frieden zu stiften. Zum Glück 1951 ergab eine repräsentative Befragung distanzierte sich die Evangelische Kirche der deutschen Bundesbürger nur 47% im Rahmen eines „Kirchlichen Wortes“: positive Stimmen (immerhin! -GK), 1953 „Die Kirche [...] wird die in jener offiziellen wurden es 59% - 1959 waren es 73% 47 Stellungnahme der katholischen Kirche Die Federzeichnung von A. Paul Weber dokumentierten Entscheidung sich nicht (1950/53) ist also keineswegs übertrieben, zueignen und in die dort gebildete weltpo- wenn sie darstellt, wie die aus dem litische Front nicht im Namen der Verteidi- Kriegsverbrecher-Gefängnis Entlassenen gung des Evangeliums einschwenken bereits wieder in Uniform und unter Ge- können“. Es wird auch eine „billige wehr im Gleichschritt durchs Tor mar- unwahrhaftige Neutralität“ abgelehnt 51 . In schieren 48 (Bild 16). diesem „Wort“ heißt es u. a. weiter: „Es ist Allerdings hatte sich die Weltlage unmenschlich, den Menschen als eine und mit ihr die alliierte Deutschlandpolitik Arbeitsware zur Vermehrung des Kapitals von Grund auf geändert. Durch die eigent- zu behandeln. Es ist unmenschlich, ihn lich ungerechte Währungsreform hatten zum Zwangsarbeiter im Dienst staatlicher von einem Tag zum anderen z. B. die Planwirtschaft zu erniedrigen“. Trotz sei- ner weiten Verbreitung in Gottesdiensten 41 1896 – 1979, dt. Politiker, 1947 – 71 und trotz seines brisanten Inhalts löste es Mitgl. des Parteivorstandes der SPD, keine größere Debatte aus. hatte maßgebl. Einfluss auf das Godes- Das änderte sich schlagartig nach berger Programm, 1948/49 Mitgl. d. einem Interview Adenauers am 4. Dez. Parlamentarischen Rates, MdB 1949-72, 1949 in einer amerikanischen Zeitung, in 1969 - 72 Bundesminister, ab 1969 dem er ausführte, Deutschland sollte zur Koordinator f. d. dt.-frz. Zusammenar- Verteidigung in einer europäischen Armee beit. 42 und unter deren Kommando beitragen. Die aaO, Seite 14. Wellen schlugen besonders hoch nach 43 aaO, Seite 14 44 einem Interview Martin Niemöllers in der Heinrich von,.1904 – 1964, dt. Politi- ker (CDU), 1955 – 61 Außenminister. 45 1901- 1963, dt. Politiker (SPD), ab 1952 Partei- u. Fraktionsvors. 46 aaO, S 14 49 Alfred Grosser, aaO, S. 100. 47 aaO, S 14 50 es wurde erst unter Papst Johannes 48 aus A. Paul Weber, Hoppla Kultur, 50 XXIII. wieder aufgehoben. (s. Karl Her- Bilder zur Herrlichkeit unserer Zeit, C. bert, Kirche zwischen Aufbruch und Tra- Bertelsmann Verlag, 11. – 20 Tau- dition, aaO. Seite156 u.364) send 1954. 51 Ebenda, S. 156 61 New York Herald Tribune, ebenfalls im versagen [...]. Wenn es so ist, dass nach Dezember. 52 Meinung des Heiligen Vaters der Fall Es wurde weiter heftig gestritten. gegeben sei, dass eine Kriegsführung Immer mehr aber war man längst auf die nicht Recht, sondern sogar Pflicht der Option für den Weststaat fixiert, sodass Staaten ist, dann ergibt sich daraus, dass jeder Gedanke an Neutralität als Verrat eine Propaganda für eine uneinge- oder Kapitulation diskreditiert wurde. Es schränkte und absolute Kriegsdienstver- schreckte auch weite Kreise der deut- weigerung mit dem christlichen Gedanken schen Bevölkerung nicht der Gedanke, nicht vereinbar ist. [...] Der Heilige Vater dass bei einer Wiederbewaffnung und lässt keinen Zweifel daran, dass es eine einer evtl. militärischen Auseinanderset- verwerfliche Sentimentalität und ein falsch zung zwischen West und Ost Deutsche gerichtetes Humanitätsdenken wäre, wenn gegen Deutsche kämpfen müssten und man aus Furcht vor den Leiden eines dieser Krieg auf deutschem Boden ausge- Krieges jegliches Unrecht geschehen tragen würde. ließe“. 55 Eine weitere Steigerung der Bereit- In den kommenden Jahren vertiefte schaft zur Teilnahme an einer Westarmee sich die Spaltung immer mehr. Dennoch brachte der Ausbruch des Korea-Krieges. gab es Angebote der DDR-Regierung in Man sah eine Parallele zur Situation in einer Botschaft vom September 1951, ja Mitteleuropa, obwohl die Dinge hier völlig sogar die Note der Sowjetunion vom März anders lagen. Das Schreckgespenst des 1952 an die drei Westmächte. Sie enthielt unersättlichen Kommunismus´ ging allent- den Vorschlag einer sofortigen Konferenz halben um. Am 11. August 1950 sprach über den deutschen Friedensvertrag, Wie- Winston Churchill in der Beratenden Ver- derherstellung eines einheitlichen (!) deut- sammlung des Europarates davon, schen Staates, ein Jahr danach Abzug der „Europa zu einer politischen Gemeinschaft Besatzungstruppen, Verpflichtung zusammen zu schließen, die stark genug Deutschlands, keinerlei Militärbündnisse sein müsse, jeder Gefahr zu begegnen“ gegen einen der am Krieg beteiligten und dass Deutschland hoffentlich zu Staaten einzugehen, das Recht zur Auf- einem militärischen Verteidigungsbeitrag stellung eigener Verteidigungsstreitkräfte bereit sein würde. Ihm widersprach Carlo und Grenzen gemäß dem Potsdamer Schmid, während andere deutsche Dele- Abkommen. gierte wie Gerstenmaier 53 und von Bren- Das Angebot war erstaunlich, wenn nicht tano ihre Entschlossenheit zur Unterstüt- sensationell. Selbst Stimmen aus dem zung eines Wehrbeitrags bekundeten. 54 Regierungslager und bis ins Kabinett Mit einer gemeinsamen Stellung- hinein, z. B. Minister Jakob Kaiser 56 , for- nahme beider christlichen Kirchen war derten eine gründliche Prüfung. Aber Ade- nicht zu rechnen. In einer Aufsehen erre- nauer vermutete eine Durchkreuzung sei- genden Rede des Kölner Kardinals Frings nes Konzeptes: Der Westen muss so stark auf dem Deutschen Katholikentag in Bonn werden – stärker als die Sowjetunion – , Ende Juli 1950 erklärte er: „Die Völker dann sei der Zeitpunkt zu einem vernünfti- haben nicht nur das Recht, sondern die gen Gespräch gekommen. Die West- Pflicht, auch mit Waffengewalt das mächte antworteten mit Adenauer hinhal- gestörte Recht und die gestörte Ordnung tend. Eine erneute Note der SU im April wieder herzustellen, falls die göttliche ging über die erste hinaus: Es wurden Ordnung in ihren tiefsten Fundamenten freie gesamtdeutsche Wahlen zugestan- bedroht ist und falls alle anderen Wege

55 aaO. S. 173, vollständiger Text in: Kir- 52 K. Herbert, aaO., S.157/58. chenzeitung für d. Erzbistum Köln, 5. Jg. 53 Eugen, 1906 – 86, dt. Politiker (CDU), Nr. 16 v. 6. 8. 50 unter dem Titel „Friede ev. Theologe, Mitgl. d. Bekennenden Kir- um jeden Preis?“ che u. d. Widerstandes geg. Hitler, nach 56 1888 - 1961, dt. Politiker, Mitgl. d. dem 20. Juli 1944 zu 7 Jahren Zuchthaus Reichstages (Zentrum), Mitbegr. u. Vors. verurteilt, 1954 – 69 Präs. d. dt. Bundes- (bis 1949) d. CDU i. d. sowj. Besatzungs- tages. zone u. Berlin 1948/49 Mitgl. d. Parla- 54 aus: K. Herbert, Kirche zwischen Auf- mentarischen Rates, 1949 – 57 MdB u. bruch und Tradition, S. 171/172 Bundes-Minister f. Gesamtd.- Fragen. 62 den. Dieses Angebot bot sogar mehr, als nauers, seine Ablehnung der Wiederbe- Adenauer zum Jahreswechsel 1946/47 waffnung vor. Dabei beanstandete er vor erklärt hatte: Er glaube, dass die Mehrheit allem, dass der Kanzler viele Entschei- des deutschen Volkes mit einer Neutrali- dungen im Alleingang getroffen hatte, sierung Deutschlands ähnlich der der sogar ohne das Kabinett auch nur zu Schweiz einverstanden wäre. (s.oben). informieren. Es erregte großes Aufsehen, Der Notenwechsel endete, nachdem noch dass Heinemann darauf im Oktober ent- vor Juni die Westverträge unterzeichnet lassen wurde. wurden. Die Sowjetische Antwort folgte Es führt zu weit, noch mehr davon sogleich: Die Zonengrenze wurde abge- zu berichten. Es ist mir wohl auch eine sperrt und die Aufstellung eigener DDR- Frage, ob es gut und sachlich richtig ist, Streitkräfte angekündigt. wenn ich in einer Art Lebensbericht so viel Natürlich gab es dort schon schwer aus Kirche und Politik bringe. Es geht mir bewaffnete Polizeikräfte. Die gegenseiti- aber, besonders in den letzten Absätzen gen Vorwürfe mehrten sich. Es ist die alte darum darzustellen, wie früh schon nach Frage: Wer war zuerst da - die Henne Beendigung des Krieges eine Wiederbe- oder das Ei? In seinen Erinnerungen waffnung ins Auge gefasst – und dann ja spricht Adenauer vom „Anerbieten einer auch verwirklicht worden ist. Selbst auf deutschen Beteiligung“. Von seiner vor Atomwaffen wollte man auf Dauer nicht dem Memorandum vom 29. August 1950 verzichten. Außerdem staune ich und bin stattgefundenen „entscheidenden Bespre- entsetzt, was alles bis heute bekannt chung“ mit den Hohen Kommissaren geworden ist, von dem man damals keine berichtet er, dass er „den Wunsch nach Kenntnis erhalten hatte. Außerdem nehme Genehmigung zum Aufbau einer deut- ich an, dass es auch für manchen Leser schen Freiwilligenstreitmacht bis zu einer dieses Berichtes interessant sein könnte, Gesamtstärke von 150.000 Mann ausge- nun deutlicher zu erfahren, was zu dieser sprochen habe.“ Diese Bitte Adenauers Zeit um uns herum so geschah - im eige- kann man wohl als den eigentlichen nen Land und in der großen Welt. Beginn der Aufrüstung der BRD ansehen. Überhaupt war ich damals, trotz Die westliche Propaganda von der kriegs- mancher Kritik und Unzufriedenheit, auf lüsternen Aggressivität des Kommunismus meine Arbeit im Jugendwerk so stark kon- und eine entsprechende These auf östli- zentriert, dass ich – heute sage ich: leider cher Seite korrespondierten miteinander. - vieles andere vernachlässigt habe. Dazu Dennoch: Ob ein heißer Krieg in Europa gehören manche Freunde und vor allem jemals ernstlich gedroht hat, darf heute meine Familie in Hanau und Thüringen. bezweifelt werden. Dort wird man meine Einseitigkeit kaum In einem offenen Brief äußerte Nie- verstanden und sicher hier und da über möller am 4. Oktober in schonungsloser mich den Kopf geschüttelt haben. Nicht Offenheit seinen Verdacht: „Trotz aller nur Paul Both, sondern gerade die Aufga- gegenteiligen Zeitungsnachrichten wird die ben, vor die ich mich gestellt sah, erlaub- Remilitarisierung Westdeutschlands [...] ten wenig Ablenkung. Da waren vor allem mit allen Mitteln betrieben. Hohe Offiziere die Jugendkreise, die zahlenmäßig stark werden eingestellt, Organisationsstäbe zur angewachsen waren. In den Schulferien Aufstellung deutscher Einheiten [...] sind fanden Lager statt, an denen ich verant- ab 1. Oktober d. J. tätig. [...] Vor den wortlich mitarbeitete. Auch die Leitung von Augen und Ohren des gesamten deut- Fahrten konnte ich noch nicht meinen Mit- schen Volkes bitte ich Sie, Herr Bundes- arbeitern allein überlassen. Also musste kanzler, [...] nicht vollendete Tatsachen zu ich selbst „ran“. So fuhren wir z. B. mit schaffen“. – Adenauer, lt. seiner Biogra- dem Fahrrad kreuz und quer durch den phie, wurde „in eine Erregung versetzt, wie Spessart, meinem alten Hanauer „Haus- man sie selten an ihm erlebt“. Im Kabinett berg“. Eine größere Fußwanderung ist mir äußerte er: „Was Niemöller jetzt treibt, ist noch in Erinnerung: Sie führte vom Rhein glatter Landesverrat.“ 57 bei in den Westerwald, wo wir In erbitterten Auseinandersetzungen sogar in ein noch arbeitendes Bergwerk trug Heinemann, der Innenminister Ade- einfahren durften, in dem wir uns vor Ort mit Hauern und Steigern unterhalten konn- ten – für uns alle eine nicht geringe 57 K. Herbert, aaO., S.179 Sensation.

64 65 Knopf auf Freiersfüßen

Große Sommerlager, jeweils mit Dass mein Eindruck nicht verkehrt war, über 100 Teilnehmern, fanden im Mon- wurde eigentlich erst jetzt – nach seinem bachtal an der Nagold und immer wieder Tod - deutlich durch die Veröffentlichung 58 in der alten Haslachmühle im Bodensee- des Briefwechsels zwischen PB und Karl land statt. Zunehmend war ich auf allen Heinz Hahn 59 , den er – und das war Lagern verantwortlich für die Küche. Nur damals geheim – zu seinem Nachfolger im Monbachtal wurden wir von der Heim- ausersehen hatte. So schreibt PB Weih- leitung durch deren Küche versorgt. Schon nachten 1964: „Mein lieber, treuer K. H.! 60 vor Beginn war es meistens meine Auf- [...] Du schienst ausersehen zu sein, mein gabe, für Mütter in der Küche zu sorgen. Lebenswerk fortzusetzen und mir, solange Wenn diese dachten, ihnen winke ein ich noch ein Amt habe, zur Seite zu ste- mehrwöchiger Urlaub, so war dies ein hen. Und nun droht das ein Ende zu schwerer Irrtum. Jeden Tag so viele hung- haben.(..) Einmal ist mein derzeitiger rige Mäuler zu stopfen war – zumal im Gesundheitszustand bedenklich [...] Auch Hochsommer – eine schweißtreibende, ich brauche in meiner Lage einen Men- schwere Arbeit, auch wenn die Finanzie- schen im Werk, der mitträgt und mich nicht rung, Aufstellung des Speiseplanes und enttäuscht. [...] ich habe seit einigen Jah- Besorgung der Naturalien nicht ihre, son- ren den starken Eindruck gehabt, als sei dern meine Aufgabe war. Das hat mir es für den Mann nach Hamel und Both auch niemand an meiner Wiege gesun- nötig in der heutigen Lage in der Welt, gen, dass ich einmal Küchenchef (Bild 17) völlig ohne menschliche Bindung zu blei- werden sollte. Zum Glück gestand mir die ben. Und nach Deinen Bemerkungen am Lagerleitung einen Helfer zu, Ordonnanz letzten Freitag wärst Du dazu wie selten genannt. Außerdem war ich immer wieder einer in der Lage! [...] Charisma ist nicht „Mädchen für alles“, besonders bei techni- Sondergabe, sondern Sonderaufgabe - schen Problemen bis hin zur Installation und wie lautet Deine Antwort, wenn Du in und Bedienung einer Verstärker-Anlage, der prophetischen Situation stehst: Mein die damals noch etwas komplizierter war Auftrag in diesem einzigartigen Werk – als heute. Ich steckte also bis über beide oder N.? 61 [...] Warum, K. H., willst Du Ohren in der Arbeit. eigentlich heiraten? – [...]“ Schließlich verliebte ich mich noch Mein „Verhältnis“ ging nach einigen zu allem in die Mutter eines meiner Jung- Monaten in die Brüche. Den Anstoß dazu scharler. Sie hatte ich bei einem Hausbe- gaben der Rat guter Freunde und das an such kennen gelernt, ihr Sohn war damals sich geringfügige Erlebnis, dass mir der etwa 9 Jahre alt und besuchte die von mir Junge bei einem Abschied lauthals nach- geleitete Jungschar in Bad Homburg. Ihr rief: „Auf Wiedersehen, Papa !“ Da wurde Mann war im Krieg gefallen. Näher kennen mir blitzartig klar, welche Hoffnungen ich gelernt habe ich sie als Küchenfrau bei bei beiden bereits geweckt hatte. So weit einem Jungenlager in Haus Heliand, bei war ich noch nicht. Ich zog mich also dem ich – wie üblich – Küchenchef war. Alle konnten das verstehen, nur Paul Both 58 in:“ Weit sind die Wege“, 50 Jahre nicht. Ich musste natürlich die Liaison Heliand-Pfadfinderschaft 1946-1996, geheim halten, denn ich „witterte“ damals hrsgg. von Stefan Wiesner, 1996, Helène mehr als ich wusste, wie PB die Angele- Druck GmbH, Darmstadt. Seite 446 ff. 59 genheit beurteilen würde. Ich fürchtete, *1931, + 26. 08. 1986, ehem.Kollege, dass mein Verhältnis zu ihm, das ohnehin hauptamtlicher Mitarbeiter im Jugend- werk. zunehmend gespannter wurde, durch die- 60 sen Tatbestand unnötig belastet werden unter Pfadfindern übliche Anrede unter Verwendung der Anfangsbuchstaben des könnte. Vornamens oder/und der Anfangssilben Er war zwar verheiratet und Vater des Familiennamens. von fünf Kindern (Bild 18), hatte aber wohl 61 Hahns spätere Ehefrau Uta, die diesen die fixe Idee, Liebe und Ehe seien dem Briefwechsel nach dem Tod ihres Mannes Einsatz in der Reichsgottesarbeit im veröffentlicht hat. Wege. Ob er da aus Erfahrung sprach? 66 zurück, leider nicht ganz gentleman-like. besprochen – ja sogar getanzt. Wenn das Durch diese Geschichte war mir aber doch PB gewusst hätte! klar geworden, dass ich angesichts mei- Mit gemischten Gefühlen ging auch nes Alters dieses „Problem“ nicht mehr auf ich hin, angestachelt durch meinen stärker die lange Bank schieben konnte. gewordenen Widerspruchsgeist. Um es Ein älterer hauptamtlicher Kollege, kurz zu machen: Die ganze Sache war Walter Harder, der schon verheiratet war, nicht nach meinem Geschmack. Ein Han- muss diese Schwierigkeit – nicht nur bei dikap war auch, dass ich nicht tanzen mir – bemerkt haben. Durch das „Jungen- konnte. Ich war gewissermaßen ein Opfer und Jungmänner“ im Namen unserer der engstirnigen Einstellung (nicht nur bei „Firma“ (Evangelisches Jungen- und mir, sondern auch im ganzen Werk) aus Jungmännerwerk in Hessen und Nassau) der Zeit vor dem Krieg und der Ausklam- waren wir gegenüber dem anderen merung der „Mädchenfrage“ im Jugend- Geschlecht stark isoliert. Das war nicht werk. Dies war ein schlimmer Fehler, von zufällig. Es war aber doch ziemlich anti- der Tabuisierung der Sexualität ganz zu quiert und stammte noch aus der Zeit, wo schweigen. Besonders betraf das die sogar in der Grundschule Buben und Pfadfinderschaft. Außerdem war ich Mädchen in den Klassen und auf dem damals viel zu schüchtern, und – man Schulhof voneinander getrennt waren. Er spürte bei dieser Veranstaltung die lud in seine Wohnung Mitarbeiterinnen aus Absicht – war verstimmt. In „freier Wild- dem Mädchenwerk und Mitarbeiter aus bahn“ wäre womöglich manches anders unserem Werk zu zwanglosem Zusam- verlaufen. mensein ein. Da wurde gespielt, Literatur Bild 17 Der Küchenchef mit seiner „Ordonnanz“

Bild 18 Paul Boths Familie 68 69 Neu-Orientierung

Ich ging also brav – aber doch Katholik auf dem Weg zur Schule schnell zunehmend lustlos - meiner Arbeit nach, in seine Kirche gegangen war. Sein dorti- besonders im Büro, wo sie am wenigsten ger Kniefall aber hinderte ihn nicht daran, meinem Berufsziel entsprach. Da wurde immer wieder mir und einem Klassenka- es eine große Versuchung, dass ich durch meraden, dessen Vater „nur“ Arbeiter war, die Vermittlung meines Gefangenschafts- bei jeder Gelegenheit klar zu machen, freundes Werner Reininghaus eine ganze dass wir eigentlich nicht auf ein Gymna- Reihe von Angeboten zu Jugendleiter- sium gehörten. Und das, obwohl wir beide stellen erhielt. Ihm war PB allein schon im Notendurchschnitt weit über dem der vom theologischen Standpunkt her sus- Klasse standen. Er gehörte zu den Typen, pekt. Natürlich war ihm auch das autori- bei denen der Mensch erst beim Akademi- täre Gebaren zuwider, und er wollte mich ker anfängt, die auf jeden braven Hand- da herausholen. werker herabsehen, aber schon in Panik Im Bereich der württembergischen geraten, wenn daheim der Wasserhahn zu Kirche wurden mir Stellen angeboten, tropfen anfängt. Jetzt sprach ich „Enno“ Bezirksjugendwart in Stuttgart-Bad Cann- an. Warum er nicht mehr in Hanau statt und Heilbronn. Der Landesjugend- wohnte, war mir klar. Sein Hobby war pfarrer Class suchte für das Evangelische schon zu meiner Schulzeit Ausgrabungen, Hilfswerk den Leiter eines Heimes für und wir haben als Schüler oft dabei junge Sowjetzonen-Flüchtlinge. Das wäre geholfen. Nun, als Pensionär, fand er in etwas im Sinne meiner Berufsabsichten der Nähe der Saalburg, dem alten Römer- gewesen! Aber von heute auf morgen war kastell, ideale Verhältnisse für seine Lei- es nicht möglich, so schnell von PB weg denschaft. Er fragte mich u. a., was ich zu kommen. Das konnte ich dem Jugend- beruflich täte. Als ich sagte, ich sei in werk nicht antun. Die Anstellungen in evangelischen Gemeinden des Dekanates Württemberg wurden entweder durch die Bad Homburg Jugendleiter, meinte er Kirche oder den CVJM angeboten. In den abfällig, ob das auch ein Beruf sei? Ich kirchlichen Dienst wollte ich grundsätzlich hätte ihn am liebsten angesprungen. Ich nicht, obwohl die Verhältnisse dort wohl verabschiedete mich kurz und nicht ganz anders waren als in Hessen. Der gerade freundlich. Aber in der Folgezeit CVJM war mir zu pietistisch; da fürchtete gab mir diese Äußerung doch zu denken. ich, vom Regen in die Traufe zu kommen. Im Frühjahr 1956 teilte mir Heinrich Schließlich erhielt ich sogar ein Angebot Mohn mit, dass in seiner Firma – Heraeus- aus England nach Sheffield. Woher man Quarzschmelze in Hanau – zum Herbst dort von mir wusste, war mir ein Rätsel. die Einrichtung einer Werkmeister-Stelle Ich sagte ab; das Abenteuer war mir zu geplant sei, und er sich denken könne, groß. PB roch bestimmt den „Braten“; aber dass ich dafür gut geeignet sei. Die Firma er äußerte mir gegenüber keinen Ton. Ich unterhielt am Rande des Firmengeländes musste allmählich feststellen, dass mein der Höchster Farbwerke eine Werkstatt, in ursprünglicher Plan aus Gefangenschafts- der Quarzglas in einem Sonderverfahren zeiten nicht mehr zu verwirklichen war. geschmolzen wurde. Das dazu nötige Meine späte Heimkehr war mir zum Ver- Wasserstoff-Gas bezog man über eine hängnis geworden. Die Zeit zum Neben- Leitung direkt aus dem Höchster Chemie- einstieg in manche Berufe war vorbei. betrieb. Der Transport des Gases über die Eine merkwürdige Begegnung in Straße oder über die Bahn war zu gefähr- diesen Tagen machte mich zusätzlich lich und zu teuer, und so wurde das in nachdenklich: Bei einer Besorgung in Bad Hanau aufbereitete Schmelzgut dorthin Homburg traf ich Dr. Ricken, meinen alten und das fertige Glas zurück nach Hanau Klassenlehrer. Ich hatte ihn schon öfter zur Weiterverarbeitung befördert. Gear- gesehen; aber zu einem Gespräch war es beitet würde in drei Schichten zu je 8 nie gekommen. Warum auch? Er war nicht Stunden. Meine Arbeitszeit würde ich „mein Fall“, eher der Schrecken meiner letztendlich selbst auf die Schichten ver- Schulzeit. In letzter Minute kam er damals teilen können, wobei ein öfterer Wechsel immer angehetzt, nachdem er als frommer der Sache nur dienlich sei. 70 Für mich ergab sich die Zukunfts- erreicht: Ich hatte neben einem Beruf die perspektive, dass ich im Bad Homburger Möglichkeit, es mit Menschen zu tun zu Dekanat die Jugendarbeit weiter tun haben. Außerdem war die Zukunft jetzt konnte, gewissermaßen nebenberuflich. offen nach der Regel: Kommt Zeit, kommt Das bedeutete aber die Kündigung meiner Rat. Noch vor Beginn der Osterfeiertage Arbeitsstelle bei PB. Die in meinem gab ich bei der Nagolder Post meine Kün- Anstellungsvertrag vereinbarte halbjährige digung fristgerecht per Telegramm auf. Es Kündigungsfrist war dem nicht im Weg. Ich war freilich kein gutes Ostergeschenk für fuhr also fröhlich mit meiner treuen DKW PB, aber der Termin Herbst 1956 ließ mir ins Nagoldtal, um dort – wie üblich – das keine andere Wahl. Außerdem war mir ein Osterfest zu verbringen. Es bot sich dabei weiteres Zusammenarbeiten mit ihm in der noch die Möglichkeit, mit Werner die neue seitherigen Form allmählich unmöglich Lage zu besprechen. Da traf ich auf kei- geworden. nen Widerstand, denn ein Ziel war ja 71 Vorbild oder ...?

Wohl selten in meinem privaten Helmut Graf 62 : „Von 1948 bis 1966 bin ich Leben hat ein Mensch mich so betroffen Paul Both immer wieder und immer öfter gemacht und bewegt wie Paul Both. In begegnet: als Teilnehmer von Treffen und positiver Weise geschah dies als Pfadfin- Lagern, als Ordonnanz, als Adjutant und der vor der Eingliederung in die Hitler- später als Fahrer seines Wagens, auf Mit- Jugend, als Mitarbeiter danach und auch arbeiterkursen, Führerkreisen, im Stam- noch als Soldat während des Krieges. In mesführerkreis und auf Leiterkursen, als dieser Zeit gehörte er zu den Menschen, Verantwortlicher für das Freizeitheim bei die mich erleben ließen, dass der Glaube Haus Heliand, als `Mädchen für alles´ an diesen Mann aus Nazareth etwas ist, (insbesondere für Technik) – als Schwie- mit dem ein Leben gewagt werden kann. gersohn und Vater der ersten Enkelkin- Das ging bis zur inneren Zustimmung zu der.“ – „Vor allem die strenge soldatische dem Satz, den PB öfter zitierte: „ER ist es Form, [...] hat viel Kritik ausgelöst. Warum wert, dass man ihn ehrt und sich in seinem hat er 1946 so weiter gearbeitet, wie er Dienst verzehrt“. Erhärtet wurde diese 1933 aufgehört hatte?“ (– als wenn in der Überzeugung durch meine Erlebnisse im Zwischenzeit nichts Besonderes gesche- Krieg und in sowjetischer Gefangenschaft. hen wäre! GK) „Ermuntert von Außen (im Ich habe auch heute keinen Zweifel daran, Wesentlichen durch die siegreiche US- dass es sich bei ihm um einen begnadeten Armee mit ihren GYA – German Youth Charismatiker handelte. Das geht auch Aktivity-Offizieren – GK) machte er so aus vielen (unzähligen?) Äußerungen her- weiter, wie er es wusste – wie viele vor, die von ehemaligen Mitgliedern des andere, gerade im Bereich der Evgl. „Both´schen Jugendwerkes“ vorliegen. Jugendarbeit, auch.“ Diese Bezeichnung der Jugendarbeit im [...] „Es gab allerdings innerhalb des Frankfurter Raum konnte er übrigens nicht Werkes Menschen, die diesen Neuanfang leiden. für falsch hielten. Mein Vorgänger im Über Verstorbene soll man nicht Hauptamtlichen Dienst [...] war Günter schlecht reden. Ich habe auch nicht vor, Knopf“.[...] „Günter verließ das Werk, weil dies von PB zu tun. Es geht schon gar er PBs Linie nach dem 2. Weltkrieg nicht nicht um eine Verurteilung. Es geht mir um mehr mittragen konnte und wollte.“ [...] Er die Wahrheit über einen bedeutenden meint, „wenn PB den Krieg in Rußland Abschnitt meines Lebens. Indem ich nun miterlebt hätte, wäre seine Haltung zum das Für und Wider hinschreibe, gewinne ‚Soldatischen´ eine andere geworden.“ ich ja selbst auch Klarheit. Es soll hier Ein ehemaliger Mitarbeiter in Frank- auch nicht sein Verhalten in der Zeit des 3. furt, Dr. Siegmar Tyroff, schreibt im selben Reiches verhandelt werden. Beim Pro- Blatt (S. 15) u.a. über PB: „Seine christli- pheten Jesaja heißt es (53, 6): „Wir gingen che Verkündigung geschah häufig apodik- alle in die Irre wie Schafe...“ Das gilt mit tisch, eindrücklich und Emotionen mobili- Ausnahme einiger weniger Begnadeter für sierend in einer Art pietistischem Struktu- uns alle damals. PB hat mit seiner Fest- ralismus, in pädagogisch wohldosierten nahme und einer unmenschlichen Haft kleinen Dosen zulebriert.“ [...] „Ich dachte teuer bezahlt. Man hätte erwarten können, damals, wenn es im Himmel Heerscharen dass er aus dem allem andere Konse- gibt, wird Both dort einmal Verteidigungs- quenzen gezogen hätte. Es ehrt ihn, dass minister.“ [...] „Dass Both mit seinem er sich zu seinen Irrtümern im Gegensatz Werkspersonal (Gärtner, Knopf, Weck- zu manch anderen ehrlich gestellt hat. bach, KH [Karl Heinz Hahn – GK]) nicht Aber leider hat er als der große Praktiker immer sensibel umging, störte mich nach dem Krieg da angefangen, wo er manchmal als Jugendlichen ein bisschen, vorher aufgehört hatte. ich machte mir aber nicht genug Gedan- Vielleicht ist es aber besser, wenn statt mir im Folgenden vor allem andere 62 in: „Der Weg geht weiter!“, Ehemaligen- Zeitzeugen zu Wort kommen. So schreibt Rundbrief. der Heliand Pfadfinderschaft, Ausgabe 10. 7. 2003, Seite 12 ff. 72 ken darüber. Und dass Both gegenüber ren gab es in der Tat keinen anderen, der höher gestellten Persönlichkeiten in eine in so brillanter, einzigartiger Weise bibli- ganz andere Rolle, fast devot, verfallen sche Geschichte lebendig werden ließ, der konnte, irritierte mich. Daneben konnte Verkündigung so dicht und faszinierend Both aber auch sehr liebenswürdig ver- betrieben hatte wie er. Das war sein bindlich sein.“ [...] „Reiferen Jugendlichen Lebensinhalt, sein Lebenselixier. Dieses war Both nicht immer ein zeitgemäßer Charisma war ihm in besonderer Weise Entwicklungshelfer. In die Tanzstunde zu geschenkt worden.“ gehen, war verpönt, und die es als Pfad- Ilse Weckbach war die Frau meines finderführer dennoch taten, hatten dank damaligen Kollegen, des hauptamtlichen Both ein schlechtes Gewissen. Das Ver- Jugendleiters Heinz W. († 20. 12. 2001), hältnis zum weiblichen Geschlecht war nur über 20 Jahre im hauptamtlichen Dienst eines der Probleme, wo seine Führung des Werkes, obwohl ursprünglich nur für versagte!“ Thyroff schrieb aber auch: ein paar Jahre verpflichtet. Sie gehörte „Ohne Both und `sein Werk´ wäre meine während des Krieges zu der Mädchen- Jugend geistlich und menschlich ärmer gruppe, die für die im Feld stehenden Mit- gewesen. Es war ein Profil vorhanden, an arbeiter Vertretungen übernommen hatte. dem man sich auch abarbeiten konnte.“ Sie äußerte sich über PB in einem Inter- [...] „Es bleibt ferner die Lebensleistung view 63 wie folgt: „Er war eine Führerper- Boths, sein Engagement für `das Junge sönlichkeit und hat das gewusst. Er war Volk´ – bei allen Irrungen – seinen Fleiß, total von sich überzogen“ [...] „Wer ihm seine Dynamik, seinen Einsatz, sein nicht widersprach, der war ihm lieber“. [...] Organisationstalent und seine enorme „Bei Paul Both haben Frauen halt immer Zuwendung zu würdigen.“ eine untergeordnete Rolle gespielt. Die hat Sein eigener, ältester Sohn Hans- er ganz schön runtergemacht.“ [...] „... er Christoph, schrieb im selben Blatt (S. 8, hat uns seelisch unterdrückt, immer den und da es dort veröffentlicht war, habe ich Daumen drauf – und wir haben es genos- keine Hemmungen, es hier auch in Aus- sen, wir haben das mit Freuden ange- schnitten zu zitieren): „... Ansonsten emp- nommen! Vielleicht haben wir es auch gar fand ich meinen Vater eher unnahbar, er nicht gemerkt.“ [...] „... nach dem Krieg, da war Respektsperson, vor der man Hoch- hat er uns nicht mehr gebraucht. Da achtung, aber auch immer eine Portion kamen die Jungen und die Männer ja wie- Angst hatte.“ [...] „Sein gestrenges Regi- der, da hat er uns abserviert, wie eine ment wurde bei Tisch deutlich, wo galt: Kartoffel weggeschmissen. Da hat er `Die Kinder reden nur, wenn sie gefragt gesagt: `Ich entlasse Euch jetzt aus sind!´“ [...] „Der Vater hat Recht und der Euerm Mitarbeiter-Verspruch! Das ver- Sohn hat zu parieren, schien die Maxime trauliche >Du< hört jetzt auf!´ Auf einmal seiner Erziehung zu sein.“ [...] „In den waren wir nur noch `Sie´. Geschluchzt wenigen persönlichen Briefen, die ich von habe ich da, nur noch geweint.“ Auf die meinem Vater erhalten habe, schimmerte abschließende Frage des Interviewers (M. immer wieder der Preußiche Anspruch Blanke, ihr Schwiegersohn, GK): „Was hindurch: von Leistung, Zucht und Ord- denkst du: hat er dir mehr gegeben als nung oder von unbedingter Pünktlichkeit genommen?“ antwortete sie: „Er hat mir ist da die Rede. [...] Unvergessen ist der mehr gegeben. [...] Meine Jugend war von Satz: `Ein Berufsarbeiter (hauptamtl. Paul Both geprägt.“ Jugendleiter - GK) hat kein Privatleben!´“ Dr. Klaus Würmell, Jahrgang 1935, Deshalb musste ich unterschreiben, dass langjähriger Mitarbeiter und Pfadfinder- ich in den ersten Jahren der Jugendleiter- Führer, mag die Runde der Zeitzeugen laufbahn keine Bindungen im Sinn einer abschließen 64 : „Wo gab es das denn sonst künftigen Verlobung einzugehen beab- noch: Einen väterlichen Freund, der her- sichtige.“ ausfordern konnte, der einem Welten auf- Nach weiteren Beispielen ähnlicher schloss, der einen förderte, an dem man (oder noch schlimmerer) Art endet sich reiben, aber an dem man auch wach- „Hachri“ seinen 3-seitigen Bericht dennoch mit positiven Äußerungen: „Sein Lebens- 63 a.a.O., S. 6 ff. werk“ (bleibt für mich) genial und großar- 64 tig. In meinen wichtigen Entwicklungsjah- a. a. O. S.4 ff. 73 sen konnte?“ Unter dem Eindruck der auch niemals konzipiert. Es wäre aber letzten Lebensjahre PBs schrieb W. (S. 4): eigentlich vom Evangelium her ihre Auf- „Die Diskrepanz zur Lebenswelt, zur gabe gewesen. Denn Herrschaftsverzicht gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde ist in der Kirche und in ihren Gemein- immer deutlicher.“ [...] (Es) „kam zu der schaften nicht eine Frage der Taktik, des befreienden Loslösung von dem ‚Patriar- Anstandes oder der Bescheidenheit; an chen´ Es kam zu der Revolte im Werk, ihm entscheidet sich, ob der Glaube echt zum ‚Gips-Krieg´, in der Mitte der sech- ist oder nicht. Der Begriff des „status con- ziger Jahre. Und nach seinem Tod (11. 2. fessionis“ 66 ist hier im Spiel! „In der christ- 1966) zum Neuanfang für Werk und lichen Gemeinde weist schon das einfache Pfadfinderschaft“. – Soweit die Berichte Bekenntnis `Jesus ist der Herr´ jeden als der Zeitzeugen. Geistträger aus. Und dieser Geist teilt Irgendwie bin ich immer wieder tief jedem seine Gabe mit, wie ER es will. Die betrübt, wenn mir heute die Zeit mit Paul Gemeinde lebt von der Pluralität der Both ins Gedächtnis kommt. Mein katholi- jedem individuell geschenkten Begabun- scher Kollege in den letzten Jahren mei- gen, nicht vom Monopol des Geistesbesit- nes Berufslebens war Fritz Schildt. Mit ihm zes. [...] Die Gemeinde als der Leib Christi habe ich manches heftige Streitgespräch ist vom Klima der Sympathie und nicht der geführt, obwohl wir uns im Innersten gut Unterdrückung und Degradierung der verstanden. Es ging da übrigens auch jeweils anderen bestimmt. Paulus geht so meist mehr um Politik. Von ihm habe ich weit (1. Kor. 12), dass er auch die Urcha- einen guten Satz. Wen er da zitiert hat, rismen des Apostels, des Propheten und weiß ich nicht: „Wer Autorität hat, braucht Lehrers [...] diesem Konzept einordnet. keinen Gehorsam“. Und PB hatte doch Auch diese Geistesgaben stehen zusam- eigentlich Autorität! Warum musste er so men mit den anderen in einer Reihe - sehr auf Gehorsam (oft nur in kleinen Din- neben den anderen, nicht über ihnen.“ 67 gen) bestehen? Mir graust es, wenn ich da an den Alltag Er war als Charismatiker auch kein der meisten unserer Kirchen denke, wo Einzelfall. Der Nachfolger von Roger schon in der Wortwahl diese Grundsätze Schutz, Alois Löser, berichtet z. B. von missachtet werden (Laie, Vater – sogar dem Prior (Frère Roger) der „Com- Heiliger Vater, Oberhaupt usw.). munauté de Taizé“, der 2005 von der Es ist übrigens auch zu bedenken, Hand einer offenbar verwirrten Frau dass die Sehnsucht nach einem weisen inmitten seiner singenden Gemeinde Führer ein Zurückfallen auf eine kindliche getötet wurde: „Prior Schutz war nach Stufe ist. PB hat meines Wissens nie außen hin die Güte selbst. Jedoch nach einen Freund auf Dauer gehabt. Ein gutes innen leitete er seine Männergemeinschaft Verhältnis zu ihm war wohl nur auf der zuweilen wie ein Tiger. Zahlreiche Frères Basis der Unterwerfung zu erlangen. Er verließen deshalb in den letzten 50 Jahren war nur aus einer gewissen Entfernung zu die Gemeinschaft. Ordens-Demokratie – ertragen. Ich jedenfalls konnte in dieser etwa wie bei den aus Fehlern klug gewor- Nähe zu ihm nicht mehr leben. Es blieb denen Dominikanern oder Franziskanern - mir also nichts anderes übrig, als mein besteht in Taizé nicht“. 65 Berufsziel auf anderen Wegen zu verfol- Auch von Willy Brandt hieß es: „Man gen. konnte sich ihm nahen; aber ihm nahe sein konnte man nicht“. – Da kann man doch nur fordern: Demokratisiert die Cha- rismatiker! Sorgt dafür, dass sie mit den Füßen auf dieser Erde bleiben, eingebun- den in eine Lebensgemeinschaft. Leider konnte die Heliand-Bruderschaft bei den im Werk üblichen Herrschaftsstrukturen diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie war dafür 66 Grenze der Zugehörigkeit (b. Glau- bensgemeinschaften). 67 aus „Orientierung“, Katholische Blätter 65 aus: Publik-Forum, Zeitung kritischer für weltanschauliche Fragen. Zürich, 15. Christen, 17/2005, S. 35. Juni 2004, Seite126. 74 Weg oder Umweg?

Aber nun war ich ja in Nagold und damit sagen wollte, war mir ziemlich Ostern stand bevor. Ich freute mich unklar. Aber es war Musik in meinen darauf, das Fest wie in den Jahren zuvor Ohren: „ungebunden“ also war sie! Ich mit Menschen zu feiern, bei denen ich entnahm noch seinen weiteren Ausfüh- mich wohl fühlen konnte: in der Reining- rungen die Informationen, die ich brauchte haus-Familie. Am zweiten Osterfeiertag und beschloss, auf der Spur zu bleiben. war geplant, zur Taufe der Nichte Dorle Beim Abschied am nächsten Tag bedau- (heute Ärztin in Santa Monica/Kalifornien) erte ich „Tante“ Dora gegenüber, dass wir nach Fichtenberg zu fahren. Der Täufling eigentlich zu wenig Zeit miteinander war das Kind von Gudrun, Agnes´ Schwe- gehabt hätten. Ich beabsichtigte aber ster, die mit dem dortigen Pfarrer, Peter demnächst im „Schwabeländle“ einen Spambalg, verheiratet war. Ich bot mein Besuch bei einem Gefangenschaftsfreund. Motorrad als fahrbaren Untersatz an, und Auf der Fahrt dorthin könnte ich sicher da Werner noch eine Verpflichtung bei einen kleinen Abstecher machen und bei einer Jugendgruppe in Wildberg hatte, ihr mal kurz hereinschauen. An der Art, wäre die Reise per Bahn viel zu umständ- wie sie zustimmte, merkte ich, dass sie auf lich gewesen. Eine wunderschöne Fahrt keinen Fall abgeneigt war. führte durch das Nagoldtal, das wir bei Nach Haus Heliand zurückgekehrt, Calw verließen, um über Weil der Stadt, nahm mich natürlich zunächst der Fall Stuttgart, Backnang in den Murrhardter meiner Kündigung sehr in Anspruch. Das Wald zu kommen. Dort war die große vor mir liegende halbe Jahr war nicht ein- Familie in dem geräumigen Pfarrhaus fach; ich musste es halt durchstehen. PB schon versammelt, und ich traf u. a. auch äußerte zwar immer wieder die Hoffnung, die Schwester von Agnes und Gudrun, ich würde vielleicht doch bleiben. Ich aber Dora. Auf sie war ich besonders war fest entschlossen, durchzuhalten, trotz „gespannt“ und hätte sie gerne einmal mancher geistlichen Seelenmassage. Ich näher kennengelernt. Sie begrüßte mich zögerte auch nicht lange, meinen „Plan fröhlich mit „Onkel Günter“, war aber sehr Dora“ durchzuführen: Am nächsten freien enttäuscht – wie ich später erfuhr – ,dass Wochenende fuhr ich mit meiner DKW ich sie nur mit „Fräulein Vogel“ 68 ansprach. Richtung Süden, im Schwarzwald meinen „Tante Dora“ wäre ihr lieber gewesen. ehemaligen Mitgefangenen Otto Harzer Wenn wir während des Festes auch wenig wieder einmal zu besuchen. Von Korntal Gelegenheit hatten, miteinander zu reden, aus war ich ja bereits einmal bei ihm - mit weil sie als Hilfe in der Küche sehr der NSU-Quick in Begleitung des Schü- beschäftigt war, so merkte ich doch, dass lers, der das gleiche Fahrzeug hatte. Ich ich ihr nicht ganz gleichgültig war. meldete mich dort gar nicht groß an. Das Am Abend fuhren Werner und ich konnte ich ja gegebenenfalls auch noch nicht nach Nagold zurück, sondern über- von Großbottwar aus tun, wo Dora Lehre- nachteten in einem Gasthaus gemeinsam rin an der Volksschule war. in einem Doppelbett-Zimmer. Da gab es Dort angekommen, war angesichts bis weit nach Mitternacht viel zu erzählen. des ländlichen Charakters des Ortes Die Sprache kam auch auf Werners höchste Diskretion geboten. Das war nicht Schwägerin Dora. Er musste wohl bemerkt schwer, denn ich hatte eine genaue haben, dass ich mich für sie interessierte, Beschreibung der Lage „ihrer“ Wohnung. und meinte, sie sei als fertige Hauptschul- Nach einem kurzen Imbiss machten wir Lehrerin wohl etwas zu wählerisch und uns auf den Weg zu einer kleinen Wande- deshalb immer noch ungebunden. Was er rung. Ich merkte bald, dass ich mich bei Harzers nicht anmelden musste. Durch die 68 Wie die Zeiten sich ändern! Damals Weinberge wanderten wir bergauf zur sprach man noch auf diese Weise eine Burg Lichtenberg, machten unterwegs unverheiratete Frau an, auch wenn sie kurze Rast mit herrlichem Blick auf die schon im Greisenalter war; heute: ein reizvolle Umgebung. In der Burggaststätte schlimmer Fauxpas. genossen wir ein Glas des guten Weines 75 von den Gärten unter uns. Es war gewiss denn selbst in der Bahnhof-Gaststätte, wo nicht die Wirkung des Schoppens, dass wir einen warmen Kaffee tranken, hatte sie auf dem Heimweg, am Telegrafenmast Nr. ihren Klepper-Mantel nicht abgelegt, weil 36 der Landstraße von Hof und Lembach sie bemerkt hatte, dass das gute Stück nach Großbottwar der erste Kuss fällig war schlimm verfärbt war. Trotzdem wanderten (Bild 19). Das Datum habe ich gut behal- wir den Berghang hinauf bis zu einem ten: 21. März 1956, der Tag des Geburts- Wasserhäuschen, das zwar nicht geöffnet tages meines Freundes Herbert Schlotter hatte – zum Glück!! - , aber unter seinem in Frankfurt. Dora muss geahnt haben, wie Vordach uns einigen Schutz vor dem die Dinge laufen würden. Damit wir noch strömenden Regen bot. Dort waren wir am nächsten Tag Zeit füreinander hatten, wegen des S...-Wetters so ungestört, dass war im Dorfgasthaus ein Zimmer für mich das bekannte Lied „Ich hab´ mein Herz in bestellt. Als ich zu später Stunde diesen Heidelberg verloren“ zum Motto dieses Raum betrat, lag auf meinem Bett eine Tages wurde - auch wenn es keine „laue schwarze Katze, die aber schleunigst die Sommernacht“ war. Aber „über beide Flucht ergriff. Dora war furchtbar Ohren“ verliebt waren wir schon! erschrocken, als ich ihr am nächsten Mor- Am ersten Maisonntag besuchten gen den Vorfall erzählte. Aber da wir beide wir, diesmal bei schönstem Wetter, den nicht abergläubisch waren, nahmen wir Gottesdienst in Winzerhausen, einem klei- das als ein gutes Omen. Und ich kann nen Ort bei Großbottwar, inmitten von heute sagen: Wir haben uns wirklich nicht Weinbergen gelegen. „Wie lieblich ist der geirrt! Maien aus lauter Gottesgüt´....“ haben wir Die dunkle Zeit bei PB in diesem aus dankbaren Herzen gesungen. Es ist Halbjahr wurde entscheidend aufgehellt daraufhin so etwas wie eine National- durch die Zusammenkünfte mit Dora. Auf hymne über der kommenden Zeit gewor- halbem Weg trafen wir uns bald danach in den. Als wir die Kirche verließen, sprach Heidelberg. Es war ein grässlicher eine alte Bäuerin Dora an: „Frailein Vogel, Regentag. Bei meiner Ankunft quatschte isch dees ihr neier Freind?“ Woher sie das Regenwasser aus meinen Motorrad- wohl die Witterung hatte? Dora antwortete: Stiefeln. Dora hatte sich extra ein nettes „Bis auf das ‚neu´ stimmt´s!“ Kleid zugelegt. Das erfuhr ich erst später, 76 Es wird ernst!

Da Muttertag war, fuhren wir am das Zeugnis, das er mir ausgestellt hatte. Nachmittag nach Heilbronn zu Doras Ihm war offenbar nicht klar, wie zur Zeit Eltern (Bild 20). Ich war damit einverstan- allgemein Zeugnisse abgefasst wurden. den, dass Dora mich nach alter Väter Sitte Der Abschied war demgemäß kühl. Von nun ganz offiziell vorstellte. Vater Vogel Dank war keine Rede. Dass ich über machte gleich Nägel mit Köpfen: „Ja sechs wichtige Jahre nach Krieg und waaas? Und wann ist Verlobung?“ Wie- Gefangenschaft (10 ½ Jahre!) gegeben derum rutschte mein Herz etwas nach hatte, während andere ihren Lebensberuf unten: Es wurde also Ernst! Aber diesmal aufbauen oder studieren konnten, war ihm war der Fall klar, und wir legten tatsächlich wohl nicht aufgefallen. sogleich den Termin fest: der achte, sie- Ich musste zuerst im Hanauer bente, sechsundfünfzig (Gravur in unseren Stammwerk die Kunst des Schmelzens Verlobungsringen: „8. 7. 56“). von Quarzglas lernen, und das war nicht Es wurde nicht gerade ein rau- einfach. Es geht nämlich nicht wie beim schendes, aber ein fröhliches Fest (Bild gewöhnlichen Glas, das man im Tiegel wie 21). In der großen Familie war ich ja schon Butter auf dem Küchenherd flüssig längst kein Unbekannter mehr, bei den machen kann. Es ist ein komplizierter Vor- Kindern sowieso der „Onkel Günter“. Sie gang und war damals ein Patent, das vor waren etwas traurig, weil sie diesen Onkel allem Heinrich Mohn entwickelt hatte. ja „schon hatten“. Auch meine Hanauer Nach ungefähr einem Monat war ich so Familie war vertreten durch Eva und Chri- weit. In dieser Zeit wohnte ich in Hanau im stian Regel, die im Dezember des Jahres Haus meiner Tante Anna, Schwester mei- zuvor geheiratet hatten. Wer hätte nes Vaters. Zur Arbeit konnte ich von da gedacht, dass die russische Gefangen- aus zu Fuß gehen. schaft solche Früchte tragen könnte? Die Homburger Jugendarbeit PB war nicht schlecht überrascht brauchte ich zunächst nicht abzugeben über all die Neuigkeiten. In doppelter bzw. zu übergeben, da ich ja damit rech- Weise tröstete ich ihn: Als dem Ältesten nete, nach der Einweisung in Hanau noch der Bruderschaft machte ich ihm die genügend Zeit neben den Arbeitsschich- Freude und stellte ihm entsprechend der ten zu haben. Ich hatte mich zusätzlich Bruderschafts-Ordnung meine Braut vor. noch bereit erklärt, von der Büroarbeit die Zugleich eröffnete ich ihm, dass ich durch Betreuung der FEJ (Freunde evangeli- sie ohne große Umstände eine Küchen- scher Jugendarbeit) nebenamtlich weiter frau gewonnen habe, sogar eine diplo- beizubehalten, gewissermaßen in Hausar- mierte, denn Dora war ja Hauswirtschafts- beit. Das war ein nicht unbeträchtlicher Lehrerin. Was blieb ihm anderes übrig? Er Teil meiner seitherigen Tätigkeit. Während machte gute Miene zum für uns guten der Zeit in Hanau musste in den Jugend- Spiel. Es kam hinzu, dass selten eine gute kreisen Bad Homburgs improvisiert wer- Küchenhilfe so nötig war, wie in den vor den, d. h. ich erschien dort seltener. Lustig uns liegenden Tagen: Der Kirchentag in war, dass sofort unter den Jungen die Frankfurt stand vor der Tür, und die Parole umlief: „Seit er das Weib hat, is nix Heliand-Pfadfinderschaft sollte den Ord- mehr mit ihm los!“ Ob PB doch Recht nungsdienst ausrichten mit all den Ver- hatte mit seiner Idee: Zölibat für hauptamt- pflichtungen, die damit verbunden waren. liche Mitarbeiter? Vom Kirchentag selbst bekamen wir beide Ab Mitte Oktober wohnte ich als nicht viel mit. Wir nahmen lediglich an der „möblierter Herr“ bei Frau Daiber in Bad großen Abschlusskundgebung auf dem Homburg, die mich wie eine Mutter in ihre Rebstockgelände (Bild 22) teil mit dem Obhut nahm. Mit dem Motorrad fuhr ich Song: „Schau dir deinen Nachbarn an, quer „über die Dörfer“ nach Frankfurt- Nachbarn an, Nachbarn an ...“. Dieser Höchst, hin und zurück knapp 50 km. Auf- Aufforderung kamen wir beide gerne nach. genommen wurde ich in der Werkstatt Am 8. Oktober begann meine Tätig- zwiespältig. Man war gespannt, was das keit bei der Hanauer Firma. Mit PB gab es wohl für einer sei, der ihnen da vorgesetzt noch eine kleine Auseinandersetzung über wurde. Sie alle waren ja „alte Hasen“ und Bild 19 Frisch verliebt

Bild 20 Doras Eltern 78 79 verstanden ihr Handwerk perfekt. Und ich recht gewesen, wenn sie eine Stelle im kam als Neuling, der gerade angelernt Nachbarkreis oder in Frankfurt vermittelt worden war. Am Schwarzen Brett der hätte. Aber ihre Schwäche für Schwäbin- Werkstatt war durch Betriebs-Mitteilung nen kam uns zu Hilfe! Und als Dora sich „Herr Knopf ab sofort als Verantwortlicher bei ihr vorstellte, da hatten wir gewonnen. der drei Schichten“ angekündigt. Die Mit- Es war nicht gleich eine Stelle in Bad arbeiter wurden gebeten, ihm jede Unter- Homburg frei, und so musste Dora noch stützung zu bieten. Ich war erstaunt über Monate lang in den Dörfern um Bad Hom- die loyale Aufnahme, die ich dann doch burg zunächst Vertretungen übernehmen. erlebte. Ich hatte mit einigen Widerstän- Da konnte sie sich - und das war ein nicht den gerechnet, denn ich beherrschte zwar zu verachtender Vorteil – aufs Hessische die Technik des Schmelzvorgangs, jedoch umstellen. Allein sprachlich hat sie da viel so gewisse Kniffe und Feinheiten waren Lustiges erlebt. Als sie z. B. beim Diktieren mir noch nicht geläufig. eines Rezeptes erklärte:“...und dann Ich tat natürlich auch nicht, als wäre kommt noch irgend ein Obscht dazu“ [...] , ich der große Könner und beherzigte den fragten die Schülerinnen immer wieder: Rat meines Ausbilders Wilhelm Schleich in „Was kommt noch dazu?“, bis Dora der Mechaniker-Lehre: „Nicht groß fragen merkte, dass sie nur das „Obscht“ hören – mit den Augen stehlen!“ Offensichtlich wollten. Ein besonders vorwitziger Schüler hat dieses System gut funktioniert, denn fragte sie eines Tages: „Fräulein Vogel, ich konnte mich ganz gut behaupten - kommen sie aus dem Schwabenland?“ ohne Vorgesetzten-Allüren. Die Arbeit an Auf das: „Woran merkst du denn das?“, sich war körperlich nicht schwer; aber es sagte der Schüler unter dem Gelächter der herrschte eine ungeheure Hitze im Raum, ganzen Klasse: „Ich habe daheim ein so um die 45 Grad bei dicker Luft. Und die Buch von den sieben Schwaben, die spre- Zeit kroch langsam, langsam. Die acht chen genau so wie Sie.“ Dora ist den Stunden einer Schicht wollten und wollten schwäbischen Akzent nie ganz losgewor- nicht herumgehen. Schlimm war dann die den. Sie hat es zwar ansatzweise ver- Heimfahrt mit dem Motorrad bei Novem- sucht, und wenn sie am Telefon mit ehe- ber-Kälte und Glatteis im Januar/Februar. maligen Kolleginnen sprach, meinten die: Wie nie zuvor in meinem Leben habe ich „Red` doch nicht so hochgestochen!“ Aber den Frühling herbeigesehnt. Wenn ich in Hessen konnte sie ihre Herkunft nicht dann „daheim“ angekommen war, hieß es verbergen; sie hat es auch nicht ernstlich zuerst: schlafen. Und dann kamen die versucht, warum auch? Ein geflügeltes Verpflichtungen in der Jugendarbeit. Ich Wort besagt ja auch: „Schwaben können muss gestehen: Ich hatte mir das alles alles, außer hochdeutsch“! leichter vorgestellt. Im Pfarrhaus neben der Erlöserkir- Und meine Dora lebte in weiter che erhielt ich auf meine Zusage baldiger Ferne! Aber es gab zwei Hoffnungen: Vom Heirat eine kleine Wohnung im Dachge- Zeitpunkt an, wo ich endgültig für drei schoss, in die zunächst Dora einzog. So Schichten zuständig sein würde, brauchte lebten wir zwei sittsam getrennt, was den ich selbst nicht mehr zu schmelzen. Ich „Frommen“ unter den Homburgern – und konnte mir die Arbeitszeit selbst einrich- die gab es tatsächlich – besonders gefiel. ten, und keine Stechuhr würde mich Bei Frau Daiber hatte Dora bald einen minutengenau kontrollieren. Aber so weit „Stein im Brett“. Sie war Witwe; ihr Mann war es noch nicht. Die andere Hoffnung (auch ein Schwabe) war im 1. Weltkrieg erfüllte sich schneller: Es gelang die Ver- gefallen. Es ist eine Freundschaft entstan- setzung Doras von Baden-Württemberg den, die bis zu ihrem Tod – und dann noch nach Hessen. Hier half ohne Weiteres mit ihrer Tochter - gehalten hat. „Vitamin B“. Es zahlte sich aus, dass ich In der Höchster Schmelze gab es mich bei der Schulrätin des Hochtau- zunächst nicht viel Neues. Unter fachlicher nuskreises gleich zu Anfang meiner Begleitung von Heinrich Mohn und Inge- Jugendleiter-Tätigkeit vorgestellt hatte. nieur Schul (ein ehemaliger hauptamtli- Hinzu kam, dass sie als alte Mädchen- cher Jugendleiter und mein Vorgänger in BKlerin unsere Arbeit mit viel Verständnis Bad Homburg) wurde ich zu einem Ver- verfolgte. Bei ihr wurde ich nun „vorstellig“ such schnelleren Schmelzens aufgefor- und bat um ihre Hilfe. Es wäre uns auch dert, der bei den anderen Mitarbeitern auf 80 wenig Interesse – wenn nicht auf Ableh- scharten. An den Wochenenden fuhren wir nung – stieß. Man meinte, dass auf Dauer mit dem Motorrad los, und ich zeigte Dora dabei mehr Arbeit, aber nicht mehr Lohn Teile des schöne Hessenlandes – das ja herauskommen würde. Ich kannte aber gar nicht so hässlich ist. Das zu erkennen Mohn zu gut, um das fürchten zu müssen, war auch nötig; denn bei ihrer Verwandt- und es gelang mir, die doppelte Menge in schaft hörte (im Spaß natürlich) an der der gleichen Zeit zu produzieren; jedoch Mainlinie das zivilisierte Land auf: alles ging dies auf Kosten der Qualität. Da aber was nördlich lebte, waren bei ihnen „die Quarzglas zu verschiedenen Zwecken Nordkaffer“. gebraucht wurde – das fing schon beim Es nahte der Termin, den wir für die Glaskochtopf an –, rentierte sich das neue Hochzeit vorgesehen hatten: der 1. August Verfahren. Durch dieses Ergebnis hatte 1957. Die Verwandtschaft lästerte: „Aha, sich zwar nicht gerade die Zuneigung, er ist ja auch der erste August! (Betonung aber die Achtung der Kollegen gesteigert. auf der ersten Silbe!). Ich konterte: „Und in Die Hauptschwierigkeit aber wurde Baden-Württemberg gibt es badische und auf Dauer die Gesamtbelastung: Schich- unsymbadische Menschen“. Wir blieben ten und Jugendarbeit - und verlobt war ich uns auch in Zukunft nichts schuldig. Die ja auch noch. Besonders in der Nacht- standesamtliche Eheschließung fand im schicht war ich oft hundemüde und musste Homburger Schloss statt. Trauzeugen war Tricks anwenden, um wach zu bleiben. das Ehepaar Dietrich, er Pfarrer in Ober- Tagsüber mutete ich mir dann zu viel zu. Lais in Oberhessen. Ich kannte ihn noch Der Schlaf kam zu kurz. Und das rächte aus der Vorkriegszeit-Jugendarbeit. Seine sich während der Schicht so ein, zwei Frau war die Tochter eines berühmt- Stunden nach Mitternacht. Die Kollegen beliebten Kirchenrates aus dem Vogels- halfen sich gegenseitig. Man übernahm berg. Ihnen war ich schon behilflich als eine Zeit lang für den anderen die Chauffeur gewesen, in den heiligen Stand Maschine, damit der ein Nickerchen der Ehe zu kommen, indem ich ihnen als machen konnte. Das konnte ich mir leider hochherrschftlicher Fahrer mit PBs „Adler“ nicht erlauben. als Hochzeitskutsche im April 1952 zur Zum Glück erhielt Dora endlich eine Verfügung stand. Irm - die junge Pfarrfrau feste Anstellung in Bad Homburg an der - hat sich bei mir besonders beliebt Gonzenheimer Volksschule. Vom Kolle- gemacht bei dem Pfingtzeltlager der gium wurde sie sehr freundlich aufge- Heliand Pfadfinderschaft 1956 oberhalb nommen, und das machte ihr den endgül- der Kirchengemeinde, indem sie Postillion tigen Wechsel ins „hessliche“ Land leich- d´amour spielte und meine (zahlreiche!) ter. Sie konnte mit dem Fahrrad zur Post von Dora insgeheim heraus siebte, Schule fahren und hatte auch Zeit, unser bevor sie durch PBs Hände ging. „Nest“ wohnlich einzurichten. Die Bezeich- In Weingarten im Bodenseeland, wo nung „Nest“ bestand zu Recht, denn über Werner Reininghaus inzwischen als uns war nur das Dach des alten Dozent am Pädagogischen Institut wirkte, Pfarrhauses, das im ersten Stock die fand die kirchliche Trauung statt (Bild 23). Familie Sprank bewohnte; er war einer der Ihm war es eine besondere Freude, als beiden Homburger Pfarrer. Tochter mit Pfarrer seinem Freund und seiner Schwä- Mann und Kind waren unsere Nachbarn gerin den Segen Gottes zuzusprechen. In auf dem gleichen Stockwerk. Im Erdge- seiner geräumigen Wohnung wurde dann schoss befanden sich kirchliche Büros. gefeiert. Und das muss besonders betont Das Haus lag direkt neben der großen werden: In der Vogel-Familie wusste man Erlöser-Kirche angesichts des Homburger Feste zu feiern! Da wurde gesungen, musi- Schlosses, sinnigerweise am einen Ende ziert und selbst verfasste Gedichte vorge- der Dorotheenstraße. Der Straßenname tragen. Höhepunkt dieses Mal war der Auf- gefiel uns besonders, auch wenn er nicht tritt Werners als Pljenny 69 (Bild 24). Er hatte zur Ehre meiner Dora ausgewählt worden seinen mehrfach geflickten Pullover aus der war. Zeit seiner Gefangenschaft aufgehoben Ihre guten Einfälle und auch meine und nun angezogen. Das war ein Hallo! handwerklichen Fähigkeiten machten aus Agnes als die zuständige Hausfrau den beiden großen Zimmern eine Küche, hatte bestens für das leibliche Wohl ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer. Mehr war zunächst 69 nicht nötig. Leider waren die Fenster sehr russisch: wojenna pljenny - klein; ich nannte sie immer nur Schieß- Kriegsgefangener Bild 21 Verlobung

Bild 22 Kirchentag in Frankfurt 82 83 gesorgt. Nach alter schwäbischer (?) Sitte den Winter überstanden hätte: aus der verschwand das neu getraute Paar nach heißen Werkstatt hinaus in die klirrende der festlichen Kaffeetafel und trat die Kälte, die Fahrt auf dem Motorrad bei Heimreise nach Bad Homburg an. Es war Schnee und Eis. einer der damals modernsten Schnell- Mein Schwager und Freund Werner züge, ein „FD“, „Münchner Kindl“, so erkannte früher als ich, dass auf Dauer etwas wie heute ein Intercity. Schon am Glasschmelze und Jugendarbeit keine nächsten Tag traten wir unsere Hochzeits- Lösung waren. In rührender Weise reise an. Sie ging – in den Spessart. Bei bemühte er sich darum, mich als einer Motorradfahrt mit Dora einige Spätheimkehrer noch in den Lehrberuf Wochen zuvor hatte uns auf einem für oder Pfarrdienst unterzubringen. Abitur Kraftfahrzeuge verbotenem Weg durch nachholen kam nicht in Frage. Außerdem das romantische Wiestal ein Förster hätte das anschließende Studium noch gestellt. Als wir ihm beichteten, dass wir viel zu lange gedauert, nun, da ich verhei- als zukünftiges Ehepaar für die Hochzeits- ratet war. Noch wenige Jahre vorher reise eine gute Ferienpension suchten, konnte man ohne Aufnahmeprüfung, nur vergaß er den Strafzettel und empfahl uns mit einem Kolloquium 70 , zum Pädago- im nächsten Dorf – Habichsthal – eine gikstudium zugelassen werden. Aber die- Gastwirtschaft. Für sie entschieden wir se Möglichkeit war endgültig vorbei. Das uns als Standquartier für einen 14-tägigen einzige Angebot war die sofortige Auf- Aufenthalt. Es hat uns dort so gut gefallen, nahme in der Karlshöhe bei Ludwigsburg, dass wir gleich für das nächste Jahr drei Jahre Schule mit dem Berufsziel Dia- erneut buchten. Tage des Wanderns kon. Wieviel Briefe gingen zwischen wechselten mit Ruhetagen. Im Bach Weingarten und Bad Homburg hin und konnten wir damals sogar noch an her! Werner versuchte es bei hohen und gestauten Stellen schwimmen (Bild 25). höchsten Regierungs- und Kirchenstellen Kurz: Es war für uns ein idealer Anfang – vergeblich. unserer Ehe. Inzwischen war mir auch klar gewor- Die Rückkehr nach Bad Homburg den, dass ich noch 2 – 3 Semester Che- fiel uns teils leicht, teils schwer. Leicht mie und/oder Physik hätte studieren müs- deswegen, weil wir nun ein neues Leben sen, um selbst als Werkmeister mitreden anfangen konnten: zu zweit. Nur die und damit mich behaupten zu können. dunkle Wohnung passte nicht so ganz Hinzu kam, dass auch der Einsatz in der dazu. Dora glich das für sich aus, indem evangelischen Jugendarbeit an der Stur- sie in den freiem Nachmittagsstunden heit PBs zu scheitern drohte. Er verlangte einen Treppenabsatz nach unten ging und von mir allen Ernstes die Einhaltung aller dann vor der Tür der Toilette in der Sonne Pflichten eines Mitarbeiters im Jugend- saß, ein Buch las oder sich mit einer werk, z. B. jährliche Teilnahme oder Mitar- Handarbeit beschäftigte (Bild 26). Ich war beit an einem Jugendlager. An einer ähnli- meistens unterwegs, entweder in der chen Forderung drohte schon 1937 meine Glasschmelze oder „in Jugendarbeit“. Der Ernennung zum Mitarbeiter zu scheitern, Herbst kam, es wurde kälter, die Heimfahrt da mein Urlaub dazu viel zu kurz war. nach der Schicht wurde immer frostiger. Damals rettete die Situation unser genialer Da liehen uns Gudrun und Peter Spam- Hanauer Leiter Helmuth Eifert, der leider balg (Doras Schwester und ihr Mann) im Krieg gefallen ist (er war übrigens der ihren VW-Käfer. Damit war dieses Prob- Schwager von Heinrich Mohn). lem gelöst; denn ich weiß nicht, wie ich

70 kleinere Einzelprüfung an einer Hochschule. 84 Zu neuen Ufern

Die Lage war ernst, wenn nicht ver- um Fürsprache gebeten, wer weiß, wie die zweifelt. Die Gesamtbelastung wurde zu ausgefallen wäre! Die Sache konnte auch groß. In der Schmelze konnte ich kaum so nicht günstiger laufen. Der „OKR“ noch die Augen aufhalten, weil ich tags- meinte, ich müsse halt für ein Jahr das über nicht genug Schlaf fand. Einmal war Oberseminar in Düsseldorf besuchen, ich schon an der Maschine eingeschlafen, denn die Zeit des Quereinstiegs sei vorbei. das Schmelzgut war abgebrochen. Unter Etwas Besseres konnte er mir kaum vor- solchen Umständen konnte ich mir auch schlagen, obwohl mir das Herz beim nicht vorstellen, mein Leben mit dieser Gedanken an meine liebe Dora fast in die Arbeit zuzubringen und dafür mein Ziel, Schuhe fiel (nicht nur in die Hose). Beruf mit Menschen, aufgeben zu müs- Gerade erst geheiratet – und jetzt sen. In diesen Nächten ging mir beim ein Jahr Trennung! Aber mit der Jung- Schmelzen das Lied nicht aus dem Sinn: männerwerks-Theologie konnte ich mich nicht vor Schüler der Berufsschule wagen. Auf meinen lieben Gott Nur eine Bedingung stellte ich: Wegen der trau ich in Angst und Not; Jugendarbeit, die ich fortführen wollte, der kann mich allzeit retten sollte mein Einsatzort die Städtische aus Trübsal, Angst und Nöten, Berufs- und Berufsfachschule in Bad mein Unglück kann er wenden, Homburg sein. Dort hatte gerade ein Pfar- steht all‘s in seinen Händen. rer den Dienst quittiert. Ein hauptamtlicher (eg 345) Religionslehrer war eingesprungen, wollte Wie sollte es weitergehen? – Da tat aber möglichst bald wieder weg, da sein sich plötzlich eine Tür auf und brachte Wohnort zu weit entfernt war. Da war es unverhofft die Wende, nicht nur der aktu- leicht, den Kollegen zu bitten, bis zu mei- ellen Schwierigkeiten, sondern eigentlich ner Rückkehr von Düsseldorf die Stelle zu in wunderbarer Weise auch für mein gan- halten. Dann aber bekam auch er eine zes Leben: In Frankfurt fanden monatlich Schule zugewiesen, die seinen Wünschen je an einem Sonntag-Nachmittag Mitar- entsprach. beiter-Gemeinschaften statt, die für Glie- Die Finanzierung war bald geklärt: der des gesamten Werkes (in Hessen und OKR Becker sagte mir einen beachtlichen Nassau) Schulung, Informationen und Zuschuss aus der Kirchenkasse zu. Außer- geistliche Zurüstung bot. Bei einer solchen dem war ich mir sicher, dass Dora auf Tagung wurde am Ende des Nachmittages jeden Fall mitmachen würde, so schwer es eher beiläufig bekanntgegeben, dass für ihr auch fiel. Eine Hürde läge aber noch berufliche Schulen Religionslehrer (RL) vor mir, meinte zum Schluss der OKR, ich gesucht würden. War das der Ausweg? In müsse zur Vorstellung und zu einem Kol- der Jugendarbeit hatte ich es weithin nur loquium bei dem Direktor des Oberse- mit höheren Schülern zu tun, dazu noch minars, Pfarrer Dr. Flender, nach Düssel- mit einer Auswahl, denn sie alle kamen dorf fahren. Selbstverständlich sagte ich freiwillig. Berufsschule – ja, da kannte ich zu. Die Angelegenheit verlief einfacher, da mich aus. Ich selbst war ja einmal Schüler wegen einer Dienstreise Flenders wir uns dieser Schulform. Da waren es junge in Frankfurt treffen konnten. Menschen „querbeet“. Das lockte mich! In einer Gaststätte saßen wir uns Ich sprach bei nächster Gelegenheit eines späten Nachmittages gegenüber. mit dem zuständigen Studienleiter, Dr. Durch meinen schriftlichen Lebenslauf war Bruder, der nach kurzer Anhörung die er einigermaßen über mich informiert. Er Angelegenheit äußerst günstig beurteilte sprach mich sehr schnell auf meine Erleb- und mich weiter an den Referenten für nisse in sowjetischer Gefangenschaft an. Religionsunterricht in der Kirchenleitung, Da stellte sich heraus, dass er selbst auch Oberkirchenrat Becker, vermittelte. Der sowjetischer Kriegsgefangener war. Nach- war ein Freund unserer Jugendarbeit. Sein dem wir einige Erinnerungen ausgetauscht Name war mir schon als Förderer des und ich dabei von unserer Lager-Gemein- Werkes bekannt. PB hatte ich lieber nicht de und von meiner Arbeit als Dolmetscher Bild 23 Hochzeit

Bild 24 Der Pljenny 86 Bild 25 Baden im Wiestal

Bild 26 Am Sonnenfenster 88 89 und Obersanitäter berichtet hatte, war der traute ich mir zu. Das schöne Wort Lehr- „Fall“ eigentlich schon klar. ling wurde übrigens in das umständliche Nun war die Frage: Was würde mein „Auszubildende“ – (Abkürzung: „Azubi“) - Schwager Werner dazu sagen? Er bekam verändert. Der sinnreiche Satz meines zunächst einen riesigen Schrecken, auf Lehrmeisters Wilhelm Schleich, den er was ich mich da einlassen würde. Er hatte immer dann pathetisch und lauthals schlechte Erfahrungen gemacht während zitierte, wenn er Krach mit unserem Mei- eines zum Glück nur kurzen Einsatzes als ster hatte, würde jetzt also lauten: „Meister Berufsschulpfarrer. Er meinte, das würde ist, der was ersann, Geselle ist, der was ich auf keinen Fall längere Zeit durchhal- kann, Azubi ist jedermann“. ten. Er muss schlimme Dinge erlebt Dora war „Feuer und Flamme“ für haben, vor allem im Hinblick auf die Diszi- diesen neuen Beruf und gerne bereit, vor plin. Nach welchem Lehrplan er unter- allem finanziell mitzuhelfen. Das eine Jahr richtete, ist mir nicht bekannt. Es fehlten würde sicher schnell vergehen – und das im Raum der württembergischen Kirche tat es dann ja auch, da es nicht nur hoch gut ausgebildete Lehrer. So mussten Pfar- interessant wurde: Ich geriet geradezu in rer einspringen. Der Pfarrerberuf in Ehren: eine neue Welt des Glaubens. aber Theologie allein ist da zu wenig. Zwar Nicht leicht war ein Gespräch mit war der Religionsunterricht für Berufliche Heiner Mohn; aber auch er sah die Schulen dort auch „ordentliches Lehrfach“, Schwierigkeiten in der Höchster Schmelze aber unter diesen Umständen wurde er und kannte mich so gut, dass er schließ- zum unordentlichen. Als Ersatz bot man lich – mit einem weinenden und einem im 14 tägigen Abstand einen Schulgottes- lachenden Auge – zustimmte. Was dienst für katholische und evangelische geschehen war, hat unserer guten Freund- Schüler an. Aber vom Kaffee weiß man ja, schaft nicht geschadet. Mit großem Inter- dass Ersatz eigentlich kein Kaffee ist. esse hat er meinen weiteren Lebensweg Doch dem Gesetz war damit Genüge begleitet. Er war ein phantastischer getan. Mensch, schon vor Jahren für meinen Während auf vielen Gebieten des Bruder Werner – aber auch für mich - öffentlichen Lebens ein Neuanfang (lei- immer ein Vorbild an Verlässlichkeit und der!) oft nichts anderes war, als die Fort- tiefer Frömmigkeit, technisch ein großer setzung dessen, was vor der NS-Zeit Könner und trotzdem sehr bescheiden. üblich war, hatte man die Gelegenheit der Wegen seiner Erfindungen bekam er Stel- Neueinführung des Religionsunterrichtes lenangebote in den USA und der Sow- an Beruflichen Schulen zum Glück dazu jetunion. Er schlug diese Karrieren aus benutzt, ein völlig neues Konzept für den und blieb seiner kleinen Firma Heraeus Lehrplan zugrunde zu legen. In einer treu. Sie besitzt von alters her bis heute Unterrichtseinheit sollte (konnte, durfte) als Familienbetrieb Weltruf. In Hanau ist nämlich von der Lebenswirklichkeit des sie begehrte Arbeitsstätte wegen ihrer Jugendlichen ausgegangen und dann Solidität und ihrer sozialen Einstellung. überprüft werden, was christlicher Glaube Interessant ist übrigens noch, dass diese damit zu tun hat und wie hier Hilfen zu Firma historisch auf die um ihres erwarten waren. Glaubens im 16./17. Jahrhundert vertrie- Diese neue Konzeption, die später benen Wallonen und Niederländer zurück- noch weiter verbessert wurde, hat mich geht, und die Familie Heraeus aktives begeistert. Ich wusste, dass ich mich mit Mitglied der heute noch existierenden dieser Art Religionsunterricht auf jeden Wallonisch-Niederländischen Gemeinde Fall vor eine Klasse von Lehrlingen jegli- ist, zu der ja auch ich gehörte. cher Berufssparte wagen konnte; das 90 Also: Noch einmal auf die Schulbank!

Die Schmelze ist durch mein Weg- betrifft nicht nur Krieg und Gefangen- gehen nicht zusammengebrochen. Die schaft, sondern vor allem die Jugendarbeit Jugendarbeit musste ich ordnungsgemäß seit dem 12. Lebensjahr. nach „Richtlinien 462 – 466“ an Helmut Die Dozenten kamen durchweg aus Graf übergeben, der als hauptamtlicher der Praxis und verstanden ihr „Handwerk“ Jugendleiter gerade seinen Dienst begon- ausgezeichnet; sie waren moderne Theo- nen hatte. Ihm verkaufte ich auch meine logen, Pädagogen und Psychologen. In geliebte DKW, die damit der Jugendarbeit den Fächern Altes Testament, Neues treu geblieben ist. Die Arbeitsübergabe Testament, Dogmatik und Ethik waren es galt nur für die Zwischenzeit, in der ich aus sogar, wie man so sagt, „Alte Hasen“ mit räumlichen Gründen nicht in der Lage war, jahrelanger Erfahrung. Das galt auch für die Verantwortung zu tragen. Dies betraf den Dozenten für Pädagogik und Kate- insbesondere das Jahr in Düsseldorf. Aber chetik 71 . auch da riss die Verbindung zur Unter ihnen ragte der Direktor über Jugendarbeit nie ganz ab. Briefe gingen alle hinaus: Dr. Helmuth Flender. Beson- hin und her, um Fragen zu klären und ders interessant bei ihm war die Theolo- Probleme zu lösen. giegeschichte, und da wieder die Zeit der Ende April 1958 war es dann so Aufklärung und die Neuzeit. Leider weit, dass ich nach Düsseldorf umziehen erkrankte – und starb – der Dozent für konnte. Schweren Herzens verabschie- Neues Testament, Pfr. Grünweller. Bei dete ich mich (tränenreich) von Dora. Im seinen Interpretationen blieb uns oft buch- umfangreichen Gepäck war u.a. meine stäblich die Luft weg. Sein Fach wurde schwergewichtige Schreibmaschine von Flender übernommen, der von dem, („Marke Hammerwerk“) und meine Geige. was wir bei seinem Vorgänger erlebt hat- Das Oberseminar in Düsseldorf war Teil ten, zum Glück keine Abstriche machte. eines Neubaus, in dem kirchliche Ausbil- „Altes Testament“ (AT) hatten wir bei dungsstätten untergebracht waren, ein „Benny“ Locher, der Direktor des im sel- Grundseminar und eine kirchliche Musik- ben Haus befindlichen Grundseminars schule mit Studentenwohnungen, auch für war. Er verstand es, uns diese Geschich- Studierende anderer Fakultäten. Das war ten nicht nur in einzigartiger Weise leben- eine gute Regelung, für beide Seiten dig werden zu lassen, sondern auch auf- interessant und anregend. Alles war noch zuweisen, wie aktuell für unsere heutige völlig neu, und so bezog ich fröhlich ein Zeit die meisten Kapitel sind. Ihm war es modernes und gemütlich eingerichtetes vor allem auch gegeben, nicht nur immer Zimmer (Bild 27). wieder die Aktualität des AT aufzuweisen, Wir waren eine Studiengruppe von sondern selbst die ernstesten Geschichten ungefähr 15 Personen, gut gemischt – wo es nur möglich war - in einer humor- männlich und weiblich, Alter zwischen 25 vollen Art zu präsentieren. und 50 Jahren. Alle kamen aus irgendwel- Sehr lebendig, spritzig und ein- chen kirchlichen Tätigkeiten, hatten also drucksvoll war der Dozent für Sozial-, gewisse Praxiserfahrungen, die meisten Wirtschafts-, Rechtskunde und Pscholo- sogar in Beruflichen Schulen. Mit dem gie, Dr. Lobscheid. Von der Schwäbin in Oberseminar, an dem als Träger nur unserer Gruppe bekam er den Namen einige evangelische Landeskirchen betei- „Lobgscheidle“. Er hatte eine reservierte ligt waren, wollte man dem Missstand Einstellung zu allem, was für ihn christlich abhelfen, Religionslehrer mit ungenügen- hieß. Es machte ihm immer wieder Spaß, der Ausbildung gerade in diese Schulen uns in unserem Glauben herauszufordern. zu entsenden. Wir lästerten: Hausfrau mit Es geschah aber in einer so netten Weise, frommem Augenaufschlag genügt! Ich war der Zweitälteste und wurde zum Sprecher 71 (gr.), Lehre vom Religionsunterricht, gewählt. Manch Jüngere(r) war mir beim Disziplin der prakt. Theologie, die wissen- Lernstoff überlegen. Meine „Stärke“ war schaftliche Theorie der Vermittlung der die größere Lebenserfahrung – kein Wun- christlichen Botschaft. der bei all dem, was hinter mir lag. Das 91 dass wir ihn allmählich doch ins Herz was wir für unsere zukünftige Arbeit mit schlossen (und er natürlich auch uns!); die den jungen Menschen brauchten. Es Atmosphäre in seinen Stunden konnte entsprach der Konzeption des Religions- kaum besser sein. Er war ein „Bonvivant“ unterrichtes in der Berufsschule, die sich - und hatte uns ständig im Verdacht, dass wie schon erwähnt – von der aller anderen wir als zukünftige Religionslehrer zu sau- Schulformen wohltuend unterschied. ertöpfisch werden könnten. Ich vermute, Wie auch immer: Für mich ganz per- hier und da hat er gestaunt, dass er sich in sönlich war es eine große, innere Befrei- manchem von uns verrechnet hatte. Sein ung. Bei Fragen des Glaubens musste ich Unterricht war oft phantastisch praktisch. nun nicht mehr – wie früher – meinen Ver- So gab er uns u. a. den Rat, in Diskussio- stand „an der Garderobe abgeben“. Ich nen nie zu versuchen, 100% Recht zu entdeckte zunehmend das froh Machende behalten. Es genüge doch durchaus, wenn und Unkomplizierte am Evangelium. Letzt- wir 51% erreichten, dann hätte unser Dis- lich ist unser Glaube ja auch keine „Reli- kussionsgegner immer noch die Genugtu- gion“ - vielleicht sogar eher das Gegenteil. ung, dass er es beinahe auch geschafft Es muss uns doch zu denken geben, dass hätte. (Bonhoeffer mit seiner weltlichen Jesus von Nazareth, der Begründer unse- Interpretation biblischer Texte läßt grü- res Glaubens, von den „Frommen“, den ßen!) Religiösen seiner Zeit, ans Kreuz gebracht Pädagogik und Katechetik lehrte in worden ist. Es waren also nicht die Athei- trockener, oft langatmiger und hier und da sten, auch nicht die „Sünder“, die bösen auch kleinkarierter Weise Dozent Schulz. Menschen - die hingen ja mit ihm am Er besaß sicher ein großes Wissen, war Kreuz! Wundert uns das, nachdem Jesus aber in der Vermittlung kein besonders die Superfrommen immer wieder ins geschickter Pädagoge – peinlich für einen Gesicht hinein Heuchler, Narren, Blinde, Pädagogikdozenten! verblendete Leiter, übertünchte Gräber – Mit uns hatten es die Dozenten oft auswendig hübsch, inwendig Verwesung – nicht leicht, besonders in den theologi- Schlangen, Otterngezücht gescholten hat? schen Fächern. Hier wurde uns allen, ( z, B. in Matth. 22, 18; 23, 13 ff, Lukas 13, ohne Ausnahme, eine neue Grundlegung 15). Und das nicht, weil er sie als seine geboten. Wir hatten es aber auch nötig! Konkurrenten ansah. Sie waren es doch, Ich war - in aller Bescheidenheit - nicht die mit lügnerischen Argumenten schließ- gerade der schlimmste Fall mit meiner lich seine Hinrichtung gefordert hatten. „Jungmännerwerk-Theologie“. Aber alle Bei dieser Gelegenheit muss auch waren wir (das ist mir heute ganz klar) einmal deutlich gesagt werden: Es waren mehr oder weniger pietistisch/fundamen- auch nicht „die Juden“, wie es zur talistisch geprägt. Manche haben sich bis Schande des Christentums Jahrhunderte zuletzt mit Händen und Füßen zur Wehr lang hieß. Oder waren es „die Deutschen“, gesetzt. Ich habe manchmal auch tief die Auschwitz organisiert haben? Da atmen müssen; aber von irgend einem sagen wir ja auch genauer: „Es waren Zeitpunkt an habe ich gerade die Deutsche“. Und das ist sehr wohl ein theologischen Fächer aufgesogen wie ein Unterschied! trockener Schwamm. Leider hat man es sich gefallen las- Es war keine radikale Bultmann- sen, dass das Christentum immer wieder ´sche 72 Theologie, die uns geboten wurde, als die Krone der Religionen bezeichnet eher die in unser Leben hinein inter- wurde. Schon im Religionsunterricht der pretierte Bibel, „gemischt“ mit Bonhoeffers Quinta hat mein Lehrer damit zu begrün- nicht-religiösem Verständnis der bibli- den versucht, dass eigentlich alle anderen schen Begriffe. Das war haargenau das, Religionen der Welt überflüssig seien. Dieser Gedanke ist bei mir - allerdings in 72 Rudolf Bultmann, 1884-1976, evang. anderer Weise - neu lebendig geworden Theologe, führender Vertreter der dialek- durch die Theologie Karl Barths und Paul tischen Theologie, entwickelte die exi- Tillichs 73 . Diese beiden Theologen waren stentiale Interpretation mit dem Ziel der Entmythologisierung der Bibel, im kleinka- riert-bürgerlich-christlichen Lager weithin 73 1886 – 1965, deutsch-amerikanischer verketzert - weil oft auch missverstanden. evangelischer Theologe und Philosoph, 92 nicht die einzigen, die nachgewiesen auch äußerst wichtig. Im RU jedoch geht haben, dass dieser Jesus nicht die höch- es mehr um Hintergründiges, Grundsätzli- ste, wichtigste oder beste Religion ches, Lebenswichtiges, „Soziales“ - auch gebracht hat, sondern etwas völlig ande- Privates. res. Eine Kirche hat er schon gar nicht Im Laufe des Studienjahres unter- gründen wollen! nahmen wir einige sehr interessante Dies ist auch der Grund, warum wir Exkursionen: In Brüssel fand gerade die die Berufsbezeichnung „Religionslehrer“ große Weltausstellung statt, für uns durch gerne abgelegt hätten. Aber in der deut- die Nähe zu Düsseldorf eine gute Gele- schen Öffentlichkeit war sie von alters her genheit, sie uns anzusehen. Fasziniert hat nun einmal so eingeschliffen, dass eine uns die große Stahlplastik gegenüber dem Änderung nur Verwirrung gebracht hätte. Eingang. Sie zeigte in einer kaum zu Denn es ging uns nicht um Missionierung überbietenden Deutlichkeit die Situation in der Schule, das hielten wir für unredlich. der modernen Menschheit auf einem wild Dazu ist sie im modernen säkularen und gewordenen Tierungeheuer (Bild 28) rei- demokratischen Staat nicht da! Unsere tend, Sinnbild unseres technischen Zeit- Aufgabe war mehr diakonischer Art. Eine alters. Natürlich besuchten wir auch den aus dem Diakonissen-Mutterhaus kom- herrlichen Marktplatz – selbst Männeken- mende Schwester im Krankenhaus sagt ja piss - und das Atomium (Bild 29). auch nicht jedesmal: „Aber gelt, das In Bergmannsuniform mit Lampe mache ich im Namen Jesu!“, wenn sie und Helm fuhren wir in ein Bergwerk ein eine Wunde verbindet. und sahen vor Ort die schwere Arbeit des Bonhoeffer formulierte es einmal so: Kumpels beim Abbau der Kohle. Mit unse- „Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, ren schwarzen Gesichtern und in ver- sondern zum Leben“ 74 . Somit gilt: Wenn dreckten Arbeitsanzügen stellten wir uns wir in der Schule als „Religions“lehrer mit dann dem Betriebsfotografen (Bild 30). jungen Menschen über Glauben im Sinne Zum Abschluss unseres Studienjah- Jesu zu sprechen kommen, so „ködern“ res fuhren wir nach Berlin - vor allem in wir nicht zu einer Religion, sondern rufen den sowjetisch besetzten Sektor, denn „zum Leben“, und zwar zu einem mög- noch gab es nicht Mauer und Stacheldraht lichst erfüllten und sinnvollen. Auf diese zwischen den seit Kriegsende getrennten Weise passt der RU genau in den curri- Teilen der Stadt. cularen 75 Ansatz der Beruflichen Schulen. Mein vierwöchiges Praktikum absol- Es geht um die Situation der Auszubilden- vierte ich in einer Frankfurter Berufsschule den in der Gesellschaft. Insofern hätte der bei Pfarrer Hans Lindenmann und wohnte moderne Begriff „Lebenskunde“ besser in dieser Zeit daheim. Ich weiß nicht, wen gepasst. In diesem Sinn liegt der Religi- dies mehr freute, Dora - meine Frau - oder onsunterricht ganz dicht beim Sozial- mich. Damit uns die Zeit der Trennung kunde-Unterricht. Allerdings ist - wenn ich nicht zu lange wurde, besuchte sie mich es recht sehe - der Lehrer in diesem Fach an einem Wochenende in Düsseldorf. zu sehr genötigt, abfragbare Kenntnisse Unsere Freunde Schoembs mit Auto über Formales (z. B. Gesetze, Staatsfor- machten es möglich. men, Historie usw.) zu vermitteln. Das ist

1933 in USA emigriert. Sein umfangrei- ches Werk war u. a. der Vermittlung von Kultur und Religion, Kirche und Gesell- schaft, Luthertum und Marxismus, gewidmet. 1962 Friedenspreis des deut- schen Buchhandels. 74 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Chr. Kaiser Verlag München, 1951, 12. Aufl., S 246 75 Curriculum (lat.) = Lehrprogramm. Bild 27 Mein Zimmer in Düsseldorf Bild 28 Weltausstellung in Brüssel 94 Bild 29 Atomium in Brüssel

Bild 30 Besuch im Bergwerk 96 97 Da waren´s plötzlich drei !

Am 14. November 1958 kam unser und fragte die beiden, warum sie nicht in erstes Kind zur Welt (Bild 31) der Schule seien. Ganz offenherzig – ohne Mit einem dicken Blumenstrauß zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten – erschien ich zwei Tage danach in der antworteten sie: „Heute kommt der Schul- Heilbronner Klinik, denn Dora hatte sich in rat, und da ist es stinklangweilig im Unter- den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft richt.“ Der Schulrat gab sich nicht zu in die Obhut ihrer Eltern begeben. Was erkennen, meinte aber, es wäre vielleicht soll ich hier schreiben? Die Freude war doch besser, wenn sie jetzt in die Schule übergroß! Wir nannten unseren neuen gingen. Nicht schlecht staunten und Erdenbürger Werner in Erinnerung an erschraken die beiden, als dann der meinen lieben Bruder, der am 19. Juli Bekannte von der Landstraße im Klassen- 1944 im Alter von 31 Jahren ostwärts zimmer ihnen gegenüber stand. Der ver- Lemberg gefallen war. Als Paten wählten blüffte Lehrer meinte, die Kerle seien wir Werner Reininghaus, Hans Reuling eigentlich seine besten Schüler, und er (mein Cousin und schon mein Pate) und verstehe das Verhalten nicht recht. Nun Peter Spambalg. Die Taufe fand in der examinierte der Schulrat die beiden Martin-Luther-Kirche in Heilbronn am 28. besonders und stellte fest, dass es helle Dezember statt. Leider konnte ich bis Köpfe waren. Er sorgte dafür, dass sie dahin nicht bleiben, denn ich musste ja später auf das Lehrer-Seminar kamen, wieder zurück nach Düsseldorf. Dort eine Schule in Württemberg, wo die wurde ich von Dozenten, Studienkollegin- Schüler die Lehrerausbildung einschließ- nen und -Kollegen mit großem Hallo lich Abitur in seminaristischer Form absol- empfangen und gefeiert. vieren konnten. Mit Ungeduld hatte ich die Weih- Es wurde eine wunderschöne Weih- nachtsferien erwartet, die ich natürlich in nacht im Heilbronner Elternhaus. Beson- Heilbronn bei den Schwiegereltern mit ders wenn Verwandte zu Besuch kamen, Frau und Kind verbrachte. In dem kleinen wurde viel gesungen und musiziert. Wenn Haus in der Gellertstraße fühlte ich mich ich heute eines unserer schönen Paul wohl. Wen mochte ich lieber, den Vater Gerhardt-Lieder oder so manches Volks- oder die Mutter? Ich glaube, unser gutes lied höre, dann sehe ich im Geist Vater Verhältnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Vogel am Klavier sitzen, um ihn herum Alt Die Schwiegermutter beglückte ich immer und Jung der Familie. Fast alle konnten wieder durch Hilfen im Haushalt oder mit vom Blatt singen. Peter, Gudruns Mann, kleinen Reparaturen hier und da. Vater legte mit seinem schönen Bass das Fun- Martin freute es besonders, dass ich nun dament manch kleinen Konzerts. Das auch den gleichen Beruf ergreifen wollte, Haus machte dem Namen Vogel alle Ehre, in dem er alt geworden war, und den er denn man sang und musizierte „nicht nur liebte. Er entstammte einer einfachen zur Weihnachtszeit“. Wenn dann Werner Weingärtners-Familie in dem idyllischen in seiner schönen Wiege sich auch noch Ort Neipperg im Kreis Heilbronn. Er kam hören ließ, so war dies der schönste Ton auf eine lustige Weise zum Studium. Es ist für Dora und mich! erzählenswert: Die Heimfahrt nach Bad Homburg Er besuchte die einklassige Dorf- führte durch das romantische Neckartal – schule seines Heimatdorfes und war ein bei tiefem Schnee. Diesmal fuhr uns wie- rechter Lausbub. Als eines Tages Visita- der Traute Schoembs, die ehemalige tion durch den Schulrat sein sollte, Schulfreundin Doras, die das Fest in ihrem schwänzte er mit seinem Freund den Elternhaus in Heilbronn verbracht hatte. In Unterricht, weil „da ja, wenn der Schulrat der Dorotheenstraße wurden wir von der kommt, doch nix los ist“. Statt in die Pfarrersfamilie mit großer Freude empfan- Schule zu gehen, streiften die beiden im gen. Für uns begann ein neuer Lebensab- Gelände umher und krochen gerade in schnitt: jetzt zu dritt. dem Augenblick aus einer Bachröhre unter Doch leider musste ich ja wieder der Landstraß hervor, als der Schulrat mit nach Düsseldorf zurück. Der Endspurt einer Pferdekutsche ankam. Er hielt an begann, denn nun lag das Examen vor 98 uns. Auch Doras Schwangerschafts- sie mitunter doch auch etwas zu gut. Von Urlaub ging zu Ende. Ein Inserat im Tau- den Kindern ließ sie sich Mammi nennen. nusboten, der Homburger Tageszeitung, Dora war nach alter schwäbischer Sitte hatte Erfolg. Es meldete sich zunächst (und eigentlich auch nach der in der eine ältere Dame, die – wie sie schrieb – Knopf-Familie) die „Mutter“. Da eine Leh- schon öfter einschlägig „tätlich“ gewesen rerin nicht nur vormittags arbeiten muss, sei. Wir entschieden uns aber für ein war ihre Zeit, die sie für die Kinder erübri- anderes Angebot und brauchten es nicht gen konnte, eng bemessen. In der Ver- zu bereuen: antwortung für die Erziehung konnte sie Frau Lempp war eine erstklassige oft nicht so großzügig sein wie „Mammi“. Hilfe (Bild 32). Sie war kinderlos. Wir Das hatte zur Folge, dass sie faktisch nur merkten, dass sie sehr darunter litt. Über eine „halbe Mutter“ war. Als sie eines die Betreuung des Kindes während Doras Tages Werner wegen irgend eines Vorfal- Schuldienst hinaus machte sie sich auch les zur Ordnung rief, sagte der Knirps in anderer Weise im Haushalt nützlich. Sie doch zu ihr: „Geh´ du in dei´ Schul´!“ Das blieb bei uns noch in der Zeit, als Werner war für uns das Signal, dass eine Ände- zur Schule musste und er noch zwei rung eintreten musste. - Aber hier greife Geschwister erhalten hatte. Vielleicht war ich der Zeit voraus! Bild 31 Unser Werner ist da!

Bild 32 Die „Mammi“ mit Werner 100 101 Endlich „in Amt und Würden“!

Der Abschluss im März 1959 in Düs- anderer Schulformen tauschen – das sage seldorf wurde natürlich groß gefeiert, und ich noch heute. dann begann „der Ernst des Lebens“. Die Die Schule war gerade aus dem Stelle an der Georg-Kerschensteiner 76 alten und viel zu kleinen Gebäude in der Schule in Bad Homburg war entsprechend Altstadt in einen schönen Neubau umge- der Vereinbarung ab dem neuen Schuljahr zogen. Für den Unterricht der beiden für mich frei, und ich meldete mich noch Konfessionen waren gesonderte Räume vor den Osterferien bei meinem künftigen vorgesehen, ein Vorzug, den nicht jeder Chef. Direktor Meyer war – wie man so zu Religionslehrer genießen konnte. In der sagen pflegt – praktizierender Katholik. Er Regel musste man von Klasse zu Klasse war hoch erfreut, dass mit mir die Stelle „wandern“, ganz gleich, wieviel Unter- des evangelischen Religionslehrers nach richtsmaterial mitzuschleppen war. Nicht vielem Hin und Her endgültig auf Dauer ohne Stolz führte mich der Direktor durch besetzt werden sollte. „seine“ Schule. Für einige Kollegen war Mein eigentlicher Vorgänger, ein aus ich kein Unbekannter. Manchen war ich der DDR geflohener Theologe, konnte schon begegnet bei Hausbesuchen, weil nach der ihm auferlegten Interimszeit sich ihre Söhne die von mir geleiteten Jugend- für eine Pfarrstelle bewerben, die er auch kreise besuchten. in Bad Homburg erhielt. Den katholischen Mit Beginn meiner neuen Tätigkeit Unterricht versah der Kaplan einer katholi- übernahm ich sofort wieder die Gesamt- schen Kirchengemeinde, der aber häufig verantwortung für die Bad Homburger wechselte. Die Tatsache, dass der Neue Jugendarbeit. Dies war ja gegenüber der immer wieder eingewiesen werden musste Kirchenleitung der EKHN 77 erforderlich, und auch nicht wie sein Vorgänger zu der ich wegen meiner Tätigkeit im Dekanat denselben Stunden kommen konnte, die Bedingung gestellt hatte, nach meiner brachte viel Unruhe in den Stundenplan, Ausbildung eine Stelle dort zu bekommen die sich auch auf den evangelischen RU Der Anfang war nicht leicht. Die ungünstig auswirkte. Es dauerte leider Klassen waren trotz Stufeneinteilung meist noch ziemlich lange, bis endlich ein nicht einmal alters- und schon gar nicht hauptberuflicher Lehrer gefunden wurde bildungsmäßig einheitlich; da saß oft der Bei dem Einführungsgespräch konn- Schüler mit oder ohne Hauptschulab- te mein Vorgänger seine Freude nicht ver- schluss neben dem „Einjährigen“-Mittel- bergen, dass – wie er meinte – er nun schüler oder gar neben einem Abiturien- „endlich in den eigentlichen Dienst der ten. Es hatte daher keinen Sinn, den Kirche käme“ (eine indirekt recht merk- Unterrichtsstoff nach Unter-, Mittel- und würdige Beurteilung meines künftigen Oberstufe zu staffeln. Ich musste zunächst Berufes!). Er warnte mich, das würde ich den mittleren Bildungsstand jeder Klasse höchstens fünf Jahre durchhalten. Aber ergründen und danach das Niveau der diese Sicht des Religionslehrer-Berufes, einzelnen Themen wählen. Dabei konnte besonders für Berufliche Schulen, war mir es vorkommen, dass eine Unterstufe auf- nichts Neues. Sie zeigte mir, wie verant- nahmefähiger war als die Oberstufe. wortungslos es von kirchlichen Stellen Als einen großen Vorteil in den Lehr- war, für diese Aufgabe eine theologische lingsklassen empfand ich die Tatsache, Ausbildung allein als völlig ausreichend zu dass keine Noten gegeben werden muss- halten. Mich konnte man nicht schrecken! ten. Es herrschte dadurch eine größere Mir war die Atmosphäre, die da herrschte, Offenheit bei Diskussionen. Niemand geläufig. Ich wollte mit keinem Kollegen musste dem Lehrer nach dem Munde reden; man konnte eher eine „Lippe riskie-

76 Georg Kerschensteiner, 1854 – 1932, ren“. Was machte es, wenn hier und da dt. Pädagoge, bedeutender Schulrefor- freche – vielleicht sogar ungehörige – mer, führte 1900 – 1906 die fachlich ge- gliederte Berufsschule u. in der Volks- 77 Evangelische Kirche in Hessen und schule den Arbeitsunterricht ein.. Nassau mit Sitz in Darmstadt. 102 Äußerungen fielen? Sie waren leichter zur sogleich nicht nur deutlich sein, sondern Behandlung eines Themas auszuwerten auch zu Meinungsäußerungen reizen und als das „Schweigen im Walde“. Natürlich es musste in einer Unterrichtseinheit ent- ging es da manchmal hoch her. Aber weder abgeschlossen werden oder so konnte Besseres passieren? enden, dass es in der nächsten Stunde Zwei Hürden waren bei der Vorbe- sogleich wieder aufgegriffen werden reitung zu nehmen: Da laut Lehrplan mög- konnte. Man bedenke: Zwischen den bei- lichst von Lebensproblemen der Schü- den „Stunden“ lag für den Schüler/In eine ler/innen auszugehen war, mussten solche Woche, angefüllt mit unzähligen Ablen- gefunden werden, die auch aktuell waren. kungen. Was geschah da alles, was die Zum anderen war ein „Aufreißer“ (wie bei Erinnerung selbst an das interessanteste einer Zeitung) nötig, denn eine Stunde war Thema verwischen konnte! Eine gute nur 45 Minuten lang, und bis die Schüler Kurzgeschichte war da als Anstoß endlich auf ihren Plätzen saßen und die manchmal Gold wert, oder eine Szene Anwesenheit kontrolliert war, verging oft vom Tonband, im Rundfunk mitgeschnit- kostbare Zeit. Das Thema musste also ten.

Unterrichtsthemen (eine kleine Auswahl)

Oft wurde ich auf meine Erlebnisse anlässlich des 60. Geburtstages von Lan- in Krieg und Gefangenschaft angespro- desbischof Lilje herausgegebenen kleinen chen. Als ich dabei einmal die Meinung Privatdrucks „Obrigkeit ?“, der eine länger äußerte, nicht jedes schlechte Erlebnis anhaltende Kontroverse auslöste, konnte müsse für alle Zukunft schlechte Folgen ich mich nicht äußern. Es ging da um haben, brachte mich eine Schülerin in Römer 13, 1: „Jedermann sei untertan der nicht geringe Verlegenheit, als sie mich Obrigkeit.“ Ich hatte einmal in meinem aufforderte zu sagen, wie denn z. B. die Leben unbedingten Gehorsam geschwo- Gefangenschaft sich für mich günstig aus- ren. Nun wusste ich, dass Gehorsam – gewirkt habe. Da war mir augenblicklich zumal unbedingter - kein christlicher Wert klar, dass ich nun Farbe bekennen ist – wenn es für uns Evangelische über- musste. Ich weiß nicht, was die Schüler haupt „christliche Werte“ gibt. Seit Jesus bei dem, was ich äußerte, am meisten von Nazareth gilt nur noch das Doppelge- überzeugte: „Ein Auto, meinen jetzigen bot (entsprechend Matthäus 22, 37 – 39), Beruf und meine Frau!“ Das hatte ich nun das alle Gebote in vernünftiger Weise ein- zu erläutern: Ein Auto schenkte mir ein schließt: „Du sollst lieben (auch im Sinne ehemaliger Mitgefangener, weil es mittler- von achten, respektieren GK) Gott, deinen weile angesichts seiner angewachsenen Herrn [...] Du sollst deinen Nächsten lie- Familie zu klein geworden war. Mein ben wie dich selbst. Beide „Weisungen“ 79 , Berufsziel Ingenieur gab ich nach meinen miteinander verbunden, nennt Jesus das Erfahrungen während der Gefangenschaft höchste „Gebot“. und nach den Ratschlägen befreundeter An der Spitze der gefragten Themen Mitgefangener auf, weil ich vorzugsweise standen Freundschaft, Liebe und Sexua- mit Menschen zu tun haben wollte. Meine lität. Wen wundert das angesichts des Frau lernte ich nach der Heimkehr kennen, Alters der vor mir sitzenden SchülerInnen? weil sie die Schwägerin eines meiner besten Freunde im Lager war. Die Frage des Waffendienstes in der 1933; 1945-66 Bischof der Evgl. Kirche neu geschaffenen Bundeswehr beschäf- von Berlin-Brandenburg, 1949-61 Vors. des Rates der EKD. tigte meist die älteren Schüler, vor allem 79 auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Das deutsche Wort „Gebot“ ist eine schlechte Übersetzung von hebräisch Wehrdienstverweigerung. Im Sinne eines 78 „Thora“,der Ursprache des Alten Testa- im August 1959 von Otto Dibelius mentes. Es ist zu „hart“, zu apodiktisch. Moderne Übersetzer (Martin Buber mit 78 1880-1967, deutscher evang, Theologe, Franz Rosenzweig z. B.) wählten daher Mitgl. der Bekennenden Kirche (BK) ab zur Verdeutschung das Wort „Weisung“. 103 Erstaunlich war die Offenheit, mit der hier einer wirklich liebevollen Beziehung auch diskutiert wurde. „Moralin“ war nicht noch bei Betagten Sexualität erlebt wer- gefragt. Über allem stand die Erkenntnis: den kann, wollte meist niemand glauben. Wenn Gott sich nicht gescheut hat, in der Sie nimmt lediglich andere Formen an; (nicht nur beim Menschen) üblichen Weise aber das Erlebnis kann sogar noch inten- Kinder zeugen zu lassen, dann brauchen siver werden. wir uns nicht zu scheuen, darüber zu Lebhafte Meinungsäußerungen gab reden. Er hätte ja genug andere Methoden es beim Thema „Bergpredigt“, wenn ich gehabt, wie in der Natur ersichtlich, um die Stunde mit der Frage begann: „Was dieses Problem zu lösen. Es kam immer tun Sie, wenn in Ihrem Betrieb ein Mitlehr- wieder große Heiterkeit in der Klasse auf, ling Ihnen eine Backpfeife gibt?“ Da wenn ich da als Beispiel Windbestäubung konnte man Äußerungen hören! Auf kei- nannte. Warum also „unsere“ Methode? nen Fall: „Halte die andere Backe auch Ein Bild aus dem Alltag half, wenn auch hin!“ Jetzt merkte auch der Letzte in der sicherlich nicht umfassend, über den Sinn Klasse, dass ich auf Jesus anspielte des Sexuellen zu sprechen: Sexualität im (Matthäus 5, 39). Die brutalste Schüler- weitesten Sinn ist ohne Zärtlichkeit „purer antwort gab mir dann Anlass, auf das Sex“, allenfalls das „Anmachholz des Lie- Gefährliche der Gewaltspirale hinzuwei- besfeuers“. Damit kann man ein loderndes sen. „Rache ist süß!“ haben wir als Buben Feuer machen, das aber bald erlischt, immer gesagt. Der „Spaß“ hört aber nicht wenn man vergisst, Kohle oder dicke erst bei der Blutrache auf. Es gibt dafür im Holzscheite als „Nahrung“ nachzulegen Privatleben und im Leben der Völker (echte Liebe, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, genug Beispiele: Wie grausam haben sich Vergebungsbereitschaft usw.). Erst mit Hitlers Worte erfüllt: „Ab heute wird eine dieser dann entstehenden Glut kann man Bombe mit zwei vergolten!“ Schon das war auf Dauer eine glückliche Beziehung mehr als „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ gestalten. Das Ende war den Schülern durchaus Aufgeregte Diskussionen entstan- bekannt: Hiroshima, Nagasaki, Dresden; den, wenn an der Tafel durch Zuruf eine auch in Frankfurt konnte man 15 Jahre „Liebeskurve“ entstand, vom Moment des nach Kriegsende immer noch die Folgen einander Kennenlernens an bis ins hohe der Methode „Rückschlagen im Verhältnis Alter. Dabei war zu beachten, dass es (mindestens) 1:2“ sehen. auch noch Liebe als Agape (selbstlose Die meisten Schüler waren wohl Liebe) und als Sympathie (Zärtlichkeit) Mitglied in irgend einem Verein. Es war gibt; das Wort Erotik war nicht mehr zu nicht schwer klar zu machen, dass dieser gebrauchen, da die Schüler darunter nur deshalb womöglich schon über 100 zumeist auch nur Sex verstanden. Zu Jahre besteht, weil in ihm Menschen sind, bedenken war, dass die einzelnen Kurven die im Umgang miteinander gelegentlich der Liebesformen sich gegenseitiig beein- auch einmal „ab und zu geben“, etwas flussen. Was z. B. tun, wenn die Sympa- „einstecken“ konnten. Wenn es jemand tiekurve durch einen Streit oder sonst fertig bringt, nicht gleich „in die Luft“ zu irgend einen Zwischenfall plötzlich abfällt gehen, werden Kräche vermieden, an und die anderen Kurven mit nach unten denen die Gemeinschaft leiden oder gar zieht? zerbrechen konnte. Das ist nichts für Den Höhepunkt der Gesamt-Liebes- Schwächlinge! Dieses Verhalten hat Jesus kurve sahen die meisten zum Zeitpunkt gemeint mit seiner Empfehlung. Er gab der Hochzeit oder kurz danach (die Flit- uns die Gewissheit, dass der, der so zu terwochen!). Aber spätestens dann sank handeln wagt, in Gott einen Verbündeten die Kurve kontinuierlich. Welch traurige hat. Zukunftsaussichten! Da riet ich ihnen – Der Abschnitt „Unterrichtsthemen“ wenn das so sei – lieber gleich Heirats- gehört eigentlich nicht in dieser Ausführ- schwindler zu werden. - Liebe im Alter – lichkeit zu einem Lebensbericht. Ich habe wie soll das gehen? „Da ist der Ofen aus!“, ihn deshalb so gebracht, weil in ihm „Da traben bestenfalls die Beiden neben- Erkenntnisse enthalten sind, die auch für einander her wie in früheren Zeiten zwei meine persönliche Entwicklung von nicht Gäule vor dem Erntewagen“ – war die zu unterschätzender Bedeutung waren. zumeist geäußerte Meinung. Dass bei Außerdem mag es für manche Leser die- 104 ses Berichtes durchaus interessant sein onsunterricht der Berufsschule zuging. zu erfahren, wie es in der Regel im Religi-

Hilfe für Berufsanfänger

Die erste Zeit gab es für Anfänger verständlich zu machen, Erzählformen und (wie ich einer war) ein Referendariat. Dazu - wenn es aufgeschrieben werden sollte - musste ich monatlich einmal nach Frank- Literaturformen 81 wählen, die ihnen geläu- furt, wo unter der Leitung von Pfr. Udo fig und bekannt waren (Fabeln, Märchen, Röhrig diese Fortbildung stattfand. Das Sage- n, Lyrik, Dramatik usw.). Wer nun war eine gute Ergänzung des Düsseldorfer meint, nur in Tatsachenberichten sei Oberseminars. Ich entsinne mich beson- Wahrheit enthalten, der verkennt das ders deutlich an Stundeneinheiten, die auf Wesen von Literatur. Da wird nämlich kei- die Urgeschichte 80 aufbauten. Es war eine nesfalls sinnlos darauf los fabuliert. Im Erleuchtung für uns zu erfahren, dass Vorwort habe ich dafür ein Beispiel viele biblische Geschichten erst dann genannt: die Fabel. Es ist natürlich nicht wichtige Erkenntnisse preisgeben, wenn leicht, in allen Fällen genau zu enträtseln, man darauf verzichtet, in ihnen historische in welcher Weise der jeweilige Bibelab- Tatsachenberichte zu sehen. Und das gilt schnitt verfasst worden ist; aber auf gar ganz besonders für diesen ersten Teil der keinen Fall in der des Tatsachenberichtes, Bibel. In ihm ist verborgen ein jüdisches weil es diesen Begriff noch nicht gab (s. Glaubensbekenntnis, das nicht in Thesen, Goethe und Radio ). sondern in Geschichten, Erzählungen und Außerdem gab es in der langen Zeit Gleichnissen formuliert wurde. Jetzt auf der Überlieferung viele Veränderungen im einmal löste sich für uns das Rätsel des Wort-Verständnis. Ein Glück, dass in Widerspruchs in der Frage der Entstehung unser Glaubensbekenntnis z. B. als des Universums zwischen biblischem nähere Beschreibung Marias nur „Jung- Bericht und Naturwissenschaft. Der Streit frau“ geraten ist. Schon das versteht man mit Darwins Entwicklungslehre war für uns heute falsch genug, denn es hieß früher beigelegt, und zwar befriedigend für beide nichts weiter als „junge (unverheiratete) Seiten: Wissenschaft und Glaube bieten Frau“ im Gegensatz zur alten und nichts unterschiedliche Denkansätze und bezie- anderes. Was wäre, wenn man Maria ein hen sich auch auf verschiedene Lebens- „gemeines, niederträchtiges Weibsbild“ bereiche. genannt hätte? Zur Zeit der Formulierung Genau genommen ist ja die Bibel des Glaubensbekenntnisses (1530) hieß auch kein Buch; sie ist eine Bibliothek mit das noch: „eine allgemein menschen- einer großen Zahl von Büchern in ver- freundliche Frau, die sich nicht zu fein ist, schiedenen Literaturformen - vom Lied sich zu dem ‚niederen Volk‘ herabzubeu- oder Gedicht über Anekdote, Fabel, gen“. Würden wir das auch heute noch Roman usw. bis zu einer Art, die man als beim Sprechen des Glaubensbekenntnis- Tatsache beschreiben könnte. Übrigens ses nachbeten? Es ist ohnehin für uns in hat es das Wort Tatsache vor dem 18. seiner Sprache fragwürdig geworden. Jahrhundert überhaupt nicht gegeben. Um Abschreibfehler haben manchmal sich die Konsequenzen dieses Problems sogar den Sinn entstellt. Hinzu kommt, zu verdeutlichen, sollte man bedenken, dass unsere deutsche Bibel bei Überset- dass es z. B. zur Zeit Goethes das Wort zungen verschiedene Sprachen durch- Radio auch nicht gab, weil es - ganz ein- wandert hat. Jedesmal ging womöglich fach - zu seiner Zeit nicht exisierte. Die etwas vom Ursprünglichen verloren. Von Menschen im Mittelalter und davor inter- Luther stammt die Erkenntnis: „... wenn ich essierte gleichwohl die Frage, was wahr, jünger wäre, so wollt ich diese Sprache Wahrheit ist. Sie mussten also, um sich (gemeint ist das Aramäische, die Sprache Jesu – GK) lernen, denn ohne sie kann 80 die sog. Schöpfungsgeschichte bis zum man die Schrift nimmer recht verstehen Bericht vom Turmbau zu Babel (1. Mose 1 – 11). 81 Von (lat.) litera = der Buchstabe. 105 [...] Darum haben sie (die Schriftforscher wurden zu regelmäßigen Zusammen- o. ä. – GK) recht gesagt: „Die Ebräer trin- künften eingeladen, möglichst nicht in der ken aus der Bornquelle, die Griechen aber Schule. Einen ähnlichen Versuch wollte aus den Wässerlin (der Septuaginta 82 – auch ich starten. Bei der Planung unseres LXX - GK), die aus der Quelle fließen; die Hauses hatten daher Dora und ich das Lateinischen aber aus den Pfützen“ (das große Wohnzimmer im Erdgeschoss durch ist die Vulgata, die lateinische Bibelüber- eine schallisolierende Faltwand von dem setzung). Sie geht auf Hieronymus zurück kleineren Esszimmer abtrennbar gemacht. und ist seit dem Trientinum 83 für die katho- Damit hätte die Möglichkeit bestanden, lische Kirche die authentísch und verbind- diesen Veranstaltungen eine mehr per- lich geltende Bibelübersetzung - GK) 84 . sönliche Note zu geben. Woraus „trinken“ wir heute? Diesen Plan besprach ich mit PB, Es muss also interpretiert werden! der ihn entschieden als Arbeit des Werkes Das ist nicht leicht, öffnet aber einen gro- ablehnte. Warum – das sagte er mir nicht. ßen Freiheitsraum. Wohl auch deshalb hat Diskutiert wurde bei ihm sowieso nicht. Ich Luther darauf bestanden, dass nicht nur kann heute nur vermuten, dass er als ein Kinder des Adels, sondern auch die des Mann der Ordnung auf das Prinzip der „gemeinen Volkes“ (heute: des allgemei- Jugendarbeit im Rahmen der jeweiligen nen Volkes) Schulbildung erhalten. Nicht Kirchengemeinde festgelegt war und jede ohne Grund hat die Katholische Kirche übergemeindliche Gruppierung ablehnte. ihren Gliedern das Bibellesen m. W. bis Oder fürchtete er, dass ich mir selbst eine ins vorige Jahrhundert hinein untersagt. Konkurrenz zu meiner Gemeinde- Das geht natürlich in der Zeit des mündi- Jugendarbeit schaffen könnte? Vielleicht gen Bürgers nicht mehr. war ihm die ganze Tätigkeit an der Berufs- Zu den einzelnen Seminarstunden in schule überhaupt suspekt? Da fehlte ihm Frankfurt gehörte es, dass Röhrig uns im nämlich der missionarische Impuls – und Unterricht besuchte, und das nicht nur den lehnten wir für unseren Religionsun- während einer Stunde. Er wollte sehen, terricht ab. Schlug etwas aus seiner Ver- wie die 6. Stunde verläuft, wenn man gangenheit durch? Schließlich hatte er vor abgespannt und müde ist. Dafür über- dem Krieg in der Arbeit der Höheren nahm er aber auch selbst mindestens eine Schüler begonnen, und die lagen ihm – Stunde, bei der wir sehen konnten, dass wenn ich es recht sehe – auch jetzt noch er nicht nur Theoretiker war. In der besonders am Herzen. Zur Arbeit inner- anschließenden Besprechung, die mei- halb der Gemeinde waren wir ja in der stens in der jeweiligen Wohnung des Hitlerzeit geradezu gezwungen worden, Besuchten oder „Prüflings“ stattfand, weil eine bündische Form in Konkurrenz wurde gnadenlos, aber liebevoll kritisiert. - zur Hitler-Jugend nicht mehr erlaubt war. In diesem Seminar lernte ich auch das Diese Zeit war jetzt zum Glück vorbei und Ehepaar Cordes kennen. Wolfgang war daher kein Grund mehr gegeben, nicht mir schon seit einem Mitarbeiterkursus in auch in anderen Formen zu arbeiten. Haus Heliand bekannt. Hier begann eine Mir aber war sowieso, nicht zuletzt Freundschaft, die – wenigstens mit Lore durch die neue theologische Ausrichtung Cordes – bis heute hielt. in Düsseldorf, die Richtigkeit eines Ver- Aus der Zeit am Düsseldorfer Ober- spruches immer fragwürdiger geworden. seminar erinnerte ich mich an Kollegen, Wie kann man, zumal als 17-Jähriger, eine die neben ihrem Unterricht eine außer- so weitreichende Verpflichtung eingehen? schulische Arbeit aufgebaut hatten. Schü- Nun galt zwar für den Mitarbeiter-Ver- ler, die besonderes Interesse zeigten, spruch die Einschränkung: ... .„ für die Dauer meiner Zugehörigkeit zur Mitarbei- 82 griech. Übersetzung d. Alten Testa- terschaft verspreche ich...“ Damit gab es mentes (3. - 1. Jahrh. vor Chr.) durchaus die Möglichkeit, gegebenenfalls 83 Konzil von Trient, 1545 – 63. auszuscheiden. Nur haben wir in dem 84 Tischreden WA, Band I, S. 525 f. – Alter natürlich nicht so exakt juristisch zitiert nach Pinchas Lapide, Er predigte in gedacht. Es lag also auf dem Verlassen ihren Synagogen, Jüdische Evangelien- der Mitarbeiterschaft, wenn nicht ein zwin- auslegung, GTB Siebenstern, 4. Auflage, gender Grund (z.B. Wegzug) vorlag, S. 20. immer ein gewisser Makel. Das wurde 106 nicht expressis verbis 85 erklärt, aber doch Gott, ich bin gebunden; such dir einen von Seiten der Leitung billigend hinge- anderen!“? nommen. Verbieten konnte mir niemand, Die Lage war natürlich bei der Bruder- außerschulische Arbeit ohne Bindung zu schaft eine andere. Als Erwachsener betreiben. So machte ich einen Versuch. einen Lebensverspruch zu leisten ist eine Leider zeigte sich aber bald, dass dies mit völlig andere Sache. Da gibt es wohl den erheblicher Mehrarbeit verbunden war, einzigen Lebensverspruch der Ehe „bis und die konnte ich nicht mehr verkraften. dass der Tod euch scheide“; und der ist Allein die Vorbereitung der einzelnen problematisch genug. Wenn ich meine Schulstunden nahm meine ganze Kraft in Arbeit im Raum der Kirche als Auftrag Anspruch. Sogar die Gemeinde- Gottes verstehe, kann ich mich ja nicht auf Jugendarbeit musste ich eines Tages auf- eine ganz bestimmte Form festlegen, etwa geben. Das vertrug sich jedoch nicht mit wie in meinem Fall die Jugendarbeit, noch meinem Verspruch als Mitarbeiter und in dazu mit der Bedingung: „nur im Rahmen der Heliand Bruderschaft. Daran wurde ich des Jugendwerkes“. Da sind allein durch aber nun erinnert, und zwar mit dem biologische Voraussetzungen (Alter usw.) Unterton der Untreue. Ich erklärte also schon Grenzen gezogen. Oder soll ich, angesichts der Starrheit PBs. meinen wenn mir eine andere Arbeit für mich sinn- Austritt auch aus der Heliand-Bruder- voller erscheint, aufgrund des Lebensver- schaft. spruches auf Jugendarbeit sagen: „Lieber

85 (lat.) ausdrücklich 107 Ein Haus wird gebaut

Inzwischen war unser 2. Kind zur Stadtentwicklung nicht mehr eignete, Welt gekommen: Elisabeth (Bild 33). Sie wurde er für private Bauwillige freigege- wurde am 6. März 1960 geboren, und wir ben. Es sollte wegen der Größe ein Dop- freuten uns ganz besonders, dass uns mit pelhaus erstellt werden. Nächster Anwär- ihr – gemäß unseres geheimen Wunsches ter auf der Warteliste war ich, nach mir der - ein Mädchen geschenkt wurde. Die Organist der Gemeinde. Der aber wollte Geburt verlief verhältnismäßig kompli- ein Einzelhaus. Mir war das gleich, wenn kationslos, was ihre Ankunft zu einer ganz ich nur endlich eine Wohnung für meine besonders großen Freude werden ließ. Familie bekommen konnte. Ehe der Pfar- Ihren Vornamen wählten wir im Gedächt- rer, Dekan Schmidt, noch weitere Anwär- nis an meine liebe Mutter, die nach dem ter suchte, fragte er mich, ob ich das schweren Bombenangriff auf Hanau nun Gelände auch alleine bebauen würde. Ein schon 15 Jahre tot war, und nach ihren besseres Angebot konnte er mir kaum zwei Taufpatinnen, Tante Elisabeth machen, und da der jährliche Erbbauzins Reuling und Cousine (schwäbisch: Bäsle) extrem gering war, sagte ich freudig zu. Elisabeth Reininghaus (später Ilg). So schlossen wir am 19. September 1960 Allmählich wurde unsere Dachwoh- den Vertrag ab. nung in der Dorotheenstraße zu eng. Als wären der glücklichen Zufälle Familie Sprank hatte uns zwar in unserem nicht genug, ergaben sich noch weitere: In Stockwerk ein zu ihrer Wohnung gehören- dem von mir geleiteten Jungmännerkreis des kleines Zimmer abgetreten, aber es saß ein angehender Architekt. Er musste war sehr winzig und daher für uns nur eine im Rahmen seines Studiums den Nach- geringe Entlastung. Außerdem drängte die weis erbringen, ein Einfamilien-Wohnhaus Kirchengemeinde als Eigentümerin des entworfen und den Bau bis zum Einzug Hauses darauf, dass wir uns möglichst des Bauherrn geleitet zu haben. Das war bald eine andere Wohnung suchten, da zwar für mich ein Wagnis; da ich mir aber die Räume anderweitig gebraucht werden schon bei der Planung einiges an Mitarbeit sollten. Von Seiten der Stadtverwaltung zutraute, begannen wir unbesorgt. Bad Homburg war keine Hilfe zu erwarten, Ein weiterer „Zufall“ kam hinzu, und eine preiswerte Wohnung zu erhalten. nun müsste ich wieder Albert Schweitzer Da aber normale Mieten für uns zu zitieren; man kann es aber unter „Der hoch waren, entschlossen wir uns dazu – Nachholbedarf ...“ nachlesen. Das Richt- so merkwürdig das klingen mag - ein Haus fest stand bevor; da brachte Hermann zu bauen. Ein freundlicher Beamter in der Schröder, ein weiteres Mitglied desselben Stadtverwaltung, zuständig für den Sozia- Jungmännerkreises, einen Artikel der len Wohnungsbau, überprüfte unsere BILD-Zeitung. Dort wurde von einem finanziellen Verhältnisse. Es stellte sich Installateur berichtet, der für seine Mei- heraus, dass wir zwar wenig Bargeld hat- sterprüfung ein Einfamilienhaus suchte, in ten, aber als „junge Familie“, als Erben dem er den praktischen Teil ausführen meiner bombengeschädigten Eltern und konnte – und das völlig kostenlos. Nur das ich als Angestellter im Öffentlichen Dienst Material musste ich selbstverständlich günstige Darlehen erhalten könnten. Bau- stellen. Ein mir befreundeter Installateur in grund – der teuerste Teil unseres Vorha- Bad Homburg, der sich für diese Angele- bens – stand mir zur Verfügung, da ich - genheit stark interessierte, übernahm die mehr aus Jux und Dollerei - mich schon Aufsicht am Bau. früher in die Wartelisten für Erbbaugrund- Es wurde schon das Erdgeschoss stücke der Homburger und der Gonzen- gemauert, da kam mein Gefangenschafts- heimer Kirchengemeinde eingetragen freund Carl-Ernst Schulz aus Leipzig mit hatte. Frau und Kind und suchte nach der Flucht Nun wurde, o Wunder!, zeitgleich ein aus der DDR über die „grüne Grenze“ bei Grundstück frei, auf dem ein Kindergarten uns Unterschlupf. Cornelius, Tis genannt, gebaut werden sollte. Da sich aber dieser war 4 Jahre alt und somit für Werner und Platz nach einer anderen als der erhofften Elisabeth ein willkommener Spielkamerad. 108 Unsere kleine Wohnung war zwar für 7 bei der Lufthansa die Anstellung, die ihn Personen reichlich eng, aber es zeigte voll befriedigte, und die er bis zum Ren- sich, dass oft da, wo es knapp ist, um so tendasein halten konnte. leichter Lösungsmöglichkeiten gefunden Am 18. Juni 1961 kam dann unser werden als im umgekehrten Fall. Zum Wilhelm zur Welt (Bild 34). Trotz Kaiser Glück hatten wir ja im Gefangenenlager Wilhelm wählten wir für ihn diesen Namen gelernt, uns mit Wenigem zu begnügen. zu Ehren meines lieben Vaters. Weitere Carl Ernst, der sich in der DDR „Wilhelme“ als Taufpaten standen nicht mittlerweile vom Maurerlehrling zum zur Verfügung. So übernahmen dieses Architekten hochgearbeitet hatte, fand Amt seine Tanten Agnes Reininghaus und sehr schnell eine Anstellung in einem Anni Wurmer geb. Knopf (meine Cousine Frankfurter Architektenbüro. aus Hanau) sowie meine Freunde aus Natürlich besprachen wir auch mein Gefangenschaftszeiten Carl-Ernst Schulz Bauvorhaben und – gerade noch zur und Christian Erasmus. rechten Zeit, bevor das Obergeschoss Am 13. August fand die Taufe in der gemauert und von den Zimmerleuten das Erlöserkirche statt. Gefeiert wurde im Dachgebälk vorbereitetet wurde – Garten hinter dem Haus, der uns wie ein bewahrte er uns vor einem folgenschwe- weiteres Zimmer zur Verfügung stand. Wir ren Fehler. Aus Gründen der Sparsamkeit waren eine fröhliche Taufgesellschaft. Erst waren im Oberstock außer zwei größeren am nächsten Tag erfuhren wir, welch Zimmern zwei Kammern vorgesehen mit historischer Tag dies war: Die Grenze zwi- je einer einengenden Dachschräge und je schen den beiden Teilen Deutschlands einem relativ kleinen Fenster. Da hatte wurde durch Mauer und Stacheldraht von Carl Ernst die gute Idee: Zwei große Gau- der DDR-Regierung geschlossen. Es war ben zauberten zwei wunderschöne Zim- besonders für Berlin, wo die Grenze mitten mer herbei. Das war auch insofern von durch Wohngebiete der Stadt ging, ein großer Wichtigkeit, weil sich inzwischen überaus schmerzliches Ereignis. Schul- unser 3. Kind angemeldet hatte. Mit ihm zens, Gäste bei der Tauffeier, waren winkte uns weiteres zinsgünstiges Geld, besonders betroffen. Wie gut, dass sie das Familienzusatz-Darlehen. Nun rechtzeitig Leipzig verlassen hatten! Wie gewannen wir sogar noch ein Gastzimmer, aber würde es möglich sein, ihre Eltern in denn das größere sollten sich – je nach- Zukunft auch nur zu besuchen, dem Nummer 3 männlich oder weiblich geschweige denn, sich dort länger aufzu- sein würde – zwei Jungen oder zwei Mäd- halten? chen teilen. Für das andere Kind war dann Der Neubau machte inzwischen gute eines der kleinen vorgesehen. Fortschritte. Bis in die späte Nacht hinein Die Vorbereitungen auf die Geburt war ich der Lehrbub unseres Klempners. zeigten uns allen, dass eine Veränderung Seine Fachkenntnisse waren nicht für unsere Familie Schulz unvermeidlich berühmt, sodass ich manchmal zum Mei- war. Carl-Ernst hatte schon vor der Flucht ster avancierte. Wir hatten ja nicht nur die die Zusage auf die Architektenstelle in Wasser-, sondern auch die Gasleitung zu Frankfurt, zu der er auch täglich mit dem installieren. Zum Glück arbeitete mein Schnellbus von uns aus fuhr. Nun erhielt „Chef“ handwerklich zuverlässig. Es waren er mit seiner Familie eine kleine Wohnung aber einige Probleme bei der Führung der im Gemeindehaus der Reformierten Leitungen zu bewältigen, und da war er Gemeinde im Frankfurter Stadtteil Sach- schwach. Im Gast-WC konstruierte er ein senhausen – nur leider auch nicht auf wahres Hirschgeweih aus Leitungsrohren, Dauer, weil die Gemeinde eines Tages die mit dem er schließlich die Prüfung nicht Räume dringend benötigte. Um dem bestand. Da es technisch in Ordnung war, zigeunerhaften Umherziehen ein Ende zu verkleideten es später die Stuckateure bereiten, nahm er eine Arbeitsstelle im schamhaft mit einem Rabbitzkasten. äußersten Norden Deutschlands, in Nun gab es auch noch Krach. Die Schleswig-Holstein, an - und kam doch verpatzte Prüfung veranlasste ihn, sofort wieder nach einiger Zeit nach Frankfurt die Arbeit niederzulegen und er verlangte zurück. Endlich hatte er eine Wohnung in für die geleistete Arbeit einen angemesse- Langen gefunden. Schließlich bekam er nen Lohn. Bild 33 Elisabeth ist da!

Bild 34 ... und Wilhelm! 110 111 Mit meinem Angebot war er nicht werden, bestimmt angenommen hätte. zufrieden. Er drohte mit dem Rechtsan- Wer weiß, ob ich da den Krieg überlebt walt. Ein Jurist, der früher meine Jugend- hätte? In die Berufsschule wäre ich als kreise besucht hatte, schaltete sich ein. Es Religionslehrer nie gegangen, ohne dort gelang ihm, eine gütliche Vereinbarung zu schon als Lehrling hinein „gerochen“ zu treffen. Aber die Fertig-Installation musste haben. nun mein Homburger Fachmann über- Einen weiteren Helfer möchte ich nehmen. So waren wir also gerade noch jetzt unbedingt näher würdigen: Hermann mit dem berühmten blauen Auge davon- Schröder (Bild 36). Nach Herkunft und gekommen. Schulbildung war er im Jungmännerkreis Im Frühjahr 1962 arbeiteten die eine Ausnahme. Ich weiß gar nicht mehr, Dachdecker und Maler. Dora steckte im wann und wie er in meinen Gesichtskreis Garten die ersten Kartoffeln, nachdem ich getreten ist. Weil er sich später von mir vorher den stark mit Unkraut überwachse- abgewandt hat, kann ich ihn auch nicht nen Garten umgegraben hatte (mit dem mehr fragen. Er hatte eine Schlosserlehre Spaten!). Dabei halfen mir einige Mitar- in einer Oberurseler Firma begonnen. Das beiter aus den Jugendkreisen, denn jetzt war es wohl, was ihn für mich interessant begann mein Kreuz zu streiken; ich gemacht hatte. Leider ist er im Kreis der musste sogar ein paar Tage das Bett vorwiegend Gymnasiasten nie recht hüten, und das, wo der Tag des Einzugs „warm“ geworden. Seine Art ist schwierig bevorstand. Da wir es mit der Kirchenge- zu beschreiben. Ich möchte es so tun, meinde, die uns zum Auszug drängte, dass er es womöglich selbst lesen könnte. nicht verderben wollten, bestellten wir den Er ist nämlich das, was man eine „ehrliche Möbelwagen. Das Parkett im Ess- und Haut“ nennt. Sein Verhältnis zu seiner Wohnzimmer war noch nicht gelegt, da Mutter war recht problematisch, obwohl er rollte er schon in Richtung Flurstraße 10, ihr bis zu ihrem Tod – jahrelang – die unserer neuen Anschrift. Treue gehalten hat. Aber noch stand uns viel Arbeit Jedenfalls bot er mir irgendwann bevor: Im Garten wurden Apfel-, Birnen-, einmal seine Hilfe beim Hausbau an. Er Zwetschgen- und Pfirsichbäume (Bild 35) war handwerklich ungemein geschickt und gepflanzt. Da stand mir mit Rat und Tat konnte eigentlich alles. Er freundete sich der Kollege Welz unserer Schule bei, der sehr schnell mit unseren Kindern an und die Gärtner unterrichtete. Von ihm lernte war zunehmend bei uns zu Gast. Was er ich auch den fachmännischen Baum- alles am Haus gebastelt hat, kann ich gar schnitt. Am Feldweg hinter unserem nicht mehr aufzählen. Nach seiner Anwesen wurden ca. 60 Meter Drahtzaun bestandenen Gesellenprüfung besuchte er erstellt mit einem Tor samt Pergola. Zur eine Technische Schule und entschloss Straße hin war noch alles offen. Dort fer- sich, als Schiffsingenieur zur See zu fah- tigte ich – alles in Handarbeit! (Trenn- ren. So schipperte er längere Zeit durch scheibe gab es noch nicht) – zwei Tore die weite Welt. Unser Haus war dabei so und ein Türchen aus Vierkantrohr und etwas wie seine Heimat, mit der er Ver- Flacheisen als Eingang zum Haus, zur bindung hielt und in das er immer wieder, Garage im Kellergeschoss und zum Kfz- wenn er in Urlaub kam, interessante Abstellplatz. Wozu hatte ich schließlich als Geschenke aus den verschiedensten Län- Lehrling das Schlosser- und Schweißer- dern mitbrachte: mal ein jüdisches Gebet- handwerk gelernt und war geübt im buch in Silber gefasst oder ein Holzschiff Umgang mit Säge, Feile und Elektro- aus Kolumbien oder einen aus Ebenholz Schweißgerät? kunstvoll gefertigten Brieföffner und einen Wie schon so oft habe ich meinem Götzen aus Afrika. Als er von der Seefahrt Bruder im Stillen gedankt, dass er darauf genug hatte, wurde er reisender Bera- gedrängt hatte, nicht das Abitur anzustre- tungsingenieur in der Technik des Feuer- ben, sondern mich mit der Mittleren Reife verzinkens. zu begnügen und dafür die harten Jahre Er hielt sich später zu einer kleinen einer Lehre auf mich zu nehmen. Hinzu Gruppe von Ehemaligen, die ihn in seiner kam, dass bei meiner damaligen Einstel- Art nie recht akzeptierten, warum, ist lung zum Nationalsozialismus ich bei schwer zu beschreiben. Ich meine, ihn Kriegsbeginn das Angebot, Offizier zu recht gut verstanden zu haben. Hier stan- 112 den sich nämlich gegenüber: einerseits sei deutlich geworden, dass das „Fahr- Pfadfinder, ehemalige höhere Schüler, die zeug für uns zu klein geworden“ sei - die aufgrund ihrer Schulbildung einen eignen Familie war also größer geworden! Ver- Weg des Weltverständnisses hinter sich kaufen durfte er den Wagen dort nicht; er hatten. Auf der anderen Seite hatte Her- musste wieder zurück nach Deutschland. mann ein ganz anderes Leben von unten Also bot er ihn mir zum Geschenk an. Der herauf kennen gelernt, von dem die Zeitpunkt konnte kaum günstiger sein! „Höheren“ wiederum kaum eine Ahnung Nun war ich zu allem noch beweglicher haben konnten. Seine Erfahrungen waren geworden, und für meine Familie passte er seine „Universität“ – die hohe Schule des wie angemessen. Lebens. Es gehörte in einem solchen Fall Immer mehr verlor das Gelände um auf beiden Seiten sicher viel Einfühlungs- das Haus den Charakter eines Baugrund- vermögen, gegenseitiges Verständnis und stückes. Den Außenputz fertigte Maler- Bescheidenheit dazu, um miteinander meister Färber aus der früher benachbar- auszukommen. Es bestände ja sogar in ten Löwengasse, der auch in der Berufs- einem solchen Fall die große Chance, schule bei den Malerlehrlingen praktischen voneinander zu lernen. Dazu ist es aber Unterricht erteilte. Er berechnete mir nur anscheinend nie gekommen – leider! die Arbeit und das Gerüst. Der Putz und Groß war die Freude, als wir zu die Farbe wurden von einer Firma Ostern 1962 mit einer kleinen Briefkarte kostenlos gestellt. Sie wollte ihre neu ent- ein Riesen-Geschenk angekündigt beka- wickelten Materialien erproben, um mein men. Es war ein Fiat 600. Thomas Haus späteren Bauherren als Muster vor- Schmidhofer, ein Freund aus Gefangen- führen zu können. Der Putz hält noch schaftszeiten, hatte sich durch eine neue heute nach über 40 Jahren! Gerne hätte Stelle in der Schweiz beruflich verbessert. ich aus Dank Reklame gemacht. Aber es Er schrieb, auf einer Fahrt zu Verwandten erschien bis heute kein Interessent. Bild 35 Garten mit Obstbäumen

Bild 36 Hermann Schröder 114 115 Flurstraße, ein Kinderparadies

Unser Wohnviertel war ein schlechte Eigenschaft der Schwaben ist. Häuserquadrat von ca. 90 x 90 m, Es machte einfach Spaß, zu pflanzen, zu bestehend aus der Feld-, Acker- und säen, das Wachsen zu beobachten und Flurstraße, seitab von dem dann ernten zu können. Durchgangsverkehr in der „Langen Meile“. Dora hatte nach Wilhelms Geburt Sie wurden nur von Anliegern oder den Dienst am 30. September 1962 Besuchern benutzt. Ein Schild „Kinder- quittiert (Bild 41). Mittlerweile war nämlich Spielstraße“ war nicht nötig, hier musste in Hessen endlich das Gesetz verab- sowieso jeder langsam fahren. In einem schiedet worden, das die Abfindung aus- der vier Ecken verborgen, mit einem scheidender Beamten regelte. Dora wollte Straßenanteil von knapp sieben Metern, später nicht mehr in den Schuldienst lag unser Grundstück, ideal im Winter bei zurück, auch nicht, wenn die Kinder einst Schnee und Eis: vor unserem Haus war groß sein würden. Also ließen wir uns schnell gesäubert und geräumt! „auszahlen“. Es war ein nettes Sümmchen Das Grundstück – 809 Quadratmeter und ersparte uns die 1. Hypothek, bei der groß (abzüglich der Fläche des Hauses) – die Zinsen und die Rückzahlung eine bot also viel Gartengelände (Bilder 37 und beträchtliche Belastung geworden wären. 38). Der hintere Hausausgang dorthin ging Nun war auch die „Mammi“ nicht mehr auf eine mit Steinplatten belegte Terrasse. nötig. Der Abschied fiel ihr sehr schwer. Mitten im Rasen entstand aus vier alten Besonders die Kinder waren ihr ans Herz Eisenbahnschwellen (Bild 39) ein großer gewachsen, und auch die ließen sie sehr Sandkasten und aus Rohren von einem ungern ziehen. Immer wieder kam sie in Abbruchbau zusammengeschraubt und – der Folgezeit zu Besuch oder sprang gern geschweißt ein circa sieben Meter hohes zum Babysitten ein. Schaukelgerüst mit Reck und Kletter- Zur Arbeitserleichterung nahmen wir stange. An deren Spitze zeigt noch heute nach einiger Zeit eine Haushalt-Schülerin ein Wetterhahn (Bild 40), woher der Wind ins Haus, die mir die Kollegin von der weht. Eine Überlaufleitung brachte Regen- Haushalt-Abteilung empfohlen hatte. Mit wasser aus dem großen Behälter am Erika Kraft waren wir sehr zufrieden. Auch Regenfallrohr und am Wasserhahn in die die Kinder mochten sie sehr, obwohl sie Mitte des Gemüsegartens. Auch beim sich recht gut durchzusetzen wusste. Duschen ging nichts verloren, sondern Praktisch waren wir nun eine sechsköpfige floss durch einen Rost in das Sammel- Familie. becken. Insbesondere für unsere Kinder war Beete mit Beerensträuchern unter- die Flurstraße 10 ein wahres Paradies. teilten die große Rasenfläche und den Sogar eine kleine eigene Rodelbahn (Bild Nutzgarten, in dem Dora ihrer Leiden- 42) hatten wir am Hang der Terrasse. Was schaft für Gemüse und Blumen frönen haben wir für schöne Kindergeburtstage konnte. Jetzt zeigte sich, was sie schon mit Topfschlagen und Sackhüpfen auf als Kind im Elternhaus und später im dem Rasen gefeiert! Ein Planschbecken Studium als Hauswirtschafts- und und die Dusche sorgten – wenn nötig – für Sportlehrerin (offiziell: Technische Lehre- Abkühlung. Im Sandkasten fuhr eine alte – rin) gelernt hatte. Ihr Ziel hat sie glänzend von Hand betriebene - Spur-0-Eisenbahn erreicht: nicht nur die eigene Familie durch Tunnels. Sie war der Vorläufer weitgehend mit selbst produzierten unserer späteren Lehmann-Gartenbahn. Lebensmitteln zu versorgen, sondern auch Und immer wieder konnte man von den an Nachbarn und an Freunde weitergeben Beerensträuchern oder von den Obst- zu können. Noch war das Wort Ökologie bäumen eine süße Frucht naschen. Am nicht im Schwang. Aber man wusste es zu Turngerät hingen die Waghalsigsten und schätzen, wenn die Herkunft des Essens kletterten bis zum Wetterhahn empor. bekannt war, „ebbes Oigenes“ (schwä- Später in der Schule beim Sport zahlte es bisch: etwas Eigenes) auf dem Tisch zu sich aus, wenn man manche Übung am haben. Und das nicht nur aus Spar- Reck längst spielend gelernt hatte. samkeit, obwohl das ja auch keine 116 Auf der Straße konnte man spielen an zu buchstabieren und fragte immer und herumtollen. Seifenkistenrennen wieder: „... und wie heißt der Buchstabe?“ fanden statt. Ein Holländer (Bild 43), den Schließlich legte er „H“ neben „S“ und Großvater Vogel vor vielen Jahren für strahlte über sein erstes Wort, das er seine vier Kinder von einem Handwerker gefunden zu haben meinte: „Has´“! in Botenheim hatte anfertigen lassen, war Mammi hatte nämlich auf seine Fragen nach seiner Restaurierung ein begehrtes – immer wieder statt des Buchstabenlautes weil seltenes – Fahrzeug. Gleichaltrige den Namen genannt, also bei „H“ – „das Nachbarskinder waren noch in der ist ein „Ha“. Das Ergebnis war, dass er Schulzeit und im Gymnasium gerade 5 Jahre alt war, da begann er Spielkameraden. Gleich „um das Eck schon zu lesen (Bild 46). herum“ war ein Sportplatz. Neben und Elisabeth hatte bald eine Vorliebe für hinter unserem Gelände befand sich eine Tiere. Katzen oder Hunde wollten wir Gärtnerei mit einer verwilderten „Alten“ nicht im Haus haben. Also Baumschule und einer Eibenhecke. Darin versuchten wir es zuerst mit einer konnte man herrlich herum klettern und Schildkröte (Bild 47), die unsere Freunde Versteck spielen. Was machte es aus, Cordes von einer Griechenlandreise wenn immer wieder mal der Gärtner mitgebracht hatten. Ob es ihr bei uns nicht Pippert – von den Kindern kurz „Pippi“ gefiel? Es gelang ihr immer wieder, genannt – mit großem Geschrei irgendwo eine Lücke in unserem Zaun zu auftauchte: „Geht ihr von mei´m Ackä finden. Was sollten wir tun? Ich bohrte ihr runnä!“? Das erhöhte nur den Reiz! In schließlich ein Loch ganz hinten in ihren seiner Art – und mit seiner großen Panzer. Eine lange Schnur durch dieses Zahnlücke – war er ein echtes Original. Loch begrenzte ihren Aktionsradius. Aber Im Kindergarten war von unseren eines Tages war sie dennoch Kindern nur Werner, obwohl die verschwunden. Nun versuchten wir es mit Voraussetzung dazu sehr gut war. Er war Meerschweinchen. Die fanden bei in der Nähe unserer Dorotheenstraßen- Elisabeth mehr Zustimmung, denn mit Wohnung, die Leiterin war Schwester denen konnte man wenigstens kuscheln; Gertrud, eine Diakonisse, die wir über Eva das war ja bei der Schildkröte schlecht Reuling kennen gelernt hatten, und mit der möglich. wir gut befreundet waren. Warum Werner Am Turngerüst entwickelten immer ablehnender wurde, ist uns nie Elisabeth – und später auch die Brüder – ganz klar geworden. Er hatte immer beachtliche Leistungen. Vor allem an der wieder Ausreden. Mal war es zu Reckstange hingen sie bald wie die Affen langweilig, dann waren ihm die im Zoo. Am meisten beliebt waren Lichtschalter und Türklinken zu hoch. natürlich die Schaukel und die Ringe. Und außerdem hatten wir ja zu der Elisabeth war wohl die erste, die die Zeit unsere Frau Lempp! Viele notwendige Kletterstange anging und es bis zum Verrichtungen wurden, wenn möglich, Wetterhahn schaffte. gemeinsam bewältigt; „Sitzen“ war eine Wilhelm begeisterte sich vor allem lästige Pflicht (Bild 44) – schöner war für Autos. Diese Vorliebe hat er wohl bis dagegen das Baden. („Immer zu dritt! Bild zum heutigen Tag behalten. Sie bestimm- 45) Werner war daheim sehr umgänglich, ten auch seinen Berufswunsch, doch das konnte sich lange Zeit mit sich selbst zu berichten ist Zukunftsmusik. Er war bei beschäftigen und spielen. Seine Lego- allen beliebt und ein lustiges, kleines Sammlung wurde immer größer. Eines Kerlchen. Seine Kusinen Elisabeth und Tages erhielt er eine Packung Lego- Dorothee Reininghaus, die öfter in den Steine, von denen jeder einen anderen Ferien bei uns zu Gast waren, hatten ihn Buchstaben des Alphabets trug. Da fing er besonders in ihr Herz geschlossen. Bild 37 Wasserfreuden im Garten

Bild 38 Die Liegewiese

Bild 39 In der Sandkiste 118 Bild 40 Turn- und Schaukelgerüst mit Wetterhahn

Bild 41 Dora mit den drei Kindern (Bad Homburg, Dorotheenstraße)

Bild 42 Schlittenfahren am Haus 120 Bild 43 Hinter dem neuen Haus – Fahrspaß mit dem historischen Holländer

Bilder 44 und 45 „Immer zu Dritt“ 122 Bild 46 Werner liest

Bild 47 Elisabeth mit Schildkröte 124 125 Kindermund ...

Viel Freude hatten wir bei allen wo ich auf der romantischen Burg Fin- Dreien an ihrer Sprachentwicklung. Wenn stergrün bei einer Jungmänner-Freizeit wir an ihren Geburtstagen den Song into- mitarbeitete. Auf der Hinfahrt unternahmen nierten „Viel Glück und viel Segen auf all´ wir am Tauernpass eine Bergtour auf die deinen Wegen.....“, merkten wir lange Seekarspitze (2350 m ) - es war übrigens nicht, dass bei dem künftigen Technikfan meine erste Bergwanderung. Am Gipfel Wilhelm die Rede von Sägen und Wägen angekommen, fragte Wilhelm angesichts war. Kein Wunder: Je mehr Wagen und eines gewaltigen Geröllfeldes: „Wer hat Autos er besaß, desto besser war es. Und denn die vielen Steine hier herauf trans- Werkzeug konnte man ja auch nicht genug geportert?“ Wir wussten nicht, worüber wir haben. Elisabeth hatte ihre Not, Schiff und mehr lachen sollten, über das „transge- Fisch auseinander zu halten: zu essen portert“ oder über die Frage nach den gab es bei ihr Schiff und auf dem Wasser vielen Steinen. Als ihm einmal Dora Milch schwamm der Fisch. Ist ja auch nicht im Tee anbot, meinte er, das sei doch leicht! Wenn Werner betete (er war zu etwas für kleine Kinder. „Nein“ – erwiderte dieser Zeit noch kein Schulbub, ging das sie, – „der Großvater trinkt auch Milch im so: „De – de – de – de - Amen!“, wobei Tee, und der Großvater ist doch ein....?“ – das „a“ bei Amen zwischen a und o lag. „Schwab“, war da Wilhelms Antwort, ehe Wenn wir Gäste beim Essen hatten und sie noch sagen konnte „alter Mann“. mit „Fröhlich sei das Mittagessen!“ Zum Schluss noch einige Beispiele (Abendessen, bzw. Frühstücken) began- aus der Knopf´schen Kinderstube: Einer nen, unterschlug er einfach die ersten der Jungen ruft: „Ich bin der Herodes!“, Buchstaben von fröhlich, und das hieß Elisabeth antwortet: „...und ich bin die dann: „Ölig sei....!“ Frau Rodes!“ - Wilhelm fragt stark interes- Wer das eine oder andere sagte, siert: „Wird eigentlich ein Neger rot, wenn weiß ich schon gar nicht mehr genau. er lügt?“ – (Intelligente Frage!) – Elisabeth Wenn ich noch einige Beispiele nenne, so singt: „Danket, danket dem Herrn, hoffe ich, dass ich die Autoren nicht ver- d´Emma ist sehr freu-eund-lich...“ (die wechsle. Als beim Lesen der täglichen Emma war die Gemeindeschwester in Losungen der Brüdergemeine ein Liedvers Fichtenberg und bis heute unserer aufforderte: „Kommt, lasst uns fallen auf gesamten schwäbischen Verwandtschaft die Knie...!“, fragte Elisabeth ganz empört: sehr eng verbunden. Sie hat übrigens in „Warum sollen wir auf die Knie fallen, das diesem Jahr – 2008 – ihren 102. tut doch weh ?“ (Noch war ihre letzte Geburtstag gefeiert - bei beachtlicher Wunde dort nicht ganz verheilt.) Sie ver- Gesundheit für dieses Alter. stand auch nicht den ‚knetigen Gott‘ (gnä- Kindermund hat für meine Selbstein- digen Gott). Als ihr erster Schultag (Bild schätzung beachtliche Folgen gezeitigt: 48) nahte, meinte sie ganz entsetzt: „Ei, Ich habe mich lange Zeit meines Lebens ich kann doch noch gar nicht lesen und selbst immer jünger gefühlt als mein rea- schreiben!“ Sie hatte aber dann doch bald les Alter. Dies fand ein Ende durch folgen- ihre „AIGENE RÄSCHTSCHREIBONG“. des Erlebnis: Auf dem Weg hinter unse- Ob von ihr der Karton stammte, der eines rem Haus wurden gerne Hunde „ausge- Tages auf meinem Schreibtisch lag: führt“. Als ich beobachtete, dass Kinder „HENTE HOCH!!“ – doppelt unterstrichen? einem großen Hund regelmäßig den Als Wilhelm zum ersten Schulgang schmalen Grünstreifen längs unseres (Bild 49) den Schulranzen aufsetzte, Zaunes für sein Geschäft zuwiesen und meinte er zu seiner Mutter ganz traurig: dies beim Mähen äußerst unangenehme „Jetzt, wo wir uns so aneinander gewöhnt Folgen hatte, bat ich sie, in Zukunft doch haben, muss ich in die blöde Schul‘!“ Als einige Meter weiter zu einem Feldstück zu Jüngster von unseren Dreien hatte er es gehen. Sie taten das auch. Eines Tages besonders genossen, mit der Mutter hörte ich, wie sie sich selbst ermahnten: daheim ganz allein zu sein, während seine „Nicht hier, das hat uns doch der alte beiden Geschwister in der Schule waren. Mann verboten!“ – Von da an war ich von Er durfte ein Jahr zuvor als Einziger mit meiner Einbildung geheilt. Vater und Mutter nach Österreich fahren, 126 ... und „kluge“ Reden der Alten:

Der Großvater – Doras Vater – mag nen, sondern sich immer wieder auch den „Reigen“ anführen: Natürlich war er einmal ein wenig herausputzen solle. So nach alter schwäbischer Sitte nicht der band sie sich eines Morgens vor der 10- Opa, sondern der Großvatter. (die 2 „t“ Uhr-Pause über ihr besseres Kleid die sind kein Schreibfehler, der der Korrektur schöne weiße Spitzenschürze um, die entgangen ist). Seine berufliche Laufbahn sonst frisch gewaschen und gebügelt die begann als Lehrer in der einklassigen ganze Zeit im Schrank lag. Der Ehemann Volksschule in Botenheim bei Bracken- war höchlich erstaunt und meinte in seiner heim in der Nähe von Heilbronn. Schul- trockenen Art: „No, hascht du nix zum anfänger bis Schulabgänger saßen bei do? 86 “ dieser Schulform in einer Klasse: Die älte- Nichtsdestotrotz war er ein guter ren Schüler wurden als Hilfen beim Unter- Ehemann und Vater und half noch als richten der jüngeren eingesetzt. Der pensionierter Rektor in dem Doppelhaus in Begriff „Learning by doing“ war damals Heilbronn mit umgebundener Haushalt- noch nicht erfunden, wurde aber tag-täg- schürze bei der Küchenarbeit. In dem klei- lich praktiziert und erforderte das beson- nen Garten hinter dem Haus arbeitete er dere Geschick des Pädagogen. Viele sei- unermüdlich, und wir kamen oft aus dem ner kurzen Äußerungen verrieten den Staunen nicht heraus, was er alles an Erzieher: „Aus einer Verlegenheit eine Obst und Gemüse nicht nur für die eigene Gelegenheit machen.“ Mit „Lustig und a´ Küche herbei schleppte, sondern auch Freud´ am Gschäft!“ feuerte er seine Kin- marmeladeneimerweise per Frachtgut an der zur Arbeit an. „Was der Mensch wert die Familien seiner Töchter versandte. ist, das widerfährt ihm“. „Viele Händ´ / Ich weiß auch nicht, warum ich mit machet schnell e End´“. Beliebt waren bei Sprüchen von Dora kaum aufwarten kann. ihm bekannte Sprichwörter wie: „Ohne Sie zitierte oft ihren Vater. Als eigene Fleiß kein Preis!“ Der Ausdruck seines Bemerkung von ihr ist mir nur im Erstaunens war sehr kurz: „Mei, mei!“ – Gedächtnis, dass sie oft meinte – wenn Seine Prinzipien und Lebensweisheiten sie etwas zum Essen aus dem Kühl- waren oft zu hören: „Mit dem Alten `s Neu´ schrank holte: „Das muss man eigentlich erhalten!“ (ein neues Kleidungsstück z. B noch nicht essen, das ist noch gut.“ Dabei wurde geschont, indem nun erst recht das meinte sie selbstverständlich nur die Rei- alte aufgetragen werden musste). „Oimol henfolge, in der dies und jenes vor dem guat g´läbt denkt oim lang!“ kam nach Verderb bewahrt werden sollte. Aber wir einem guten Essen noch vor dem Dank- hatten unseren besonderen Spaß an der gebet. Hochdeutsch wechselte bei ihm zum Schein ernst genommenen Äuße- immer wieder mit dem Schwäbischen. „Je rung. länger er lag, desto fauler er ward“ – war Leichter fällt es mir, mich selbst zu die Warnung an den Faulpelz. „Keiner zitieren; denn an einem meiner runden geht leer!“ – war seine Aufforderung Geburtstage haben Werner und Wilhelm besonders an die Kinder, wenn nach dem zum Spaß der fröhlichen Runde unter dem Essen der Tisch abgeräumt wurde. „Ich Titel „Gesammelte Worte des großen bin ein Sonnenkind und keine Schatten- Vorsitzenden G. K.“ einen lustiges Sketch morelle!“ sagte er oft, und es störte ihn vorgetragen. Das Manuskript ist noch vor- nicht, dass die Sauerkirschensorte eigent- handen. Die schönsten Blüten daraus fol- lich „Chateau morelle“ hieß. gen hier: Ein alter Bekannter ist zu Besuch Die Familie hatte in Botenheim ihre gekommen: „Komm alter Schluri, jetzt iss Wohnung im ersten Stock des Schulge- erst mal was!...Sei net so sparsam mit der bäudes, das heute ein Heimatmuseum Butter, du machst mir ja des Messer beherbergt. In der großen Pause kam der kaputt!“ – Pause – „Willst Du noch etwas?“ „Herr Lehrer“ hoch in die Wohnung und – „Nein, danke!“ .- „Es ist auch nix mehr erhielt das von seiner Frau zubereitete da!“ – „Gucke mal da, was ich aus der Frühstück. Sie war eine geschickte Haus- alten Nachttischlampe von der Frau frau. Sie hatte auch mit vier Kindern – alle Schneider gemacht habe – man meint im Schulhaus geboren – genug zu tun. nicht, dass e Menschenhand dran war!“ Wahrscheinlich stand irgendwann einmal usw, usw. unter der Rubrik „Die Hausfrau von heute“ im „Blättle“, dass die Frau nicht immer in 86 Arbeitskleidung vor ihrem Mann erschei- „Na, hast du nichts zu tun?“ Bilder 48 und 49 Erste Schultage 128 129 Die 60er Jahre – Studienfahrt nach Israel

In meinem bisherigen Bericht hat In Genua gingen wir an Bord der das 6. Jahrzehnt eigentlich schon längst „Agamemnon“, ein beachtlich großes Pas- begonnen. Aber dieser Zeit gebührt eine sagierschiff. Wir fuhren durchs Tyrrheni- besondere Beachtung. In der Schule war sche Meer an vielen, uns dem Namen ich ja nun kein Neuling mehr. An Diskus- nach bekannten (Caprea, Elba ) und unbe- sionen über die Probleme des Religions- kannten Inseln vorüber. Die attraktive unterrichtes an Beruflichen Schulen (BRU Rauchfahne des Stromboli war noch an BS) konnte ich mich schon beteiligen, sichtbar, als vor uns die Meerenge von vielleicht auch hier und da `mal eine Messina erschien. Und dann waren wir „Lippe riskieren“. Dies geschah vor allem schon im Mittelmeer, wenn es zunächst in der Arbeitsgemeinschaft (ArGe), ein auch noch Ionisches Meer heißt. Unver- Zusammenschluss evangelischer Religi- gesslich war der enge Kanal von Korinth. onslehrer an BS, eingerichtet von der Kir- Hier und da hätte man fast meinen kön- chenleitung, genauer von den Katecheti- nen, von Bord des Schiffes an Land sprin- schen Ämtern. Ihnen oblag die Aufsicht gen zu können, wenn die begrenzenden über den RU an allen Schulen – was den Steilufer nicht zu hoch gewesen wären. Inhalt des Unterrichts betraf; disziplina- Von Piräus aus hatten wir Landgang nach risch unterstanden wir ja der Schulbe- Athen. Es war natürlich nur eine Kost- hörde, also dem Direktor. Obwohl Bad probe, was uns da in der kurzen Zeit Homburg – und damit auch der dort statt- geboten wurde. Aber hier ist ja nicht der findende RU – eigentlich zum Visitations- Platz für einen ausführlichen Reisebericht. bezirk Südnassau gehörte, besuchte ich Auch im Hafen von Rhodos ankerten wir. die Arbeitsgemeinschaft im nahen Frank- Motorboote brachten uns an Land. Wir furt, natürlich mit kirchenamtlicher schlenderten durch die Stadt zur Kreuzrit- Genehmigung. Die Zusammenkünfte fan- terburg. Es ist schon Orient: Minarette und den in etwa monatlichem Abstand statt Bazare! Am nächsten Morgen wachten wir und waren nicht das, was viele Religions- in Zypern auf. Im Hafen Limasol wurden lehrer (RL) eigentlich wünschten. Es ging einige Güter umgeladen – und weiter da ziemlich lahm zu. Für den RU fiel ging´s. inhaltlich, und vor allem was seine Stel- Eine israelische Familie stand am lung innerhalb der Schule betraf, nur Bug des Schiffes und konnte es kaum wenig ab. Da waren wir aus der Referen- abwarten, bis das Karmel-Gebirge vor uns dariatszeit bei Pfr. Udo Röhrig besseres auftauchte: Endlich am Ziel! Das herrliche gewohnt. Panorama, Israels Hafenstadt Haifa, brei- 1963 war eine Studienreise nach tete sich vor uns aus. Uns jedoch war ein Israel geplant. Sie sollte eigentlich wegen wenig bange ums Herz: Wie würden wir des Klimas dort im Frühjahr oder Herbst hier als Deutsche empfangen werden? stattfinden, wurde aber wegen des in die- Unser vierter Kabinengast, ein Israeli, mit ser Zeit zu großen Stundenausfalls von dem wir uns gut verstanden hatten, verab- der Schulbehörde nicht genehmigt und schiedete sich von uns tröstlicherweise mit musste auf die Zeit der Sommerferien Kuss: „Shalom 87 !“ verlegt werden. Einige der bereits ange- Unvermeidliche Formalitäten; auch meldeten Teilnehmer traten aus gesund- die gingen zu Ende, und wir saßen endlich heitlichen Gründen zurück; für mich war im Bus zu unserem Standquartier „Haus dies nach meinen Erfahrungen in Krieg Rosenschein“ in Naharya, ca. 20 km nörd- und Gefangenschaft kein Problem. Zu lich von Haifa, unmittelbar am Strand meiner Freude nahmen Wolfgang Cordes gelegen. Natürlich begannen viele von uns und seine Frau Lore (Bild 50) ebenfalls den nächsten Tag mit einem Bad im Meer. teil. Noch andere Ehefrauen waren mit von der Partie. Leider konnte meine Dora 87 Der israelische Gruß: Frieden. wegen der Kinder nicht dabei sein. 130 Mit unserem Reiseleiter Jossi, einem jun- Ben Gurion 88 erklärte: „Wer als Politiker gen, gut deutsch sprechenden, dynami- nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. schen Israeli, standen wir am Anfang einer Darüber zu berichten ist schwer, wenn unbeschreiblich schönen und hoch inter- man nicht in den Verdacht kommen will, essanten dreiwöchigen Rundreise. ein Philosemit 89 zu sein. Er fragte uns: „Seid ihr katholisch Das ehemals fruchtbare Land, „darin oder evangelisch?“ Wir ließen ihn wissen, Milch und Honig fließt“ (2. Mose 3) hat dass wir weniger an den sogenannten etwa die Größe von Hessen, es war in den „Spuren Jesu“ interessiert seien, sondern vergangenen Jahrhunderten furchtbar ver- vor allem eine Begegnung mit dem jüdi- kommen. Die Türken hatten es z. B. durch schen Volk wünschten und das Land ken- eine Baumsteuer fast völlig entwaldet. Die nenlernen möchten. Er war sichtlich Wiederaufforstung war vor allem ein Pro- erleichtert, und er hat uns diesen Wunsch blem des fehlenden Wassers. Eine allge- in bewundernswerter Weise erfüllt. Es ist meine Berieselung der jungen Pflanzen unmöglich, das Erlebte hier auch nur war nicht möglich, da bei dieser Methode annähernd wiederzugeben. zu viel Wasser verdunstet wäre. So wur- Jossi erzählte uns daraufhin die den „zeilenweise“ Schläuche verlegt, in Geschichte von dem Touristen, der denen jede Pflanze durch ein kleines Loch meinte, er wolle Israel kennenlernen und ihr „individuelles“ Wasser erhielt. gefragt wurde: „Und was machen Sie am Andererseits mussten im oberen Nachmittag?“ Das ist natürlich tief gesta- Jordantal, dem Huletal, ausgedehnte pelt. Denn so klein dieses Land ist: in Sumpflandschaften entwässert werden. umgekehrter Weise groß und unerschöpf- Jetzt ist dieses Gebiet schon lange die lich sind seine Wunder, und ich habe noch Kornkammer Israels. Pionierarbeit wurde keinen Menschen getroffen, der dort war vor allem geleistet durch die Gründung und nicht begeistert zurückgekehrt wäre. von Kibbuzim 90 , Produktionsgemein- Ob es mir gelingt, weiter zu geben „wie es schaften, in denen z. T. (besonders in den war“, wie wir es damals erlebt haben? sozialistisch organisierten) sogar das Pri- Damit mir nicht neuere Erkenntnisse vateigentum aufgehoben war. Ihnen wurde oder Erlebnisse dieses „Damals“ verfäl- besonders hohe Effizienz nachgesagt: 4% schen, zitiere ich am Besten aus meinem der Kibbuzbevölkerung erbringe 60% der Bericht, den ich nach Rückkehr vor dem landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Lan- Lehrerkollegium meiner Schule gegeben des. habe. Zum Glück habe ich das Konzept in Da der größte Teil der nach Israel meinen Akten gefunden. Es besteht auf massenhaft einwandernden Juden weder diese Weise nicht die Gefahr, dass etwas handwerklich noch landwirtschaftlich von meiner zweiten Israelreise 1987 oder gebildet war, musste er den Beruf wech- von dem, was inzwischen über die Entste- seln. Man kann ja ein Land nicht allein mit hung und das Verhalten dieses Staates Geistesarbeitern aufbauen. Zum Glück bekannt geworden ist, in meinen jetzigen haben viele dies als eine Chance aufge- Bericht einfließt. fasst, mit ihrer Hände Arbeit ihr tägliches Als Erstes habe ich darauf hingewie- Brot zu verdienen. sen, dass es sich nicht um eine übliche Auslandsreise gehandelt hat: nicht wegen der Bezeichnung Heiliges Land - auch 88 wenn von hier Impulse ausgegangen sind, David Ben Gurion, 1886 – 1973, israel. die die ganze Menschheit betreffen. Die Politiker, wanderte 1906 nach Palästina aus, organisierte 1935 – 48 die illegale Tatsache der Existenz dieses Staates ist Einwanderung jüd. Flüchtlinge, vor allem. es, was den Besucher fasziniert: Einem aus Deutschland. Israel. Ministerpräsident der ältesten Völker unseres Planeten u. Verteidigungs-Min. (1948-53 u. 55-66). gelingt es – wo andere Staaten unterge- 89 Angehöriger einer geistigen Bewe- gangen sind – ,sich neu zu konsolidieren. gung, der gegenüber Juden und ihrer Das „Da- und So-Sein“ dieses Staates ist Religion eine unkritisch positive Haltung das Wunder schlechthin in dem Sinn, wie einnimmt. 90 (hebr.) Mehrzahl von Kibbuz, ländliche Siedlung in Israel mit kollektiver Wirtschafts- und Lebensform. Bild 50 Israelfahrt Lore und Wolfgang Cordes 132 133 Ein großes Problem war schon schoss des Zionsmünsters, wie die damals das Verhältnis der Juden zur palä- Kreuzfahrer die frühere byzantinische stinensischen Bevölkerung. Es wurde der Hagia Zion umbenannt hatten, wird der ernsthafte Versuch gemacht, sie zu inte- Saal der Fußwaschung gezeigt (heute als grieren und eine gewisse Gleichberechti- Synagoge benutzt), von dem man auch gung herzustellen. Wenn dies auf Dauer die ursprüngliche Krypta des Hlg. Stepha- gelänge, wäre es ein gewaltiger Erfolg. nus besuchen kann. Durch einen Irrtum Die angrenzenden nichtjüdischen Länder gilt sie heute als Davidsgrab und wird von machten dies nämlich mit den Flüchtlingen Juden, Muslimen und Christen verehrt und (also ihren eigenen „Verwandten“) nicht. dementsprechend auch interessierten Im Gegenteil: Nach dem Krieg im Touristen gezeigt. Für die frühe Christen- Anschluss an die Staatsgündung Israels gemeinde galt dieser Bau als Haus des wurden diese in Lagern gesammelt, in Johannes , in welchem das „letzte Abend- denen großes Elend herrschte. Der ver- mahl“ gehalten wurde - und Maria mit den ständliche Wunsch dieser Menschen, Aposteln lebte . Folglich wird im Oberge- möglichst bald in ihre Heimat zurückkeh- schoss auch das Pfingstwunder ange- ren zu können, wurde nicht erfüllt. Mit nommen (Apg. 2). Jossi, dem das alles als Absicht wurde das Elend von den arabi- „unhistorisch“ (wenn nicht als Schlimme- schen Anrainerstaaten instrumentalisiert res) erschien, erklärte uns denn auch eher mit dem Gedanken auf den noch so fernen salopp – halb deutsch, halb englisch: Tag hin, an dem Israel wieder von der „Here came der Heilige Geist gelanded“. Landkarte verschwunden sein würde. So kann man also auch von der Ganz offen lautete deren Parole (übrigens „Ausgießung des Heiligen Geistes“ reden. noch heute): Wir werfen die Juden ins Viele von uns hat es erheitert, andere Meer. schwebten unbeirrt in „höheren Regionen“. Dass dieses Land in theologischer Aber den meisten wurde gerade hier auf Hinsicht für uns von besonderem Inter- dem Zionsberg und bei so unterschiedli- esse war, braucht ja wohl nicht extra chen Reaktionen etwas von der Viel- begründet zu werden. Hier kamen wir schichtigkeit der Glaubensprobleme dreier nicht zu kurz, dafür sorgte schon unser Religionen klar und deren geschichtliche Reiseleiter Jossi, oft auch in lustigen bzw. durch Traditionen geprägte Hinter- Bemerkungen. In Jerusalem konnten wir gründe. Niemand aber konnte auch nur leider nicht in die Altstadt und in den Fel- annähernd vorhersehen, zu welchen Ver- sendom, denn es war – wie bei uns Berlin wicklungen, Feindschaften und Terror- – damals eine geteilte Stadt; ein wesentli- Szenarien es noch kommen würde. cher Teil gehörte zu Jordanien. Aber vom Wehmütig schauten wir von hier Berg Zion hinab hatte man einen recht oben auf die für uns unerreichbare Altstadt guten Überblick über das Gebiet, dessen mit dem Felsendom, der Aqsa-Moschee Zugang uns versperrt war. Dort oben steht und der Klagemauer , die erst 1967 wider die Dormitions-Abtei, in der nach katholi- in israelische Hand gelangte. Aber das scher Tradition Maria „entschlafen“ sein kleine Land hatte noch genug anderes für soll. Als liegende Statue wird sie den uns zu bieten, von dem immer zu wenig Besuchern noch heute unter einem Balda- sein wird, was ich hier berichten kann. chin in dem geräumigen Rundbau gezeigt. Auch nach Mea Shearim , dem Ganz unbekümmert von so viel „Heiligkeit“ Wohnviertel der orthodoxen Juden, führte hatten sich in den Fensterbögen unter uns Jossi, wobei er darauf hinwies, da dem Kuppeldach israelische Soldaten könnten wir endlich einmal richtige 91 Juden hinter Sandsäcken verschanzt, weil dieser sehen! In ähnlicher Weise machte er uns Ort für sie zur Beobachtung der palästi- vor dem Besuch von Tel Aviv auf dort zu nensischen Seite strategisch günstig war; sehende „untypisch“ blonde Mädchen mit Schießereien war immer mal wieder zu aufmerksam, die aber trotzdem Jüdinnen rechnen. Wir wurden deshalb an anderer seien. Stelle auch dringend gewarnt, nicht hin-

über zu winken oder auffällig zu fotografie- 91 ren. Juden mit Pajoks (lange Schläfenhaare) Nahe der Dormitions-Abtei liegen und durchweg schwarzer Bekleidung noch weitere „heilige Stätten“. Im Unterge- (Kaftane ). 134 Ein Erlebnis besonderer Art war die Denker gehört er zu den maßgebenden Fahrt durch den Negev zum Roten Meer . Vorkämpfern für ein besseres Verhältnis Im Kibbuz Sede Boqer 92 servierte man uns zwischen Juden und Christen, zwischen stolz hier mitten in der Wüste produziertes Israelis und Deutschen. Obst und kühle Getränke. Unvergesslich In der Synagoge der Hadassah-Kli- auf der Weiterfahrt die Riesen-Gelände- niken hat Marc Chagall 12 Fenster je einbrüche Hamakhtesh Hamagdhol und einem Stamm Israels (= 12 Söhne Jakobs) Maktesh Ramon , wahre Mondlandschaf- gewidmet. Die Farbenglut dieser Fenster ten! Nicht zu vergessen auf der Weiter- und ihrer Bilderwelt zu beschreiben ist fahrt: Timna , die Kupferbergwerke und unmöglich. Man erkennt in ihnen die tiefe „Säulen Salomos“. Verwurzelung des Künstlers in der Tradi- Endlich waren wir in Elat – am Roten tion seines Volkes und seine Verbunden- Meer. In der Jugendherberge sollten wir heit mit der Bibel und ihrer Gestalten. übernachten (angeblich „air conditioned“ – Übrigens kann man etwas von diesem aber nicht für alle!). Wir, die auf den zivili- Erlebnis ahnen, wenn man nach Mainz satorischen Vorzug verzichten mussten, fährt und in der Kirche St. Stephan die pendelten die ganze Nacht zwischen ebenfalls von ihm gestalteten Fenster Unterkunft und Strand und tranken und betrachtet – vorausgesetzt, man erwischt tranken in unglaublichen Mengen in der einen Tag mit Sonnenlicht! Kantine, was man uns gerade an Flüssi- An einem freien Nachmittag fuhr ich gem anbot. Wunderschön war am näch- mit Lore und Wolfgang Cordes von Naha- sten Tag eine Fahrt auf dem Meer in rija aus nach Haifa , um ein jüdisches Ehe- Booten mit Glasboden , sodass man durch paar zu besuchen, dessen Adresse wir das klare Wasser hindurch die merkwür- von Freunden in Deutschland hatten. Wir digsten Fische und herrliche Korallenriffe wurden sehr freundlich aufgenommen, beobachten konnte – ein farbenprächtiges und es entstand schnell eine Atmosphäre Schauspiel. des gegenseitigen Vertrauens. Wir erfuh- Am Toten Meer wanderten wir von ren viel aus ihrer Vergangenheit. Beide En Gedi 93 hinauf zur Davidsquelle , in lebten bis zur Heirat 1938 in Deutschland. deren Becken man schwimmen (und Sie war vorher vom evangelischen zum zugleich trinken!) konnte. Am Abend lagen jüdischen Glauben übergetreten. Noch im wir zu dritt, das Ehepaar Cordes und ich, selben Jahr gelang es ihnen, nach Palä- im Sand des Strandes und bewunderten stina auszureisen. Die Eingewöhnung war still den unvergleichlich klar leuchtenden für ihn schwer, da er nur im Bauhandwerk Sternenhimmel über uns – ein unvergess- eine Arbeit finden konnte und körperliche liches Erlebnis! Arbeit nicht gewohnt war. Ein Höhepunkt war das Zusammen- Wir unterhielten uns so angeregt, sein mit dem jüdischen Religionswissen- dass wir gar nicht merkten, wie die Zeit schaftler und Schriftsteller Schalom Ben- vergangen war. Als wir aufbrechen und Chorin 94 . Als Dichter und theologischer zur Bushaltestelle gehen wollten, meinte unsere Gastgeberin, es sei Sabbath, und 92 Geburtsort David Ben Gurions. da verkehre kein öffentliches Verkehrs- 93 Ein israelischer Kibbuz; im AT erwähn- mittel mehr. Was tun? Am Busbahnhof, zu ter Rückzugsort Davids auf der Flucht vor dem sie uns begleitete, war gähnende Saul. (1. Sam. 24, 1 u. 2) 94 Leere. Zum Glück gelang es ihr, einen *1913 in München, Studium der Lite- palästinensischen Großraumtaxi-Fahrer raturgeschichte und vergleichende Religi- aufzutreiben, der sich bereit erklärte, uns onswissenschaft; nach mehrmaligen Ver- nach Naharija zu bringen. Es wurde eine haftungen durch die Gestapo emigrierte er 1935 nach Jerusalem. Verschiedene abenteuerliche Fahrt! Auf schlechter Auszeichnungen u. a.: Leo-Baeck-Preis Straße legte er ein tollkühnes Tempo vor. (1952), Buber-Rosenzweig-Medaille Fahrgäste, die immer wieder zu- und aus- (1982), Das Große Bundesverdienstkreuz stiegen, kassierte er ohne die Geschwin- (1983) und der Bayerische Verdienstor- digkeit zu verlangsamen ab, zählte die den (1986); Professorentitel von der Lan- desregierung Baden-Württemberg (1986) u. Ehrendoktorwürde von der Universität (Landesteil 541) findet sich ein Lied von München (1988). Sogar in unserem eg ihm: „Freunde, dass der Mandelzweig...“ 135 Geldscheine, lenkte dabei den Wagen mit hatte unerträgliche Beschwerden an der den Ellenbogen und unterhielt sich laut- Wirbelsäule. Zum Glück war Hermann stark mit ihnen. Wir waren heilfroh, als wir Schröder, unser treuer Familien-Helfer, als endlich vor unserer Pension hielten und “Erste Hilfe“ zur Stelle; der in der Zeit mei- aussteigen konnten! Ein Glas Karmel- nes Fernseins am und im Haus überaus Sabbatwein entschädigte uns dann noch fleißig gewerkelt hatte. Bald waren auch ein bisschen. ihre Schwester Gudrun und Schwager Es war fast schon der Abschluss der Peter aus Württemberg angereist und eindrucksvollen Reise, als wir in Yad hatten die Pflege der Patientin und Ver- Vashem , der Gedenkstätte für die unter sorgung der Kinder übernommen. So war dem Nationalsozialismus ermordeten sie auch schnell wieder auf den Beinen. Juden, uns um die lodernde Flamme ver- Nun hatten wir beide dasselbe Leiden, sammelten und eine Reiseteilnehmerin denn auch bei mir waren die Arbeiten das jüdische Bekenntnis, das Schmah beim Hausbau nicht ohne Folgen geblie- Jisrael, in hebräisch vortrug: „Höre, Israel, ben. Immer wieder einmal „schoss“ die der Herr, unser Gott, der Ewige ist einzig! berühmte Hexe. Chiropraktische Behand- Einzig ist unser Gott, groß unser Herr, lungen – immer zu zweit! – hatten wenig- heilig sein Name! (5. Mose 6, 4 - 9 95 ). stens bei Dora Erfolg. Kuren über die gMeine Heimkehr war weniger BfA 96 seit 1966 konnten bei mir nur wenig erfreulich: Dora musste das Bett hüten, helfen. denn sie

95 zitiert nach dem jüdischen Gebetbuch Sidur Sefat Emex. 96 Bundesversicherung für Angestellte. 136 Die Vergangenheit meldet sich: Der Auschwitz-Prozess.

Am 20. Dezember 1963 begann in zu jedem einzelnen der aufgezählten Frankfurt a. M. der Auschwitz-Prozess. 20 Opfer auch die Namen des jeweiligen Angeklagte mussten sich wegen Massen- Täters verzeichnet hatte. Bauer ging es in mordes an den Juden im Konzentrations- erster Linie nicht um die Bestrafung ein- und Vernichtungslager Auschwitz verant- zelner Schuldiger; er wollte den Gesamt- worten. Es war der größte Schwurge- komplex vor Gericht bringen, indem er die richtsprozess und zugleich das bedeu- von den Nationalsozialisten beabsichtigte tendste NS-Verfahren der deutschen „Endlösung der Judenfrage“ zum Gegen- Justizgeschichte – ein Meilenstein in der stand des Verfahrens machte. Das der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Schicksal der in Auschwitz ermordeten Er endete mit relativ milden Urteilen. Es Juden war ihm „der eigentliche Verhand- ging um eine Opferzahl von mindestens lungsgrund“ (Protokoll, 21. 10. 1963). Er 28910 Menschen, an deren Tod laut war davon überzeugt, dass nur aufgeklärt Anklage die Beschuldigten unmittelbar und geschichtsbewusst, in Kenntnis der beteiligt waren. Massenvernichtung, eingedenk der deut- Während die Nürnberger Prozesse schen Untaten, mit der unvergänglichen, die Führungsclique vor Gericht gebracht die Gegenwart beinflussenden Vergan- hatten und der Eichmann 97 -Prozess 1961 genheit noch verantwortlich zu leben war. in Jerusalem ein Schlaglicht auf den Die Botschaft des Prozesses schrieb Typus des Einzeltäters warf, wurde mit der Stern über eine damalige Serie von dem Auschwitz-Prozess erstmals das tat- Portraits der Angeklagten: „Die Mörder sächliche Vernichtungsgeschehen in sind wie du und ich“ - das heißt doch wohl, einem der zentralen Lager aufgearbeitet, dass sich deutsche Gesellschaft und NS- in aller Breite, mit allen Details, mit kon- Täterschaft nicht säuberlich voneinander kreten Gesichtern. trennen ließen. Sichtbar wurde die „Ana- Es ist dem hessischen General- tomie des SS-Staates“ (Gutachter v. staatsanwalt zu danken, dass Krausnick, Buchheim, Broszat und Jacob- der von ihm geplante Prozess trotz der sen). Die Verbrechen in den Lagern und erheblichen Widerstände, vor allem von der Holocaust – so das unabweisbare Staatsbeamten, stattfand, die ihr Interesse Ergebnis der historischen Forschung - am Scheitern des Verfahrens offen zum waren „spezifische Bestandteile der natio- Ausdruck brachten. Der Reporter der nalsozialistischen Herrschaft“ (Buchheim). , Thomas Gnielka , So hat die Zeitgeschichtsschreibung in hatte ihm das Ergebnis seiner Recherchen aufklärerischer Absicht Eingang in den übersandt, die Mordlisten und Aktenver- Prozess gefunden und das Strafverfahren merke, auf denen der Lagerkommandant selbst hat Zeitgeschichte geschrieben. Gegen alle Widerstände in der Justiz und alle Schuldabwehr in der deutschen 97 Eichmann, Adolf, *1906, SS-Ober- Öffentlichkeit ist so durch das Verfahren sturmbannführer, Handelsvertreter, ab 1939 Leiter des Judenreferats im Reichs- das von Deutschen begangene Mensch- sicherheitshauptamt, organisierte im Zuge heitsverbrechen wesentlicher Teil unseres der Endlösung der Judenfrage den historischen Gedächtnisses geworden. Transport jüd. Menschen in die Vernich- Man sollte meinen, dass der Prozess auch tungslager (Konzentrationslager). E. das Ende der „Schlussstrich-Mentalität“ flüchtete nach dem Krieg nach Argenti- geworden ist. Leider kann man davon bis nien, wurde von dort von einem israeli- heute nicht reden. Immer wieder geht dies schen Kommando nach Israel entführt aus Pressemeldungen hervor. und in einem Prozess am 15. 12. 1961 in Jerusalem zum Tode verurteilt (Hinrich- tung am 31. 5. 1962). 137 Studienfahrt nach Rom 1965

Der im Oktober 1958 zum Papst ohne Angst vor einer Reformation endlich gewählte Johannes XXIII 98 erwies sich ein Gespräch mit der Moderne zu begin- trotz seines hohen Alters sehr bald als nen. Damit verbunden war die Forderung fortschrittlich und für Reformen aufge- nach einer neuen Bewertung des „Laien“ schlossen. Besonders klar wurde dies, als in der Kirche – also die Anerkennung sei- er das II. Vatikanische Konzil am 25. ner Mündigkeit. Mit einem Wort: Man Januar 1959 ankündigte. erwartete ein Reformkonzil. Es wurde gerätselt, was wohl den Da immer noch nach den kirchen- neuen Papst veranlasste, ein Konzil ein- rechtlichen Bestimmungen das Konzil nur zuberufen. War es die äußere Gefährdung ein Beratungsorgan des Papstes war, aus dem weltpolitischen Raum, die eigent- ohne den Beschlüsse nicht in Wirkung lich alle Kirchen betraf? Man musste da gesetzt werden konnten, erhoffte man sich vor allem an die Verhältnisse hinter dem auch eine Aufwertung der Stellung der Eisernen Vorhang denken. Aber auch in Bischöfe und ihrer Bedeutung für das Südamerika und anderswo sah man sich Lehramt der Kirche. Entwicklungen gegenüber, die die Chri- Schließlich ersehnte man ein Ende stenheit nicht gleichgültig lassen konnten. des Ärgernisses der Trennung der christli- Es zeigte sich aber bald, dass es wohl chen Kirchen, vor allem weil dieses mehr die eigentümlich scharfe Kritik war, geplante Konzil ein oekumenisches wer- die insbesondere die römisch-katholische den sollte. Ermutigt wurde man als Kirche aus ihren eigenen Reihen erfuhr. bekannt wurde, dass Beobachter der Es waren vor allem Laien 99 , die ihr mit nicht-römisch-katholischen Kirchen zuge- großer Leidenschaft entgegen traten, ohne lassen werden sollten. Die Entwicklung sich von ihr trennen zu wollen. Gewarnt des Ökumenischen Rates der Kirchen in wurde vor einer gewissen Schizophrenie, Genf hat hier wohl eine Rolle gespielt. In durch die Menschen, die sich zur Kirche ihm haben sich ja christliche Denominatio- bekennen, genötigt seien, gleichzeitig in nen zusammengeschlossen unter einem zwei geistigen Räumen zu leben, dem ähnlichen gemeinsamen Nenner wie im Raum der Kirche und dem der modernen 19. Jahrhundert die Vereine des damali- Welt. gen CVJM: Jesus, wie ihn die Heilige Es äußerte sich der Wunsch, die Schrift bezeugt – nicht mehr, aber auch Kirche solle endlich und neu ins Gespräch nicht weniger! Das Sekretariat für die Ein- mit der Gegenwart eintreten. Auch solle heit der Christen stand unter der Leitung sie dem die kirchliche Lehre immer noch des deutschen Kurienkardinals Bea S. J. bestimmendem Denken des Mittelalters An der Vorbereitung – nicht aber am absagen. Es sei hohe Zeit, sich mehr an Konzil – sollten sachverständige Laien und der altchristlichen, biblischen Epoche zu Gelehrte aus allen Ländern und Sprachen orientieren. Dann sei es auch möglich, beteiligt sein. Das klang großmütig - aber warum nicht am Konzil selbst? Bei der 98 *1881 – 1963 (3. 6.), vorher Angelo Lösung wichtiger Probleme werden in aller Guiseppe Roncalli, Kardinal und Patriarch Welt Wissenschaftler und Gutachter bis von Venedig. zur Entscheidung bei den Beratungen 99 Eine Bezeichnung von Christen in der hinzu gezogen. Womit wurde diese Aus- römisch-katholischen Kirche ohne Prie- nahme begründet? sterweihe; für alle anderen christlichen Die Christenheit aller Konfessionen Gemeinschaften eine durch das dort gel- sah also mit gebremster Hoffnung nach tende allgemeine Priestertum eigentlich Rom, auch dann noch, als Johannes XXIII. unmögliche Bezeichnung. Außerdem hat das Wort durch Bedeutungsveränderung während der ersten Session am 3. Juni seinen ursprünglichen Sinn längst verlo- 1963 verstarb. Man hoffte, dass die Wei- ren. Heute heißt es fast schon Nichtwis- chen schon in der Vorbereitung so gestellt ser . - Ich bleibe jedoch bei diesem Begriff, waren, dass man entscheidende da er (nur!) im Raum der römischen Kir- Abschwächungen kaum zu befürchten che sachlich gerechtfertigt ist. brauchte. 138 Der Leiter unseres Referendariats, Waldenser-Gemeinde teil, einer der prote- Pfr. Udo Röhrig, organisierte zwei Stu- stantischen Kirchen Roms. Der anschlie- dienfahrten nach Rom. Bei der zweiten, ßende Vortrag von Prof. D. Vinay von der vom 29. September bis 10. Oktober 1965, Waldenser Fakultät zeigte uns die Prob- nahm ich teil, und diesmal war meine Dora leme der christlichen Kirchen in der Min- mit von der Partie. Zu unserer Freude war derheit gegenüber der röm. katholischen auch das Ehepaar Cordes dabei, zu dem Kirche. Seit Johannes XXIII. habe sich sich inzwischen eine gute Freundschaft manches geändert. Die Evangelischen entwickelt hatte. Unterkunft fand unsere würden in Arbeit und Leben jetzt nicht Studiengruppe, die vor allem aus Religi- mehr nur zur Kenntnis genommen, son- onslehrer/Innen bestand, im Kloster der dern als Gesprächspartner gesucht. Leider Oblaten-Augustinerinnen in der Altstadt fühlten sich die Evangelischen zu klein Trastevere. Bei ihnen fanden wir eine und zu schwach angesichts der so plötz- überaus freundliche, wenn auch „morali- lich eingetretenen neuen Situation. sche“ 100 Aufnahme. Stadtbesichtigungen Außer den weiteren Vorträgen, in wechselten mit Vorträgen oder mit Veran- denen es unter anderem um die Juden- staltungen, die mit dem Konzil zu tun hat- frage , die Lage der kath. Kirche in Süd- ten. Rom für sich wäre schon eine Reise amerika und die Mission ging, haben wir wert gewesen. Dies festzustellen, bedeu- natürlich in mehreren Führungen viele tet ja eigentlich, Eulen nach Athen tragen. Sehenswürdigkeiten der Heiligen Stadt Für viele – auch für Dora und mich – war besucht. Ich muss gestehen, dass wir, d. es das erste Mal, die Ewige Stadt zu h. Dora und ich, eines Tages kapitulierten besuchen. Eine Besonderheit war natür- und schon nicht mehr recht wussten, war lich die Gleichzeitigkeit des Konzils. dies die Kirche Maria in Cosmedin, S. Der erste von insgesamt neun Vor- Maria in Monticello oder S. Maria Mag- trägen wurde gehalten von dem offiziellen giora. Wir „seilten“ uns daher eines Nach- Beobachter des Oekummenischen Rates mittags von der Gruppe ab und fuhren der Kirchen in Genf beim 2. Vatikanischen zum Lido, dem Strand der Römer. An die- Konzil, Pfr. Dr. L Vischer. Er informierte sem Badetag haben wir zwar die Führung uns persönlich über den seitherigen Ver- durch die Sixtinische Kapelle und einen lauf. Dabei nahm er Bezug auf drei Kon- Vortrag versäumt. Wir waren aber dadurch zilstexte. Besonders interessierte uns das in den folgenden Tagen umso aufnahme- 1. Schema „Die religiöse Freiheit“, der fähiger. Das zeigte sich bestimmt bei der Gesamtkomplex des Schemas „Kirche in Teilnahme an der prunkvollen Feier der der Welt“ und die Mission; es ist für die Messe am Beginn der Konzilssitzung des oekumenische Arbeit von besonderer 7. 10. in der Aula von Sankt Peter, für uns Wichtigkeit. In dem Text ist es leider nicht Protestanten ein Ereignis besonderer Art. so weit gegangen wie in der ursprüngli- Am 9. Oktober, nach 10 Tagen der chen Formulierung. Beim 2. und 3. fehlt schönsten und interessantesten Erleb- die Erwähnung der anderen christlichen nisse, sagten wir den Augustinerinnen Kirchen. In der nachfolgenden Diskussion Lebewohl und vergaßen auch nicht, uns wurde deutlich, dass eine Gemeinsamkeit von unserem „Sankt Neon“ zu verabschie- aller christlichen Kirchen noch lange nicht den. Es war die Statue in einer Mauerni- in Sicht war. sche, die zu unserer Freude als Heiligen- Ein ganzer Tag, ein Samstag, stand schein eine Neon-Glasröhre trug. Dieser uns zur freien Verfügung, wo wir uns vor leuchtete - wie praktisch! - zugleich die allem in Rom und in dem Altstadtteil Tra- dunkle Treppe aus. Den weiteren Verlauf stevere umsahen. Am darauffolgenden des Konzils konnten wir nun mit besonde- Sonntag nahmen wir am Gottesdienst der rer, durch die Studienfahrt geweckter Anteilnahme, verfolgen. Dabei halfen uns 100 Moralisch deswegen, weil wir in die „Unterrichtungen zum Konzil“, getrennten Stockwerken untergebracht Berichte, herausgegeben vom Konfessi- wurden, selbst Ehepaare. Jedoch war onskundlichen Institut in Bensheim (Berg- der entgegengesetzte Effekt die Folge: straße). Allein wegen der gemeinsamen Koffer (Toilettenbeutel!) gab es zu unserer Belustigung ein ständiges Hin und Her. 139 Schulalltag

Israel- und Romreise fanden natür- – warum nicht sogar Feindesliebe, und lich breite Erwähnung im Unterricht, zumal wenn sie nur als Mitempfinden mit dem die Ereignisse um dieses Land und das Feind verstanden wird. Konzil durch Presse und Rundfunk das Immer wieder zeigte sich der große besondere Interesse der Bevölkerung Vorteil, dass ich für meinen Unterricht ein geweckt hatten. Wir waren ja gehalten - eigenes Klassenzimmer hatte. Ich musste gemäß der Konzeption unseres Religions- also nicht, wie viele meiner Kollegen in unterrichtes - solche Themen zu behan- anderen Schulen, als „Handlungsreisender deln. in religiösen Fragen“ durch die Klassen Der 2. Israel-Arabische Krieg (1956) ziehen; sie kamen zu mir. Ich konnte den war noch in Erinnerung, da spitzten sich Raum auch speziell für meine Bedürfnisse Anfang der 60er Jahre die Auseinander- einrichten. Tonbandgerät (damals noch setzungen erneut zu. Sie fanden ihren etliche Kilo schwer) und Dia-Projektor mit Höhepunkt im sog. Sechstage-Krieg 1967. Leinwand und Verdunkelung des Raumes In ihm gelang es Israel, den Gazastreifen, konnten jederzeit eingesetzt werden. die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, Natürlich gab es auch noch die gute, alte Westjordanien (die Westbank ) und den Tafel mit Kreide und Schwamm. jordanischen Teil Jerusalems zu besetzen. Die Versorgung des katholischen RU Immer wieder kam in diesen Tagen im durch einen Kaplan war wenig befriedi- Religionsunterricht die allgemeine Juden- gend, da dieser nicht nur öfter wechselte, frage hoch und veranlasste zu Fragen und sondern auch durch seinen Gemeinde- Vorwürfen. dienst immer wieder verhindert war. Dann Sehr schwierig war die Behandlung musste ich seine Schüler zusätzlich zu des Auschwitz-Prozesses und des Holo- meinen übernehmen. Es war zwar in der causts allgemein. Ein kleiner Teil der Regel nur ein Drittel der jeweiligen Klasse. Klassen wurde leicht devot 101 : Durch die Da aber zum RU meistens zwei Klassen Schuld, die wir auf uns geladen hatten, zusammen gefasst und dann in die zwei waren sie bereit, alles, was jüdisch war, zu Konfessionen geteilt wurden, hatte ich nun verklären und sich selbst als Deutsche zu zwei Klassen zu versorgen. Ich war daher verachten. Diese Jugendlichen hatten froh, als es unserem Direktor gelang, end- dann oft Probleme mit der eigenen Identi- lich einen hauptamtlichen Lehrer für den tät. Der Hauptteil wollte schlichtweg mit katholischen RU zu finden. Es war Wen- diesem Thema nicht mehr konfrontiert delin Allgaier. Er war etwas älter als ich werden. Vom trotzigen „ich bin ja nicht und stammte aus dem Schwarzwald, wo schuldig – was geht das mich an? “ - er als Bauernbub in soliden, einfachen reichte die Palette bis zu antisemitischen Verhältnissen aufgewachsen war. Tendenzen. Bei der oft plakativen Kon- Mit ihm verstand ich mich sofort sehr frontation mit Leichenbergen und Gas- gut. Wir nannten uns gegenseitig „Halb- kammern kam leicht zu kurz, wie sehr im bruder“. Er hatte seine Priester-Ausbildung alltäglichen Leben Ausgrenzung und Dis- abgebrochen. Als ich seine Frau kennen- kriminierung die Verfolgten gequält hatten. lernte, wusste ich warum. In der katholi- Heute, zumal durch die Mischung schen Kirche war es offenbar üblich – wie von Schülern verschiedener Nationalitäten leider auch bei uns – einen Theologen, der und Hautfarben in einer Klasse, ergeben sich irgend etwas hatte „zuschulden“ sich auch andere Herausforderungen für kommen lassen oder in Ungnade gefallen den Unterricht. Es geht da nicht mehr in war, als Religionslehrer in die Berufs- erster Linie um Historie. Für den heutigen schule zu schicken. Wir empfanden das Alltag muss aus der Vergangenheit gelernt als eine grobe Missachtung unserer werden. Wichtig werden: Zivilcourage, Schule und unseres Standes, obwohl es Menschlichkeit, Achtung vor dem Fremden oft nicht gerade die Schlechtesten waren, die da zu uns kamen. 101 unterwürfig, ein übertriebenes Maß an Überhaupt ist es unverständlich, Ergebenheit zeigend. welch zweifelhaften Ruf die BS in der 140 Öffentlichkeit hatte. Sie ist ja längst nicht hende Kuba-Krise 1962. Durch die auf der mehr die alte Sonntagsschule 102 .Seit Mitte Insel stationierten sowjetischen, weit rei- der 20er Jahre entwickelte sie sich Schritt chenden Raketen sahen sich die USA für Schritt zu einem modernen Schulsy- ernsthaft bedroht. Präsident J. F. Kennedy stem ähnlich der Gesamtschule und ist verlangte Abbau und Rückführung aller nicht mehr nur für Auszubildende – „Azu- Raketen und Abschussrampen und ver- bis“ – zuständig. In ihr kann man über die hängte eine Seeblockade. Die Welt sah Berufsfachschule (BFS) die Mittlere Reife sich schon wieder am Rande eines Krie- erwerben und schließlich in der nach ges. Chruschtschow, der damalige Präsi- Berufsfeldern gegliederten gymnasialen dent der Sowjetunion, lenkte zum Glück Oberstufe sogar das Abitur erlangen. Die Ende Oktober ein. Über den UN-General- Zeiten sind vorbei, wo zum akademischen sekretär kam es dann zur Beilegung des Studium nur der Weg über die Lateinspra- Streits. che des klassischen Gymnasiums führte. Der Fall erregte auch deshalb die Heutzutage durchlaufen über 80% aller westliche Bevölkerung, da es dem sowje- Jugendlichen die Beruflichen Schulen. tischen Kosmonauten Juri Gagarin 103 in Außerdem können hier sogar Erwachsene einem Raumschiff am 12. April 1961 zum über die Technikerschule die Qualifikation ersten Mal gelungen war, die Erde zu eines Technikers erwerben. umrunden. Man traute den Russen von da Mit Allgaier veranstaltete ich gele- an fast alles zu. Es war damals ein Erfolg gentlich gemeinsame Unterrichtsstunden. ohnegleichen, und Gagarin triumphierte: Aber nicht nur mit ihm, auch mit Lehrern „Ich war im Himmel und habe mich genau verschiedener Fachrichtungen, so z. B. mit umgesehen. Es gab keine Spur von Gott“. dem Lehrer der Malerklasse Wolfgang Eine für ihn typische Bemerkung dazu Jost zusammen. Obwohl er sich als Athe- wurde damals von Papst Johannes XXIII. ist verstand, brachte er in den Religions- erzählt: „Das hab´ ich mir doch gedacht!“ unterricht seiner Klasse die Kruzifix- Es war ein gutes Thema für den RU! Die Metallplastik eines mit ihm befreundeten Antwort war nicht schwer: Wäre er Eng- Künstlers aus Bad Homburg mit, und es länder gewesen, hätte ihm ohnehin dieser gab eine lebhafte Diskussion. Oft kam es Irrtum gar nicht passieren können, denn auch vor, dass ein Klassenlehrer empfahl, es wäre ihm sofort aufgefallen, dass er ja ein Problem, das sich in seinem Unterricht nur im sky war und nicht im heaven . Lei- ergeben hatte und nicht rein fachlicher der haben die Russen und wir im Gegen- Natur war, besser im Religionsunterricht satz zur englischen Sprache für den Him- zu diskutieren; es stammte oft aus dem mel Gottes und den Himmel über uns nur zwischenmenschlichen Bereich oder war ein und dasselbe Wort, obwohl sie für psychologischer Art. etwas völlig Verschiedenes stehen. Genau Vorgänge in der Weltpolitik gaben so unsinnig könnte ein Angler erklären: immer wieder Anlass zu Diskussionen, so „Nun habe ich den ganzen Tag geangelt zum Beispiel die den Weltfrieden bedro- und doch keinen einzigen Vogel gefan- gen!“ 102 Sie fand tatsächlich sonntags statt und Ein Ereignis – nicht politischer Art – war eine kirchliche Veranstaltung für bewegte 1963 vor allem in der Bundesre- Lehrlinge. Interessant ist es dabei zu wis- publik die Gemüter. Am 24. Oktober waren sen, dass die Lateinschulen zu einer Zeit eine halbe Million Kubikmeter Wasser und entstanden waren, als Latein die in ganz Schlamm aus einem durchgebrochenen Europa an allen Universitäten allein ver- Klärteich in die Eisenerzgrube von Len- wendete Sprache war. Sie war also so gede eingedrungen, in der gerade 129 etwas wie eine studienvorbereitende Schule, die ihre Bedeutung durch einen ideologischen Überbau halten wollte, als 103 1934 – 1968 (Tod durch Flugzeugab- sie ihre ursprüngliche durch das Aufkom- sturz). Er war zum Helden der Sowjet- men der Landessprachen an den Univer- union schlechthin geworden. Es gab seit- sitäten einbüßte. Die Studenten verloren dem keine russische Stadt ohne Gagarin- dadurch allerdings auch die Freizügigkeit, Straße; Sonderbriefmarken und Medaillen beispielsweise dieses Semester in Upsala trugen sein Bild. Beim Start soll er die und das nächste in Rom oder Lissabon lapidare Äußerung gemacht haben: oder Prag zu studieren. „Pajéchali!“ („Na, denn mal los“). 141 Kumpel arbeiteten. Die Rettungsanstren- auch ein Thema für den Religionsunter- gungen der folgenden 14 Tage, das sen- richt war?! sationelle Aufspüren und Herausholen von In diesem Jahr erschütterte noch elf Bergleuten ist als „Wunder von Len- eine weitere Nachricht die ganze Welt: gede“ in die Geschichte der Bundesrepu- John F. Kennedy wurde am 22. November blik eingegangen. Es war nämlich gelun- in Dallas ermordet. Als dekorierter Kriegs- gen, ein Rohr von der Erdoberfläche aus held des Zweiten Weltkrieges war er der bis zu den Eingeschlossenen vorzutrei- bisher jüngste Präsident der USA. Die ben, durch das eine erste Verständigung Wahl hatte er gewonnen mit dem Appell, möglich wurde. Durch ein zweites mit ent- die Herausforderungen einer veränderten sprechendem Durchmesser konnten dann Welt als Chance anzunehmen. In der die 11 Überlebenden ans Tageslicht Kuba-Krise behielt er die Nerven. Unver- geholt werden. „BILD“ ließ sich beinahe zu gessen ist sein Ausspruch bei einem der blasphemischen Schlagzeile hinrei- Besuch in Berlin nach dem Mauerbau: „Ich ßen: „Gott hat mitgebohrt“ (die Chefs des bin ein Berliner!“. An seiner Seite stand Blatts machten dann doch noch ein „Gott damals Willy Brandt als Regierender Bür- hat mitgeholfen“ daraus). Wenn das nicht germeister der geteilten Stadt. 142 Kurze Familienchronik

Ist es ein Glück, dass ich seit 1959 In Dürrenzimmern betrieb sie mit zum Jahreswechsel Rundbriefe nicht nur ihrem Mann, dem Sohn Willi und dessen geschrieben, sondern auch gesammelt Frau eine Metzgerei. Dort machten wir habe? Damals war es eine Notlösung, weil gerne – möglichst mit dem Großvater – es nicht mehr möglich war, allein in der Besuche und halfen auch gelegentlich bei großen Familie – Knopf, Vogel, Reining- der Weinlese. Jedes Mal tischte die gute haus und Reuling – den Briefkontakt auf- Dote ein umfangreiches Vesper auf. recht zu erhalten, vom Freundeskreis ganz „Esset Wurscht, esset Wurscht!“ ermun- zu schweigen. Die Zahl der Empfänger terte sie uns immer wieder, „des Brot wurde immer größer, man sieht es an der müsset mer kaufe!“ Das ließen wir uns Vervielfältigungstechnik: Zuerst waren es auch nicht zweimal sagen. Nicht nur die Durchschläge auf der Schreibmaschine, Kinder genossen es. Als die Buben nach dann kamen die Wachsmatritzen, dann der Toilette fragten, führte Onkel Willy (der der Kopierer und jetzt der Computer mit wahrscheinlich ihrer Zielgenauigkeit miss- den Ausdrucken. traute) sie hinaus an den Misthaufen und Aber nun entsteht die Frage, was sagte: „Da rollet na!“ (das „a“ wird im soll hier berichtet werden? Ich lasse mich Schwäbischen an dieser Stelle ja wie das halt nur inspirieren und entschließe mich französische „a“ als Nasallaut gespro- zu einer möglichst homöopathischen Aus- chen). Und „na“ heißt so viel wie „hier hin“. wahl. LeserInnen dieses Berichtes brau- Ins Hessische übersetzt heißt das also: chen also nicht zu fürchten, dass ich nun „Da pinkelt hin!“ Die Buben verstanden alles wiedergebe, was in den Rundbriefen nicht – oder trauten sie sich nicht? Sollten berichtet wurde. Es sind auch nicht nur sie gar auf dem Misthaufen Purzelbäume FamilienDönekens, an die ich mich schlagen? Das Hallo war groß, als die durchweg gerne erinnere, sondern immer Mutter als Dolmetscherin auftauchte und wieder auch Stellungnahmen zu anderen übersetzte. Ereignissen, vor allem auch politischer Mein Hausarzt, Mitglied unseres Kir- und kirchenpolitischer Art. Die werden, chenvorstandes in Bad Homburg-Gonzen- wenn sie mir für diesen Bericht wichtig heim, empfahl mir, wegen möglicher genug erscheinen, wieder auftauchen, Gesundheitsschäden während Kriegs- denn sie sind ja auch ein Teil meines dienst und Gefangenschaft durch Kuren Lebens und haben mich oft genug aufge- meinen Zustand zu stabilisieren. Er war regt – zum Glück manchmal natürlich auch zugleich auch Vertrauensarzt der BfA. Ich gefreut. stellte daraufhin sofort einen Antrag, der Fange ich also im Jahr 1966 an: auch genehmigt wurde. Im Oktober 1966 Doras Vater blieb nach dem Tod seiner war ich in Bad Sooden-Allendorf an der Frau, unserer lieben Mutter und Groß- Werra. Die Kur bekam mir sehr gut, mutter, allein im Haus in der Heilbronner besonders im Hinblick auf meine Gellertstraße wohnen. Jede seiner Töchter Beschwerden mit dem Bronchial-Asthma hätte ihn gerne aufgenommen. Aber er und dem Rückgrat. Von da an ging ich alle fühlte sich noch rüstig genug, zusammen zwei Jahre zur Kur, meist nach Bad Rap- mit Sohn Walter daheim zu bleiben, penau in der Nähe von Heilbronn. Dieser obwohl das Verhältnis Vater-Sohn äußerst Kurort war sehr günstig: Er war zwar nicht problematisch war. Aber er wollte es so sehr bekannt und schon gar nicht haben. In der Stadt Heilbronn waren ja berühmt, aber sehr wirksam. Er existierte noch Freunde und in der Umgebung seine noch nicht lange; als aufstrebendes Verwandtschaft, mit der er Verbindung Unternehmen war man dort besonders halten wollte - vor allem mit seiner Schwe- bemüht, konkurrenzfähig zu sein. ster Luise, unserer geliebte „Dote“ 104 . Für mich persönlich war die Lage im Kraichgau schon deswegen interessant, weil rings herum Doras Verwandte wohn- 104 = Patentante, Dete = Patenonkel ten: in Heilbronn die Eltern und in den (schwäbische Mundart). Dörfern Angehörige von Doras Vater und Mutter. Da machte ich immer wieder 143 Besuche und half im Herbst in der Wein- Was sollte sie da sagen? Wenn ich mich lese. Das war anstrengend – und sehr recht erinnere, riet ich ihr zu einem klären- lustig. Aber auch von der Verwandtschaft den Gespräch mit dem Pfarrer. Als der bekam ich Besuch: Dorothee Reininghaus uneinsichtig war, blieb ihr nichts anderes (Doro, eine meiner Nichten ) war Lehrerin übrig, als es abzulehnen, sich weiterhin in einer Grundschule nahe Obrigheim am mit ihm die Klasse zu teilen. Zum Glück Neckar (bekannt durch das dortige Atom- ergab gerade die Notwendigkeit einer kraftwerk). Im Thermalbad gingen wir Stundenplan-Änderung die Möglichkeit, gemeinsam schwimmen, und meine Mit- das „Problem“ auf elegante Weise zu patienten beneideten mich um den reizen- lösen. Es war also nicht nötig, dass man in den „Kurschatten“. Nachbarschaft eines Atomkraftwerkes zur An einen dieser Doro-Besuche erin- Klärung von Glaubensproblemen ins tief- nere ich mich, bei dem wir Probleme ihres ste Mittelalter zurückfiel. Religionsunterrichtes besprachen. Sie An die Grundschulzeit meiner Kinder musste sich nämlich eine Unterstufen- habe ich nur wenig Erinnerungen. Ich Klasse mit dem Ortspfarrer teilen - eine an betrachtete dies als ein gutes Zeichen. sich schon unmögliche Zumutung. Werner hat einmal seine Mutter in erhebli- Schlimm wurde es, als der Pfarrer in einer che Aufregung versetzt, als er eines Mor- Klasse die Himmelfahrt Christi wie folgt gens erklärte: „Heute gehe ich nicht in die erklärte: Er stellte einen Stuhl auf den Schule!“ Ich weiß nicht mehr, wie Dora mit Tisch des Lehrerpodiums. Dann ließ er dieser Situation fertig geworden ist. Elisa- einen Schüler über einen Stuhl auf den beth hat sehr schnell ihre eigenwillige Tisch – und dann vom Tisch auf den dar- RECHTSCHREIBONG überwunden und auf stehenden Stuhl klettern. Als er oben ging recht gerne in die Schule. Von Wil- war, erklärt er der (staunenden?) Klasse, helm ist aus dieser Zeit nichts Einschlägi- so sei Jesus zum Himmel emporgestie- ges vermerkt. Leider gilt das für die Drei gen. Spannend für Doro wurde die Sache, nicht mehr von der Zeit auf dem Gymna- als die Schüler in ihrer Religionsstunde sium. Aber davon später! fragten, wie das mit der Himmelfahrt sei. 144 Studenten-Unruhen – Aufstand gegen die Nachkriegs Weltordnung – Die „68er“

Obwohl schon vor dem 2. Weltkrieg mit Horst Buchholz (dem deutschen von Vietnam die Rede war, hat dieses James Dean) 105 als Freddy in der Haupt- Problem damals wahrscheinlich im rolle. Bei ihren Demonstrationen wendeten Wesentlichen nur die Franzosen beschäf- sie sich nunmehr mit Steinen gegen tigt. Sie erlitten in den 50er Jahren eine „Bevormundung“ der Erwachsenen- empfindliche Niederlage, als ihr Expediti- Gesellschaft. onskorps in Dien Bien Phu eingeschlossen Man hatte nämlich auf vielen wurde und kapitulieren musste. So richtig Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bekannt wurden die Verhältnisse in Viet- am Kriegsende da wieder angefangen, wo nam erst, als die amerikanische Regierung man zuvor aufgehört hatte. Natürlich fehlte Frankreich im Rahmen ihrer antikommuni- es zunächst an allen Ecken und Enden an stischen Eindämmungspolitik Finanzhilfe Fachkräften. Die durch Krieg und Emigra- gewährte und Militärberater entsandte. Es tion entstandenen Lücken mussten auf- waren offensichtlich nicht nur ein paar gefüllt werden. Es wäre eine Chance Berater, denn 1964 griffen die USA aktiv in gewesen, manche Entwicklungen ganz den Vietnamkrieg ein durch massive neu aufzunehmen, zumal ja die alte Ord- Bombenangriffe auf den Nordteil des Lan- nung offensichtlich nicht in der Lage war, des. Die Brutalität des Kampfes nahm in das Verhängnis der Nazi-Regierung zu starkem Maße zu: weite Gebiete wurden verhindern. Veränderungen mussten durch Entlaubung von Wäldern schwer- gewagt werden. Am deutlichsten war dies stens betroffen. Noch heute leiden dort in der Politik. Selbst in höchsten Regie- unzählige Menschen an Vergiftungen rungsstellen tauchten alte Nazis auf; z. B durch die dabei verwendeten chemischen hatte Adenauer Hans Globke zuerst als Stoffe. Auf vietnamesischem Boden wur- Ministerialdirektor, dann ab 1953 als den mehr Bomben geworfen als im 2. Staatssekretär in seiner Regierung. Des- Weltkrieg insgesamt!! sen zweifelhafte Vergangenheit im Dritten Dies war die Zeit, in der Jugendliche, Reich als hoher Beamter im Innenministe- insbesondere Studenten, in der Bundes- rium und als Kommentator der Nürnberger republik und auch in vielen westlichen Rassengesetze war allgemein bekannt. Staaten auf die Straße gingen und gegen Und es gab viele „Globkes“, gerade auch diesen Krieg protestierten. Bei uns kam in der im Aufbau begriffenen Bundeswehr. noch massive Kritik nicht nur an der Besonders schlimm und auch als Regierung, sondern an der ganzen grobe Ungerechtigkeit wurden diese Ver- Gesellschaft hinzu. Manchmal war es hältnisse empfunden, weil andererseits auch weniger ein Aufstand als eine geist- gleich nach dem Krieg die von den Sie- volle Clownerie. So sagte z. B. der Stu- germächten initiierte Entnazifizierung dent Teufel als Angeklagter vor Gericht stattgefunden hatte, bei der selbst der auf die Aufforderung des Richters aufzu- harmloseste Parteigenosse mit empfindli- stehen: „Wenn es der Wahrheitsfindung chen Strafen belegt worden war. So dient!“ Zunächst relativ gesittet, aber konnte z. B. mein Schwiegervater nach zunehmend aggressiv ging es gegen die Kriegsende seine Rektorenstelle an einer Verhältnisse an den Universitäten unter Heilbronner Grundschule nicht weiter dem Motto: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. Ihre Vorgänger 105 waren wohl eine Minderheit unter den Amerikanischer Schauspieler, * 08. 02. Jugendlichen, die „Halbstarken“ genannt. 1931, bekannt u. a. durch die Filme „Jen- Diesen Namen hatten sie von dem Film seits von Eden“ u. „...denn sie wissen nicht, was sie tun“, Idol der Jugend seiner Zeit, + 1955 bei einem Autounfall. 145 behalten, weil er als „belastet“ galt. Was erleben: Da kommen Polizisten in großer hatte er eigentlich getan? Er hatte, um Masse auf dich zugestürmt, Helme auf mit anderen Mitgliedschaften in der NS-Zeit Gesichtsmasken, Knüppel schwingend, wie SA 106 , SS 107 , Partei usw. zu entgehen, Wasserwerfer richten ihren Strahl auf dich, sich zur Mitarbeit bei der NSV (National- der dich fast umwirft! Und warum? Weil wir sozialistische Volksfürsorge, einer Organi- verhindern wollen, dass unsere Natur sation zur Betreuung armer, alter, kranker immer brutaler der Technik weichen oder behinderter „Volksgenossen“) bereit muss“. Elisabeth, die Tochter, beteiligte erklärt. Es ging – um es einfach zu sagen sich an Unternehmungen Jugendlicher – nach der Methode: Die Großen lässt gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten in man laufen, die Kleinen fängt man ein. der Bad Homburger Kommunalpolitik. Während also auf der einen Seite Auch sie wurden fast wie Kriminelle der Wohlstand wuchs und immer mehr behandelt. satte Bürger (Spießbürger?) produzierte, Ulrike Meinhof mag Ähnliches – oder regten sich zunehmend auch politisch noch Schlimmeres – erlebt haben; sie Wache, die einen ehrlicheren Neuanfang „verfasste daraufhin zunehmend erbar- wünschten. Ulrike Meinhof (1934 – 1976) mungslose Agitprop 110 -Texte z B. über veröffentlichte am Anfang in der „Stimme ‚Pigs‘ (Polizisten) 111 “, bis ihr Name nach der Gemeinde“ 108 Artikel, in denen sie die Ablauf von einigen Jahren zusammen mit Verhältnisse in Staat und Gesellschaft dem von Andreas Baader den Titel der sachlich kritisierte. Sie galt als eine der (Baader-Meinhof) -„Bande“ gab. Sie ver- begabtesten Journalisten der Republik, stand sich inzwischen als Revolutionärin. war seit 1961 mit dem Herausgeber von Diese nunmehr kriminelle Vereini- „Konkret“, Klaus Rainer Röhl, verheiratet gung agitierte unter dem Namen „Rote und – o Schreck! - heimliches Mitglied der Armee Fraktion“ (RAF) nicht nur politisch, verbotenen KPD 109 . Zweifellos hat sie sich sondern sie verübte Brand- und Mordan- in der Folgezeit – vielleicht auch, weil sie schläge an prominenten Persönlichkeiten fast nur auf Ablehnung stieß - in atembe- aus Staat und Wirtschaft. In Prozessen raubendem Tempo radikalisiert. wurden sie z. T. zu langjährigen – ja zu Ich möchte diese Vorgänge nicht bil- lebenslänglichen - Haftstrafen verurteilt. ligen – aber verstehen. Meine beiden Gelegentlich glückten den noch in der Söhne nahmen Ende der 70er Jahre an Freiheit verbliebenen „GenossInnen“ den Demonstrationen am Frankfurter sogar Befreiungsversuche. Einen gewis- Flughafen gegen den Bau der Startbahn sen Rückhalt fanden sie an der DDR, da West teil, durch den erhebliche Teile des sie sich kommunistisch gebärdeten; aber Frankfurter Stadtwaldes abgeholzt werden ganz koscher waren sie denen „drüben“ sollten (was ja auch tatsächlich dann auch nicht. (Das geht aus Akten hervor, geschah). Sie kamen völlig aufgelöst nach die nach der Wiedervereinigung bekannt Hause und meinten: „Das solltet ihr einmal wurden) – man benutzte sie eben, wie es gerade passte. Was sollten sie übrigens 106 Abk. für Sturmabteilung, die unifor- auch machen, als sich politisch links ein- mierte polit. Kampf- und Propaganda- zuordnen, da die Parteien, deren Arbeit truppe der NSDAP (Nationalsozialistische sie kritisierten, politisch rechts oder in der Deutsche Arbeiterpartei). Mitte standen? 107 Abk. für , 1925 entstan- Sicher wird es mir nicht gelingen, in dene Sonderorganisation zum persönli- der mir gebotenen Kürze das gesamte chen Schutz Hitlers und anderer NS- Phänomen zu schildern. Mir geht es Funktionäre, unter ihrem Reichsführer hauptsächlich darum, einen Eindruck zu Heinrich Himmler, 1934 Hitler direkt unterstellt. Sie erhielt während des Krie- vermitteln von den damaligen Verhältnis- ges ganz neue Aufträge (z. B. Gestapo - sen in unserer Bundesrepublik, soweit sie Geheime Staatspolizei-, Bewachung der mein Leben berührten. Wir Deutschen KZ, kasernierte militärische Truppe). 108 Damals periodisch erscheinende Zeit- 110 Kurzwort aus Agitation und Propa- schrift, herausgegeben m. W. von der BK ganda (marxistisch) Beeinflussung der (Bekennende Kirche), deren Vorsitzender Massen- längere Zeit Martin Niemöller war. 111 z. T. zitiert aus „“, 39/2003, 109 Kommunistische Partei Deutschlands. S. 54. 146 konnten uns natürlich nicht aus dem politi- Kinder - in der damals so genannten Drit- schen Weltgeschehen der 60er und 70er ten Welt in beängstigender Zahl vor Hun- Jahre ausklinken. Es war bestimmt vom ger und Auszehrung. Man gab Milliarden „Kalten Krieg“, der Auseinandersetzung für Waffen aus – übrigens auch in den zwischen dem kapitalistischen Westen, armen Staaten. Die vereinbarte Prozent- bzw. der USA - und dem kommunistischen zahl der Hilfe für die Not in der Welt dage- Osten, Sowjetrussland . Die Grenze in gen wurde selten oder nie erreicht und Europa ging leider mitten durch Deutsch- cariativen, völlig überforderten Hilfsorgani- land: hier die Bundesrepublik und dort die sationen zugeschoben. DDR. Ansätze, uns aus diesem Streit Der steigende Wohlstand verdeckte heraus zu halten, gab es durchaus. Viel- die Notwendigkeit, Veränderungen zu leicht wäre manches anders verlaufen, wagen. Es ging uns ja zunehmend gut! wenn man mit Leuten wie Ulrike Meinhof Was sollte das viele Problematisieren? sofort das Gespräch gesucht hätte, statt Verdrängen war die Methode, mit der man gleich mit dem „Knüppel“ drauf zu hauen. nicht nur mit der Vergangenheit, sondern Denn ihre Kritik war weithin durchaus auch mit den großen Weltproblemen berechtigt. meinte fertig werden zu können: Ein Wir sollten auch nicht vergessen: Es Leben in Ordnung, Arbeit und Anstand, zu war die Springer-Presse, die erheblich zur Hause im Schoße der Familie – das durfte Radikalisierung der 68er Bewegung und nicht gestört werden durch allzuviel Auf- zur Polarisierung der Gesellschaft beige- bruch. tragen hat. Sie zeichnete ein Bild der pro- In diese Zeit fiel der Besuch des testierenden Schüler und Studenten, das Schahs von Persien in Berlin. Es war am der damalige Vorsitzende der CSU, Franz 2. Juni 1967. Die Wahrheit um den Gla- Josef Strauß, noch verschärfte, indem er mour-Kaiser aus dem Orient hatte sich sie Schmeißfliegen und Ratten nannte. Es herumgesprochen: die Diktatur des Reza gab eigentlich nur wenig dialogfähige und Pahlevi, die Verfolgung Andersdenkender, -willige unter den Politikern, Professoren Prunk und Reichtum am Hof des „Soraja- und Richtern. So wurden die jungen und Farah Diba-Ehemannes“. Und das Erwachsenen immer stärker in die Rebel- alles angesichts unbeschreiblicher Armut lion getrieben. Wer das nicht bedenkt, und Not bei seinen „Untertanen“. geht fehl in der Beurteilung der damaligen Viele Jugendliche, vor allem Stu- Ereignisse. denten, empfanden den Widerspruch der U. U. hätten wir uns, wenn wir den Freiheit, die der Westen zu verteidigen Status eines neutralen Staates (den sogar vorgab zu den Repressalien, die dafür Adenauer eine Zeit lang durchaus für geduldet und ausgeübt wurden. Und diese sinnvoll gehalten hat) angestrebt hätten, Ungereimtheiten erlebten sie am Tage des auch das Geld zur Wiederbewaffnung für Besuches des Herrschers aus Persien in wichtigere Dinge sparen können. Gustav besonderer Weise bei dem Polizei-Einsatz Heinemann hat ja einen solchen Versuch vor der Deutschen Oper in Berlin. Bis zu gewagt. Aber die Losung damals, mit der diesem Tag waren Studenten-Demonstra- Wahlen gewonnen wurden, hieß: „Keine tionen m. W. verhältnismäßig gewaltlos Experimente!“ Außerdem hatte bereits das verlaufen. Nun aber hatte der Polizeipräsi- Wort „Kommunist“ bei uns Deutschen den dent (Ritterkreuzträger!) das Bild einer Geruch von Kriminalität. Zur sachlichen stinkigen Leberwurst ausgegeben, in die Auseinandersetzung waren nur Wenige man mittig hinein stechen müsse, um mit bereit oder fähig. Für die Kirchen war „der ihr – den Demonstranten also! - fertig zu Kommunist“ wegen seiner antichristlichen werden. Und diese Empfehlung haben und atheistischen Einstellung weithin von seine Polizisten wörtlich befolgt: Einge- vorne herein kein Gesprächspartner. zwängt zwischen Absperrzäunen und der Hinzu kam, dass sich in der Welt die Phalanx der stürmenden Polizisten verlor Schere zwischen armen und reichen Län- offenbar der Polizist Kurras die Nerven, dern immer mehr öffnete. Während bei zog seine Pistole und „stach in die Leber- uns und vor allem im westlichen Bereich wurst“. Die Kugel traf den Studenten die Menschen im Wohlstand immer dicker Benno Ohnesorg tödlich. Dieser Schuss wurden (krankhafte Fälle natürlich ausge- ließ bei den meisten Demonstranten den nommen), starben sie – und vor allem Eindruck entstehen, dass „es ohne 147 Gewalt“ nicht gehe. Der Schütze behaup- Das hat natürlich auch unseren tete im späteren Prozess, er sei mit einem Schulalltag mehr als nur empfindlich Messer bedroht worden und habe vorher gestört. Das Schlagwort hieß: Antiautori- einen Warnschuss abgegeben. Ein Zeuge täre Erziehung. Leider wurde gemäß deut- für diese Darstellung wurde nicht gefun- scher Gründlichkeit oft das Kind mit dem den. So wurde er freigesprochen. Durch Bade ausgeschüttet. Nichtautoritäre den Tod Benno Ohnesorgs entstand aus Erziehung wäre besser gewesen, aber den „Tupamaros 112 -West Berlin“ die längst nicht richtig. Denn ohne Autorität „Bewegung 2. Juni“. Mit diesem merkwür- geht es auch nicht; sie muss aber wohl digen Namen sollte zum Ausdruck begründet und nicht angemaßt sein. gebracht werden, dass nicht sie – die Es war gewiss nicht nur „Das kleine Demonstranten – die Ersten waren, die rote Schülerbuch“ 113 , das manchen Stein tödliche Gewalt bei Demonstrationen ins Rollen brachte; dazu war seine Ver- anwendeten. breitung nicht groß genug. Aber gewisse Einige Veränderungen mussten wir Parolen (es stammte übrigens aus Däne- in unserem Land ohnehin vornehmen. Die mark) griffen – auf welchem Weg auch neue demokratische Grundordnung ließ immer – unsere Schüler auf. Da steht z. B viele Bürger erkennen, dass es hier und zum Thema “Religionsunterricht“ u. a.: da so nicht weiter gehen konnte. Die „Wenn ihr 12 jahre alt seid darf euch nie- Ideologie der alten Werte hatte abgewirt- mand zum religionsunterricht oder zum schaftet, und das gründlich! Treue, Gehor- wechsel des religionsunterrichts zwingen.“ sam, womöglich noch unbedingter, hatten (Die Kleinschreibung ist original, GK). [...] uns in den Wahnsinn des 3. Reiches hin- Wenn ihr 14 jahre alt seid, könnt ihr euch ein geführt, dessen „Früchte“ noch überall jederzeit selbst schriftlich abmelden. [...] zu sehen waren. Da waren die Trümmer Niemand, auch nicht die eltern, braucht unserer ehemals reizvollen Städte viel- eine abmeldung zu begründen. [...] Ihr leicht noch nicht einmal das Schlimmste; könnt fordern, dass die religionsstunden sie sind ja auch zum großen Teil noch am anfang oder am ende des Schultages schöner „auferstanden“. Die Zerstörung liegen.“ und Demontage unserer Fabriken und Das sind Ratschläge, deren Absicht Industrien hat sich z. T. als Chance erwie- unschwer zu erraten war, vor allem, wenn sen: Wir konnten (oder mussten ) z. B. da man die weiteren Kapitel las. Da wurde ganz neu anfangen. Mancher Engländer klar, dass man den Religionsunterricht im hat uns darum beneidet; dort musste man Bündnis mit der reformbedürftigen Gesell- mit den alten Maschinen und Werkzeugen schaft sah. Das war schade, obwohl es konkurrenzfähig sein. Warum haben wir leider vielfach stimmte. Eigentlich sollten uns diese Tatsache nicht zum Beispiel wir Christen Fackelträger sein, die der dienen lassen in den ideellen, weltan- Gesellschaft auf ihrem Weg in die Zukunft schaulichen und auch in den religiösen vorausgehen; aber wir waren leider zu oft Bereichen unseres Lebens? Ansätze dazu Schleppenträger für veraltete Lebensfor- gab es durchaus. men. Insofern lagen unsere Jugendlichen Und darum sei es hier einmal deut- – und vor allem die Studenten - mit ihrer lich gesagt: Konfessionsgebundener Reli- Kritik keineswegs so verkehrt. Zu ihrem gionsunterricht gehört eigentlich auch „Sturm und Drang“ hätte die Weisheit und nicht in die moderne staatliche Schule. Sie Erfahrung der Alten hinzu treten müssen. ist nicht der Ort der missionarisch zu Knüppel und Polizeigewalt waren dazu die informierenden Schüler. In dieser Hinsicht untauglichsten Mittel. Sie trieben die viel- habe ich die Konzeption des RU in der BS leicht hoffnungsvolle Bewegung in die für richtig gehalten; sie wurde nur leider Isolation, in der sie Modelle entwickelte, nicht konsequent genug durchgeführt: Die die nicht mehr realitätstauglich waren. Aufgabe des Lehrers in diesem Fach ist diakonischer Art. Aber dazu habe ich mich schon in diesem Bericht weiter oben 112 (span.) die Mitglieder der links geäußert. gerichteten Guerilla-Bewegung Uruguays, genannt nach dem peruanischen Indianerführer Tupa c Amaro.. 113 verlag neue kritik kg Frankfurt 148 Veränderungen forderten viele nichts bekannt geworden war. Erst heute, außerparteiliche Gruppierungen, die nicht wo Archive geöffnet und ehemals geheime zur RAF gehörten, sondern eher am Akten veröffentlicht werden dürfen, kommt Rande existierten. Es war eine bunt die Wahrheit ans Licht. zusammen gewürfelte Gesellschaft von Die oben genannten Gruppen Pazifisten 114 , politisch Linken (links von demonstrierten auch gegen Atomenergie , der SPD), StudentInnen, SchülerInnen, eben (nicht zuletzt) auch wegen ihrer Werktätigen und Intellektuellen. Die Gefährlichkeit. Zwar hatte es die Katastro- „Rebellion“ hatte eigentlich schon in den phe von Tschernobyl noch nicht gegeben; 50er Jahren begonnen. Am 12. April 1957 aber es war und ist bekannt, dass Atom- wandten sich nämlich 18 Wissenschaftler meiler wegen des unbegrenzten Scha- mit der sog. Göttinger Erklärung an die dens, der durch sie verursacht werden Öffentlichkeit. In ihr sprach sich die Elite kann, mit Haftpflicht gar nicht versichert der bundesdeutschen Atomphysiker 115 werden können. Wenn ein Bürger ein noch gegen die atomare Bewaffnung der Bun- so kleines Kraftfahrzeug auf unseren deswehr aus. Die Regierung unter Bun- Straßen fahren will, muss er eine Haft- deskanzler Konrad Adenauer antwortete pflichtversicherung abschließen. Wie sieht empört: „Vertrauensbruch“, die Herren das aus bei den Betreibern von Atom- hätten keine Ahnung von Politik. Heisen- kraftwerken? Wer soll für den Fall eines berg beklagte in vertrautem Kreis, dass für Unglücks haften? Mittlerweile sollten wir die Politiker, die die wichtigsten Zukunfts- am Beispiel Tschernobyl erkennen, wel- entscheidungen zu treffen hätten, die che Schäden – und wie lange – entstehen „Grenzen zwischen friedlicher Atomener- können: 22 Jahre danach soll jetzt das gie und atomarer Waffentechnik fließend“ zerstörte Werk in einem neuen „Sarg“ aus seien. „Es war interessant, dass der ganze Stahl und Beton von der Umwelt abge- Arbeitskreis der Meinung war: Nationale schirmt werden: ein wahnwitziges Vorha- Atomwaffen wollen wir nicht“ (v. Weizsäk- ben. Wie lange wird es halten? Und was ker). In ihrem Brief baten die Atomforscher wird dann?? dringend um ein Gespräch. Das Treffen, Und wohin soll man mit den radioak- das - durch Strauß lange Zeit verzögert - tiven Abfällen ? Kein stillgelegtes Bergwerk endlich stattfand, wurde von den Teilneh- und kein Salzstock scheinen dafür geeig- mern später als Katastrophe bezeichnet. net. Bei denen, die dafür evtl. in Frage Auf einer Pressekonferenz (5. 4. 1957) kämen, lehnen die Länder, in denen sie belehrte Adenauer die Journalisten: sich befinden, rundweg ab, fordern aber „Unterscheiden Sie doch die taktischen gleichwohl Atomkraftwerke (nach der und die großen atomaren Waffen“, [...] „die Weise: „Heiliger St. Florian, beschirm mein taktischen Waffen sind nichts weiter als Haus - zünd andre an!“ Diese Abfälle sind die Weiterentwicklung der Artillerie...“ 116 ja auch überhaupt nicht zu recyclen, d. h. Das aber ist genau so unsinnig, wie wenn sie können weder in einen Zustand ver- man sagt: Das Maschinengewehr ist wei- wandelt werden, in dem sie als ungefährli- ter nichts, als die Weiterentwicklung von che Stoffe in den Kreislauf der Natur oder Pfeil und Bogen. der Herstellung von Waren überführt wer- Ich schreibe dies alles mit einer den, noch kann die lebensgefährliche gewissen Erbitterung, weil damals von Strahlung in absehbarer Zeit unwirksam diesen Vorgängen, vor allem die Wieder- gemacht werden. Unsere Kinder und Kin- bewaffnung betreffend, wenig oder gar deskinder werden mit den gesamten Fol- gen belastet, eine wahrhaft „edle“ Verhal-

114 tensweise! Wie soll dereinst einmal ein Pazifismus = weltanschauliche Strö- mung, die jeden Krieg als Mittel der Politik Atom-Kraftwerk abgebaut werden? Wer ablehnt, Pazifist = Anhänger des P. soll das bezahlen angesichts der Tatsa- 115 u. a. der Physiker und Philosoph Karl che, dass der „Rückbau“ (schönes Wort!) Friedrich von Weizsäcker, die Nobelpreis- mehr kosten wird, als die Erstellung eines träger Werner Heisenberg und Otto Hahn. solchen Kraftwerkes? Atomstrom ist z Zt. 116 Informationen betr. der „Göttinger nur deshalb billiger, weil er subventioniert Erklärung“, aus „Frankfurter Rundschau“ wird, d. h. der Bürger zahlt über die Steu- v. 12. 4. 1997, S.5, „Die Rebellion der ern – und „sauber“ ist er bei den darge- Gewissenhaften“ von Karl-Heinz Karisch. stellten Problemen schon gar nicht! Ein 149 Atomkraftwerk pustet zwar keine giftigen von Reue oder Umkehr. [...] ... sie macht Gase in die Atmosphäre wie beispiels- ihrem Namen erst Ehre, wenn gerade der weise ein Kohlekraftwerk; aber w e n n Gnadenlose sie erfährt . Der Vertreter einer etwas passiert, dann ist der Schaden auf ‚christlichen‘ Partei sollte das wissen, denn Jahrhunderte hinaus unermesslich. Eine diese Definition hat ihre Wurzeln in der wahrhaft saubere Energie!! Theologie.“ 117 Demonstriert wurde also damals Die Gnade lässt sich also zutiefst gegen alle möglichen Fehlentwicklungen christlich begründen: Sie folgt aus der (und es wird zum Glück auch heute noch Erkenntnis, dass es Gottes Güte ist, die demonstriert). Das waren die braven Bür- den Menschen zur Umkehr bringt (Römer- ger aus der Weimarer Zeit nicht gewohnt. brief Kapitel 2, Vers 4), und nicht Strafe, Sie, denen man heute den Vorwurf macht, Drohungen, Gewalt. Dort wird zwar das sie hätten sich gegen Hitler und seine Wort Buße verwendet; es heißt aber nichts Politik nicht genug gewehrt, sollten Ver- anderes als Umkehr. Wenn bei der ständnis haben für eine Jugend, die sich Schwere eines Verbrechens überhaupt zum Glück anders verhalten wollte. Weis- noch etwas hilft, dann ist es letztlich die heit aber war noch nie ihre erste Tugend Gnade; natürlich nicht sofort nach Verkün- gewesen. dung des Urteils (Christian Klar hat ja Man wird sich wundern, dass ich – lange Jahre Haft verbüßt). Sie auszuspre- der ich durch diese „Unruhen“ nicht nur in chen ist kein Zeichen von Schwäche; sie meiner Arbeit im RU, sondern geradezu kann sich nur der Starke erlauben. Daher existentiell bedroht war – mich heute nicht ist sie in unserem Recht auch nicht Sache entschiedener gegen solche Entwicklun- irgend einer untergeordneten juristischen gen stelle. Das liegt daran, dass ich diese Dienststelle, sondern des höchsten Amtes Zeilen mit einigem Abstand im Jahr 2008 im demokratischen Staat. Bei uns ist dies schreibe. Man erinnert sich in diesen der Bundespräsident. Und deswegen ist Tagen - vor allem in Presse und Fernse- der Kommentar mit Recht überschrieben hen - an die Zeit vor 40 Jahren. Neu auf- „Vertane Chance“. gewühlt wurde die Erinnerung durch das Der Staat hat damit auch versäumt, Gnadengesuch eines der damaligen Ter- seine Souveränität zu dokumentieren. Er roristen, Christian Klar. hat damals, vor 30 Jahren, besondere So schwer erträglich es für das Gesetzte für die RAF-Täter erlassen, weil spontane Rechtsempfinden der bundes- er sie mehr fürchtete als all die anderen deutschen Bürger sein mag: „Es hätte Täter. Dies ist nun Schnee von gestern. Gründe für Gnade gegeben – grundsätzli- Die Begnadigung wäre ein Akt der gesell- che wie politische“, und man hätte an die- schaftlichen Befriedung gewesen. Hoffent- sem dokumentieren können, dass lich ist der Grund des Versäumnisses nicht wir immer noch das sind, was die meisten Populismus 118 . Bürger sein wollen: ein christlicher Staat. Interessant ist ja auch, dass weithin Oder soll gelten, was CSU-Generalsekre- vergessen wird, wie durch die gesamten tär Söder so plakativ zu formulieren Vorgänge - trotz der massiven kriminellen beliebte: ?“. Die Frage in der deutschen rechtfertigen möchte - hier und da doch Öffentlichkeit war: Wird der Bundespräsi- mehr Freiheit, Offenheit, Demokratie und dent Gnade vor Recht ergehen lassen – mancher zivilisatorische Fortschritt aus- auch wenn viele Menschen die Ablehnung gelöst worden ist. Solche Töne hört man – fordern?. „Das Recht setzt Strafe ins Ver- zum Glück sage ich - auch in unseren Kir- hältnis zur Schwere der Schuld, und es chen. Ich gebe zu, dass dies heute leichter zieht die Fähigkeit eines Täters zur Ein- zu sagen ist als damals, als die Schüler sicht und Umkehr mit ins Kalkül“. Es geht uns z. T. in Scharen davonliefen. hier nicht um Milde. Sie gehört zur Reue des Täters; und die liegt im Fall Klar nicht vor. „Gnade unterscheidet sich vom geschriebenen Recht gerade dadurch, 117 Zitate von Stephan Hebel aus der Frankfurter Rundschau vom 08. 05. 2007. dass sie ohne Vor- oder Gegenleistung 118 gewährt wird. Sie ist schon von ihrer Defi- Versuch, die Gunst der Massen durch nition her `unverdient´, weil unabhängig Anbiedern zu erlangen. 150 Sie wurden hier und da sogar von Schulaufsicht unterstanden, mussten sie ihren Vorgesetzten dazu ermuntert. Argu- ersatzweise in einen anderen Unterricht mente aus vergangenen Tagen tauchten gehen. Das passte ihnen selbstverständ- jetzt wieder auf: dass sie in der BS lich auch nicht, denn da blieb ihnen nichts Schreiben, Lesen und vor allem Rechnen anderes übrig, als in dieser Klasse mitzu- lernen, das war den Chefs und Meistern arbeiten. Dann gingen sie doch lieber in natürlich recht. Aber wozu RU? Anders den RU. herum argumentierten sie vor allem dann, Die Lage änderte sich dramatisch, wenn ihr Lehrling mal klaute oder betrog. als das Alter für die Schul-Aufsichtspflicht Jetzt auf einmal meinten sie: „Wozu geht von 18 auf 14 Jahre herabgesetzt wurde. der Kerl (oder das ‚Weibsbild‘) in den Jetzt musste man nicht mehr in den Ersat- RU?“ Da hatte die Frage allerdings einen zunterricht; man hatte eine Freistunde. Die ganz anderen Klang, denn sie meinten, da Schüler meldeten sich auch gar nicht mehr hätten wir versagt, und es sei doch vor ab; sie blieben ganz einfach weg. Wenn allem unsere Aufgabe, denen Moral bei- dann – wie in Bad Homburg – auch noch zubringen. Dabei kam es sogar oft vor, schräg über die Straße eine Gastwirtschaft dass wir bei manchen Streitfragen, die ist, was lag dann näher, als sich dort eine während der Lehrzeit aufkamen, die Pause zu gönnen? Gegen eine Freistunde „Stifte“ ermutigen mussten, sich ja nicht war selbst der interessanteste Unterricht alles gefallen zu lassen. machtlos. Ich hatte zwar die meisten mei- Jetzt aber kamen die Azubis und ner Kollegen auf meiner Seite. Jetzt aber meinten, sie seien längst älter als 14 war ihre Geduld zu Ende. Fachunterricht Jahre, also „religionsmündig“, und da in einer mehr oder weniger alkoholisierten könnten sie doch aus dem RU austreten. Klasse, das brachte sie auf Palme. Aber Das durften sie auch; da sie aber noch der was sollte man tun? 151 Ein Ausweg?

Günther Stiller, ein Kollege, der in teuer. Bald hatten wir je eine Anlage Offenbach unterrichtete und der als Vikar daheim in unserem Haus und in der einmal bei mir hospitiert hatte, kam auf Schule. Meine Frau nahm – vor allem an den Gedanken, angesichts dieser Vormittagen - Sendungen auf, die wir aus Schwierigkeiten das Fernsehen im RU den Programmheften vorher ausgesucht einzusetzen (anstelle der seitherigen hatten. Dann wurden Szenen Methoden, ein Thema am Anfang der herausgeschnitten, die wir den jeweiligen Stunde „anzustoßen“). Eine tolle Idee! Ich Klassen als „Aufreißer“ vorspielten. Es gab war zwar nicht umsonst ein Jahr lang am auch hier und da sehr interessante Oberseminar in Düsseldorf auf die Kunst Kurzfilme, bzw. Zeichentrickfilme. Sie hin trainiert worden, möglichst schnell am mussten aber kurz sein, damit noch Zeit Stundenanfang die Aufmerksamkeit der blieb, nicht nur zum Besprechen: man Schüler zu gewinnen. Da gab es musste auch zu einem Ergebnis gelangen. phantastische Kurzgeschichten von Das alles kam einem Hochseilkunststück aktuellen Schriftstellern wie Heinrich Böll, im Zirkus gleich. Günter Eich u. a. Mit dem Tonbandgerät Es war natürlich auch der Reiz des konnte man eine kurze Szene vorspielen, Neuen: „Beim Knopf gibt es Fernsehen!“ ein Bild mit dem Diaprojektor vorstellen Es gelang uns jedenfalls, die „Bande“ zu oder eine Bildvergrößerung an der fesseln. Es meldeten sich bei mir nur ca. Wandtafel aufhängen usw. usw. Aber das 10% ab, während an anderen Schulen im neueste Medium, das Fernsehen, im Land ganze Klassen geschlossen Unterricht einzusetzen, das hatte bis dato verschwanden. Damit konnten wir kaum ein Lehrer gewagt. selbstverständlich nicht einverstanden Aber - wo das nötige Geld dazu sein. In der Arbeitsgemeinschaft wurde auftreiben, um eine solche Technik erst das Problem diskutiert, aber sie war auf einmal anzuschaffen? Hier war Günther keinen Fall der adäquate ganz groß! In der Schweiz gab es beim Verhandlungspartner gegenüber der Ökumenischen Rat der Kirchen eine staatlichen Schulbehörde. Es war auch Stelle, die gebrauchte Video-Recorder nicht ihre Aufgabe. Es ging übrigens nicht anbot. Es ist ja bis heute verjährt, deshalb nur um den Religionsunterricht. Für kann ich offen davon berichten: Eines manche Kollegen/Innen stand auch ihr Tages hatte Günther dort mehrere Geräte Beruf – und damit ihre Existenz - auf dem samt Monitoren organisiert. Das Geld Spiel. Natürlich engagierten sich die dazu hatten wir an mehreren kirchlichen Fachreferenten der evangelischen Stellen aufgetrieben. Und was das Tollste Kirchenleitung und des katholischen war: Ohne Zollgebühr kam er damit über Episkopats. Es wurde verhandelt, aber die Grenze. man kam zu keinem Ergebnis. Dieser Das war natürlich eine Sensation: Zustand war unhaltbar: Es gab noch nie Fernsehen im Religionsunterricht der einen Lehrer, der allein auf das Interesse Berufsschule! Zunächst noch in schwarz- seiner Schüler aufbauend seinen weiß – später in Farbe – mussten zuerst Unterricht aufrecht erhalten musste. Bei einmal Mitschnitte hergestellt werden. Die allem Elend waren wir – da wir es hier und Bänder, ½ Zoll breit, waren noch sündhaft da doch schafften – aber auch noch stolz. 152 Hilf dir selbst, dann ... – (die Verbandsgründung).

In dieser Situation beschloss ein Aschenputtel-Dasein auch in der Kirche kleiner Kreis von 13 KollegInnen und Kol- führten. Es hatte sich dort offensichtlich legen auf Anregung von Klaus Schuler, noch nicht so richtig herumgesprochen, dem späteren 1. Vorsitzenden, einen Ver- welche Veränderungen im beruflichem band zu gründen. Er sollte neben der Schulwesen inzwischen eingetreten Gewerkschaft für Erziehung und Wissen- waren. schaft (GEW) oder dem Gewerbelehrer- Dieser Ausschuss war also nicht der Verband (glb) bei Regierung und Kirche Ort, ein Umdenken zu bewirken. Durch unsere Interessen vertreten. Unter den unsere Verbandsgründung wurde man in „Gründern“ war auch das Ehepaar Cordes. Darmstadt – dem Sitz der KL – in aller Leider war es nicht möglich, diesen Schritt Deutlichkeit daran erinnert, bisher zu gemeinsam mit den Katholiken zu tun. Es wenig für die Beruflichen Schulen getan zu gelang uns aber, in diesem Verband nicht haben. Es war höchste Zeit, endlich bei nur für Mitglieder des Gebietes der Evan- den Schulbehörden vorstellig zu werden gelischen Kirche in Hessen und Nassau und die Erfüllung des Begriffes Ordentli- (EKHN), sondern auch für die der Evange- ches Lehrfach für den RU einzufordern. lischen Kirche von Kurhessen/Waldeck Wir waren um so mehr von der Berechti- (EKKW) zuständig zu sein. gung dieses Verlangens überzeugt, als Am 16. September 1967 fand die unser Unterricht längst nicht mehr unter Gründungsversammlung des Südbezirkes dem Verdacht stand, Mission in der (Gebiet der EKHN) statt. Der Nordteil Schule zu betreiben. Ob aber diese (Gebiet der EKKW) konstituierte sich unsere Konzeption bei kirchlichen und später. Wir waren zahlenmäßig nicht viel: staatlichen Behörden in ihrer Bedeutung Bezirk Süd hatte an die 40 Mitglieder (in für die dort vorhandenen Jugendlichen ihm war ich Vorsitzender) und der Nord- bekannt war? Denn diese Form als bezirk (Vorsitzender Pfarrer Max Rümpler, Lebenshilfe passte doch besonders gut in Fulda) um die 30. Den Gesamtvorsitz das Curriculum 119 der Beruflichen Schulen! hatte Klaus Schuler in Weinheim, ein Das hatte bereits die GEW verstan- ungewöhnlich rühriger und für diese Auf- den, denn sie veranstaltete jetzt Tagun- gabe geeigneter Kollege. Wir beantragten gen, wo es um diese Frage ging. Auch der den Status des „Eingetragenen Vereins“, Gewerbelehrer-Verband (glb) setzte sich um in jeder Weise aktiv werden zu kön- für den RU ein; aber dies tat er mit der nen. typisch konservativen Begründung, dass Es war eine schwere Aufgabe, die der christliche Glaube nun einmal die wir uns da gestellt hatten. Wir befanden Grundlage unserer demokratischen uns zwischen Kirche und Staat, von keiner Grundordnung sei. Wir jedoch (und die Seite recht anerkannt; leider muss gesagt GEW) argumentierten, dass das Problem werden: am wenigsten von den Kirchen. des Menschlichen gerade in einer Zeit in Das war schmerzlich, aber nach unseren die Schule gehört, in der Arbeit (und Frei- bisherigen Erfahrungen kaum anders zu zeit ?) drohen, unmenschlich zu werden. erwarten. Ich war Anfang der 60er Jahre in Das war ja auch eine der Begründungen, den Gesamtkirchlichen Ausschuss für den mit der Jugendliche – vor allem Studenten Religionsunterricht (GKA) berufen worden, – auf die Straße gingen und demonstrier- einem Gremium von Religionslehrer/Innen ten. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“, aus allen Schulformen, das beratende war eine Losung der Gewerkschaftsju- Funktion hat für die in der Kirchenleitung gend. (Diesen Spruch habe ich von mei- vorhandenen Fachreferate im Bereich der

EKHN. Den Vorsitz führte der Oberkir- 119 chenrat für das Schulreferat. Das war für (lat.- engl.): auf einer Theorie des Lehrens u. Lernens aufbauender mich eine interessante Aufgabe, zumal die Lehrplan: Lehrprogramm. Beruflichen Schulen so etwas wie ein 153 nem Sohn Wilhelm gelernt, der eine Zeit posten eingespart werden. Ob ich da lang dort mitarbeitete). irgend einem Mitsynodalen “auf den Fuß Endlich, nach langem Hin und Her, getreten“ bin oder sogar dem Kirchenprä- zeigte sich der Kirchenpräsident der sidenten selbst? Es war nämlich nicht ein- EKHN, Helmut Hild, bereit, selbst auf zusehen, dass ausgerechnet die Schule, adäquater Ebene, also mit dem Hessi- die von den meisten Jugendlichen unseres schen Kultusminister, die Angelegenheit Landes besucht werden, dort nicht durch des RU, speziell den der Beruflichen eine Fachkraft im Kreis der Referenten Schulen, zu besprechen. Er ließ sich auch vertreten war. vorher von uns noch einmal kurz informie- Hoch her ging es eigentlich immer, ren, nahm aber nur die Kirchenräte der wenn es in der Synode bei den Etat- Kirchenleitung (für den RU) ins Ministe- Beratungen ums Geld ging. Zwar war es rium mit. Schon das erregte unseren Ver- nun gelungen, in Schönberg (Kronberg) dacht. Warum war da nicht mindestens ein mit dem Religionslehrer Pfarrer Wolfgang Praktiker dabei? Dietrich aus der EKKW eine Referenten- Der Verhandlungstermin im Kultus- stelle für die Beruflichen Schulen einzu- ministerium war schon längst vorbei, und richten. Dazu war aber auch Geld für die wir wussten immer noch nicht das Ergeb- sachlichen Ausgaben nötig. Nun ist es nis. Als ich dem KP lange danach gele- aber nie so gewesen wie am Familien- gentlich einer Tagung in der Arnoldshainer tisch, wo jeder bekommt, bis er satt ist. Akademie begegnete, versicherte ich ihm Was der eine bekommt, muss oft der – wahrscheinlich nicht gerade im aller- andere hergeben. Und wer gibt gerne her? freundlichsten Ton –, wie sehr uns das Da uns nie ein Ergebnis des Problem auf den Nägeln brenne. Wir seien Gespräches in (Sitz der Hes- daher verwundert, immer noch nicht sischen Regierung) mitgeteilt wurde, muss informiert worden zu sein. Er wies mich ich annehmen, dass dort gar nicht über barsch ab mit der Bemerkung: „So spricht „unser“ aktuelles Problem gesprochen man nicht mit dem Kirchenpräsidenten!“, worden ist. Diese Vermutung wurde und ließ mich einfach stehen. Ich dachte gestützt durch einen Brief von Klaus damals nur: „... und das in der Kirche, in Schuler an mich, den ich jetzt beim Akten- der „alle Glieder eines Leibes sind“ (1, studium wieder aus der damaligen Zeit Korinther 12, 27). Besser wäre gewesen, entdeckte. In ihm steht Folgendes: wenn ich ihn auf diesen unseren Glauben „... dass es in diesem Gespräch in erster begründenden Tatbestand hingewiesen Linie um allgemeine bildungspolitische hätte. Dinge ging. [...] Ich kam mir vor wie einer, Heute nehme ich an, dass er mir der mit einer akuten Blinddarmentzündung ohnehin nicht freundlich gesonnen war, ins Krankenhaus kommt und zusehen wie überhaupt unser Verband an „höch- muss, wie sich die Herren Ärzte mit allge- ster“ Stelle ein Ärgernis war. Auf der vor- meinen medizinischen Fragen beschäfti- ausgegangenen Tagung der Kirchen- gen, während dessen mein Blinddarm zu synode der EKHN mit dem Hauptthema platzen droht“. Religionsunterricht, an der ich als „nor- Eine wichtige Frage, mit der wir uns maler“ Synodaler teilnahm – von meinem im Verband beschäftigten, war die der Dekanat Bad Homburg gewählt und nicht Ausbildung künftiger RL an Beruflichen in meiner Eigenschaft als Religionslehrer – Schulen. Da damit unsere Besoldung , ging es zum Teil hoch her. Natürlich zusammenhing, verdächtigte man uns hatte ich mich an der Diskussion beteiligt. sofort, es ginge uns nur ums Geld. Natür- Es gelang mir dabei, zusammen mit ande- lich sahen wir auch nicht ein, dass wir in ren Synodalen für das Religionspädagogi- einem nicht leichten Fach und mit mehr sche Studienzentrum in Schön- Unterrichtsstunden als unsere Kollegen berg/Taunus die Einrichtung eines Refe- neben uns, finanziell viel schlechter als sie rates auch für Berufliche Schulen neben gestellt waren. Uns ging es aber vor allem den anderen Schulformen durchzusetzen. um eine bessere Ausbildung unseres Es war ein Finanzproblem, oder – so ver- Nachwuchses. An einer akademischen mute ich – entsprach es nicht den waren wir weniger interessiert. Wichtiger Absichten der Kirchenleitung? Das Geld erschien uns eine vorausgehende Tätig- musste natürlich an einem anderen Etat- keit in irgend einem Beruf, um das Milieu 154 kennenzulernen, aus dem unsere Schü- in Düsseldorf absolviert und war somit voll ler/Innen kommen. Ideal fanden wir die anstellungsfähige Religionslehrerin gewor- des Oberseminars in Düsseldorf. Sie war den. Die Verhältnisse in Rheinland-Pfalz mit 1½ Semestern auch zumutbar für Stu- waren so verlockend, dass auch ich dierende, die einen Beruf erlernt oder – erwog, das „hessliche Land“ zu verlassen besser – ausgeübt hatten. Aber so lange und in der Nähe der Cordes-Familie eine jede/r mit ungenügenden Voraussetzun- Stelle zu übernehmen. gen genommen wurde, nur um irgendwo Verschiedene Faktoren hinderten mich Lücken zu schließen, brauchten wir uns daran: Der Wechsel hätte bedeutet, dass nicht zu wundern, wenn das Fach, das wir unsere 5-köpfige Familie das neue Haus vertraten, unterschätzt wurde – auch in in Bad Homburg verlassen und in der der Frage der Bezahlung derer, die es Nähe oder am zukünftigen Dienstort unterrirchteten. erneut ein Haus hätte bauen oder kaufen Neben uns existierte noch die müssen. Außerdem waren m. E. die Arbeitsgemeinschaft (ArGe), leider in einer Unterrichtsbedingungen keineswegs so gewissen Rivalität. Dazu fehlte eigentlich verlockend, wie es zunächst aussah. jede Veranlassung, denn zu ihr gehörte ja Selbst in der berufsbegleitenden Schule automatisch jede/r ReligionslehrerIn. Eine (also bei den Azubis) mussten Noten Arbeitsteilung mit uns hätte sehr fruchtbar gegeben werden. Das war zwar eine sein können. Danach hätte sie sich mehr gewisse Aufwertung des Faches, verän- mit örtlichen Problemen (im Bereich eines derte aber die freiheitliche Atmosphäre der Visitationsbezirkes) befassen können, um ganzen „Veranstaltung“. Es bestand die sich da gegenseitig im Hinblick auf den Gefahr, dass die Schüler/Innen geneigt Unterrichtsinhalt zu helfen und Gemein- waren, der besseren Note willen vorsichti- schaft im kleineren Kreis von Kolleginnen ger am Unterricht teilzunehmen. Die Note und Kollegen zu pflegen. Um diesen womöglich als Mittel der Disziplinierung oder Zustand zu beenden beschlossen wir vom als Ausgleich für schlechte Noten in ande- Verband, bei der nächsten Vorstandswahl ren Fächern (wie in der Berufsfachschule der ArGe wenigstens den Vorsitz anzu- oder in der Höheren Berufsfachschule) streben. Das war nicht schwer, da wir geben zu müssen, war mir zuwider. ohnehin die Mehrheit und die aktiveren Außerdem zeigte sich, dass durch Mitglieder hatten. Als Kandidat wurde ich das Unterrichtsmittel Fernsehen eine bes- ausersehen und prompt gewählt. Nun sere Ausgangssituation für die einzelne bestand Personalunion im Vorsitz der Unterrichtsstunde entstanden war. Als ArGe und dem Teil des Verbandes, der als „Pioniere“ dieser neuen Methode erhielten Bezirk Süd den Bereich der EKHN Günther Stiller und ich vom Land Hessen umfasste. Diese Lösung kam leider durch – ohne dass wir es beantragt hätten - je die Entwicklung der Dinge nicht mehr zum eine komplette Video-Anlage in Farbe und Tragen. mit 1-Zoll-Band. Gegenüber der ½-Zoll Mit der Zeit zeigte sich nämlich, dass Anlage, mit der wir seither in schwarz- wir als kleiner Verband angesichts der weiß und Farbe gearbeitet hatten, sah kaum lösbaren Probleme zu schwach dies zunächst wie ein gewaltiger Fort- waren, auf die Entwicklung unseres RU schritt aus. Wer diese komfortable Anlage Einfluss nehmen zu können. Hinzu kam, dem Kultusministerium empfohlen hatte, dass eine ganze Reihe ReligionslehrerIn- erfuhren wir nicht. Sie war für unsere nen das Land Hessen verließen, weil sie Zwecke überdimensioniert. Zum Glück in anderen Bundesländern und Landeskir- hatten wir beide veständnisvolle Direkto- chen bessere Arbeits- und Anstellungs- ren. Wir schlugen ihnen nämlich vor, diese verhältnisse fanden. Dort war es hier und Videorecorder zu verkaufen und dafür je da sogar möglich, ins Beamtenverhältnis zwei Halbzoll-Farbgeräte einzukaufen. Sie übernommen zu werden und damit siche- stimmten nicht zu und meinten lediglich: rere Lebensbedingungen zu erlangen. „Wir wissen von nichts!“ Als ich über die Auch das Ehepaar Cordes nahm ein Dekanats-Synode noch ein teures Auf- Angebot im Raum der Rheinischen Kirche nahmegerät genehmigt erhielt, mit dem an und erhielt für beide je eine Stelle in man sogar elektronische Schnitte durch- Kirn an der Nahe. Lore Cordes hatte führen konnte, war unsere Technik per- inzwischen 3 Semester am Oberseminar fekt. 155 Ein letzter Grund hinderte mich am stand die Auflösung empfohlen wurde, Wechsel: Ich war älter als die meisten stimmte ich zu. Schon bei der Gründung meiner Religionslehrer-Kollegen im Land. waren wir, die Gründungsmitglieder, uns Das Ende meiner Berufstätigkeit war darüber einig, dass man den Verband bereits in Sicht, vor allem, wenn ich eine dann auflösen sollte, wenn man Ziele vorzeitige Verrentung anstrebte. So gerne durch andere bestehende Verbände bes- ich meinen Beruf ausübte - er war wirklich ser oder wirkungsvoller verfolgen könne. die Spitze meiner gesamten Berufstätig- Wir empfahlen daher unseren Mitgliedern, keit - , so war ich doch gewillt, nach den in der GEW oder im glb mitzuarbeiten und „verlorenen“ Jahren in Krieg und Gefan- sich dort für den RU an BS einzusetzen. genschaft trotz eventueller finanzieller Damit lösten wir den Verband durch Nachteile die Rente früher zu beantragen. Beschluss einer außerordentlichen Mit- Der Verband litt unter dem Wegzug glieder-Versammlung mit Wirkung des 1. einer Reihe seiner Mitglieder. Als im Vor- Januar 1972 auf. 156

Mein Kirchen-Kampf

Der hatte ja eigentlich schon längst berühmten Mann zusammen zu kommen, begonnen, wie man aus dem bisher der in der jüngsten Geschichte der Kirchen Berichteten erkennen kann. In der Landes eine große Rolle gespielt hatte, mit Martin Synode bekam ich allmählich heraus, mit Niemöller . Er gehörte zum selben Visitati- wem ich mich verbünden musste, wenn es onsbezirk 121 (Südnassau) wie unser etwas durchzusetzen galt. Am deutlichsten Dekanat (Bad Homburg). Als ehemaliger merkte ich das bei der Diskussion um ein KP der EKHN war er nach seiner Pensio- Problem der sog. Dritten Welt. Aus Kir- nierung mit Wohnsitz in Wiesbaden wieder chensteuer-Mitteln sollte eine Spende in Pfarrer bzw. einfaches Gemeindeglied. Es Höhe von DM 100.000 über den Ökume- war interessant für mich, mit ihm über nischen Rat der Kirchen nach Südafrika anliegende Probleme zu sprechen und zu gegeben werden. Sie war vor allem den beobachten, wie ihm mein Einsatz für schwarzen christlichen Gemeinden zuge- Berufliche Schulen offensichtlich gefiel. Er dacht, die unter der ungerechten weißen war ja der erste Kirchenpräsident der Apartheid 120 -Regierung schwer zu leiden EKHN nach dem 2. Weltkrieg gewesen hatten. Der konservative Teil der Synode und hat dieses Amt entscheidend geprägt. verlangte die Verpflichtung der Empfän- So hat er damals sich dagegen gewandt, ger, dieses Geld nicht für Waffenkäufe zu dass in der evangelischen Kirche in verwenden. Der andere Teil betrachtete Deutschland Ämter mit der Bezeichnung dies als eine unwürdige Bevormundung, „Bischof“ eingeführt werden sollten. Damit die den Geist der Apartheid in sich trage. hat er sich nicht durchsetzen können. Aber Es wurde heiß gerungen, und der für sich hat er es kategorisch abgelehnt, Streit ging bis in die einzelnen Kirchenge- und zwar mit der Begründung: Dieses meinden hinein. Bei uns im Dekanat Bad Wort bedeute so viel wie Hirte, und er Homburg musste ich als Vertreter der wolle es nicht mit Schafen zu tun haben. Gegner dieser Auflage in Gemeindever- Seitdem (bis heute) steht an der Spitze sammlungen Rede und Antwort stehen. der EKHN ein Kirchenpräsident . Das hat mich wahrscheinlich die Wieder- Die Gonzenheimer Kirchenge- wahl bei der nächsten Legislaturperiode meinde, die weit in das Gebiet der Stadt der Landes-Synode gekostet, denn schon Bad Homburg hinein reicht, war durch mein wiederholtes Eintreten für die Zuzug nach dem Krieg zahlenmäßig Belange der Beruflichen Schulen fand bei enorm gewachsen und wurde irgendwann den für das Gymnasium eingestellten in zwei Gemeinde-Bezirke geteilt. Deswe- Synodalen wohl kaum besondere Zustim- gen bekam sie sehr bald einen Vikar, mung. In der nächsten Sitzung (am 24. zumal der Gonzenheimer Pfarrer Schmidt Oktober 1970) fand die endgültige zugleich Dekan war. Ende der 60er Jahre Abstimmung statt, bei der die Ablehnung genehmigte die Kirchenleitung eine zweite der Verpflichtung die Mehrheit bekam. Für Pfarrstelle, die im Amtsblatt ausgeschrie- mich ergab sich – wie oben bereits ben werden sollte. Unter den Bewerbern erwähnt - dabei ein für künftige Auseinan- musste der Kirchenvorstand dann wählen. dersetzungen nützliches Kennenlernen Dekan Schmidt machte in der ent- der einzelnen Mitsynodalen im Hinblick auf sprechenden Sitzung des Kirchenvorstan- ihre konservative oder mehr liberale Ein- stellung. 121 Im Aufbau der EKHN ist die Basis die Eine große Freude war es für mich, örtliche Kirchengemeinde mit ihrem Kir- bei den Sitzungen – und besonders bei chenvorstand und dem (den) Pfarrer(n), ihren Vorbereitungen – oft mit einem darüber das Dekanat mit Dekanats-Syn- ode und Dekan. Dem Bischofsbereich der lutherischen Kirche entspricht der 120 (afrikaans, eigentl. „Gesondertheit“), Visitationsbezirk mit dem Probst an der Bez. für die von der südafrikan. Regie- Spitze. Die Pröbste dieser Visitationsbe- rung praktizierte Politik der Rassentren- zirke bilden mit dem Kirchenpräsidenten nung zw. weißer und farbiger (also auch das „Leitende Geistliche Amt“ – die sog. Mischlinge) Bevölkerung. eigentliche Kirchenleitung. 157 des den Vorschlag, er könne das Verfah- kamen wir theologisch und auch sonst ren abkürzen, da er einen geeigneten vom Regen in die Traufe. Kandidaten gefunden habe, der sich ver- Wir hatten zu dieser Zeit einen recht ändern wolle und demnach zur Verfügung lebendigen Hauskreis. In ihm wurde inter- stände. Er stellter ihn uns persönlich vor, essant diskutiert und in bester Weise und im anschließenden Gespräch, in dem gestritten. Dora und ich fühlten uns in ihm er zu erkennen gab, dass er ihn favori- entsprechend wohl. Der neue Pfarrer kam siere, erhob sich unsererseits kein Wider- hinzu. Da merkten wir gleich: Er war reich- spruch. Das verstand er als Zustimmung lich fundamentalistisch 122 . Mit unserem und meldete der Kirchenleitung, der Kir- guten Klima war es vorbei. Unerträglich chenvorstand habe sich „einmütig“ für die- wurde es, als er von einem Kirchentags- sen Pfarrer B. ausgesprochen. Uns war besuch (Hannover ?) zurückkam und von dieser Meldung zunächst nichts einen merkwürdigen Bericht vorlegte. An bekannt. der Bibelarbeit einer Mainzer Theologie- Einige Mitglieder, die gerne auf der Professorin ließ er kein gutes Haar. Es neuen Pfarrstelle einen jungen, aktiven war Luise Schottroff. Zu ihr hatte ich einen Kandidaten (gewissermaßen als „Kon- guten Draht und bat sie um ihr Manuskript. trastprogramm“) gesehen hätten, sahen Mit dem konnte ich bei der nächsten sich im Lande um. Sie besuchten auch u. Zusammenkunft beweisen, dass manche a. einen jungen Pfarrer, der beschrieben Sätze überhaupt nicht gefallen oder falsch wurde als „bester Mann seines Kurses“, zitiert waren. Hätte ich um des lieben Frie- intelligent, geeignet für Arbeit mit Jugend dens willen schweigen sollen? Mit der und „mittleren Jahrgängen“, Erfahrung im Wahrheit nahm es Pfr. M. offensichtlich RU der Oberschule. Diese Gruppe, zu der nicht so genau. Das zeigte sich noch an ich gehörte, kam aber nicht zum Zug, da anderen leicht überprüfbaren Äußerungen der Dekan inzwischen in Verhandlungen zur Organisation des Kirchentages. mit der Kirchenleitung vollendete Tatsa- Wenn er Frau Schottroff richtig zitiert chen geschaffen hatte. Das wurde deut- hätte, so wäre sicher ein fruchtbares lich, als ich den Architekten des neuen Gespräch im Kreis möglich gewesen. Aber Pfarrhauses (ein früherer Besucher eines an seiner abschließenden Bemerkung: meiner Jugendkreise) zufällig traf, und der „... von solchen Theologen werden unsere mir erzählte, er habe kürzlich bei einem zukünftigen Pfarrer ausgebildet!“, war zu Rundgang durch das neue Haus mit dem erkennen, dass ihm die ganze Richtung neuen Pfarrer dessen Gestaltungswün- nicht passte. Leider war seit diesem sche besprochen (Tapeten u. ä.). Da der Abend die Atmosphäre im Hauskreis noch Dekan dem KV gegenüber immer noch schlechter. Auch die sonntäglichen Pre- erklärte, „es sei noch alles offen“, erhoben digten brachten bei ihm wenig vom Evan- einige Mitglieder bei der KL in Darmstadt gelium. Sie waren mehr Droh- als Froh- Einspruch, worauf die ganze Angelegen- botschaft. heit platzte. Die Stelle wurde nun ord- Mein Vorschlag, bei Predigten und nungsgemäß im Amtsblatt der EKHN aus- dem gesamten Gemeindeleben sich mehr geschrieben. auf mittlere Jahrgänge einzustellen, wurde Leider war nach dieser Affäre mein mit der Begründung abgelehnt, dann seither sehr gutes Verhältnis zu Dekan kämen die alten nicht mehr und die mittle- Schmidt empfindlich gestört, und ich frage ren womöglich auch nicht. Das galt auch mich heute, ob unser „Aufstand“ die Sache bei dem neuen Pfarrer für den zweiten wert war. Andererseits blieb uns damals Gemeindebezirk. Außerdem meinte ich, es kaum etwas anders übrig, wenn wir nach wäre gut, wenn gerade bei Predigten mehr Recht und Gesetz handeln und uns nicht mit Gottesdienst-Besuchern gerechnet zu einem „Abnickverein“ degradieren las- würde, die nicht regelmäßig da sind. Dies sen wollten. „Unseren“ Kandidaten beka- men wir nicht; er war nach der Kir- 122 Im amerikan. Protestantismus Ende chenordnung noch nicht wählbar. Obwohl 19. Jahrh. entstandene Bewegung zur die Stelle innerhalb der EKHN durchaus Abwehr des Liberalismus. Sie ist über- attraktiv war, meldete sich nur ein Kandi- zeugt, dass z. B. die Bibel unmittelbares dat, und den mussten wir nehmen. Mit ihm Wort Gottes, wörtl. diktiert und daher irrtums- u. widerspruchsfrei, ist. 158 ist gerade der Fall an besonderen Feierta- Sie durften sich nach langer und mühsa- gen wie Weihnachten, Ostern, Ewigkeits- mer Irrwanderung endlich neben der klei- sonntag oder Volkstrauertag. Aber auch in nen Stadt Hanau ansiedeln, und zwar jedem normalen Gottesdienst, in dem z. B. unter der Bedingung, dass sie eine grö- eine Taufe gefeiert wird, befinden sich ßere Stadt errichteten. Das haben sie Menschen, die kirchlichem Leben ent- auch getan, die Neustadt Hanau gebaut fremdet sind. Dies ist kaum zu übersehen. und viele handwerkliche und künstlerische Diese Gottesdienstbesucher sollten mer- Fähigkeiten mitgebracht, von denen die ken, dass sich in der Kirche doch einiges Stadt heute noch zehrt. Vor allem als Kind geändert habe gegenüber der Zeit, in der und Jugendlicher habe ich mich in dieser sie (vielleicht als Konfirmanden?) das Gemeinde ausgesprochen wohl gefühlt, letzte Mal anwesend waren. Aber - hat und wer kann das von sich sagen? sich wirklich so viel geändert? Außerdem ist die Kirche für mich so Niemöller hat einmal einen – eigent- etwas wie eine Mutter, die man sich ja lich traurigen – Vergleich für manche auch nicht auswählen kann. Wie bei den kirchlichen Veranstaltungen geäußert: Sie leiblichen Eltern gilt dann wohl auch für sie seien vergleichbar einem Aquarium-Lieb- das 4. Gebot: Du sollst deinen Vater und haber, der in regelmäßigen Abständen ins deine Mutter ehren ... Wohlverstanden Wasser guckt, mal diesen und jenen Fisch heißt es „ehren“ und nicht „lieben“. Das besonders betrachtet und dann weiter sei- läßt sich ja sowieso nicht befehlen. Sie ist nen täglichen Verrichtungen nachgeht. schließlich eine menschliche und keine Ich habe Gemeinden erlebt, da müs- himmliche „Veranstaltung“, und ob Jesus sen Vorkonfirmanden und Konfirmanden sie gewollt oder gar gegründet hat, da sich nach jedem Gottesdienst von einem streiten sich heute noch die Geister. Seine Mitglied des Kirchenvorstandes schriftlich Kirche – der Tempel in Jerusalem – war bescheinigen lassen, dass sie anwesend ihm nicht gleichgültig, und er hat mit Kritik waren. Da in der Predigt meist für sie nicht gespart. Ja, er hat entgegen seiner keine Passage vorkommt, die auf ihr sonstigen Gepflogenheit sogar recht Niveau abgestimmt ist und sie anspricht, unsanft die Händler vertrieben (Matth. 21, langweilen sie sich und müssen gelegent- 12 ff). Was würde Jesus heute wohl dazu lich von älteren Gottesdienstbesuchern zur sagen, was sich unsere Kirche im Laufe Ordnung gerufen werden. Kein Wunder, der Jahrhunderte alles geleistet hat? wenn nicht wenige bei der Konfirmation Merkwürdigerweise wussten gerade da aufatmen: „Jetzt müssen wir nicht mehr meine Schüler bestens Bescheid und sonntags in die Kirche!“ haben es mir auch oft genug vorgehalten. Vielleicht wundert sich der Leser Vor allem beanstandeten sie immer dieser Zeilen über so viel unangenehme wieder, dass es nicht die Kirchen waren, Erfahrungen und auch darüber, dass ich die z. B. für die Erklärung der Menschen- „da immer noch mitmache“. Die Antwort rechte und die Beseitigung des Sklaven- fällt mir nicht leicht. Die Kirche ist für mich tums sorgten; ja, die in der Bekämpfung kein Verein, aus dem man austritt, wenn solcher Missstände oft eine zweifelhafte einem der ganze Laden nicht mehr gefällt. Rolle spielten (vorsichtig gesagt!). Da Außerdem ist es auch nicht die Kirche , die hatte ich oft keinen leichten Stand im ich kritisiere. Dazu habe ich in meinem Unterricht, denn zunächst musste ich bisherigen Leben zu viel Positives erlebt ihnen zustimmen. Ich gab aber zu beden- und ich verdanke ihr viel. ken, dass es sicher kein Zufall ist, dass die Das betrifft vor allem die Gemeinde, notwendigen Veränderungen in unserer in der ich getauft und konfirmiert wurde. Welt nicht im Einflussbereich des Islam, Zu ihr habe ich immer noch so etwas wie des Buddhismus oder sonst wo erkämpft Heimatgefühle, und ein wenig Stolz ist werden konnten. Schließlich ist die Kirche auch mit dabei. Ein Teil meiner Vorfahren im Laufe der Geschichte doch immer wie- haben um ihres Glaubens willen ihre Hei- der auch der Ort gewesen, von dem mat Ende des 16. Jahrhunderts (Wallo- Erneuerung und Verbesserung ausging - nien, Holland, Frankreich) verlassen. Da jedoch wohl nur dann, wenn in ihr Men- muss doch etwas dran gewesen sein, schen am Wirken waren, die auf Verände- wenn ein Mensch zu so etwas bereit ist! rung drängten und darauf aus waren (wie 159 Luther es forderte), in einer eclesia sem- Franz Rosenzweig: „Die fünf Bücher der per reformanda 123 mitzuarbeiten. Und was Weisung “. Dass es hier statt wie früher schleppen wir heute noch an Altem aus nicht „ Gesetz “, sondern „ Weisung “ heißt, längst vergangenen Zeiten mit uns herum! ist hoch bedeutsam. Denn ein Gesetz ist Wie habe ich manchmal gestöhnt, eine harte Sache; eine Weisung ist ein dass ich vor lauter Erläuterungen alter freundschaftlicher Hinweis. Aus ihm Begriffe und Lebensformen nicht zum spricht mehr der „Gott meines Alters“ – Eigentlichen gekommen bin. Natürlich hat seine Güte und Liebe, auf die Jesus Fulbert Steffensky Recht, wenn er meint, immer wieder hingewiesen hat. dass vom Ritual eine geheimnisvoll-kon- Junge Leute haben mit der alten zentrierende Kraft ausgeht. „Form und Sprache oft große Schwierigkeiten. Es ist Ritual schaffen Realität, die ohne diese auch wichtig zu bedenken, dass es viele nicht zu haben ist“ 124 . Wenn aber der Wörter gibt, die im Laufe der Jahrzehnte Inhalt durch eine noch so gute Form nicht und Jahrhunderte ihre Bedeutung geän- mehr sichtbar wird, so muss eine Ände- dert - nicht nur verloren, sondern sogar rung ins Auge gefasst werden. Außerdem ins Gegenteil verwandelt haben. Das klas- gibt es ja auch „eine Versklavung des sische Beispiel ist das Wort Gift . Noch im Menschen durch die falsche Formel und Mittelalter freute man sich, wenn man Gift das Zeremoniell“ 125 . Wer denkt da nicht an erhielt, denn es hieß Geschenk, Gabe . die verhängnisvolle Anwendung alter und Heute ist es ein Fall für die Kriminalpolizei, bewährter Formen und Formeln bei den wenn man jemandem Gift gibt. In der eng- meisten pompösen Großveranstaltungen lischen Sprache hat sich die alte Wortbe- der NS-Zeit? deutung erhalten, ebenso im Deutschen Wir „Alten“ lesen noch die Bibeltexte bei Mitgift . Lessing 126 soll angesichts die- gern, wie sie Martin Luther ins Deutsche ser Probleme vom „ Garstigen Graben der übersetzt hat. Auch ich selbst mag sie so Geschichte “ gesprochen haben. Dieser immer noch am liebsten. Aber wenn ich „Graben“ der Bedeutungsveränderung von genau wissen will, „was da steht“, da Wörtern liegt nun einmal zwischen uns greife ich selbstverständlich nach einer und der Vergangenheit, und es ist ganz neuen Übersetzung. Wenn es z. B. um die und gar unsinnig, an diesen alten Wörtern sog. Urgeschichte (1. Mose 1, 1-11) geht, heute noch zu „kleben“, besonders wenn da nehme ich die von Martin Buber und sie in liturgischen Texten auftauchen.

123 (lat.) Kirche, sich immer wieder erneu- ernd. 124 aus „Das Haus, das die Träume ver- waltet“ / Fulbert Steffensky - Würzburg: echter-Verlag, 1998. 126 Gotthold Ephraim, 1729 – 1781, dt. 9. unveränderte Auflage 2006, Seite 97. Dichter und Kritiker, bedeutender Vertre- 125 ebenda, Seite 97 ter der Aufklärung. 160 Ein Blick in die Politik Aus dem Bereich der Politik gibt es Sein Nachfolger wurde Kiesinger 129 , immer wieder etwas zu berichten, auch der vorher Ministerpräsident von Baden- wenn es für den RU nicht relevant 127 war. Württemberg war. In Erinnerung ist mir, Noch Ende der 60er Jahre bewegte die Welt- dass ihn die „Nazijägerin“ Beate Klarsfeld öffentlichkeit die Ermordung Martin Luther im November 1968 auf einem Bundes- Kings (1968), der als Baptistenpfarrer im parteitag der CDU eine Ohrfeige gegeben Süden der USA durch sein Eintreten für die und dabei laut „Nazi, Nazi, Nazi!“ gerufen farbige Bevölkerung und als gewaltloser hat. Sie wurde in Handschellen abgeführt Kämpfer für die Bürgerrechts-Bewegung und am selben Abend (!) noch wegen bekannt wurde. Er war mehrfach inhaftiert Beleidigung und Körperverletzung zu und erhielt 1963 den Friedensnobelpreis. einem Jahr Haft ohne Bewährung ver- Eigentlich sollte ich noch etwas in urteilt. Vier Monate später – die schallende den „60ern“ bleiben. Denn was ist da noch Ohrfeige für den deutschen Regierungs- alles passiert! In Kürze wenigstens Fol- chef war längst um die Welt gegangen – gendes: Nachdem die CDU/CSU im Bun- wurde diese Strafe von der Berufungsin- destag die absolute Mehrheit verloren stanz auf vier Monate mit Bewährung her- hatte, trat Adenauer im Oktober 1963 abgesetzt. zurück. Ihn in aller Breite zu würdigen, ist Durch ihre Tat ist bekannt geworden, hier nicht der rechte Ort. Er war ein Fuchs dass K. jahrelang in Ribbentrops 130 Außen- und konnte sehr witzig und schlagfertig ministerium eine für die Auslandspropa- sein - aber auch sehr bissig, wenn nicht ganda zuständige Abteilung geleitet hat gemein. Zwei Beispiele: Als Herbert Weh- und für die Verbindung zu Goebbels Pro- ner (SPD) in einer Bundestagsdebatte paganda-Maschine verantwortlich war. Es einmal erklärte, er könne schließlich nicht war ihr durch ihre jahrzehntelange „Jagd“ verlangen, dass man auf alle seine Forde- auf Nazi-Täter zu verdanken, dass sie rungen mit Ja und Amen antworte, meinte zusammen mit ihrem Ehemann Serge Adenauer, er müsse auch nicht ja und nicht wenige im Versteck und unter uns amen sagen, ihm genüge, wenn er ja lebende ehemalige NS-Schreibtisch-Täter sage. Willy Brandt sprach er mehrfach mit und -Mörder vor Gericht brachte. „Herr Brandt alias Frahm“ an und warf ihm Kiesingers Regierung war möglich, damit indirekt vor, dass er in der NS-Zeit da zusammen mit der SPD eine sog. nicht in Deutschland geblieben war. Dabei Große Koalition gebildet werden konnte. war ihm bestimmt bewusst, dass es bei Außenminister und Vizekanzler war Willy dieser Entscheidung für Willy Brandt (bei Brandt 131 . Als 1969 Gustav Heinemann mit seiner politischen Vergangenheit) um Kopf den Stimmen der FDP zum Bundespräsi- und Kragen ging. Der „Alte von Rhöndorf“ denten gewählt wurde, zeichnete sich die lebte noch kurze Zeit auf seinem Wohnsitz kommende Wende in der deutschen Poli- hoch über dem Rhein – von dem er diesen tik ab. Namen hatte - und verstarb im April 1964.

Sein Nachfolger im Bundeskanzleramt war 129 Ludwig Erhard 128 . Kurt Georg, 1904 –88, dt. Politiker Er war in Adenauers Kabinett Wirt- (CDU), Jurist, 1949 - 58 und 1969 - 80 MdB, 1958 – 66 Min.Präs schaftsminister gewesen. Ihm traute der v. Baden//Württemberg, 1966 – 69 Bun- „Chef“ nicht viel zu; dennoch ging er in die deskanzler, 1967 – 71 Bundesvors. d. Geschichte der Bundesrepublik als der ein, CDU. der die von der sog. „Freiburger Schule“ 130 Joachim von, *1893, schloss 1939 als entwickelte „Soziale Marktwirtschaft“ in die dt. Außenminister den Nichtangriffspakt Praxis umsetzte. Leider wird sie heute im (1939) mit der Sowjetunion, im Nürnber- ger Hauptkriegsverbrecher-Prozess 1946 Zeichen der Globalisierung stark vernach- zum Tode verurteilt.. lässigt. Er gilt allgemein als der „Vater des 131 Willy, 1913 – 92, früher Herbert Frahm, deutschen Wirtschaftswunders“. Aber schon dt. Politiker (SPD), 1949 – 57 und seit 1966 musste er aufgeben, weil die FDP- 1969 MdB, Journalist, emigrierte 1933 Minister seines Kabinetts zurücktraten. nach Norwegen, 1936 im Untergrund in Berlin, 1940 Flucht nach Schweden, 1945 Rückkehr nach Deutschland, Wiederein- 127 (lat.-frz.)bedeutsam, wichtig. bürgerung unter seinem Schriftsteller- 128 1897 – 1977, dt. Politiker (CDU),, Pseudonym Brandt, 1957 - 66 Regieren- Volkswirt, an der Währungsreform(1948) der Bürgermeister von Berlin (West), 1964 maßgebend beteiligt, 1949 – 1976 MdB; – 87 Vors. der SPD, 1969 – 74 Bundes- Vizekanzler 1957 – 63, Kriegsteilnehmer kanzler, 1976 – 92 Vorsitzender der 1916 – 18, vor Ypern schwer verwundet. Sozialist. Internationale. 161 Meine „Nebenberufe“

In der Mitte der 60er Jahre erhielt ich musste auch evangelischer Religionsun- gleich zwei nebenberufliche Aufträge als terricht angeboten werden, und so wurde Religionslehrer. In Bad Homburg unter- ich gebeten, diesen Auftrag zu überneh- hielten im Hochtaunuskreis arbeitende men. Obstverwertungs-Fabriken eine kleine In mehrfacher Hinsicht war dies sehr Schule für im Bundesgebiet arbeitende angenehm. Abgesehen von der Bezahlung Auszubildende in diesem Gewerbe. Dies (für mich als Bauherr höchst willkommen), geschah in Form des Blockunterrichts, d. war auch hier eine besondere Vorberei- h. der Unterricht fand mehrere Wochen tung nicht nötig, da ich Themen aus dem lang Tag für Tag statt. Laut Gesetz musste Unterricht an der BS verwenden konnte. auch Religionsunterricht erteilt werden. Die Gesamt-Atmosphäre gefiel mir nicht Die Aufgabe war für mich nicht schwer, da besonders, vor allem wegen der strengen ich aus meinem Repertoire geeignete Disziplin. Davon konnte ich trotzdem in Stundenentwürfe verwenden konnte. Die meinen Stunden eher profitieren, da ich Schüler waren erstaunlich hoch motiviert hier und da großzügig sein und mehr Frei- und diszipliniert. Das lag wohl auch daran, heiten gewähren konnte. Die Schülerinnen dass sie sich dessen bewusst waren, in waren sehr aufgeschlossen, und somit ihrem Beruf ein Produkt herzustellen, das gab es ein gutes Unterrichts-Klima. Auch im Gegensatz zu den alkoholischen gelang es mir gelegentlich, die Rechte der Getränken mit gutem Gewissen vertrieben Schülerinnen bei Konferenzen zu vertre- werden konnte. Und das war auch ihr ten. Dennoch war ich im Kollegium der Stolz. Ein nicht geringer Vorteil für mich Schwestern „Hahn im Korb“, da ich - bestand darin, dass ich - außer der außer dem Englischlehrer - der einzige Bezahlung für die gegebenen Stunden - Mann war. Besonders gut verstand ich Obstsäfte der verschiedensten Art zum mich mit der Direktorin Mater Bernada. Mit Vorzugspreis erhalten konnte. ihr hatte ich oft sehr gute Gespräche, In Bad Homburg existiert noch heute zumeist über Glaubensfragen. Wen wun- seit über 100 Jahren (1899) die Maria- dert´s? Ganz offen erklärte sie mir Ward-Schule. Ende des Jahrhunderts über- irgendwann einmal, sie denke sehr oft, der nahmen von Aschaffenburg (damals Aus- Herr Knopf sei ein prima Kollege; sein ein- land: Bayern!) kommende „Englische Fräu- ziger „Fehler“ sei: er ist nicht katholisch. lein“ den Dreikaiserhof, ein stattliches Anwe- Darüber haben wir beide herzlich gelacht. sen am Rand des Kurparks, der hier in ein Denn ich wusste, wie es gemeint war. größeres Waldgebiet übergeht. Es war Einmal im Jahr gingen alle Klassen vorher eine Kurpension, die den Namen zum „Exerzitium“, die katholischen Schüle- von den Besitzern zur Erinnerung an das rinnen zumeist in irgend ein Kloster. In „Dreikaiser-Jahr 1988“ (Wilhelm I., Fried- dieser Zeit veranstaltete ich mit den evan- rich III und Wilhelm II.) erhalten hatte. gelischen in einem Jugendheim so etwas „Englische Fräulein “ deshalb, weil die Grün- wie eine „Freizeit“. Natürlich musste eine derin des Ordens, Mary Ward, Englände- weibliche Lehrperson dabei sein. Dazu bat rin war und der Orden auch dort bestand. ich eine Kollegin aus meiner Berufsschule, Mit „Engeln“ hat der Name also nichts zu für die diese Woche eine angenehme tun, obwohl den Schwestern die Ver- Unterbrechung ihres Unterrichts bedeu- wechslung nicht gerade unangenehm war. tete. Auch da war ich wegen des Pro- Diese Schule – heute Berufsfach- gramms nicht verlegen: Aus der Zeit mei- schule, Realschule und Höhere Handels- ner Jugendarbeit mit Jungen gab es schule – nimmt auch evangelische Schüle- genug, mit dem man auch Mädchen rinnen auf und beweist so ökumenische begeistern konnte. In der Adventszeit kam Offenheit. Ihr Ruf ist weit über Bad Hom- sogar einmal der Nikolaus mit Knecht burg hinaus ausgezeichnet, und es ist Ruprecht. Zwei ehemalige Mitarbeiter schon eine Empfehlung, wenn ein Mäd- spielten nur allzu gerne gekonnt und mit chen bei einer Bewerbung sagen kann: Begeisterung diese Rollen. Und es war für „Ich komme vom Dreikaiserhof“. Natürlich alle eine Mordsgaudi. 162 Für eine Tätigkeit wurde ich von Schülerwünschen nachzugeben und hier allen, sogar von meiner Frau, beneidet: und da einen ganzen Film vorzuführen, Wenn zum Schuljahrsende die praktischen ohne die in ihm behandelten Probleme zu Prüfungen in der Haushaltsabteilung besprechen. Für die gesamte Schule stattfanden, dann gehörte ich zu denen, wurde ich immer mehr zu dem Fernseh- die all die lukullischen Kostbarkeiten fachmann, der auf Wunsch der Kollegen beurteilen „mussten“. Dazu wurden auch Sendungen mitschnitt, sie dann für ihren Honoratioren der Stadt Bad Homburg ein- Unterricht aufbereitete und ihnen zur Ver- geladen. Und so saß ich dann gelegentlich fügung stellte. Wie schon erwähnt, war beim Prüfungsessen neben dem Bürger- das an Vormittagen Doras Sache. Ich aber meister oder dem Landrat und bremste sie erhielt für diese Tätigkeit Stundenermäßi- „untertänigst“ (nach eigener Erfahrung!), gung, übrigens auch nach amtsärztlichem wenn sie allzu gerne zulangten – und Attest aus „gesundheitlichen Gründen“. dann womöglich am Ende nicht mehr Schließlich bot ich mit einem ausführli- „konnten“. chem Aushang Mitschnitte an, die ich Ein wahrer Nebenberuf für mich war selbst (oder Dora) aus dem wöchentlichen der Garten am Haus. Als wir ihn anlegten, Schulprogramm aus eigenem Gutdünken ahnte ich nicht, wieviel „G´schäft“ (schwä- oder auf Wunsch der Kollegen herstellte. bisch) mir dieses „Hobby“ einbringen Eine weitere Stundenermäßigung würde. Es artete oft in harte Arbeit aus. (zwei Wochenstunden) erhielt ich nach Wer einen Garten hat, weiß wovon ich einer Wirbelsäulen-Operation, bei der zwei rede. Man sieht leider oft nur das, was Bandscheiben nach einem Vorfall entfernt man nicht getan hat. Natürlich war die und die entsprechenden Wirbel versteift Freude groß, wenn die Erntezeit nahte. worden waren. Ein Reha-Aufenthalt in Besonders für die Kinder war es schön, einer Spezialklinik in Isny im Allgäu ein paar Himbeeren, einen reifen, dicken machte mich zwar wieder dienstfähig; aber Pfirsisch (Bild 51), Stachelbeeren oder das Ende meiner Berufstätigkeit deutete sonst etwas Süßes da zu naschen, wo es sich am Horizont doch schon an. gerade wuchs. Im Winter fassten die Zu einer gemeinsamen Vorbereitung Obststeigen im Keller kaum all die Köst- der einzelnen Unterrichtsstunden traf ich lichkeiten. Da Dora im Gemüsegarten mich mit Lore und Wolfgang Cordes fast ähnliche Erfolge erzielte, war unser Haus- jede Woche bei uns. Sie kamen dazu von haltsgeld-Konto nie zu knapp. ihrem Wohnort Büdingen „herüber“ gefah- Natürlich brachte der Tag auf diese ren. Dann saßen wir zusammen und ent- Weise viel Arbeit – besonders für die warfen in Gemeinschaftsarbeit die näch- „Hausfrau“. Wie ich hatte auch sie den sten Unterrichtsstunden. Und wenn sie Ehrgeiz, möglichst alles selbst zu machen. dann erprobt waren, fand so etwas wie Mutter von drei Kindern, im Alter so dicht eine Manöverkritik statt, bevor es an die beieinander, war für sie keine Kleinigkeit. nächste Stunde ging. Dora sorgte dabei Da ich beruflich und durch manche Ehren- für unser leibliches Wohl, auch wenn wir ämter viel außer Haus war, trug sie so gut sie lieber mitarbeitend bei uns gesehen wie die gesamte Verantwortung. Kuren, hätten. Sie wäre als ehemalige Lehrerin wie ich sie alle zwei Jahre genießen eine gute Beraterin gewesen – sicher auch konnte, waren für sie vor allem wegen der nicht ohne eigenen Gewinn. Für uns alle Kinder nicht denkbar. Es musste über kurz waren diese „Aktionen“ insofern eine feine oder lang eine bessere Lösung gefunden Sache, als wir dabei immer mehr zu guten werden. Wenn sie hier und da stöhnte, Freunden wurden. Sie bekamen sogar versprach ich ihr, dass eine gründliche unseren Kinder sehr gut. Dies zeigte sich Änderung spätestens beim Beginn meiner nicht nur an den Büdinger Lebkuchenhäu- Rentenzeit eintreten würde. Und die war ja sern (Bild 52) die zur Adventszeit fast zur nicht mehr fern! Tradition wurden. Besonders Werner In der Schule war das tägliche interessierte sich sehr für die Bastelarbei- Durcheinander allmählich zur Ordnung ten von „Onkel Wolfgang“. Es ist anzu- geworden, an die man sich gewöhnen nehmen, dass sein handwerkliches musste. Das Fernsehen im Klassenzim- Geschick, das sich besonders bei seinem mer brachte nicht die erhoffte Konzentra- Hobby Modellbahnbau und später in sei- tion auf das Wesentliche des Religions- nem Beruf als Zahnarzt zeigte, von ihm unterrichtes. Es wurde zur Versuchung, angeregt worden ist. Bild 51 Reichlicher Pfirsichsegen in unserem Garten

Bild 52 Das Büdinger Lebkuchenhäuschen 164 165 Die Familie („en detail“)

Allmählich wuchsen die Kinder aus Fehler unterlaufen war: Die drei „Männer“ dem Grundschulalter heraus und wech- und auch Dora waren voller Begeisterung selten nacheinander aufs Gymnasium. beim Aufbau der Bahn, während Elisabeth Das war im Anfang relativ problemlos. Sie seitab sich still mit ihrem Puppenhaus brachten gute Zeugnisse, und die Eltern beschäftigte. Niemand von uns nahm von waren zufrieden. In der Freizeit entwik- ihr und ihrem Geschenk Notiz, bis sie kelten sie verschiedene Interessen. plötzlich in unserer Mitte stand und meinte Eine Tischtennisplatte, die wir durch „Mein Puppenhaus ist doch auch schön!“ die Vermittlung unserer Freunde Cordes Es war ein Szene zum Erbarmen, und uns aufstellten, weckte die sportliche Begeiste- beiden, Dora und mir, durchfuhr ein rung unserer Drei. Wilhelm brachte es Schrecken darüber, was wir womöglich an später als Mitglied im Tischtennis-Verein diesem Abend versäumt hatten. sogar zu beachtlichen Erfolgen. Elisabeth Nach dem Fest inserierte ich im Bad lernte verhältnismäßig früh das Schwim- Homburger Taunusboten wegen Schie- men und wurde als Mitglied im DLRG nen. Es meldete sich leider nur eine ältere (Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft) Dame mit einer runden Schiene. Fast sich zur Rettungsschwimmerin ausgebildet. entschuldigend brachte sie noch drei Werner zeigte technisches Interesse nicht überlange (52 cm) D-Zugwagen, die sie nur beim Spiel mit Legosteinen, sondern uns pro Stück für 25 DM anbot. Wir nah- auch mit dem Märklin-Metallbaukasten. men sie mit, obwohl wir noch gar nicht Irgendwann Ende der 60er Jahre recht wussten, wo sie wegen ihrer außer- kam Hermann Schröder plötzlich mit gewöhnlichen Länge rollen sollten. einem Sammelsurium von Teilen einer Aber eines Tages brachte uns Lores alten Spur-I Blecheisenbahn: Waggons Vater Schienen in großer Zahl und ver- der verschiedensten Art, eine Zweiachs- schiedenes rollende Material. Er wollte es Elektrolok, die Hälfte des zweigeteilten uns leihweise bis auf Weiteres überlassen. Stuttgarter Bahnhofs und einen original Es war ihm gelungen, dieses Blechspiel- Märklin-Transformator. Leider waren nur zeug, mit dem seine Kinder (und er!!) vor wenig Schienen dabei. Ich verpackte alles und im dem Krieg gespielt hatten, durch in einen großen Karton, den ich im Keller die Bombennächte der alliierten Luftan- versteckte. griffe auf Frankfurt zu retten. Am darauffolgenden Weihnachtsfest Das war ein Jubel im Hause Knopf (Bild 53) wurde sein Geheimnis freigege- (auch beim Vater)! Im Bubenzimmer des ben und die inzwischen von mir heimlich 1. Oberstocks (Bild 54) wurden nun die reparierte Bahn zum ersten Mal aufge- beiden Betten auf Ziegelsteine gestellt, baut. Akkustisch ist der Abend dokumen- unter denen die Bahn hindurch fuhr und tiert, denn ich nahm die ganze Szene mit somit ein großer Tunnel geschaffen war. dem Tonbandgerät auf. Die Freude bei Als Vater Simon einige Tage später die allen ist deutlich zu hören. Wilhelm Anlage besichtigen kam, hätte er wohl am bewunderte vor allem den Schneeräumer- liebsten gleich selbst mitgespielt. Waggon: „Aber es ist doch gar kein In einer Zimmerecke standen an Schnee im Zimmer!“ Später habe ich ihn diesem Tag – nicht auf Schienen – die drei zum Packwagen umgebaut – leider! Denn gekauften langen D-Zug-Wagen. Vater er erwies sich bei Versteigerungen, die ich Simon fragte, warum sie nicht mitrollten. besuchte, um die Anlage mit dem Nötig- Wir erklärten ihm, dass sie auf den (durch sten zu ergänzen, als wertvolles, weil sel- die Zimmermaße bedingten) engen Schie- tenes Unikat. Elisabeth bekam ein eben- nenradien immer wieder entgleisten. Ihm falls von mir aufgearbeitetes Puppenhaus, gefielen sie – kein Wunder! Da kaufte er schön eingerichtet und mit elektrischem sie mir zu demselben Preis ab, der von mir Licht und einem richtigen Küchenherd. verlangt worden war. Später fiel mir die Erst einige Zeit danach, beim Abhö- Geschichte von Tünnes und Schäl ein, die ren des Tonbandes, stellten Dora und ich als Angler die großen Fische wieder ins fest, dass uns an jenem Abend ein – viel- Wasser warfen, weil daheim ihre Pfanne leicht folgenschwerer – pädagogischer zu klein war. 166 Schließlich erhielt ich doch noch meine Geige zwar aus ihrem jahrelangen eigene Schienen. Auf dem Dachboden Schlaf wecken. Leider war auch das mit einer Homburger Familie lag „so Blech- einem Haken verbunden: Schon als zeug“ herum, das man loswerden wollte. Schüler hatte ich mir im Chemiesaal an Es waren Spur-I-Schienen und sonstige den Klappsitzen die Kuppe des linken Blech-Eisenbahn-Teile. Alles sah aller- kleinen Fingers abgeklemmt. Der „Rest“ dings aus, als sei ein Elefant darüber spa- war nach der Heilung (bis heute) zu emp- ziert. Damit erfuhr mein Hobby eine inter- findlich, um beim Spiel auf eine Saite essante Ausweitung: Restaurierung. In gedrückt zu werden. Außerdem war ich in meiner Werkstatt wurden die Teile repa- der Zeit des Krieges und der Gefangen- riert, auch wenn z. B. das Richten der ver- schaft aus der Übung gekommen. beulten Schienen keine Kleinigkeit war. Ein gebrauchtes, gutes Klavier hat- Aber wozu hatte ich einmal den Beruf ten wir mit Hilfe meines Schulkollegen Mechaniker erlernt? Nun schenkte mir Fritz Schildt, der uns als gelernter Orgel- diese Familie – als sie das Ergebnis sah – bauer gut beraten konnte, erstehen kön- eine Märklin 5-Achs-Tender-Lokomotive, nen. Eine Spitzenleistung war aber trotz- die seither als Schaustück hinter Glas dem nicht zu erwarten, da die Klavier- gestanden hatte und einen Blechbahnhof. spieler in spe über Anfänge nicht hinaus Allmählich hatte ich auf diese Weise eine kamen. Natürlich war die Klavierlehrerin beachtliche Spur-I-Anlage, mit der ich schuld: „Es war immer so langweilig“. So mich auf verschiedenen Modellbahn-Aus- konnten wir, Dora und ich, z. B. an Weih- stellungen unter dem Titel „Großvaters nachten nur mit Flöte und Geige – so recht Spiel-Eisenbahn“ sehen lassen konnte. und schlecht (aber mehr schlecht als (Bild 55) Sie bestand nun aus fünf recht) - den Gesang unserer Drei beglei- getrennten Schaltkreisen mit darauf fah- ten. renden fünf Zügen. Die Oberschule war bei unseren Da diese Anlage zum Spielen für Kindern so ab Klasse 7 ein Drama. Vor- Kinder zu kostbar war, leisteten wir uns weg will ich aber gleich jetzt zu ihrer Ehre eine Lehmann-Gartenbahn, die an berichten, dass sie zum Schluss dann Geburtstagen und Weihnachtsfesten doch noch die Scharte mit Bravour aus- ergänzt und ausgebaut wurde. Sie zog wetzten. Es mehrten sich die Blauen sogar mit nach Simmertal um und gab Briefe. Immer öfter wurde ich einbestellt, auch hier Anlass zu Eisenbahn-Familien- sogar bei dem Herrn Direktor Dienemann. treffen. Hier fuhr sie als Bergbahn mit Da hatte z. B. sich Werner während einer Tunnel, zwei Schaltpulten (mit drahtloser ausfallenden Unterrichtsstunde aus dem Verbindung zur gegenseitigen Verständi- Schulbereich entfernt und war mit seinem gung), elektr. Weichen u. Kupplungs- Fahrrad nach Hause gefahren. Das schienen, sowie mit mehreren abschaltba- geschah in der Zeit, in der er sich im ehe- ren Abstell-Gleisen. (Bild 56) maligen Ölkeller unseres Hauses, der Die folgenden Zeilen schreibe ich durch die Umstellung der Heizung auf Gas nach einer längeren Pause von einigen frei geworden war, seine erste Modellbahn Monaten am 1. August 2007 – genau 50 baute. Von mir zur Rede gestellt, meinte Jahre nach meiner Hochzeit am 1. August Werner, da hätte er seine Zeit sinnvoller 1957 mit meiner Dora. Wenn sie noch genutzt. Der Direx hatte dafür kein Ver- lebte (  10.11.1993), feierten wir heute ständnis. Er nahm den „Vorfall“ sehr ernst: unsere Goldene Hochzeit. „Der Herr hat´s Die Schulordnung war verletzt, und das gegeben, der Herr hat´s genommen; der wog mehr als alle vernünftigen Überle- Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob 1, 21). gungen. Da kam mir bereits der Verdacht, Werner und Elisabeth gingen in den dass dieses „Kaiserin-Friedrich-Gymna- Klavier-Unterricht. Wilhelm lernte Block- sium“ (KFS) - auch Kaiserin Friedrich flöte spielen, und es sah eine Zeit lang so Schule genannt - bei manchen Entglei- aus, als ob wir in nicht allzu großer Ferne sungen meiner Kinder vielleicht doch nicht Hausmusik veranstalten könnten, denn so unschuldig war. Ich wurde an meine Dora spielte ja perfekt Blockflöten aller Schulzeit erinnert. Größen. Außerdem hatte auch sie das Es passte so recht zur Stadt Bad Klavierspiel erlernt (aber inzwischen das Homburg: War es zu meiner Zeit mein Meiste wieder vergessen). Ich konnte nicht-akademisches Elternhaus (meine Bild 53 Weihnachtsfest Bild 54 Die alte Eisenbahn 168 Bild 55 „Großvaters Spiel-Eisenbahn“

Bild 56 Die Gartenbahn in Simmertal 170 171 Herkunft aus „einfachen Verhältnissen“, meine Not gehabt. Nur die letzten Monate wie man so zu sagen pflegte), so spielte vor der Versetzung in die Obersekunda hier in mancherlei Weise die Wohlhaben- (Mittlere Reife) wurden dramatisch: Er heit der Familie eine offene oder geheime wollte absolut nicht das Abitur machen Rolle. Ob es die betroffenen SchülerInnen und hatte schon seine „Fühler“ ausge- gespürt haben? Es war schon ein Unter- streckt nach einer Lehrstelle. Sein Hobby schied, wieviel Taschengeld bei einem war inzwischen Moped fahren und reparie- Ausflug oder einer sonstigen Exkursion ren. Daraus folgte: Für ihn kam nur eine man bei sich hatte und wie man damit Autoschlosser-Lehre in Frage. Nun hatte umging. ich als alter Autofahrer schon viele Kfz.- Ich höre mit großer Freude, dass Reparatur-Werkstätten gesehen und dabei sich die Verhältnisse inzwischen gebes- immer gedacht: Da möchte ich nicht sert haben sollen, denn auch die dort arbeiten. gebräuchliche Pädagogik war reichlich Wie sollte ich diese Erfahrung Wil- merkwürdig. Ich erinnere mich eines helm vermitteln? Mit den berühmten Elternabends für Elisabeths Klasse. Die „Menschen- und Engelszungen“ war nichts Lehrerin Dr. F. (älterer Jahrgang) be- zu machen. Da alarmierte ich einen alten schwerte sich immer wieder über die Dis- Bekannten und Freund aus meiner ziplinlosigkeit der Klasse. Die Jugend sei Jugendarbeits-Zeit, Ernst Leutheusser. heutzutage so oberflächlich. Es müsse ja Den kannte und schätzte auch Wilhelm. schließlich nicht jedes Kind aufs Gymna- Aber auch da reichten Worte nicht aus. So sium, es gebe ja noch andere Schulen! Im organisierten wir einen Besuchs- und Verlauf der Unterrichtsstunde muss sie Gesprächstermin: Mit dem Chef einer der wohl auch in ähnlicher Weise gedroht renommiertesten Autowerkstätten im haben. Interessant war, dass die Eltern Frankfurter Raum trafen wir uns zu dritt in Zustimmung zeigten. dessen Werkstatt in Niederursel. Hier Ich konnte es mir nicht verkneifen, wurden z. B. auch Rennwagen getunt, auf meine Erfahrungen an der Beruflichen also nicht nur einfache Reparaturen Schule hinzuweisen, wo uns das (zweifel- durchgeführt. hafte) Mittel der Drohung mit „Versetzung Dieser Tag wurde zum Wendepunkt nach unten“ fehle, es aber durchaus in unserem Problemfall. Der Meister führte andere Möglichkeiten gebe, eine zufrie- uns durch die Werkstatt. Da stand auch denstellende Arbeitsatmosphäre in einer eine Drehbank; aber er meinte sogleich, Klasse herzustellen. Eine Putzfrau dass mit dieser Maschine kein Staat zu beschwere sich schließlich doch auch machen sei. Drehen könne man auf ihr nicht über den Schmutz in einer Wohnung. nicht lernen. Er machte am Ende Wilhelm Wenn ich dachte, dass die Eltern wenig- folgenden Vorschlag: „Mache in einer stens jetzt zustimmten, so hatte ich mich Metall-Werkstatt eine Schlosser-, Mecha- getäuscht. niker- oder Werkzeugmacher-Lehre. Und Werner war alles andere als ein wenn du dann noch Lust zum Autoschlos- Musterschüler. Als ihm der Deutschlehrer ser hast und einen guten Abschluss der drohte: „Knopf, noch einen Pieps und du Lehre in der Tasche, dann komme zu mir. fliegst raus!“, machte mein Sohn die Probe Ich verspreche Dir heute schon, dass ich aufs Exempel und piepste mal eben. Die- Dich bestimmt als Autoschlosser ein- ser Lehrer gab auch in unserer Schule stelle.“ aushilfsweise Deutschunterricht, und ich Damit gab sich Wilhelm zufrieden. Er kannte daher seine Qualitäten. Es fiel mir fand auch bald eine Lehrstelle bei nicht leicht, Werner klar zu machen, dass Daimler-Benz in Bad Homburg, einem es (trotz des pädagogischen Kardinalfeh- Nebenwerk dieser bekannten Autofirma. lers) nicht richtig sei, den Lehrer in dieser Als er dort die Lehrwerkstatt sah und Weise herauszufordern. Tages-, Wasch- und Umkleideraum, da Wilhelm war durchweg ein braver hatte der Meister leichtes Spiel, umso Schüler, vielleicht auch etwas zu brav. mehr als er meinte, er würde Wilhelm Jedenfalls habe ich diese Erinnerung. Nur auch ohne Mittlere Reife – und zwar sofort mit dem Religionslehrer kam er nicht recht – einstellen. Da gab es bei meinem klar. Wenn ich heute so zurückdenke, Jüngsten kein Halten: Endlich die lästige muss ich sagen: Mit dem hätte auch ich Schule los sein! 172 Er hat aber dann doch noch die Schule, dass eines Tages mich ein mir gut Schule mit dem ordentlichen Abschluss bekannter Kollege fragte, ob ich jetzt auch beendet, was allerdings dem Meister (er in der KFS Religionsunterricht erteile. hatte den Spitznamen „der laufende Zum Glück war gerade kurz vorher Meter“ – wegen seiner Körpergröße) nicht an meiner Schule die Oberstufe eines gefiel. Ihm war damit wieder ein Schlosser Technischen Gymnasiums eröffnet wor- entgangen, der als Geselle den spleeni- den. Werner wechselte mit der Oberse- gen Wunsch äußerte, nicht in der Werk- kunda-Reife (und dem „kleinen Latinum“) statt zu bleiben, sondern beruflich aufzu- zu uns, denn sein Berufsziel war inzwi- steigen. Übrigens erklärte Wilhelm nach schen Ingenieur. Hier „ging er auf wie ein Ablauf der halben Lehrzeit: „Jetzt bin ich Kreppel“ (wie man auf Frankfurterisch zu wieder ganz geil auf Schule“. Ein Mann – sagen pflegt – auf Hochdeutsch: Krapfen). ein Wort: Er beendete mit dem Gesellen- Ihm imponierte vor allem der Arbeitsfleiß brief die Lehre, drückte noch drei Jahre seiner neuen Lehrer. Das hatte seinen die Schulbank des Technischen Gymnasi- Grund darin, dass für diese neue Schul- ums und verließ es mit dem Abitur. form noch keine Lehrbücher vorlagen und Dieser Weg (Mittlere Reife, vor allem daher die Fachlehrer genötigt waren, das Metaller-Lehrzeit, Gesellenprüfung, Inge- Unterrichtsmaterial für die Hand des nieur-Studium – Beruf) hat sich bewährt. Schülers selbst herzustellen. Aus dem Gerade dieser Tatsache, dass er zwar auf aufsässigen Schüler war ein motivierter das Abitur verzichtet, aber dafür eine gute geworden. handwerkliche Lehre absolviert hat, ver- Seine Lieblingsfächer waren – zum dankt er seit 1994 seine jetzige Stelle bei Leidwesen der technischen Lehrer - der Berufsgenossenschaft. Die Praxis war Deutsch und Englisch. Der Deutschlehrer wohl der Hauptgrund seiner Auswahl unter war Wolfgang Jost und der für Englisch vielen Bewerbern. Björn Ulf Noll. Als es aufs Abitur zuging Elisabeth schaffte auch noch die und es im Abschlusszeugnis wegen des Obersekunda-Reife und besuchte anschlie- Numerus clausus 132 auf Zehntelnoten ßend die einjährige Höhere Handels- ankam, forderte ihn einer der Fachlehrer schule. Eine Großhandels-Lehre, die sie auf, in anderen Fächern zu Gunsten der begann, befriedigte sie wenig und brachte technischen etwas kürzer zu treten. Das viele Probleme. Auch sie entschloss sich lehnte er rundweg ab. Für diese Zumutung dann doch noch, das Abitur anzustreben, gab ihm Werner die gebührende Antwort was ihr – ganz ohne unsere Hilfe – gelang. in seiner Abiturrede, die er als Klassen- Sie begann das Studium der Romanistik primus halten durfte. In ihr sagte er u. a.: an der Frankfurter Universität und befolgte bei der Frage seines künftigen Berufes den Rat eines ihrer Dozenten, einige habe er sich entschlossen, alle Berufe Semester in Frankreich zu studieren, um anzusteuern, nur keinen technischen. Das ihre französischen Sprachkenntnisse zu gefiel verständlicherweise den Fachidioten vervollkommnen. Nach dem Ende des unter den technischen Lehrern nicht. Einer laufenden Semesters ging sie nach Aix en von ihnen wollte mich als den „Erzeuger Provence. Dieses Studium hat sie eines dieses Schülers“ wegen seiner Äußerung Tages abgebrochen und in Cadaquès zur Rede stellen. Es war für mich eine (Spanien) ihren neuen Wohnsitz genom- gute Gelegenheit, ihm zu sagen, dass men. Dort genießt sie das ihr genehmere trotz Würdigung der Begeisterung für sein Klima und lebt heute noch zufrieden ohne Fach das Leben doch schließlich aus den Wunsch, ins kalte Deutschland mehr bestehe als nur Technik. zurückzukehren. Werner entschloss sich, Zahnmedi- Werner steigerte zwar seine schuli- zin zu studieren. Ein – sicher kleiner – schen Leistungen; aber sein von einigen Anstoß dazu war wohl auch ein Erlebnis Lehrkräften beanstandetes Verhalten ging Jahre zuvor bei seiner Zahnärztin. Dort in die entgegengesetzte Richtung. Man drohte ihm offen mit der schlechtesten Note im „Betragen“. Meine liebe Dora war 132 (lat. „geschlossene Zahl“), damals die entsetzt, denn in ihrer Lehrerinnen-Praxis beschränkte Zulassung von Bewerbern lag dies schon an der Grenze zum krimi- zum Hochschulstudium in der BRD. nellen Verhalten. Ich erschien so oft in der 173 beobachtete er gelegentlich einer Zahn- Entschluss begründen. Er argumentierte behandlung, wie nach dem Bohren der unter anderem, sein Vater sei im letzten Fräser in ein Gefäß geworfen wurde, also Krieg der einzige Überlebende seiner bei einem nächsten Patienten nicht mehr Familie gewesen; es sei ihm danach gebraucht wurde. Was mit diesen Bohrern unmöglich, eine Waffe in die Hand zu wohl geschehe, war seine Frage. Als die nehmen. Damit erreichte er die Anerken- Ärztin meinte, sie würden weggeworfen, nung als Wehrdienstverweigerer. Nach bat er sie , diese Bohrer für ihn aufzuhe- bestandenem Examen kam dann eine ben, er könne sie gut bei seinem Hobby kurze Ausbildung beim Arbeiter-Samariter- gebrauchen. Zur nächsten Behandlung Bund (ASB), nach der er dann als Zivil- solle er mal ein Muster seiner Arbeit mit- dienstleistender Kurse in Erster Hilfe bringen. Als sie dies sah, meinte sie, er durchführte und gelegentlich als Ret- solle Zahnarzt werden; er könne dann tungsassistent beim Einsatz des Ret- vielleicht sogar ihre Praxis übernehmen. tungswagens eingeteilt wurde. Am Carolinum der Universität Wilhelm konnte nach dem Abitur Frankfurt kam er mit der Abitursnote 1,3 auch nicht sofort sein Ingenieur-Studium problemlos an. Zuvor rief jedoch noch das beginnen, verweigerte ebenfalls den Waf- Kreiswehrersatzamt zur Musterung, ließ fendienst und erlangte mit ähnlichen danach aber lange nichts mehr von sich Argumenten wie Werner Befreiung. Im hören. Als man sich wieder wegen der Zivildienst wurde er in einem Sammellager Wehrpflicht meldete, konnte sich Werner für Flüchtlinge aus Afrika eingesetzt – ein wegen des inzwischen fortgeschrittenen harter Job, den er aus gesundheitlichen Studiums bis nach dessen Abschluss Gründen bald quittieren musste. Nun zurückstellen lassen. Er machte dann aber stand seinem Studium an der Fachhoch- von seinem Recht, den Kriegsdienst mit schule in Friedberg/Hessen nichts mehr im der Waffe zu verweigern, Gebrauch und Wege. musste dazu in einer Verhandlung seinen 174 Die Familie („en gros“)

In meiner, der Knopf-Familie, konnte Hans (Bild 57, er war einer meiner man sich nicht nur als Kind, sondern auch Taufpaten) hatte das Haus, das bei meh- als junger Mann und Erwachsener wohl reren Luftangiffen unbewohnbar geworden fühlen. Das dürfte der Leser von Teil I, war, selbst einigermaßen wieder her- „... wie es dir selber gefällt“ festgestellt gestellt, sodass man wenigstens im Keller haben. Der grausame Krieg und die Zeit mehr schlecht als recht existieren konnte. meiner sowjetischen Gefangenschaft (ins- Sein „Kriegseinsatz“ war womöglich der gesamt zehn Jahre) hatten mir alles fremd gefährlichste und schlimmste, den es gab: gemacht: Hanau war nicht mehr wieder zu Er wurde zum Leiter des Leichenber- erkennen. Vor allem der große Luftangriff gungstrupps für Hanau dienstverpflichtet am 19. März 1945 hatte es zu 80% zer- und hat wohl den Krieg in seiner schreck- stört. Meine Heimat war das nicht mehr! lichsten Form erlebt. Da meine „Lebens- Ich fand zwar bei meiner Heimkehr im zeichen“ an die Adresse meiner Eltern November 1949 noch Überlebende meiner unbeantwortet geblieben waren, hatte ich Verwandten vor. Mein Onkel Henri, der eine meiner „Rotkreuzkarten“ (mit 25 älteste Bruder meines Vaters, wohnte damals erlaubten Worten) aus Sevastopol („evakuiert“) mit seiner Familie nun an ihn geschrieben. Von ihm empfing ich außerhalb der Stadt, da sein Haus in der erst im zweiten Jahr meiner Gefangen- Steinheimer Straße total zerstört worden schaft die Nachricht, dass meine Eltern, war. Es lebte noch seine Frau, meine mein Onkel Karl mit Ehefrau Käthe und Tante Mina. Ebenso hatten ihre „Kinder“ Tochter Emmy bei dem großen Luftangriff und Enkel überlebt: der älteste Sohn Willy umgekommen waren. Und das knapp zwei mit Ehefrau Hanni und Tochter Anneliese; Monate vor Kriegsende! Die Alliierten Tochter Mathilde mit Ehemann Willi Truppen hatten zu diesem Zeitpunkt schon Buckel und Tochter Margot und Mathildes längst den Rhein überschritten. Schwester Anni, deren Ehemann Joseph Wurmer gefallen war. Den Krieg hatte meine Tante Marie Strobel, die zweite Schwester meines Vaters, mit Ehemann Hermann in Schmölln/Thüringen überstanden. Sie waren wohl am glimpflichsten durchge- kommen, da ihr Wohnort von Luftangriffen verschont geblieben war. In Hanau lebten auch noch meines Vaters älteste Schwe- ster, meine Tante Anna Reuling mit Sohn Hans und dessen Ehefrau Elisabeth und Tochter Eva. Von ihnen bin ich nach mei- ner Heimkehr aus der Kriegsgefangen- schaft die ersten Wochen sehr gastlich aufgenommen worden. Beide Brüder von Hans waren im Krieg umgekommen. Der jüngste, Willy, hatte in Stalingrad die Auf- gabe, im Befehlsbunker von Feldmarschall Paulus Einsatzkarten zu zeichnen, da ein Vervielfältigungsgerät nicht mehr zur Ver- fügung stand. Er starb dort an Ruhr und hinterließ seine Frau Friedel mit einer Tochter und zwei Söhnen. Henri, etwas Bild 57 Hans Reuling jünger als Hans, war noch in den letzten Tagen des Krieges in einem Lazarett ver- Der Ehemann meiner Tante Anna – mein storben, für seine Frau Ria ein schwerer Onkel Otto, nicht nur für die ganze Knopf- Schlag. Familie ein Muster von Korrektheit, 175 Gradheit, Ehrlichkeit – war auf tragische aus Ausweglosigkeit, Aussichtslosigkeit, ja Weise am 12. August 1948 verstorben: Verzweiflung hatten ihn offenbar umge- Am Vorabend übergab er vor dem Schla- bracht. Wie sollte er – der redliche, auf- fengehen sämtliche Schlüssel des Hauses rechte Familienpatriarch – sich in seiner seinem Sohn Hans, was er sonst nie zu Zerbrochenheit noch vor die Angehörigen tun pflegte. Am nächsten Morgen fand wagen? man ihn tot im Bett. Woran war er gestor- Sicher hatten sein Sohn Hans mit ben? Man rätselte: Selbsttötung war aus- Frau und Tochter die Hoffnung, dass nun geschlossen; es passte auf keinen Fall zu ich – der Heimkehrer – so etwas wie ein seiner Art; und es fehlten auch Beweise. Bruder werden könnte. Er hat (nicht zuletzt Irgend eine Erkrankung war ebenfalls aus- durch seinen Kriegseinsatz) eine innere zuschließen, denn er war kerngesund. Es Wandlung durchgemacht. Er ließ sich in kam schließlich nur eines in Frage: Nach- unserer Wallonisch-Niederländischen dem der Krieg ihm seine beiden hochta- Gemeinde ins Konsistorium (= Kirchenvor- lentierten Söhne genommen hatte, war stand) wählen, in dem er vor allem das das Leben im Keller des durch die wieder- Archiv verantwortete. Wie viele meiner holten Luftangrifffe unbewohnbar gewor- Freunde aus der Zeit der Jugendarbeit vor denen Hauses für die fünfköpfige Familie dem Krieg dachte er wohl auch, dass ich schier unerträglich geworden – er hatte es wieder aktiv in der Jugendarbeit Hanaus einst durch lebenslanges Sparen und flei- mitarbeiten würde. ßige Arbeit erworben. Aus den Trümmern Aber ich hatte ja ganz andere Pläne, versuchte er durch Abklopfen der Steine die in Gesprächen mit Freunden im Gefan- das notwendige Material zu bekommen für genenlager entstanden waren: Den Tatbe- einen provisorischen Wiederaufbau. Zum stand, dass ich durch den Tod meiner Glück brachte der Garten hinter dem Haus Eltern und meines Bruders nun ganz allein einige Ergänzung zu der kaum ausrei- und niemandem direkt verpflichtet war, chenden Lebensmittelkarten-Versorgung. wollte ich positiv ausnutzen. Sicher hätte Aber dazu war harte, ungewohnte körper- ich im Fall des Überlebens meiner Eltern liche Arbeit erforderlich, die er mit seiner sie unterstützen müssen. Mit meinem Bru- Enkelin Eva zu bewältigen versuchte. der war verabredet, dass wir nach dem Hinzu kam, was das Ehepaar mit den drei Krieg nicht nur im Ruderverein einen Söhnen schon im und nach dem Ersten Zweier ohne Steuermann (eine seltene Weltkrieg mitgemacht hatte. Da waren die und schwierige Disziplin) „aufgemacht“ Lebensmittel-Zuteilungen noch dürftiger hätten, mit der guten Aussicht, bei Regat- als später im zweiten. Dann nahm ihnen ten erfolgreich zu sein: beide gleiche Kör- die Inflation in den zwanziger Jahren mit permaße und begeisterte Ruderer. Wir der brutalen Geldentwertung die letzten wollten auch beruflich zusammen arbeiten Ersparnisse. Der großen Arbeitslosigkeit und „eine eigene Bude“ gründen, das Ende der zwanziger Jahre entging er heißt selbständig werden. Wir hätten auch zwar, da mehrere Kunden seiner Firma da (vielleicht noch besser als im Renn- klarmachten, dass sie von einem anderen boot) bestens zueinander gepasst: Werner Vertreter als Reuling nichts abkaufen wür- war – wenn auch zuletzt beruflich als Kon- den. Aber nun – nach den fürchterlichen strukteur tätig – ein vorzüglicher Praktiker, Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges und und ich hätte mir in einem eigenen Betrieb nach der betrügerischen Währungsreform (bei fachlichen Kenntnissen) Organisation – war für ihn offenbar das Maß des Lei- und Management zugetraut. Aber es kam dens voll: Trauer und Gram über alles ja alles ganz anders. Geschehene, möglicherweise eine Mischung 176 Ein seltsamer „Grenzverkehr“.

Schon in den ersten Tagen nach Grenzkontrolle, wo es ganz absonderliche meiner Rückkehr aus der sowjetischen und beängstigende Formen annahm. Man Gefangenschaft musste ich in die DDR, war froh und atmete erleichtert auf, wenn das andere Deutschland, reisen. Da ging man alle Regularien hinter sich hatte und es zuerst um das kleine Haus in Raupen- endlich weiter fahren durfte – in das hain bei Borna, das ich geerbt hatte (Bild „andere“ Deutschland hinein. 3, Seite 23). Ich musste mich darum In Markkleeberg wurden wir außer- kümmern, denn mein Onkel Hermann und ordentlich herzlich aufgenommen (Bild meine Tante Marie in Schmölln sahen sich 58), und wir verstanden uns auch vom in ihrem Alter nicht mehr in der Lage, die ersten Augenblick an sehr gut. Leider Liegenschaft unter den dortigen Verhält- fehlten am nächsten Morgen beide nissen weiter zu verwalten. Sie hatten sie Außenspiegel an unserem Wagen, den wir wie selbstverständlich nach dem Tod mei- – wie eigentlich überall in der Welt üblich – ner Eltern 1945 und meiner Abwesenheit auf der Straße vor dem Haus geparkt als Kriegsgefangener für mich übernom- hatten. „Sigi“ war peinlich berührt und ent- men. Es war allmählich ein Danaer- schuldigte sich bei uns, als ob er die Teile Geschenk für mich geworden, bei dem ich selbst geklaut hätte. Dabei war der Vorfall fürchten musste, eines Tages gezwungen nur das Ergebnis der miesen allgemeinen zu werden, mit meiner kostbaren D-Mark- Versorgungslage im kommunistischen – West dort notwendige Reparaturen zu besser: sozialistischen – Musterland. bezahlen. Mit Werner besuchte ich die Messe, Die Lage änderte sich, als sich ein vor allem Abteilung Spielwaren, Unterab- Neffe von Onkel Hermann bei mir meldete teilung Eisenbahnmodelle. Wir streiften und die Frage entstand, ob ich – der ich auch durch die Stadt, und ich kaufte u. a. inzwischen verheiratet war und Kinder ein paar Bücher, die in der DDR allgemein hatte – ihn und seine Familie nicht einmal sehr preiswert waren. In der Nähe der in Markkleeberg besuchen wollte. Was Thomaskirche, in der Johann Sebastian vorher als Jugendleiter mit wenig Urlaub Bach einst Kantor war – und die wir nicht möglich war, ließ sich jetzt als Lehrer selbstverständlich besichtigten – befand leichter verwirklichen. Der Briefwechsel sich ein Geschäft für Modelleisenbahnen. zwischen den beiden Familien ließ erken- Das war natürlich für Werner das reine nen, dass dies auch recht interessant Paradies und ein Appell an Vaters Porte- werden könnte. Es war nicht ganz prob- monnaie. Aber ich hatte ja vorher auf der lemlos, in die DDR zu reisen; aber die Bank vom Mietkonto meines Raupenhai- Leipziger Messe machte es möglich; sie ner Hauses einen ansehnlichen Betrag zu besuchen. Sie erleichterte den Grenz- DM-Ost abheben können, den ich sowieso übertritt in verblüffender Weise. Und die in den Westen nur im Verhältnis 1:10 hätte „Petermänner“, Siegfried, Ruth und Toch- transferieren dürfen (10 DM-Ost = 1 DM- ter Haike wohnten in Markkleeberg, das West). Außerdem war Werner ganz schön direkt an die Messe-Stadt grenzt. Mit der finanzkräftig, denn er reparierte für ein Straßenbahn war man in wenigen Minuten Bad Homburger Spielwaren-Geschäft im Zentrum. neben der Schule z. B Lokomotiven u. Werner hatte inzwischen mitbekom- dergleichen von Spiel-Eisenbahn-Anlagen men, dass die Messe auch einiges für sei- und half dort auch gelegentlich beim Ver- nen Eisenbahn-Modellbau bringen könnte, kauf. und so fuhren wir 1976 mit unserem mitt- Die Gespräche am Abend im Kreis lerweile neuen eleganteren Citroen-Kombi der Familie drehten sich vor allem um die los. Der Grenzübertritt war spannend – wirtschaftlichen und gesellschaftlichen auch nicht ganz ungefährlich. Es fehlte Verhältnisse zwischen Ost und West noch, dass man unsere Hosentaschen unseres geteilten Landes. Sigi, von Beruf inspizierte. Das Misstrauen und der Arg- Ingenieur, bekannte, gleich nach dem wohn zwischen den beiden deutschen Krieg die größte Hoffnung gehabt zu Staaten waren groß, nicht nur in der Poli- haben, unter der sowjetischen Besatzung tik. Dies zeigte sich besonders bei der gerechtere Verhältnisse zu erleben. Die 177 Enttäuschung wurde immer größer, da vor – Werner war schon Student der Zahnme- allem die Arbeitsverhältnisse nicht so dizin in Frankfurt a. M., als zwei Kommili- waren, wie man sie erwartet hatte: tonen der Uni Leipzig ihn in Sigis Woh- schlechtes Management, fehlende Arbeits- nung sprechen wollten. Es war klar, dass moral, auch unzureichende Versorgung sie nicht ohne Auftrag kamen. Woher mit den Dingen des täglichen Bedarfs sonst wussten sie z. B., dass Werner Stu- nervten zunehmend (Bild 59). Vor allem dent war – und sich in Leipzig aufhielt? Sie aber fehlte die Reisefreiheit: Es war ihm versuchten u. a. ihm klar zu machen, und seiner Familie damals z. B. nicht welch ungerechte Verhältnisse an west- erlaubt, ins nichtsozialistische Ausland – deutschen Universitäten herrschten, wo also vor allem in die Bundesrepublik – zu angeblich nur Söhne und Töchter aus fahren, etwa bei uns einen Gegenbesuch begüterten Kreisen studieren könnten - im zu machen. Gegensatz zur DDR. Da würden gerade Es erübrigt sich, die Verhältnisse Kinder aus Arbeiter-Familien besonders zwischen den beiden deutschen Staaten gefördert. Ich beteiligte mich an diesen noch weiter zu schildern. Vor allem die Gesprächen, schon aus Gründen der älteren Leser werden Bescheid wissen. Gleichheit 2:2. Sie erschienen erneut bei Aber es war auch nicht leicht für uns, einem späteren Besuch. Als sie erklärten, darauf aufmerksam zu machen, dass bei das nächste Mal wieder zu kommen, uns im Westen angesichts des wachsen- bedeuteten wir ihnen, dieses Gespräch den Kapitalismus zwar weithin noch Wohl- könne dann aber nur in Bad Homburg stand und Zufriedenheit herrschten, aber stattfinden. Da passten sie. Es war auch auch nicht der Himmel auf Erden war. Der ihnen klar, dass sie dazu die Erlaubnis von „goldene Westen“ spukte unausrottbar in ihrer Behörde nicht bekommen würden. den Köpfen der DDR-Bürger. Die Ent- Ruth starb noch kurz vor der Wie- wicklung nach der Vereinigung von BRD dervereinigung, die sie so ersehnt hatte. und DDR bis heute, wo man bereits durch Bald danach kam Sigi zu uns mit einem die Globalisierung von einem Raubtier- Ford-Pkw. Seinen alten Trabi (Trabant), Kapitalismus spricht, gibt unserer damali- das „Einheitsauto“ der DDR, war er end- gen Beurteilung Recht – und hat auch die lich los. Den Tod seiner Frau hat er nur ostdeutsche Einschätzung nachhaltig ver- kurz überlebt. Ihn quälten vor allem die ändert. Umstände bei ihrem Ableben: Nur ein In den siebziger und achtziger Jah- zugängliches Telefon im Haus hätte ihr bei ren waren wir – z. T. die ganze Familie – dem Herzanfall das Leben retten können. mehrmals „drüben“. Man konnte sogar im Man hatte ihnen aber den Anschluss ver- Anschluss an einen genehmigten (!) Mes- weigert, der angesichts Ruths Gesund- se-Aufenthalt die DDR „bereisen“, und wir heitszustand durchaus begründet gewe- haben das auch mehrmals getan. Dora sen wäre. So aber kam der Arzt zu spät. und ich konnten mit Sigi und Ruth sogar Zu Tochter Haike (mittlerweile mit Familie) im Thüringer Wald (Mai 1988 in Vesser) haben wir noch heute eine herzliche Ver- gemeinsamen Urlaub machen. Später als bindung. Rentner war den Beiden ein Besuch bei Eine andere Freundschaft aus dieser uns in Bad Homburg erlaubt. Sie waren DDR-Zeit dauert ebenfalls bis auf den hoch erstaunt – schon bei der Eisen- heutigen Tag an, mit Helga und Günter bahnfahrt kurz nach der Grenze – über Amberg. Bei den Verhandlungen wegen den Zustand der Dörfer und Städte auf meines Hauses mit dem Bürgermeister in „unserer“ Seite, und sie konnten gar nicht Zedtlitz war sie als seine Sekretärin sehr oft genug bei uns durch den Ort spazieren. hilfsbereit. Es war daher kein Wunder, Ob sie nach verstecktem Elend suchten? dass aus dieser Bekanntschaft eine Bei unseren Aufenthalten in Leip- Freundschaft wurde. Der Besitz des Hau- zig/Markkleeberg gab es auch immer wie- ses wurde mir immer mehr zur Last. An der unangenehme Vorfälle. Wenn wir zum eine Änderung der politischen Lage zwi- Essen gingen, war es uns peinlich, bevor- schen den Blöcken des Kapitalismus (vor zugt bedient zu werden, wenn man uns als allem USA) und Kommunismus (Sowjet- „Westler“ erkannte. Natürlich war da auch union) war in absehbarer Zeit überhaupt unsere D-Mark als Trinkgeld nicht ganz nicht zu denken. So übertrug ich der unschuldig, denn „Westgeld“ war begehrt. Familie Amberg eines Tages das Haus 178 durch eine Schenkung. Sie dachten daran, wäre eine Rückgängigmachung des Ver- ihrem Sohn damit eine Grundlage zu kaufs möglich gewesen. Bei einem kurzen geben, auf seine Fluchtpläne zu verzich- Besuch bei dem Käufer war zu sehen, ten. An eine Genehmigung ihres Antrags dass er in fleißiger Arbeit modernisiert zur legalen Ausreise war kaum zu denken. hatte. Er war zu mir kurz angebunden, Als sie aber dann doch ganz plötz- wohl aus Angst, ich könnte ihm das Anwe- lich in die Bundesrepublik umziehen durf- sen streitig machen. Das hatte ich jedoch ten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf gar keinen Fall vor. Ich habe mich mein ehemaliges Haus – nun aber unter gefreut, dass er das Haus meines lieben dem Druck der Ausreise – weit unter Preis Großvaters in so guter Weise instand zu verkaufen. Niemand dachte damals gesetzt hatte; Gedanken der Trauer oder daran, dass die Wiedervereinigung sehr gar des Neides oder Ärgers waren nicht bald danach geschehen würde. Vielleicht dabei. Bild 58 Bei Ruth und Sigi Petermann in Markkleeberg

Bild 59 Der überall spürbare Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit (Leipzig – Am Brühl, 1978) 180 181

Die Schule (zum letzten Mal?)

Aus gesundheitlichen Gründen – rerscheins). Sie selbst waren es, die eines nach der Wirbelsäulen-OP – und wegen Tages bei den jährlichen Rundbriefen der Mehrarbeit (Video-Material für die erklärten, nun könnten sie ja in eigenen gesamte Schule herstellen) hatte man mir Abschnitten schreiben, was ihnen des vier Unterrichtsstunden erlassen. Aus Berichtens wert sei. Sie wohnten mittler- Altersgründen kamen noch zwei weitere weile nicht mehr mit uns zusammen, hat- hinzu. Ich musste also nur noch 22 Stun- ten sich also auch in dieser Hinsicht selb- den unterrichten. Das war schon eine ständig gemacht. Sie tauchen natürlich im spürbare Erleichterung! Sie war aber nur Folgenden immer wieder mal auf, und von kurzer Dauer. Inzwischen war mein zwar vor allem dann, wenn Unternehmun- katholischer Kollege Allgaier vorzeitig in gen und Erlebnisse berichtet werden, an Rente gegangen. Mit seinem Nachfolger denen sie teilhatten. Oberstudienrat Fritz Schildt war die Zu gerne hätte ich – wie früher – Zusammenarbeit glücklicherweise gleich immer wieder einmal Stellung bezogen zu gut geblieben. neueren politischen Ereignissen in unse- Als aber eines Tages der Amtsarzt rem Land und in der weiten Welt. Sie die Weitergenehmigung des Stundener- wären eigentlich immer dann fällig, wenn lasses aus Gesundheitsgründen nur dann sie in hautnahem Kontakt zu unserem genehmigen wollte, wenn damit eine Bes- Leben geraten. Mir ist klar: eine Auswahl serung meiner Diensttauglichkeit zu erwar- ist hier sehr schwer, wenn nicht sogar ten wäre, war es für mich nicht schwer, die unmöglich. Denn welche Geschehnisse in vorzeitige Verrentung einzuleiten, zumal der Politik haben keine Auswirkungen auf auch noch die Stundenzahl für meine unser Leben? So werde ich es mir mehr Videoarbeit gekürzt wurde. Da nach amts- als in Teil I verkneifen, vor allem auch des ärztlicher Untersuchung keine Besserung Umfangs dieses Berichtes wegen meines Gesundheitszustandes zu erwar- Nicht schweigen kann ich aber über ten war, hatte ich also nur die Wahl, aktuelle Probleme aus der Welt der Reli- entweder wieder drei Stunden mehr Unter- gionen, des Glaubens und vor allem der richt zu halten oder eben in Rente zu Kirchen bei uns im Land. Wie könnte ich gehen. Es stellte sich auch noch heraus, auch? Gehört es doch zur wichtigsten dass ich einem jungen Kollegen durch Erfahrung meines Lebens, dass auf die- meine Entscheidung einen Arbeitsplatz sen Gebieten, meist ganz unscheinbar verschaffen würde. und vielen Menschen unwichtig, die Alle Argumente sprachen also für die Haupt-Lebensentscheidungen fallen, vor Rente. Nicht unwesentlich war, dass ich allem, wenn man den Begriff „Glauben“ im dann auch noch durch günstigere Steuer- weitesten Sinn der Bedeutung dieses verhältnisse finanziell besser dran war. Wortes versteht. Oder ist es zu viel Hatte ich einst als junger Mann dem Staat behauptet, wenn man sagt, dass der durch Arbeitsdienst, Wehrdienst und Glaube zum Menschsein gehört wie das Gefangenschaft über zehn Jahre meines Licht zur Sonne? Denn gerade der Lebens gegeben, so schlug jetzt nicht Mensch, der behauptet, er glaube nichts, mein Gewissen, wenn ich einige Jahre glaubt natürlich auch an etwas, denn an früher als gewöhnlich aus dem Berufsle- nichts glauben ist natürlich auch ein ben ausschied. Zum Schuljahrsende Glaube! Auch er hat seine Höchstwerte Herbst 1978 wurde ich also BfA-Rentner und Maximen, nach denen er seine Ent- 133 , scheidungen – vielleicht nur unbewusst – „Familie“ heißt ab jetzt nur noch trifft. Luther hat das so ausgedrückt: „Ehepaar Knopf“. Von „Kindern“ kann „Woran du dein Herz hängst und worauf sowieso nicht mehr die Rede sein; sie sind du dich verlässt, das ist eigentlich dein alle drei volljährig (und im Besitz des Füh- Gott“.

133 Bundesversicherungsanstalt für Ange- stellte- 182 Mein drittes Leben

Wenn nicht ein neues Leben, so Er plante noch schnell die Errichtung wurde das Rentnerdasein doch ein ent- einer evangelischen Schule in Reutlingen, scheidender Abschnitt. Längst hatte ich kurz bevor im Land Baden-Württemberg bemerkt, dass der Schwerpunkt meines per Gesetz nur noch staatliche zugelassen Lebens zuvor überall lag, nur nicht in mei- sein sollten. Es wurde ein abenteuerliches ner Ehe und Familie. Meine Dora Vorhaben, das ihm in bewundernswerter beschwerte sich nicht darüber; aber ich Weise gelang. Jedoch forderte es von ihm merkte, dass sie mit diesem Dasein auf in jahrelangem Einsatz bis ins hohe Alter Dauer nicht zufrieden sein konnte. seine letzte Kraft. Schlimm war, dass er in Irgendwann sprachen wir darüber, und ich mir in all dieser Zeit keine Unterstützung versicherte ihr, dass mit dem Ende meiner fand, da ich kein Freund konfessioneller Berufstätigkeit eine Änderung von Grund Schulen bin – es sei denn, sie verfolgen auf eintreten würde. ein spezielles pädagogisches Ziel, zu dem Also: Nun war es so weit! „Knopf, staatliche nur schwer geeignet sind. Und halte dein Wort!“ Als erstes fuhren wir das schien mir damals nicht genug beide ein paar Tage nach Paris und gewährleistet gewesen zu sein. Heute ist besuchten einige Orte in Frankreich, die „seine“ Schule (797 Schüler in 31 Klassen) ich im Krieg kennengelernt hatte Bei der ohne Zweifel über Reutlingen hinaus eine nächsten Wahl zum Kirchenvorstand kan- angesehene Lehranstalt (Grund- und didierte ich nicht mehr. Damit entfiel auch Hauptschule), und ich muss mein Urteil eine mögliche Mitgliedschaft in der Deka- revidieren. Es ist mittlerweile sichtbar natssynode. Ebenso gab ich weitere geworden, dass sie doch eine Reihe von Ehrenämter auf, z. B. in der Arbeitsge- Merkmalen besitzt, die sie als ganz meinschaft evangelischer Religionslehrer besondere ausweisen. Z. B besteht in ihr den Vorsitz und in der Kirchenleitung der eine sonderpädagogische Förder- und EKHN meinen Sitz im Gesamtkirchlichen Beratungsstelle, von einer Fachkraft Ausschuss für Religionsunterricht. geleitet, und in der Hauptschule findet mit Manche in diesen Gremien waren einem halben Lehrauftrag eine „Beratung enttäuscht über mein Verhalten; noch und Begleitung“ statt. Besonders gefördert mehr die, welche meinten: nun, da er werden die Schüler im kreativ-gestalteri- Rentner ist, wird er so richtig loslegen. schen, musischen und sportlichen Vielleicht war dieser totale Rückzug auch Bereich. Das sind aber nicht die einzigen nicht ganz richtig. Aber als warnendes Vorzüge; ich kann hier nicht alle aufzäh- Beispiel stand vor mir mein lieber Schwa- len. Erwähnenswert finde ich aber die Tat- ger und ehemaliger Mitgefangene Werner sache, dass dies alles in einer Grund- und Reininghaus, der mir doch eigentlich seit- Hauptschule geschieht, die – wenn ich es her so etwas wie ein Vorbild gewesen war. recht sehe – ansonsten in unserem Land Ihn schätzte ich sehr, denn nicht allein in mit Sondereinrichtungen gegenüber den der Gefangenschaft, sondern auch in der Gymnasien eher stiefmütterlich behandelt Frage meiner Berufsfindung hatte ich ihm werden. sehr viel zu verdanken. Er stand mit tota- Als Rentner legte ich nicht von heute lem Einsatz in seinem Beruf als Dozent für auf morgen meine schulischen Aufgaben Religion mit einer Professur an der nieder. Vor allem empfahl ich einen geeig- Pädagogischen Hochschule in Reutlingen. neten Nachfolger für den RU und sorgte Die Familie atmete auf, als er endlich in dafür, dass der Einsatz des Fernsehens Pension ging. Wie ich hatte er sich geäu- im Unterricht im seitherigen Umfang weiter ßert, dass er dann mehr für seine Frau da ging. Ich fand sehr bald einen jüngeren sein wolle. Aber das Gegenteil trat ein: Kollegen, den ich umfassend einweisen Jetzt, da er die Verpflichtungen seines konnte. Das dauerte fast ein halbes Jahr; Berufes los war, begann er in der Freiheit aber dann sagte ich meiner lieben Georg- seines Ruhestandes erst richtig, mit aller Kerschensteiner-Schule endgültig Lebe- Kraft tätig zu werden. wohl. Ich stehe aber heute noch in guter Verbindung mit ihr, trotz der großen Ent- 183 fernung von meinem jetzigen Wohnsitz. nalpolitikern waren wir nie ein Herzensan- Hinzu kommt, dass sie in das benachbarte liegen. Bei ihnen rangierten wir weit hinter Oberursel verlegt und mit der dortigen den beiden Gymnasien, und sie werden Beruflichen Schule vereint worden ist. Sie sich gefreut haben, die ungeliebte und ist nun nicht mehr „meine Schule“. Den unpopuläre Lehranstalt losgeworden zu Bad Homburger konservativen Kommu- sein. 184 Das Reisemobil

Mehr als es vielleicht bisher in die- Schlag, als wir beide aus einer Tagung sem Bericht bis jetzt deutlich wurde, hat- herausgeholt wurden mit dieser Nachricht; ten wir eine enge Verbindung zur Familie Sunanda hinterließ ihren Ehemann und Cordes. Das galt auch noch nach deren den achtjährigen Sohn Daniel. Aber alle, Umzug nach Rheinland-Pfalz. Natürlich die sie kannten, empfanden ihren Tod als sahen wir uns nicht mehr so oft wie in der bitteren Verlust – vor allem die Behinder- Büdinger Zeit. Aber da sie ja Lores Eltern ten, mit denen sie in der „Kreuznacher und die Verwandten, die jetzt in Cordes´ Diakonie“ gearbeitet hatte. Haus wohnten, immer wieder besuchten, Noch während meiner Dienstzeit führte ihr Weg über Bad Homburg und in begeisterten mich die Fahrten, die das die Flurstraße. Außerdem waren sie mit Ehepaar Cordes veranstaltete – früher oft den verschiedenen Reisemobilen, die zusammen mit Freunden, natürlich später Wolfgang ausgebaut hatte, oft unterwegs auch mit den drei Mädchen. Wolfgang und damit auch gelegentlich bei uns. Aus hatte sich mit der Zeit spezialisiert im Ein- dem Ehepaar Cordes war übrigens inzwi- richten herkömmlicher VW-Busse bis zum schen eine Familie geworden, seit sie Ausbau von recht komfortablen Reisemo- zunächst zwei Mädchen aus Indien, Munu bilen. Er war überhaupt handwerklich sehr und Sunanda, und ein Jahr später ein geschickt und hatte nicht nur in seinem drittes, Usha, adoptiert hatten (Bild 60). neuen Okal-Fertighaus in Büdingen, son- Schon in der Bauzeit ihres Hauses in dern auch für unser Haus verschiedene Sonnschied bei Kirn an der Nahe machten Möbel gebaut. Dabei verwendeten wir wir dort einen Besuch und bestaunten Pressspanplatten, die mit kleinen – für uns nicht nur die herrliche Lage mit einem kaum bemerkbaren – Fehlern von einer weiten Blick über das Hunsrück-Gebirge. Tischtennisplatten-Fabrik preiswert ange- Auch das Haus selbst war großzügig boten wurden. Sie waren bereits geplant. Im Jahr darauf bot es seinen beschichtet und sparten uns viel Arbeit Bewohnern manche Vorzüge, wie einen beim Auftragen der von uns gewählten großen Kamin, an dem wir am Abend Farbe. zusammensitzen und Gespräche führen Obwohl er nie irgend ein Handwerk konnten. Außerdem war im Haus ein gelernt hatte, fertigte er als Hobby eine Warmwasserschwimmbad, in dem unsere Vielzahl von kleinen Automodellen aus Kinder mit Munu und Sunanda (und später Pappe und Papier, z. B. eine ganze mit Usha) herumtollten. Vor allem Wolf- Armada von Feuerwehr-Fahrzeugen in gang war dieser Luxus vom Arzt aus einer Perfektion, denen man die Hand des gesundheitlichen Gründen dringend emp- Laien nicht ansah; durch Lackieren wur- fohlen worden. Unsere Drei waren übri- den sie sehr stabil und sahen erstaunlich gens (außer den Sonnschieder Kindern) echt aus. Unser Werner war begeistert – die ersten engeren Spielkameraden für die und zum Nachmachen angeregt. Für seine drei Mädchen seit deren Ankunft. Der H0-Modellbahn begann er, selbst Wag- Beweis dafür blieb nicht aus: Wieder in gons und Autos in ähnlicher Weise wie Bad Homburg angekommen, mussten wir Wolfgang herzustellen. Mein Bad Hom- die Kopfläuse bekämpfen, die die Mäd- burger Freund und versierter Modellbauer chen aus dem anderen Kontinent mitge- Werner Paulsen, dem diese Arbeiten bracht hatten. gefielen, zeigte Werner die Technik, sol- Die Drei entwickelten sich prächtig, che Fahrzeuge aus Blech (z. T. aus alten lernten sehr schnell die deutsche Sprache Konservenbüchsen) herzustellen und nun und kamen auch in der Schule gut mit. zu löten statt zu kleben. Das war wohl der Alle drei schafften die Mittlere Reife und Anfang seiner späteren Modellbau-Tätig- eine Berufsausbildung, Sunanda sogar die keit, in der er es nicht nur zu beachtlichen Meisterprüfung für Hauswirtschaft. Sie war Fertigkeiten brachte, die ihn sicher aber ein fröhlicher, immer hilfsbereiter Mensch. auch für seinen späteren Zahnarzt-Beruf Leider muss ich schreiben „sie war“, denn schulten. sie starb ganz plötzlich am 22. Juni 2002. Nun, als Rentner, wurde für mich der Insbesondere für Lore war dies ein harter Besitz eines eigenen Reisemobils erst 185 richtig interessant. Unter Wolfgangs Elektrischer Strom zur Beleuchtung Anleitung planten wir in seiner geräumigen und für den Betrieb der Umluft-Heizung Werkstatt (zwei nebeneinander liegenden (Radio, Rasierapparat usw.) kam aus Garagen ohne Zwischenwand, Bild 61) einer zweiten Autobatterie, die von der aus je demselben Autotyp für jede Familie dazu stärkeren Lichtmaschine des Motors einen solches Wohnmobil zu bauen. In geladen wurde. Frischwasservorrat (ca. Frage kamen der Mercedes 207 D oder 100 Liter) enthielt ein Tank unter einem der VW LT-28 Diesel. Beide waren der Betten; Abwasser aus Wasch- und Hochraum–Kastenwagen. Der Rauminhalt Spülbecken (ca. 80 l) sammelte sich in stimmte bei beiden Typen überein, der VW einem flachen Tank unter dem Boden. Die aber war etwas breiter, kürzer und nied- Querlüftung des Wohnteils (vom riger und entsprach damit mehr unseren Führerhaus mit einer Schiebetür getrennt) Ausbau-Vorstellungen. Wir wählten also war durch eine Öffnung nach unten und ihn, im Weiteren gelegentlich kurz „LT“ ein Kippfenster (+ Ventilator) im Dach genannt. einbruchsicher gewährleistet. Als dritte Nachdem uns die Maße bekannt Liegestatt diente ein hochklappbares waren, begaben wir uns sofort an die Lattenrost-Bett genauere Planung. An die 100 Kein Luxus war die Stereo-Anlage, Zeichnungen (mit Einzelauszügen) hatte denn mit ihr konnte man auch „fern der ich gefertigt, ehe wir an Bestellung und Heimat“ deutsche Sender hören. Auf Kauf des Wagens denken konnten. Fernsehen verzichteten wir: Unser FS war Wolfgangs Pläne waren ähnlich; er musste ein gutes Fernglas! Für die Mitnahme von allerdings die Inneneinrichtung für 5 zwei Fahrrädern befand sich an der Personen konzipieren, während ich nur Rückseite des Wagens ein Halter. drei Plätze vorsah. Viel Arbeit stand uns also bevor! Am Im Oktober 1978 bestellten wir die heikelsten war es, mit der Stichsäge für beiden Fahrzeuge, marinogelb – und am die Fenster und Lüftung die Öffnungen in 13. Februar 1979 fuhren wir mit der Bahn die Karosserie auszuschneiden. Dazu war nach Hannover, um im dortigen VW-Werk ich im Anfang nicht mutig genug. Da half unsere Wagen abzuholen. Es war ein mir Wolfgang. Eines Tages erschien eiskalter Tag, als wir auf der Autobahn Werner, der während seiner heimwärts fuhren. In der Nacht davor war Semesterferien vor allem die Holzarbeiten Schnee gefallen, und es wurde eine (Isolierung der Wände, Einbauschränke rutschige Sache. Froh waren wir, als wir und Tisch) erstellte (Bild 62). In meiner die Steilstrecken vor Limburg an der Lahn Mechaniker-Lehrzeit meinte mein hinter uns hatten. Auf den Straßen längs Ausbilder Wilhelm Schleich: „Ein der Lahn und Nahe waren wir schon Schlosser oder Mechaniker kann alles!“ versierte LKW-Fahrer und kamen Aber jetzt zeigte sich, dass zwischen wohlbehalten in Sonnschied an. „können“ und „gut können“ doch ein Schon an den Vortagen hatten wir gewaltiger Unterschied besteht. So die notwendigen Materialien und ergänzten wir uns aufs Beste und wurden Einbauteile eingekauft. Nach Beratung ein ideales Team; ich beschränkte mich durch den Verkäufer entschied ich mich mehr auf die Metall- und für den Luxus „fließendes Wasser“ und Installationsarbeiten (Elektro, Wasser und das auch noch warm (Durchlauferhitzung Gas, Bild 63). vom Motor-Kühlwasser). Letzteres hat sich Wolfgang war auch nicht allein; er sehr gut bewährt: Die Erwärmung war hatte in Munu eine eifrige und fleißige gewissermaßen kostenlos und die Helferin. Für Lore war diese Zeit nicht zusätzliche Kühlung des Motors an heißen leicht, denn sie war ja noch als Tagen ein willkommener Nebeneffekt. Religionslehrerin berufstätig. Sie sorgte Außerdem konnte man in der eingebauten vor allem für unser leibliches Wohl. Dusche (+ WC – jawohl: Wasserklosett) Werner und ich schwärmen noch heute nun auch warmes Wasser verwenden, von ihrer routinierten Kochkunst. So war ohne es über den nicht gerade billigen eigentlich alles fast ideal. Dennoch Gasvorrat erhitzen zu müssen. Der wurde entstand langsam Unfriede. Mir ist es im ja auch für den Küchenherd (3 Flammen) Rückblick nicht ganz klar, warum. gebraucht. Natürlich waren wir uns oft vor allem an 186 Wolfgangs sehr guter Tischkreissäge im sonstigen Restarbeiten (Farbanstrich und Wege. Ebenso benutzten wir immer Polster, deren Bezüge Dora nähte) waren wieder auch mal sein Werkzeug. Unser bald erledigt, sodass jetzt der Wagen – Arbeitstempo hatte zur Folge, dass wir nunmehr als Reisemobil – zum TÜV schneller voran kamen. vorgefahren werden konnte. Immer mehr verschwand die Der Prüfingenieur war ein Hoffnung auf unser Ziel: in unseren zwei Krümelsucher. Die beiden Fahrzeugen mit unseren Familien Sicherheitsgurte im Wohnteil genehmigte gemeinsam als Erstes eine Griechenland- er nicht, weil ihre Befestigung unter der Fahrt zu unternehmen. Vielleicht war es Wandisolation nicht sichtbar war. Ein Foto auch meine Ablehnung, in unserem beim Einbau genügte ihm nicht. Mir war es Wagen einen Raum vorzusehen für einige eigentlich recht. Damit war die Zahl der „Luftlande-Bleche“, die uns helfen sollten, Personen auf drei beschränkt - für Fahrer, wenn wir z. B. einmal auf sandigem Boden Beifahrer und auf der Motorhaube ein versinken. In meinem Wagen wäre Notsitz. Er wollte sich schon zweifellos mehr Platz gewesen, da er für verabschieden, als er entdeckte, dass das nur drei Personen vorgesehen war. Aber: Plexiglasfenster im Dach kein Prüfzeichen einmal gebraucht, hätten die dann trug. Bitten und Flehen halfen uns nicht. verbogenen Bleche nicht mehr an ihre Wir mussten unverrichteter Dinge Stelle im Wagen gepasst. Ich hatte da abziehen. Zum Glück meinte er noch, Erfahrung aus der Kriegszeit. Die Praxis wenn das Fenster eine Blechklappe wäre, später hat mir bestätigt: Wir hätten sie gar könne er sie anerkennen. Ein Anruf beim nicht gebraucht! Denn nur einmal saßen Hersteller ergab, dass seit Neuestem das wir im Sand fest, und da half uns ein Prüfzeichen nicht mehr erforderlich sei. Traktor, der in der Nähe arbeitete. Das hat Um allen Schwierigkeiten aus dem Weg uns damals nur ein Trinkgeld und eine zu gehen, bördelte ich aus Flasche Wein gekostet. Aluminiumblech eine „Fenster“klappe – die Jedenfalls war das „Klima“ eines bei einem nochmaligen Vorfahren (in Tages so verändert, dass wir uns zur Mainz!) gnädig genehmigt wurde. Noch Trennung entschlossen. Die noch nötigen am selben Abend tauschte ich das Blech Arbeiten konnten wir ohne Schwierigkeit in aus, und wenn der Wagen noch heute Bad Homburg ausführen. Werner fertigte fahren würde, so würde es mit dem nicht noch schnell auf der Kreissäge – die wir ja genehmigten Fenster geschehen und der damals noch nicht besaßen – die Bauteile Amtsschimmel könnte fröhlich weiter für eine Reihe von Schubladen, die er wiehern. dann zu Hause zusammenfügte. Die Bild 60 Sunanda, Munu und Usha Cordes (v.l.n.r.)

Bild 61 Die beiden VW-LT-Kastenwagen beim Ausbau 188 Bild 62 Werner beim Leimen der Tischplatte

Bild 63 Bei den Installationsarbeiten 190 191

Die „Jungfernfahrt“ (Mai bis Juni 1979)

Sie ging an die Nordsee – das war laubt. Und es gab in allen Ländern, durch Doras Wunsch. Mit von der Partie war ihre die wir fuhren – auch in unserem Land der Schwester Gudrun. Ihr Ehemann Peter Ordnung und der Verbote – immer wieder war am 14. Mai 1974 plötzlich an einem breite Wege, an denen kein Verbotsschild Aneurysma 134 im Kopf verstorben. Es war stand und ein Platz, wo wir niemanden damals für uns eine furchtbare Nachricht, störten. 2.: Für jede größere Fahrt wählte als Tochter Dorle gegen Mitternacht bei ich vorher irgend ein Lied oder Musikstück uns anrief und uns den gerade eingetrete- aus dem Repertoire meiner Cassetten- nen Tod ihres Vaters meldete. Gudrun Sammlung, das dann, wenn es mal wieder fuhr später öfter mit uns, denn es war uns besonders schön war, aus den Lautspre- ein unerträglicher Gedanke, dass wir als chern unseres rollenden Heimes ertönte. glückliches Ehepaar durch die Gegend In Cuxhaven stellten wir unseren LT reisten und sie als Witwe bestenfalls auf dem Parkplatz der Helgoland-Fähre unsere Grußkarten empfing. In der Lüne- ab, mit der wir am nächsten Tag die Insel burger Heide übernachteten wir zum besuchten. Quer durch den Süden ersten Mal inmitten eines blühenden Hei- Schleswig-Holsteins fuhren wir dann nach dekrautfeldes. Auf ihm lag am Morgen der Plön zu einer Schulfreundin von Dora, Nebel und dort, wo die Sonne hinkam, deren großen Gutshof wir besichtigten. Sie glitzerte der Tau wie tausend Diamanten. wies uns am Abend nach einem Zusam- Es muss ein solcher Tagesanbruch gewe- mensein mit guten Gesprächen und nicht sen sein, den Cat Stevens zum ersten Mal nur einem Glas Wein einen wunderschö- mit dem Lied von Eleanor Farjcon besang: nen Übernachtungsplatz am Rande eines „Morning has broken like the first mor- ihrer riesigen, blühenden Rapsfelder zu. ning“. Es steht übrigens auch in einer Neben vielem anderen Sehenswer- deutschen Übersetzung unter der Nr. 455 tem war auf dieser Fahrt am interessante- im „eg“ (Evangelisches Gesangbuch). Ich sten ein Besuch bei A. Paul Weber in hatte es auf Cassette dabei, und es Schretstaken in der Nähe von Ratzeburg. ertönte noch auf mancher späteren Fahrt Wir hatten Glück, ihn selbst in seinem Ate- bei solchen schönen Sonnenaufgängen. lier bei der Arbeit anzutreffen und spre- Es wurde zum „Lied dieser Fahrt“. chen zu können. Er war erfreut zu hören, Zwei Einfälle hatte ich an diesem dass etliche seiner Bilder im Religionsun- Morgen: 1.: Wir sollten, wenn es irgend terricht der Beruflichen Schulen mit gutem ging, nicht auf Camping-Plätzen über- Erfolg verwendet werden konnten. nachten. Nicht des Geldes wegen; es war Ein kleiner Schönheitsfehler dieser einfach romantischer – und vor allem Fahrt war, dass Werner nicht teilnehmen spannender, einen schönen Platz abends konnte. Deswegen planten wir und führten zu suchen und zu finden. Dafür galt der auch durch: Grundsatz: Was nicht verboten ist, ist er-

134 Erweiterung einer Arterie. 192 Eine Englandfahrt mit Werner (23. Juli bis 29. August 1979)

Sie begann sogleich mit einer peinli- einen „round-about“ – der Kreisverkehr chen Panne. Diese war das Ergebnis war in Great Britain schon viel weiter ver- unseres „Patentes“: fließendes Wasser. breitet als bei uns (sogar auf der Auto- Es floss immer dann, wenn durch Öffnen bahn!) - einen brennenden Kleinlastwagen eines Hahnes ein Druckabfall im System sahen. Es rauchte zunächst nur im Motor- erfolgte. Und es floss auch, als wir noch raum, aber der Fahrer hatte offenbar sein gar nicht weit auf unserem Weg nach Fahrzeug schon aufgegeben, denn er Calais waren. Plötzlich kam Wasser aus räumte in großer Eile alle möglichen Teile dem Wohnteil zu uns in das Führerhaus aus. Werner stoppte, schnappte sich geplätschert. Der Schreck war groß. Was unseren Feuerlöscher und hatte im Nu die war geschehen? Ein Schlauch an der Flammen erstickt. Da kam mit Gebimmel Pumpe hatte sich gelöst. Also: Druckabfall und Trara die Feuerwehr angebraust. Ich – die Pumpe begann zu arbeiten, das weiß nicht, was bei den Männern größer Wasser floss, aber nicht in die Leitung, war, die Enttäuschung über den verpass- sondern ins Freie. Und das hieß: am ten Einsatz oder die Verwunderung über Boden entlang nach vorne. Zum Glück, unseren kleinen Löscher. Nach vielen denn so haben wir die Überschwemmung Shake Hands und fröhlichem Schulter- sofort gemerkt. Bei nächster Gelegenheit klopfen löste sich die inzwischen entstan- wurde ein Schalter eingebaut, der die dene Ansammlung Neugieriger in Wohl- Pumpe abschaltete, wenn sie nicht gefallen auf. Stolz fuhren wir weiter, stolz, gebraucht wurde, z. B. während der Fahrt. weil wir „Germans“ etwas für die Völker- Von Calais nach Dover „flogen“ wir verständigung hatten tun können. mit dem Luftkissenboot über den Kanal In Richtung Westen ging es jetzt und fuhren zuerst stracks nach London. nach Cornwall über Westminster (schöne Soll ich jetzt den Leser langweilen mit ein- Kathedrale!), dann Exeter (Partnerstadt zelnen Berichten von dem, was wir alles von Bad Homburg), das wir einschließlich besichtigt haben? Wer´s genau wissen Kathedrale besichtigten. Selbstverständ- will, der lese in unserem Bordbuch nach. lich ließen wir auf dem Weg dorthin das Werner, der nicht zum ersten Mal „auf der sagenumwobene Stonehenge nicht aus. Insel“ und in ihrer Hauptstadt war, erwies Quer durch den Dartmoor National Park sich als perfekter Fremden- (sprich: („beeindruckende Landschaft, Heide, Eri- Vater-) Führer und Dolmetscher; mein an kabüsche, Farne. Schafe weiden über die sich schon dürftiges Schul-Englisch war Straße hinweg“ – laut Bordbuch). In der durch Krieg und Gefangenschaft über- Nacht standen wir am Steilhang der Bucht deckt von Französisch und Russisch. Er von Pensanze, gegenüber dem Mount St. vergaß nichts Wichtiges, was „man“ gese- Michel, der Küste vorgelagert (Bordbuch: hen haben musste – sogar das Harrods- „... bisher schönster Standplatz!“), fast wie Kaufhaus war dabei. Im Stadtteil Barking der Mont-Saint Michel in der Normandie. hatten wir für die ganze Zeit unser „Haus“ Nun war es nicht mehr weit bis zur West- in einer Nebenstraße abgestellt und spitze von Cornwall: Land´s End, der erreichten dank einer Dauerfahrkarte mit westlichste Punkt Englands. Weiter ging´s öffentlichen Verkehrsmitteln alle Sehens- nicht; also zurück der Nordküste entlang – würdigkeiten, die uns interessierten. Wer- immer mit Blick auf das Meer („unzählige ner wäre kein Eisenbahn- und Straßen- Sehenswürdigkeiten“ – Bordbuch!!). bahn-Fan, wenn er die RH&DR (Romney Von Bristol befuhren wir die Hythe and Dymchurch Railway) ausgelas- berühmte Severn-Bridge nach Newport – sen hätte. Beinahe wäre ich irrtümlich ein- und waren plötzlich nicht mehr in England gestiegen und ohne ihn weggefahren, was (aber noch in Great Britain!), sondern in er zum Glück in letzter Sekunde verhin- Wales. Es war Werners geheimes Ziel, derte. denn von hier aus hatte er als Oberschüler Wir waren schon dabei, „the capital“ auf einer internationalen Schüler-Freizeit zu verlassen, als wir beim Einfahren in England und Wales „entdeckt“. 193 Hätte ich den Ortsnamen nicht - nicht mit ihr in der Hand gesehen zu wer- Buchstaben für Buchstaben – notiert, wäre den. Das hätte ich nicht tun sollen! Über- er längst vergessen: Er ist meines Wis- haupt waren wir viel zu ängstlich: Niemand sens einer der längsten der Welt. Wer kümmerte sich um uns. Als ich das Werk- hätte ein Gedächtnis für: zeug wieder in die Hand nahm, merkte ich,

LLANFAIRPWLLGWYNGYLLGOGERYCHWYRNDROBWYLLLLANTYSILIOGOGOGOCH ?

Das bedeutet ins Englische über- dass der Bakelitgriff zerbrochen war. Was setzt etwa „St. Mary´s Church in the Hol- tun? Ich umhüllte eine Seite des Säge- low of the White Hazel near a rapid blattes mit einem Lappen und arbeitete Wirlpool and the Church of St. Tysilio near weiter. Das war sehr mühsam, und wir the Red Cave“. Auf deutsch: „Kirche St. mussten schließlich die ganze Aktion auf- Maria in der Talmulde des weißen Hasel- geben, obwohl wir nur noch wenige Milli- buschs nahe einem reißenden Strudel und meter zu sägen hatten, weil es mittlerweile der Kirche des St. Tysilio in der Nähe der dunkel geworden war. Traurig gingen wir Roten Höhle“. zum LT zurück. Wales war aber nicht Werners letz- Ohne unsere Trophäe fuhren wir tes Ziel, sondern die Ffestinog Railway, also am nächsten Tag weiter und erklet- eine ehemalige Werks-Schmalspur-Bahn. terten den höchsten Berg von England Sie transportierte früher aus einem und Wales, den Snowdon (1085 m). Wir Schieferbruch Platten für die Dächer der hätten gerne die Bahn benutzt; aber sie Welt. Der Zug rollte 20 Kilometer über war überfüllt und zu teuer. Also ging‘s zu immer gleiches Gefälle hinunter ans Meer, Fuß! Die letzten Meter lagen im Nebel, nur zum Hafen Porthmadog. Dort wurde der ein kurzer Blick ins Llanberis-Tal war uns Schiefer auf Schiffe umgeladen. Pferde, vergönnt, dann zwei Stunden Abstieg. die die Talfahrt in einem Extra-Waggon Hier einige Ausschnitte aus unserem mitgemacht hatten, zogen dann den lee- Fahrtenbuch, sonst wird‘s doch noch ein ren Zug wieder den Berg hinauf. Auf die- langweiliger Bericht: „Ausgedehnte Fuß- ser Trasse fährt heute eine Touristikbahn, wanderung auf der Trasse der Welsh eben die Ffestinog Railway. Von ihr weiter Highland Light Railway durch Felsenein- zu berichten, ergäbe ein besonderes Buch schnitte, durch Tunnels, über Brücken und (davon gibt’s schon viele – WEK). Dämme bis Beddgelert“; – „Phantastischer Nach einer Schieferbruch-Besichti- Standplatz mit Weitblick über Menai Strait gung (plus Verarbeitungsanlagen) wan- zur Isle of Anglesey!“ – „Einsamer Über- derten wir eine ähnliche Trasse entlang nachtungsplatz. Wie weit ist wohl der und fanden, in einem Bach liegend, eine nächste Mensch? – Ein Rebhuhn fliegt alte, verrostete Achse eines Güterwagens. auf unser Dach, tappt und pickt herum. „So ein Rad (Gusseisen mit S-förmigen Regen, Regen, Regen. - Die Schwalben Speichen) sollte man als Souvenir für fliegen so tief, dass man sie mit Maulwür- daheim mitnehmen, natürlich nicht die fen verwechseln konnte“. ganze Achse!“ Diese Idee hatten wir beide Endlich lag Crich bei Matlock in Der- zugleich. Im Wagenwerkzeug hatten wir byshire vor uns, bekannt durch das große aber keine Metallsäge. Im nächsten Ort Freiland-Straßenbahn-Museum. Werners kauften wir eine, wanderten wieder das Hobby-Liebe war damals neben der Eisen- Tal hinauf und machten uns, mit Gummi- auch die Straßenbahn. Sie ist in England stiefeln im Wasser stehend, an die Arbeit. fast ganz verschwunden; der Bus hat sie Werner stand Schmiere, während verdrängt. In einem großen Depot kann ich munter zu sägen anfing. Da hatte ich man über 50 der verschiedensten mir etwas vorgenommen! Die Achse hatte Straßenbahnen besichtigen, uralte und einen Durchmesser von ungefähr 80 mm. neue, Pferdebahnen, Dampfbahnen und Ich kam kaum vorwärts. Wir lösten uns elektrisch betriebene. Und nicht nur gegenseitig ab. Immer wieder musste die besichtigen: sie alle können noch fahren – Arbeit unterbrochen werden, weil Wande- zur großen Freude der Besucher. Ein rer des Wegs kamen. Als Werner mal ehemaliges Steinbruchgelände steht dazu nicht richtig aufpasste, kam uns ein Mann zur Verfügung, in dem die interessante- zu nahe, und ich warf die Säge weg, um sten Typen sich hin- und herbewegen. 194 Erbaut wurde es und betrieben wird es „Warum fiel Willy Brandt nur in Auschwitz durch Spenden und in ehrenamtlicher auf die Knie?“ Arbeit. Natürlich zeigte mir Werner auch Wir betraten ein Souvenier-Lädchen, Warwick, den Anfang seiner Englandliebe. in dem neben „Firlefanz“ (der Verkäufer Noch als Schüler hatte er hier auf Emp- hörte dieses Wort und wollte eine Über- fehlung seines Englischlehrers Noll eine setzung haben) auch allerlei für den Stra- internationale Schülerfreizeit besucht. In ßenbahn- und Eisenbahn-Modellbau guter Erinnerung ist mir noch die Fahrt angeboten wurde. Werner kaufte einige durch die malerischen Orte der Cotswolds. Bausätze. Dabei kamen wir mit dem Ver- Selbstverständlich ließen wir Stratford- käufer (von dem sich später herausstellte, upon-Avon, Shakespeares Wohn- und dass er im Direktorium des Museums saß) Sterbeort, nicht links liegen. Aber dort war ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass der Touristenrummel derart penetrant, er ebenfalls Lehrer an einer Art Berufs- dass wir uns nicht länger aufhielten. Als schule in der Nähe von Derby war. Unver- Kulturbanausen interessierten uns auch gessen sein Gesichtsausdruck, als er von später immer wieder mehr Natur, Land- meiner frühen Pensionierung hörte! Beim schaft, Leute und – Technik. Abschied bedauerte er, dass wir nicht ein A propos Leute: Der Termin des paar Tage später gekommen seien: Am Festivals im Tramway Museum nötigte uns Bank-Holiday 135 fände nämlich im Muse- allmählich, Crich anzusteuern. Es wurde umsgelände ein großes Fest mit vielen Zeit, nach einem Übernachtungsplatz Attraktionen statt. Selbst die Royal Air Ausschau zu halten. Das war immer eine Force sei mit tollen Verbandsflügen dabei. spannende Angelegenheit. Wald war weit Heißluft-Ballon-Aufstieg, Dampfwalzen und breit nicht zu sehen. Also machten wir und Dampftraktoren usw. usw. seien da zu in einer Talsenke auf einem Feldweg, der sehen. Als wir Bedenken äußerten, dass breit genug war (dass an uns Fahrzeuge wir mit einem Reisemobil unterwegs seien vorbeikommen konnten) Halt. In der Nähe und einen Standplatz benötigten, lachte er war keine Ansiedlung zu sehen. Da hatten laut heraus: Nichts sei leichter als das! Wir wir uns aber getäuscht. Es dauerte nicht sollten nur sagen, dass wir Colins Gäste lange, da kam ein Pkw auf uns zu gefah- seien, dann bekämen wir sofort einen ren. Ihm entstieg eine Dame, begleitet Platz auf dem Feld für „Members and offenbar vom Sohn, die uns fragte, was wir VIPs“ (Mitglieder und Very Important Per- hier wollten. Wir erklärten ihr, nur eine sons – sehr wichtige und bedeutende Per- Nacht bleiben zu wollten. Sie meinte, das sonen). Wir sagten unser Kommen zu und könne nur ihr Mann erlauben, den wolle änderten sofort für die nächsten Tage sie fragen. Als sie zurückkam, lud sie uns unseren Reiseplan. Wozu fuhren wir mit zum Frühstück ein. Das ließen wir uns einem Reisemobil, mit dem man nicht an nicht zweimal sagen und waren also am eine einmal festgelegte Fahrtroute gebun- nächsten Morgen Gäste auf der „Pepper- den ist? hill Farm“. Werner mit seinem guten Eng- Coventry war nun das nächste Ziel. lisch imponierte, wohl auch die Tatsache, Im vergangenen Krieg war diese Stadt dass er mit seinem Vater England berei- meines Wissens eine der ersten Englands, ste. Beim Abschied luden wir den Sohn zu auf die ein brutaler Angriff der deutschen einem Gegenbesuch in Germany ein. Lei- Luftwaffe geflogen wurde, bei dem auch der hat er uns nicht beim Wort genommen. viele Zivilpersonen ums Leben kamen. Es Das bedauerten wir sehr, denn eine entstand in Deutschland damals sogar das Freundschaft über die Grenzen unserer später geflügelte Wort „coventrieren“ (statt Länder hinweg hätte uns – besonders „ausradieren!“). Eintrag im Bordbuch Werner – sehr gereizt. angesichts der zerstörten Kathedrale: Es war ein glanzvoller Abschluss unserer Fahrt: Bank Holiday im Straßen- bahn-Museum, als Gäste Colins. Unser 135 Arbeitsfreie Tage in Großbritannien, Wohnmobil durften wir tatsächlich auf dem seit 1871 gesetzlich geregelt. „Carpark for VIPs“ abstellen. Das war Ursprünglich ruhte an diesen jegliche natürlich Balsam auf unsere Seelen! Über Geschäftstätigkeit, auch die Banken uns hatte schon das Festprogramm (daher der Name) blieben geschlossen. begonnen: ein Doppeldecker zeigte seine 195 gewagten Kunststücke, eine Staffel der kein Abschied für immer. Colin besuchte RAF (Royal Airforce) brauste mit Getöse uns in der Folgezeit mehrmals in Bad und Farbwolken hinter sich herziehend Homburg. Vor allem war Frankfurt mit sei- über uns hinweg, eine Fliegende Festung nen Straßen- und Schnellbahnen für ihn drehte ihre Runden, ein Heißluftballon ein wahres Eldorado. Nicht nur mit dem stieg unter dem Hallo der Zurückbleiben- „Äppelwoi Express“ fuhr er; er durfte, da er den auf. Eine vielfältige Ausstellung zeigte die Fahrerlaubnis besaß, sogar einmal u. a. alte Maschinen, Traktoren, landwirt- einen echten Straßenbahnzug steuern. schaftliche Maschinen, Oldtimer-Autos, Bleibt nur noch zu berichten, dass Dampfwalzen und Dampfmobile, die Mes- wir am übernächsten Tag von Ramsgate singteile blank geputzt. Alte Jahrmarktsor- aus wieder zurück zum Festland „flogen“ geln waren zu sehen, darunter ein großes und noch in der Nacht wohlbehalten Prachtstück, gezogen und betrieben – daheim ankamen, zur großen Freude von über einen Dynamo – von einem Dampf- Dora. Etwas Lustiges aber muss ich noch traktor. Bekannte Musikstücke übertönten anfügen: Als Werner im Kreis seiner fast die strammen Weisen einer Militär- Kommilitonen von dieser Fahrt mit mir Blaskapelle. Und das alles geschah berichtete, meinten die, den Vater möch- inmitten hin- und herfahrender Staßen- ten sie ja gerne einmal kennenlernen, mit bahnen, altgedienter Fahrzeuge der ver- dem er es über fünf Wochen im Reisemo- schiedensten Arten. bil ausgehalten hatte. Diesen Gefallen Bis in die späte Nacht hinein saßen konnten wir ihnen ohne Weiteres tun. In wir nach Sonnenuntergang noch mit Colin einer Frankfurter Kneipe trafen wir uns bei einer Flasche portugiesischem Wein nach einigen Wochen. Hier breche ich zusammen und diskutierten über „Gott und ab ... die Welt“. Es war am nächsten Morgen 196 Spanien–Reise mit Dora (09. 05. – 25. 06. 1981)

Größere und kleinere Fahrten hatten deren hügeligem Vorland wir bei einem inzwischen stattgefunden. Einen lückenlo- kurzen Halt noch einen Blick zurück auf sen Bericht würde der clevere Leser sicher die malerische Stadt warfen. überspringen; Mut zur Lücke ist hier Nun ging es unaufhörlich bergauf bis gefragt. Das gilt auch für einzelne Andorra, etwa 940 – 2400 m hoch (Fahr- Sehenswürdigkeiten, die man „unbedingt tenbuch-Eintrag „fürchterlicher Rummel!“). gesehen haben muss“. Es ist uns aber Wir taten das, was die meisten hier tun: bestimmt nicht ergangen wie dem biede- einkaufen, und zwar vor allem ein Weit- ren Besucher des Museums Berlin-Dah- winkel-Objektiv für unsere Canon-Kamera, lem. Auf die Frage, ob er da auch das preiswert durch günstige Zollverhältnisse. berühmte Gemälde von Rembrandt gese- Jetzt aber gab es kein Halten mehr; hen habe „Der Mann mit dem Goldhelm“, stracks ging es durch bis Barcelona. Man soll er geantwortet haben: „Wenn es da ist versucht, zu schwärmen von dem, was hängt, dann habe ich´s auch gesehen!“ es hier alles zu sehen gibt. Aber was ist Die Anfahrt nach Spanien führte uns das neben Granada mit seiner Alhambra durch die Schweiz, wo wir ein „Besüchle“ und Generalife, oder in Cordoba die bei Thomas Schmidhofer und Familie in Kathedrale (ehemals eine Moschee, zu Tafers bei Fribourg machten. Zur Erinne- deren barbarischem Umbau Kaiser Karl V. rung: Thom ist ein Freund aus der sowjeti- die Genehmigung erteilt hatte)! schen Gefangenschaft und der großzügige Marbella an der Costa del Sol Spender des Fiat 600, unserem ersten „mussten“ wir wahrscheinlich nicht nur Auto. Es gab viel zu erzählen, bis in die wegen des einzigartigen Standplatzes Nacht hinein. Am Genfer See entlang direkt am Meer aufsuchen, sondern weil waren wir bald am nächsten Tag an der es sich dort ereignete, dass Dora einen französischen Grenze. Gleich machten wir phantastischen Tipp erhielt, einen Opera- noch einen Besuch bei Celestine Dégout, teur zu finden für einen Eingriff an ihrem dem Besitzer der Wiese auf einem kleinen linken Hüftgelenk. Und das geschah so: Hügel hoch über Grenoble, auf der wir bei Beim Schwimmen im Meer beobachteten der Frankreichfahrt im April 1980 den kon- wir einen älteren Herrn, der um unseren kurrenzlos schönsten Übernachtungsplatz Wagen herum“strich“. Als wir ihn anspra- aller LT-Fahrten – vorher und nachher - chen, fragte er, ob wir wirklich aus Bad erlebt hatten (Bilder 64 und 65). Die Freu- Homburg wären. Er wunderte sich, dass de war groß, besonders über die Fotos, wir ihn nicht kannten, da er doch der Chef die wir mitgebracht hatten. Ein zweites Mal der Hirsch-Apotheke sei. In der Tat hatten wollten wir auf unserem schönen Platz wir dort schon öfter Medikamente einge- nicht übernachten; zu Fuß besuchten wir kauft, ihn aber wohl nie gesehen. Kurzum ihn vor der Weiterfahrt - jetzt war er gut – er besaß in Marbella ein Ferienhaus, in eingezäunt. das er uns einlud, nachdem er unsere rol- Anschließend fuhren wir durch herr- lende Villa besichtigt hatte. Am nächsten liche enge Schluchten (Gorges du Verdon, Nachmittag saßen wir bei einem Glas Gorges de la Bourne), bei Avignon über spanischen Weines zusammen und hatten die Rhone (natürlich nicht über den vielbe- ein anregendes Gespräch. sungenen Pont d´Avignon) nach Carcas- Dabei kamen wir auch auf die längst sonne und befolgten den Rat unseres fällige Operation von Doras Hüfte zu spre- Baedekers, diese einzigartige Stadtburg chen. Für eine Verwandte hatte er in der zu besichtigen. Das noch gut erhaltene ganzen Welt – vor allem in den USA – Festungswerk erreicht man in der Cité herumgesucht und dann in allernächster durch ein Gewirr winkliger Gassen. Wir Nähe – im Frankfurter Katharinen Hospital hielten uns aber nicht lange auf, holten – einen Spezialisten gefunden, der sich uns nur “Appetit“ für eine spätere Süd- als Meister seines Faches erwies. Denn frankreich-Fahrt und steuerten nun direkt Dora hat sich bald nach unserer Rückkehr auf die schneebedeckten Pyrenäen zu, in von ihm operieren lassen – und konnte Bilder 64 und 65 Standplätze! 198 199 schon einige Tage nach dem Eingriff wie- Küste zum Kap Finisterre. Vom Leucht- der beschwerdefrei laufen. Ist das nicht turm aus – wo Jahrhunderte vor Columbus auch wunderbar: Wir mussten bis Marbella die damals bekannte Welt aufhörte (finis fahren, um auf diesem Umweg den Arzt zu terrae = Ende der Welt) - hat man einen finden, der wie kaum ein anderer diese sehr schönen Rundblick auf den Atlantik damals noch recht komplizierte Operation und die Bucht. Schwimmen und Über- ausführen konnte? nachten konnten wir noch in La Coruna Weitere besondere Höhepunkte: bei dem dortigen Campingplatz. Fahrt auf der „Straße der Weißen Dörfer“ Um die aufgestaute Temperatur in – Ruta de los pueblos blancos; - Wande- uns abzubauen, fuhren wir dicht an der rung durch die eigentlich gesperrte El Nordküste entlang, immer wieder im Meer Chorro-Schlucht; - Sevilla: während unse- badend, bis dicht vor die Grenze nach rer Stadtbesichtigung Einbruch in unseren Frankreich. Da fiel uns ganz heiß (!!) ein, LT. Außer dem zerstörten Dreiecksfenster dass wir auf der gesamten Fahrt nicht ein auf der Beifahrerseite geringer Schaden, einziges Mal in einem Restaurant spa- kein nennenswerter Diebstahl, nur wahn- nisch gegessen hatten. Das holten wir nun sinniges Durcheinander, weil alle (in letzter Minute) so gut wie möglich nach Schränke und Fächer durchwühlt worden und ergötzten uns an einer pikanten waren; – Baden in La Linea, unweit des Fischmahlzeit, bei der fast der ganze Rest Gibraltar-Felsens, auf dem die bekannten unserer spanischen Pesetos draufging. (?) Affen herumturnen; – Vom Leuchtturm Nach drei Tagen „Strandurlaub“ an auf dem Cap Tarifa aus sahen wir über die der französischen Biscaya (Côte d´argent) Straße von Gibraltar hinweg die afrikani- war unser nächstes Ziel Lafitte bei Limo- sche Küste, links das Mittelmeer, rechts ges. Dort wohnte der ehemalige französi- den Atlantik! sche Kriegsgefangene Pierre Pailler, der Allmählich wurde uns die Hitze (über im Krieg auf dem Bauernhof von Eiselens 40°C) unerträglich. Da beschlossen wir, so in Botenheim (Doras Bäsle Mina) arbeiten schnell wie möglich in den Norden des musste. Dort hieß er der „Pirré“ – „Piär“ Landes zu kommen. Von Jerez de la passte nicht ins Schwäbische. Das war Frontera, nach einem erfrischenden Bad eine Freude bei dem alten Ehepaar, als an der Costa de la Luz, durchfuhren wir wir die Grüße von Doras Verwandten die Estremadura - an der Portugiesischen überbrachten! Im Nu hatte Frau Pailler ein Grenze entlang - auf dem kürzesten Weg vorzügliches Abendessen hingezaubert; zunächst nach Santiago de Compostela. und dann wurde bis nach Mitternacht halb Dort besichtigten wir vor allem die französisch und halb deutsch aus vergan- berühmte Kathedrale (***!), seit dem 12. gener Zeit erzählt. Genau vor 41 Jahren Jahrhundert bedeutendstes Ziel der wurde Pierre im Elsass gefangen genom- Jakobspilger aus der europäischen Chri- men. Eine solche Gefangenschaft wäre stenheit, in unserer Zeit merkwürdiger- mir auch recht gewesen! Mit vielen lieben weise neu belebt und berühmt. Für uns Grüßen beladen verabschiedeten wir uns Evangelische wiegt ja der total legendäre und waren – nach einer Übernachtung bei Hintergrund des Apostels Jakobus der Bourges – am übernächsten Tag spät- Ältere weniger schwer. So hielten wir uns abends daheim. nicht länger auf und fuhren zuerst an die 200 1. Studienfahrt in die Sowjetunion (Moskau u. Orel 1979)

Erst spät nach meiner Rückkehr aus Wir wurden von unseren Gastgebern der Gefangenschaft – ich war schon ungewöhnlich freundlich empfangen. Dies verheiratet – litt ich zunehmend unter galt auch von der Bevölkerung, wenn sie schrecklichen Träumen. Der Inhalt war uns als Deutsche erkannte. An der fast immer der gleiche: Man hatte mir in Markthalle umarmte eine uns fremde Sevastopol Heimaturlaub auf Ehrenwort Babuschka Dora sehr herzlich und meinte; gewährt. Ich war – trotz mancher „Gelt, wir machen keinen Krieg mehr Ratschläge daheim – wieder ins Lager miteinander!“ Ob so etwas bei uns in zurückgekehrt. Da wurde uns eröffnet, Deutschland denkbar wäre? Der dass eine Entlassung für uns Deutsche womöglich letzte Rest an Misstrauen überhaupt nicht mehr in Frage käme. Ich verschwand, als wir darauf bestanden, in zermarterte mich im Schlaf mit Vorwürfen, das Museum mit der Abteilung so blöd gewesen zu sein und nicht die „Kriegserinnerungen“ zu gehen. Man hatte günstige Gelegenheit ausgenutzt zu uns eigentlich davon abgeraten: wir haben, daheim zu bleiben. Ich war oft kamen als Deutsche da nämlich nicht längst wieder wach, da verfolgte mich der gerade gut weg. Selbstvorwurf noch immer und erzeugte Wir besuchten nicht nur Jasnaja eine tiefe Niedergeschlagenheit. Eines Poljana, den Ort, in dem Tolstoi gelebte Tages hatte Dora den glücklichen hatte. sondern auch den Turgenjews. Gedanken: „Du musst noch einmal dorthin Dabei erfuhren wir durch eine exzellente fahren und erleben, dass du ohne weiteres Führung sehr viel vom Leben und dem wieder zurückkehren kannst“. sozialen Umfeld der beiden Schriftsteller. Die Schillerschule in Offenbach, an Sogar in der Oreler Tageszeitung erschien der Russisch gelehrt wurde, führte zu ein Bericht von unserer Gruppe, in dem dieser Zeit Studienfahrten in die ich namentlich als Kriegsteilnehmer Sowjetunion durch. Sie unterhielt eine genannt wurde. Eine peinliche Situation Partnerschaft mit einer Lehrer- entstand, als der Politruk 136 behauptete, er Ausbildungsstätte in Orel, ca. 350 km von kenne mich aus der Zeit des Krieges. Ich Moskau entfernt, an der LehrerInnen für soll mich mit einem russischen Mädchen den Deutschunterricht ausgebildet abgegeben haben, er erkenne mich wurden. Günther Stiller, Religionslehrer an besonders an meinem Bart. Da konnte ich dieser Schule, erlangte bei seinem seine Anschuldigung leicht entkräften, weil Direktor Zeller die Teilnahme-Erlaubnis an ich als Soldat niemals Bartträger war. Die einer der nächsten Begegnungen für mich, Angelegenheit ging im allgemeinen Dora und Schwägerin Gudrun. Zeller war Gelächter unter; aber ich selbst war doch ein alter Hase in Sachen Reisen in die SU zuerst ziemlich erschrocken. und hatte schon sechzehn Fahrten dorthin Unsere russische Fremdenführerin mit seinem privaten Pkw hinter sich. Er Natascha war anfangs uns gegenüber unterrichtete u. a. auch Russisch. sehr zurückhaltend, „taute“ aber in den 1979 flogen wir also von Frankfurt letzten Tagen sichtlich auf als sie merkte, mit einer Aeroflot-Maschine zunächst nach dass wir alles andere als kapitalistische Moskau und fuhren mit einem Omnibus Feinde waren. Wenn wir z. B. die alten nach einigen Tagen der Besichtigungen Bauernhäuser fotografierten – oft kleine weiter nach Orel. Ich war ja bereits als Kunstwerke - , äußerte sie den Verdacht, Soldat während des Krieges in dieser wir wollten daheim nur zeigen, wie arm die Stadt gewesen, hütete mich aber, davon Menschen im Kommunismus lebten. Wir etwas verlauten zu lassen, denn ich sollten besser die großen, modernen rechnete hier und da doch noch mit Wohnblöcke in den Städten aufnehmen. Misstrauen. Unsere Staffel flog damals – Es war nicht leicht, sie davon zu über- noch im Vormarsch auf Moskau – zeugen, dass uns die öden Plattenbauten Einsätze an der Front bei Tula. Von der

Stadt hatte ich wenig in Erinnerung, zumal 136 wir auch am Flugplatz selbst unsere (russ.) politischer „Überwacher“ der Quartiere hatten. Geheimpolizei. 201 eher langweilten, die oft idyllischen Holz- nicht bekreuzigt, als ihr eintreten wolltet“. häuschen aus alten Zeiten uns aber wirk- Da musste ich ihnen erst einen kleinen lich gefielen . Vortrag darüber halten, dass wir – vor Als wir eine der schönen orthodoxen allem die Protestanten – uns nie bekreu- Kirchen besichtigen wollten, verwehrten zigen, aber doch glauben und Christen uns Putzfrauen, die gerade bei der Arbeit seien wie sie. waren, den Zutritt. Ich fragte sie nach dem Es war im Ganzen eine hoch interes- Grund ihrer Ablehnung. Da meinten sie, sante Reise, die uns u. a. nicht nur eine wir wären doch alle Heiden aus dem russische Brieffreundin einbrachte; auch Westen. „Woran erkennen Sie das denn?“ die Angstträume war ich ein für alle Mal Da sagte eine von ihnen „Ihr habt euch los. 2. Studienfahrt in die Sowjetunion (Moskau, Tiflis, Charkow und Orel, 1981) Als die Gruppe nach zwei Jahren Geburtsort Stalins. Das kleine Haus hat erneut eine Reise in die Sowjetunion man mit einem größeren überbaut. Es plante, lud sie uns ein – und wir nahmen wirkt fast wie ein primitiver Tempel. die Einladung gerne an. Diesmal flogen Bemerkenswert ist, dass man sich an Sta- wir wieder bis Moskau. Nach ein paar lin – nicht nur an seinem Geburtsort – in Tagen Aufenthalt in dieser interessanten Georgien nicht ungern erinnert. Zu sehen Hauptstadt – wir kannten uns hier ja nun ist das an den vielen Statuen, die man schon ganz gut aus - flogen wir weiter nach seinem Tod nicht gestürzt hat. über den Kaukasus nach Tbilissi (Tiflis). Mit der Eisenbahn sollte es zunächst Eine tolle Überraschung hätte ich beinahe bis Charkow gehen. Auf dem Bahnsteig vergessen: Am Moskauer Flugafen fiel mir plötzlich ein, dass ich ein in Mos- begrüßte uns als Reiseleiterin unsere kau gekauftes kleines Ölgemälde im Hotel Natascha von 1979. Da war dem MWD 137 vergessen hatte. „Kein Problem“, sagte die (der sowjetischen Geheimpolizei) Reiseleiterin (es war in Georgien nicht bestimmt ein Fehler unterlaufen: Wir unsere Natascha). Vor dem Bahnhof stand erlebten sofort – im Gegensatz zur ersten noch der kleine Omnibus. Mit ihm fuhr sie Reise – ein phantastisches Vertrauen. zum Hotel, holte hinter der Heizung, wo es Natascha bat uns z. B. gleich, den illega- zum Trocknen stand, das Gemälde und len Geldtausch - zwar verboten, aber für brachte es mir, der ich schon mit der beide Seiten äußerst lukrativ - diesmal bei Gruppe im Waggon Platz genommen ihr vorzunehmen und nicht sonstwo. hatte. Ein greller Pfiff der Lokomotive, und Immer wieder verriet ein Augenzwinkern der Zug setzte sich in Bewegung. Das bei ihr und uns, dass wir uns trefflich ver- Ganze war eine kleine Freundlichkeit des standen. Fahrdienstleiters, den die Reiseleiterin Das wäre in Georgien – Verzeihung: schnell informiert hatte. russisch Grusinien - allerdings gar nicht Es war eine abenteuerliche Fahrt. nötig gewesen: Georgien ist nicht Sowjet- Der schlechte Gleisbau ließ die Wagen hin union, das merkten wir sehr bald. Noch und her schwanken, und ich fürchtete, sie freundlicher zu uns waren die Menschen. könnten jeden Augenblick entgleisen. Je Aus dem Oberstock eines Hochhauses näher wir uns allerdings Mokau näherten, winkte man uns zu und lud uns ein, herauf desto ruhiger – und schneller - rollte der zu kommen. Woran erkannten sie uns als Zug. Dass wir in Charkow einen Tag Sta- Deutsche? Hier erlebten wir eine völlig tion machten, war mir eine besondere andere Atmosphäre, obwohl sie in Orel Freude. In dieser Stadt bin ich mehrmals oder Moskau keineswegs unfreundlich während des Krieges gewesen und habe war. dort sogar meinen Bruder zwei Mal treffen Ein Ausflug nach Mzcheta, einem können. Mit einem Bus fuhren wir noch orthodoxen Kloster, das in der Umgebung nach Orel (übrigens russisch Orjol), wo wir hoch geschätzt wird, interessierte uns einige Tage verbrachten, und dann nach sehr, ebenso der nach Gori, dem Moskau. Von da aus flogen wir wieder nach Frankfurt zurück. Im Gepäck hatte 137 (russ). Abkürzung von Ministerium für ich einen Samowar, den mir meine Innere Angelegenheiten. Brieffreundin Nina Gorjatschewa als Gast- geschenk überreicht hatte. 202 Nordlandfahrt mit Dora und Gudrun (22. Mai – 5. Juli 1982)

Im Frühjahr 1982 starteten wir zu pazifistischen Humanismus vertreten. Kein dritt (Dora, ihre Schwester Gudrun – und Wunder, dass er nach der „Machtüber- ich) – zur Skandinavien-Fahrt. Meine nahme“ durch die Nazis ausgebürgert Schwägerin hatten wir wieder eingeladen. wurde und seine Bücher in Deutschland Wir drei waren mittlerweile ein gutes Team den „Feuertod“ fanden. geworden, und so trug dies zu einer Stockholm! Es war Pfingsten und wir Bereicherung mehrerer Unternehmungen besuchten in der Tysk-Kirke (deutschen bei. Kirche) den Gottesdienst. Zur Wachablö- Ziel war nicht nur das Nordkap, son- sung am Schloss schrieb Dora ins Fahr- dern ein kleiner Grenzort zur Sowjetunion tenbuch: „Helau!“ Leider war in Uppsala südostwärts von Kirkenes. In einem Zei- die Bibliothek geschlossen; zu gerne hät- tungsartikel (mit Fotos) hatte ich gelesen, ten wir uns den berühmten Codex Argen- dass dort nur noch ein altes Ehepaar teus 138 angesehen - aber sonntags war lebte, zu dem man über die praktisch dort zu. So suchten wir uns einen schönen offene Grenze gelangen konnte. Im Standplatz und fanden ihn auch in einem Gepäck hatten wir für den Besuch bei die- Waldstück. Tagebuch-Eintrag: „Gudrun sen alten Leutchen außer Schnaps und fährt es ins Kreuz!“ Im nächstgelegenen Wein diesen Artikel als Geschenk. Krankenhaus bekam sie eine Spritze, ein Die Reise begann nicht gut: Am Rezept und den guten Rat ín Englisch: zweiten Tag, noch in Norddeutschland, „Rest is best.“ Wir befolgten ihn und trans- musste ich wegen einer sich entwickeln- portierten unsere Patientin liegend zum den Blasenentzündung einen Urologen nächsten Übernachtungsplatz. Es war ein konsultieren. Die von ihm verschriebenen dichtes Waldstück, und wir waren bestens Medikamente beseitigten sehr schnell die getarnt. Aber die Schnaken fanden uns, Beschwerden. Noch in Puttgarden mel- und unser Schutznetz half nur wenig. dete Gudrun ernste Beschwerden im Rük- Deshalb wagten wir es, weiter zu fahren. ken, und wir erwogen schon, ob wir sie Vor der nächsten Übernachtung stellte ich nicht doch besser in den nächsten Zug das schwere Elektro-Aggregat an, denn des nahen Bahnhofs Richtung Heimat Strom war im Reisemobil immer knapp, setzen sollten. Da aber vor Abfahrt des wogegen Gas zu viel und Wasser genug nächsten Fährschiffs Besserung eintrat , vorhanden war. Das hätte ich nicht tun wagten wir den „Sprung“ über den Feh- sollen, denn am nächsten Morgen, marn-Belt nach Dänemark (Rødbyhaven). „schoss mich die Hexe“ beim Strümpfe- Die Fahrtstrecke ist ja nicht das Ziel; Anziehen ins Kreuz. aber wir sahen uns dies und das genauer Was tun? Dora und Gudrun trauten an. In Roskilde war es der Dom mit seinen sich nicht, den Wagen zu lenken. Wir Königssarkophagen, in Kopenhagen inter- standen günstig auf der alten Straße par- essierte uns vor allem der Stadtkern. Mehr allel zur neuen Richtung Östersund, durch als Schloss Kristiansborg gefiel uns das Gebüsch einigermaßen sichtgeschützt. Rokokoschloss Amalienborg. Die Wache „Rest – the best!“ Am dritten Tag, nach- in ihren alten Uniformen mit Gewehren dem uns schon die vorbeifahrende erschien uns wie große Zinnsoldaten. schwedische Polizei – sehr freundlich! – Graziös und lustig ist das Wahrzeichen kontrolliert hatte, fassten wir den schweren der Stadt, die Bronzefigur der „Kleinen Entschluss, das Nordkap usw. zunächst Meerjungfrau“. abzuschreiben und nach der geringsten Noch am selben Tag waren wir in Besserung westwärts über die norwegi- Schweden, nicht mehr weit bis Schloss Gripsholm. In dessen Nähe fanden wir das 138 Silbercodex, Abschrift der Gotenbibel Grab Tucholskys. Er hatte ja als bedeu- Wulfilas aus dem 6. Jahrh., in silbernen tender deutscher Schriftsteller, Satiriker und goldenen Buchstaben auf und Zeitkritiker einen linksgerichteten purpurfarbenem Pergament geschrieben. 203 sche Grenze ans Meer zu fahren. Wenn Ähnlich ist der Blick vom Prekesto- es dann bei mir nicht besser würde, so len, einem Felsen aufragend über dem dachten wir, verladen wir an der Küste Lysefjord, oben eine Plattform, auf der nur irgendwo auf ein Schiff Richtung Heimat. Schwindelfreie bis an die Kante gehen Aber es wurde besser! Drei Tage können. Ich habe mich auf den Bauch Stufenbett, Wärmflasche, meine breite gelegt, um gefahrlos einen Blick in die Gummibinde um Bauch und Rücken und Tiefe wagen zu können. Dort sitzend sind eine gehörige Dosis Ortoton-Tabletten einige hundert Meter steil abfallender Fels weckten die Lebensgeister, und wir wag- unter den Füßen. ten die Fahrt Richtung Trondheim. Nach Welch ein Schauspiel bieten die ca. 180 Kilometern – unweit der norwegi- Wasserfälle im Jostedal, deren Wasser schen Grenze – bezogen wir Nachtquar- von den größten Eisfeldern Europas her- tier. Am nächsten Morgen war ich fast kommt. Und es sind ja nicht die einzigen beschwerdefrei. Es waren noch 120 Kilo- Wasserspiele in diesem Land! meter bis Trondheim. Dort fanden wir Reizvoll stehen auch die Stabkirchen einen idealen Standplatz. Unser Foto von in der Landschaft – eine immer schöner der Stadt glich haargenau der Postkarte, als die andere. In Heddal, der größten die wir an Werner, Elisabeth und Wilhelm unter ihnen, zog gerade eine Hochzeits- sandten. Sollten wir also nun doch von gesellschaft ein, manche der Gäste in tra- hier aus weiter nach Norden fahren? Wir ditionellen Trachten. hielten „Kriegsrat“ und betrachteten es als Anstelle mancher malerischer Städte einen Wink des Himmels, darauf zu ver- wie Molde, Alesund usw. sei hier Bergen zichten: Südlich von uns lag der wohl genannt. Angeblich soll es hier am mei- schönste Teil Norwegens, wenn man sten regnen, sodass behauptet wird, die überhaupt hier Vergleiche vornehmen will. Pferde würden scheuen, wenn ihnen ein Aber die Zeit, die wir im Norden verbracht Mensch ohne Regenschirm entgegen hätten, stand uns nun für die südlichere kommt. Ob es stimmt, konnten wir nicht Landschaft zur Verfügung. feststellen, denn eine strahlende Sonne Diesen Entschluss haben wir nicht am blauen Himmel stand über den bunten bereut, auch wenn wir bis jetzt nur knapp Holzhäusern und den Schiffen im Hafen. ein Drittel der Strecke bis zum Nordkap Bergen besuchen und Troldhaugen nicht, bewältigt hatten. Von Touristen, die zur wäre eine sträfliche Unterlassung. Denn selben Zeit dort waren, die wir dafür vor- hier ist die Wohnung Edvard Griegs (1843 gesehen hatten, hörten wir, dass das – 1907), des norwegischen Komponisten, Wetter total ungünstig gewesen sei. Wir bekannt durch seinen typisch skandinavi- hatten also nichts versäumt. Sogar von schen Stil. Seine Musik ertönte immer der Mitternachtssonne haben wir so viel wieder aus unserer Anlage und passte mitgekriegt, dass wir seitdem mehr als nur vorzüglich zu der Landschaft, durch die wir eine Vorstellung von diesem Naturereignis gerade fuhren (vor allem die Musik zu haben. In aller Ruhe konnten wir nun das Ibsens „Peer Gynt“, etwa Solveighs Lied). schöne Land besehen. Mit Oslo beendeten wir unsere Berühmt und bekannt ist ja der Gei- Nordlandfahrt, die zu einer „Süd-Nord- ranger-Fjord. Ihn mit dem Schiff zu land“-Fahrt geworden war. Oberhalb des durchfahren, ist ein einmaliges Erlebnis. In Holmenkollens, der schon fast antiken engen Serpentinen führt eine schmale Skisprungschanze, fanden wir einen Straße hinauf zur Dalsnibba, auf der unser schönen Übernachtungsplatz mit Aussicht Reisemobil zeigen konnte, welch enge auf die Stadt, in die wir mit der Bergbahn Kurven es bewältigt. Von oben hat man fuhren; der LT brachte uns zu deren End- einen wunderschönen Blick hinunter auf station Besserud. Auf der Museumsinsel diesen Fjord. Dort haben wir übernachtet, Bygdoy bewunderten wir unter anderem bei der Mitternachtssonne bis 23 Uhr Wikingerschiffe, auch die Fram, mit der Postkarten schreibend. Vom Bett aus sah Fridjof Nansen, der norwegische Polarfor- man die Schiffe wie Spielzeug hin- und scher, zwei Fahrten unternahm und im herfahren. Unvergesslich: Haydns Packeis des Nordpolarmeeres driftete. Schöpfung aus der Stereo-Anlage zu In der Nationalgalerie sind bekannte hören mit dem Blick über schneebedeckte Werke von berühmten Künstlern, u. a. von Berge und den Fjord. Munch, Picasso, van Gogh und Monet zu 204 sehen. Allein von Edvard Munch zeigt ein Heimreise an und übernachteten nicht weit ihm gewidmetes Museum eine große von Oskarsborg, wo im Fjord, ungefähr 30 Auswahl seiner Werke, die mich wegen Kilometer vor Oslo, in 100 Metern Tiefe ihrer oft erschütternd realistischen Spra- das 1942 versenkte deutsche Schlacht- che („Der Schrei“) besonders ansprachen. schiff „Bismarck“ liegt. Selten machten wir Am letzten Tag in Oslo besuchten wír im auf der folgenden Strecke Halt, denn die Dom einen Gottesdienst und erfreuten uns Heimat zog. Doch wir waren noch eine an den schönen Klängen der Walcker- ganze Woche unterwegs, bis wir endlich in Orgel aus Ludwigsburg. Bad Homburg „landeten“, von Werner, Noch am selben Tag traten wir die Elisabeth und Wilhelm freudig begrüßt. 205 Eine folgenschwere Wendung

Zwei Tage nach der Rückkehr von ich mich in meinem Studium dort 1958/59 einer nur eine Woche dauernden Fahrt mit ebenfalls angefreundet hatte. Wir meinem Freund Günter Balzer durch die verstanden das beide als einen der Vogesen brachte Dora am 24. Mai 1984 typischen „Zufälle“. von einer Routine-Untersuchung im Leider hat die BfA dieses Haus Rahmen der Krebs-Vorsorge die schlimme später nicht mehr belegt, sodass wir für Nachricht mit, dass nach dem Befund kein weitere Kuren ein anderes suchen Zweifel an einem „malignen Geschehen“ mussten. Jetzt dort zu sein, war in der rechten Brust bestehe, bei dem ausgesprochen angenehm, da es nur „eine baldige chirurgische Intervention schwach belegt, aber bestens ausgestattet angezeigt“ sei. Ich rief sofort meinen war. Es hatte sogar ein Schwimmbad. Freund aus der sowjetischen Natürlich war für uns die besonders gute Gefangenschaft - Erasmus Zöckler - an, Beziehung zu Dr. Schlepkow ein starkes der zu dieser Zeit Chefarzt der Plus. Außerdem befreundeten wir uns mit Chirurgischen Klinik in Bad Oeynhausen einem älteren Ehepaar aus der Karlsruher war, und besprach mit ihm die Gegend; mit deren Verwandten, Frau Schreckensnachricht. Er erklärte sich Wilma Kunkel, die mitkurte, blieben wir bereit, die Operation durchzuführen. über den Tod des Ehepaares hinaus bis Wir zögerten nicht lange und fuhren heute freundschaftlich verbunden. Es kam am 3. Juni nach Bad Oeynhausen, wo am hinzu, dass die Kur über die Feiertage 5. die Operation stattfand. Laut OP-Bericht hinweg dauerte, in einer Zeit also, wo es wurde der Tumor bereits bei der besonders schön ist, wenn man mit Probeexcision entfernt. Leider fand man in Menschen zusammen sein kann, mit der Achselhöhle sechs von zehn denen man sich gut versteht. Lymphknoten befallen. Eine totale Es war auch nicht einfach, in den Entfernung durch eine Radikaloperation Folgejahren ein adäquates Haus zu war nicht ratsam. Da auch die Bestrahlung finden. Denn es wechselten zunächst nicht empfohlen werden konnte, beschwerdefreie Zeiten, die fast ohne entschloss man sich zu einer Behinderungen oder irgendwelche Medikamenten-Behandlung mit Östrogen Schmerzen waren, mit plötzlichen und Tamoscifen, zu der die Rezidiven (Rückfällen), die eine erneute Voraussetzung besser war. Ob man sich Einweisung ins Krankenhaus und eine heute anders verhalten würde, wusste und stationäre Behandlung erforderten. Es war weiß ich auch jetzt nicht – aber was eine schlimme Zeit: ständiges Schwanken half´s? Schon damals stritten sich die zwischen Hoffen und Bangen. Auf eigene Experten offenbar noch um den rechten Kosten nahm ich immer an den Weg, d. h. es bestand keine 100- verschiedenen Kuren teil – es war Doras prozentige Klarheit. ausdrücklicher Wunsch. Der behandelnde Frauenarzt Dr. Nach der Kur in Reinerzau war ihr Rose in Bad Homburg übernahm die objektiver Zustand so gut, und auch sie ärztliche Betreuung und verschrieb eine selbst fühlte sich so wohl, dass wir dem „Festigungs-Kur“ (wie man es damals Rat folgen konnten, nach allem nannte), die über Weihnachten und Gewesenen – so ernst es auch war – Neujahr 1984/85 in Reinerzau im weiter zu leben, als wäre nichts passiert. Schwarzwald (bei Alpirsbach) Deshalb planten wir eine 8-wöchige Fahrt durchgeführt wurde. Bei dem Chefarzt Dr. nach Italien, einschließlich Sizilien, die uns D. Schlepkow stellte sich heraus, dass er beiden (trotz mancher Aufregungen) sehr Jugendfreund des Direktors am gut bekommen ist, besonders Dora: 04. Düsseldorfer Oberseminar war, mit dem 05. – 28. 06. 1985). 206 Jugoslawien – Montenegro mit Wilhelm (17. September bis 9. Oktober 1985)

Anfahrt: Autobahn Frankfurt – nach Titograd. Außer dem Namen bietet Spessart – Würzburg – München – dieser Ort nichts Besonderes. Also streb- Innsbruck – Brenner-Pass – Toblach – ten wir einem unserer Hauptziele zu: den Sillian – Lesachtal – Kötschach – Gailtal – „Schwarzen Bergen“ (Monte negro), Kirchbach/Tressdorf. Im Wutzlhaus gewissermaßen dem jugoslawischen (Ferienresidenz der Zöckler-Familie, in der Schwarzwald. Zentrum ist der Wintersport- auch wir als Familie und einzeln und Luftkurort Žabljak. Dort war es – unvergesslich schöne Urlaubstage Anfang Oktober! – noch sehr ruhig. verbringen konnten, Bild 66) fanden wir Gerade das gefiel uns besonders. Ein Tochter Angela, Johannes und Maria vor. „Bergli“ wollten wir erklettern. Unweit von Sie luden uns zum Abendessen ein, und unserem Übernachtungsplatz stand ein es wurde bei guten Gesprächen recht Wegweiser, der verschiedene Berghöhen spät. Am nächsten Tag fuhren wir weiter mit deren Namen, kaum leserlich, das Gailtal aufwärts und über den Wurzen anzeigte. Pass. Jetzt machte Wilhelm sein Moun- Es war schon ziemlich später Vor- tain-Bike fahrbereit. Bei schönstem Wetter mittag. Eine Bergtour sollte man eigentlich bewältigte er den Vršič -Pass (aufwärts!). früher beginnen. Mir hätte auch der zweit- Dort oben blieben wir über Nacht. Ein höchste genügt; aber Wilhelm wollte zum Antennenmast forderte seine Kletterkünste höchsten Gipfel. Den Namen hatten wir heraus (Bild 67). Am nächsten Morgen uns zunächst gar nicht gemerkt. Ich wollte ließ mich Wilhelm wieder allein und sauste mich nicht lumpen lassen; also willigte ich das Isonzo-Tal mit seinem Mountainbike ein, und wir machten uns auf den Weg. Es hinab, fast bis zur Predjama–Höhle. Sie ist war keine Klettertour, aber der Weg stieg nicht nur an sich eine Sehenswürdigkeit: in steil an und zog sich endlos hin. Eine sie hinein ist ein Schloss gebaut. halbe Stunde vor dem Gipfel hatte ich Nun war es nicht mehr weit bis zur meinen Totpunkt. Wilhelm übernahm mei- Adria, zur Jadranska-Magistrale (Adria- nen Rucksack, und so strebten wir nach Hauptstraße). Sie verläuft fast bis in den einer kurzen Verschnaufpause unserem Süden des Landes parallel zur Meereskü- Ziel weiter zu. Für unsere Mühe wurden ste. Auf ihr fuhren wir - immer wieder wir mit einem sagenhaften Rundblick schöne Badestellen ausnutzend und die belohnt (Bild 68); wir konnten uns nicht malerischen Städte besichtigend - durch satt sehen. Ich bin zwar kein alter Berg- Koper, Rijeka, Zadar, Sibenik, Trogir, Split steiger, jedoch die verspätete Rückkehr und Dubrovnik in die Kotor-Bucht bis nach hätte mir nicht passieren dürfen. Der Weg Kotor. Zu Fuß wanderten wir die Höhe war gut ausgezeichnet, doch in der ein- hinauf zum Kastell und hatten einen wun- brechenden Dunkelheit immer weniger zu derbaren Blick über die Stadt und die erkennen. Das Trinkwasser in unseren ganze Bucht. Eine steile, enge, Feldflaschen ging zur Neige. Es war schon schlechte(!), aber reizvolle Straße endete duster, da kamen wir zum Glück an eine in Cetinje, der alten Hauptstadt von Mon- kleine Quelle. tenegro. Immer wieder blieben wir stehen Um es kurz zu machen: Wir fanden und genossen den herrlichen Blick zurück. schließlich doch noch unser Reisemobil. Cetinje hat bessere Zeiten erlebt während Die Herztropfen aus unserer Apotheke der Donau-Monarchie, davon zeugen noch halfen mir wieder auf die Beine. Nach die stattlichen Häuser der verschiedenen einem guten Abendessen legten wir uns Botschaften. schlafen, froh und dankbar, dass es dies- Eine Fahrt nahmen wir uns dann vor, die mal gut gegangen war. Erst am nächsten mich schon länger gereizt hatte: zur alba- Morgen suchten wir noch einmal unseren nischen Grenze. Aber wir kamen nicht ersten Wegweiser auf, und nun wussten weit. Bald hielt uns ein jugoslawischer wir, dass wir auf dem höchsten Berg Grenzposten freundlich, aber bestimmt Jugoslawiens gewesen waren, dem zurück. Also wandten wir uns nordwärts Bobotov - Kuk, 2522 m hoch! Bild 66 Wutzlhaus in Kärnten

Bild 67 Klettermaxe Wilhelm

Bild 68 Auf dem Bobotov-Kuk 208 209 Unser nächstes Ziel war Sarajewo. zige Antwort, dass es keineswegs beson- Wir standen dort an der historischen ders interessant sei, jeden Tag vom Stelle, wo der serbische Primaner Princip „Scheißhüsli“-Fenster aus immer nur das im Juni 1914 den österreichischen Thron- Matterhorn zu sehen. Mit unserem Wohn- folger Erzherzog Franz Ferdinand mit sei- ort zufriedener setzten wir unsere Heim- ner Gattin erschossen und damit den reise fort. Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte. Durch Im Zickzack – immer den Makadam- eine wildromantische Landschaft (die sträßchen folgend – fuhren wir von Opatija Straßen waren entsprechend) ging die aus (idyllischer Badeort, der noch an die Fahrt weiter nach Mostar. Noch konnten österreichisch-ungarische Zeit erinnerte) wir über die architektonisch berühmte und durch den Norden Istriens - dabei die hübsche Brücke aus dem 16. Jahrhundert Fischer- und Hafenorte Piran und Koper vom bosnischen zum herzegowinischen nicht vergessend - in Richtung Triest zur Teil der malerischen Altstadt gehen. Sie italienischen Grenze. Bevor wir sie über- wurde nämlich im Bürgerkrieg 1993 zer- querten, tankten wir noch voll, was voll zu stört. Man hat sie in alter Form wieder machen ging: nicht nur den Tank, sondern aufgebaut (natürlich mit moderner Technik auch die Reservekanister; denn Diesel- und viel Beton). treibstoff war in Jugoslawien extrem Der größte Teil der Reise lag nun preiswert. Von solchen Preisen können wir hinter uns, und wir überlegten uns, wie wir heute nur noch träumen!. die Rückkehr gestalten sollten. Zunächst Eigentlich wollten wir noch einige fuhren wir zur dalmatinischen Küste hin- Pässe fahren (Wilhelm natürlich mit dem unter nach Zadar. Von hier aus die Magi- Mountainbike), doch das Wetter war zu strale zu benutzen, war uns zu öde; der schlecht geworden. Der Verzicht fiel uns Küste vorgelagert nimmt nämlich die Insel nicht schwer, denn aufgeschoben ist nicht Pag die Sicht aufs Meer. Da entschlossen aufgehoben! Hier entstand übrigens der wir uns, sie nach Westen zu überqueren. Plan einer speziellen Pässefahrt – beson- Man erreicht sie vom Festland aus über ders abgestimmt für unsere Fahrradenthu- eine große Brücke. Nach ca. 50 km führte siasten Wilhelm und Werner. die Straße zur Fähre und damit zur Küste In der Tat: Es vergingen keine 14 zurück. Wir mussten erst mal warten. Tage bis zur Verwirklichung dieses Vorha- Neben uns stand ein elegantes Reisemo- bens. Durch Wilhelms Bericht nach der bil aus der Schweiz, mit dessen Besat- Rückkehr und der Tatsache, dass wegen zung, einem Ehepaar, wir ins Gespräch der vorgerückten Jahreszeit und des damit kamen. Sie stammten aus Zermatt. Wil- zu erwartenden schlechteren Wetters man helm meinte in dem im Ganzen lustigen nicht lange zögern sollte, wurde eine kurze Wortwechsel, es müsse doch sehr schön Schweizfahrt geplant - allein mit dem Ziel, sein, in einer so phantastischen Gegend auf dem Fahrrad – wie Briefmarken – zu leben. Die Frau gab ihm darauf die wit- Höhenkilometer zu „sammeln“.

8-Pässe–Fahrt mit Werner und Wilhelm ( 24. – 29. 10. 1985)

Davon ist nicht viel zu berichten. Die haben die jeweilige Bergfahrt ja nicht in eigentliche Fahrt begann in Erstfeld an der Meereshöhe begonnen. Die Zahl der Gotthard – Rampe. Lediglich die Pässe Kilometer auf dem Zähler des LT aber seien aufgezählt: 1. Gotthard- (Bild 69), 2. seien genannt: 1727 km, auf dem Fahrrad Lukmanier-, 3. Oberalp-, 4. Furka-, 5. 484km. Natürlich haben wir uns öfter am Grimsel-, 6. Nufenen, (höchster Pass der Lenkrad abgelöst. Urteil während der Schweiz), 7. Susten- , 8. Grimsel-Pass letzten Kilometer (lt. Fahrtenbuch): „Eine (also 2x!, Bild 70). Die „Athleten“ haben sehr schöne Fahrt geht zu Ende!“ auch die Höhen addiert. Was soll´s? Sie 210 Benelux – Fahrt (mit Dora und Gudrun, 9. bis 29. Mai 1986)

Höhepunkte und besonders Interes- haben (am 30. Januar 1933 angesichts santes: Münster/Westfalen (Besuch bei des Fackelzuges zur „Machtergreifung“ Ehepaar Hövelmeyer – Bernd war einer Hitlers): „So viel kann ich gar nicht essen, meiner besten Kriegskameraden); - Nie- wie ich kotzen möchte.“ derlande: Tulpen, Narzissen- und Hyazin- Delft Porzellan-Manufaktur-Museum; thenblüte allüberall auf unübersehbar gro- Rotterdam: Hafenrundfahrt, Fahrt durch ßen Feldern; Naturpark Hoge Veluwe b. das Schleusengebiet. Belgien: Antwerpen: Hoenderloo, darin Kröller-Müller Museum; Rubensmuseum, Marktplatz mit alten Bür- Franeker: Planetarium von Eise Eisinga, gerhäusern; Ypern: flandrische Schlacht- eines einfachen Wollkämmers; Alkmaar: felder des 1. Weltkrieges, Gent: „Genter Käsemarkt; Amsterdam: Rijksmuseum, Altar“ von Jan van Eyck in der St.-Baafs van Gogh-Museum, Anne Frank-Haus; Kathedrale (Die singenden Engel); Brüs- Haarlem: Frans Hals-Museum; Keukenhof; sel: Marktplatz, Rathaus, Zunfthäuser, Den Haag: Internationaler Gerichtshof, Männeken-piss, Atomium; Semois-Tal: Königsschloss; Huis Doorn: 1919 – 1941 wunderschöne Landschaft. Luxembourg: Exil des letzten deutschen Kaisers Wil- Wir hatten die Grenze gar nicht bemerkt helm Il. und standen plötzlich auf einer Straße - Hierzu einige Bemerkungen: Dass linke Seite Belgien, rechtS Luxembourg - „Seine Majestät“ güterzugweise Inventar mit je einer Tankstelle.. die belgische war aus seinen Schlössern zu „Ihrer“ Bequem- billiger, also tankten wir bei ihr, Vianden: lichkeit hierher hat schaffen lassen, wäh- Bilderbuch-Burg aus dem 12 – 17. Jahr- rend „Ihro Untertanen“ die Nachkriegszeit hundert. Eine ehemalige Klassenkamera- in Hunger und größter Armut durchleben din Doras (Wiedersehen nach 41 Jahren!) mussten, kann man hier in makabrer , die jetzt in Luxembourg wohnt, führte uns Deutlichkeit sehen. Einen Wachmann sachkundig durch die Stadt. fragte ich, wem das wohl alles gehöre. Er Letzter Tag: Fahrt durch das meinte, noch sei es Eigentum der Hohen- Moseltal. Koblenz, Rheintal, Wispertal. Ein zollernfamilie in Deutschland. Da aber der uns überholender Pkw-Fahrer machte uns Kaiser sich geweigert habe, wie jeder hol- auf eine kindskopfgroße Beule an der ländische Bürger Steuern zu zahlen, sei Flanke des rechten Vorderradreifens auf- es zunächst beschlagnahmt und würde merksam. Bevor es knallte, wechselten wir eines Tages dem holländischen Staat das Rad und kamen – dankbar und wohl- gehören. Also: Seine kaiserliche Majestät behalten - daheim an. lehnten es ab, Steuern zu zahlen: Hier fällt Bei dieser Reise bekamen wir so mir nur noch Tucholsky ein. Ihm wird die- recht Appetit aufs Fahren, dass wir nicht ses Zitat zugeschrieben, den Satz soll lange zögerten, uns aufs nächste „Aben- aber Max Liebermann ausgesprochen teuer“ zu begeben: 211

Bild 69 Gotthard-Pass, auf der Teufelsbrücke

Bild 70 Am Grimselpass 212 213 Türkei-Fahrt (mit Dora, 03. 09. – 21. 10. 1986)

(Bild 71) Anfahrt über Stuttgart – Am nächsten Tag: Einkauf von München – Brenner-Pass – Lesachtal – Lebensmitteln, vor allem Obst, es war Gailtal – Wurzenpass – Ljubliana – Rijeka spottbillig: Melonen, Feigen, Bananen, – Adria-Magistrale – Dubrovnik – Kotor – Tomaten, Weintrauben, saftige Pfirsiche die schönste Bergstraße Europas nach und Aprikosen. Die Verkäufer/Innnen Cetinje - Titograd – Pristina – Skopje – waren immer sehr freundlich, vor allem, Gevgelia (Grenzort nach Griechenland) wenn sie merkten, dass sie es mit Aleman Thessaloniki – Kavalla – Xanthi – Alexan- (Deutschen) zu tun hatten. Auch wenn wir droupolis – Türkei-Grenze - Ipsala - Kilit- durch Ortschaften fuhren und die Leute bahir - (ca. 3.000 Straßen-km von Bad sahen, wo wir herkamen, wurde uns Homburg, aber noch in Europa!) – Geli- zugewinkt. Wie haben wir das verdient? bolu (das frühere Gallipoli) - Eceabat – mit Deutsche und Türken lieben einander, der Fähre über die Dardanellen – Canak- hörten wir immer wieder. Man erklärte uns kale: ab hier waren wir in Asien! das Zeichen dafür: Es ist das Reiben der Schwimmen in den Dardanellen – Zeigefinger beider Hände aneinander. Das ist das nichts? Fahrt nach Troja. In der war immer sehr lustig. Aber die allgemeine Schule haben wir von dieser Stadt Armut bedrückte uns – Ursache von Dieb- geträumt. Der Touristenrummel hat uns stählen und Überfällen. Deswegen wurden sehr gestört. Selbst das berühmte Holz- wir sehr oft gewarnt, nicht wild zu campen. pferd war zu sehen. Dass darin mehrere Je weiter wir nach Osten kamen, desto Soldaten Platz gehabt haben sollen, ist wichtiger wurde die Beachtung dieses kaum zu glauben. Aber warum nicht? In Rates. Deshalb suchten wir abends der Arche Noah kamen ja auch viele Tiere zunehmend Campingplätze auf – sie unter: da wird es wohl enger zugegangen waren ja auch sehr preiswert. sein. Priene und Milet sind archäologisch In Izmir waren kaum Reste des alten sehenswerte Orte. Wir hatten überhaupt Smyrna zu sehen. Aber in der Altstadt gab den Eindruck, dass – besonders im es einen zünftigen Basar. Uns interes- Süden des Landes – davon mehr zu sierte mehr Ephesus. Vor allem das impo- sehen ist als selbst in Griechenland. In sante Amphitheater (Freilichttheater). Hier Didyma z. B. müssen im Altertum Tempel hat der Apostel Paulus auf seiner 2. Missi- von unvorstellbar großen Ausmaßen onsreise zum Volk und zur Gemeinde gestanden haben; wir sahen es am gesprochen. Er muss wohl auch ein weite- Durchmesser der gestürzten Säulen und res Mal in dieser Stadt gewesen sein, der übrigen Bauteile. wenn die Karte seiner Reisen in meiner Die Hitze wurde immer unangeneh- Bibel stimmt. Insofern befanden wir uns mer. Es war gut, dass wir die südlichste wirklich auf seinen Spuren. Zumindest Fahrtroute – an der Küste entlang mit konnten wir uns von den Orten, die er gelegentlichen Abstechern ins Landesin- besucht hatte, eine Vorstellung machen. nere – gewählt hatten. So fanden wir fast Abstecher nach Pamukkale: flache, immer Campingplätze am Wasser. Apro- weiße Kalk-Terrassen - es war ein phan- pos Wasser! In kaum einem anderen Land tastisches Naturschauspiel. Die Fläche haben wir so viele und so saubere Quellen war früher viel größer. Für Landwirtschaft an der Straße gefunden wie hier. Da wurde (und wird) Wasser abgezweigt; da bewährten sich meine Adapter für die ver- dürfte eines Tages die ganze Herrlichkeit schiedensten Rohrdurchmesser: Wir zapf- verschwunden sein. Rückfahrt in unser ten also direkt! schönes Camp (Kuschadasi). Schwimmen In Antalyja machten wir einen Stadt- im Meer geplant, aber die Wellen waren bummel und genossen das Leben und zu stark. Postkarten schreiben – 30 Stück; Treiben besonders im Altstadtteil. Alles und noch warteten ebenso viel. Am Abend war für uns so interessant, dass wir bei- war die See ruhiger – also hinein ins Was- nahe unseren „irgendwo“ geparkten LT ser! nicht mehr gefunden hätten. Das war 214 schon recht aufregend. Nach Perge sahen Ameisenhaufen. Einige Kilometer südlich wir uns Aspendos an mit seinem sehr gut in Derinkuju gehen die „Wohnungen“ erhaltenen Amphitheater; selbst das Büh- sogar acht Stockwerke in die Tiefe. Eine nenhaus war nur schwach beschädigt. christliche Höhlenkirche fehlt auch nicht Weiter ging´s in Richtung Alanya; es mit alten, gut erhaltenen Fresken: Dar- wirbt mit einem feudalen Motel: der Preis stellungen von Heiligen, nur sind die war auch danach. Von der Zitatelle hat Augen sämtlich ausgekratzt. Mit einer man eine wunderschöne Sicht über den Wanderung zu einem nahen Berg und Strand, das Meer und die Stadt. Hier einer Einkaufsfahrt zu verschiedenen machten wir zwei Tage Pause, bevor es Teppichknüpfern beendeten wir den Tag. demnächst ins Innere des Landes gehen Eine neugeteerte Straße, die ich für sollte. Aber noch hatten wir einige Bade- regennass hielt, verwandelte unseren orte vor uns, z.B. Cap Anamur, der wohl schönen gelben LT in ein traktorähnliches südlichste Punkt unserer Reise. In Silifke schwarzes Fahrzeug. Erst einige Tage war der Campingplatz gebührenfrei: die später reinigten wir in einer aufwändigen Saison war zu Ende. Ein belgisches Ehe- Aktion mit Dieselkraftstoff mühsam unser paar, das hier ebenfalls übernachtete, gab edles Fahrzeug, bevor die Schicht hart uns gute Ratschläge - insbesondere für wurde. Es war überhaupt ein schwarzer den Osten des Landes, den wir ja noch Tag: Auf einem stark bevölkerten Markt in vor uns hatten. Nigde stahl man mir mein eben gerade auf Von hier ab verließen wir das Meer einer Bank neu gefülltes Portemonnaie, als Begleiter, in dem wir noch mehrmals sodass wir nicht einmal das Brot kaufen nach Herzenslust gebadet hatten. Zum konnten, deswegen wir Halt gemacht hat- Glück blieb uns ja die Dusche, die uns ten. Ich musste also ein zweites Mal in die unser fahrendes Hotel bot. Denn jetzt ging Bank, um Geld zu „tanken“. Dora und ich unsere Fahrt in nordwestlicher Richtung dachten: „Glücklich derjenige, der sich so nach Konja, das Flüsschen Saleph (heute was leisten kann!“ Aber wir wurden ent- Göksu) entlang, in dem Barbarossa bei schädigt durch die Fahrt durch das Tau- seinem Kreuzzug 1190 ertrunken ist. Eine rus-Gebirge, über den Pass „Killikische schlichte Gedenktafel erinnert an dieses Pforte“ (seit der Antike ständig umstrittene tragische Ereignis. Durchgangsstraße) nach Tarsus. In dieser Konja ist ein Zentrum des türkischen Stadt wurde Paulus geboren, und hier hat Islam mit mehreren Moscheen und er als Zeltmacher gearbeitet. Museen (türkisch müsesi). Unser Fahrten- Nahebei, in Adana, fanden wir einen buch berichtet so manches Interessante, sehr schönen Camping-Platz, auf dem wir was ich hier ausspare; denn noch viel einen türkischen Luftwaffen-Offizier ken- Sehenswertes lag vor uns. Es war fast nenlernten. Er war erstaunt, dass wir in eine Wüstenlandschaft, durch die wir jetzt das gefährdete Kurdengebiet fahren woll- fuhren mit dem Ziel Göreme. Auf halbem ten und gab uns eine ganze Reihe wert- Weg dorthin liegt eine gut erhaltene Kara- voller Ratschläge und Tipps für interes- wanserei. Für Kamelkarawanen war sie sante Reiseziele. Hoch erfreut war er zu sicher eine Art Oase, jetzt diente sie hören, dass ich als Soldat bei dem selben einem Bauern als Stall mitten in der „Verein“ war wie er. Da gab es natürlich Wüste. Wir trafen ihn auf dem weiteren viel zu fachsimpeln. Lange hielten wir uns Weg auf einem Esel reitend. Wir machten aber nicht auf. In Gaziantep suchten wir Halt, um ihn zu begrüßen. Ob ich auch lange Zeit vergeblich nach einer Ortsaus- einmal auf einem Esel reiten möchte, fahrt nach Urfa. Kein Wunder, dass wir fragte er mich. So etwas brauchte man mir nichts fanden, denn der Ort heißt jetzt nicht zweimal anzubieten. Sogar sein Sanliurfa und liegt zwischen den Flüssen Gewehr überließ er mir, und Dora fotogra- Euphrat und Tigris. Von dort sollte es nicht fierte mich in dieser martialischen Haltung. mehr weit sein nach Haran, einem Ort, (Bild 72) von dem sogar in der Bibel die Rede ist Göreme, eine Sehenswürdigkeit und den wir unbedingt kennenlernen eigener Art: Im Inneren eines Felsenber- wollten. Es war nämlich der Sitz der Nach- ges befindet sich eine ganze Ortschaft;. kommen des aus Ur eingewanderten der tuffsteinähnliche Felsen machte es Vaters von Abraham, Tharah (1. Mose 11, möglich. Es sieht aus wie ein riesiger 31), der dort nach einem langen Leben 215 starb. Abraham selbst zog später mit sei- Und dann waren wir schon wieder entlas- ner Familie, seinem Neffen Lot, seinem sen. gesamten Gesinde und Besitz weiter nach So peinlich die Szene für uns war, Kanaan. (Die Geschichte ist nachzulesen, begrüßten wir doch ihre Kürze; denn was vor allem in Kapitel 24.) hätten wir tun sollen? Besser wäre Hamit Bei Birecik führte eine Brücke über als Dolmetschen gewesen, aber er machte den Euphrat, und wir übernachteten bei keine Anstalten dazu. Er sprach nur kurz einer Tankstelle. Nun waren wir in dem mit dem Vater – wahrscheinlich hat er ihm berühmten Zwischenstromland („zwischen erklärt, wie es zu unserer Bekanntschaft Euphrat und Tigris“). Nach Sanliurfa war gekommen war. Er führte uns anschlie- es nun nicht mehr weit. Dort sprachen wir ßend durch die Ortschaft. Vor allem zeigte zwei Studenten in englischer Sprache an er uns das Wasserwerk. Es war geplant, und fragten sie nach Haran. Sie wussten das Wasser durch eine große Pipeline es nicht; es entspann sich aber ein leb- vom Oberlauf des Euphrat von einem haftes Gespräch, das von einem vorüber- noch zu bauenden Stauwerk zu beziehen, gehenden Türken in französisch unterbro- dessen Stausee größer als der Bodensee chen wurde: ob wir nach Haran wollten, werden würde. Dann wird Südost-Anato- fragte er. Als wir bejahten, bot er sich an, lien einmal der „Brotkorb des Nahen uns dorthin zu führen, wenn wir ihn mit- Ostens“ sein (lt. Gerd Höhler, Frankfurter nähmen. Er wolle nämlich auch dorthin; er Rundschau v. 08. 03. 1988). Zur Zeit müsse nur noch eine Besorgung machen. bezogen sie das kostbare Nass – haupt- Im Gespräch stellte es sich heraus, sächlich zum Bewässern der Felder – aus dass er als Ingenieur Chef des Wasser- Tiefbohrungen. Aber die Menge reichte werkes in Haran war. Der Ortsname sei nicht, um den Bedarf zu decken, jetzt Altinbasak, wurde aber von uns – geschweige denn ergiebige Ernten zu offensichtlich zur Freude der Bewohner - gewährleisten. Der Boden ist erstaunlich nicht gebraucht. Hamit (der Vorname fruchtbar; es fehlt nur die Feuchte. unseres „Privat-Fremdenführers“) erklärte Wir machten noch einen Termin für uns, er würde uns auch gerne im Ort alles den nächsten Tag aus, an dem Hamit uns Interessante zeigen. Etwas Besseres sonstige Sehenswürdigkeiten zeigen konnte uns gar nicht passieren, zumal er wollte. Haran hat nämlich eine große Ver- auch einen vertrauenswürdigen Eindruck gangenheit hinter sich. Es war einst der machte. wichtigste Ort Mesopotamiens und noch Als wir dann in Haran einfuhren, nach der Eroberung durch die Assyrer sahen wir sogleich die biblische Szene wie bedeutender Handelsmittelpunkt. Interes- aus 1. Mose 24, 11 ff: Frauen am Brunnen sant ist also, dass Abraham nicht aus beim Wasser schöpfen (Bild 73). Ob eine irgendeinem verlorenen Kaff vom Ende hübsche wie damals Rebekka dabei war, der Welt stammte, sondern allein schon konnten wir wegen der Kopftücher leider als Großstadtbürger bestimmt eine nicht sehen. Die Häuser waren meistens beachtliche Bildung besessen haben Trulli-ähnlich, d. h. statt eines Daches musste. Für das ungeübte Auge ist von hatten sie – je nach Länge des Gebäudes dem allem heute nichts mehr zu sehen. – mehrere Spitzkegel (Bild 74). Hamit Hamit aber belehrte uns doch eines Bes- führte uns sogleich in sein Elternhaus, wo seren: Ausgrabungen sind im Gange und er uns der Familie vorstellte. Alle saßen förderten bereits wichtige Erkenntnisse ausnahmslos am Boden, mit dem Rücken zutage. zur Wand. Ornamentreich gefertigte Tep- Nicht genug mit seiner hoch interes- piche machten den Raum zu einer großen santen Führung, lud er uns zu seiner Liegestatt. Wir waren auf dieses Treffen Familie nach (Sanli)Urfa ein, und wir lern- überhaupt nicht vorbereitet, und sicherlich ten auf diese Weise noch seine Frau und hätten wir irgend ein Gastgeschenk über- drei Töchter kennen (Bild 75). Wegen der reichen müssen. Der Patriarch – offenbar auch hier nicht vorhandenen Gastge- Hamits Vater – saß, eine Wasserpfeife schenke versprachen wir, sie nach unse- rauchend, in der Ecke des Zimmers. Er rer Heimkehr bestimmt nachzuholen. Das begrüßte mich mit Handschlag, Dora haben wir getreu gehalten mit einem gro- lediglich mit einem kurzen Kopfnicken. ßen Paket, darin vor allem die innigst 216 gewünschten Jeans (die es in der Türkei uns zu einigen Telefonaten mit unseren wohl damals noch nicht gab). Kindern, denen wir meldeten, dass wir Ausgestattet mit den besten Wün- noch wohlauf waren. - Seit Ephesus hat- schen (und Tipps) setzten wir nun unsere ten wir einen Blinden Passagier: im linken Fahrt fort. Auf dem Nemrud Dag erlebten Bügel des Außenrückspiegels hatte eine wir einen unwahrscheinlich schönen Son- Spinne ihr Netz gebaut, das im Fahrtwind nenaufgang. Zur mitternächtlichen Stunde oft zerriss. Über Nacht aber erneuerte sie waren wir mit einem Dolmusch, einem es mit erstaunlicher Geduld immer wieder. Sammeltaxi, vom Campingplatz Kâhta Sicher hat sie sich über einen Ruhetag aufgebrochen. Es war gerade zur rechten ebenso gefreut wie wir, denn das Netz war Zeit, denn der Schrei „ein Rôtel kommt!“ danach besonders stabil. Jetzt aber - auf hatte alle Camper aufgeschreckt. Das ist den etwas besseren Straßen um den Van- ein Omnibus mit Bettenanhänger. Wir See – hielt es dem stärkeren Fahrtwind nannten ihn auch „fahrenden Hühnerstall“, nicht mehr stand, und die Spinne – wenn denn die tagsüber im Bus sitzenden Touri- sie überlebt hat - ist wohl „ausgestiegen“. sten nächtigen in tunnelähnlichen Kam- Als Übernachtungsplatz fanden wir mern, in die man von der Seite des eine Straßenmeisterei, deren Wärter uns Anhängers aus hinein kriechen muss; sie besonders freundlich aufnahm. Am Abend haben nur so viel Platz, dass man sich diskutierten wir mit ihm und seinem Sohn, darin noch nicht einmal richtig aufrichten der in Frankreich arbeitete und Urlaub bei kann. An die 30 – 40 Schläfer können so seinem Vater machte. Er sprach ein gutes „verstaut“ werden. Französisch, und bei mir war von der Im Dolmusch 139 auf die Höhe zu Schule und aus der Kriegszeit in Frank- gelangen, war auch Hamits Empfehlung. reich noch genug übrig geblieben. So Wir schonten dabei unser kostbares Rei- erfuhren wir auch, dass die Zerstörung semobil. Das fanden wir bestätigt während ganzer Siedlungen das Ergebnis der krie- der abenteuerlichen Fahrt: Es ging in gro- gerischen Auseinandersetzungen zwi- ßem Tempo buchstäblich über Stock und schen Kurden und Türken waren („Straf- Stein. Der Nemrut Dag ist ein Berg maßnahmen“). Jetzt wussten wir auch, (geschätzte Höhe weit über 2.000 m) im warum das Land einen so trostlosen Ein- Westen des Gebirgszuges Güney dogu druck machte und die Menschen uns Torostar, auf dem König Antiochus I. von gegenüber sich so so scheu verhielten. Kommagene (+ 38 v. Chr.) unter einem Erst wenn sie merkten, dass wir Deutsche künstlich aufgeschütteten pyramidenför- waren, „tauten sie auf“. Am nächsten Mor- migen Steinhaufen bestattet wurde. Er ist gen mussten wir am Frühstückstisch der so mächtig, dass es Grabräuber bis zum Beiden Platz nehmen und unbedingt ihre heutigen Tag nicht geschafft haben, diese karge Eierspeise mit ihnen teilen, obwohl Stätte zu plündern. Zum Gedächtnis der wir schon gegessen hatten. Toten stehen rings um diesen „Berg“ Endlich fanden wir auch eine Tank- überlebensgroße Köpfe (Bild 76). Als dann stelle. Wir fürchteten schon, irgendeinen die Sonne über dem Horizont aufstieg, Lastwagenfahrer anbetteln zu müssen, ging ein allgemeines lautes „Ah“ durch die denn unser Tank war fast leer, und den Menge der inzwischen auf der Höhe Inhalt der Reservekanister hatten wir auch Angekommenen. Auf der Rückfahrt zum schon aufgebraucht. Nun war es nicht Camp zeigte uns der Fahrer auf einem mehr weit zum östlichsten Punkt unserer Umweg noch einige besondere Sehens- gesamten Türkei-Reise, dem sagenhaften würdigkeiten, u. a. überquerten wir einen Isaak-Pascha-Saray, mit dessen Plakat- Fluss auf einer über 2000-jährigen Stein- foto immer wieder im ganzen Land brücke. Ob unsere heutigen Brücken auch Reklame gemacht wurde. Hinter Doguba- einmal so langlebig sein werden? jazit hatten wir plötzlich einen Platten. Also Auf der Weiterfahrt Richtung Osten zuerst einmal Reifenwechsel, dann zurück hielten wir uns in Diyarbakir, der heimli- in den Ort. Dort hatte ich im Vorbeifahren chen kurdischen Hauptstadt, nicht länger eine ( primitive) Werkstatt gesehen. auf. Nur das große Postgebäude verlockte Man versprach uns, den Reifen bis zum nächsten Morgen zu flicken. Da 139 (türk.) Kleinbus. waren wir sehr froh und starteten erneut Richtung Saray (Bild 77). Bild 71 Dora 1986

Bild 72 Esel reiten, bewaffnet!

Bild 73 Beim Wasserholen

Bild 74 „Trulli“-Häuser in Haran

Bild 75 Zu Gast bei Hamits Familie 218 Bild 76 Steinköpfe am Nemrut Dag

Bild 77 Saray am Ararat

Bild 78 Hagia Sofia 220 221 „Ich bin der Chef vom Saray“, sagte änderten sofort unseren weiteren Strek- ein älterer Mann auf deutsch. Er war kenplan. Wir wollten eigentlich an die zugleich der Wärter des Camping Platzes, sowjetische Grenze , die von hier aus nur den wir vergeblich gesucht hatten, denn er ca. 100 km entfernt lag (Armenien – war gar nicht da: er bestand lediglich aus Armanskaja SSR). Nun aber mussten wir einem gepflasterten Abstellplatz unmittel- versuchen, möglichst schnell in eine grö- bar neben seinem Haus – sprich Hütte. An ßere Stadt zu kommen. Die einzige VW- die zehn Hunde verschiedener Größe Werkstatt der Türkei damals war in Istan- sprangen umher mit lautem Gebell. Wir bul. Die erreichen zu wollen, war völlig dachten: das kann ja eine lustige Nacht illusiorisch. Auch den Autoschlosser im werden! Wir vereinbarten so etwas wie Ort, der unseren Reifen repariert hatte, eine Führung für den nächsten Vormittag. fragten wir erst gar nicht um Hilfe. Er bat Die Nacht verlief jedoch erfreulich ruhig: uns, einen Kunden bis Agri mitzunehmen. die Hunde waren alle im Haus eingesperrt. Es ergaben sich während der Fahrt inter- Die Führung begann und endete an essante Gespräche. Der Mann war Kurde dem Holzverschlag des ehemaligen Tors und fasste schnell Vertrauen zu uns. Als zum Gebäudekomplex mit ein paar Hin- eine Polizeistreife ihn auszusteigen nötigte weisen. Ein Glück, dass wir eine Art Pro- und er uns ängstlich ansah, erklärten wir, spekt besaßen, in dem der vor uns lie- der Mann sei unser Gast; man möge uns gende „Sarayi“ in den höchsten Tönen fahren lassen. Da winkte er uns weiter, beschrieben wurde. Es war auch nicht und unser Mitfahrer blickte uns ganz übertrieben. Das „Felsennest unterm Ara- erstaunt an. Auch uns fiel ein Stein vom rat“ (erbaut zwischen 1685 und 1784) war Herzen. wohl etwas ähnliches wie die Raubritter- Hinter Agri, nachdem der Kurde uns burgen an den Hängen des Rheines bei verlassen hatte, machte ich mich auf die uns – nur viel, viel größer. Ihre einstigen Fehlersuche wegen der Startschwierig- Bewohner lebten auch von der Handels- keiten unseres Motors. Wie immer, wenn straße, die heute noch nahe vorbeigeht in wir anhielten, war unser Auto schnell Richtung persische Grenze. Die Gebäude, umringt von Kindern, die uns anbettelten. meist ohne Dach, ließen doch die Pracht Wir hatten ihnen nichts anzubieten. Ich erkennen, die hier ursprünglich geherrscht sah aber ein Kind, das sich einen meiner hatte: die Größe der Räume, die Böden Putzlappen ergriff und davon rannte. Ich und die Ornamentik verrieten, dass es hier setzte ihm nach und nahm ihm seine einmal sehr wohlhabend zugegangen sein Beute wieder ab. Erst später erkannte ich, muss - im Gegensatz zur Bevölkerung, dass der „Lappen“ eine abgelegte Schlaf- noch heute. Besonders prunkvoll war der anzughose unserer Kinder war und dem Harem. Aus den Fenstern hatte man einen „Räuber“ sicherlich ein willkommenes traumhaft schönen Blick über das weit Kleidungsstück bedeutete, denn er hatte ausgedehnte Tal bis hinunter zum Van- überhaupt keine Hose an. Da war ich doch See. Das Ganze war überhöht von der sehr beschämt und traurig, und uns wurde Kuppel der Moschee und dem schlanken blitzartig deutlich, welch ein zweifelhaftes Turm des Minaretts. Wir durchwanderten Unternehmen unsere Fahrt mit einem noch etwas die Umgebung. Leider lag der komfortablen Reisemobil bedeutete in Ararat selbst (5165 m) im Nebel. Aber einer Gegend, in der offensichtlich ärgste man konnte schon so verstehen, dass Armut herrschte. nach der Erzählung der Sintflut (1. Mose 7 Den technischen Fehler fand ich u. 8) Noahs Arche an den Hängen dieses auch nicht. Nach der nächsten Übernach- Bergmassivs wieder Grund gefunden tung am Stadtrand von Erzurum schaltete haben soll. ich beim Anlassen unsere 2. Batterie Am nächsten Morgen - es war kalt hinzu, und nach längerem „Kurbeln“ und neblig - wollte der LT nicht ansprin- sprang der Motor schließlich an. Mir war gen. Das war ein Schrecken! Ausgerech- nicht wohl bei der Sache, und ich net hier musste das geschehen! Aber wir beschloss, bei nächster Gelegenheit standen ja am Hang, und der Wagen rollte gründlicher nachzusehen. Noch am selben bergab. Ich hatte einen Gang eingelegt Nachmittag – wir hatten das Felsenklo- und ließ die Kupplung fallen. Da kam der sters Sumela unweit von Trabzon am Getreue! Wir atmeten erleichtert auf – und Schwarzen Meer (Trapezunt ) erreicht – 222 holte ich die eigentlich für Kunden nicht Hauptstadt, um 1200 zerstört. In der Nähe erhältliche VW-Original-Reparaturanlei- – man weiß nicht, was interessanter ist – tung heraus: Meine Werkstatt in Bad staunten wir über das hethitische Felshei- Homburg hatte sie mir auf meinen Hinweis ligtum Yazilikaja mit seiner berühmten, in hin, dass ich „nach Asien fahren“ wollte, flachem Hochrelief aus dem Felsen her- freundlicherweise überlassen. Ich studierte ausgearbeiteten Götterprozession. Was vor allem die Elektrik und erkannte, dass waren das für Menschen, die zum Bau der für das Vorglühen des Dieselmotors Befestigung Felsbrocken bewegt haben, Sicherungen außerhalb des Sicherungs- deren Transport für die heutige Technik kastens vorgesehen waren. eine kaum lösbare Aufgabe wäre? Leider befanden die sich im Motor- Am nächsten Tag – auch in einer raum hinter der Schlauchleitung für die Hauptstadt, nämlich in Ankara – sahen wir Warmwasserbereitung verborgen, die wir dann im „Museum für anatolische Zivilisa- in Unkenntnis der dortigen Sicherungen tion“ die uralten Ausstellungsstücke des eingebaut hatten. Kurz und gut: Ich fand Ortes, von dem wir gerade gekommen die Spezial-Blattsicherungen, von denen waren. Dem Erneuerer der Türkei, Atatürk, drei durchgebrannt waren. Erleichtert erwiesen wir unsere Reverenz, indem wir erkannte ich das Übel. Da ich keine Origi- das Mausoleum, seine Ruhestätte, nal-Reserve-Sicherungen hatte, über- besuchten. Ansonsten: Großstadt ist brückte ich provisorisch die beiden Klem- Großstadt, ob in Westeuropa oder men mit dem jeweils nicht geschmolzenen sonstwo. Deshalb fassten wir uns da kurz Teil; ich hoffte, dass er im Ernstfall durch- – und sehnten uns schon nach dem als brennen würde - wie vorher die richtige Ausruhort uns empfohlenen (kleinen!) Sicherung. Die Konstruktion hat übrigens Abant-See. Dort waren wir fast allein – den Rest der Fahrt durchgehalten!. und das war uns gerade recht. Denn die Warum sie überhaupt durchgebrannt letzte Etappe unserer Reise versprach waren, konnte mir später auch kein Fach- uns, nicht gerade gemütlich zu werden: mann erklären. Nicäa, Bursa und Istanbul. In dieser Nacht schliefen wir beson- Nicäa war für uns mehr als ein ders ruhig, und das lag nicht am Kloster, in Pflichtbesuch. Von dem, was dieser Ort dessen Bereich wir standen. Am nächsten mit seinen Konzilien erwarten liess, ist Morgen besichtigten wir das in den Felsen nichts mehr zu verspüren. Der Ort heißt gebaute Anwesen. Es ist uns übrigens heute Iznik. Aber vielleicht waren wir auch unerklärlich, weshalb Mönche immer wie- zu ungeduldig und wollten schnell weiter. der ihre Klöster gerade in dieser Weise In Bursa hielt die wunderschöne Moschee anlegten, denn nur Vögel nisten am steilen das, was sie in Prospekten versprach. Fels. Wie haben sie diese Gemäuer in Aber wir hatten ja in dem alten Konstanti- solcher Weise zu errichten vermocht, nopel noch eine ganze Reihe berühmter mächtig und mehrstöckig? Zwischen Moscheen vor uns. Fichten und den großen grauen Stämmen Mit der Fähre über den Izmit-See der pontinischen Rhododendren schlän- ersparten wir uns fast den fünffachen Weg gelt sich ein schmaler Pfad in vielen Ser- über die Straße. Wir hätten auch direkt pentinen hinauf. Gegenüber liegen baum- nach Istanbul übersetzen können; aber wir lose Felsgrate von über 2000m Höhe: eine wollten ja über die fantastisch große Bos- Alpenlandschaft am Schwarzen Meer! porusbrücke von Asien wieder zurück in Wie schon so oft fuhren wir wieder unser geliebtes Europa kommen. Und da einmal an einer Küste entlang, die vor hätten wir wirklich etwas versäumt: Unter über 40 Jahren im Gefangenenlager uns fuhren die Schiffe vom Marmara-Meer Sevastopol einmal jahrelang Ziel unserer in Richtung Schwarzes Meer und umge- damaligen Sehnsucht gewesen war. Aber kehrt. Im Nu waren wir an einer zentralen wie hätten wir die Türkei erreichen sollen? Stelle Istanbuls, wie wir sie besser kaum In Samsun verließen wir unser ständiges finden konnten: zwischen Hagia Sophia „Schwimmbad“, dessen Ufer uns so lange (Bild 78) und der Blauen Moschee. Einem begleitet hatte. Unser Fernziel war jetzt Parkplatz-Wächter gaben wir ein gutes Istanbul. Aber zunächst besichtigten wir Trinkgeld und bedeuteten ihm, dass wir Hattusa (türk. Bogazkale), seit 1570 vor vorhätten, ein paar Tage von hier aus der Zeitwende die ehemals hethitische Rundgänge zur Besichtigung der Stadt zu 223 machen. Er versprach uns gestenreich, Beim Aufwachen sahen wir ganz nahe auf unser kostbares Stück zu achten, was zwei Angler. Uns störten sie nicht. er auch getreulich getan hat – natürlich Über Kavala waren wir bald in Salo- nicht umsonst – das wusste er. niki, das wir diesmal links liegen ließen. Es Noch am selben Nachmittag nah- war nicht das erste Mal (und hoffentlich men wir uns den Topkapi-Serail zur auch nicht das letzte), dass wir in Besichtigung vor, den Palast der Osma- Evzoni/Gevgelia die Grenze nach Jugo- nen. Von hier aus wurde also einst das slawien überfuhren. Wir waren jetzt auf große Reich von der Donau bis an den Nil dem „Autoput“, der jugoslawischen Auto- beherrscht; und es wurde hier nicht nur bahn; aber die Straße war viel schlechter verwaltet und gearbeitet. Das zeigen die als die in „Hellas“. Sie wurde aber besser, prachtvollen Räume des Harems, der – so je näher wir an Belgrad herankamen. erklärte uns eine Führung - allerdings erst Dafür kostete sie aber auch Maut. im 16. Jahrhundert aus dem alten Palast In der Hauptstadt hielten wir uns hierher verlegt worden war. Der neue nicht länger auf. Mich interessierte nur das Sarayi ist fast eine Stadt für sich, die man neue Schloss, das die Stukas unseres nicht - gar an einem Nachmittag - gründ- Geschwaders 1940 bombardiert hatten. lich besichtigen kann; wir beschränkten Einige Tage danach hatten wir damals die uns auch auf die wesentlichsten Teile. Gelegenheit, die Trümmer zu besichtigen. In unserer fahrbaren Wohnung Aber jetzt fanden wir es nicht mehr. Es sei schliefen wir – auch wenn da der Prunk ein Gewerkschaftshaus geworden, sagte des Topkapi-Palastes fehlte – in der kom- man uns. Nach einem Bummel durch Alt- menden Nacht äußerst zufrieden, wurden Belgrad übernachteten wir auf einem stil- allerdings schon um 5 Uhr vom Muezzin len Parkplatz. Am nächsten Morgen ver- der Blauen Moschee geweckt. - 4 Tage in ließen wir die Stadt nach einer Runde zu dieser Weltstadt – was soll man schildern? Ehren Prinz Eugens um die Festung „Bel- Leider war die Blaue Moschee wegen gerad“. Hier hatte er ja im Türkenkrieg Renovierungsarbeiten nicht zu besichti- Ende des 17. Jahrhunderts einen bedeu- gen, aber es gab ja genug andere tenden Sieg errungen und die Türken berühmte. Imposant ist vor allem die Hag- „verjagt“ (s. Lied „Prinz Eugen, der edle gia Sophia, überwältigend der große Ritter“). Raum, von der runden Kuppel überwölbt. In Österreich befuhren wir die Tau- Der überdeckte Basar steht mir noch ern-Autobahn und beschlossen, in Salz- heute vor Augen: Hertie bei uns ist dage- burg die Hohensalzburg, das Mozarthaus gen ein Tante-Emma-Laden. Ein großes (+ Dom und Festspielhaus) und vor allem Erlebnis war auch die Schiffsfahrt auf dem unsere Nichte Eva Spambalg mit Familie Bosporus in Richtung Schwarzes Meer zu besuchen – gewissermaßen als und zurück. Am letzten Abend gab es an Abschluss unserer Fahrt. Leider trafen wir der Galata-Brücke Bratfisch direkt aus sie nicht an, ließen aber zum Zeichen, dem Fischerboot - lecker! Ein schöner dass wir da waren, ein Paket türkischer Abschied! Feigen und ein Brieflein zurück. Bis Mün- Am frühen Morgen des nächsten chen war es nicht mehr weit, und da Tages sagten wir Istanbul Ade - und damit wussten wir ja einen bereits mehrmals von auch der Türkei. Denn nun strebten wir uns benutzten Übernachtungsplatz bei der griechischen Grenze zu, und unsere Allershausen. Dort verbrachten wir in Gedanken waren ganz auf Heimkehr ein- bekannter Umgebung die letzte Nacht. gestellt. Ein kleiner Fluss bei Ipsala ist die Für die Heimkehr stehe der Eintrag Grenze. Es ging schneller, als wir fürch- in unserem Fahrtenbuch: „Kurz nach 15 teten. Für unser türkisches Restgeld hat- Uhr sind wir wieder daheim. Wir sind sehr ten wir uns noch mit Bananen „eingedeckt“ glücklich – und sehr dankbar für viele - und getankt, bis die letzte Lira weg war. Bewahrungen – für die, die wir bemerkt Bei Lagos berührt die Straße noch einmal haben und noch mehr für die, die wir gar- das Meer. Da fanden wir einen einsamen nicht bemerkt haben. Vielfach hatten wir Übernachtungsplatz und badeten noch auch viel Glück gehabt, aber: einmal nach Herzenslust. So einsam, wie „Gott soll einen hüten vor allem, was wir dachten, waren wir übrigens nicht: noch einmal ein Glück war! (Friedrich Tor- berg)“ – angebl. Zitat einer alten Jüdin. 224 Gefahrene Kilometer: 12.972, Ver- beim Arzt gewesen wären, hätten wir brauch 1.375 l Diesel-Kraftstoff (10,6 l auf womöglich den Krebs vergessen. 100 km). Es war auch gewiss kein Übermut, So wurde 1986 ein wunderbares sondern die Erfüllung eines lang gehegten Erholungsjahr, zumal es ja mit einer Kur Wunsches, dass wir gleich Anfang April zu zweit in Reichelsheim/Odenwald des nächsten Jahres nach Israel aufbra- begonnen hatte. Wenn nicht die in kurzen chen. Zeitabständen notwendigen Vorstellungen 225 LT-Israel-Reise (mit Dora und Gudrun, 8. April – 12. Juni 1987)

Die Religionslehrer-Fahrt 1963 hatte Originalschilder vor dem Grenzübergang in mir den Wunsch nicht still werden las- nach Deutschland wieder zurück zu tau- sen, in diesem Land einmal ganz privat zu schen. Erst auf dem letzten Parkplatz vor reisen. Die Silberhochzeit (1982) lag Bad Homburg hat uns eine Polizeistreife schon lange hinter uns. Geschmack aufs erwischt. Ihr war der verblasste rote Reisen hatten wir auch längst bekommen. Stempel aufgefallen. Ich machte den Poli- Es war mehr als ein Schönheitsfehler, zisten damals gleich ein Kompliment für dass Dora damals in Israel nicht dabei ihren Scharfsinn, erklärte ungefragt den sein konnte. Die Kinder waren jetzt selb- Sachverhalt und zeigte das Originalschild ständig, und ich war Rentner. Doras vor. Da lachten sie, verzichteten auf den gesundheitlicher Zustand war recht gut. Strafzettel und fuhren weiter. Was hinderte uns daran, diese Fahrt mit Gudrun rief in Athen Luka an, den unserer fahrenden Wohnung zu wagen? Freund ihres griechischen Schwiegersoh- Wir luden Gudrun, Doras Schwester, dazu nes Angelos, der die beiden Frauen sach- wieder ein. Das Frühjahr ist die beste Jah- kundig einen halben Tag lang durch die reszeit für diese Region. Auf dem Land- Stadt führte. Ich hatte mal wieder meine weg fuhren wir zunächst durch Österreich, ekligen Kopfschmerzen und verschlief die wo wir in Salzburg bei Gudruns Tochter Zeit im Wagen. Noch eine Woche blieb Eva und Familie ein “Besüchle“ machten – uns bis zur Einschiffung. Dieses „Polster“ diesmal trafen wir sie an. In Villach stellte hatte ich eingeplant, um ja rechtzeitig zur ich fest, dass die Lichtmaschine nicht rich- Abfahrt der Fähre zur Stelle sein zu kön- tig arbeitete – Reparatur-Kosten über 650 nen. In dieser Zeit haben wir vor allem D-Mark waren fällig. Zum Glück ging alles Gudrun ein Stück Griechenland – bis zur sehr schnell. Über den Loibl-Pass waren Peloponnes hinunter - gezeigt. wir bald in Jugoslawien und parkten an Pünktlich waren wir in Piräus und einem Kirchlein, wo wir schon einmal über ebenso zeitgenau legte unsere „Paloma“ Nacht geblieben waren. Die Schlüssel- ab. Wir bekamen dank Gudruns großzügi- blumen neben unserem Wagen gaben mir ger Spende eine bequeme 4-Betten- die Gelegenheit, meiner Schwägerin mit Außenbord-Kabine mit WC und Dusche - einem Sträußchen zum Geburtstag zu und guter Aussicht. Das Wetter bei der gratulieren. Abfahrt war schlecht, der Seegang Zügig ging`s weiter über Belgrad zur beachtlich; aber Peremesin-Tabletten griechischen Grenze. Gleich dahinter bewahrten uns vor der Seekrankheit. Wir funktionierte plötzlich die Gangschaltung waren schon dicht vor Zypern, als endlich nicht mehr richtig. In Erinnerung an die die Sonne am blauen Himmel erschien. Weisheiten meines Lehr-Schlossergesel- Nach 2½ Tagen kam Haifa in Sicht. Der len zögerte ich nicht lange und kroch unter israelische Zollbeamte fragte mich dort, den Wagen. Wozu hatte ich einen voll- was ich mit zwei Frauen in Israel wolle. ständigen Werkzeugsatz von Anfang an Eine solche Frage hatte ich erwartet. Ich dabei? Der Fehler war schnell entdeckt – meinte, in Be´er Sheva auf dem Basar noch schneller behoben, und schon rollten könne man doch günstig für eine Frau ein wir weiter. In Athen fanden wir „unseren Kamel erstehen. Er wünschte mir viel alten“ Parkplatz gegenüber der Akropolis. Glück zu diesem Tausch, und schnell Er war zwar für Dauerparker nicht erlaubt, waren die Formalitäten erledigt. aber was ist in Griechenland nicht alles Und nun begann eine sagenhafte verboten! Da die griechische Polizei in Reise, die wiederzugeben ein eigenes solchen Fällen die Nummernschilder abzu- Buch erfordern würde. In meinem Tage- reißen pflegte, hatte ich schon daheim buch sind es über 50 Seiten. Ob ich das in Reserveschilder montiert. Es konnte uns zumutbarer Kürze schaffe? Im Norden des also nichts Ernsthaftes passieren. Und es Landes, am Berg Hermon, veranstalteten ist auch nichts geschehen! Bei der letzten wir eine kleine Schneeballschlacht (Bild Griechenlandfahrt hatte ich vergessen, die 79). Im Süden, am Roten Meer war die 226 Hitze fast nur im Wasser zu ertragen. Die- Jugend – auch seine beiden Söhne – sei ser Gegensatz ist typisch für dieses Land allerdings auf der Suche nach anderen – und nicht leicht zu verkraften. nach ihrer Meinung freieren - Lebensbe- Glücklicherweise hatten wir einige dingungen. Mendel verurteilte damals Adressen von verschiedenen israelischen schon in der Innenpolitik Israels die weit- Bürgern mitgebracht, die wie Perlen an hin ungleiche Behandlung der arabischen einer Kette unsere Fahrt nicht unterbra- Bevölkerung. Meine Verbindung mit Men- chen, sondern bereicherten. Da war zuerst del ist nach einigen Briefen hin und her Mendel Bermann. Seit 1925 lebte er im leider abgebrochen, sodass ich die weitere Kibbuz Ein Ha Mifraz, eine der für Israel Entwicklung nicht kenne. typischen Gemeinschaftssiedlungen im In Haifa besuchten wir auch die Norden Haifas, keinen Kilometer südlich Familie des Sohnes eines mit uns von Akko. Er hatte ihn mitbegründet, auf- befreundeten Homburger Ehepaares, er gebaut und gehörte zu den Senioren. Italiener, sie Jüdin, in Israel geboren. Stolz führte er uns durch den Ort und Jeram, der Vater, war leider beruflich sehr zeigte uns vor allem die sozialen Einrich- in Anspruch genommen. Sie sprach nicht tungen: Schulen, Kinderhorte und -gärten, deutsch, sodass es schon aus Zeit- und sowie das Gemeinschaftshaus. Die mei- Verständigungsgründen zu weiteren sten Siedler stammten aus dem Osten Besuchen nicht kam. Allerdings waren für Europas, noch stark beeindruckt von der uns ein paar gute Ratschläge für die vor Idee der Kolchosen, die hier in korrigierter uns liegende Reise sehr wertvoll. Weise entideologisiert, sozialistisch (aber Besonders interessant war der nicht kommunistisch) noch lange vor der Besuch bei Alisa und Hanan Heilbronner Staatsgründung Israels aufgebaut wurden. in Jerusalem, eine Empfehlung unserer Das weithin verkommene Land haben sie Nichte Elisabeth und ihres Ehemannes durchweg fruchtbar gemacht. Bestes Bei- Dieter Ilg aus Hechingen. Dort hatte die spiel ist das Hule-Tal, einst versumpft und Familie vor 1933 eine Fabrik besessen. menschenleer, jetzt die Kornkammer des Die Stadt hatte zur 1200-Jahr-Feier auch Landes die noch auffindbaren jüdischen Mitbürger Aus einer landwirtschaftlichen Sied- eingeladen. Hanan fiel es zu schwer zu lung hat sich Mendels Kibbuz durch Grün- kommen, deshalb nahm Alisa, die nie dung von Industrie-Betrieben vervoll- zuvor in Hechingen war, die Einladung für kommnet. Privates Eigentum gibt es nicht; ihn an. Sie stammte aus Polen und hat aber die Gemeinschaft ist steinreich, hat Deutsch im KZ gelernt. alles, was der Mensch bis ins hohe Alter Hanan, der Jerusalem und Umge- zum Leben braucht. Insbesondere für die bung offenbar wie seine eigene Hosenta- Jugend steht alles zur Verfügung, was das sche kannte, fuhr uns mit seinem Wagen Herz begehrt: z. B. Sport- und Spielmög- nach En Karem zum Tel 140 Maresha. Dort lichkeiten aller Art, vor allem aber ein vor- verschwand er plötzlich hinter einem bildliches Bildungssystem, vom Krippen- Busch in einem Erdloch und bat uns nach- platz über Kindergarten, einer Oberschule zufolgen. Wir hatten unsere besten Kleider mit Abitur bis zur Erwachsenenbildung. an. Was blieb uns übrig? Das Abenteuer, Die Kinder sind tagsüber in der Schule das nun folgte, war eventuelle Flecken oder in der Berufsausbildung, ab spätem wert: Wir gelangten in ein Labyrinth von Nachmittag im Elternhaus. Wegen unserer Höhlen, 44 an der Zahl, mit einem Durch- Bedenken meinte Mendel, auf diese messer von ca. 6 – 30 Metern. Sie wölbten Weise hätten die Eltern im Ganzen mehr sich glockenförmig bis zu einer Höhe von Zeit für die Familie als z. B. in unseren 30 Metern. Durch eine Öffnung an der Verhältnissen, wo vor allem die Frauen am Spitze kam Tageslicht herein, was ein ein- Abend noch mit dem Haushalt, Essenzu- zigartiges Spiel von Licht und Schatten bereitung usw. zu tun hätten. Denn hervorrief. Man vermutet, dass diese Höh- gegessen wird zu Mittag und Abend im len schon in der Altsteinzeit bewohnt Gemeinschaftshaus, wo auch wir Gäste waren. Die Phönizier benutzten den wei- waren und bestens verpflegt wurden. chen Kalkstein zum Bau ihres Hafens in Etwas traurig berichtete Mendel, dass dies durch die Jahre bis jetzt zu aller 140 Zufriedenheit gut gelaufen wäre. Die ältere (isr.) Berg 227 Askalon. An den Wänden sieht man Spu- berichten. Bestimmt wird mich mancher ren vom systematischen Abbau der Steine Leser fragen „Ja, seid ihr denn nicht auch und Felszeichen und –Zeichnungen. Am in XY gewesen?“ Natürlich sind wir auch Abend waren wir zu Gast bei Heilbronners da gewesen, sogar in XYZ! und hatten ein gutes und ernstes So sei wenigstens noch erwähnt die Gespräch, insbesondere mit Alisa, die Fahrt zum Roten Meer über Be‘er Sheva Schreckliches im KZ erlebt haben musste. in die Wüste Negev (1. Übernachtung in Während mehrerer Tage in Jerusa- Ben Gurions Kibbuz Sede Boqer). Wir lem haben wir natürlich viel gesehen und durchfuhren den großen Gelände-Ein- keine Wanderung gescheut: Kidron-Tal, bruch Makhtesh Ramon und machten Ölberg, Garten Gethsemane, Davidsstadt, einen kurzer Rundgang in Timna, dem den Felsendom mit seiner Goldkuppel, die Kupfer-Erz-Bergwerk, wo dieses kostbare Aqsa-Moschee, den Schrein des Buches Metall schon vor 3500 vor Chr. gewonnen mit den berühmten Qumran-Schriften, den worden ist. Imposant sind die „Säulen Basar und die Via Dolorosa, die Grabes- Salomos“ genannten skurilen Felsforma- kirche, die Klagemauer, den Zionsberg tionen. – Und dann endlich: Wasser, Was- und den Skopusberg mit seiner herrlichen ser, Wasser – das Rote Meer mit der Sicht auf die Stadt. Es führt zu weit, hier Hafenstadt Elat! Die Straße zur ägypti- alles aufzuzählen. Wir haben wohl nichts schen Grenze geht ein Stück weit dicht am vergessen, „was man gesehen haben Ufer entlang. Dort fanden wir einen guten muss“. Platz für unseren LT. Zu gerne wären wir Am See Genezareth erlebten wir, über diese Grenze hinaus zum Kathari- wie tatsächlich das Wasser eben noch nen-Kloster gefahren, aber merkwürdiger- spiegelglatt sein konnte und in nur ganz weise wurden Dieselfahrzeuge nicht kurzer Zeit mit wilden Wellen (s. Markus 4, durchgelassen. So kehrten wir traurig wie- 34 – 39) uns zwang, unseren Standplatz der zurück zu „unserem“ Platz. ein Stück landeinwärts zu verlegen. In der Für die Rückfahrt wählten wir die nächsten Nacht standen wir wenige Meter Negev-Oststraße – entlang der jordani- neben der Kirche der Seligpreisungen schen Grenze. Die Nacht standen wir bei (Bild 80). Sie wurde über dem Hang, an En Hazeva unter Palmen und schliefen bei dem Jesus wohl die Bergpredigt gehalten offener Tür und offenen Fenstern. Von hier hat, erbaut Von hier oben hatte man einen aus hatte uns Hanan einen Schleichweg herrlichem Blick auf den See, und wir eine Anhöhe (Maale Aqvabbim) hinauf erlebten dort einen farbenprächtigen Son- empfohlen. Auf ihm fanden wir – wie nenuntergang. erklärt – eine Säule, von der aus wir einen Am Tag darauf waren wir vermutlich grandiosen Rundblick über die Wüste die Ersten in Hazor, der berühmten Aus- genossen. Hier ließen wir den Wagen grabungsstätte, um uns über den Stand stehen, denn unser Feldweg war jetzt nur der Arbeiten zu informieren. Gleich hier sei noch ein Pfad, der uns zum Rand des erwähnt, dass wir auf Hanans Rat auch in kleineren Gelände-Einbruchs Hamakhtesh Bet She´an waren. Es liegt inmitten einer Haqatan führte. sehr fruchtbaren Gegend. Nach dem Tal- Mit einem Jeep war eine israelische mud soll es die Schwelle zum Garten Militär-Streife hier herauf gekommen, die Eden (1. Mose 2, 8) gewesen sein. uns ihre Hochachtung dafür aussprach, Unvergessliches Erlebnis war das dass wir dies mit unserem Reisemobil Bad im Toten Meer, in dessen Wasser geschafft hatten. Zur Weiterfahrt rieten sie man auf dem Rücken liegend Zeitung uns zu einer bessere Strecke. Sie führte lesen kann. Bei der Wanderung in En Gedi uns zum Südzipfel des Toten Meeres über hinauf zur Davidsquelle fanden wir leider Sedom, das Sodom der Bibel (5. Mose 29. nicht den Teich unterhalb eines Wasser- 22), nach Engedi zu unserem (kostenlo- falles, in dem wir 1963 sogar gebadet sen) Badeplatz. Auf ihm befanden sich hatten. Bei der Hitze, die an diesem Tag sogar Süßwasser-Duschen, sodass wir herrschte, hätte uns eine Erfrischung vor dem Schlafengehen noch zweimal ins bestimmt gut getan. Auch der Aufstieg zur Salzwasser gehen konnten. Masada-Festung gehörte selbstverständ- „Von Jerusalem hinab nach Jericho“ lich zu unserem Programm. Man weiß gar (entprechend Lukas 10, 30) fuhren wir die nicht, wo anfangen und wo aufhören zu Straße, auf der im Gleichnis Jesu vom 228 „Barmherzigen Samariter“ ein Mensch die Stadtmitte erreichen konnten. Auf dem „unter die Mörder“ gefallen war. Wir stell- Sportplatz neben uns hatte sich ein kleiner ten uns vor, dass dies auch nach 2000 Zirkus eingerichtet. Das war für uns sehr Jahren noch hätte passieren können, so günstig, denn es sah so aus, als gehörten einsam standen wir im Wadi 141 el-Kelt an wir zu dem Wagenpark. einer Stelle gegenüber dem St. Georgs- Das Ende unserer Reise kam näher. kloster. Hier legten wir eine Pause ein. Zum Abschied fuhren wir in Jerusalem Jericho ist die wasserreichste Oase des zum Herzl-Berg hinauf mit dem Grab vorderen Orients und auch die älteste bis- Theodor Herzls, der mit seiner Schrift „Der her bekannte Stadt der Welt mit dem älte- Judenstaat“ mit anderen den Anstoß zur sten Turm und der ältesten Stadtbefesti- Staatsgründung gegeben hat. – In Yad gung der Menschheit. Auch die Umgebung VaShem, der wichtigsten Gedenkstätte ist hoch interessant – aber: ich muss mich des jüdischen Volkes, gedachten wir der im Berichten bremsen! sechs Millionen jüdischen Opfer des Nazi- Ein anderer Ausflug von Jerusalem Regimes. In der „Halle der Erinnerung“, in aus ging in den Süden nach Bethlehem deren schwarzen Steinboden die Namen und Hebron, mit einem Abstecher zum der größten Konzentrationslager einge- Herodeion. Diese Bergfestung hatte sich meißelt sind, brennt in der Mitte eine Herodes als Grabstätte ausgewählt. Sie Ewige Flamme. - Auf dem Vorplatz mit der überragt das Umland um rund 100 Meter. „Säule der Erinnerung“ bewegt unter den – Was soll man über Bethlehem berich- Skulpturen wohl am meisten die von ten? Ein gewaltiger Rummel empfing uns, Janusz Korczak, dem polnischen Kinder- auch wenn es nicht Weihnachten war. arzt und Pädagogen, der die Kinder des Historisch ist dort fast alles fraglich, nur Warschauer Ghettos freiwillig in den Tod nach der Denkweise der damaligen Zeit begleitet hat. Die ganz und gar „Wahrheit“. In der Geburtskirche erlebten unmenschlischen Geschehnisse, an die wir eine peinliche Streitszene, als (armeni- hier erinnert wird, bleiben für mich, der ich sche?) Mönche einer amerikanischen Rei- mich zur mitverantwortlichen Generation segruppe den Zutritt zur Geburts-Grotte zähle, ein kaum zu fassendes Verbrechen. verwehren wollten. Fast kam es zu In der Gegend dieser Gedenkstätte Gewaltszenen. Als die Gruppe abgezogen befindet sich auch das medizinische Zen- war, „reinigte“ ein Mönch mit einer Art trum der Hebräischen Universität, das Staubwedel die Stellen, die jemand Hadassah-Klinikum. Berühmt sind in des- berührt haben könnte. – In Nazareth, wo sen Synagoge die Glasfenster von Marc Jesus, der Nazarener, mit größerer Wahr- Chagall, die symbolisch die zwölf Stämme scheinlichkeit geboren ist, herrscht heute Israels in wunderbaren Farben darstellen. noch eine Atmosphäre, die den damaligen Gelegentlich eines letzten Besuches Verhältnissen nahe kommen mag. bei Mendel sahen wir uns auf der Fahrt Hebron, die Stadt der Patriarchen dorthin in Cäsarea um, besuchten in Haifa Abraham, Isaak und Jakob und der Ort, an die Grabstätte des Gründers der Bahai, dem David zum König gesalbt wurde, ist Baha Ulla, und sahen uns, weil noch Zeit für die Juden heute noch heilig. Der Blick war bis zum Termin, die Altstadt von Akko auf die Stadt wird beherrscht von einem an. Spät am Abend kehrten wir zurück Riesenbau, den man über der Höhle nach Haifa, wo wir am Hang, über dem errichtet hat, in der nach 1. Mose 23, 19 Bahai-Memorial, schon die ganze Zeit Abraham seine Frau Sara begraben hat. über einen phantastischen Platz zum Später sollen hier auch Abraham selbst, Übernachten hatten. sein Sohn Isaak und dessen Frau Rebek- Von hier oben sahen wir auch, wie ka, sowie einige seiner Nachkommen unsere Fähre in den Hafen einlief und am beigesetzt worden sein. In der Abendkühle Kai festmachte. Am nächsten Tag erle- (in der Mittagshitze hatten wir im Füh- digten wir die Abmelde-Formalitäten. Es rerhaus 50 Grad!) fuhren wir zurück nach war derselbe Beamte anwesend wie bei Jerusalem zu unserem „Stamm-Übernach- unserer Ankunft. Jetzt fragte er mich, wie tungsplatz“, von dem aus wir leicht zu Fuß das mit den Frauen geklappt habe. Ich antwortete, wir wären leider nicht an einem Donnerstag in Be´er Sheva gewesen, und 141 (isr.) Tal. Bild 79 Schneeballschlacht am Berg Hermon

Bild 80 Kirche der Seligpreisungen

Bild 81 „Da lachen die noch!“ 230 231 nur an diesem Tag würde dort mit Kame- einem Motorboot konnte man von hier aus len gehandelt. Er schüttelte sich vor an den Eingang zur berühmten Samaria- Lachen – und vergaß drei Stempel auf Schlucht gebracht werden, die wir durch- unserer Abmeldung. Das merkte ich aber wandern wollten. Über dem kleinen Hafen erst, als man mir wegen der fehlenden übernachteten wir (direkt hinter der Poli- Siegel die Auffahrt auf das Schiff verwei- zei!) und fuhren mit der „Marina“ zum gerte. Es war peinlich, weil ich als letzter Ausgangsort unserer geplanten Unter- zur Verladung anstand, um als erster auf nehmung. Der Weg begann inmitten von Kreta die Fähre verlassen zu können. Ich Oleanderhainen, durchquerte immer wie- rannte also zum Büro, wo zum Glück der den reißenden Bergbach, wo man von „mein“ Beamter noch anwesend war. Nun Felsbrocken zu Felsbrocken balancieren durfte ich die Rampe hoch fahren. Hinter musste (Bild 81). Junge Wandergruppen mir ging die große Klappe hoch, die kamen uns entgegen, denen offenbar das Schiffssirene heulte – und ab ging´s. Abenteuer garnicht gefiel. Wir begrüßten In Limasol auf Zypern mussten wir sie fröhlich; sie aber meinten über uns: mit unserem Wagen von Bord, da ver- „Da lachen die noch!“ schiedene Güter verladen wurden. Nun Nach einer Vesper-Pause machten war es nicht mehr weit bis nach Kreta. In wir kehrt und wanderten zur Küste und zur Heraklion verließen wir also die Fähre und Abfahrtstelle unseres Bootes. Noch am steuerten als erstes Knossos an. Dort Abend fuhren wir zurück in eine Bucht bei übernachteten wir nach längerer Irrfahrt Plakias, die uns schon bei der Hinfahrt auf dem Parkplatz der Palastanlage. Am aufgefallen war: Über dem idyllischen nächsten Morgen begannen wir mit der Badestrand stand eine Taverne, in der wir Besichtigung. Die Entdeckung und Aus- ein gutes Abendessen erhofften. Dort grabung von Knossos war zu Anfang des übernachteten wir, um am nächsten Tag 20. Jahrhunderts eine echte Sensation, eine Ruhepause einzulegen. Schönster bewies sie doch, dass hier lange vor der Sonnenschein holte uns am Morgen aus klassischen Antike Griechenlands eine den Betten zum Strand. Gegen Mittag völlig intakte und hoch entwickelte Zivilisa- nahm der Wellengang zu. Mir machte es tion existierte. Dem ersten Ausgräber, Sir Spaß, in die hohen Wellen ein- und wieder Arthur Evans, wirft man allerdings vor, aufzutauchen - bis ein besonders hoher nicht wissenschaftlich genug vorgegangen Brecher mich umwarf und in seinen Wirbel zu sein, sodass leider heute manches hineinzog. Plötzlich waren mein Kopf umstritten ist. Trotzdem war es für uns unten und die Beine oben. Ich hatte nur interessant genug, dass wir mehrere Stun- einen Gedanken: „Jetzt nicht atmen! – den die Ausgrabungsergebnisse bewun- Lieber ersticken als ertrinken!“ Es gelang derten. mir aber doch noch, festen Boden unter Dann zog es uns aber in den südli- den Füßen zu gewinnen, und so kam ich chen Teil der Insel, zunächst nach Ierape- mit dem Schrecken davon. tra. Dort soll, so hatte ich daheim in einem Quer durch Kreta fuhren wir nord- Zeitungsartikel gelesen, ein griechischer wärts. In Heraklion erreichten wir unsere Bauer beim Pflügen seines Feldes eine Fähre, die uns nach Piräus übersetzte. Demeter-Statue gefunden haben, die als Nach allem Erlebten verlief die Heimfahrt besonders wertvoll galt. Da das kleine sensationslos. Nur in Salzburg bei Gud- ddMuseum nur vormittags geöffnet war, runs Tochter und Familie machten wir zu übernachteten wir in der Nähe des Ortes einer Kaffeepause wieder Halt. Dann ging und standen pünktlich an der Tür. Der es über München und Stuttgart nach Wärter, der unsere Apparate sah, verbot Schorndorf, Gudruns Wohnort. Noch ein- uns das Fotografieren, da „der Fund noch mal erklang – bevor wir dort ankamen - nicht registriert“ sei. Es gelangen mir den- unsere Israelfahrt-Melodie, das Adagio noch einige Aufnahmen: das eigentlich von Albinioni. An Peters Grab legten wir unsinnige Verbot hatte mich gereizt. einen wunderschönen Wiesenstrauß nie- Die südliche Straße fuhren wir in der, gepflückt noch in Jugoslawien – und westlicher Richtung bis Chóra Sfakion. Mit beendeten auf diese Weise „offiziell“ unsere Fahrt. 232 Reise-Ausklang:

Die Israel-Reise soll als Krönung ganze Reihe (über 40 an der Zahl) – auch aller Reisemobil-Unternehmungen die mit Verwandten und Freunden. Im Fol- letzte sein, die ich ausführlicher beschrie- genden seien sie erwähnt – z.T. kurz ben habe. Es folgten natürlich noch eine kommentiert:

Norwegenfahrt (10. Juli bis 2. August 1987 mit Schwager Walter)

Sie war deswegen so schön, weil musste. So schnell wie möglich kehrten Walter, der einmal Förster werden wollte wir nach Hause zurück. und sich in der Natur gut auskannte, bei Die OP war keine große Sache, aber Wanderungen mir Dinge zeigte, die ich es begann nun eine recht unangenehme allein nie gesehen hätte. Seine Liebe galt Strahlenbehandlung, die mit einer Kur im diesem Land, seitdem er im Krieg dort mit Odenwald, in Reichelsheim, endete (18. seiner Panzereinheit eingesetzt war. Sei- 10. – 12. 11. 1987). Der Befund am Ende nen Wunsch, sich noch einmal dort umzu- lautete hoffnungsvoll; „...sehr gut erholt, sehen, habe ich ihm mit dieser Reise das Arm-Lymphödem nicht mehr erfüllt. Leider erreichte uns in den letzten nachweisbar“. So wagten wir uns im dar- Tagen die Nachricht aus Bad Homburg, auffolgenden Jahr auf eine kleinere Reise: dass Dora nun doch wegen eines Rezidivs zu Tochter Elisabeth nach Cadaques in: an der OP-Narbe ins Krankenhaus

Spanien (8. April bis 8. Mai 1988)

Mit einem neuen Motor mussten wir Aber ich wollte ihn nicht fahren, bis er zunächst noch vorsichtig sein. Der alte mich - wann und wo? - im Stich lassen war eigentlich noch nicht am Ende; meiner würde. Es wurde daher eine gemütliche Schätzung nach hätte er noch einmal die Fahrt, bei der wir auch Verwandte und Strecke geschafft, die er hinter sich hatte. Freunde besuchten. –

Pässefahrt mit Werner 12. bis 28. August 1988

quer durch Italien, Schweiz, Frank- Kleinere „Ausflüge“ 1989 mit Freun- reich und Österreich - natürlich war das den folgten: mit Carl-Ernst Schulz in die Fahrrad dabei: Ca. 30.000 Höhenmeter Normandie, mit Herbert Schlotter durch über Alpenpässe wurden mit dem Rad den Spessart in die Rhön und nach Nord- zurückgelegt! deutschland. 233 Ein Ereignis von besonderer Bedeu- DDR und der Fall der „Mauer“. Ich tue es tung in diesem Jahr 1989 darf jetzt hier unter einem mir wichtigen Gesichtspunkt: nicht unerwähnt bleiben: Das Ende der

Die Bergpredigt in zwei Worten (meine Gedanken zum „Mauerfall“)

„Keine Gewalt!“ war die Parole, die befohlen hatte. Die Chinesen seien sein aus der Mitte der Demonstrationen in Vorbild dazu gewesen, als sie in ähnlicher Leipzig, Berlin und anderen Orten 1989 Situation auf dem Platz des Himmlischen immer wieder als beschwörender Schrei Friedens in Peking ein grausames Blutbad ertönte, wenn die Menschenmassen an angerichtet hatten. der Phalanx der bis an die Zähne bewaff- Nicht vergessen sollte man, wie das neten Volkspolizei und an den Hundert- Ganze angefangen hat: 143 Nicht erst das schaften der SED-Betriebskampfgruppen Jahr 1989, sondern eine lange friedens- vorbeizogen. Immer wieder ertönte der ethische Debatte in den evangelischen Ruf „Keine Gewalt!“. Keine Fackeln mit Kirchen hatte im wahrsten Sinne des ihren aufreizenden Flammen trugen sie, Wortes den Grund für die gewaltlose Ver- sondern Kerzen. Die behelmten Polizisten änderung gelegt. Es war 1980, als die hinter ihren Schilden luden sie ein: evangelischen Jugendpfarrer in der DDR „Kommt mit!“ An die 50.000 zur ersten „Friedensdekade“ waren es, die sich nach dem aufriefen, die auch in den evan- traditionellen Montagsgottes- gelischen Kirchen der Bundes- dienst am 9. Oktober zum histo- republik stattfanden: zehn Tage rischen Marsch um die Innen- der intensiven Beschäftigung, stadt Leipzigs formierten. Die jeweils im November, mit dem anfängliche Angst war plötzlich Thema Frieden. Ihr Markenzei- wie weggeblasen. Als sich der chen war der Mann, der Schwer- Zug der Stasi-Zentrale näherte, ter zu Pflugscharen umschmie- versuchten besonnene Demo- det. Am Anfang waren es nur Teilnehmer die Richtung des Zuges zu wenige, die da zusammenkamen, gerade ändern, um eine Konfrontation zu vermei- genug, um Druck auszuüben auf Synoden den. Doch zu spät! Der Lindwurm wälzte und Kirchenleitungen, sich mit der sich schon am MfS 142 -Haus mit der Mah- Friedensfrage mehr zu beschäftigen – nung „Keine Gewalt!“ vorbei. gewissermaßen der Sauerteig oder das Irgendwann, noch während der Salz (Matthäus 13. 33; Matth. 5, 13), von Demonstration, waren die Ordnungskräfte denen Jesus einst sprach. wie vom Erdboden verschwunden. Nur Nach der Parole „Keine Gewalt!“ vereinzelte Posten am Bahnhof und an der hatten schon andere vorher Siege erfoch- Stasi-Zentrale machten noch Dienst. Erst ten, Siege ohne Unterlegene und ohne später, am 4. November, soll der Rechts- Blutvergießen. Zu nennen wäre hier neben anwalt Gysi auf dem Ostberliner Alexan- Mahatma Gandhi, der aus seiner Vereh- derplatz verkündet haben, Egon Krenz rung des Jesus von Nazareth keinen Hehl persönlich habe in Leipzig dafür gesorgt, machte, Martin Luther King, der amerika- dass die Protestierer vom Montagsumzug nicht niedergeknüppelt, geschweige denn 143 Nachtrag: In der Ausstellung des zusammengeschossen wurden, wie neuen Jugendwiderstandsmuseums in Honecker, der Staats- und Parteichef, es der leer stehenden Galiläakirche (Berlin- Friedrichshain) steht „ im Mittelpunkt die von Punk und Rock geprägte Bewegung 142 Abk. f.(offiziell) Ministerium für gegen staatliche Repression von 1968 bis Staatssicherhei, (praktisch) Geheime 1989, die sich vor allem unter dem Dach Staatspolizei, im Volksmund „Horch und von Kirchengemeinden etablierte. (Publik- Guck“. Forum Nr. 22 v. 21. 11. 2008). 234 nische Baptistenpfarrer. Er trat seit Mitte über eine Billion! --(1.100.000.000.000); der fünfziger Jahre führend als Kämpfer Skandal? Untertrieben: Ein Mega-Skan- der Bürgerrechtsbewegung hervor, orga- dal!! Ein Fünftel der Weltbevölkerung nisierte mehrere Demonstrationen, insbe- (rund 1,3 Milliarden Menschen) leidet sondere für die Rechte der schwarzen unter Wassermangel. Sie haben keine Bevölkerung, wurde mehrfach inhaftiert Toiletten; die Fäkalien werden nicht ent- und 1968 in Memphis ermordet - 1964 sorgt und verderben das Wasser. Die Fol- hatte er den Friedensnobelpreis erhalten. gen: Jedes Jahr sterben 1,8 Millionen Auch Nelson Mandela gehört zu die- Menschen an Krankheiten, die durch ver- sen Männern. Der schwarze südafrikani- schmutztes Wasser oder mangelhafte sche Politiker, Rechtsanwalt und Führer Hygiene entstehen. Nur kurz erwähnt sei des ANC (African National Council) wurde das weltweite Hunger- und Aids-Problem, 1964 wegen seines Kampfes gegen die unter dem die sog. Entwicklungsländer Apartheid zu lebenslänglicher Haft verur- durch den ungerechten Welthandel leiden. teilt, nach 26 Jahren (!!) 1990 entlassen. Das Geld, um diese Verhältnisse zu Nach dem Wahlsieg des ANC wurde er ändern, wäre da; es wird nur für falsche der erste Staatspräsident der Republik Zwecke – siehe Militärausgaben – ausge- Südafrika und erhielt 1993 wegen seiner geben. Und unser Land „mischt“ tapfer Bemühungen um einen friedlichen Über- mit! gang der Staatsgewalt an die schwarze Vielleicht bleibt uns in der vor uns Bevölkerungsmehrheit den Friedensno- liegenden Zukunft, in der ein Krieg ange- belpreis. sichts der vorhandenen Atomwaffen nur Vom „Eisernen Kanzler“ v. Bismarck die „unmögliche Möglichkeit“ sein dürfte, ist bekannt, dass er geäußert haben soll, gar nichts mehr anderes übrig als eine mit der Bergpredigt könne man keine Poli- Politik „Ohne Gewalt“, die wir von Jesus tik machen. Die gleiche Bemerkung von Nazareth lernen könnten. stammt auch von Helmut Schmidt, dem ------SPD-Politiker und Bundeskanzler(1974 – Leider zeigte sich trotz einer aber- 1982). Natürlich ist sie kein Rezept zur maligen Kur in Reichelsheim (11. 01. – 08. wörtlichen Befolgung. Wohin aber das 02. 1990) mit dem Abschlussbefund Gegenteil führt, das kann man an dem „...sehr gut erholt, [...] unauffälliger Superchristen G. W. Bush jr, dem derzeiti- Lymphknotenstatus “ ein erneutes Rezidiv, gen Präsidenten der USA, erkennen: Nach das im Juni 1990 operiert werden musste. dem Terroranschlag in New York im Sep- Nun entschlossen wir uns nach einer tember 2001 kündigte er an: „We hunt Empfehlung aus unserem Freundeskreis them down! 144 “ Damit stürzte er – entge- zu einer alternativen Kur in Friedenweiler gen Warnungen unterschiedlicher Berater (im Schwarzwald unweit des Titisees), - Amerika in den unheilvollen Irakkrieg. einem Haus für biologische Krebstherapie Diese Äußerung war schon deshalb und Sanatorium für Naturheilkunde. Die unklug, weil er als Jäger noch nicht einmal behandelnden Ärzte waren Schulmedizi- das „Wild“ kannte. Und was die „Jagd“ bis ner – dies immer wieder festzustellen leg- heute gekostet hat, ist in Milliarden Dollar ten sie großen Wert. Die erste Kur (25. 08. kaum noch auszudrücken, ganz zu – 29. 09. 1990) bekam Dora ausgespro- schweigen von Blut, Tränen, Zerstörung chen gut. Während der gesamten Zeit und dem Chaos in der heutigen Weltpoli- kampierte ich im Reisemobil und nahm tik. gelegentlich am Mittagessen im Hause Die Brutalität in der Politik ist leider teil. Der Wagen stand auf dem Parkplatz bis in unsere Tage allgegenwärtig; sie hat neben dem hinteren Eingang, mit einem sich nur gewandelt und versteckt sich Kabel für 220 Volt Strom verbunden. Wir „vornehm“. Hier ein Beispiel von moderner hatten unsere Fahrräder dabei, die wir Gewalt - nur eines – es gäbe mehrere: Die eifrig benutzten. Die Chemotherapie, am globalen Militärausgaben betragen z. Zt. in Vormittag appliziert, hat Dora durch die einem Jahr 1100 Milliarden Dollar, also alternative Begleit-Behandlung gut vertra- gen. Am Nachmittag danach fuhren wir

144 Rad! Allerdings spürte sie im rechten Arm, (engl.) wörtlich:„Wir jagen sie nieder!“ – der schon stark geschwollen war, bereits frei übersetzt: „Wir jagen sie zu Tode!“ 235 eine gewisse Taubheit, die sich in der Fol- Es ging direkt durch Felder und Wiesen - gezeit verstärkte. und nicht wie mit dem Auto durch Frank- Im Januar 1991 wiederholten wir die furter Vororte hindurch. Friedenweiler-Kur bei herrlichem Winter- Eine sehr gute Sache war die Bad wetter. Der Entlassungsbericht klang sehr Homburger Frauen-Selbsthilfe-Gruppe positiv. Nur der Rat, bei ansteigendem unter der Leitung der für diese Aufgabe Tumormarker solle eine rasche Einwei- außerordentlich geschickten Frau Erika sung angestrebt werden, machte uns stut- Grein. Mit ihr habe ich noch heute eine zig. Und er stieg an! Also: erneute Einwei- gute, freundschaftliche Verbindung. Die sung ins Krankenhaus; von einer Aus- Frauen – alle mit dem schweren Lebens- nahme war es immer das große und lei- schicksal Krebs – konnten hier Erfahrun- stungsstarke Nordwest-Krankenhaus in gen austauschen und sich gegenseitig Frankfurt. Für mich war dies insofern gün- stützen. Auch besondere „Geheimtipps“ stig, als ich die Besuche mit dem Fahrrad kamen aus der Gruppe, die oft eine große von der Flurstraße aus erledigen konnte: Hilfe waren.

Das Ende

Die letzte Festigungskur (heute heißt voller Hoffnung bis in die letzten Tage hin- das Reha als Abkürzung von Rehabilita- ein. Ambulante Behandlungen im Nord- tion 145 ) sollte wieder im Knüll Ende 1993 westkrankenhaus, kurze Einweisungen, stattfinden. Dora wurde aber nach ein paar kleine Operationen von Rezidiven konnten Tagen ans Krankenhaus zurück überwie- sie - und mich – in unserer Überzeugung sen mit dem Hinweis, sie seien in diesem nicht erschüttern. Selbst bei der letzten Fall nicht mehr zuständig. Was war los? Aufnahme am 2. November 1993 dachten Es stellte sich heraus, dass Metastasen wir nicht im entferntesten daran, dass es mittlerweile über die Achseldrüsen hinaus nun keine derartige Wiederholungen mehr in andere Körperstellen vorgedrungen geben würde. waren; z. B. bestand der Verdacht – der Am 9. November – nach einer sich später bestätigte – dass die Leber schmerzvollen Zeit – bat Dora, ihre letzten befallen war. Außerdem tauchten weitere Tage daheim verbringen zu dürfen. Darauf Hautmetastasen auf. Dazu hatten auch veranlasste ich ihre Verlegung für den noch Bestrahlungen Verbrennungen am nächsten Tag, 11 Uhr. Erasmus war Hals verursacht – was sehr schmerzhaft inzwischen angereist und wollte mir dan- war. (Bild 82) kenswerter Weise bei der Pflege helfen. In diesem körperlichen Zustand fuhr Welch ein Freundschaftsdienst!! Ich ich sie liegend im Reisemobil nach besorgte ein modernes Krankenbett. So Oppenheim, wo gerade Werner seine war alles aufs Beste vorbereitet. Am Mor- erste eigene Praxis eingerichtet hatte. Ein gen des 10. saßen Erasmus und ich Leuchten ging über ihr Gesicht als sie sah, zusammen und warteten auf die Nach- wie ihr Ältester die Zukunft seines Lebens richt, dass der Rotkreuzwagen im Nord- würde gestalten können. west-Krankenhaus abgefahren sei. Statt Wenn ich heute noch einmal die dessen kam der Anruf, Dora sei ins Koma Befunde ab Februar 1993 lese, so wun- gefallen und nicht mehr transportfähig. dere ich mich, dass wir damals immer Ich alarmierte Werner und Wilhelm. noch eine Besserung erwarteten. Schon Zu viert fuhren wir dann am frühen Nach- die Zahl der Metastasen und die Stellen, mittag ins Krankenhaus und fanden Dora wo sie auftraten, hätte mich stutzig wirklich ohne Besinnung. Ein Aufwachen machen müssen. Aber auch Dora war sei wohl nicht mehr zu erwarten, meinten die Ärzte. Wie lange dieser Zustand dau-

145 ere, konnte man uns nicht sagen. Den- (Wieder)eingliederung eines Kranken noch öffnete sie an diesem Nachmittag (... ) in das berufliche u. gesellschaftl. Leben. plötzlich die Augen – wir Drei mit Erasmus standen um das Bett herum – und meinte: 236 “So viel Menschen!?” – Ich fragte, ob sie Die Urne setzten wir am 9. Dezember in Schmerzen habe. Als sie bejahte, holte ich einer stillen Feier im engsten Fami- die Schwester. Nach der Injektion versank lienkreis auf dem Gonzenheimer Friedhof sie erneut ins Koma – und wachte, bei. solange wir anwesend waren, nicht mehr Verhängnisvoll war, dass ich in ihren auf. letzten Monaten meine Stimme verloren Wir teilten unter uns die Wachen für hatte. Anfang 1993 musste ich mich im die Nacht ein: Wilhelm übernahm die Bad Homburger Kreiskrankenhaus einer ersten beiden Stunden von 20 bis 22 Uhr, Schilddrüsen-Operation unterziehen. Wie Werner anschließend bis Mitternacht, ich sich erst später herausstellte, war dabei bis 3 Uhr und Erasmus bis zum Morgen. der Nerv des rechten Stimmbandes Dann fuhren wir nach Hause. Werner löste durchtrennt worden. Noch bei der Entlas- Wilhelm ab, und in seiner Wachzeit kam sung schien alles in Ordnung, aber kurz von ihm der Anruf zu uns in die Flurstraße: darauf verschwand der Klang meiner ”Mutter ist soeben gestorben”. Daraufhin Stimme. Ein ganzes Jahr lang musste ich eilten wir Drei, es war gegen Mitternacht, zwei Mal in der Woche nach Oberursel mit ins Krankenhaus und fanden Dora schon dem Fahrrad fahren zu einer logopädi- nicht mehr im Krankenzimmer, sondern in schen Behandlung. Man vermutete, dass einem besonderen Raum. der Nerv nur beschädigt worden sei. Noch Nach einem Vater-Unser-Gebet bei dem Zusammensein nach der Trauer- nahmen wir Abschied von unserer lieben feier musste Werner das, was ich gerne Heimgegangenen, um den Rest der Nacht gesagt hätte, verlesen. Erst einige noch ein wenig ruhen zu können. Wochen danach konnte ich dieser Sache In einer Trauerfeier am 18. November in auf den Grund gehen. Dank der Bemü- der überfüllten Gonzenheimer hungen der Logopädin, Frau Irene Lucas- Friedhofskapelle nahmen wir endgültig sen, fand eine Untersuchung in der Uni- Abschied unter dem Wort aus Römer 8, versitätsklinik Gießen statt. Dort behan- Vers 28: “Wir wissen aber, dass denen die delte mich eine außerordentlich geschickte Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen”. Chirurgin, Frau Dr. Glanz. In einer gewag- Dieser Satz war uns in all den Jah- ten OP straffte sie das gelähmte Stimm- ren unserer Ehe eine wichtige Erfahrung band und hinterfütterte es mit Knorpel- geworden und gab nun uns, den Hinter- material aus meiner Nasenscheidewand. bliebenen, den Trost, den wir ersehnten. Nun hatte das gesunde linke Stimmband Noch einmal erklang unsere Fahrtenmelo- wieder seinen „Partner“: Ich konnte auf die, das Largo aus dem Konzert für diese Weise „phonieren“ 146 . Als ich aus Sopranino-Blocklöte von Antonio Vivaldi, der Narkose aufwachte, war das Flüstern die uns Beide einst auf unserer Griechen- vorbei. ich konnte wieder richtig sprechen! landreise begleitet hatte. Und das hat bis heute gehalten. Es war mir ein unglaublich großes Geschenk!

146 (gr,) Töne erzeugen.

238 Bild 83 Wilhelm, Judith und David, 2004

Bild 84 Unser Haus in Simmertal

Bild 85 Frisch vermählt! 240 241 Was nun ?

Das war zunächst für mich die Jahre lang. Es wäre für mich unerträglich Frage. Das Leben allein war ich gewohnt. gewesen, wenn sie dabei einen Unfall Es fiel mir nicht schwer und war somit kein gehabt hätte oder sonstwie zu Schaden besonderes Problem. Außerdem hatte ich gekommen wäre. ja auch meine beiden Söhne. Elisabeth Normalerweise zieht in solchen Fäl- war zwar zur Trauerfeier angereist, kehrte len die Frau zum Mann, besonders wenn aber wieder nach Spanien zurück, wo sie der ein Haus besitzt. Aber, was heißt noch heute lebt. Sehr bald besuchte mich “normalerweise”? Lore hatte inzwischen in auch Lore Cordes, deren Ehe inzwischen Kirn – wie man so sagt – Wurzeln geschieden worden war; sie wohnte nach geschlagen. Ich hatte mich Doras wegen ernster Erkrankung und einer sehr schwe- mehr und mehr aus manchen Bekannt- ren Zeit in Kirn an der Nahe. Dort war sie schaften zurückgezogen. Nun, da ich zuletzt an der Berufsschule Religionsleh- alleinstehender Witwer war, hielt mich in rerin gewesen, nun aber vorzeitig in Pen- Bad Homburg nicht viel. Auch in der sion gegangen. Nachbarschaft fehlten durch Wegzug oder Im Frühjahr 1994 setzte ich mich ans Tod viele frühere Verbindungen. Ein Steuer meines Reisemobils und startete beabsichtigter Verkauf des Hauses wurde allein zu einer Rundreise durch Deutsch- vom Kirchenvorstand nach quälenden land, Freunde, Bekannte und Verwandte Verhandlungen nicht genehmigt. So über- zu besuchen. Das war eine “sinnlos gab ich es Wilhelm und Judith, die damals Klasse-Idee”, wie in solchen Fällen meine kurz vor ihrer Heirat standen (11. Novem- Nichte Dorothee Haas (Reininghaus) zu ber 1999, Bild 84) und großes Interesse sagen pflegt. Wieder heimgekehrt, hatte gezeigt hatten. Lore fand in der ich genug in Haus und Garten zu tun; Umgebung von Kirn – in Simmertal – ein langweilig wurde es mir nie. An manchen sehr schönes Haus, das auch mir zusagte Wochenenden kam Lore zu Besuch, die (Bild 85); so kaufte ich es. Judith und meine Söhne aus Sorge um mich gebeten Wilhelm halfen dabei – und nun wohnen hatten, hier und da “etwas nach mir zu wir seit 1998 hier, mittlerweile als sehen”. Wen wundert´s, dass aus dieser glückliches Ehepaar: Wir heirateten alten Freundschaft (seit unserer gemein- nämlich eine Woche nach den beiden am samen Israelreise 1963) Liebe wurde? Mit 18. November 1999 (Bild 86). Fast wäre dem LT unternahmen wir einige Fahrten. es eine Doppelhochzeit geworden. Es häuften sich die gemeinsamen Wilhelm und Judith bewohnen die Wochenenden bei mir in Bad Homburg, Flurstraße 10 auch nicht mehr allein. Vor bei denen es mir zunehmend mulmig etwa vier Jahren „erschien“ David, nicht wurde: Jedes Mal musste sie ja ca. 150 nur ein weiterer Knopf, sondern ein regel- km hin und zurück fahren; das tat sie 4½ rechter Goldknopf (Bild 83). 242 Eine etwas außergewöhnliche Reise auf die Krim (... – und ihre Folgen, Juli 1995)

Nach meinen vorwiegend guten aus der Zarenzeit stammenden – Hotel Erfahrungen mit Reisen in die Ostblock- Oreanda. Beim Abendessen bestellten wir staaten nach der Wende wurde seit Doras Sprudel. Wir hätten gerne einmal Krim- Tod der Gedanke immer größer, mich wasser getrunken; aber was brachte man vielleicht doch noch einmal auf der Halbin- uns? Echtes „Fuldataler“ Mineralwasser! sel Krim umzusehen, wo ich über 4 Jahre Am nächsten Tag wurde der Reise- als Kriegsgefangener zugebracht hatte. Es gruppe eine Besichtigungsfahrt angebo- scheiterte zunächst daran, dass vor allem ten, an der wir uns zunächst beteiligten. Sevastopol für Ausländer militärisches Eine ähnliche Unternehmung nach Sperrgebiet war. Doch in den 90er Jahren Sevastopol stand nicht auf dem Pro- wurden Gruppenreisen nach Jalta gramm. Von einem ehemaligen Kollegen bekannt, um so mehr, als die Krim nun zu war mir ein Kraftfahrer empfohlenen wor- der selbständig gewordenen Ukraine den, der sich bereit erklärte, uns nicht nur gehörte. Das war für mich eine Chance. nach Sevastopol zu fahren. Er entpuppte Ich hatte zwar kein Interesse daran, in sich als „Chitri Tschelowek“, auf deutsch: einer „Herde“ von Ort zu Ort geführt zu ein Schlitzohr, ein Filou, ein „mit allen werden, aber ich konnte angesichts der Wassern Gewaschener“. Igor (tatsächli- russisch-ukrainischen Mentalität hoffen, cher Name ist der Redaktion bekannt) doch irgendwie aus einer Reisegruppe brachte uns sogar in Sperrgebiete wie das auszuscheren und auf eigene Faust los- Jagdrevier der Zaren (auch der „roten“ – zuziehen. Leider war bei meinen ehemali- Breschnew z. B.), in dem wir unsere gen Mitgefangenen-Freunden kein Inter- Forellen für ein opulentes Mittagessen esse an einer Teilnahme. Da meldete sich selbst angeln durften. Natürlich war er Werner - er wollte mich nicht allein lassen. auch bereit, uns nach Sevastopol zu brin- Mir ging es auch darum, dort möglichst gen, eine Unternehmung, bei der unser viele persönliche Kontakte zu knüpfen. Reiseleiter meinte, es könnte mich eine Dazu wurde mir eine gewisse Heike Weh- zweite Gefangenschaft kosten. Igor lachte ner in Friedrichsdorf empfohlen, die im nur darüber. Rahmen ihres Sprachstudiums in Jalta ein Mit seinem Mercedes – dessen Her- Praktikum absolviert hatte und mir kunft für uns im Dunkeln blieb – fuhren wir bestimmt Adressen geben könne. Das von einem besonderen Treffpunkt aus los. klappte sehr gut; Heike hatte nur die Bitte, Die vor dem Hotel auf Kundschaft warten- ihr nach Rückkehr die Dias zu zeigen, die den Taxifahrer sollten uns nicht sehen. Er wir dort gemacht haben würden. Die ihri- hatte seinen Neffen mitgebracht, der den gen seien bei ihrer Ausreise bei der Wagen bewachte, wenn wir ihn verließen. Gepäckkontrolle damals alle unbrauchbar Die Fahrt ging zunächst an der Schwarz- geworden. meer-Küste entlang. Er zeigte uns Gorba- Das sagten wir gerne zu und flogen tschows Datscha; von ihm hielt er nicht – im Juli 1995 – zunächst nach Simfero- viel. Balaklava, das ich noch von meiner pol, der Hauptstadt des Gebietes Krim. Es Gefangenschaftszeit her kannte, ließen wir war schon ein Erlebnis, vom Weltflughafen links liegen, Frankfurt zu starten und in Simferopol zu An der Stadtgrenze Sevastopols landen. Mir kam es vor, als sei ich auf nötigte uns ein Schlagbaum zum Anhal- einem Feldflugplatz des letzten Krieges ten. Bevor Igor auf ein kleines Wacht- angekommen. Ein Oberleitungs-Bus häuschen zuging, informierte er uns: „Nix brachte uns die ca. 70 km lange Strecke verstehn, Mund halten!“ Wir sahen, wie (die längste Trolley-Bus-Linie der Welt!) andere „Grenzgänger“ kontrolliert wurden. nach Jalta. Es hat uns gefreut, dass wir Da fiel uns heiß ein, dass ja unsere deut- nicht in dem hochmodernen Hotel Jalta schen Personalausweise im Hotel „Ore- am Ort untergebracht wurden, sondern in anda“ lagen und wir nur eine Art Bon mit dem urgemütlichen – wahrscheinlich noch dem Stempel des Hotels besaßen. Es 243 dauerte eine Weile bis Igor wieder Und das lag nicht nur am guten Englisch, erschien, dem Koffer seines Wagens ein das alle Beteiligten – außer mir – ein- Bündel (Inhalt?) entnahm und es unter der wandfrei beherrschten; mein Russisch war Plane eines Motorrad-Beiwagens ver- dagegen ein armes Gestammel. Besuche staute, der in unserer Nähe parkte. Er hin und her waren in den Jahren danach grinste vielsagend, als er sich schweigend die Folge. Das Versprechen, Heike unsere ans Steuer setzte. Der Schlagbaum ging Fotos vorzuführen, hatten wir gleich nach hoch, und wir fuhren - ohne dass jemand der Rückkehr eingelöst. Ich meinte sogar zu uns hereinschaute, geschweige denn dabei beobachtet zu haben, dass sie bei kontrollierte – in die vor uns liegende der Auswahl der Aufnahmen hier und da Hafenstadt hinein. besonders gerne Dias nahm, auf denen Meine Wünsche hatte ich Igor schon auch Werner zu sehen war. Offensichtlich vorher erläutert. Das Gebäude, in dem ich lag das Interesse nicht nur bei Heike, denn als Gefangener fast die gesamte Zeit auch Werner hatte inzwischen ein Auge untergebracht war und das ich sehen und auf sie geworfen. Jedenfalls sind sie – der fotografieren wollte, konnte nur vom langen Rede kurzer Sinn – jetzt längst ein Hafenbecken der Buchta Hollandija aus Ehepaar; geheiratet haben sie am 16. eingesehen werden. Und so fuhren wir August 1997 und sind jetzt mit Adoptiv- ohne anzuhalten zum Hafen hinunter. An sohn Carlos (2001 geboren ) eine kleine einem kasernenartigen Gelände hielt uns Familie (Bild 87). am Tor ein Posten mit Gewehr an. Igor Zu Gast bei der Hochzeit waren reichte ihm durch das geöffnete Wagen- dann unter anderem auch Oleg, Irina und fenster lässig etwas hinaus. Eine kleine Ella. Sie wohnte später auch eine Zeit lang Handbewegung war das Zeichen, dass wir während ihres zahnärztlichen Praktikums weiter durften. in Oppenheim. Igor verschwand in einem Gebäude; Darüber hinaus ist es nicht übertrie- diesmal dauerte es länger. Ein kleines ben zu behaupten, dass alles eine – wenn Motorboot hätte eigentlich für uns drei auch späte – Frucht meiner russischen gereicht, aber er hatte eine große Fähre Gefangenschaft war: Denn dadurch, zu einer nicht fahrplanmäßigen Fahrt gechartert. Als wir dann zu viert, Igor, der • dass ich 1945 in sowjetische Gefan- Kapitän, Werner und ich, zwischen den genschaft geraten bin – links und rechts ankernden Kriegsschiffen • und dann 56 Jahre nach meiner hindurch manövrierten, wurde mir klar, Heimkehr den Wunsch gehabt warum: Ein Motorboot hätte eher Argwohn habe, noch einmal nach Sevastopol erzeugt als die üblicherweise hier verkeh- zu reisen, rende große Fähre. Ich saß in der Kajüte des Kapitäns, mit dem ich mich in meinem • und Werner mich begleitet hat, mittlerweile dürftigen Russisch zu unter- • und dabei eine gewisse Heike Weh- halten versuchte. Als ich fragte, ob man ner uns Tipps für Jalta gab, die Kriegsschiffe fotografieren dürfe, sagte er nur: „Halt drauf!“ - und wir lachten haben die beiden sich kennen gelernt und beide. dann geheiratet. Leider hatten wir Pech: dichter Nebel lag im Hafenbecken. Auch bei klarem Ähnlich ist es ja auch mit Dora und Wetter wäre es mit einem Foto nichts mir gegangen, und – wenn man genau gewesen, denn die Sonne stand direkt hinsieht – hinter dem Gebäude. So war alles verge- ebenfalls mit Lore und mir. bens: wir drehten unverrichteter Dinge ab. Die Fähre nahm an einem Anlegeplatz Sind das nicht Zufälle in bester einige Schulklassen auf und kehrte Albert Schweitzerischer Interpretation? zurück. Das ersehnte Foto hat Werner Zehn Jahre fast sind nun vergangen, dann bei einem späteren Besuch auf der seit Lore und ich ein zweites Eheleben Krim für mich „geschossen“ (Bild 86). begannen. Was gäbe es da zu berichten! Mit der Familie Proskurin (Oleg, Natürlich stand das Reisemobil in dieser Irina, Tochter Ella – auch ein „Tipp“ mei- Zeit nicht still. Welch wunderschöne nes Kollegen) verstanden wir uns sehr gut. Fahrten haben wir noch gemeinsam 244 erlebt. Unvergessen sind uns die Reisen meinen Vorkriegs-Mitarbeiter-Freund Her- in der näheren Heimat, im Hunsrück, bert Schlotter ließ ich mich „verführen“, auf Odenwald, Schwarzwald , an die Nord- einer Senioren-Freizeit der Heliand-Bru- und Ostsee – immer verbunden mit Besu- derschaft mitzuwirken. Es lag ihm am Her- chen bei Verwandten und Freunden. Aber zen, die Beschäftigung mit der Bibel mög- auch über unsere Grenzen ging die Fahrt: lichst unter Beachtung der neuen For- Österreich mit einem Aufenthalt in Zöck- schungsergebnisse anzubieten, bei der lers Wuzlhaus, die Schweiz und Tsche- das Befeiende der Botschaft deutlicher chien mit den Orten meiner ersten Gefan- wird. („etwas Pep reinzubringen“ wie er es genschaftstage, vor allem aber mit Prag. ausdrückte). Daraus wurde auch zu unse- Seine Sehenswürdigkeiten wurden uns in rer eigenen Bereicherung über viele Jahre einer kompetenten Führung gezeigt. eine regelmäßige Mitarbeit auf diesen Das treue Gefährt brachte uns zu Freizeiten, in die auch Lore gerne einge- Kuraufenthalten und Tagungen. Durch stiegen war. Bild 86 (Standbild aus Video) Das Lagergebäude in der „Buchta Hollandija“, Sevastopol

Bild 87 Werner, Heike & Carlos 246 247 Epilog

Fast könnte ich jetzt dasselbe wechselte kurz darauf in die Hitler-Jugend. schreiben wie nach Teil I „... wie es dir Ich ging nicht mit, denn mittlerweile gefie- selber gefällt“, der mit meiner Entlassung len mir diese Zusammenkünfte. In diesem aus der Gefangenschaft endet. Was das Lebensabschnitt haben für mich eine Wunderbare in dieser Zeit meines Lebens große Rolle gespielt: Horst Fortun, der war, will ich abschließend versuchen, in Führer der Pfadfindersippe „Walter Flex“ einigen Stationen ausführlicher – und doch und mein späterer, jahrelanger Freund bis kurz - zusammenzufassen: zu dessen Soldatentod 1944 an der Ost- front als Major und Ritterkreuzträger in Manchem Leser von „... wie es dir einer Panzer-Einheit; Helmuth Eifert, der selber gefällt...“ haben meine Eltern Ein- Leiter der Hanauer Jungenkreise (ebenso druck gemacht – vor allem meine Mutter. gefallen 1942 an der Ostfront als Offiziers- Aber was war an ihnen Besonderes? Anwärter) - und der „Erstführer“ der Pfad- Beide kamen aus einfachen Verhältnissen; finderschaft, zugleich der „Oberleiter“ des aber die Atmosphäre, in der mein Bruder Jungen- und Jungmännerwerkes im Raum Werner und ich aufwuchsen, war voll Frankfurt am Main, Paul Both. Obwohl der Herzlichkeit, Humor und Güte. Sie waren Glaube hier reichlich pietistisch, wenn „normale“ Kirchenchristen. Mein Vater – nicht fundamentalistisch vertreten wurde, von Beruf Kaufmann (Handelsvertreter) - war er mir doch Halt und Lebenssinn in nahm mich gelegentlich mit, wenn er mal Krieg und Gefangenschaft: Station 2. zu Hause war und zum Gottesdienst ging. Meine Mutter schickte mich so ab sechs In den ersten Tagen meiner Kriegs- Jahren in den Kindergottesdienst, gehal- gefangenschaft lernte ich (auf originelle ten von Pfarrer Hans Munk. Er verstand Weise) Dr. med. Albrecht Sproedt aus es, uns mit der Geschichte unserer beiden Wuppertal kennen, der wie ich Mitglied im Gemeinden (der Wallonischen – zu der wir BK war. Zu ihm hielt ich mich, nachdem gehörten - und der Niederländischen) die Alliierten uns an die sowjetische schon in diesem Alter vertraut zu machen. Armee ausgeliefert hatten. In der ersten Außerdem machte er uns verständlich, Nacht schliefen wir mit anderen Kamera- was Glauben heißt: Dass es schon eine den auf dem Dach eines Wehrmacht- wichtige „Sache“ sein muss, wenn Men- Funkwagens nebeneinander. Ich sah die schen (wie unsere Vorfahren) bereit letzte Gelegenheit zur Flucht gekommen, waren, Haus, Hof und Freunde zu verlas- da wir nur von ein paar Sowjetsoldaten sen, um mit ihrem Glauben leben zu kön- bewacht wurden. Ich forderte ihn auf mit- nen. Ich war stolz auf diese Historie! Der zugehen. Er lehnte ab und wollte seine Konfirmanden-Unterricht war für mich wie Kameraden nicht in dieser Situation im die Versetzung in die höhere Klasse in der Stich lassen. Wahrscheinlich hat er mir Schule. Obwohl ich später schon Mitglied damit nicht nur das Leben gerettet, denn im damaligen BK (Bibel-Kreis für Höhere die Tschechen machten Jagd auf flüch- Schüler) und Pfadfinder war, besuchte ich tende deutsche Soldaten. Ob ich die gerne die Zusammenkünfte der sog. „Jun- überlebt hätte, war sehr fraglich. Zwar gen Leute“, die Pfr. Munk selbst leitete blieb ich nun für über vier Jahre in sowjeti- und die immer sehr interessant waren. – scher Gefangenschaft, in der und durch Das war für mich der Anfang meiner die ich aber – s. Station 4 – eine entschei- Geschichte zum Thema „Glauben“, also: dende Weichenstellung erlebte: Station 3. Station 1. Im Gefangenenlager Sevastopol Als Quintaner der „Hohen Landes- lernte ich von Werner Reininghaus, dem schule, staatliches Realgymnasium“ nahm Pfarrer der von den Sowjets ungern mich an einem Nachmittag der Neben- geduldeten Lagergemeinde, eine andere mann auf der Schulbank und zeitweise Form christlichen Glaubens kennen, bei mein Freund mit ins Evangelische Ver- der es weniger um das „persönliche See- einshaus zu einem „zünftigen Verein“ – lenheil“ als darum ging, auch die Verant- wie er meinte. (Anfang von Station 2). Er wortung für das öffentliche Leben in den 248 Blick zu nehmen. Er war es, der zusam- seines Evangeliums stand nichts anderes men mit einigen Besuchern der Gottes- als Gottes bedingungslose Liebe, von ihm dienste (und Freunde bis heute: Erasmus - selbst im Gleichnis vom verlorenen Sohn „Christel“ – Zöckler und Thomas „Thom“ (Lukas 15, 11ff.) unmissverständlich dar- Schmidhofer mein Berufsziel als Ingenieur gestellt. Denn welche Bedingungen nicht nur in Frage stellte, sondern auch musste der zurückkehrende Sohn erfüllen, neue Wege aufzeigte: Station 4. bevor ihn der Vater wieder aufnahm? Keine! Der Vater kam ihm sogar entgegen, Nicht zuletzt – nach den Auseinan- umarmte ihn so, wie er in seiner Verkom- dersetzungen mit Paul Both, die zu unse- menheit vor ihm erschien, und bereitete rer Trennung führten - war das Studium ihm ein großes Fest. Nur der daheim zum Religionslehrer im Oberseminar Düs- gebliebene „brave“ Bruder nörgelte herum, seldorf eine der folgenreichsten Wendun- eine Warnung an uns Kirchenchristen! – gen. Dort begegnete mir eine Theologie, Meines Erachtens sollte alles gemieden die mir eine unwahrscheinliche innere werden, was geeignet ist, diese bedin- Befreiung brachte. Evangelium war nun gungslose, umfassende Gottesliebe zu wirklich für mich keine Drohbotschaft verdunkeln. mehr, sondern eine Frohbotschaft gewor- den. Mit ihr konnte ich die letzten Beden- Sie „nichtreligiös“ zu interpretieren, ken vor der Aufgabe, die auf mich wartete, lässt sich vielleicht verdeutlichen an dem entkräften. Dietrich Bonhoeffer mit seinem Bibelwort aus Matthäus 6, 33: „Trachtet Glauben war mir zum Vorbild geworden. am ersten nach dem Reich Gottes...“ Was Für ihn stand im Vordergrund nicht Reli- heißt in diesem Sinne Reich Gottes? Für gion und Kirche, sondern die Frage, was Paul Both - und auch für mich eine Zeit Glaube im Alltag des Menschen für eine lang – war dieser Begriff verbunden mit Rolle spielt. Und vor mir saßen ja in der unserem Einsatz für das Jugendwerk Beruflichen Schule in der Mehrzahl („Reich-Gottes-Arbeit“!). Heute hat sich Jugendliche, die am Beginn ihres Erwach- mir dieses Wort geweitet nach Römer 14, senen-Daseins Orientierung suchten und 17: „... das Reich Gottes ist [...] Gerechtig- meist nicht wussten, was der Glaube keit und Friede und Freude [...]“. Ich würde dabei soll. Sie kamen nicht freiwillig wie in hinzufügen: Liebe, Vergebung, Zärtlich- der Jugendarbeit, sondern oft recht unwil- keit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, lig. Ich verstand mich zwar nicht als Mis- Menschlichkeit usw. Dies sind Gedanken, sionar, aber die Glaubensfrage tauchte die nicht unseren Köpfen entsprungen, von selbst immer dann auf, wenn es sondern aus der Bibel selbst begründbar gelang, Lebensprobleme zu erörtern. Da sind. Es ist also eine „Veranstaltung“ (eine musste ich das, was mir mein Glaube Lebenswirklichkeit) auf dieser Erde. Wenn bedeutet, in die Sprache der Jugendlichen nicht da, wird es religiöse, jenseitige übersetzen können. Station 5. (Zukunfts-) Schwärmerei. Ursprünglich war das Wesen dieser Welt wohl doch gut. Es ist mir in der Folgezeit klar Mehrmals heißt es im 1. Schöpfungsbe- geworden: Da müssen eine ganze Reihe richt (1. Mose 1):“ ... und Gott sah, dass es alter Glaubenssätze und Glaubensformen gut war“. Nur wir Menschen machen das verschwinden, so lieb und wichtig sie uns Leben immer wieder zur Hölle. Arbeiten auch geworden sein mögen. Das gilt wir mit, dass sie gut – oder wenigstens besonders heute – wenn auch für mich besser – werde! nicht mehr in der Schule – sondern in freier Diskussion. Darf man das? Wieviel Das ist heute mein Glaube! Er ist vor Zeit und Kraft wurden schon verschwendet allem geprägt durch eine tiefe Freude an mit Problemen wie z. B. Schöpfungsge- Gott und an dieser seiner Welt – und schichte, Jungfrauen-Geburt, Bethlehem zugleich durch eine große Dankbarkeit oder Nazareth als Geburtsort, Dreieinig- ihm gegenüber, der mir „von Mutterleib keit, wahrer Mensch und wahrer Gott = und Kindesbeinen an unzählig viel zugut Jesus, das „Opferlamm“ Gottes. Würde bis hierher hat getan.“ (zitiert aus dem Jesus heute diese Glaubenssätze (Dog- Lied „Nun danket alle Gott …“, eG 321, men!) von uns verlangen? Im Mittelpunkt Vers 1). 249 Ich stehe im 90. Lebensjahr. In der Sprache des Sportes ausgedrückt laufe Ich hang und bleib auch hangen ich also auf der „Zielgeraden“. Meine An Christus als ein Glied; Lebenserfahrung (in aller Bescheidenheit) Wo mein Haupt durch ist gangen, und meine Zukunftshoffnung kann ich Da nimmt er mich auch mit. nicht besser zum Ausdruck bringen, als es Er reißet durch den Tod, Paul Gerhardt (1647) in dem Osterlied Durch Welt, durch Sünd, durch Not, „Auf, auf mein Herz mit Freuden...“ getan Er reißet durch die Höll, hat (eG 112, 6): Ich bin stets sein Gesell.

Dank Noch mehr als am Ende von „... wie Heike führte er die Schlußredaktion durch es dir selber gefällt“ (Teil I) kann ich hier und übernahm die Gestaltung des „Äuße- schreiben: Es „ist ein richtiges Familien- ren“ samt Drucklegung. – Alle drei trugen unternehmen geworden“. Besonders in somit erneut zum Gelingen und zum den letzten zwei Jahren, in denen mein Abschluss meines „Werkes“ bei. körperlicher Zustand sich rapide ver- schlechterte, war ich zunehmend auf Hilfe Darüber hinaus erwies sich als angewiesen: Mein Kurzzeitgedächtnis „Feuerwehr“ und wahrer Freund Detlef wurde katastrophal und mein linkes Auge Michel, der einige hundert Meter von war durch eine feuchte Macula-Degenera- unserem Haus entfernt wohnt: Wenn mein tion 147 kaum mehr zu gebrauchen. Lore 89jähriger Kopf mit der Computertechnik ermunterte mich auf so mancher Durst- nicht mehr weiter wusste (und das strecke zum Durchhalten und gab – noch geschah oft genug!), reichte ein Anruf bei mehr als in Teil I – dem „Rohdiamanten“ ihm; dann musste ich mich aber sputen, durch ihr Lektorat (über Tippfehler, Punkt um noch vor ihm an der Haustür zu sein. und Komma weit hinaus) einen gewissen Ihnen allen gilt also mein ganz besonders Schliff. Werner half mir immer wieder beim herzlicher Dank! Umgang mit dem PC (nicht nur über Telefon – er kam auch oft von Oppenheim Simmertal, 19. März 2009 „herüber“, z.B. zum Scannen der Fotos. Unter kompetenter Assistenz seiner Frau

Bildnachweis

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Lore Cordes: 83, 84 Werner Knopf: 59, 63, 70, 86, 87 A. Paul Weber: 16

147 Bei dieser Erkrankung ist ausgerech- net am Punkt des schärfsten Sehens ein schwarzer Fleck. 250 Abkürzungen Apg Apostelgeschichte glb Gewerbelehrer-Verband ArGe Arbeitsgemeinschaft Gestapo Geheime Staatspolizei Azubi Auszubildender (Lehrling) H Haus Heliand BfA Bundesversicherungsanstalt HB Heliand Bruderschaft für Angestellte hlg. heilig (Rentenversicherung) KL Kirchenleitung BK Bekennende Kirche KP Kirchenpräsident BK Bibelkreise (für ev..Schüler Höherer Lehranstalten – KPD Kommunistische Partei Jugendorg.. vor 1933) Deutschlands BR Bruderrat d, EKDt KV Kirchenvorstand BRD Bundesrepublik Deutschland LT Lasttransporter (bei uns übliche Bezeichnung BS Berufsschule, neu: unseres Reisemobils) Berufliche Schulen MdB Mitglied des Bundestages CDU Christl. Demokratische Union (Partei) MfS Ministerium für Sicherheit (u. a. Geheime Staatspolizei i. CSU Christl. Soziale Union d. DDR) (Partei) m. E. meines Erachtens DC Deutsche Christen m. W. meines Wissens DDR Deutsche Demokratische Republik NATO Nord-Atlantik-Pakt (engl.: North Atlantik Treaty DEK Deutsche Evangelische Organisation) Kirche NS nationalsozialistisch DKP s. KPD ÖKR Ökumenischer Rat der Dt deutsch Kirchen EF Erstführer „Dienstrang“ von OKR Oberkirchenrat Paul Both in der Heliand- Pfadfinderschaft PB Paul Both EKD Evang. Kirche Deutschlands Pg Parteigenosse EKHN Evang. Kirche in Hessen RAD Reichsarbeitsdienst und Nassau RAF Rote Armee Fraktion EKKW Evang. Kirche in Kurhessen RL Religionslehrer Waldeck RU Religionsunterricht FEJ Freunde Evangelischer SA Sturm-Abteilung (NS- Jugendarbeit Organisation) FS Fernsehen SBZ Sowjetisch besetzte Zone GEW Gewerkschaft f. Erziehung (später DDR) und Wissenschaft SS Sturmstaffel (NS- GG Grundgesetz Organisation) GK Günter Knopf SU Sowjetunion GKA Gesamtkirchl. Ausschuss (f. UdSSR Union der Sozialistischen d. Religionsunterricht) Sowjetrepubliken (SU)