Christina Horst

OKKASIONALISMEN: Eine Analyse anhand ausgewählter Beispiele aus einer Wochenzeitung

Treball de Fi de Grau

Juny, 2012

Facultad de Traducció i Interpretació

Universitat Pompeu Fabra

Martin Bodo Fischer

Idioma alemany

Christina Horst

OKKASIONALISMEN: Eine Analyse anhand ausgewählter Beispiele aus einer Wochenzeitung

Treball de Fi de Grau

Juny, 2012

Facultad de Traducció i Interpretació

Universitat Pompeu Fabra

Martin Bodo Fischer

Idioma alemany Abstract

Muchos lingüistas ya han estudiado los ocasionalismos en la lengua alemana por su interés lingüístico, pero lo han hecho en general y solo muy pocos los han tratado observando su contexto. Por lo tanto, este trabajo analiza con qué frecuencia se hallan ocasionalismos en una edición específica del periódico semanal DIE ZEIT, qué tipos de ocasionalismos hay y cómo el lector puede descifrarlos con o sin la ayuda del contexto. Para ello, he sintetizado los conocimientos básicos necesarios sobre la formación de las palabras en alemán, poniendo el énfasis en la formación de palabras nuevas, como son los ocasionalismos. De esta manera, he podido clasificar los ocasionalismos en los tres clases principales de la formación de palabras en alemán y, asimismo, analizarlos en su contexto. El resultado son 234 ocasionalismos encontrados, un 88 % de palabras compuestas, un 7 % de derivaciones y un 5 % de conversiones. Mediante estos ejemplos, he estudiado cómo el lector puede llegar a entenderlos sin tener previo conocimiento de ellos y prescindiendo del contexto; y la conclusión es que lo consigue a través de analogías con palabras conocidas y descomponiendo la nueva palabra en sus elementos constituyentes directos; sin embargo, el contexto sigue siendo imprescindible.

Inhaltsverzeichnis

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1. EINLEITUNG ...... 1 2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN ...... 3 2.1. Wortbildung allgemein ...... 3 2.1.1. Wortschöpfung und Wortbildung ...... 3 2.1.2. Doppelcharakter der Wortbildung ...... 4 2.1.3. Motivation und Wortbildungsbedeutung ...... 4 2.1.4. Wortbildungsmittel, unmittelbare Konstituenten, Wortbildungsprodukt ..... 5 2.1.5. Wortbildungsmuster Definition ...... 6 2.1.6. Produktivität und Aktivität ...... 6 2.1.7. Akzeptabilität ...... 7 2.2. Wortneubildungen ...... 8 2.2.1. Okkasionalismus vs. Neologismus ...... 9 2.2.2. Lexikalisierungschancen ...... 10 2.2.3. Spezifische Funktionen von Okkasionalismen ...... 11 2.2.4. Voraussetzungen des Remittenten und Rezipienten ...... 12 2.2.5. Wortbildungsparadigmen ...... 14 2.2.5.1. Wortbildungsreihe ...... 15 2.2.5.2. Wortbildungsnest ...... 15 2.2.5.3. Wortbildungssynonymie und – antonymie ...... 16 2.3. Wortbildungsmuster ...... 16 2.3.1. Komposition ...... 17 2.3.2. Derivation ...... 18 2.3.3. Konversion ...... 18 2.3.4. Kurzwortbildung ...... 19 3. ANALYSE ...... 20 3.1. Komposita ...... 21 3.1.1. Substantiv-Substantiv-Komposita ...... 21 3.1.1.1. Eigenname als Erstglied ...... 21 3.1.1.1.1. Bilfinger-Pressereise ...... 22 3.1.1.1.2. »Star Trek«-Sozialismus ...... 22 3.1.1.1.3. Jolie-Müllhaufen ...... 23 3.1.1.1.4. Allgemeine Beispiele und deren Wortbildungsbedeutung ...... 24 3.1.1.2. Kreative substantivische Komposita ...... 25 3.1.1.2.1. Beispiele im Artikel über Damien Hirst ...... 25 3.1.1.2.2. Beispiele aus fünf zusammenhängenden Artikeln ...... 27 3.1.2. Substantiv-Adjektiv-Komposita generell ...... 28 3.1.2.1. Adjektive ...... 29 3.1.2.1.1. „Richtiges“ Adjektiv als Zweitkonstituente ...... 29 3.1.2.1.2. Partizip als Zweitkonstituente...... 29 3.1.2.2. Substantive ...... 30 3.1.3. Verb-Substantiv -Komposita ...... 31 3.1.4. Adverb-Substantiv-Komposita ...... 32 3.1.5. Adjektiv-Adjektiv-Komposita ...... 33 3.2. Derivation ...... 33 3.2.1. Suffixderivation ...... 34 3.2.1.1. Substantiv zu Adjektiv ...... 34 3.2.1.2. Verb zu Substantiv ...... 34 3.2.1.3. Substantiv zu Substantiv ...... 35 3.2.2. Präfigierung ...... 36 3.2.2.1. Substantiv ...... 36 3.2.2.2. Verb ...... 37 3.2.3. Zirkumfigierung ...... 37 3.3. Konversion ...... 38 3.3.1. »Ob-La-Di, Ob-La-Da«-Allradantrieb ...... 38 3.3.2. Fly-in-and-fly-out-Personal ...... 39 3.3.3. Hire-and-Fire-Job ...... 40 4. SCHLUSSFOLGERUNGEN ...... 41 5. LITERATURVERZEICHNIS ...... 43 5.1. Quelle ...... 43 5.2. Zitierte Literatur ...... 43 5.2.1. Bibliografie ...... 43 5.2.2. Online-Ressourcen ...... 44 6. ANHANG ...... 45 6.1. Klassifizierung und Analyse der Okkasionalismen ...... 1 6.2. Screenshot RefWorks ...... 8 6.3. DIE ZEIT, Ausgabe 15 vom 04.04.2012 ...... 9

Abbildungsverzeichnis

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Im Lauftext

Abbildung 1: Neuheitsskala der Wortbildung (Peschel, 2002:6)...... 8

Abbildung 2: Gliederung der Wortbildungsarten (Duden, 2009:660)...... 17

Im Anhang

Abbildung 3: Analyse der gefundenen Okkasionalismen (eigene Abbildung)...... 7

Abbildung 4: Screenshot RefWorks...... 8

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1. EINLEITUNG

Wie jede Sprache ist auch die deutsche Sprache eine sehr lebendige, was sich vor allem an der Zahl der immer wieder auftretenden Wortneuschöpfungen zeigt. Eine Sprache muss sich dem ständigen Wandel der Zeit anpassen und steht somit niemals still. Gerade im Deutschen gibt es sehr einfache und doch faszinierende Arten Wörter neu zu bilden und ihnen somit einen neuen lexikalischen Inhalt zu geben oder durch sie einer neuen Wirklichkeit einen Namen zu geben. Die Rede ist von Okkasionalismen oder auch Gelegenheitsbildungen. Wie der Name schon verrät, handelt es sich um Bildungen, die man für eine bestimmte Gelegenheit braucht und die danach vielleicht sogar nie wieder verwendet werden. Es gibt ganz unterschiedliche Typen von Okkasionalismen oder Ad-hoc-Bildungen1, auf die ich im Folgenden genauer eingehen werde. Anschließend werden die Häufigkeit dieser Wortbildungskonstruktion in der Presse (anhand eines ausgewählten Beispiels), deren Einbettung in den Kontext und die Voraussetzungen für ihre Dekodifizierung kommentiert.

Die Idee dieser Arbeit entstand durch die Faszination für die deutsche Sprache (meine Muttersprache) und ihre kreativen Konstruktionen zum Ausfüllen lexikalischer Lücken. So nahm ich mir zum Vorsatz eine Ausgabe DER ZEIT (Ausgabe 15 vom 04.04.2012) auf Okkasionalismen zu untersuchen und zu versuchen eine Analyse dieser gefundenen Gelegenheitsbildungen auf Grund ihres Vorkommens und der Häufigkeit der verschiedenen Wortbildungsarten auszuarbeiten.

Die Wahl, die überregionale Wochenzeitung DIE ZEIT als Referenz für diese Analyse herzunehmen, fiel eher zufällig. Ausschlaggebend war jedoch, dass es sich um eine Wochenzeitung handelt, die ein breiteres Informationsfeld abdeckt, als eine Tageszeitung.

Es scheint, als wäre das Phänomen der Okkasionalismen schon häufig von Linguisten untersucht worden, doch selten in ihrem direkten Kontext. Deshalb ist das Ziel meiner Arbeit die Wichtigkeit des Kontextes anhand von ausgewählten Beispielen zu untersuchen. Mitunter werde ich auf die Definition aller bedeutenden theoretischen Aspekte der Wortbildung eingehen, die für die Bildung von Gelegenheitsbildungen entscheidend sind. Im Weiteren werde ich mich mit der Wortneubildung und ihrer Definition im Allgemeinen und dem Beispiel Okkasionalismen im Besonderen

1 Ad‐hoc‐Bildung, Okkasionalismus und Gelegenheitsbildungen werden hier als Synonyme verwendet. 2

beschäftigen. Hierbei werde ich auf ihre spezifischen Funktionen und die Voraussetzungen von Remittent und Rezipient zur korrekten Interpretation eingehen. Dort werde ich speziell auf Wortbildungsparadigmen eingehen, die zur richtigen Dekodierung beitragen. Danach erläutere ich die verschiedenen Wortbildungsmuster genauer nach denen Wortneubildungen entstehen.

In Punkt 3 beziehe ich mich direkt auf die ausgewählte Ausgabe des Pressetextes und die darin gefundenen Gelegenheitsbildungen. Ich werde die Beispiele nach den vorher erklärten Wortbildungsmustern klassifizieren und anhand einer Analyse deutlich machen, welche Wortbildungsmuster besonders häufig verwendet werden. Außerdem werde ich anschließend genauer auf die verschiedenen Beispiele eingehen indem ich ihr Zustandekommen, ihre Verwendung und ihre Aufgaben im Text erkläre. Die herausgegriffenen Okkasionalismen wurden allein zur besseren Veranschaulichung und aufgrund ihrer jeweiligen Repräsentativität ausgewählt.

Ziel dieser Arbeit ist es, das häufige Vorkommen dieser besonderen Wortbildungskonstruktion in der Presse darzustellen, zu klären, sie sich dieser Gelegenheitsbildungen so gerne bedient, zu untersuchen, welche Wortart dabei als häufigstes Ergebnis resultiert und das Zusammenwirken aller Faktoren, die zur Interpretation der Okkasionalismen benötigt werden, anhand einiger Beispiele zu verdeutlichen.

Ich werde mich im Verlauf der Arbeit sehr oft auf Corinna Peschels Arbeit „Zum Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution“ beziehen, da es die einzige Referenzarbeit ist, die ich über Okkasionalismen im Zusammenhang mit ihren Kontext innerhalb die beschränkten Zeit und aufgrund der beschränkten Mittel finden konnte. 3

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN

Um den Leser an das Thema heranzuführen, werde ich zuerst einige grundlegende Begriffe erklären, die für meine Arbeit und die spätere Analyse von Bedeutung sind.

2.1. Wortbildung allgemein 2.1.1. Wortschöpfung und Wortbildung Eine lebendige Sprache wie das Deutsche wird jeden Tag aufs Neue mit Wortschatzerweiterung konfrontiert, sei es im Bereich der Politik, der Wissenschaft oder im alltäglichen Leben; „es gibt [immer] einen permanenten Bedarf an neuen Wörtern“ (Duden, 2009: 638). Um diesen Bedarf zu decken, müssen ständig neue Wörter gebildet werden. Hierbei ist zwischen Wortschöpfung und Wortbildung zu unterscheiden (vgl. Erben, 2006:20 und Fleischer/Barz, 1995:5).

Die Wortschöpfung gehört hauptsächlich in das erste Stadium einer Sprache, und wird von Erben (2006:20) als „die erstmaligen Zuordnungen völlig neuer Lautformen zu bestimmten Inhalten und der Konventionalisierung der Sprachzeichen, die verständlich und reproduzierbar sind“ beschrieben. Es handelt sich hierbei also um ganz neue Wortkreationen, bei der neue Kombinationen aus Vokalen und Konsonanten gebildet werden, um dadurch etwas Neues zu benennen und dieser neu erfundenen Buchstabenreihe schließlich einen lexikalischen Inhalt zu geben. Die Wortschöpfung wird nur noch sehr selten verwendet (vgl. Fleischer/Barz, 1995:5), sie tritt sozusagen den Vortritt an die Wortbildung ab, von der sie sich deutlich unterscheidet (vgl. Fleischer/Barz, 1995:5).

Unter Wortbildung versteht man „die Produktion von Wörtern (Wortstämmen) auf der Grundlage und mit Hilfe vorhandenen Sprachmaterials“ (Fleischer/Barz, 1995:5). Mit anderen Worten: „Bedeutungstragende «Bausteine» werden nach bestimmten Regeln «ausgebaut»“ (Fleischer/Barz, 1995:5). Bei dieser Art der Wortschatzerweiterung werden also schon vorhandene lexikalische Zeichen verändert, um neue Wörter hervorzubringen. Hier wird immer auf existierendes Material zurückgegriffen, wodurch auch die inhaltliche Bedeutung schon teilweise vorgegeben ist. Sie ist bei den im Laufe der Arbeit zu untersuchenden Okkasionalismen von großer Bedeutung.

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2.1.2. Doppelcharakter der Wortbildung Fleischer/Barz (1995:1) weisen vor allem auf den „Doppelcharakter“ der Wortbildung hin: „Schaffung von Benennungseinheiten und Bildung syntaktischer Parallelkonstruktionen“. Dieser Doppelcharakter beziehe sich einerseits auf den Prozess der Wortbildung und andererseits auf das entstandene Produkt diese Prozesses (vgl. Peschel, 2002:4). Der Duden definiert die Wortbildungslehre wie folgt: „Regeln und Bedingungen für die Bildung neuer Wörter sowie die Struktur und Bedeutung vorhandener Wortbildungen“ (2006:634). Man kann mit Hilfe der Wortbildung entweder Wörter analysieren und in ihre einzelnen Morpheme unterteilen oder neue Wörter aus dem schon vorhandenem Material nach ihren Normen bilden.

Peschel spricht bei der Bildung neuer Wörter von einem „Übergewicht des Prozesscharakters“ (2002:4) und liefert auch den Grund: „Da die Bedeutung des Wortes noch unklar ist, muss sie erschließbar sein, u.U. aus der Rekonstruktion des Bildungsprozesses“ (2002:4). Daraus lässt sich schließen, dass Neuwörter vor allem in Anlehnung an Parallelkonstruktionen entstehen, um so für den Rezipienten leichter interpretierbar zu sein.

2.1.3. Motivation und Wortbildungsbedeutung Der Duden spricht von Wortbildung bei einem Wort, „das sich morphologisch und semantisch auf eine oder mehrere andere sprachliche Einheiten zurückführen lässt, es denen es entstanden ist“ (2009:634). Es liegt also nahe, dass man von einem Wort mit morphosemantischer Motivation spricht, wenn man dieses noch in seine bedeutungstragenden Ausgangseinheiten aufteilen kann (vgl. Duden, 2009:634). Wenn man ein Wortbildungsprodukt in seine jeweiligen Morpheme zerlegen kann, dann spricht man von einem motivierten Wort.

Im Gegensatz zur Motiviertheit steht die Idiomatisierung bzw. die völlige Demotivation; diese tritt auf, wenn kein semantischer Zusammenhang mehr zwischen der Bedeutung der unmittelbaren Konstituenten und der Bedeutung der Wortbildungskonstruktion mehr zu erkennen ist (vgl. Fleischer/Barz, 1995:18).

Ein Wort muss nicht unbedingt vollständig motiviert oder völlig unmotiviert sein, es gibt auch Zwischenstufen. Das bedeutet, man kann diese Worteigenschaft graduell einteilen: „Dreistufenskala mit den Fixpunkten «vollmotiviert» (Gerechtigkeitssinn), «teilmotiviert» (Krisenstab) und «idiomatisch» (Zeitschrift)“ (Fleischer/Barz, 1995:18). 5

Bei Wortneubildungen lässt sich beobachten, dass diese hauptsächlich vollmotiviert sind, was einerseits damit zusammenhängt, dass es sich um den „Beschreibungsbereich einer synchronen gegenwartssprachlichen Wortbildungslehre“ (Duden, 2009:634) handelt und andererseits, dass nur bestimmte Wortbildungsmuster (vgl. Punkt 2.1.5.) zur Entstehung von Wortbildungsprodukten beitragen.

Laut Fleischer/Barz (1995:19) wird mit dem Begriff der Motivation direkt auf die Wortbildungsbedeutung und das Benennungsmotiv verwiesen. Sie legen die Wortbildungsbedeutung als „verallgemeinerbare semantische Beziehung zwischen den UK [unmittelbare Konstituenten] einer WBK [Wortbildungskonstruktion]“ (1995:19) (vgl. Punkt 2.1.4.) dar. So lässt sich folgendes erschließen: „Trinkgefäß ‚Zweck‘, Glasgefäß ‚Material‘, Reiter ‚Nomen agentis‘ und Ritt ‚Nomen actionis‘“ (Barz, 2002:183). Diese Beispiele des Kleinen Glossars Wortbildung zeigen auf, dass es „keine Eins-zu-Eins- Beziehung zwischen Modellstruktur und Wortbildungsbedeutung“ (Fleischer/Barz, 1995:19) gibt. Das bedeutet, dass ein und dieselbe Wortbildungsbedeutung für mehrere Modellstrukturen gelten kann. Fleischer/Barz führen zur Veranschaulichung hier folgendes Beispiel an: „steinhart, himmelblau, eisig, schülermäßig, jünglingshaft“ für eine „Merkmalsbenennung auf Grundlage eines Vergleichs“ (1995:19). Wortbildungsbedeutung und Benennungsmotiv lassen sich gleichsetzen (vgl. Barz, 2002:179 und Fleischer/Barz, 1995:19).

2.1.4. Wortbildungsmittel, unmittelbare Konstituenten, Wortbildungsprodukt Zur Wortbildung von neuen komplexen Wörtern muss man sich zuerst im Klaren darüber sein, welche Grundelemente man prinzipiell zur Konstruktion zur Verfügung stehen hat. Zu diesen „Ausgangselementen“ (Barz, 2002:183 und Duden, 2009:650) zählen „Wörter bzw. Wortstämme, Wortbildungsaffixe, syntaktische Fügungen und Konfixe“ (Duden, 2009:650ff). Fugenelemente werden hier ausgeschlossen, da sie „semantisch leere Segmente“ (Duden, 2009:651) seien.

Als Unterbegriff bzw. genauere Bezeichnung von Wortbildungselementen an bestimmen komplexen Wörtern werden die unmittelbaren Konstituenten (UK) angegeben. Es sind hier „die beiden Konstituenten zu verstehen, aus denen eine Konstruktion unmittelbar gebildet ist und in die sie sich in die nächstniedrige Ebene zerlegen lässt“ (Fleischer/Barz, 1995:42). Wenn von der nächstniedrigeren Ebene die Rede ist, kann es sich um die morphologische oder die semantische handeln (Barz, 6

2002:180). Zur Veranschaulichung ein Beispiel, bei dem man zwei unterschiedliche Analysen anwenden kann: Unmenschlichkeit in un- und Menschlichkeit oder unmenschlich und –keit.

Somit entsteht aus zwei einfachen Wörtern ein komplexes Wort. Diese beiden einfachen Wörter werden auch als „primäre Wörter“ oder „Simplexwörter“ bezeichnet, also Wörter die aus nur einem Morphem bestehen. Die daraus entstehende Konstruktion wiederum wird „Wortbildungsprodukt“ oder auch „komplexes Wort“ genannt, folglich ein Wort aus mehr als einem Morphem (vgl. Barz, 2002:183). Wortbildungskonstruktion lässt sich als Synonym für Wortbildungsprodukt verwenden.

2.1.5. Wortbildungsmuster Definition „Ein Wortbildungsprodukt ist ein durch Wortbildung entstandenes morphosemantisch motiviertes Wort, dass aus mehreren unmittelbaren Konstituenten besteht“ (Barz, 2002:183). Damit so ein Wortbildungsprodukt entstehen kann, brauchen wir „Wortbildungsmuster“ (Peschel, 2002:2). Die Autorin beschließt, nicht wie Fleischer/Barz zwischen „Wortbildungsmodell“ und „Wortbildungstyp“ (1995:53ff) zu unterscheiden, sondern versucht die jeweils syntaktischen und analytischen Eigenschaften der Einteilungen in einer einzigen Beschreibung der Bauweise komplexer Wörter zusammenzufassen (vgl. Peschel, 2002:3ff). Sie stützt sich dabei insbesondere auf Motsch, der Wortbildungsmuster folgendermaßen beschreibt: „Paare von semantisch-syntaktischen und phonologisch-morphologischen Beschreibungen“ (2004:1). Schlussfolgernd werde ich in meiner Arbeit nicht zwischen den verschiedenen Blickwinkeln der Wortbildungsunterschiede differenzieren, sondern beide unter dem Begriff „Wortbildungsmuster“ zusammennehmen. In Punkt 2.3 werde ich näher auf die speziellen Wortbildungsmuster eingehen, die bei der Gliederung der Okkasionalismen eine tragende Rolle spielen.

2.1.6. Produktivität und Aktivität Man kann Wortbildungsmuster, abgesehen vom jeweiligen Modell2, auch nach ihrer „Produktivität (vgl. Fleischer/Barz, 1995:57) klassifizieren. Die meisten Linguisten

2Wenn ich im Weiteren von Mustern, Typen oder Arten im Bezug auf die Wortbildung spreche, dann nehme ich keinen Bezug zu den Unterteilungen gemäß Fleischer/Barz, sondern bediene mich dieser Termini als wären es Synonyme, um beim Wortschatz variieren zu können. 7

bedienen sich des Begriffs der Produktivität um sich auf die „graduell abgestufte Wahrscheinlichkeit, mit der in der Gegenwart Wortbildungstypen als Muster für neue Wörter genutzt werden“ (Barz, 2002:179). Laut Fleischer/Barz sind Muster dann hochproduktiv, „wenn sie nur geringe Spezifizierungen (Restriktionen) in Bezug auf die formativstrukturelle und semantische Beschaffenheit der UK aufweisen (qualitatives Kriterium) und in hohem Maße auch für okkasionelle Neubildungen genutzt werden (quantitatives Kriterium)“ (1995:57). Als Beispiel wird für die aktuelle Produktivität oft das Suffix –bar aufgezählt (vgl. Barz, 2002:182). Fleischer/Barz geben einen Hinweis darauf, dass nur hochproduktive Wortbildungsmuster einen bedeutenswerten Anteil an der Wortneubildung, vor allem bei Okkasionalismen, haben.

Im Gegensatz zur Produktivität wird bei der Wortbildungsaktivität das Augenmerk nicht auf das Resultat, sondern auf die Ausgangsbasis gerichtet (vgl. Fleischer/Barz, 1995:60). „Die Wortbildungsaktivität erfasst also den Entfaltungsgrad von Lexemen in der Wortbildung“ (Fleischer/Barz, 1995:60), womit hier deutlich zur Produktivität unterschieden wird, die sich auf komplexe Wörter bezieht und die Aktivität hingegen auf die einzelnen Lexeme und deren Fähigkeit „als Basis wie als auch als Kompositionsglied zu fungieren“ (Barz, 2002:179).

2.1.7. Akzeptabilität Ob bzw. wie eine Wortneubildung vom Rezipienten angenommen wird, hängt deutlich von der Produktivität eines Wortes ab. So werden „modellgerecht und systemkonform gebildete Wortbildungsprodukte“ (Fleischer/Barz, 1995:59) problemloser akzeptiert, da sie leichter interpretier- und dekodierbar sind. Auch wenn sie im ersten Moment seltsam klingen mögen, kann der Leser dank des Wiedererkennungswertes produktiver Wortbildungsmuster die neuen Wörter einfacher einordnen, in ihre verschiedenen Morpheme zerlegen und somit ihre Bedeutung ausmachen. Auch der „Textzusammenhang“ (Fleischer/Barz, 1995:59) trägt wesentlich zum besseren Verständnis von Wortneubildungen bei, da er den richtigen Rahmen gibt und den Bedeutungsbereich einschränkt. Ungeachtet der Tatsache, dass der Leser ein auffälliges Wortbildungsprodukt einordnen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass er es auch akzeptiert (vgl. Fleischer/Barz, 1995:59). Die Akzeptabilität bzw. „Inakzeptabilität“ eines komplexen korrekt geformten Wortes hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel der Blockierung durch gespeicherte Synonyme (*Besuchung durch Besuch), mangelnde begriffliche Relevanz (*Käferin durch weiblicher Käfer) (vgl. 8

Fleischer/Barz, 1995:59). Die Akzeptabilität liegt also „in der Fähigkeit des Textproduzenten, den Rezipienten akzeptabilitätsbereit und akzeptabilitätsfähig zu machen“ (Peschel, 2002:39); die genauen Voraussetzungen zur Akzeptabilität und des Verständnisses von Wortneubildungen werden später noch untersucht (vgl. Punkt 2.2.5.).

2.2. Wortneubildungen Okkasionalismen gehören zu einer sehr speziellen und interessanten Gruppe der Wortbildung, deswegen möchte ich den Leser zunächst anhand einer Abbildung näher an das Thema heranzuführen.

Okkasionelle Neologismen Usuelle Wörter Lexikalisierte Wörter Wörter

Abbildung 1, Neuheitsskala der Wortbildung

Es handelt sich hierbei um eine Neuheitsskala der Wortbildung wie sie Corinna Peschel entwirft (2002:6). Ich habe diese Skala wegen ihrer Anschaulichkeit und ihres einfachen Verständnisses gewählt. Sie dient dazu, den Begriff der Wortneubildung besser einordnen zu können. Anhand dieser Skizze lassen sich die vier Wortgruppen in zwei Bereiche einteilen: „inventarisierte und neu gebildete Wörter“ (Peschel, 2002:5). Ich werde mich vor allem auf die Neuwörter konzentrieren, um diese jedoch besser in das Gebiet der Wortbildungsprozesse eingliedern zu können, werde ich auch die Definition von schon gespeicherten Wörtern behandeln.

So werden Wörter, die einem produktiven Wortbildungsmuster folgen, jedoch noch nicht zum gebräuchlichen Wortschatz gehören, „potentielle“ Wörter genannt (vgl. Peschel, 2002:5)3. Diese Wortgruppe lässt sich in Okkasionalismen und Neologismen aufspalten, wobei hier noch eine weitere Unterscheidung nötig ist. Gelegenheitsbildungen werden vor allem in enger Verbindung mit ihrem Kontext gebildet und sind ohne ihn oft nur sehr schwer richtig interpretierbar. Die Neologismen hingegen differenzieren sich in jener Hinsicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich später in usuelle Wörter verwandeln, größer ist. Sie beziehen sich größtenteils auf

3 Alles was in Punkt 2.2. erläutert wird, basiert auf der Erklärung Peschels über ihre Neuheitsskala (2002:5ff). 9

ein bestimmtes Fachgebiet, sind aber nicht ausschließlich kontextabhängig. Ich werde in Punkt 2.2.1. genauer auf diese Unterschiede eingehen.

Als „usuelle“ Wörter werden die Wörter bezeichnet, die zum Wortschatz gehören und in Wörterbüchern festgehalten sind. Wobei auch hier noch genauer unterschieden wird. Die Wörter, die als motiviert eingestuft werden können, da man sie problemlos noch in ihre Ausgangsmorpheme zerteilen kann, behalten die Benennung „usuelle Wörter“. Die Wörter, bei denen es sich als kompliziert herausstellt, ihre Motivation nachzuvollziehen, da sie schon so lange im Sprachgebrauch auftauchen und somit ihre Bedeutung nur noch diachron ausfindig gemacht werden kann, zählen zu den „lexikalisierten Wörtern“.

Es ist anzumerken, dass die Einteilungen dieser Abbildung nicht immer exakt zu unterscheiden sind, da es viele Graustufen gibt und Wörter oft nicht hundertprozentig einzuordnen sind und es gerade bei Okkasionalismen und Neologismen oft sehr schwierig ist, eine Trennlinie zu ziehen.

Es ist jedoch sehr interessant bei dieser Skala zu beobachten, dass die Möglichkeit besteht, dass das linke Endglied im Laufe der Zeit Stück für Stück (wenn es vorher nicht wieder verschwindet) ganz nach rechts verrutschen kann und auf diesem Weg alle Entwicklungsstadien durchläuft.

2.2.1. Okkasionalismus vs. Neologismus Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, unterscheiden sich okkasionelle Wörter hauptsächlich dadurch von Neologismen, dass sie sozusagen deren Vorstufe sind. Beide Wortbildungsprodukte entstehen aus der Notwendigkeit eine neue Realität bezeichnen zu müssen. Sie werden also für einen bestimmen Zweck in einer bestimmten Situation und Kontext gebildet.

Okkasionalismen, okkasionelle Bildungen, Textwörter, Gelegenheits-, Einmal-, Augenblicks-, Ad-hoc- und Spontanbildungen (vgl. Fleischer/Barz, Motsch, Peschel, Elsen, Fellner etc.) werden die Wortbildungen genannt, die, wie die verschiedensten Namen dafür schon vorhersehen lassen, „im Unterschied zu usuellen, im Wortschatz gespeicherten (lexikalisierten) Benennungen ein für den Text ad hoc gebildetes und semantisch weitgehend an den Text gebundenes Wortbildungsprodukt“ (Barz, 2002:181) darstellen. Diese Gelegenheitsbildungen sind meist nur im Kontext verständlich und übernehmen oft textrelevante Aufgaben (vgl. Elsen, 2011:21). Ebenso 10

wie sie sich dafür auszeichnen, lexikalische Lücken zu füllen, stechen sie durch ihre Kreativität hervor. Ein weiteres Merkmal dieser neu entstandenen Wörter ist, dass sie wirklich nur einmal bzw. danach nur noch sehr selten verwendet werden und dann wieder verschwinden. Denn sobald sie gesprochen oder geschrieben öfter Verwendung finden, werden sie zu Neologismen.

Schippan stellt fest, dass nur solche Wortneubildungen als Neologismen zu betrachten sind, „die aus der Sphäre des Individuellen hinaustreten, d. h. von Gruppen oder ganzen Sprachgemeinschaften aufgenommen werden“ (1992:244). Neologismus bezieht sich grundsätzlich also auf „neue Wortschatzeinheiten“ (Stepanowa/Fleischer, 1985:174). Sie werden vom Sprecher zwar als neu erkannt, sind aber trotzdem schon in den Wortschatz aufgenommen. Häufig haben sie ihren Ursprung in Fachgebieten, und wurden dort schon seit längerer Zeit verwendet, bevor sie dann aus der Notwenigkeit heraus in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen. So können Neologismen, auch wenn sie im Kontext eines bestimmten Bereiches gebildet worden sind, auch ohne ihn entschlüsselt werden.

Somit werden die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Okkasionalismen und Neologismen deutlich: Neologismen sind lexikografisch erfasst und auch ohne Kontext leicht verständlich. Es fällt jedoch nicht immer so leicht, diese beiden Begriffe zu trennen, da der Übergang oft fließend ist. Ich versuche in meiner Arbeit hauptsächlich auf Gelegenheitsbildungen einzugehen, wobei nie auszuschließen ist, dass ein ausgewähltes Wortbildungsprodukt schon in die nächste Stufe übergegangen ist.

2.2.2. Lexikalisierungschancen Wie schon im vorhergehenden Punkt erwähnt, spielt die Lexikalisierung von Wortneubildungen eine bedeutende Rolle bei ihrer Zuordnung. Gerade bei Okkasionalismen ist es interessant zu beobachten, warum manche nach einmaligem Gebrauch einfach wieder verschwinden bzw. warum andere in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen.

Der Duden gibt dafür „pragmatische als auch sprachliche Gründe“ (2009:642) an. Er bezieht sich darauf, dass keine generelle Notwendigkeit für diese Wortbildungskonstruktionen bestehe und sie deswegen nach ihrem individuellen Gebrauch wieder verschwinden; dies gelte vor allem für Kompositionsbildungen mit 11

einem Eigennamen als Erstglied: Gadaffi-Zeit, Titanic-Totenstätte, Hoccer- Angestellte4.

Ein weitere Behinderung der Lexikalisierung sei die „starke Kontextgebundenheit“ (Duden, 2009:642). Es ist fast unmöglich, sie ohne umgebenden Text richtig zu deuten, somit sind sie ohne Textzusammenhang unbrauchbar.

Je komplexer bzw. regelwidriger eine Wortbildungskonstruktion gebaut wurde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie im allgemeinen Sprachgebrauch gespeichert werden. Beispiele für solche Okkasionalismen, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lexikalisiert werden: Jolie-Müllhaufen, Bekenntniskorsett, Vierzylinder-Pilzkopfmotor.

2.2.3. Spezifische Funktionen von Okkasionalismen Bei Gelegenheitsbildungen handelt es sich um völlige neue und kreative Wortbildungsprodukte, die spontan anhand von Bildungsregeln in einem bestimmten Textzusammenhang gebildet werden. Sie können geschrieben oder auch gesprochen vorkommen. Diese Art von Wortbildung hat mehr als nur eine Funktion im Text5. Ich möchte hier auf die m.E. wichtigsten eingehen. Grundsätzlich handelt es sich um Mittel und Zweck um ein bestimmtes kommunikatives Ziel zu erreichen (Fellner, 2003:5).

In erster Linie dienen Gelegenheitsbildungen der Schließung von lexikalischen Lücken und somit der Deckung des „permanente[n] Bedarf[s] an neuen Wörtern“ (Duden, 2009:639). Dieser Bedarf entsteht durch die sich ständig weiterentwickelnde Gesellschaft, sowie den Fortschritt von Technologie und Wissenschaft und die Veränderungen im Bereich der Politik und Wirtschaft. Folglich müssen regelmäßig neue Gegenstände, Tatsachen, Wahrnehmungen, Tätigkeiten usw. neu benannt werden, da es die benötigten Bezeichnungen nicht gibt oder die existierenden Begriffe „unpassend oder nicht treffend“ (Duden, 2009:641) genug sind.

Eine andere Eigenschaft der Okkasionalismen ist die „Sprachökonomie“ (Duden, 2009:648), so kann mit einer einzigen Wortbildungskonstruktion eine oder sogar mehrere Paraphrasen umgangen werden. Eine Paraphrase ist natürlich immer exakter

4 Diese und alle weiteren in kursiv gestellten Beispiele sind DER ZEIT, Ausgabe 15 vom 04.04.2012 entnommen. 5 Okkasionalismen können in geschriebener oder gesprochener Form vorkommen. Ich werde mich in dieser Arbeit fast ausschließlich auf das Auftreten in Texten beschränken, da die spätere Analyse sich mit einem Pressetext auseinandersetzt. 12

in ihrer Beschreibung als ein einziges komplexes Wort, daraus folgt ein weit größerer „Interpretationsspielraum“ (Duden, 2009:649) in Bezug auf diese Wortneubildungen. Dadurch ist es möglich viel Inhalt mehr oder weniger präzise zusammenzufassen. Diese Charakteristik kann auch als sehr individueller Effekt gesehen werden, zum Beispiel um den Stil eines Sprechers/Schreibers kenntlich zu machen.

Gelegenheitsbildungen spielen eine tragende Rolle bei der „Kohärenz“ (Elsen, 2011:87) des Textes. Sie halten ihn also zusammen und machen aus ihm eine Einheit. Man kann also sagen, dass sie „kohärenzsichernd und textverflechtend“ (Fellner, 2009:5 und 22) sind.

Durch diese kreative Art der Wortneubildung ist es möglich, das Wiederholen von Wörtern auf einfache Weise zu umgehen. Man kann hier auch vom „Zweck der Wortrotation“ (Fellner, 2009:100) sprechen. Dem Autor stehen alle Möglichkeiten offen Repetitionen zu vermeiden und somit auch den Text interessanter und abwechslungsreicher für den Rezipienten zu gestalten.

Unter Punkt 3 möchte ich untersuchen, welche dieser Aufgaben die gefundenen Okkasionalismen im Text wirklich übernehmen, ob es sich dabei nur um eine einzige handelt, um mehrere oder um alle.

2.2.4. Voraussetzungen des Remittenten und Rezipienten Damit Okkasionalismen die vorhergenannten Aufgaben erfüllen können, müssen sie vom Remittenten richtig eingesetzt und vom Rezipienten korrekt interpretiert werden. Viele okkasionelle Wörter scheinen nicht auffällig und werden deshalb auch oft nicht als solche erkannt; es ist demzufolge notwendig, sich genauer mit diesen Wörtern zu befassen, um sie als „neu“ zu identifizieren (vgl. Stepanowa/Fleischer, 985:172). Zur Klärung, warum viele solcher Wortbildungsprodukte nicht direkt ins Auge stechen und was von Autor (Sprecher) und Empfänger verlangt wird, werde ich genauer auf den Aufbau dieser Wortstrukturen in „morphologischer wie semantischer Hinsicht, aber auch hinsichtlich der syntaktischen Bedingungen“ (Erben, 2006:41) eingehen.

Da es sich bei Okkasionalismen um „keine völlige Neuschöpfung [...], sondern um den teilweisen Rückgriff auf bereits vorhandene sprachliche Bauelemente“ (Erben, 2006:26) handelt, kann sich der Remittent auf das Wiedererkennungsvermögen der einzelnen Konstituenten und Morpheme des Wortbildungsproduktes stützen. Es wird 13

folglich die „Kenntnis bestimmter Bildungen und Vertrautheit mit bestimmten [...] Bildungsmustern“ (Erben, 2006:42) zum Verstehen der Wortneubildungen beim Rezipienten vorausgesetzt. Diese individuelle Sprachkompetenz hilft dem Leser, neue Wörter zu identifizieren und zu dekodieren. Laut Peschel (2002:36) scheint es, als würden die „Sprachteilnehmer inventarisierte sprachliche Formen nach Gemeinsamkeiten bündeln [...] und dann aufgrund dieser ermittelten Gemeinsamkeiten analoge Formen neu bilden.“ Dieser Prozess laufe in der Regel automatisch ab, ohne das sich weder Sprecher oder Leser bewusst darauf konzentrieren (vgl. Peschel, 2002:37). Daraus lässt sich schließen, dass auch die Beurteilung der Neubildung völlig intuitiv ist und mit dem Wissen des Rezipienten über Sprachkenntnis und Textverständnis zusammenhänge (vgl. Barz, 2002:12). Die Rezipienten verbinden also das Unbekannte mit dem, was sie schon Kennen, um so die jeweilige Wortneubildung entschlüsseln zu können. Bei diesen Analogiebildungen sind vor allem produktive Wortbildungsmuster von Bedeutung (vgl. Punkt 2.3.). Man kann dementsprechend davon ausgehen, dass jeder Leser ein individuelles „Wortbildungs(muster)wissen“ habe, durch das die „vielen mustergerechten Neubildungen“ (Peschel, 2002:37) entstehen. Dieses Wissen hilft automatisch und intuitiv beim Entschlüsseln und Einordnen neuer Wörter. Bei der Annahme eines gemeinsamen Sprachwissens (von Sprecher und Empfänger) liegt es in der Hand des Sprechers, ob der Empfänger die Wortbildungskonstruktion als auffällig oder weniger auffällig betrachtet. Peschel spricht hier vom „Grad der Bewusstheit“ (2002:38) und führt dies folgendermaßen aus: „Je häufiger ein Wortbildungsmuster genutzt wird, desto eher läuft die Neubildung automatisch ab, desto weniger fallen Produkte auch den Rezipienten als neu auf“ (Peschel, 2002:38). Der Emittent muss sich also bei produktiven Wortbildungsmustern für eine neue Wortbildungskonstruktion nicht sonderlich anstrengen um sie zu dekodieren, bei weniger produktiven Mustern schon eher und genau aus diesem Grund fallen auch diese dem Remittenten deutlicher als Wortneubildungen auf und sind für ihn schwerer zu entschlüsseln. Ein weiterer wichtiger und unbewusster Vorgang ist die Verknüpfung mit dem „außersprachlichen Wissen“, dem sog. „Weltwissen“ (Peschel, 2002:41 und 47) des Lesers, die ihm bei der Deutung von neuen Wörtern helfe.

Da Gelegenheitsbildungen „in Abhängigkeit von einem gewissen Kontext gebildet [werden] [...], können [sie] außerhalb ihres Kontexts uninterpretierbar sein“ (Fellner, 2009:14). So zeigt sich erneut, dass Okkasionalismen (fast) unmöglich richtig zu deuten sind, wenn man sie separat betrachtet. Der Textzusammenhang ist somit die wichtigste Hilfe und Grundlage für ihr Verständnis. Wenn man hier von Kontextwissen 14

spricht, ist es das „situative und textuelle Wissen“ (Peschel, 2002:47). Der Kontext diene in vielen Fällen auch zur Vorbereitung des Verstehens einer Wortneubildung dank seiner ausdrucksseitigen und inhaltlichen Faktoren (vgl. Peschel, 2002:48). Anhand einer korrekten Vorbereitung des Leser auf eine Wortneubildung lassen sich manche Neubildungen sogar vorhersehen und überraschen den Rezipienten somit nicht mit der Integrierung einer Wortneubildung. Meist ist es der vorausgehende Kontext, der eine Art Rahmen für das neue Wort absteckt (vgl. Peschel, 2002:48) und wichtige Informationen zur Dekodierung liefert. Er unterstütze also den „Verstehensprozess [bei dem] die Bedeutung des Wortes innerhalb des Textes erfasst wird und in dessen Gesamtbedeutung integriert“ (Peschel, 2002:55).

Trotz der vielen Hilfen, die dem Leser vom Sprecher durch den Kontext, die kommunikative Situation und das Weltwissen gegeben werden, bleibt die „Bedeutung einer Neubildung [...] ambig; das Wort lässt verschiedene Bedeutungen zu“ (Peschel, 2002:56). Es passiert also häufig, dass einer Wortbildungskonstruktion nicht nur eine Dekodierung zugeschrieben werden kann, sondern die genaue Bedeutung wohl nur dem Emittenten selbst bekannt ist. Es kann allerdings auch Absicht des Autors sein, dass der Rezipient zu keiner eindeutigen Lösung kommen soll und sich folglich genauer auf dieses Wort konzentriert und sich somit auch nach dem Lesen noch Gedanken über den Text macht.

2.2.5. Wortbildungsparadigmen Neben dem Kontext, außersprachlichem Wissen und Analogiebildungen dient auch die Eingliederung von Wortbildungsprodukten in Wortbildungsparadigmen als Hilfe für ihre Entschlüsselung. Sie stehen „aufgrund der morphemischen Komplexität und der Motiviertheit in spezifischen systemhaften Beziehungen zueinander“ (Fleischer/Barz, 1995:68). Hinsichtlich der Definition von Paradigmen in diesem Kontext beziehen sich Fleischer/Barz auf Kastovsky, D. in Probleme der semantischen Analyse (1977:322): „Menge von unterschiedlichen Einheiten [...], die auf Grund von invarianten Merkmalen zusammengefasst werden“. So ist hier unter Paradigmen eine Gruppe von Wörtern zu verstehen, die alle ein gemeinsames Merkmal haben; hierbei kann es sich um die gleiche Basis, ein sich immer wiederholendes Affix usw. handeln. Ein Wortbildungsprodukt kann schließlich wegen seiner semantischen oder strukturellen Merkmale einem oder mehreren Paradigmen zugeordnet werden. Zum besseren Verständnis werde ich im Weiteren kurz auf drei dieser Paradigmen eingehen, die vor 15

allem für die Wortneubildung von Bedeutung sind: Wortreihe, Wortbildungsnest, Wortbildungssynonyme und –antonyme.

2.2.5.1. Wortbildungsreihe Als Wortbildungsreihe wird die „Gesamtheit der Wortbildungsprodukte [bezeichnet], die nach ein und demselben Modell gebildet sind“ (Fleischer/Barz, 1995:69). Das gleiche Wortbildungsmuster spiegelt sich also in allen Wortbildungsprodukten einer Wortbildungsreihe wider. Das wohl gebräuchlichste Beispiel ist die Derivation Verb zu Nomen durch die Suffigierung –er: Tisch-l-er, Verkäuf-er, Reit-er. Alle diese Wortbildungsprodukte haben dieselbe Wortbildungsbedeutung: „Nomen agentis“. Eine andere ähnliche Reihe wäre beispielsweise „nomen instrumentis“ (Hörer). Dieses Paradigma dient vor allem der Wortneubildung, da es ein bestimmtes Wortbildungsmuster an schon vorhandenen sprachlichen Elementen anwendet. „Der Umfang einer Wortbildungsreihe wird vom Grad der Produktivität des entsprechenden Modells bestimmt“ (Fleischer/Barz, 1995:69); je produktiver ein Wortbildungsmuster ist, desto häufiger wird es zur Wortneubildung verwendet (vgl. Punkt 2.1.6.).

2.2.5.2. Wortbildungsnest Als Wortbildungsnest „werden Wortbildungsprodukte bezeichnet, die in ihrer Struktur über ein formal und semantisch identisches Grundmorphen verfügen, das das Kernwort des Nestes darstellt“ (Fleischer/Barz, 1995:71). Die morphologische Basis ist folglich das Merkmal dieses Wortbildungsparadigmas. Zum besseren Verständnis ein Beispiel mit dem Kernwort Tisch: tischlern, Tischdecke, Tischlein, Holztisch. Ein Wortbildungsnest ist grundsätzlich nicht vollständig, d. h. das „Kernwort realisiert nicht alle für seine Wortart möglichen Modelle“ (Fleischer/Barz, 1995: 73). Ich werde bei der Definition der Wortbildungsnester nur diejenigen Wortbildungsprodukte betrachten, „deren lexikalische Bedeutung aus der Motivationsbedeutung erschließbar ist“ (Fleischer/Barz, 1995:72) und somit synchron beschrieben werden können. Sie sind deutlich von der sog. Wortfamilie abzugrenzen; da es sich dabei um eine Gruppe von Wörtern handelt, die sich auf dieselbe Wurzel zurückführen lassen, [und] diachron definiert [sind]“ (Fleischer/Barz, 1995: 72). Ihre Verwandtschaft ist heute also nur noch schwer auszumachen und infolgedessen für die Dekodierung von Wortneubildungen unwesentlich. 16

2.2.5.3. Wortbildungssynonymie und – antonymie Wortbildungssynonymie und Wortbildungsantonymie sind sog. Sonderfälle der lexikalischen Synonymie bzw. Antonymie (vgl. Fleischer/Barz, 1995:73). Es fällt sofort auf, „dass sie mindestens ein gleiches Grundmorphem bzw. eine identische UK enthalten“ (Fleischer/Barz, 1995:73). Dadurch lässt sich ableiten, dass die Wortbildungsformen vor allem durch den Anhang verschiedener Affixe entstehen (schmerzlos – schmerzfrei, Wendung – Wende, anschalten – einschalten). Bei der Wortbildungssynonymie besteht die Möglichkeit, dass die Wortbildungsprodukte nicht immer dem gleichen Wortbildungsmuster angehören, sondern auch unterschiedlichen (Fernsehapparat – Fernsehgerät – Fernseher) (vgl. Barz, 2002:183). Die antonymische Wortbildung entsteht hauptsächlich durch das Anhängen antonymischer Suffixe oder Präfixe an dieselbe Basis oder das negieren einer Basis durch ein Negationspräfix: Glück – Unglück (vgl. Fleischer/Barz, 1995:75).

2.3. Wortbildungsmuster Bevor ich mich in Punkt 3, die Analyse der gefundenen Okkasionalismen, auf die Wortbildungsmustern stützen möchte, werde ich hier als Weiterführung der allgemeinen Wortbildung vorab oberflächlich auf die verschiedenen Muster eingehen.

Laut dem Duden erfolgt die „Gliederung [der unterschiedlichen Wortbildungsmuster] wortübergreifend nach strukturellen und grammatischen Merkmalen“ (2009:661). Ich finde diese Unterteilung sehr sinnvoll. Zusätzlich werden hier die vier Muster behandelt, die am häufigsten bei der Wortbildung im Deutschen verwendet werden; deshalb möchte hier zuerst die Skizze einfügen und sie im Weiteren genauer erläutern.

Vorausschauend möchte ich klarstellen, dass der Duden zwar in seiner Abbildung von Wortbildungsarten spricht, ich mich jedoch auf Wortbildungsmuster beziehen werde, wobei sich beides auf das gleiche Konzept bezieht. Wie oben schon erwähnt, können die beiden Termini als Synonyme verwendet werden. 17

Wortbildungsart

Mit UK-Struktur ohne UK-Struktur

2 wortfähige 1 wortfähige UK Wortartwechsel kein Wortartwechsel UK 1 nicht wortfähige UK

Komposition Derivation Konversion Kurzwortbildung Abbildung 2, Duden, 2009:660

So fächert dieses Werk die Muster zuerst nach zwei grundlegenden Eigenschaften auf: mit UK-Struktur und ohne UK-Struktur. Die binären Wortbildungsmuster lassen sich wiederum in ihre verschiedenen unmittelbaren Konstituenten aufgliedern: zwei wortfähige UK und eine wortfähige UK und eine nicht wortfähige UK. Im Gegensatz dazu stehen die beiden Muster, die sich jeweils dadurch differenzieren, dass sie einen Wortartwechsel aufweisen oder nicht.

Ich werde die vier Wortbildungsmuster jeweils an genaueren Definitionen und verschiedenen Beispielen erläutern.

2.3.1. Komposition Wie aus der Skizze zu entnehmen ist, setzt sich ein Kompositum aus zwei unmittelbaren wortfähigen Konstituenten zusammen, so entstehen komplexe Wörter. Die Komposition „dient v. a. dem Ausbau der Wortarten von Substantiv und Adjektiv. In der verbalen Wortbildung spielt sie so gut wie keine Rolle“ (Duden, 2009:664). Kompositionen sind wortintern nicht reflektierbare Wörter (vgl. Fleischer/Barz, 1995:88). Die allgemeine Reihenfolge der UK ist hierarchisch; so bestimmt das Zweitglied immer die Grammatik der ganzen Wortbildungskonstruktion; bei Substantiven auch Genus und Flektion (vgl. Duden, 2009:664). Grundsätzlich lässt sich das Wortbildungsmuster Kompositum in verschiedene Arten von Komposita einteilen; ich werde hier nur die beiden aufzählen, die meiner Meinung für die folgende Arbeit von Gewichtung sind. 18

Bei den Determinativkomposita herrscht eine „Subordinationsbeziehung“ (Duden, 2009:665), sie bilden also Unterklassen des Ganzen: Lampe wird durch Schreibtischlampe genauer definiert. Das Erstglied ist das „Bestimmungswort oder Determinans“ und das Zweitglied das „Grundwort oder Determinatum“ (Duden, 2009: 664ff). Als sogenannten Gegensatz zu den eben erklärten Determinativkomposita könnte man die Kopulativkomposita ansehen. Diese Zusammensetzungsart wird durch die „koordinierende Beziehung“ (Duden, 2009:665) zwischen dem Erst- und dem Zweitglied charakterisiert. Folglich gehören die UK „der gleichen Wortart an[gehören] und [sind] semantisch nebengeordnet“ (Barz, 2002:180). Das wohl bekannteste Beispiel für eine derartige Zusammensetzung ist süßsauer.

2.3.2. Derivation Eine Derivation wird aus einer wortfähigen Konstituente und einer nicht wortfähigen Konstituente, also einem Affix, gebildet. Hier wird unterschieden zwischen Präfixderivation (schreiben – verschreiben), Suffixderivation (ändern - Änderung) und der Zirkumfixderivation (glauben – unglaublich) (vgl. Duden, 2009:666). Wie bei den Beispielen schon auffällt, kann es zu einer Verschiebung der Wortart bei einer Ableitung kommen, muss es jedoch nicht zwingend.

Die Zusammenbildung ist ein Sonderfall der Derivation und weist als Endprodukt ausschließlich Substantive oder Adjektive vor (vgl. Duden, 2009:666). Es handelt sich hierbei um Suffigierung einer syntaktischen Fügung, die als Derivationsbasis dient (vgl. Duden, 2009:666). So werden zwei oder mehr Wörter durch Suffixderivation zu einem zusammengezogen: scharfer Sinn – scharfsinn-ig. Meist ist es sehr schwierig zwischen Determinativkomposita und Zusammenbildungen zu unterscheiden, bei manchen Bildungen sind sogar beide Interpretationen möglich und richtig (vgl. Duden, 2009:666).

2.3.3. Konversion Die Konversion, wie aus Abbildung 2 herausgeht, setzt sich nicht aus unmittelbaren Konstituenten zusammen, bringt jedoch immer einen Wortartwechsel mit sich. Es handelt sich also um „eine syntaktische Transposition von Wörtern oder Wortgruppen bzw. Sätzen [...] ohne [...] Affigierung“ (Fleischer/Barz, 1995,48). Man kann dieses Wortbildungsmuster wiederum in zwei Unterklassen einteilen: „Konversion ohne 19

Basisveränderung“ und „Konversion mit Basisveränderung“ (Barz, 2002:181). Bei der Konversion ohne Basisveränderung wird ein Wort ohne morphologische Veränderung transponiert. Die daraus entstehenden Bildungsprodukte lassen sich nochmals gliedern in Substantivierung, Adjektivierung und Verbalisierung; als Beispiele dienen schreiben – das Schreiben und heute – das Heute. Zu dieser Art von Konversion gehören auch syntaktische Fügungen: das So-tun-als-ob (vgl. Duden, 2009:667). Eine Konversion mit Basisveränderung unterscheidet sich dahin gehend von der ersten Konversionsform, dass hier eine morphologische Basisänderung stattfindet; Bespiele dafür: greifen – Griff und laufen – Lauf.

2.3.4. Kurzwortbildung Die Kurzwortbildung, auch Reduktion, nimmt Bezug auf die „Kürzung einer längeren Vollform, wobei diese Vollform eine syntaktische Fügung oder ein Wort sein kann“ (Duden, 2009:668). Ihre Funktion liegt hauptsächlich in der Sprachökonomie (vgl. Duden, 2009:668). So lässt sich kein Wortartwechsel zwischen der Kurz- und der Vollform feststellen. Streng genommen entsteht auch kein neues Wort (vgl. Fleischer/Barz, 1995:52), sondern nur eine neue verkürzte Variante eines schon existierenden Wortes. Die Vollform wird von der Kurzform normalerweise nicht verdrängt, sondern die beiden Formen koexistieren (vgl. Fleischer/Barz, 1995:52). Es gibt drei verschiedene Vollformen, die zu Kurzwörtern werden können: syntaktische Fügungen (vereinigte Dienstleitungsgesellschaft – ver.di), vielgliedrige Wortbildungen (Auszubildender – Azubi) oder Sätze (Mit freundlichen Grüßen – MfG) (vgl. Duden, 2009:6668). Es handelt sich fast ausschließlich um Substantive (vgl. Duden, 2009:668). 20

3. ANALYSE

Nach einer aufmerksamen Lektüre der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 04.04.2012 Nr. 15, konnte ich eine ganze Reihe von Okkasionalismen ausmachen; diese stammen ausschließlich aus dem redaktionellen Teil, Anzeigen und Werbung wurden nicht genauer untersucht. Nachdem ich alle gefundenen Gelegenheitsbildungen auf ihr Vorkommen überprüft habe, blieben von den anfangs über 400 geglaubten Okkasionalismen letztendlich nur 228 übrig. Mein Kriterium für die schließlich verbliebenen Gelegenheitsbildungen war zum einen, dass keine dieser Wortneubildungen im Duden verzeichnet sein durfte und zweitens, dass keine davon mehr als 1.000 Treffer in der Suchmaschine Google aufweisen durfte. So kann ich m.E. davon ausgehen, dass es sich wirklich um Okkasionalismen handelt und nicht nur um Wörter, die der Duden noch nicht erfasst hat; auch wenn dies in der heutigen Zeit wesentlich schneller geht, da es die Online-Version gibt, wobei diese aber auch nicht immer auf dem aktuellsten Stand ist. Google durchforstet das gesamte Internet und kann mir somit zeigen, ob diese Wortneubildung schon häufiger verwendet worden ist oder ob es sich tatsächlich um ein neues Wort handelt.

Meiner Meinung nach ist dies ein sehr beeindruckendes Resultat für eine einzige Ausgabe einer Wochenzeitung. Ich hätte nicht so viele Gelegenheitsbildungen erwartet; wobei dieses Ergebnis nur bestätigt, dass, zumindest in der Presse, diese Wortneubildungen sehr stark vertreten sind.

Bei der Kategorisierung der Okkasionalismen fiel eine weitere beachtliche Zahl auf, nämlich die der Komposita (204); sie machen 90% der Okkasionalismen aus. Das könnte daran liegen, dass es sich hierbei wohl auch um das einfachste Muster der Wortneubildung handelt. Der Rest verteilt sich relativ gleich auf Konversionen (10) und Derivationen (14). Die Kurzwortbildung zählt hier nicht als eigene Kategorie, da sie wie in Punkt 2.3.4. schon erwähnt keine neuen Wörter bildet, sondern nur eine Variante eines schon bestehenden Wortes.

Wie zu vermuten war, handelt es sich bei den gefundenen Okkasionalismen hauptsächlich um Substantive (200) handelt, einen weit kleineren Teil stellen die Adjektive (25) dar, einen fast nichtigen Teil die Verben (3) und neu gebildete Adverbien tauchen gar nicht auf. Es scheint als würde die Bildung von Neuwörtern sich mehr oder weniger an die allgemeine Verteilung der Wortarten halten; laut dem Duden (2009:641) 21

„besteht der Wortschatz des Deutschen aus etwa 60% Substantiven, 25% Verben und 15% Adjektiven“. Somit stimmt das Resultat beim Vergleich der lexikalisierten mit den neu gebildeten Wörtern zumindest insofern überein, dass die Substantive die größte Gruppe darstellen und die Adverbien nur sehr schwach vertreten sind. Wobei die Anzahl der neuen Verben und Adjektive im Gegensatz zu den schon fest zur Sprache gehörenden variiert.

Ich werde im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele genauer auf die gefundenen Okkasionalismen und ihre Wortbildungsmuster eingehen. Ich werde ihre Aufgaben im Text analysieren und versuchen herauszufinden, was vom Leser erwartet wird, um sie zu dekodieren. Aus Platzgründen kann ich leider nicht alle verschiedenen Muster genauer untersuchen, aber ich werde versuchen, sie so gut wie möglich zusammenzufassen, um somit auf so viele verschiedene Facetten wie möglich bei der Wortneubildung eingehen zu können.

3.1. Komposita Ich werde mich größtenteils auf die Komposita konzentrieren, da es sich hier um das Muster handelt, das am häufigsten bei den gefundenen Neubildungen auftritt. Im Weiteren werde ich auf einige der verschiedenen Komposita-Gruppen eingehen.

3.1.1. Substantiv-Substantiv-Komposita Besonders hervorzuheben sind die Substantiv-Substantiv-Komposita (179), da wie oben schon erwähnt, der Hauptteil der Okkasionalismen Substantive sind. Es handelt sich hier um das Muster, dass am meisten zur Bildung von neuen Wörter verwendet wird.

3.1.1.1. Eigenname als Erstglied Zuerst möchte ich auf die Komposita eingehen, bei denen als Erstglied ein Eigenname steht. Sie werden sehr oft verwendet und sind meist auch ohne Kontext sehr leicht verständlich, da es sich meist um Determinativkomposita handelt und somit das Zweitglied durch den Eigennamen genauer bestimmt wird. Ich schließe hier Kurzwörter wie CDU mit ein, da es sich bei ihnen auch um Eigennamen handelt. Prinzipiell besteht ihre Aufgabe darin, dem Leser immer wieder das Thema vor Augen zu führen bzw. 22

auch Handlungen oder Vorkommnisse direkt mit einer Person oder einer Firma zu verbinden und somit dem Leser Zusammenhänge leichter verständlich zu machen.

3.1.1.1.1. Bilfinger-Pressereise Ein Beispiel, das dank dem Zusammenhang sehr leicht verständlich ist (DIE ZEIT, 4.4.2012 Nr. 15, Seite 56):

Raum Titania im Leipziger Hotel Westin, Vorbereitung auf die jährliche Pressereise von Bilfinger Berger. Um den ovalen Holztisch stehen cremefarbene Ledersessel, auf jedem Platz liegt eine blaue Schreibunterlage mit Block und Kuli. Roland Koch hat außerdem sein iPad 2 vor sich liegen, daneben ein Brillenputztuch, einen Kuli und Traubenzucker. Er trinkt Tee, wie immer, wenn es keine Cola gibt.

"Viele von Ihnen", sagt Koch, "haben den Vorteil, dass sie schon bei einer Bilfinger- Pressereise dabei waren – ich nicht."

Zur Klärung um was genau es sich bei dem Eigennamen Bilfinger handelt, muss erwähnt werden, dass es sich um hier um einen Artikel über Roland Koch handelt, der jetzt Chef der zweitgrößten deutschen Baufirma, des Baukonzerns Bilfinger Berger sei. Und auch die Pressereise kommt vor Auftauchen des Okkasionalismus vor, als von der jährlichen Pressereise von Bilfinger Berger die Rede ist. Bilfinger Berger wird einfach auf die erste und wohl bekanntere Konstituente des Doppelnamens verkürzt und mit Bindestrich an die kurz vorher erwähnte Pressereise gehängt. Keine auffällige, aber doch eine sehr sinnvolle Gelegenheitsbildung, die mit Hilfe des Textes bewusst vorbereitet worden ist, da es sich hier um ein Zitat von Roland Koch handelt, der durch diese Neubildung eine umständliche Paraphrase umgeht. Die Gelegenheitsbildung wird also anaphorisch verwendet.

3.1.1.1.2. »Star Trek«-Sozialismus7 Ein weiteres Beispiel für ein Komposita mit einem Eigennamen ist das folgende (S. 35):

Und kaum sind die ersten Höflichkeiten ausgetauscht, redet Mayer vom »Star Trek«- Sozialismus. »In der Science-Fiction-Welt von Star Trek«, führt der Fraktionsexperte aus, »spielen materielle Güter dank der Replikator-Technologie eine untergeordnete

6 Alle von nun an aufgeführten Beispiele stammen aus DIE ZEIT, 4.4.2012 Nr 15, deshalb werde ich im Folgenden nur noch die jeweiligen Seitenzahlen der Zeitung angeben. 7 Ich zitiere ausschließlich die Ausgabe der Zeitung im Papierformat, wohl wissend, dass die Online- Ausgabe in manchen Aspekten von dieser abweicht. 23

Rolle.« Replikatoren? In der amerikanischen Fernseh- und Filmserie können solche Geräte auf Knopfdruck Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände aus der Luft zaubern.

Hier wird der Okkasionalismus genau andersherum verwendet, nämlich kataphorisch: zuerst wird die Wortneubildung erwähnt und danach folgt die Erklärung. Beim »Star Trek«-Sozialismus ist auch ohne Kontext klar, dass es sich um eine bestimmte Art von Sozialismus handelt und diese mit der Serie Star Trek zu tun haben muss. Wer die Fernsehserie kennt, weiß, auf was genau diese Augenblicksbildung Bezug nimmt; aber auch wer diese nicht gesehen hat, erfährt schon im nächsten Satz des Artikels, was gemeint ist. Hier spielt also die Einbettung in den Kontext eine tragende Rolle, um diese Wortbildung richtig interpretieren zu können. Anschließend taucht der Begriff Star Trek wiederholt im selben und im folgenden Absatz auf; so wird das Thema aufrecht erhalten, das dann fünf Absätze weiter unten noch einmal neu aufgegriffen wird. Ein Indiz dafür, dass der Okkasionalismus nur der Anfang einer Kette von Wiederholungen ist und dadurch der Text verflechtet wird.

3.1.1.1.3. Jolie-Müllhaufen Um ein nicht ganz so einfach zu interpretierendes Kompositum handelt es sich bei dem folgenden Beispiel (S. 21):

Stern:[...] Da waren so viele Dinge wie diese Angelina – wie heißt sie noch mal? – Dingsbums. Mit welchen Männern die zusammen war, hat mich nie interessiert.

ZEIT: In der Frage zu Frau Jolie ging es um die Anzahl ihrer Kinder.

[...]

ZEIT: Ist der Zug, ein gebildeter Mensch zu werden, irgendwann abgefahren?

Stern: Solange das Gehirn nicht durch Alzheimer oder andere Leiden funktionsunfähig geworden ist, kann man Wissen erwerben. In vieler Hinsicht wird man im Alter sogar besser, weil man dank des Gespeicherten Neues schnell akkumuliert. Es sei denn, der Kopf ist voller Müllhaufen.

ZEIT: Jolie-Müllhaufen?

Dieser Okkasionalismus ist ohne Kontext unmöglich richtig zu deuten. Ein Leser könnte Jolie wohl noch mit der Schauspielerin Angelina Jolie in Verbindung bringen, aber bei Jolie-Müllhaufen bedarf es schon weitaus mehr Vorstellungsvermögen um darauf zu kommen, dass es sich hier um unnützes Wissen handelt, dass im Gehirn eines Menschen wichtigen Platz wegnimmt und 24

es folglich für ihn schwieriger ist neue Information mit dem gespeicherten Wissen zu verknüpfen. Man kann vielleicht ohne jeglichen Zusammenhang noch zur Schlussfolgerung kommen, dass es sich um etwas unnützes handelt, aber man weiß nicht, in welcher Verbindung die beiden Konzepte wirklich zueinander stehen. Der Fantasie ist ohne Kontext freien Lauf gelassen. Hier handelt es sich um eine Gelegenheitsbildung, die im Interview mit der Psychologin Frau Stern entsteht, nachdem diese einen Bildungstest der ZEIT gemacht hat. Sie musste bei der Frage über Angelina Jolie passen und konnte sich weder an Nachnamen noch an die genaue Fragestellung erinnern. Weiter im Text, kommt sie auf sog. Müllhaufen zu sprechen, sie benützt sie als Synonym für unnützes Wissen. Der Journalist reagiert blitzschnell und wirft bei dieser Gelegenheit eine Ad-hoc- Bildung ein. Durch diese Wortneubildung nimmt er eine schon vorher im Artikel aufgetauchte Idee wieder auf und verbindet sie mit der neuen Information. Durch diesen Okkasionalismus umgeht der Journalist eine umständlich Paraphrase und durch den Kontext kann der Leser diese, auf den ersten Blick sehr vage wirkende Gelegenheitsbildung, dekodieren.

3.1.1.1.4. Allgemeine Beispiele und deren Wortbildungsbedeutung Weitere Beispiele, die zur Textverknüpfung und zu ständigen Präsenz des Themas dienen sind die folgenden, bei welchen die erste unmittelbare Konstituente immer gleich bleibt, es handelt sich also um Wortbildungsnester: Titanic-Besessene, Titanic- Totenstätte (S. 69); Gaddafi-Anhänger, Gaddafi-Leute, Gaddafi-Zeit (S. 58); Holocaust- Verharmloser (S. 57), Holocaust-Erfahrung (S. 14); CDU-Kronprinz, CDU-Männerbund (S. 5), Kretschmann-Wende (S. 7), Dr.-Oetker-Tochter (S. 73) usw.

All diese Beispiele haben die gleiche Wortbildungsbedeutung, das Zweitglied des Kompositums wird direkt mit dem Erstmitglied in Verbindung gebracht: „gehörend zu“, „in Bezug auf“. Alle Komposita mit einem Eigennamen als erste unmittelbare Konstituente werden mit der zweiten durch einen Bindestrich verbunden. Diese Komposita sind überhaupt nicht auffällig und deshalb auch vom Schwierigkeitsgrad der Entschlüsselung relativ einfach, da es sich grundsätzlich um bekannte bzw. aus der Aktualität stammende Eigennamen handelt oder diese Eigennamen im direkt voran- oder nachgehenden Kontext geklärt werden. 25

3.1.1.2. Kreative substantivische Komposita

3.1.1.2.1. Beispiele im Artikel über Damien Hirst Ein wirklich sehr gelungenes Beispiel ist meiner Meinung nach der Artikel über Damien Hirst (S. 59) und dessen Ausstellung im Tate Modern in London. Dieser Artikel enthält sehr viele Okkasionalismen und spiegelt dadurch in sehr treffender Weise die Einzigartigkeit der Kunst wider, die dieser Künstler macht. Zur Beschreibung von Hirst selbst werden die folgenden Wortbildungsprodukte verwendet: Kunstgott, Radaukünstler, Künstlergott, Kadaverkarrierist, Pünktchenmaler, Pillenarrangeur, Schlagzeilenkünstler, Einwecker und Vitriniseur (auf die beiden letzten gehe ich unter dem Punkt 3.2.1. Derivation genauer ein). Selbst ohne Kontext und ohne zu wissen, was für eine abstrakte Kunst Damien Hirst macht, kann man sich durch die verwendeten Gelegenheitsbildungen ein ungefähres Bild davon machen. Kunstgott und Künstlergott sind hier Synonyme, die sich ohne Kontext vielleicht ansatzweise richtig deuten lassen würden, jedoch nicht auf die vollständige Wortbildungsbedeutung schließen lassen. Man könnte die jeweils zweite unmittelbare Konstituente als Synonym als das jeweils Größte und Beste interpretieren, was die Kunstwelt zu bieten hat. Wobei hier zu berücksichtigen ist, dass zusätzlich noch auf eine ganz andere Eigenschaft Gottes hingewiesen wird, nämlich die des Übermenschen, des Schöpfers. Hirst wird als Herrscher über das Werden und Vergehen beschrieben. Beide Wortbildungen sind sich sehr ähnlich, da das Kernmorphem des Erstglieds gleich ist: Kunst (das künstlerische Schaffen selbst) bzw. Künstler (Derivation durch Suffigierung zur Beschreibung der Person).

So unterschiedlich die nächsten drei Bezeichnungen für diesen Künstler auch sein mögen, geben sie doch sehr gut wieder, wie facettenreich er ist: Kadaverkarrierist, Pünktchenmaler und Pillenarrangeur. Dabei ist Pünktchenmaler wohl die Wortneubildung, die am einfachsten zu entziffern ist, da man sie mit einem bestimmten Malstil in Verbindung bringen könnte. Aus Kadaverkarrierist lässt sich herleiten, dass Hirst sich durch Tierleichen in der Kunstbranche hochgearbeitet hat, wobei hier vollkommen offen bleibt, in welcher Art und Weise er das getan hat. Der Artikel gibt Aufschluss darüber, indem er einige seiner Werke beschreibt: Er weckt Haifische und Tauben ein, klebt Schmetterlingsflügel auf Leinwände usw. Die erste Konstituente bezieht sich auf 26

das, was er für seinen Aufstieg benutzt hat und bezeichnet somit die zweite Konstituente genauer. Karrierist wird eher selten im normalen Sprachgebrauch verwendet, doch da es sich hier um einen Artikel des Feuilletons handelt, ist auch die Sprache anspruchsvoller. Es handelt sich hier um einen relativ auffälligen Okkasionalismus; hierzu leistet auch die Alliteration innerhalb der Wortbildungskonstruktion ihren Beitrag. Bei diesen drei Wortneubildungen fällt der abwertende Ton des Autors auf. Der Begriff Pillenarrangeur ist zweideutig: Einerseits nimmt er Bezug auf die Namen der Werke, die oft medizinische Namen tragen und auf die vielen Medizinschränke, die in den Objekten präsent sind; andererseits könnte man ohne Kontext darunter auch einen Pillenmischer bzw. Drogendealer verstehen. Selbst der Artikel greift dieses Thema auf, indem er Hirst als drogenabhängig bezeichnet. Die erste unmittelbare Konstituente dieser drei Substantiv-Substantiv-Komposita bezieht sich ausschließlich auf Gegenstände, die Bestandteile der Werke sind und die zweite unmittelbare Konstituente wird jeweils durch Derivation gebildet und steht als Synonym für Künstler.

Die beiden letzten Komposita Schlagzeilen- und Radaukünstler sind eher unauffällig. Sie weisen darauf hin, dass Hirst mit seinen Werken Aufsehen erregt – es bleibt dahin gestellt, ob positiv oder negativ; wobei Radau eher für Lärm und Krach steht, also nichts Gutes. Das ist die Art des Autors, immer wieder seine Meinung über den Künstler einfließen zu lassen. Natürlich taucht diese Meinungsäußerung auch explizit auf, wie bei dem Satz: Nein, Damien Hirst muss einem nicht sympathisch sein. Er tut es aber eher implizit und überlässt es dem Leser, die Okkasionalismen wertend zu deuten oder nicht.

Im weiteren Verlauf des Textes tauchen noch weitere Gelegenheitsbildungen auf, die mit ähnlichen Wortbildungsmitteln auf die Werke und das Schaffen des Künstlers Bezug nehmen: Punktebilder, Spot-Paintings, Pillenpünktchen, Kunstparty und Vanitas-Kunst. Sie alle spielen mit den Begriffen Kunst und Bild. Man kann diese und auch die vorhergehenden Wortneubildungen als Wortnest mit Grundmorphem Kunst zusammennehmen. Dadurch wird dem Leser immer wieder vor Augen geführt, dass es in diesem Artikel um Kunst geht, auch wenn es manchmal nicht den Anschein hat. Dank der vielen kreativen Okkasionalismen ist dieser Artikel wohl genauso abwechslungsreich und interessant zu lesen, wie es sein dürfte, die Werke von Damien Hirst zu betrachten. 27

3.1.1.2.2. Beispiele aus fünf zusammenhängenden Artikeln Die Artikel auf den Seiten 64-66 stehen alle unter dem Motto Yoga mit Jesus – Meditation in der Kirche, Coaching im Kloster, Beten im Internet: In der modernen Gesellschaft basteln sich viele ihre eigene Religion. Darf man das? Man kann nicht nur an ihrem Inhalt erkennen, dass sie zusammengehören, sondern auch an den verwendeten Okkasionalismen. Sie tauchen in vielen verschiedenen Varianten auf und sind doch Synonyme; man kann sie als Wortbildungsnest definieren: Patchwork-Religion, Patchwork-Glaube, Glaubensmix, Glaubens- Basteln und Religionsmelange. Als Grundmorpheme stehen Glaube und Religion, die als Synonyme gelten. Ebenso wie die jeweiligen dazugehörigen Konstituenten im weitesten Sinne eine synonyme Bedeutung aufweisen: Patchwork, Basteln, Melange und Mix. Hierbei fällt auf, dass nur eine dieser unmittelbaren Konstituenten aus dem Deutschen stammt, die anderen kommen aus dem Englischen und Französischen. Dadurch kann dem Leser eine größere Sprachvariation geboten werden und die Artikel werden leserfreundlicher gemacht, da auf drei aufeinanderfolgenden Seiten nicht immer die gleichen Ausdrücke verwendet werden. Zusätzlich muss erwähnt werden, dass nicht nur die Okkasionalismen dazu beitragen, dass das Thema des Glaubensvermischens immer präsent ist, sondern auch zahlreiche Paraphrasen, in denen immer wieder die folgenden Wörter auftauchen: religiöse Bastelei, eine eigene Religion zusammengebastelt, Religion als Patchwork, multireligiös und selbst gebastelte Religion. All diese Ausdrücke helfen dem Leser die Neubildungen zu verstehen; sie werden entweder anaphorisch oder kataphorisch verwendet.

Es ist sehr interessant zu sehen, dass die verschiedenen Okkasionalismen alle das gleiche bedeuten, auch wenn sie verschieden aufgebaut sind und auch anders aussehen. Einige werden nur mit Bindestrich verbunden wie Patchwork- Religion, Patchwork-Glaube und Glaubens-Basteln, wodurch weiterhin deutlich bleibt, um welche unmittelbaren Konstituenten es sich handelt. Gerade bei Verbindungen von einer englischen und einer deutschen Konstituente wird häufig der Bindestrich verwendet, um diese somit voneinander abzugrenzen. Er dient außerdem zur besseren Lesbarkeit. Die deutsch-deutsche Kombination Glaubens-Basteln ist sehr auffällig, da sie gleichzeitig das Fugen-s und den 28

Bindestrich aufweist. Normalerweise steht das Fugen-s nur bei direkt aufeinanderfolgenden Konstituenten ohne Bindestrich wie z. B. Glaubensgemeinschaft. Diese Besonderheit ist nur durch den Kontext verständlich: Glaubens-Basteln soll durch den eingefügten Bindestrich als Okkasionalismus auffallen und die Verbindung zu dem kurz vorher im Artikel auftauchenden Substantiv Bastler herstellen. Der Autor setzt hier einen Akzent darauf, dass man sich nicht am Glaubens-Basteln versuchen sollte, selbst wenn man Bastler ist. Durch den Bindestrich erkennt man die beiden unmittelbaren Konstituenten wieder.

Das folgende Beispiel Glaubensmix wird zwar mit Fugen-s, aber ohne Bindestrich geschrieben. Der Autor will in diesem Fall keine besondere Aufmerksamkeit auf die Zweitkonstituente lenken. Religionsmelange zeigt die gleichen Merkmale auf wie Glaubensmix, die beiden Glieder des Kompositum werden durch ein Fugen-s zusammengefügt. Die beiden Komposita können als Synonyme verstanden werden.

Auffallend ist auch, dass die sogenannten Grundwörter Religion und Glaube ihre Position innerhalb der verschiedenen Komposita wechseln, ohne das dies Einfluss auf die Bedeutung der Komposita hat. Auf der einen Seite werden die Grundwörter genauer bestimmt und auf der anderen Seite determinieren diese die Grundwörter; alle handeln jedoch davon, die verschiedenen Religionen zu vermischen.

3.1.2. Substantiv-Adjektiv-Komposita generell Als Überschrift habe ich mich für die grundsätzliche Kombination von Adjektiv und Substantiv in dieser Kompositagruppe entschieden, bei den folgenden Beispielen werde ich jedoch auf den Unterschied eingehen, um was für eine Wortart es sich jeweils beim Erst- und beim Zweitglied handelt. Wie schon erwähnt (vgl. Punkt 2.3.1.), bestimmt das Zweitglied die Grammatik, somit wird hier zwischen Komposita unterschieden die entweder Adjektive oder Substantive sind, entsprechend ihrer Zweitkomponente.

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3.1.2.1. Adjektive Ich möchte mit den Adjektiven beginnen, da diese in der Kombination von Substantiv und Adjektiv häufiger auftauchen. Bei all diesen Adjektiven stehen die zwei unmittelbaren Konstituenten in direkter Verbindung miteinander und somit sehr einfach zu verstehen sind, da sie normalerweise aus zwei lexikalisierten Konstituenten konstruiert werden.

Es ist anzumerken, dass alle diese adjektivischen Komposita ohne Bindestrich zusammengeschrieben werden. Hier ist auffällig, das weniger das Fugen-s, sondern das Fugen-n gebraucht wird; das wiederum kaum bemerkt wird, da man es mit dem Plural-n verwechseln könnte: blumengleich, flugpistenbreit, sektengleich und seidenkühl. Bei chartsfern könnte man meinen, dass es sich um ein Fugen-s handelt, was aber auszuschließen ist, da das aus dem Englischen stammende Wort grundsätzlich im Plural verwendet wird: Charts.

3.1.2.1.1. „Richtiges“ Adjektiv als Zweitkonstituente Die Komposita, die ein „richtiges“ Adjektiv und kein Partizip als Zweitglied aufweisen, sind eindeutig einfacher zu dekodieren; deshalb wird ihnen auch nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den Komposita mit Partizip.

Für das Verständnis dieser Wortbildungsmuster ist der Kontext nicht von Nöten. So wird zum Beispiel die Größe eines Stahlpanzerrohrgewindebohrers mit der eines Kugelschreibers verglichen, er ist folglich kugelschreibergroß (S. 18). Das gleiche gilt für die Main Street in Greenwood, ihre Ausmaße werden als so wuchtig, wie die einer Start- bzw. Landebahn bezeichnet: flugpistenbreit (S. 3).

Bei dem Kompositum chartsfern ist es möglich, dass der Leser ein wenig mehr interpretieren muss, als bei den anderen. Man könnte es als Synonym für unbekannt nehmen, da es sich um Lieder handelt, die weitab der Top 50 der meist verkauften CDs liegen.

3.1.2.1.2. Partizip als Zweitkonstituente Bei den restlichen Zusammensetzungen ist die Zweitkomponente jeweils das Partizip eines Verbs. Diese Komposita sind ein wenig schwieriger zu verstehen als die 30

vorhergehenden, stellen aber für den Leser dennoch keine Schwierigkeit dar, auch ohne Kontext.

Bei herzverhärtend kann man auf antonymische Parallelkonstruktionen wie herzzerreißend, herzbrechend und herzerweichend zurückgreifen, um seine genaue Bedeutung herauszufinden. Das sollte dem Leser allerdings keine Schwierigkeiten bereiten, da die erste unmittelbare Konstituente gleichbleibend ist und sich nur das Partizip verändert.

Das Kompositum leibvergessen (S. 66) ist in seinem Kontext sehr schön zu betrachten, da es in einem Interview auf ganz spontane Weise entsteht: Dem interviewten Universitätsprediger ist das vom Reporter vorgeschlagene lexikalisierte Kompositum zu übertrieben und aggressiv. Deshalb zieht er es vor, anstatt leibfeindlich lieber eine abgeschwächtere und, seiner Meinung nach, passendere Version neu zu bilden: leibvergessen. Es geht darum, dass die westlichen Religionen den Körper des Gläubigen außer Acht lassen und diese sich deshalb fernöstlichen Entspannungstechniken bedienen.

Ein anderes interessantes Beispiel findet sich im Artikel über Damien Hirst (S. 59). Der Autor selbst stellt im gleichen Satz die gegensätzlichen Wirkungen von Medikamenten dar, entweder sie helfen das Leben zu verlängern oder sie sorgen dafür das Sterben zu beschleunigen: Vieles dreht sich bei Hirst um lebensverlängernde oder sterbensbeschleunigende Mittelchen. Die beiden Partizipien sind insofern ein Gegensatzpaar, da verlängern die Bedeutung hat, dafür zu sorgen, dass etwas länger dauert und beschleunigen, dafür zu sorgen, dass etwas früher geschieht. Ohne Kontext würde jedoch niemand diese beiden Verben als Antonyme aufzählen, dies geschieht erst durch die Beziehung die, die erste unmittelbare Komponente zur zweiten aufbaut und durch den Vergleich der beiden Zweitglieder miteinander: leben und sterben. So präsentiert der Artikel diese beiden aufeinanderfolgenden Komposita als direkte Gegensätze.

3.1.2.2. Substantive Die Substantive, die aus dieser Art Komposita entstehen, dürften dem Leser keine Schwierigkeiten beim Entziffern bereiten. Deshalb möchte ich auf ein konkretes Beispiel eingehen: Hardcore-Politiker (S. 4). Ich denke nicht, dass dieses Kompositum Verständnisprobleme aufwirft, ich finde jedoch die Einbettung in den Artikel sehr 31

interessant. Im Laufe des Textes über das Leben des ehemaligen Politikers steigert der Autor die Bezeichnungen für Roland Koch immer weiter, bis er von einem usuellen Wort auf zwei neu gebildete Wörter ausweichen muss. Schon im Untertitel der Überschrift ist die Rede vom Machtpolitiker, im Artikel selbst folgt dann die okkasionelle Bezeichnung Kampfpolitiker und schließlich Hardcore-Politiker. Da Kampfpolitiker eine eindeutige Parallelbildung zu Machtpolitiker ist, die gleiche Wortbildungsbedeutung hat und auch optisch sehr ähnlich ist, möchte ich auf diesen Okkasionalismus nicht weiter eingehen; viel aufregender finde ich Hardcore-Politiker. Laut dem Online-Wörterbuch PONS bedeutet das englische Wort hardcore: eingefleischt, unverbesserlich und stur. So wird die Entwicklung Kochs an diesen Kompositum deutlich: Zuerst war er einfach nur auf immer mehr Macht aus, danach hat er sich aktiv dafür eingesetzt diese zu erreichen, er hat darum gekämpft und am Ende seiner politischen Karriere wird er als Politiker mit Leib und Seele bezeichnet, der für das Erreichen seiner Ziele alles in Kauf genommen hat, ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Gelegenheitsbildung wird durch Antonyme eingeleitet und danach genauer definiert:

Das sagt keine Mimose, kein Gescheiterter. Sondern ein Hardcore-Politiker, dem man vieles abgesprochen hat, aber nie den Erfolg.

Es fällt auf, dass die beiden unmittelbaren Konstituenten hier durch einen Bindestrich verbunden und nicht wie bei den beiden anderen Beispielen direkt zusammengefügt werden. Außerdem scheint es, dass dem Autor die deutschen Wörter zur Bezeichnung Roland Kochs ausgegangen sind und er sich deshalb des Englischen bedienen muss.

3.1.3. Verb-Substantiv -Komposita Bei dieser Art der Komposita fällt auf, dass es sich bei den Endprodukten ausschließlich um Substantive handelt, folglich treten die Substantive bei diesen Beispielen immer an die zweite Stelle. Auch diese Zusammensetzungen sind m.E. einfach zu verstehen, da die Konstituenten leicht verständlich sind und auch leicht in die richtige Verbindung gebracht werden können.

Als einzig erwähnenswertes Beispiel ist der Shut-up-Wink (S. 63) genauer zu erklären. Auf den ersten Blick ist dieses Komposita drei-gliedrig, bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass es ich um ein Verb to shut up handelt, was so viel bedeutet wie jemanden zum schweigen bringen. So kann der Shut-up-Wink auch ohne Kontext als Zeichen verstanden werden, dass jemand doch besser nicht mehr weiterredet bzw. 32

sich nicht weiter einmischt. Im Artikel selbst wird dieser Okkasionalismus direkt nach der Einführung erklärt, damit keine Zweifel an seiner Bedeutung bestehen bleiben:

Dann schickt sie einen kollegialen Shut-up-Wink zu Gott hinauf. Du hältst dich jetzt da raus, du wirst hier unten ordentlich vertreten, und zwar von mir.

Die drei Glieder dieses Kompositums werden durch Bindestriche zusammengehalten, um jede einzelne Konstituente deutlich zu machen; leserfreundlich sozusagen, damit dieser keine Probleme bei der Dekodierung hat.

3.1.4. Adverb-Substantiv-Komposita Bei den sechs gefundenen Adverb-Substantiv-Komposita sticht ins Auge, dass es sich bei der ersten unmittelbaren Konstituente jeweils um das Adverb handelt, somit sind alle diese Komposita Substantive. Fünf dieser sechs Wortbildungsmuster bedienen sich des Bindestrichs um die verschiedenen Glieder zu verbinden, nur bei einem werden die Konstituenten direkt zusammen geschrieben.

Nicht-Bio (S. 43) und Nicht-Urlaub (S. 4) weisen das gleiche Erstglied auf, das Adverb nicht. Auch haben beide die gleiche Wortbildungsbedeutung; das Adverb drückt eine Verneinung aus, sozusagen genau das Gegenteil des Substantivs das als Zweitglied verwendet wird. Sie trennen ihre beiden Konstituenten je durch einen Bindestrich. Auch ohne Kontext sollte es kein Problem sein, diese Komposita entschlüsseln zu können; wobei sie durch den Zusammenhang noch genauer erklärt werden.

Bei Nicht-Bio soll vor allem der ständige Kontrast zu Bio hergestellt werden. Bio steht in diesem Artikel für biologisch und natürlich, Nicht-Bio hingegen für konventionell. Diese beiden Begriffe stehen also im direkten Vergleich und ziehen sich durch den ganzen Text. Bio ist bei den biologischen Produkten immer als Erstkonstituenten vertreten: Bioprodukt, Biolebensmittel, Bioessen, Biomargarine, Biocapuccino, etc. Als direkter Gegensatz wird Nicht-Bio dargestellt, da Bio hier an die zweite Stelle rückt und das Adverb nicht ausdrucksstark an die erste Stelle tritt und sich so von den natürlichen Produkten deutlich unterscheidet. Dieser Artikel spielt mit Synonymen und Antonymen indem immer wieder mit den Wörtern biologisch, bio, konventionell, öko etc. gespielt wird.

Nicht-Urlaub wird durch den dazugehörigen Absatz im Artikel anschaulich gemacht: 33

Der Plan nach der Übergabe: den Ausstieg schaffen. Einen Urlaub pro Monat hat er seiner Frau für die Zeit nach dem Rücktritt versprochen, für all die abgesagten Verabredungen, die versauten Wochenenden, die Nicht-Urlaube der vergangenen elf Jahre.

Der Kontext dürfte keine Zweifel mehr an der Bedeutung dieses Kompositums offen lassen. Es bezieht sich auf das Gegenteil von Urlaube bzw. auf die nicht gemachten Urlaube von Roland Koch und seiner Frau.

3.1.5. Adjektiv-Adjektiv-Komposita Bei den Adjektiv-Adjektiv-Komposita möchte ich nur kurz hervorheben, dass alle acht zwischen dem ersten und dem zweiten Glied einen Bindestrich aufweisen. Meist aus dem Grund, dass es sich um Kopulativkomposita handelt und die jeweils beschriebenen Substantive oder Personen die Eigenschaften beider Konstituenten aufweisen. Durch die Kopplung der beiden Adjektive durch den Bindestrich wird die Bedeutung der beiden Glieder verstärkt. Um einem Substantiv zwei Adjektive zuzuordnen, hätte der Autor diese auch getrennt schreiben und durch die Konjunktion und verbinden können. Um jedoch das gleichzeitige Auftreten dieser beiden Charakteristika besser hervorzuheben, hat er sich für eine Gelegenheitsbildung entschieden. Somit kann er außerdem der Interpretation des Lesers freien Lauf lassen: Vielleicht dekodiert dieser die Komposita als Determinativkomposita und gibt so vor, dass die erste unmittelbare Konstituente die zweite genauer bestimmt. Auch das ist möglich, es liegt folglich immer im Auge des Betrachters, wie man diese Zusammensetzungen entschlüsseln möchte.

3.2. Derivation Die Derivation ist das zweite Wortbildungsmuster, das ich an den gefundenen Okkasionalismen gerne genauer untersuchen möchte. Insgesamt konnte ich neun Substantive, vier Verben und fünf Adjektive finden. Im Folgenden werde ich sie nach den verschiedenen Derivationsarten untergliedern. Auffällig ist das diese Wortneubildungen eigentlich völlig unauffällig in einem Text mit den lexikalisierten Wörtern einhergehen, da sie optisch nicht hervorstechen. Zwei dieser Derivationen zeigen jedoch deutlich ihr Präfix, da dies durch einen Bindestrich an das eigentliche Wort gehängt wurde: an-spiritualisiert und Instant-Jude. Auf diese Art und Weise wird 34

ein besonderer Augenmerk auf diese konkreten Derivationen gelegt; im Weiteren werde ich darauf genauer eingehen.

3.2.1. Suffixderivation

3.2.1.1. Substantiv zu Adjektiv Alle Beispiele, die ein Substantiv als Grundmorphem aufweisen und durch das angehängte Suffix in ein Adjektiv übergehen, haben die gleiche Wortbildungsbedeutung. Das heißt, man kann die jeweils unterschiedlichen Suffixe als Synonyme verstehen: kathedralenhaft, rübezahlartig und schröderlike. Die Wortbildungsbedeutung dieser Okkasionalismen ist „C ist (so ähnlich) wie A“, wobei C das zu bestimmende Adjektiv ist und A das Substantiv der Derivation. Es entsteht ein Vergleich zwischen dem in der Suffixderivation vorkommenden und dem im Kontext stehenden Substantiv.

Auffällig ist, dass eines der Suffixe das aus dem Englischen stammende Adverb like ist, was ins Deutsche übersetzt wie bedeutet. Trotz des fremdsprachlichen Einflusses sollte es für den Leser keine größeren Schwierigkeiten darstellen, diesen Okkasionalismus zu entziffern.

Ingesamt ist diese Form der Suffixderivation sehr unauffällig und auch sehr einfach zu interpretieren, da es sich um ein sehr motiviertes Wortbildungsmuster handelt, das dem Rezipienten keine Probleme bereitet. Der Kontext ist in diesem Fall eher unwichtig, da man die Derivationen auch ohne richtig entschlüsseln kann.

3.2.1.2. Verb zu Substantiv Bei dieser Suffigierung werden die entstehenden Substantive von Verben abgeleitet. Die Wortbildungsbedeutung ist immer die gleiche: „eine Person, die (Verb)“. Hierfür wird ausschließlich das Suffix –er verwendet.

Bei den Okkasionalismen Einwecker (S. 59) und Anrührer (S. 73) sollte es keine Problem sein, herauslesen zu können, dass es sich um eine Person handelt, die wohl viel einweckt bzw. anrührt. Bei dem Einwecker geht es um Damien Hirst, der nicht, wie vielleicht erwartet, Nahrungsmittel einweckt, sondern tote Tiere, um sie so länger haltbar zu machen. Mit der Wortneubildung Anrührer wird Bezug genommen auf den 35

Backberater, der den Bäckern von heute wieder lernt wie man richtig backt und Zutaten zusammenmischt, ohne einfach nur Fertigbackmischungen anzurühren. All dies ist nur durch den Kontext erschließbar, da man ohne ihn nicht weiß auf was genau sich die Derivation bezieht und den Leser somit auf eine falsche Fährte locken könnte. Grundsätzlich also, sind diese Gelegenheitsbildungen leicht verständlich, zur korrekten Interpretation ist allerdings der Textzusammenhang nötig.

3.2.1.3. Substantiv zu Substantiv Bei dieser Art der Suffigierung fällt ein Beispiel sofort ins Auge: der Vitriniseur (S. 59). Hier wird der normale Leser wohl auf Verständnisprobleme stoßen. Ohne Kontext dürfte das wohl eine der schwierigsten Gelegenheitsbildungen sein, da man vielleicht oberflächlich herausfinden könnte, um was es sich hier handelt, jedoch aber die wirkliche Bedeutung nicht aufdecken würde. Dank analoger Bildungen mit dem gleichen Präfix, wie Kontrolleur, Inspekteur oder auch, der im gleichen Artikel auftauchenden Gelegenheitsbildung, Pillenarrangeur, lässt sich erschließen, dass es sich um eine Person handelt. Das Grundmorphem kann auch entschlüsselt werden, hier wird auf eine Vitrine Bezug genommen. Handelt es sich folglich um eine Person, die Vitrinen, Schaukästen bzw. Glaskästen herstellt? Ja, nur überrascht für so eine simple Interpretierung die komplizierte Bildung dieses Okkasionalismus. Der Kontext sorgt zumindest teilweise für Aufklärung. Diese Gelegenheitsbildung wird in keinem Absatz explizit erläutert, es werden jedoch immer wieder Hinweise darauf gegeben, wie Hirsts Werke sind und woraus sie sich zusammensetzen; zum Beispiel, in Formaldehyd eingeschlossene Haifische, luftdicht weggeschlossen, [wir] spiegeln uns in der Vitrine. Damien Hirsts Kunst besteht darin, die Natur und ihre Lebewesen so naturgetreu wie möglich einzufangen und von allen Seiten für das Publikum zugänglich zu machen; und das vollbringt er unter Verwendung von Glaskästen. Als Erklärung für diese anspruchsvolle Wortbildung, lässt sich ein Zusammenhang mit der Rubrik herstellen, in der der Artikel erscheint: das Feuilleton.

Die vom Substantiv Klartext abgeleitete Gelegenheitsbildung entsteht wieder durch das Suffix –er: Klartexter (S. 5). Es ist sehr einfach zu verstehen und besonders schön in den Kontext eingegliedert:

In der Politik war Koch immer einer der wenigen Klartexter. Nun spricht er über "Personen, die die coverage verantworten", über returns per share, compliance, 36

concessions und building services, er redet übers sich committen. Man braucht einen Übersetzer, um all das zu verstehen.

Anscheinend war Roland Koch in der Politik immer jemand, der den Nagel auf den Kopf getroffen hat, doch seit er Geschäftsmann ist, versteht man ihn kaum mehr. Die aufgeführten Beispiele beziehen sich ohne Ausnahme auf die vielen Anglizismen, die sich in der Wirtschaftssprache eingeschlichen haben und die jemand, der nicht täglich damit zu hat, wohl kaum versteht. Ich finde gerade den Gegensatz von Klartexter und Übersetzer sehr gut getroffen. Als Politiker konnte er sich selbst deutlich genug ausdrücken, dass jeder ihm folgen konnte, jetzt wäre ein Übersetzer angebracht, um ihn zu verstehen. Auffällig ist auch, dass das lexikalisierte Substantiv Übersetzer, auch durch das Suffix –er gebildet wurde, hier allerdings mit einem Verb als Basis.

3.2.2. Präfigierung

3.2.2.1. Substantiv Eine sehr spannende Wortneubildung ist auf Seite 15 zu finden: Instant-Jude. Mit dem Präfix Instant- würde man vielleicht eher Nahrungsmittel, anstatt Menschen verbinden; so auch die bekannten Parallelkonstruktionen Instantsuppe und Instantkaffe. Wie man leicht erkennt, wird hier das Substantiv direkt an das Präfix angeschlossen, anders als bei dem Okkasionalismus, da hier die Personenbezeichnung mit einem Bindestrich angehängt wird. Dank den analogen Bildungen und der Bedeutung des Präfixes (laut Duden: sofort, ohne Vorbereitung zur Verfügung stehend), sollte der Leser sich grob eine Idee machen können, von was genau der Artikel handelt. Eine genaue Interpretation gibt der Kontext, in dem Henryk M. Broder, ein sehr kritischer Journalist, vom Autor zitiert wird, der einmal Folgendes gesagt hat:

Darin heißt es: »Jude kann nur man nur sein, man kann es nicht werden«. Broder nennt die Konvertiten Instant-Juden, die das Judentum als Selbstbedienungsladen verstünden, als eine Art Diners Club für den man nur eine gewisse Bonität brauche. Sie nerven ihn, weil sie »die Rebellion als Teil des Systems« nicht begriffen und hundertprozentig sein wollten, während ein echter Jude doch immer schummle und mit Gott Geschäfte mache. Nichtjuden könnten sich zwar jüdisches Wissen aneignen, Passah statt Ostern, Chanukka statt Weihnachten feiern. Ein jüdischer Kopf lässt sich laut Broder aber so nicht herstellen.

So steht diese Gelegenheitsbildung als abschätziges Synonym für Konvertiten. Sie wird nach der Einführung genauer erklärt. So wird damit jemand beschrieben, der sich in einen Juden verwandelt hat, ohne sich sorgfältig darauf vorzubereiten bzw. jemand, 37

der sich nie in einen wahren Juden verwandeln wird, da er zwar studiert hat, wie ein Jude sein sollte, es aber nicht mit Leib und Seele ist. Einem Konvertiten fehlt sozusagen die richtige Mentalität, deshalb auch die kreative Wortneubildung mit Bezug auf Lebensmittel, die im Handumdrehen fertig sind, aber doch niemals mit den Originalprodukten mithalten können.

3.2.2.2. Verb Eines der beiden gefundenen Verben, in diesem Fall das Partizip, fällt unter die Kategorie der Derivation, die mit einem Präfix gebildet wird: an-spiritualisiert (S. 64). Hier wird ganz besonders auf den Bindestrich zwischen Präfix und lexikalisiertem Verb hingewiesen. Damit soll signalisiert werden, dass es sich tatsächlich nur um ein wenig spirituellen Einfluss handelt und jemand nicht vollständig vergeistigt ist. Im Kontext wird der ironische Anklang deutlich:

In vielen Kreisen gehört es zum guten Ton, gepflegt an-spiritualisiert zu sein, es aber mit dem Glauben bloß nicht zu weit zu treiben.

Der Journalist klärt also noch im gleichen Satz auf, was es mit seiner Wortneubildung auf sich hat. Die ironische Note wird auf der einen Seite durch das Präfix an-, mit der Bedeutung von ein bisschen, ein wenig und zweitens durch das vorhergehende Adjektiv, dass sich vor allem darauf bezieht, dass es auf die Gesellschaft immer eine positive Wirkung ausübt. Diese spezielle Schreibweise dient besonders dazu, dem Leser ins Auge zu stechen.

3.2.3. Zirkumfigierung Für diese Art der Derivation konnte ich nur ein einziges Beispiel finden, dieses jedoch ist dem Autor sehr gut gelungen und, meiner Meinung nach, auch sehr einfach zu verstehen. Die leichte Dekodierung dieses Okkasionalismus liegt wohl hauptsächlich, daran, dass es einige analoge Bildungen mit einem ähnlichen Zirkumfix bzw. nur dem Suffix des hier verwendeten Zirkumfixes gibt; zum Beispiel verstaatlichen, vergessellschaftlichen, entprivatisieren, enteignen etc. Im Kontext wird es auch auf sehr reizvolle Weise behandelt, indem schon vorneweg auf das Thema hingewiesen und es nach dem Okkasionalismus auch noch einmal aufgegriffen wird. Und im darauffolgenden Satz wird genau das entgegengesetzte Szenarium beschrieben: 38

Die erste These hieß Säkularisierung: Gott ist tot, die moderne Gesellschaft wird sich sukzessive entkirchlichen, am Ende sind wir alle Atheisten. Die Gegenthese hieß Resakralisierung: Gott ist nicht tot und Europa erlebt eine Rückkehr der Religion.

Durch das eher ungewöhnliche Aufeinandertreffen des Präfixes ent- mit dem Suffix –en entsteht ein Zirkumfix, dass aus dem Grundmorphem kirchlich bzw. Kirche ein Verb macht. Das Präfix vermittelt die Bedeutung, dass etwas rückgängig gemacht wird oder sich von etwas entfernt, so wie es die Gesellschaft tut, die sich immer weiter von der Kirche entfernt. Das Suffix –en dient einzig und allein dafür, zu kennzeichnen, dass es sich um ein Verb handelt.

3.3. Konversion Bei den wenigen Konversionen kann man die Simplizia weitgreifend zusammenfassen, da sie sehr einfach zu verstehen sind und sich kaum von ihren Grundformen unterscheiden. So wird aus dem Verb etwas herausposaunen, das Substantiv Herausposaunen (S. 10), oder aus dem Adjektiv butterzart, das Substantiv Butterzart (S. 43) oder aus dem reflexiven Verb sich arrangieren, das Substantiv Sich-Arrangieren (S. 9). Diese Art von Konversion kann an allen Wörtern jeglicher Wortarten vollzogen werden und verursacht keine Schwierigkeiten bei der Interpretation. Deshalb möchte ich im Weiteren auf ein paar originellere Beispiele eingehen und diese genauer analysieren.

3.3.1. »Ob-La-Di, Ob-La-Da«-Allradantrieb Diese sehr kreative Wortneubildung von Seite 18 ist unschwer auf die Beatles zurück zu führen. Was dieser Liedtitel jedoch mit einem Allradantrieb zu tun hat, bereitet dem Leser ohne Kontext wohl größere Schwierigkeiten. Ein Allradantrieb, der nur zu dieser Melodie funktioniert oder diese abspielt? Nein, die Erklärung ergibt sich durch den Kontext von ganz alleine, da sich der ganze Artikel auf einen Rollstuhl bezieht, der nach den Beatles benannt ist:

Ein elektrischer Rollstuhl darf nicht so heißen, dass er mit den Beatles verwechselt werden könnte. Das hat der Europäische Gerichtshof letzten Donnerstag entschieden (T-369/19). Wir finden: Das war allerhöchste Zeit! Denn Rollstühle, die rocken, dienen dem Abzocken. Da heißt es auf Kaffeefahrten dann: Lieben Sie die Beatles? Und wer würde da Nein sagen? Die Erfahrung mit Heizdecken lehrt, dass das Basismodell günstig angeboten wird, aber wer will die Beatles mit Pete Best? Jeder Alte, der noch ganz bei Sinnen ist, will die Vollversion mit Klingel »Ringo« und Nackenstütze »Starr«. 39

Jeder will den Vierzylinder-Pilzkopfmotor mit dem »Ob-La-Di, Ob-La-da«–Allradantrieb für die Herausforderungen der Fußgängerzone.

In diesem Absatz wird deutlich, dass sich solch einfallsreiche Okkasionalismen gut für Verkaufsnamen von Produkten eignen, um somit den Umsatz zu steigern. Hier wird aufgezeigt, dass gerade die Werbung sehr oft Gelegenheitsbildungen verwendet, um die Produkte für den Käufer attraktiv zu machen. Bei diesem konkreten Beispiel wird der Liedtitel durch Anführungszeichen gekennzeichnet und zusammengehalten und dann mit einem Bindestrich an das eigentlich ausschlaggebende Substantiv gehängt. In diesem Artikel taucht noch ein anderes originelles Beispiel auf: Vierzylinder- Pilzkopfmotor. Die anderen Zubehörteile für den Rollstuhl wurden einfach nur nach den Sängern benannt, lassen aber somit das Hauptthema Beatles nicht in Vergessenheit geraten.

3.3.2. Fly-in-and-fly-out-Personal Diese Gelegenheitsbildung von Seite 14 ist wie so oft eine Mischung aus englischen und deutschen Wörtern, zusammengehalten durch Bindestriche. Bei dem fünf- gliedrigen Okkasionalismus sind vier der Konstituenten aus dem Englischen und nur die letzte, die Wortart und Genus bestimmt, aus dem Deutschen. So entsteht im Großen und Ganzen trotz überwiegend englischem Anteil eine deutsche Wortneubildung. Selbst mit rudimentären Englischkenntnissen kann man herleiten, worauf hier Bezug benommen wird. Personal, das ständig ein- und ausfliegt bzw. -geflogen wird. Es wird auf eine ganz bestimmte Berufsgruppe Bezug genommen, diese kann jedoch nur anhand des Textzusammenhangs ausgemacht werden kann:

108 jüdische Gemeinden entstanden, mit rund 100 000 praktizierenden Mitgliedern. Und plötzlich brauchte man Synagogen, Glaubensbegleitung – und Rabbiner. Wanderrabbiner kamen ins Land, Fly-in-and-fly-out-Personal aus Israel, den USA, England. Sie reisten von Gemeinde zu Gemeinde, sie taten ihr Bestes – es war nicht genug.

Kurz bevor diese Wortneubildung im Artikel auftaucht, wird ein Synonym dafür erwähnt, das danach noch genauer beschrieben wird. In Deutschland musste man wegen der Zuwanderung vieler Juden ab 1989 auf ihre religiösen Bedürfnisse eingehen und Synagogen bauen und auch Rabbiner bereitstellen. Da vor Ort aber keine bzw. nur sehr wenige jüdische Geistliche vorhanden waren, mussten sie aus anderen Staaten und Ländern nach Deutschland gebracht werden. Sie bekamen den Beinamen Wanderrabbiner, da sie von einem Ort zum nächsten wechselten, wie sie 40

gebraucht wurden. Ich behaupte, dass der hier behandelte Okkasionalismus eine sogenannte „neudeutsche“ Bezeichnung für Wanderrabbiner ist. Vielleicht weil es deutlicher macht, dass sie von weit her kamen und somit einfliegen und nach getaner Arbeit wieder zurück- bzw. zum nächsten Einsatzort fliegen mussten. Diese Rabbiner werden wie mangelnde Ware beschrieben, die einfach nachbestellt werden kann; ein weiteres Indiz für diese Auffassung gibt der Okkasionalismus Export-Rabbiner auf Seite 13.

3.3.3. Hire-and-Fire-Job Das letzte Beispiel, das ich behandeln möchte, stammt aus demselben Artikel wie die vorherige Ad-hoc-Bildung und ist auch fast genauso aufgebaut. Drei Glieder, die aus der englischen Sprache stammen und eines, das ursprünglich aus dem Englischen stammt, aber schon in den deutschen Wortschatz aufgenommen wurde. Hire-and-fire- Job (S. 15) kommt zusätzlich zu den Bindestrichen noch dadurch zur Geltung, dass die englischen Konstituenten kursiv gedruckt sind. Im Text wird zuerst erklärt, dass und warum auf jedem Rabbiner ein sehr großer Druck lastet, seine Glaubensgemeinde zufrieden zu stellen, und erst danach wird der Okkasionalismus verwendet, um alles davor Erwähnte mit kataphorischer Wirkung in einem einzigen Wort zusammenzufassen:

Der Druck, ein guter, also ein der Gemeinde angemessener Rabbiner zu sein, ist groß. Die Gemeinden bezahlen ihre Rabbiner direkt. Schon im Vor-Nazi-Deutschland war Rabbiner ein Hire-and-Fire-Job, das zumindest hat sich nicht geändert.

Diese Gelegenheitsbildung ist zusätzlich noch durch ihre reimenden Konstituenten sehr einprägsam. Das Verb hire bedeutet jemanden einstellen und fire, genau das Gegenteil, jemandem kündigen. Die Arbeit als Rabbiner wird also als sehr ungewiss beschrieben, da sie direkt nach der Ausübung ihres Berufs bezahlt werden und damit wohl keinen festen Vertrag haben. Sie sind auf die Glaubensgemeinde angewiesen, die ihnen ihre Unterstützung aussprechen muss, sonst verlieren sie ihre Arbeit. Man kann sich unter der Wortbildung allein vielleicht grob vorstellen, auf was sie sich bezieht, jedoch ist es unmöglich all die Details, die durch den Kontext mit einbezogen werden, ohne Textzusammenhang hineinzuinterpretieren. 41

4. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Zusammenfassend möchte ich auf ein paar konkrete Beobachtungen bei der Analyse der untersuchten Texte eingehen.

Besonders auffällig ist, dass gerade bei zwei der Interviews, die in der Ausgabe DER ZEIT zu finden sind, sehr schöne Beispiele für Okkasionalismen auftauchen. Das liegt wohl daran, dass es einem normalen Gespräch am ähnlichsten ist und wir alle bei Gesprächen meist sogar un(ter)bewusst neue Wörter bilden, die danach nie wieder verwendet werden, sondern nur in gerade diesem Augenblick und in dieser Situation passender sind, als alle usuellen Wörter. Vor allem kann man bei den Interviews die Entstehung solcher neuen Bildungen auf ganz einfache Art und Weise zurückverfolgen und nachvollziehen.

Bei den Komposita ist es unübersehbar, dass es sich beim Großteil um zweigliedrige Zusammensetzungen handelt. Mehrgliedrige sind eher selten und wenn, dann entstehen sie dadurch, da es sich um Eigennamen aus mehreren Konstituenten handelt, wie bei Stephen-King-Universum (S. 69) oder Granny-Smith-Apfel (S. 43).

Der Bindestrich kann bei Okkasionalismen ganz verschiedene Bedeutungen haben. Besonders oft wird er als direkte Verbindung der unmittelbaren Konstituenten bei Komposita verwendet, um ihre Beziehung zueinander deutlich zu machen. Bemerkenswert ist sein Vorkommen bei Substantiv-Substantiv-Komposita mit einem Eigennamen als Erstglied. Eigennamen werden ausschließlich mit Bindestrich und immer ohne Fugen-Element an die zweite unmittelbare Konstituente angeschlossen. Manchmal scheint es, dass durch den Bindestrich Wörter zusammengebracht werden, die man normalerweise nicht unbedingt zusammen erwartet, wie Instant-Jude (S. 15) oder Export-Rabbiner (S.13). Bindestriche dienen im Allgemeinen dazu, die einzelnen Konstituenten einer Wortbildung voneinander zu trennen und somit hervorzuheben und, um zusätzlich die Verwechslungsgefahr mit anderen ähnlichen Bildungen zu vermeiden. Oft aber ist der Bindestrich auch ein Zeichen dafür, dass ein Wort neu ist bzw. dient er dazu, es von einer schon lexikalisierten Analogiebildung zu unterscheiden; vgl. Nicht-Urlaub (S. 4) und Nicht-Bio (S.43) mit Nichtjude (S. 15) oder Gethsemane-Spielplatz (S. 65) mit Gethsemanekirche (S. 65). Bei den Adjektiv- Adjektiv-Komposita steht er für die Gleichzeitigkeit der beiden Charakteristika. 42

Gerade analoge Bildungen helfen dem Leser bei der Dekodierung von Okkasionalismen. Er kann die Wortneubildung somit gleich mit etwas schon Bekanntem assoziieren und etwas hineininterpretieren. Nur ganz selten werden neue Wörter nicht in Anlehnung an produktive Formen gebildet.

Ich habe die Wochenzeitung speziell darauf untersucht, ob gerade bei Überschriften besonders viele Okkasionalismen verwendet werden, da gerade in dieser Position die Ideenkomprimierung und Sprachökonomie von Bedeutung scheinen. Ich bin jedoch zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen, dass nur zwei Gelegenheitsbildungen bei den Titelzeilen auszumachen waren: Im Reich der Wolkenschaufler (S. 64) und Der letzte Kunstgott (S. 59). M. E. ist gerade der Titel eines Artikels eine vielversprechende Stelle für Okkasionalismen, da mit ihm die Aufmerksamkeit des Lesers angezogen werden kann. Alle weiteren Überschriften werden durch interessante und ungewöhnliche Syntagmen zu Eyecatchern.

Auffällig ist auch das verbreitete Vorkommen von Okkasionalismen in eigentlich allen Teilbereichen der Zeitung außer dem Wirtschaftsteil – hier lassen sich besonders wenige finden. Das Feuilleton wiederum bietet die größte Auswahl an Ad-hoc- Bildungen. Das könnte vielleicht daran liegen, dass die im Feuilleton verwendete Sprache im Allgemeinen gehobener und anspruchsvoller ist. Deswegen wird hier vom Leser anscheinend auch mehr Kreativität bei der Interpretation der Gelegenheitsbildungen erwartet, da diese ohne das nötige Hintergrundwissen eindeutig schwieriger zu entziffern sind; vgl. Boulanger-Zuckerstückchen (S. 60), Vitriniseur oder Kadaverkarrierist (S. 59).

Ich bin der Überzeugung, dass der Autor eines Artikels gerade durch die Verwendung von Okkasionalismen seine eigene Meinung einfließen lassen kann, da ihre Konstruktion gemeinhin willkürlich ist. So kann der Verfasser seine persönliche Einstellung im Text andeuten, ohne sie explizit auszudrücken. Somit überlässt er dem Leser die Auslegung dessen, was der Autor eventuell gemeint haben könnte. Der Remittent hat dadurch die Möglichkeit eine eindeutige Paraphrase zu umgehen und mit der Kreativität bzw. der Meinung des Rezipienten zu spielen. 43

5. LITERATURVERZEICHNIS

5.1. Quelle DIE ZEIT, Ausgabe 15 vom 04.04.2012

5.2. Zitierte Literatur

5.2.1. Bibliografie

Barz, I. et al. (2002). Wortbildung - praktisch und integrativ: Ein Arbeitsbuch. Frankfurt am Main: Lang.

Donalies, E. (2011). Basiswissen deutsche Wortbildung (2., überarbeitete Auflage). Tübingen: A. Francke.

Dudenredaktion (Hsg.) (2009). Die Grammatik (8., überarbeitete Auflage). Mannheim: Bibliographisches Institut.

Elsen, H. (2011). Neologismen: Formen und Funktionen neuer Wörter in Varietäten des Deutschen (2., überarbeitete Auflage). Tübingen: Narr.

Erben, J. (2006). Einführung in die deutsche Wortbildungslehre (5., durchgesehene und ergänzte Auflage). Berlin: Erich Schmidt.

Fleischer, W., Barz, I. (1995). Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache (2., durchgesehene und ergänzte Auflage). Tübingen: Niemeyer.

Motsch, W. (2004). Deutsche Wortbildung in Grundzügen (2., überarbeitete Auflage). Berlin; New York: Walter de Gruyter.

Peschel, C. (2002). Zum Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution. Tübingen: Niemeyer.

Stepanowa, M. D., Fleischer, W. (1985). Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig: Bibliographisches Institut.

Schippan, T. (1992). Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer.

Fellner, R. (2009). Okkasionalismen in Werbeslogans zwischen 2003 und 2008 unter besonderer Berücksichtigung der Branchen Kosmetik, Ernährung, Getränke und Pharmazie. Diplomarbeit, Universität Wien.

44

5.2.2. Online-Ressourcen

PONS GmbH (2012). PONS.eu – Das Sprachenportal. Verfügbar unter http://de.pons.eu/ [09.06.2012]

Bibliographisches Institut GmbH (2012). Duden online. Verfügbar unter http://www.duden.de/ [09.06.2012] 45

6. ANHANG

1

Klassifizierung und Analyse der Okkasionalismen

234 gefundene Okkasionalismen davon:

204 Komposita, 14 Derivationen und 10 Konversionen

Substantiv-Substantiv-Komposita : 173

Apokalypse-Fantasie Armenmensa Art-School-Drop-out Auferstehungs-Essay Aufregerthema Autofahrergemeinde Backberater Backwarenkomponente Badegeschichte Bambusklitsche Begrüßungsumarmung Bekenntniskorsett Benimmpatzer Beteiligungs-Audit »Bettschonerverein« Bewusstseinskörper Bewusstseinsleben Bilfinger-Pressereise Boulanger-Zuckerstückchen Business School-Student Chaostruppe Content-Lieferant Debattengedudel Distanz-Verkürzung Dividenden-Kritiker Dr.-Oetker-Tochter Echtheitszertifikat E-Gitarren-Geschrammel Ehe-, Mutter- und Tochtergeschichte Eifersuchtsdebatten Einheitsillusion Empörungsbewirtschaftung Engelsuniversum Erkenntniserheller 2

Erweckungsgeschichte Esoterik-Ecke Export-Rabbiner Expressionismusmaschine Fantasiebergwerk Fernsehgesichter Feuerhass Fotogesicht Freiheitsfest Freiheitsfrauen Freiheitsfreunde Freiheitsmänner Freundinnen-Nähe Fürstleinwirtschaft Gadaffi-Anfänger Gaddafi-Leute Gaddafi-Zeit Gefühlsausnahmezustand Gerichtigkeitsgefasel Gethsemane-Spielplatz Glaubens-Basteln Glaubensgymnastik Glaubensmix Glaubens-Shopper Glücksstatistik Granny-Smith-Äpfel Großmachtsbeleidigung Großstadtbäckerei Gründerzeitgeschachtel Hassbrenner Haushaltsausschussstipendium Heldentochter Hirntod-Befürworter Hirntod-Kriterium Hirntod-Kritiker Hirst-Werke Hoccer-Angestellte Hochamtsroutine Hochzeitswochenende Holocaust-Erfahrung Holocaust-Verharmloser Homeoffice-Tag Hut-Wallfahrt 3

Indie-Spinner Jaffa-Orangen Jolie-Müllhaufen Kadaverkarrierist Kampfatheismus Kampfpolitiker Kerner-Kinder Kinderglaube Koalitionsfüller Kokosnussesser Kommerzgeschnipsel Konservierungsmedium Korkschwimmweste Kretschmann-Wende Kulturradiokampf Kündigungsessen Kündigungsspeise Kunstgott Kunst-Industrien Künstlergott Kunstmarkt-Dealer Kunstparty Lifestyledifferenz Lipglosslächeln Liquidationsgemeinden London-Szene Lotte-Verkörperung Lulu-Premiere Lynchforderungen Mädchenspange Märchenprinz-Gatte Mediencocktail Meermeditation Michael-Parkinson-Interview Mindestlohn-Union Möwe-und Basstöpel-Engel Niedriglohn-Ghetto Nordsee-Lagerstätte Organplünderung -Bild Parkhausvideo Partei-Ego Patchwork-Glaube 4

Pillenarrangeur Pillenpünktchen Piratenforderung Popreligion Promigedudel Prominenzgehabe Publikumsgekreische Pünktchenmaler Qualitätssicherungs-Fortbildung Radaukünstler Radfahrerprämie Regelverächter Regressionstrinker Religionsmelange Restreligiösität Ruhestandsrecht Ruhestandssekt Saftbesessenheit Schatten-Vorsitzender Schaufelbewegung Scheindissens Schlagzeilenkünstler Schlecker-Nein Schlecker-Verkaufsstelle Schriftstellerförderung Securitate-Kollaborateurin Shakespeare-Interpretin Shins-Kopf Silberlamé-Kleid Sinn-Skorbut Sofa-Held Sohlenloser Sonntags-Krimiserie »Star Trek«-Sozialismus Stephen-King-Universum Supermarkt- und Discounter-Backstation T-Aktionäre Titanic-Besessener Titanic-Totenstätte Total-Explorationsvorstand Total-Sprecher Tütenpapier Überwindungsmythos 5

Unfugsresistenz Unsinnsfilter Verzweiflungsreise Vierzylinder-Pilzkopfmotor Vorstadt-Moderne Vulgaritätsliberalismus Wahnsinnstheater Wahnwitz-, ein Habgier-, ein Sündenschädel Wolkenschaufler Wolltüte

Substantiv-Substantiv- Komposita mit Präposition/ Präfix: 4

Anti-Mafia-Garantie Anti-Mafia-Maßnahme Post-Oscar-Auftritt Vor-Nazi-Deutschland

Kurzwort-Substantiv-Komposita: 2

CDU-Kronprinz CDU-Männerbund

Substantiv-Adjektiv-Komposita: 11 blumengleich chartsfern flugpistenbreit herzverhärtend kugelschreibergroß leibvergessen seidenkühl sektengleich sterbensbeschleunigend traditionsvergessen welthellhörig

Adjektiv-Substantiv-Komposita: 2

Hardcore-Politiker Solar-Wertschöpfungskette

6

Verb-Substantiv-Komposita: 1

Shut-up-Wink

Adverb-Substantiv-Komposita: 2

Nicht-Bio Nicht-Urlaub

Adjektiv-Adjektiv-Komposita: 8 abstrakt-bunt bourgois-verbohrt geschickt-einfühlsam schmullig-maßlos solidarisch-treu solid-einfallsreich verzagt-verzweifelt wild-wellig

Adverb-Adjektiv-Komposita: 1 quasikatholisch

Derivation: 14

Anrührer an-spiritualisiert Einwecker entkirchlichen Entwicklungslosigkeit hyperradikalisiert Instant-Juden kathedralenhaft Klartexter konfettihaft rabbinerisch rübezahlartig schröderlike Vitriniseur

7

Konversion: 10

Butterzartes Herausposaunen Sich-Arrangieren Sturmumpfiffen Umkurven »Mehr Netto vom Brutto«-Seligkeit »Ach, das ist doch gar nichts«-Geste »Ob-La-Di, Ob-La-Da«-Allradantrieb Fly-in-and-fly-out-Personal Hire-and-Fire-Job

Analyse

gefundene Okkasionalismen in DIE ZEIT, 4.4.2012, Nr. 15

Komposita Derivation Konversion

6% 4%

90%

Abbildung 3, Analyse der Okkasionalismen 8

6.1. Screenshot RefWorks

Abbildung 4, Screenshot RefWorks 9

6.2. DIE ZEIT, Ausgabe 15 vom 04.04.2012

DIE ZEIT

PREIS DEUTSCHLAND 4,000 € WOCHENZEITUNG FÜR POLITIPOLITIKK WWIRTSCHAFTI R T S C H A F T W ISSENI S SEN UND KULTUR 4. April 2012 DIE ZEIT No 15

Der große Bildungstest der ZEIT, TEIL 2 Petra Kelly Oder Grace Kelly?

100 Fragen und Antworten Yoga mit diesmal aus den Ressorts Wirtschaft, Feuilleton Jesus und Reisen Bildungstest Seite 21–28 Meditation in der Kirche, Coaching im Kloster, Beten im Internet: In der modernen Gesellschaft Im gelobten Land basteln sich viele ihre eigene Sie kommen von überall her, Religion. Darf man das? um sich hier zum Rabbiner ausbilden zu lassen. START EINER SERIE ZUR ZUKUNFT Die neuen Juden in Deutschland DES GLAUBENS SEITE 64–66 sind voller Zuversicht Dossier Seite 13–15 Titelbild: »Jesus«, illustriert Smetek fürTitelbild: von DIE ZEIT

Der Frühling Wiederauferstehunghung Wo die Schweiz nicht kann kommen Möbel für den Garten, Tipps und Frühjahrsputz Betreuter Unfug neutral sein muss für den Balkon: Ein Design- Heft für jene, die jetzt lieber Was die großen Religionen zu 150 Euro pro Monat für Eltern, die ihr Kind nicht in die Kita Der Steuerstreit hilft weder Berlin draußen als drinnen sind Ostern eint VON JOSEF JOFFE geben: Dieser Plan nutzt allenfalls der Union VON TANJA STELZER noch Bern VON PEER TEUWSEN ZEITmagazin

lle paar Jahre fallen wie in diesem äre das nicht schön: Weil ich stimmt, dass es Wohlstandsverwahrlosung in ie Schweiz ist ein souveräner Staat ZEIT ONLINE das christliche und das jüdische morgens mit dem Rad zur reichen Familien gibt. Das kommt vor, aber mit einer eigenen Rechtsordnung. Osterfest (Pessach) zusammen. Mit Arbeit fahre und nicht die mit natürlich nicht überall. In vielen Fällen wird es Dies ist ein banaler Satz. Man Zwei Musikerinnen, sanfter etwas ökumenischem Eifer darf Steuergeldern subventionier- so sein, dass eine Hartz-IV-Familie, die das Be- muss ihn aber offenbar für ein Pop, großartiges Debütalbum, man auch Nowruz (»Neuer Tag«) te U-Bahn nutze, bekomme treuungsgeld wählt, einfach nur rechnen kann, paar sozialdemokratische Politiker eine ausverkaufte Tournee einreihen.A Obwohl kein muslimischer Feiertag, ichW monatlich eine Prämie von 50 Euro. Einen auch wenn andere ihr das nicht zutrauen. 150 Dleider nochmals notieren. Diese empfinden den wird er in weiten Teilen der islamischen Welt, Zuschlag von 50 Cent bekomme ich für jeden Euro pro Monat – das ist ein Angebot, das Umstand, dass die Berner Bundesanwaltschaft Eine exklusive Videosession mit vor allem im Iran, rund um den Frühlingsanfang Homeoffice-Tag, weil ich da gar nicht vor die Eltern, die auf jeden Euro schauen müssen, oft Haftbefehle gegen drei Steuerfahnder aus Nord- Boy: www.zeit.de/musik begangen. Lessings Ringparabel (»Alle sind Gott Tür muss. Der Staat zahlt mir dieses Geld, weil nicht ablehnen können. Da spielt es für sie rhein-Westfalen ausgestellt hat, im Stile der gleich lieb«) mal anders; der gemeinsame Nen- ich etwas tue, das gesellschaftlich sinnvoll ist auch keine Rolle, dass sie sich nicht intensiv Empörungsbewirtschaftung »als einen ungeheu- PROMINENT IGNORIERT ner ist der Frühling, das Wieder erwa chen der (ich leiste meinen Beitrag zum Umweltschutz), mit ihren Kindern beschäftigen können. erlichen Vorgang« und »einen unfreundlichen Natur nach langer Winternacht. und weil er mich denjenigen gegenüber, die Es gibt neben den Geringverdienern noch Akt«. Ein SPD-Mann schlägt die Beamten gar Jeder macht’s auf seine Weise. Christen ge- seine Leistungen in Anspruch nehmen, nicht eine zweite Gruppe von Eltern, die sich tradi- für das Bundesverdienstkreuz vor. Das ist ein biss- denken des Opfertodes und der Wieder auf- benachteiligen will. Er unterstützt den Umwelt- tionell seltener für eine Fremdbetreuung ent- chen viel (Wahlkampf-)Getöse – angesichts der erstehung Jesu. Die Juden feiern die Befreiung schutz, aber er ist auch ein liberaler Staat, er will scheiden: die wohlhabenden Akademiker, die Tatsache, dass eine deutsche Steuerbehörde einen aus pharaonischer Knechtschaft und die Wie- dafür sorgen, dass ich frei entscheiden kann, es sich leisten können, ihre Kinder daheim zu Mitarbeiter der Großbank Credit Suisse angestif- dergeburt im Gelobten Land. Iraner und ver- wie ich mich durchs Leben bewege. behalten. Sie haben ein Betreuungsgeld gar tet haben soll, Unterlagen von vermögenden schiedene Schia-Sekten erfreuen sich am Sieg Natürlich gibt es keine Radfahrerprämie. nicht nötig, um frei zu entscheiden. deutschen Kunden in der Schweiz zu besorgen. des Lichts über die Dunkelheit. Aber allen ge- Weil die U-Bahn eben gebraucht wird, auch ich Warum dann der ganze Unfug? Das hat Er kopierte in der heimischen Filiale massen- meinsam ist das Urthema der Auferstehung: könnte bei schlechtem Wetter auf sie angewie- nichts mit den Kindern zu tun, sondern mit weise geheime Unterlagen und reichte sie an Unsterblichkeit des Sohnes Gottes, des jüdischen Volkes, der sen sein. Außerdem hat der Staat nicht so viel der Union. Für sie war das Betreuungsgeld ge- seine Auftraggeber in NRW weiter. So etwas nennt Daniel Cohn-Bendit wünscht sich Natur. Die drei Religionen haben vonein an der Geld, dass er alle Wohlstandsunterschiede aus- dacht als Zeichen der Versöhnung gegenüber man Wirtschaftsspionage. Die muss nach Artikel in einem Spie gel-Gespräch, sein geborgt – und alle zusammen von älteren Kul- gleichen könnte, die daher rühren, dass die jenen Stammwählern, denen sie fremd gewor- 273 des Schweizer Strafgesetzbuches verfolgt Begräbnis zu erleben: »Ich möchte turen, die von dem einen und einzigen Gott Bürger aus weltanschaulichen oder persön- den war. Diese Leute fühlten sich nicht mehr werden. Und so geschieht es – seit zwei Jahren. das sehen, ich möchte die Reden keinen blassen Schimmer hatten. lichen Gründen ihr Leben auf verschiedene verstanden von der Partei, in der eine sie ben- Der Bankmitarbeiter wurde schon verurteilt. hören.« Auf den Einwand, er wer- Das christliche Abendmahl ist der jüdische Weise führen. fache Mutter zum Shootingstar geworden war, Beim Timing aber ist den Schweizern, die de nicht dabei sein können, sagt er: Seder, das Festessen am Vorabend von Pessach. Es gibt keine Radfahrerprämie. Was es aber eine Frau, die zur Symbolfigur für die Verein- sonst für ihr gutes Zeitmanagement weltberühmt »Das ist ein Problem, mit dem ich Die Matze, das ungesäuerte Brot, ist zum »Leib geben soll, ist ein Betreuungsgeld für Eltern, die barkeit von Familie und Beruf wurde, die das sind, ein grober Schnitzer passiert. Die Haftbe- nicht fertigwerde.« Trost mag ihm Christi« geworden, der Wein, der den Juden sich dafür entscheiden, ihr Kind zu Hause zu Elterngeld erfand, um gut ausgebildete junge fehle wurden just in der Abschlussphase eines Tom Sawyer spenden, zu Tränen die Freiheit symbolisiert, zum »Blut, das für behalten, anstatt es in die Kita zu schicken. Diese Frauen zum Kinderkriegen und Weiterarbeiten neuen Steuerabkommens zwischen Deutsch- gerührter Zeuge der eigenen euch vergossen wird«. Neue Bedeutungen, ur- Eltern sollen nicht benachteiligt werden gegen- zu bewegen. Die CDU hatte sich von ihrer alt- land und der Schweiz publik. So konnten sie Totenfeier. Nun ist Tom Sawyer alte Symbole, die auf das gemeinsame mythi- über denjenigen, die eine Kinderbetreuung in eingesessenen Klientel entfernt, weil sie attrak- von den sozialdemokratischen Wahlkämpfern längst unsterblich, Cohn-Bendit sche Erbe verweisen: Befreiung, Erweckung, Anspruch nehmen. Das Projekt ist nicht neu. tiv werden wollte für ein urbaneres Publikum. instrumentalisiert werden. Der Preis allerdings aber kann es noch werden. GRN. Erlösung verheißen die Überwindung des To- Der Streit darüber ebenfalls nicht. Wohl aber, Nun brauchte sie ein Mittel, um diese alten, ist hoch: Sollte das Abkommen scheitern, müsste Kleine Bilder (v.o.n.u.): People Picture/TIFF; des. Fruchtbarkeitssymbole beherrschen alle dass er nun offensiv auch innerhalb des konser- konservativen Anhänger nicht zu vergrätzen. der deutsche Fiskus auf geschätzte zehn Milliar- Ornella Cacace für DZ; Donald Mckay/Agentur drei Feste. Gepriesen wird das Reifen der ersten vativen Lagers geführt wird. Und dass die Klientelpolitik ist immer ärgerlich. In die- den Euro Steuereinnahmen verzichten, die ihm Bridgeman Saat, symbolisiert durch das frische Grün, das Gesellschaft neuerdings wieder sensibler für sem Fall ärgert sie besonders, weil die Mittel, durch die geplante Abgeltungsteuer jährlich zu- an keinem Tisch fehlen darf. Bei Ostern und Gleichberechtigungsfragen geworden ist. Darum die für das Betreuungsgeld ausgegeben werden fließen würden. ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; Pessach spielen das Ei und das neugeborene haben 23 CDU-Abgeordnete jetzt angekündigt, (1,2 Milliarden Euro sind jährlich geplant), Viel schwerer aber wöge ein Scheitern für die ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Lamm einen zentralen Part; bei Nowruz sind sie wollten dem Betreuungsgeld nicht zustim- gerade dort fehlen, wo es um das Wohl der Schweiz. Das Land, das sich ein halbes Jahr- Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Kinder geht, das ja den Befürwortern des Be- 20079 Hamburg es Gersten- und Linsensprossen. Alle zelebrie- men: weil es zu Fehlanreizen führe und weil zu hundert lang am Geschäftsmodell der Steuer- Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: ren sie den Urmythos des ewigen Lebens. erwarten sei, dass gerade Kinder aus Problem- treuungsgelds angeblich so wichtig ist. hinterziehung reichgestoßen hat, versucht seit [email protected], [email protected] Übrigens geht jedem dieser drei Feste der familien nicht in die Krippe geschickt würden. Das Geld fehlt in den Kitas, wo unfassbar ein paar Jahren mittels einer sogenannten Weiß- ABONNENTENSERVICE: Frühjahrsputz (bei den Juden sogar als rituelle Eine Studie des Forschungsinstituts zur schlecht bezahlte Erzieherinnen Streit schlich- geld-Strategie, das schwarze Geld der Steuer- Tel. 0180 - 52 52 909*, Pflicht) voraus, auch dieser ein Symbol des Zukunft der Arbeit über den Effekt des Be- ten, Tränen trocknen, Elterngespräche führen, flüchtlinge loszuwerden. Das Abkommen mit Fax 0180 - 52 52 908*, Neuanfangs. Heidnisch oder monotheistisch? treuungsgelds in Thüringen – das es dort Entwicklungsprotokolle schreiben, die jüngs- Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner E-Mail: [email protected] **) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz, Es tut nichts zur Sache, ist doch der Glaube an schon seit 2006 gibt – belegt, dass sich alle ten Erkenntnisse aus der Qualitätssicherungs- der Eidgenossenschaft, ist der entscheidende max. 0,42 €/Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz die Überwindung von Elend, Angst und tiefs- Befürchtungen gegenüber der böse, aber zu- Fortbildung diskutieren. In keinem anderen Baustein auf dem Weg zu mehr Anständigkeit. PREISE IM AUSLAND: ter Nacht allen gemein, den Natur- wie den treffend so genannten »Herdprämie« bewahr- Beruf stehen der Anspruch an das Personal Man muss das Abkommen nicht mögen, DKR 43,00/NOR 60,00/FIN 6,70/E 5,20/ Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,10/ abrahamitischen Religionen. heiten: Finanzielle Anreize für Eltern, die ihre und die Verantwortung, die es trägt, in einem schließlich schützt es die Anonymität der deut- CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/ An Ostern, Pessach und Nowruz begrüßen Kinder zu Hause betreuen, senken die Frauen- so abstrusen Gegensatz zur Bezahlung. schen Steuersünder weiterhin. Aber es tut auch L 4,50/HUF 1605,00 alle den Frühling, der für die tiefreligiöse Er- erwerbsquote und können negative Folgen für Gerade hat sich herausgestellt, dass die ge- vieles dafür, sie aus der Schweiz zu vertreiben. fahrung der Transzendenz steht. Muss man die frühkindliche Entwicklung haben. Vor al- plante flächendeckende Versorgung mit Kita- Die geplanten Steuersätze sind nämlich höher AUSGABE: dazu an Gott glauben? Heute leben wir wie die lem Geringqualifizierte, Alleinerziehende und plätzen bis 2013 nicht klappen wird. Weil es als in Deutschland selbst. Warum sollte ein alten Israeliten im Zeitalter der Wanderschaft, Eltern mit niedrigem Einkommen bleiben an Kitas fehlt. Und weil es viel zu wenige Er- Deutscher sein Geld noch in die Schweiz brin- wo die Völker sich mischen und reiben. Im dem Arbeitsmarkt fern. zieher gibt, die in den Kitas überhaupt arbei- gen, wenn er dem dortigen Staat mehr davon Buch Exodus, dem Überwindungsmythos Arme Eltern entscheiden sich eher für das ten könnten. geben muss, als wenn er es zu Hause versteuert? schlechthin, steht: »Die Fremdlinge sollt ihr Geld als für den Kindergarten – wer damit ar- Jetzt mal böse gefragt: Und wenn das Be- Deutschland könnte der Schweiz also helfen, nicht unterdrücken, denn ihr wisst um der gumentiert, wird empört zurechtgewiesen: treuungsgeld doch nur geplant wäre, damit ihr schlechtes Image loszuwerden. Dafür bekä- Fremdlinge Herz, dieweil ihr auch Fremdlinge Bloß weil Menschen arm sind, müssen ihnen der Ansturm auf die nicht vorhandenen Kitas me es viel Geld und wohl auch mehr Steuerehr- in Ägyptenland gewesen.« Ob Heide, Christ ihre Kinder doch nicht egal sein! Dass arme nicht allzu groß wird? lichkeit. Diese Art der Nachbarschaftshilfe 15 oder Muselmann – dieses Ethos ist eine aktuel- Eltern ihre Kinder vor dem Fernseher oder müsste eigentlich im Interesse beider Parteien 67. JAHRGANG

le Verpflichtung für alle, gläubig oder nicht. dem Computer parken, stimmt etwa so, wie es www.zeit.de/audio sein. Weil sie vernünftig ist. C 7451 C 4 190745 104005 1 5 2 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 POLITIK

Kirchheim tokolle, ein Strafbefehl wegen Nötigung ist auch dabei. Worte der Woche eine Filiale«, das sagt sie immer Aber das Bild, das sich da zeigt, passt zu dem, was Be- noch. 13 Jahre war sie bei Schlecker, triebsräte in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Wir hoffen, dass das der zuletzt als eine Art Wanderarbeite- Baden-Württemberg alle ganz ähnlich schildern. »Mo- Anfang» einer neuen Ära sein wird.« rin, abgemahnt, gekündigt, weiter- natlich wurde mit der Personaldirektion persönlich fest- beschäftigt und wieder gekündigt. gelegt, was gegen wen zu unternehmen ist« – »und wenn Aung San Suu Kyi, birmanische UndM immer noch spricht sie von »meiner Filiale«, die Fenster sauber sind, schütten Sie einen Kaffee rein, Oppositions führerin, über den Erfolg wenn sie erzählt, wie sie damals diese Schlecker-Ver- Zitat Vertriebsdirektor« – »ich möchte noch einmal aus- ihrer Partei bei der Parlamentsnachwahl kaufsstelle »aufgebaut«, mit eigenem Werkzeug reno- drücklich betonen, dass ich auf Anweisung meiner Vor- viert und einmal über Nacht einen Umzug mitge- gesetzten gehandelt habe und diese Vorgehensweise bei »In der gegenwärtigen Situation macht hat. »Das darf niemand wissen«, hätten ihre der Firma Schlecker üblich ist«. Und so weiter. fühle ich mich verpflichtet, Vorgesetzten gesagt. Dass Frauen wie sie einmal zum »Es war schon ein schönes Schaffen«, sagt Kerstin das Mandat des Präsidenten Politikum werden würden, hätte sich Kerstin Mayer Mayer. Sie hängt an ihren Kolleginnen, sie hielt gern »ein aus Kirchheim bei Stuttgart nie träumen lassen. Nun Schwätzle« mit den Kunden. Und sie mochte das selbst- zurückzugeben.« sind sie es, die »Schlecker-Frauen«. ständige Arbeiten. Bis zu dem Rechtsstreit um die erste Pál Schmitt, ungarischer Präsident, Ein Job bei Schlecker garantierte in der Öffent- Kündigung war sie VVW, Verkaufsstellenverwalterin, erklärt nach einer Plagiatsaffäre um lichkeit schon immer einen Opferstatus. Erst waren zuständig für die gesamte Logistik. »Ich war froh, dass seine Doktorarbeit seinen Rücktritt die Schlecker-Frauen Opfer schikanösen Manage- ich mich hochgearbeitet hatte, und stolz darauf, dass ich ments, dann ökonomischen Missmanagements. Verantwortung hatte über andere Mitarbeiterinnen.«

»Es kommt ja wohl kaum Jetzt werden sie zu Opfern politischer Mobilisie- für Schrank DIE ZEIT Volker (o.); Julian Stratenschulte/picture-alliance/dpa Fotos: Viele Schlecker-Mitarbeiterinnen reden so, auch zu einer Mangelversorgung mit rungsstrategien. Je mehr ein Betrachter die FDP ver- solche, die Schlimmes erlebt haben. Hat sie je nach abscheut, die eine Transfergesellschaft für die Schle- einem anderen Job Ausschau gehalten? Nein, nie. Zahnpasta und Shampoo.« cker-Frauen verhinderte, desto bedauernswerter Eine Arbeitslosigkeit in Zahlen: Kerstin Mayers Patrick Döring, FDP-Generalsekretär, muss er deren Lage offenbar finden. Mann ist Hausmeister, zusammen verdienten die beiden begründet, warum die Politik keine Lehren Es gebe Schlimmeres, als vom Kapital ausgebeutet zuletzt netto ungefähr 2700 Euro. Der Kredit für das aus dem Fall Schlecker ziehen muss zu werden, schrieb Hans Magnus Enzensberger ein- Haus kostet im Monat knapp 1100 Euro, der für das mal, nämlich vom Kapital nicht ausgebeutet zu wer- Auto 240 Euro, hinzu kommen Strom, Telefon, Ver- »Die Schweiz hat ihr Strafrecht. den. Das ist ein cooler kleiner Satz, er passt gut zu ei- sicherungen und das Essen im Kindergarten. Rund Und in der Schweiz ist die nem Schreibtisch in München-Schwabing mit Blick Kerstin Mayer hat gern bei Schlecker gearbeitet. Ihr Gehalt 1000 Euro hatten Mayers bislang, über die sie verfügen auf den Englischen Garten. Aber er passt auch zu dem half, die Schulden für das Haus ihrer Familie zu tilgen konnten. Jetzt, wenn Kerstin Mayer Arbeitslosengeld Verletzung des Bankgeheimnisses Küchentisch vierzig Kilometer südöstlich von Stutt- bekommt, werden davon 450 Euro fehlen. mit Strafe bedroht.« gart. Der Tisch ist abgewetzt, die Küche neu. Es ist das Um den Tisch toben in bester Stimmung die Jun- Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, Land der Häuslebauer, die Mayers sind im Herbst gen, fünf und sechs Jahre sind sie alt. »Die Mama ar- über den Schweizer Haftbefehl eingezogen, Endreihenhaus, 114 Quadratmeter, aus beitet jetzt nicht mehr«, haben die Eltern ihnen erklärt, gegen drei deutsche Steuerfahnder dem Fenster sieht man ihren Geländewagen. Nun und dass sich die Familie nun nicht mehr alles leisten haben sie eine viertel Million Euro Schulden, und könne. Wer den Eltern zuhört, hat den Eindruck, dass »Die Regierung sollte die Kerstin Mayer hat keinen Job mehr. auch den beiden ihre neue Lage noch nicht recht klar 36 Jahre ist sie alt, Hauptschule, keine Ausbil- ist. Wie selbstverständlich sprechen sie von Baumaß- Steuerfahnder für das dung, eine Zeit lang arbeitslos. Dann Schlecker. nahmen, die anstehen. Der Stellplatz für das Auto muss Bundesverdienstkreuz vorschlagen.« Von der Pleite im Januar hat sie auf dem Heim- befestigt werden, der Garten ist noch nicht fertig, eine Thomas Oppermann, parlamentarischer weg erfahren, es stand auf einem Nachrichtenschirm Hecke fehlt auch noch. Könnten sie ihr neues Haus zur Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, in der S-Bahn. Am Freitag kam der Brief des Insol- Not verkaufen? »So weit will ich nicht denken.« zum gleichen Thema venzverwalters. »Um Schlecker als Unternehmen zu Vielleicht muss sie das auch nicht. Kirchheim ist erhalten, war ich gezwungen, eine Wirtschaftlich- ein Wohlstandsparadies, mit Fachwerk, glasierten »Das war ein total verrücktes Spiel. keitsprüfung der Filialen anzustellen. ... Aus dem Schindeln und Mosaikpflaster. Die Arbeitslosigkeit Jetzt wissen wieder alle, daraus resultierenden Arbeitsplatzentfall ist leider liegt unter vier Prozent, sogar die Punks auf dem auch Ihr Arbeitsplatz betroffen.« Zuletzt war Kerstin Bahnhofsvorplatz sehen satt und zufrieden aus. Ein warum sie so viel für die Mayer Springerin, sie arbeitete mal in der einen Fi- Job an der Kasse eines Sportartikelgeschäfts einige TV-Rechte blechen müssen.« liale, mal in einer anderen, immer in Stuttgart. Ger- Orte weiter interessierte Kerstin Mayer nicht, der La- Jürgen Klopp, Trainer des Fußballvereins ne hätte sie sich nach Kirchheim versetzen lassen, den war schlecht zu erreichen und der Job auf zwölf Borussia Dortmund, nach dem aber sie ist ver.di-Mitglied; angeblich befürchtete die Monate befristet. Ihre Ansprechpartnerin bei der Ge- dramatischen 4 : 4 im Bundesligaspiel örtliche Filialleiterin, dass sie, einmal eingestellt, ei- werkschaft hat schon am Tag nach der Kündigung gegen den VFB Stuttgart « nen Betriebsrat gründen würde. drei Vorschläge, wo sie sich bewerben könnte. Und, hätte sie? »Na klar.« Andererseits hat Kerstin Mayer zwei Kinder und Unter Deutschlands Arbeitgebern hat kaum einer keinen Führerschein. »Eine gewisse Flexibilität« sei ZEITSPIEGEL einen so schlechten Ruf wie Schlecker. An Kerstin schon nötig, heißt es bei der Arbeitsagentur. Das ist Mayers Karriere lässt sich das gut erzählen. Es begann es, was sie aus Sicht von ver.di zum Härtefall macht. mit der Kollegin, die sie anlernte und die am Ende der Ist das realistisch? Trifft es entlassene Mitarbeiter in Ausgezeichnet Einarbeitungszeit entlassen wurde, um durch eine armen Regionen nicht viel härter? Ein Anruf in Greves- Ole Häntzschel, Infografiker des ZEITmaga- jüngere und billigere Nachfolgerin ersetzt zu werden: mühlen in Mecklenburg-Vorpommern: Auch Ines zins, ist beim diesjährigen Malofiej-Award in Kerstin Mayer. Und es endete – beinahe – vor acht Gramkow hat bis zu ihrer Kündigung 13 Jahre bei Schle- der Kategorie »Portfolio« ausgezeichnet wor- Jahren mit ihrer ersten Kündigung. Sie weiß noch ge- cker gearbeitet, zuletzt als VVW, sie hat ein Kind, und den. Häntzschel erhielt den Preis in Silber nau, wie sie damals an sich selbst gezweifelt hat, als die zufällig baut sie gerade ihr Haus um. Allerdings liegt die unter anderem für seine Grafiken, die in Zu- Gläschen mit der abgelaufenen Babynahrung in ihrer Arbeitslosigkeit in Wismar, wo ihre Filiale geschlossen sammenarbeit mit ZEITmagazin-Redakteur Filiale gefunden wurden. Wie die Kolleginnen sich den wurde, bei fast 15 Prozent. Sie werde schon etwas Neu- Matthias Stolz entstanden sind, etwa »Wes- Kopf zerbrachen: »Wie konnte das passieren! Wir Sie hat es finden, meint sie, allerdings wahrscheinlich zu terwelles Krawatten« und »Guttenberg hält hatten doch alles überprüft.« Und wie ihr eine Gewerk- schlechteren Bedingungen. »Wir können nicht mehr eine Rede«. Der Malofiej-Award ist der welt- schaftssekretärin die Augen öffnete. Ware jenseits des so auf großem Fuß leben.« Das klingt seltsam, aber an weit wichtigste Preis für Infografik und wird Haltbarkeitsdatums ins Regal zu schmuggeln scheint der mecklenburgischen Küste ist das Leben etwa nur von der Society for News Design vergeben. bei Schlecker eine gängige Praxis gewesen zu sein, um halb so teuer wie im Großraum Stuttgart. Was hier Fritz Schaap hat mit seiner Reportage die Kündigung missliebiger Mitarbeiter zu begründen. schon Luxus ist, reicht dort zum Leben gerade aus. »Grundkurs Islamismus« den CNN Journalist Kerstin Mayer hatte Glück, dass das Arbeitsgericht den ausgedient Kerstin Mayer will gegen ihre Kündigung klagen. Award in der Kategorie Print gewonnen. Der vorgedruckten Standardtext der »Abmahnungen« nicht Gerade weil sie ein Härtefall sei, heißt es bei ver.di, sei freie Journalist hatte vier Wochen lang under- akzeptierte, die ihre Vorgesetzte vorgelegt hatte. das in ihrem Fall nicht aussichtslos. Schleckers Nach- 13 Jahre arbeiteteVON sie FRANK bei DRIESCHNERSchlecker, jetzt muss Kerstin cover in einer Islamschule in Alexandria re- Dank ver.di kann man dies und manches mehr folger werden auch wieder Personal einstellen müssen, cherchiert, die auch bei deutschen Gotteskrie- nachlesen. Es ist eine Quellensammlung von mäßigem Mayer gehen für eine wie sie gebe es immer Verwendung. gern beliebt ist. Seine Reportage war im De- Beweiswert, zusammengesetzt aus anonymen Zu- zember 2010 im ZEITmagazin erschienen. DZ schriften, Fragmenten polizeilicher Vernehmungspro- www.zeit.de/audio POLITIK 4. Aprilp 2012 DIE ZEIT No 15 3

Eine Villa im US-Bundesstaat Connecticut (l). Eine Sozialarbeiterin liefert Mahlzeiten in einem Armen- viertel aus (unten)

Ein Land, zwei Welten Greenwood und Greenwich: Zu Besuch in einer der ärmsten und

einer der reichsten Städte des Landes VON MARTIN KLINGST (m.); alamy/Mauritius Today Photos Images/Your (l.); Tetra Wrba/bab.ch Fotos:

Greenwood, South Carolina/ 44 000 Dollar angehoben. Nach dieser Rechnung wood wieder mit Baufirmen, Großhandlungen, An diesem Montag schaltet Baker im Büro des »Spenden«, sagt Wilson, während er mit einer Greenwich, Connecticut gelten etwa sechs bis sieben Prozent als mittellos. einer Gießerei – und, wie zumindest die Unterneh- Bürgermeisters den Computer aus, ohne irgend- abgebrochenen Kugelschreibermine einen Scheck s gibt Rituale, die sagen mehr über Robert Baker und David Wilson heißen in mer meinten, durch die Einführung des Right to einen staatlichen Topf gefunden zu haben, den über 20 000 Dollar für die Suppenküchen in New den sozialen Status einer amerika- Wirklichkeit anders, doch sie wollen ihre Namen work-Gesetzes. Das ist ein Euphemismus dafür, seine Stadt anzapfen könnte. Vergangenen Som- York ausstellt, »sind effektiver als staatliche Umver- nischen Familie aus als die Anzahl nicht in der Presse gedruckt sehen, nicht einmal in dass Gewerkschaften fast komplett entmachtet mer ist er einmal fündig geworden. Auf der Web- teilung.« Sollte tatsächlich die Reichensteuer ein- der Autos vor der Garage oder die einer ausländischen Zeitung. Sie wollten sich für sind und Löhne massiv gedrückt werden können. site des Landwirtschaftsministeriums fand er ei- geführt werden, werde er seine Mildtätigkeit dras- Höhe der Hypotheken auf das da- diese Reportage auch nicht fotografieren lassen, Als dann die Immobilienblase platzte, erwischte es nen Hinweis auf Bundesmittel für öffentliche tisch einschränken. »Die werden sehen, das geht zugehörige Haus. Going to the nicht einmal von hinten. Baker, weil er sich für Greenwood besonders hart. Grünanlagen. Jetzt schmücken rote und gelbe nach hinten los.« game ist ein solches Ritual. Mit der seinen sozialen Absturz schämt, Wilson, weil er Bis vor anderthalb Jahren war Robert Baker Tulpen den umgepflügten Mittelstreifen von Auch durch Greenwich verlaufen, nicht weit Familie ins Stadion gehen. Vor einigen Wochen Angst vor Neidern hat. noch Manager bei einer Samengroßhandlung mit Greenwoods Main Street. entfernt von Wilsons Büro, Eisenbahnschienen. Eüberschlug Robert Baker, 60 Jahre alt, glühender Auch die Bürgermeister, die zumindest ihre Na- einem Jahreseinkommen von 70 000 Dollar. Greenwichs Flaniermeile heißt Greenwich Ave- Auf der anderen Seite der Gleise gibt es billigen Fan der Universitätsmannschaft der South Carolina men nicht verbergen können, möchten eigentlich Dann kam die Entlassung, was in Amerika von nue. Auf dem Weg zum Treffen mit David Wilson Wohnraum – genauer gesagt: baufällige Sozial- Gamecocks, die Kosten für den jährlichen Besuch keine Schlagzeilen über ihre Städte. Der Demokrat einem Tag auf den anderen geht – und bald darauf passiert man teure Boutiquen und einen Second- wohnungen in verwitterten Häusern. Hier hat sich des Frühjahr-Turniers. Zwanzig Dollar pro Ticket, Welborn Adams sagt, die düsteren Zahlen für Green- folgte die Mitteilung auf dem Arbeitsamt, mit 60 handshop, der als Schnäppchen einen Nerz für Greenwichs neue Unterschicht angesiedelt, Männer dazu eine Runde Coca-Cola und Pommes plus wood seien übertrieben; der Republikaner Peter sei er kaum mehr vermittelbar. Die Arbeitslosen- 4000 Dollar im Schaufenster hängen hat. In einem und Frauen aus Mexiko und anderen lateinamerika- Benzin für die Fahrt von Greenwood zum Spielort. Tesei meint, die Daten für Greenwich zeichneten ein unterstützung in Höhe von 270 Dollar pro Woche Schuhgeschäft zückt ein blondes Mädchen, nicht nischen Ländern, die als Gärtner und Kindermäd- Baker kam für sich und seine fünf Enkelkinder auf zu rosiges Bild. Adams spricht von langwierigen, aber ist längst ausgelaufen. Baker hat keine Kranken- älter als elf Jahre, die elterliche Kreditkarte und chen bei den Reichen arbeiten. Jeder zehnte Be- insgesamt 250 Dollar, die er sich nicht mehr leisten hoffnungsvollen Umbrüchen nach dem Untergang versicherung mehr. Das einstöckige Haus ist noch bezahlt 900 Dollar für ein Paar blaue Lederstiefel. wohner in Greenwich ist inzwischen ein Hispanic. kann, weil er arbeitslos ist. Und wenn ihn irgend- der gesamten Baumwollindustrie, die einst in Green- nicht abbezahlt. Wenigstens sind die drei Kinder Am Ende bleiben womöglich nur die Millionäre etwas aus der Fassung bringt, dann das Gefühl, vor wood jeden zweiten Arbeiter ernährte. Tesei verweist erwachsen. Sonst müssten sie jetzt zu fünft vom avid Wilson ist ein durchtrainierter, und ihr Dienstpersonal. Wilson zuckt mit den seiner Familie als alter, armer Mann dazustehen. auf den Börsencrash und den jähen Absturz der Sekretärinnengehalt seiner Frau Julie leben. Die braun gebrannter Mann. Er mag Schultern und sagt: »Geld regiert die Welt, das ist Vor wenigen Wochen blätterte David Wilson, 58 Haus- und Grundstückspreise, die auch Greenwich verdient bei einem Steuersatz von 30 Prozent 30 Greenwich, den Atlantikstrand, die der Lauf der Dinge!« Jahre alt, glühender Fan des Profi-Teams der New hart getroffen hätten. Doch räumen beide ein, dass 000 Dollar netto im Jahr. Millionäre zahlen auf klare Luft, die umliegenden Hügel, Die Satirezeitschrift The Onion hat der Pro- England Patriots, durch seinen Terminkalender und Greenwood und Greenwich paradoxerweise am ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen nur fünfzehn wo er sich mit seinem Rennrad fit testbewegung Occupy Wall Street im vergangenen stellte fest, dass er am Wochenende des 5. Februar selben Phänomen leiden: der Erosion der Mittel- Prozent Steuer, und Robert Baker sagt jetzt zu sei- Dhält, die gute Verkehrsanbindung an New York. Jahr vorgeschlagen, statt New York lieber das deka- Zeit hatte, mit seinen fünf Kindern zum Superbowl, schicht, die solche Städte politisch und sozial zu- ner eigenen Verblüffung Sachen, für die er andere Aber er meidet die Flaniermeile, wo etliche Kolle- dente Greenwich zu besetzen, das aufgrund seines dem Endspiel der nationalen Football-Liga, zu gehen. sammenhält. In Greenwood zerbröckelt sie, weil vor zwei Jahren noch beschimpft hätte. »Eine Rei- gen anderer Hedgefonds ab zwölf Uhr in einem der hohen Bevölkerungsanteils von Hedgefondsmana- Die Patriots gegen die Giants aus New York. Wilson Menschen wie Baker verarmen. In Greenwich, chensteuer wäre nicht schlecht.« Eine Reichen- Sterne-Restaurants Austern schlürfen. Wilson ist gern auch den Spitznamen »Hedgistan« hat. Die charterte eine Privatmaschine, lud außer seinen Kin- Connecticut, verschwindet sie, weil sie nicht Schritt steuer, wie sie Barack Obama vorgeschlagen hat: keiner, der mit seinem Reichtum protzt. Jedenfalls Modemarke Vineyard Vines, gegründet von zwei dern noch zehn Geschäftspartner an Bord und flog halten kann, seit Millionäre wie Wilson das Preis- Danach müssten Millionäre mindestens 30 Pro- empfindet er einen 40 000-Dollar-Ausflug zum Finanzmaklern aus Greenwich, konterte prompt zum Finale nach Indianapolis. 40 000 Dollar koste- gefüge bestimmen. Es ist Montag, drei Uhr nachmit- zent Steuern auf ihre Einkünfte aus Kapital- Superbowl nicht als protzig Er fährt einen unauffäl- mit einem T-Shirt. Auf der Vorderseite steht te ihn der Ausflug – Logenplätze, Lachshäppchen und tags, Baker parkt seinen schwarzen Pick-up-Truck vermögen zahlen. ligen japanischen Mittelklassewagen, trägt auch im »Occu py«, auf der Rückseite liegt ein Demons- Limousinenservice inklusive. vor dem Büro des Bürgermeisters, einem grau ge- Baker schult sich jetzt selbst um auf Aktien- Büro am liebsten Jeans und T-Shirts und schmiert trant gemütlich auf einer sonnigen Insel und for- Was soll’s, könnte man jetzt sagen. Arm und reich strichenen, einstöckigen Haus in der Main Street händler und hofft, daheim mit Telefon und Inter- sich mittags mit seinen acht Angestellten Sand- dert: »Mehr Eiswürfel für den Kühler!« David – nirgendwo ist der Gegensatz normaler als in Ame- Nr. 418. Politisch standen die beiden früher weit netanschluss ein wenig Geld in der Welt zu ver- wiches in der Büroküche. Wilson gefällt der Spruch. Für ihn ist das die pas- rika. Aber womöglich stehen Baker und Wilson für auseinander, Adams war immer schon Demokrat, dienen, die seinen Absturz mit herbeigeführt hat. Den Verlust von 30 Millionen Dollar während sende Antwort »auf dieses Gerechtigkeitsgefasel mehr als diesen »uramerikanischen« Kontrast, für Baker hat bei den Wahlen 2008 den republikanischen der Finanzkrise hat er schnell verschmerzt. Die von Occupy und Obama«. Er wird 2012 die Re- etwas, das nicht mehr das amerikanische ideologische Kandidaten John McCain und Sarah Palin seine Scheidung von seiner Frau wird ihn mehr kosten, publikaner wählen, deren Spitzenkandidat Mitt Fundament vom individuellen Aufstieg und Glück Stimme gegeben. Aber da hatte er noch einen Job. Er womöglich die Hälfte seines Vermögens. Im Romney seine Sprache spricht. Und noch mehr untermauert, sondern das Fundament der Gesell- geht in das erste Büro links hinterm Eingang. Ein Arm und Reich in Amerika schlimmsten Fall bleiben ihm 100 Millionen Dol- Geld hat: 250 Millionen Dollar. schaft zersetzt wie »ein geruchloses Gas«. So hat der brauner Drehstuhl, ein kleiner Holztisch, ein Com- lar. »Ich kann mich nicht beklagen«, sagt er. In Greenwood sucht Bürgermeister Adams un- Publizist George Packer die wachsende Ungleichheit puter, mehr braucht er nicht. Zwei Städte im Vergleich Wilson selbst ist das, was man einen Philan- terdessen nach einer Million Dollar, um in der In- im Land unlängst in einem Essay beschrieben. throp nennt, und in gesellschaftspolitischen Fra- nenstadt eine Markthalle zu bauen, die die Innen- Robert Baker, ein gelernter Betriebswirt, lebt in wei Stunden lang klickt er sich durchs Greenwich gen war er bislang ein Liberaler. 2008 hat er Ba- stadt beleben und Investoren anziehen sollen. Connecticut Greenwood, einer Stadt mit 23 000 Einwohnern Internet und durchforstet das dünne USA rack Obama gewählt. Jedes Jahr spendet er min- »Wie sonst«, fragt er, »soll neue Jobs für die Mittel- im Bundesstaat South Carolina. Greenwood hält und trotzdem unübersichtliche Netz destens eine halbe Million Dollar. Er sponsert zwei schicht entstehen?« einen amerikanischen Rekord: Nirgendwo sonst, staatlicher Förderprogramme. Green- Lehrstühle an der renommierten Cornell Univer- Eine Markthalle mittendrin, sagt er, könnte sagen die Statistiker des U.S. Census Bureau, ist woods jährliche Steuereinnahmen sind Greenwood sity, baut Schulen in Brasilien und Südafrika. vielleicht auch die unsichtbare Grenze zwischen South Carolina das durchschnittliche Jahreseinkommen einer vier- Zauf zwölf Millionen Dollar geschrumpft, gerade Obendrein hat er in den vergangenen Jahren 30 Schwarzen und Weißen aufbrechen. Jetzt, im Jahr köpfigen Familie zwischen 2005 und 2010 so tief erst wurden an den fünf öffentlichen Oberschulen Kindern die teure Universitätsausbildung bezahlt. 2012, nach vier Jahren Obama, müsste das viel- gesunken: um 28 Prozent auf knapp 31 000 Dol- drei Dutzend Lehrer entlassen. Die kostenlosen Bürgermeister Tesei, ein Republikaner, freut leicht möglich sein. lar. Und nirgendwo sonst ist die Zahl von Men- Schulmahlzeiten, die in Greenwood sieben von sich über so viel Wohltätigkeit in einer Zeit, da Was immer Greenwood auf die Beine stellt, am schen in Armut so drastisch gestiegen: von 11,8 zehn Kindern in Anspruch nehmen, können noch auch Greenwich kürzertreten muss. Nicht zuletzt, Ende ist die Stadt auf Gedeih und Verderb auf auf 26,4 Prozent. Als mittellos gilt in Amerika eine finanziert werden. Die Grundstückspreise sind am weil immer mehr Familien aus der Mittelschicht Staatsgeld angewiesen. Bürgermeister Adams hätte Familie, die nicht mehr als 23 000 Dollar im Jahr Boden, für 120 000 Dollar kann man hier ein Armutsquote* Ethnische Zugehörigkeit in % wegziehen. Sie finden keine bezahlbaren Häuser darum keine Einwände gegen eine Reichensteuer, zur Verfügung hat. Grundstück samt Haus kaufen, wenn man denn an mehr, zahlen damit aber auch keine Grundstücks- die ein paar Dollar, zum Beispiel aus Greenwich, David Wilson, ein Hedgefondsmanager, wohnt Greenwoods Innenstadt irgendetwas attraktiv fin- 26,4 % Weiße Afroamerikaner steuer mehr in die Greenwicher Kassen. auch in seine Kassen lenken würde. in Greenwich, einer Stadt mit 61 000 Einwohnern det. Den Stadtkern mit Laientheater und einigen Hispanics, andere Wie die meisten Einwohner lehnt es Tesei ab, Robert Baker aus Greenwood will dieses Mal im Bundestaat Connecticut. Greenwich gehört zu Restaurants, denen jetzt die Kunden ausgehen, zer- 10,7 Lücken im Gemeindehaushalt durch höhere Steu- übrigens für Obama stimmen. Wegen der Reform den reichsten Kommunen des Landes. Das durch- schneidet die flugpistenbreite Main Street. Einst 4,9 14,2 ern oder neue Schulden zu schließen. Fiskalisch der Krankenversicherung, die Obama durchgesetzt schnittliche Familieneinkommen ist trotz Wirt- lagen hier Eisenbahnschienen, auf denen die 44,6 denkt Greenwich wie die Republikaner. Das kann hat. Und wegen der Reichensteuer. Die Reform 5,8 % 44,7 schafts- und Finanzkrise nicht gesunken, sondern Baumwolle für die Textilspinnereien angeliefert 80,980,9 sich die Stadt auch erlauben, denn wenn es kneift, der Krankenversicherung droht gerade durch den gestiegen, auf 130 000 Dollar. Nur 5,8 Prozent wurde. Südlich der Schienen siedelten die Schwar- springt im Zweifel der Millionärsclub ein. Ohne Obersten Gerichtshof gekippt zu werden. Und die der Leute sind arm. Doch weil die Lebenshaltungs- zen, nördlich die Weißen. Die Textilfirmen sind Green- Green- Green- Green- diese Großzügigkeit hätte die öffentliche Reichensteuer wäre im gegenwärtigen politischen wood wich wood wich kosten in Greenwich so hoch sind, hat die Stadt längst weitergezogen, die Segregation ist bis heute Highschool nie ein Hallenbad oder ein Filmstudio Klima auch bei Obamas Wiederwahl ein mittleres die Armutsgrenze auf ein Jahreseinkommen von geblieben. Ökonomisch berappelte sich Green- *nicht mehr als 23 000 $/Jahr ZEIT-Grafik/Quelle: U.S.-Census bauen können. Wunder. 4 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 POLITIK Auf

Wahlkampf 1999: Koch übergibt Merkel Entzug Die Spendenaffäre: Kochs und Schäuble Unterschriften Minister Franz Josef Jung tritt 2000 gegen die doppelte Staatsangehörigkeit zurück, er selbst bleibt im Amt

in Politikerleben, zusammenge- Roland Koch war Ministerpräsident, CDU- Man rede da jetzt, sagt Koch, über Dimensionen, schnurrt auf eine Fotogalerie von die für »99,99 Prozent der Menschen völlig indis- einem Meter: er mit Kohl, er mit Kronprinz, ein Machtpolitiker. Jetzt ist er kutabel, ja unerträglich« seien. »Wo fängt mensch- Köhler, er mit dem Dalai Lama, er Chef der zweitgrößten deutschen Baufi rma. liches Leben an?« überschrieb die Titanic einmal mit Königin Beatrix. Auf das Bild eine Postkarte, auf der er abgebildet war, er sah mit Angela Merkel hat die Kanz- Aber kann einer wie er der Politik einfach so darauf aus wie ein Schwein. Bei kaum einem Poli- lerin mit einem schwarzen Edding tiker ging die Satire so unter die Gürtellinie, bei VON TINA HILDEBRANDT geschrieben: »Herzlichen Dank für die gute Zu- den Rücken kehren? keinem war die Einigkeit so groß, ihm jede Skru- Esammenarbeit«. Die Fotos sind aus einem Jahr- pellosigkeit, jede Intrige zuzutrauen. Was ihn am zehnt, der Mann darauf sieht auf fast allen gleich meisten nerve, hat Koch einmal gesagt, als er noch aus. Auf der Fensterbank lauert das grüne Plüsch- im Amt war, dass er keinen Satz mehr sagen kön- krokodil, das ihm Joschka Fischer einst schenkte, ne, ohne dass dahinter ein anderes Motiv vermutet im Regal liegen die Füller, mit denen er die Koali- würde. Meistens kein edles. tionsverträge 1999 und 2009 unterzeichnet hat. »Mit der Empfindlichkeit des normalen Bürgers Irgendwann in diesem langen Gespräch im in der Wirtschaft oder in den Medien überlebt ein 9. Stock eines unscheinbaren Bürogebäudes in Politiker keine zehn Tage«: Das sagt keine Mimose, Mannheim wird der Mann, der all diese Souvenirs kein Gescheiterter. Sondern ein Hardcore-Politi- seines alten Lebens in sein neues verpflanzt hat, ker, dem man vieles abgesprochen hat, aber nie den sagen, das Schlimmste sei der Zwang zur Selbst- Erfolg. Selbst so einer findet die Bedingungen, un- beschreibung. Der Zwang, immer ein Bild nach ter denen Politik gemacht wird, unerträglich. außen abzugeben: »Man muss aufpassen, dass die Trotzdem hat er immer wieder selbst an seinem Maske nicht zu eigenen Gesichtszügen wird.« Image mitgewirkt, es gepflegt und wiederbelebt. Kronprinz, Hoffnungsträger, konservatives Idol, Weil es auch Teil seines Erfolgs war. Ein Mecha- Schurke: Roland Koch war immer mehr als ein Mi- nismus der Zwangsmaschine, die Politik auch ist. nisterpräsident. Er hat die Republik gestaltet und Koch und sein Image. Im hessischen Landesver- gespalten. Er galt als der hellste Kopf einer Genera- band, Stahlhelmer-Fraktion genannt, stand der tion konservativer Politiker, von denen nach Chris- junge Koch eher unter dem Verdacht, zu weich zu tian Wulffs Rücktritt keiner mehr übrig ist. Er galt sein, zu liberal. Als Wolfgang Schäuble 1999 eine zugleich als bösester von allen, als Beleg dafür, dass Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staats- Politik den Charakter verdirbt. Ins Amt gekommen bürgerschaft erfand, griff Koch sie auf und gewann mit einer ausländerfeindlichen Kampagne, gehärtet die Wahlen in Hessen. Der Grundstein für das spä- im Stahlbad der CDU-Spendenaffäre, 2008 gegen tere Image war gelegt. Schaden und Nutzen hielten den Machtverlust gekämpft mit Attacken gegen sich die Waage: Bei den Konservativen war Koch kriminelle jugendliche Ausländer: Viele sahen in jetzt als harter Knochen bekannt, bei den Linken Koch einen, der sich im Amt zur Kenntlichkeit ent- als gefährlich reaktionärer Politiker. Kaum im Amt, stellt hat. Die Inkarnation des Politikers. wurde die Spenden-Affäre aufgedeckt. Kein Wun- Seit gut einem Jahr ist er nun Vorstandsvorsit- der sei es, meint Koch, dass sie ihn infiziert habe, zender beim Baukonzern Bilfinger Berger. Für das auch wenn er bis heute darauf beharrt, nicht Teil Unternehmen machte Kochs Bekanntheit den des Systems gewesen zu sein. Den Imageschaden größten Reiz der Personalie aus. Für Koch ist das sah er kommen, hielt ihn aber für alternativlos. Unternehmen so etwas wie seine persönliche Ent- Wenn man ihn auf sein Image anspricht, dann ziehungskur: die Möglichkeit zu entgiften. Sich als sagt er, dass eine Narbe geblieben sei. Nicht das Mensch Koch zu erholen von dem Image, das der Wort brutalstmöglich schmerzt ihn, sondern die Politiker Koch immer wieder erzeugt hat. Vermutung, er sei ein korrupter Lügner. Als Mi- Kann so einer die Politik einfach verlassen, ein nisterpräsident arbeitete er daran, sein Image zu anderes Leben beginnen, sich verändern? korrigieren. Dann kam der Wahlkampf 2008. Die Ganz sicher war Roland Koch sich selbst nicht, Macht drohte dem Machtmenschen Koch zu ent- als er sich vor zwei Jahren darauf einließ, in unregel- gleiten. Und Koch tat, was er schon so häufig mit mäßigen Abständen Auskunft über sich zu geben. Erfolg getan hatte: Er rettete sich auf Kosten des eigenen öffentlichen Bildes, mit einer Kampagne Juli 2010, ein verregneter Sommertag. Roland gegen kriminelle ausländische Jugendliche. Dass Koch empfängt in der edlen Wiesbadener Staats- sein Bild diesmal nicht mehr reparabel und dieser kanzlei. Sein Abschied auf Raten hat begonnen, Sieg sein letzter sein würde, hat er damals geahnt. den CDU-Landesvorsitz hat er schon abgegeben. Er hat es in Kauf genommen. Im September soll ihm Volker Bouffier als Minis- Das Schwerste sei nicht das Wegstecken, sagt terpräsident nachfolgen. Koch. Das Schwerste sei es, empfindlich zu blei- Bouffier, sein Innenminister und Freund aus Ju- ben. «Wenn man alles wegstecken kann, dann lebt gendtagen. Im Andenpakt, dem CDU-Männerbund, man in einem Kokon, der einen gar nicht mehr den die Hoffnungsträger der Generation Koch ge- wahrnehmen lässt, was andere Menschen wahr- schlossen hatten, war Bouffier derjenige gewesen, der nehmen«, sagt er. »Die Politik ist nicht mein Le- den Ton angab. Koch hat ihn überflügelt. So wie er ben«, hat Koch gesagt, als er seinen Abschied be- fast alle aus seiner Generation überflügelte. Er war kannt gab, und dass man aufpassen müsse, dass Reservekanzler, Schatten-Vorsitzender, die Alterna- Mensch und Amt nicht verschmelzen. tive zu Angela Merkel. Er war auch der Erste, der Vor ihm liegt der neue Job: Am 1. Juli wird er merkte, dass die Zeit über den Andenpakt hinweg- Chef von Bilfinger Berger, 58 000 Mitarbeiter gegangen war. Dass eine historische Anomalie na- weltweit, zehn Milliarden Euro Umsatz und wie mens Merkel die natürliche Thronfolge bei den Kon- der neue Chef von nicht ganz einwandfreiem Ruf. servativen ein für alle Mal verändert hatte. Am U-Bahn-Bau in Köln, der zum Einsturz des Roland Koch trägt seine Uniform: rote Krawatte, Stadtarchivs führte, war Bilfinger Berger beteiligt, blauer Anzug, wie immer. Noch stützt ihn sein Amt. Auf seiner letzten Sommerreise als in Nigeria gab es Korruptionsgeschichten. Koch scherzt über sein anstehendes »Langzeit-EKG«. Ministerpräsident besuchte Roland Kann er das? Zum ersten Mal seit Jahren steht für press; Torsten Silz/dapd/ddp; Michael Probst/ ddp images/AP; Roberto Pfeil/dapd/ddp; Probst/ Sepp Spiegl/imago Silz/dapd/ddp; Michael (v.l.n.r.) Torsten press; Er ist obenauf, weil sein Plan so gut funktioniert hat. Koch, hier mit Fraport-Chef Stefan ihn diese Frage wieder im Raum. Kochs größte Leis- Was war der Plan? »Einen reibungslosen Übergang Schulte, die neue Landebahn tung auf dem Bausektor ist bis dato das Mauern hinbekommen, bei dem ich die Chance habe, mich des Frankfurter Flughafens, die von eines neuen Briefkastens. Den brachte er in den acht- von den Menschen, die mir wichtig sind, aus dieser Bilfinger Berger gebaut wurde ziger Jahren eigenhändig an seinem Haus an, weil Funktion zu verabschieden und die CDU ohne Ver- der vorhandene Schlitz zu dünn war für die Akten, letzung ihrer Identitätsmerkmale an meinen Nach- die Koch rund um die Uhr anliefern ließ. Nun wird folger zu übergeben.« Er spricht wirklich so. Wenn Patt, Andrea Ypsilanti, Kochs Herausfordererin, Sechziger-Jahre-Bau. Er ist jetzt raus, in einer Zwi- ßen ließ. Schmerzen auszuhalten fällt ihm nicht er sich wieder durch Papier fressen. Als Ministerprä- Sprache etwas mit Denken zu tun hat, dann lässt sich konnte nicht gewählt, er selbst nicht abgewählt schenwelt, aber zugleich in der angenehmen Situa- schwer. Schlimmer ist es für Roland Koch, Lob sident ließ er sich lieber Schriftstücke als Vermerke feststellen: Bei Koch hat alles einen Anfang und ein werden. In der Neuwahl Anfang 2009 rettete sich tion, zu wissen, dass er bald wieder drin sein wird. und Gefühle wie an seinem Abschiedsabend aus- bringen, Fakten also statt Meinungen. logisches Ende. Er ist keiner von denen, bei denen seine Regierung nur dank der FDP. Koch wird neuer Chef von Bilfinger Berger. Hinter zuhalten. So gesehen: Der Bandscheibe sei Dank. Immer wieder betont er, dass er nicht geflüchtet jeder Satz im Nirwana endet. Maximale Kontrolle, Seiner eigenen Zukunft nähert sich Koch wie er ihm liegen mehrere Urlaube – Südfrankreich, die Öffentlich geweint hat Roland Koch nur ein- sei. Er mache jetzt das, was er vorher gemacht habe, das bedeutet auch: maximale Distanz. sich jedem Ereignis genähert hat: brutal rational und Karibik, die Berge – und eine Wirbelsäulen-OP. mal: als sein Freund Franz-Josef Jung 2000 seinen nur mit anderen Mitteln. In seinem Beharren da- Koch weiß noch nicht, was danach kommt. ungerührt. Das Steckerziehen hält er für seine Pflicht, Die Verwandlung des Kampfpolitikers Koch Posten als hessischer Generalsekretär der CDU ab- rauf, sich nie verändert zu haben, gleicht er Joschka Eine Beratertätigkeit soll es nicht sein, bei der man er mache das nicht zum Vergnügen, sondern, um die hat mit Schmerzen begonnen. Zehn Tage vor dem gab, weil einer die Verantwortung für die Spenden- Fischer, seinem einstigen Gegner und heimlichen viele gute Ratschläge gibt, aber für nichts verant- nötige Distanz zwischen Mensch und Amt wieder Ausscheiden aus dem Amt hat es angefangen, am affäre übernehmen musste. Ihre Vorgänger hatten Vorbild. Als sei Veränderung ein Scheitern. wortlich ist. Sich messen, Wettbewerb, das war herzustellen. »Man reformiert wenig Dinge, die man schlimmsten war es am Abschiedsabend. Die Band- Geldströme aus schwarzen Kassen, die auch nach Fast jeder Politiker startet als Idealist. Die wenigs- immer Kochs Element. Sein Ziel: Erster sein. Ihm selbst schon einmal reformiert hat«, sagt er. scheibe. Man könnte glauben, dass das kein Zufall Hessen flossen, als jüdische Vermächtnisse dekla- ten bleiben es. Was ist aus Roland Kochs Träumen hätte man, im Guten wie im Schlechten, alles zu- Die Versuchsanordnung ist folgende: 24 Stunden war. Koch weist das ins Reich des Unfugs: »Dass riert. Koch fand sich, gerade im Amt, auf einem geworden? Er sei, sagt Koch, nun mal »ein Mensch, getraut. Doch für ihn liegt der Trost nicht im Kon- am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr mein Wirbelsäulen-Sequester weiß, dass ich aus Pulverfass wieder. Er kündigte «brutalstmögliche der stärker in der Welt der Ziele als in der Welt der junktiv: Erster konnte er nicht mehr werden. ist man als Ministerpräsident verantwortlich. Jeder dem Amt scheide, glaube ich nicht.« Schön war die Aufklärung« an. Brutalstmöglich, ein Adjektiv, das Träume lebt«. Einer, der die Bilder von Träumen Nun ist er der Erste, der etwas Neues wagt. In Anruf kann wichtig sein, eine Katastrophe ankün- Sache nicht, weil halt »massiv den Nerv blockie- bis heute an ihm hängen geblieben ist. Denn er schlechter beschreiben könne als die Mechanik von Deutschland war es in der Politik bislang üblich, dass digen, auf die man sofort reagieren muss. Wenn man rend«. Seinen Körper hat er immer als hochgezüch- machte einen folgenschweren Fehler: Er wisse Entwicklungen. Eine akkurate Selbstbeschreibung, man sich ihr ganz verschrieb oder gar nicht. Adenauer, so lange in so einem Amt sei und auf einmal nicht teten Motor betrachtet, als Vehikel. Er joggt nicht, nichts von Vorgängen außerhalb der offiziellen man kennt das von ihm. Was überrascht, ist sein Brandt, Schmidt, sie alle kamen spät in die Politik mehr, so Koch, »muss das ja eine Wirkung haben. um sich oder anderen etwas zu beweisen. Für ihn Buchführung, sagte er. Das war nicht ganz die Eingeständnis, dass er das bedauerlich findet. und blieben dort. In den Sielen sterben, nannte man Das interessiert mich.« ist das eher eine Frage der korrekten Wartung. Wahrheit. Koch musste sich korrigieren. Die Ge- Was also waren und sind die Ziele? Sein Ziel sei das. Koch gehört zu einer Generation, die kein Leben Der Plan nach der Übergabe: den Ausstieg schaf- Der Abschied auf Schloss Biebrich war eine be- schichte hatte Spätfolgen, nicht nur für Kochs es immer gewesen, dass es Menschen besser gehe. vor der Politik kannte, aber für sich beschlossen hat, fen. Einen Urlaub pro Monat hat er seiner Frau für sondere Etappe auf dem Weg nach draußen gewe- Image. Sie war der Grund dafür, dass später Franz- Roland Koch ein Weltverbesserer? »Wer in den dass es ein Leben nach der Politik geben soll. die Zeit nach dem Rücktritt versprochen, für all die sen, ein Kulminationspunkt, wie er sagt. Für die, Josef Jung Minister in Merkels Kabinett wurde politischen Beruf geht, ohne die Welt eine bessere Wechsel wie seinen habe es bislang nicht viele abgesagten Verabredungen, die versauten Wochen- die dabei waren, war es ein Abend des Erstaunens. und nicht Roland Koch selbst. Koch, so sah er es, machen zu wollen, der hat den Grundansatz nicht gegeben, stellt er zufrieden fest. Immerhin habe er enden, die Nicht-Urlaube der vergangenen elf Jahre. Lieder von Udo Jürgens gab es zu hören, zu sehen war seinem Freund noch etwas schuldig. verstanden«, sagt er. »einen niemandem zu wünschenden, unschätzba- einen deutlich gerührten Roland Koch. Keine Trä- Die Fähigkeit, die Öffentlichkeit zu ertragen, ren Vorteil: Ich war gefühlt schon mal draußen.« Februar 2011. Koch haust in einem Übergangs- nen, Gott bewahre, aber wippende Füße und eine sei die wichtigste Voraussetzung für einen Politi- August 2011. Raum Titania im Leipziger Hotel

Fotos (S. 4 und 5): Kai Hartmann/imagetrust (groß); Roberto Pfeil/AP/ddp; Frank Darchinger/darchinger.com; Thomas Grabka/action (S.Hartmann/imagetrust 4 und 5): Kai (groß);Fotos Roberto Pfeil/AP/ddp; Darchinger/darchinger.com; Frank 2008 war das. In Hessen gab es nach der Wahl ein büro im Innenministerium, einem schmucklosen Gesichtsfarbe, die auf erhöhten Innendruck schlie- ker, sagt Koch. Am Pranger stehen nennt er das. Westin, Vorbereitung auf die jährliche Pressereise POLITIK 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 5

Der Untersuchungsausschuss: Der Freund: Den Dalai Lama Der Nachfolger: 2010 tritt Die Kanzlerin: An Angela Merkel, Das neue Leben: Seit 2011 ist Koch wird 2001 in Berlin zur unterstützt der Buddhist Koch als Ministerpräsident hier auf dem CDU-Parteitag Koch Vorstandsvorsitzender Spendenaffäre befragt Koch schon seit Jahrzehnten zurück, ihm folgt Volker Bouffier 2010, kam Koch nicht mehr vorbei von Bilfinger Berger von Bilfinger Berger. Um den ovalen Holztisch Der Neue, hört man derweil im Unternehmen, Nun spielt die Welt verrückt, die Politik labo- Februar 2012, Mannheim, das letzte Gespräch, es hen. »Vielleicht sieht man es nach einem Jahrzehnt stehen cremefarbene Ledersessel, auf jedem Platz sei ausgesprochen höflich, es fallen gar Worte wie riert am Rande der Überforderung, aber er läuft findet statt in Roland Kochs neuem Büro. Neben noch – ich glaube, ich habe es gesehen. Aber sieht liegt eine blaue Schreibunterlage mit Block und »liebenswürdig« und »angenehm«. Stefan Schulte, auf Baustellen herum. Erträgt er das? Er staune, Krokodil, Koalitionsfüllern und Fotos sieht man man es nach anderthalb Jahrzehnten noch? Da Kuli. Roland Koch hat außerdem sein iPad 2 vor der Chef von Fraport, der Koch schon in seiner wie schnell die Politik in die Ferne rücke, sagt ein quadratisches Bild: »Wait here for further in- wird’s schwierig«, sagt Koch. sich liegen, daneben ein Brillenputztuch, einen Zeit als Politiker kannte, nennt ihn eine »Persön- Koch – und kann doch in einer Sekunde von null structions«. In Wiesbaden hatte es noch ein zweites Ein Politiker gehöre nicht sich selbst, sondern Kuli und Traubenzucker. Er trinkt Tee, wie immer, lichkeit, die Wärme ausstrahlt«. auf hundert schalten, von maintenance zur Ret- mit der Aufschrift »LIEBE« gegeben. Die LIEBE der Öffentlichkeit, das war immer Kochs Über- wenn es keine Cola gibt. Hat der Mensch sich verändert? Oder verändert tung Europas. Die Aufregung hält er für leicht ist nicht mehr da. zeugung. Er meint damit: Politiker müssten die »Viele von Ihnen«, sagt Koch, »haben den Vor- sich einfach die Wahrnehmung, wenn die Zwangs- übertrieben. Jedenfalls seien die Staatsschulden Was hat sich verändert in seinem Leben? »Die Deutungshoheit über ihr Image abgeben und das teil, dass sie schon bei einer Bilfinger-Pressereise mechanismen der Politik und der Öffentlichkeit nicht so stark gestiegen wie die Aufregung darüber, Wahrnehmung von Lebenssachverhalten aus dem aushalten. Er hat nicht zu denjenigen gehört, die dabei waren – ich nicht.« Sein Nachbar zur Linken nicht mehr wirken? stellt er in der Kaffeepause betont gelassen fest. Bereich der Politik ist geringer geworden und aus die Öffentlichkeit überzeugen wollten, dass sie ei- trägt eine IWC-Uhr, sein Nachbar zur Rechten Koch schaut vergnügt in die Runde: »Sie wollen Dann bricht er auf zum Kraftwerk Lippendorf dem der Wirtschaft hat sie zugenommen.« Lebens- gentlich »ganz anders« sind. Wie anstrengend das eine Rolex. Insignien der Macht, so wie der Anzug- alles wissen, das werden Sie aber nicht erfahren.« bei Leipzig und nach Leuna im Chemiedreieck sachverhalte. Es hat geklappt, er ist jetzt wieder drin, war, stellt er jetzt erst fest. ärmel, bei dem man wie zufällig den unteren Knopf Es geht um seine Strategie, erst im November will von Sachsen-Anhalt. Rohre, Stellwände, Kühltür- die Zwischenzeit mit ihrer Offenheit ist vorbei. Koch Sieg um jeden Preis, auch um den Preis der offen lässt, um zu zeigen, dass es sich um einen er sie öffentlich machen. Den Zeitpunkt selbst zu me, Klärschlamm, Bilanzen, Börsenwerte, das ist hat sich seine neue Welt antrainiert, mit der Kraft Selbstvernichtung, das war immer die Methode Maßanzug handelt. Man sammelt in diesen Krei- bestimmen war ihm immer wichtig, er wollte Au- jetzt seine Welt. Bei der Einfahrt auf das Firmen- der Autosuggestion, die jeder gute Politiker be- Koch. Er hat den Preis klaglos bezahlt. »Ein Wun- sen gern Uhren, Füller oder Autos, die Modelle tor der eigenen Geschichte bleiben. Es gab Speku- gelände von Leuna wird Koch ungeduldig, als er herrscht. Und mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit, der, dass ich überlebt habe«, hat Koch in einem der heißen Hamptons, Marguerite Duras oder E-Type. lationen, ob er nach Berlin kommen werde, als Su- dem Pförtner etwas erklären muss, er war doch die vor nichts haltmacht, nicht mal vor ihm selbst Gespräche gesagt, da ging es um die Spendenaffäre. Roland Koch nimmt seine Uhr ab und legt sie perminister, zuletzt als Nachfolger von Wolfgang neulich schon mal da. Es ist ein Moment, in dem Ist Roland Koch noch ein Politiker? Bei jedem Der größte Unterschied zu früher: Der Druck hat vor sich auf den Tisch. Auch er sammelt Uhren, zu Schäuble. Da war Koch längst klar geworden, dass man denkt: Seine neue Welt könnte ihm schnell Treffen kam diese Frage auf, meistens gab es einen abgenommen, die ständige Sprungbereitschaft. Hause füllen sie eine ganze Kiste. Manche haben er auch als Superminister immer eine abhängige zu klein werden. Moment des Zögerns, dann ein Sowohl-als-auch. Am 18. März steht er unter seinen Parteifreun- Werbeaufdrucke. Uhren, die seiner heutigen äh- Größe von Angela Merkel bleiben würde. Sie wäre Wenige Monate später, im November 2011, Diesmal kommt die Antwort schnell. »Nein, ich den, in einer der hinteren Reihen der Bundes- neln, kennt man aus Werbeblättchen, sie heißen es gewesen, die seine Geschichte geschrieben hätte. legt Roland Koch seine Messlatte auf: Gewinn bin ganz sicher kein Politiker mehr.« Kein Zweifel versammlung. Der Bundespräsident wird gewählt, »Modell bicolor« und kosten keine hundert Euro. Einer der Gründe dafür, dass er jetzt hier im Raum verdoppeln. Von 8,2 Milliarden Leistung auf 11 soll entstehen. Das Wörtchen »ganz« hat er bei der Koch ist Wahlmann der CDU. Er ist zum ersten Natürlich trägt Koch auch seinen blauen Anzug. Titania sitzt und nach dem Laserpointer sucht. bis 12 Milliarden im Jahr 2016. Bilfinger hat ei- Autorisierung der Zitate extra noch nachgeliefert. Mal hier, seit er der Politik den Rücken gekehrt hat. Gut möglich, dass es derselbe ist, mit dem er 1999 Die Uhr wird er weiter tragen, ganz bewusst. Er nen Großauftrag geangelt: In den nächsten zehn Koch wirkt geradezu unverschämt entspannt, Früher gehörte er in diesem Kreis zum Zen- in den Wahlkampf gezogen ist. Seit einem Monat kennt die Wirtschaft und ihre Spielregeln, aber er Jahren wird der Konzern die 1300 Gebäude der er weiß, dass er zufrieden sein kann. In zehn Tagen trum, jetzt sei er ein Teilnehmer am Rande, sagt ist er nun also ein Boss der etwas anderen Art. Die will nicht ganz in ihr aufgehen, so wie er nicht Deutschen Bank warten und renovieren. Ein Stra- wird er die neuen Ergebnisse seines Unternehmens Koch eine Woche später in einem kurzen Telefo- Wirtschaft wird sich an Koch mindestens so sehr ganz in der Politik aufgehen wollte. Wie oft war er tegieprogramm wurde aufgelegt, BEST steht für mitteilen: ein Gewinnplus von 39 Prozent auf 394 nat. Ein bisschen war es wie ein Klassentreffen, gewöhnen müssen, wie er sich an sie. In der Politik als Politiker der Einzige am Tisch, der weniger als »Bilfinger Berger escalates strength«. Das Aus- Millionen Euro. auch wenn er diesen Begriff im Hinblick auf die war Koch immer einer der wenigen Klartexter. 20 000 Euro im Monat verdiente. Nun wird er zu landgeschäft soll ausgebaut, die Teilkonzerne sol- Die Gefahren des berufsbedingten Schadens, Bundesversammlung nicht benutzen würde: Man Nun spricht er über »Personen, die die coverage denen gehören, die am meisten am Tisch verdie- len enger vernetzt werden. »Kann man ambitio- den der Mensch erleidet, die hält er in Wirtschaft hat eine wichtige Zeit miteinander verbracht, aber verantworten«, über returns per share, compliance, nen. Auf das ihm zustehende Übergangsgeld, rund nierter sein als wir?«, fragt Koch. Das »wir« geht und Politik für dieselben: Arroganz und Selbst- sie ist vorbei. Man hat sich einmal gekannt. Ob concessions und building services, er redet übers sich 50 000 Euro, hat er verzichtet. Geld und Status- ihm mühelos über die Lippen. Branchendienste gefälligkeit, die unvermeidliche Verwachsung von man sich noch kennt, weiß man nicht genau. committen. Man braucht einen Übersetzer, um all symbole waren ihm nie wichtig. Koch ging es im- berichten, Koch habe Interesse an einer zweiten Ego und Amt. Am Anfang sehe man noch, dass so »Das war ein Ausflug in eine andere Welt«, sagt das zu verstehen. mer um Einfluss. Amtszeit bekundet. ein Amt zeitlich begrenzt sei, die Macht nur gelie- Roland Koch. Er vermisst sie nicht. 6 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 POLITIK Foto [M]: Michanolimit/Fotolia.com Foto

Warum nur bleiben sie zusammen? Der Existenzkampf der FDP verschärft die Krise von Schwarz-Gelb VON PETER DAUSEND

ine Wunschkoalition, die sich nichts Weil Steuersenkungen in keinem Fall möglich wa- von den Konfliktsuchern, trennt Christian Lindner Bei Gauck und Schlecker hat Rösler gepunk- Die Konfliktlinien zwischen den Koalitions- mehr zu sagen hat. Eine Regierung, de- ren, die Euro-Rettung in jedem Fall nötig war. Ein- von Philipp Rösler. Während sich Lindner, liberaler tet – und dann den Sieg hergeschenkt, einmal partnern machen sich aktuell an der Vor rats- ren liberaler Teil in zweieinhalb Jahren ziger Ertrag der Konflikte ist der Absturz der FDP. Spitzenwahlkämpfer in NRW, von der Bundes-FDP leichtfertig, einmal aus Verkrampfung. Seinen datenspei che rung, der Praxisgebühr und der auf ein Siebtel seiner Ausgangsgröße ge- Jetzt, da die Liberalen ums politische Überleben eine solide, geräuscharme Regierungsarbeit wünscht, Triumph bei der Präsidentenkür stellte der FDP- Pendlerpauschale fest. Während die Union die schrumpft ist. Ein Vizekanzler ohne kämpfen, brechen neue Konflikte auf, vom Betreu- um das größte Manko der Liberalen, das Seriositäts- Chef derart demonstrativ zur Schau, dass kein anlasslose Speicherung von Telekommunikati- EAutorität: Schwarz-Gelb ist im April 2012 längst als ungsgeld über die Finanztransaktionssteuer bis zur defizit, zu lindern, setzt Parteichef Rösler auf FDP geschickter Taktiker erkennbar wurde, sondern ons- und Verbindungsdaten nach Endlosdebatte Chaostruppe gebrandmarkt, als ein Missverständnis Pendlerpauschale. Sie kommen nicht, wie Steuern pur, auf Profilierung gegen den Partner. Was zweimal ein aufgeblasener Bubi. Und das Schlecker-Nein jetzt rasch als Gesetz durchsetzen möchte, hält vermeintlicher Traumpartner, denen partout aus und Euro, im Gewand der Großthemen daher, gut gegangen ist, soll jetzt zum Erfolgsrezept werden. begründete Rösler so herzverhärtend bürokra- die FDP ungeachtet aller EU-Drohungen am Ich und Ich kein Wir gelingen will. Doch nun wird werden aber härter ausgetragen – und vor allem: Sie Die Liberalen haben zuerst den Bundespräsi- tisch (»Es gilt jetzt, dass die mehr als 10 000 »Quick Freeze«-Verfahren fest, das den Zugriff der Wahnsinn noch einmal potenziert – weil ein sind inhaltlich aufgeladen. Profilierungsgehabe und denten Joachim Gauck möglich gemacht und dann Frauen, alleinerziehende Mütter und ältere Frau- auf Daten durch Behörden stark einschränkt. Partner in eine Existenzkrise gefallen ist, in der Po- plumper Populismus mischen sich in ihnen mit eine staatliche Auffanglösung für die 11 000 ent- en, eine Anschlussverwendung selber finden«), Die Kanzlerin wiederum zeigt sich weder bereit, litik nicht mehr die Kunst des Kompromisses ist, echtem Einsatz für das, was man für richtig hält. lassenen Schlecker-Frauen verhindert. Das Erste dass der Bubi als eiskalter Bengel rüberkam. Rös- die Pendlerpauschale zu erhöhen, weil die Ben- sondern nur mehr Zwang zur Konfrontation. Wäh- Die Verwerfungslinien verlaufen dabei in zwei gegen den Widerstand der Kanzlerin, das Zweite ler ahnt, dass er auch nach Gauck und Schlecker zinpreise steigen, noch die Praxisgebühr von rend sich der andere Partner schon mal umschaut, Richtungen: entlang der Parteigrenzen – und quer gegen den der CSU. »Wir können nur wieder er- ein Parteichef auf Abruf bleibt – und greift nun zehn Euro abzuschaffen, nachdem die Kranken- wer denn sonst so zu ihm passt. Warum aber bleiben durch Union und FDP hindurch. Die ohnehin la- folgreich werden, wenn wir eigenständige FDP- nach allem, was populär scheint. Mit seinem kassen hohe Rücklagen angespart haben. Der sie überhaupt zusammen? bile Koalition wird dadurch weiter destabilisiert. Politik machen und diese durchsetzen«, sagt Par- Plädoyer für eine Erhöhung der Pendlerpauscha- Druck steigt. Zweieinhalb Jahre lang haben zwei Großkon- Sie hat bis heute nicht gelernt, aus Partei-Egos ein teivize Jörg-Uwe Hahn. Die Fliehkräfte bei le befeuert er die »Mehr Netto vom Brutto«-Se- An anderer Stelle, bei der Finanztransaktions- flikte das Regierungshandeln überlagert, in Teilen Regierungsteam zu formen. Schwarz-Gelb nehmen zu. ligkeit jenes Vulgärliberalismus, der die FDP ins steuer, zeigt sich, dass beide Seiten seit einiger blockiert: der Streit um die Steuersenkung und der Die interne Verwerfungslinie bei der FDP trennt Der Konfrontationskurs ist das eine Problem, Verderben gestürzt hat. Zeit öffentlich einen Scheindissens austragen: Streit um die Euro-Rettung. Beide waren sinnlos. die Moderaten von den Radikalisierten, die Konsens- Rösler selbst das größere. Die interne Verwerfungslinie bei der Union zeigt Die Kanzlerin treibt das Thema scheinbar öffent- sich beim Betreuungsgeld und bei der Frauenquo- lich voran, die FDP bremst tatsächlich. Ziel des te. 23 CDU-Abgeordnete haben offiziell mitgeteilt, Unterfangens: der SPD ein Mobilisierungsthema dem Herzensanliegen der CSU nicht zuzustimmen. wegzunehmen, ohne es zu übernehmen. Die »Herdprämie«, bei der Eltern Geld dafür erhal- Dieses Muster droht nun aber die Probleme ten (100, später 150 Euro pro Monat), dass sie ihre der Koalition zu verschärfen. Angela Merkel hat Kinder nicht in eine Krippe oder Kita schicken, ist ein feines Gespür dafür, wann die Zeit gekom- zwar im Koalitionsvertrag fixiert. Sie scheint nun men ist, die Gesellschaft weiter zu modernisie- aber immer mehr CDU-Frauen sowie der kom- ren. Jetzt sieht sie die Zeit reif für einen Mindest- pletten FDP aus der Zeit gefallen, während die CSU lohn, für Neuregelungen bei der Zeitarbeit – und nicht »daran rütteln will«. Die CSU braucht das womöglich auch für eine verbindliche Quote, konservative Symbolthema, um – trotz aller gesell- wie von der Leyen sie vorantreibt. Die FDP schaftspolitischen Modernisierung der Merkel- musste bereits eine Energiewende mittragen, die Jahre – bei der Bayernwahl 2013 zu punkten. sie nie wollte. Nun wird sie mit einer Kanzlerin Bei der Quote unterstützt eine klare Mehrheit regieren müssen, die der SPD den Wahlkampf- in CDU und CSU die Pläne von Familienminis- wind nehmen will, um anschließend womöglich terin Kristina Schröder, die den Frauenanteil in mit ihr zu koalieren. Die Mindestlohn-Union Führungspositionen von Dax-Konzernen durch trifft auf FDP pur. Eine sozialliberale Koalition Selbstverpflichtungen erhöhen will. Ein kleine- der etwas anderen Art. rer, aber medial aktiver Teil der Union möchte Warum nur aber bleiben sie zusammen? Der dagegen mit Arbeitsministerin Ursula von der Kanzlerin ist es schlicht wesensfremd, eine Koa li tion Leyen eine verbindliche Quote festsetzen. Die schröderlike brachial zu beenden, ohne zu wissen, FDP wiederum markiert eine dritte Position: das was danach kommt. Und die FDP bleibt, weil sie Erste nicht – und das Zweite schon gar nicht. eins genau weiß: Wenn sie jetzt geht, geht sie ganz. Frauen wie Kamele kaufen »Verfatz« und weggelacht: Beim »Hate Poetry Slam« in Kreuzberg werden Hasstiraden zu Kunst VON ÖZLEM TOPÇU

onntagabend in Berlin-Kreuzberg. Tatort- verfatz sie sich dann nicht in ihre mit Ziegen- Zeit. Vor dem Ballhaus Naunynstraße ste- kacke gepflasterte Heimat?«, und dabei das Pa- Shen Leute an, nicht um sich ein total an- pier so anfasst, als klebte daran die animalische spruchsvolles, postmigrantisches Stück wie sonst Körperausscheidung. Journalisten beschäftigen hier anzuschauen. An diesem Abend steht das sich ja gern mit Sprache – deshalb, so Kiyak zum überwiegend deutsche Publikum an, um sich Publikum, wollte sie diesen Brief unbedingt mit Hassbriefe vorlesen zu lassen und Hetz-Mails. Es der Öffentlichkeit teilen, weil er ein neues deut- ist »Hate Poetry Slam«. sches Verb enthalte. Wie, »verfatzen« ist Ihnen Rund 500 Zuhörer füllen den Saal, Parkett, nicht bekannt? hohe Decken, Stuck, gelassene Stimmung. Die Mehr Hassschriften!, forderten die Zuhörer. Hälfte des Publikums sitzt auf Mini-Orienttep- Und die Kollegen auf der Bühne lieferten: zum pichen auf dem Boden, es gab nicht genug Plät- Beispiel dieses sehr taffe, aber gleichzeitig recht ze. Auf der Bühne ein langer Tisch, geschmückt sorgsam ausgetüftelte Drohszenario: »Sie können mit Silvesterschlangen, Hayat-Wasser aus der sich denken, dass so etwas nicht ungestraft bleibt. Dönerbude und Alkohol. Diese Tat wird mit der Anzahl der Leser multi- Den brauchen die drei Vorleser gleich, die zu pliziert«, fand ein erboster muslimischer Leser diesem Abend eingeladen haben: Mely Kiyak, des Kollegen Musharbash. freie Journalistin, die eine wöchentliche Kolumne Erstaunlich, konnte man als Zuschauer dieses in der Frankfurter Rundschau schreibt, Deniz Yücel Abends denken, was die Einwanderungsgesell- von der taz, und Yassin Musharbash von der ZEIT. schaft so hervorbringt. Drei »neue« Deutsche Sie wollten nicht mehr allein im Shitstorm stehen. sitzen auf einer Bühne, lesen Drohbriefe vor, und Was nun folgt, ist ein Lehrstück zur Frage: ein gemischtes Publikum lacht solidarisch die Was soll man als Journalist eigentlich tun, wenn Verachtung einfach nieder. Hemmungslos, re- einem Menschen unentwegt ihre Verachtung spektlos. Verschont wird keiner, auch nicht die entgegenbrüllen? Die drei haben eine Antwort vermeintlich »eigenen« Leute: »wenn du glaubst gefunden: Man erhebt die Verachtung zur Kunst du kannst frauen wie kamele kaufen wirst du ar- und schießt sie einfach in die Umlaufbahn der mer wisch nie erleben wie schön gleichberechtig- Gesellschaft zurück. Es ist eine Art Entgiftung te partnerschaft und sexualität sind. dein poblem. (Feinde unkten »öffentliche Masturbation«), eine dann geh halt in den puff – nach anatolien. oder Darbietung gesammelter Werke der Demüti- nimm dir da besser eine anatolische ziege. die gung. Mit dem Ergebnis, dass ein Saal voller er- passt auch besser zu dir du rindvieh!«, so taz-Le- wachsener Menschen sich, pardon my french, be- ser Rüdiger gegenüber Deniz Yücel. Er zweifelte, pissten vor Lachen. ob er sich geirrt habe, »als ich vor 20 jahren (und Es war kaum möglich, das kann die Autorin nicht nur einmal) gegen rassismus und für die dieses kleinen Berichts bestätigen, nicht am Bo- rechte der imigranten demonstriert habe«. den zu liegen, wenn Mely Kiyak mit leicht pi- Egal, am Ende teilten wohl alle im Saal die kiertem Gesichtsausdruck und feinster Ausspra- Meinung eines weiteren taz-Lesers, der befand: che, sich Luft zufächernd, folgende E-Mail eines »Schön, dass Sie zwischen zwei Ehrenmorden Lesers rezitiert: »Ich lese diese Zeitung nicht noch Zeit finden eine Kolumne zu schreiben.« mehr, aber trotzdem: Wenn sich diese anatolische Eselhirtin hier unter uns unwohl fühlt, warum A www.zeit.de/audio POLITIK 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 7

infried Kretschmann liegt nachts grün-rote Landesregierung gemacht, damit sie, wie reagiert, wie es die CDU gern sähe. Bei der IHK häufig wach. Das Leitgefühl sei- Strobl sagt, »eine Fußnote in der Geschichte bleibt«. Stuttgart, wo die Beziehungen zur CDU besonders ner einjährigen Amtszeit ist Un- Der frühere Ministerpräsident Günther Oettinger innig waren, kritisiert man die neue Landesregie- ruhe. »Uns bleibt nicht viel Zeit«, Das grüne warnt zwar: »Kretschmann ist Kult! Lasst ihn in rung zwar scharf: zu wenige neue Straßen, zu hohe sagt er, und damit meint er nicht Ruhe.« Aber Strobl weiß, was er seinen Bataillonen Gewerbesteuern, keine Planungssicherheit in Sa- nurW sich. Er meint auch nicht nur die Grünen, schuldig ist. »Kretschmann moderiert eher, als dass chen Stromversorgung. Aber die Großen – Bosch, denen vor einem Jahr nach einer Atomkatastrophe er regiert«, findet der CDU-Vorsitzende. »Er ver- Daimler, Porsche – äußern vorsichtiges Wohlwol- die Macht im reichsten und bis dahin schwärzesten breitet Wohlfühl-Atmosphäre in einer post-materia- len. »Die Grünen – na ja! Aber Kretschmann, der Bundesland der Republik zugefallen ist. Er meint listischen Zeit – aber damit kann man kein Land wie ist in Ordnung. Außerdem sind wir schon lange im Grunde uns alle, er meint den Atommüll, das Kraftwerk Baden-Württemberg regieren.« Was die Grünen grün, das hat nur immer keiner sehen wollen«, Klima, die Luft zum Atmen. Er übernachtet oft in wollten, laufe auf eine schleichende Deindustrialisie- heißt es aus den Konzernzentralen. der Staatskanzlei, hoch oben auf dem Berg über der In nur einem Jahr hat Ministerpräsident rung hinaus. Das politische Klima sei nicht mehr Stadt, in der Villa Reitzenstein, wo er eigentlich wirtschaftsfreundlich. »Baden-Württemberg muss Ausgerechnet die Parteispitze in Berlin nicht gern ist, weil es weit weg ist von den Leuten. Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg Spitze in allem bleiben«, fordert Strobl. »Nicht der fremdelt mit dem Ministerpräsidenten Denn da unten tut sich etwas. Baden-Württem- eine ganz eigene Energiewende geschaff t: Studienrat Kretschmann oder der Volksschullehrer berg ist in Bewegung geraten. Es ist eine geistig- Hermann sollten den Unternehmern hier erklären, Es ist eine weitere der Paradoxien des »Pontifikats moralische Energiewende, und der Minister- Er hat das Land in Bewegung gesetzt VON MARIAM LAU wie man’s macht.« Kretschmann«, dass er die größten Wirkungen präsident, der erste grüne in der Geschichte der Allerdings hat die Industrie lange nicht so außerhalb des eigenen Milieus erzeugt. Schwer zu Bundesrepublik, ist ihr Kraftwerk. Nie zuvor hat feindselig auf den grünen Ministerpräsidenten glauben, aber die Bundesspitze der Grünen frem- ein Regierungschef sich so mit dem ganzen Ge- delt ausgerechnet mit dem Mann, der ihren größ- wicht seiner Person in ein politisches Projekt ge- ten Triumph verkörpert. Dass ein Grüner Minis- worfen wie dieser. Die Wende hat das Land zum terpräsident des reichsten und konservativsten Sprechen gebracht, auch wenn den Grünen nicht Bundeslandes wurde, ist für manchen an der Par- immer gefällt, was es zu sagen hat. teispitze so etwas wie eine folkloristische Kapriole, Seit Grün-Rot sind überall runde Tische ent- ein politischer Schildbürgerstreich; man geht nicht standen, Mentorenprogramme, »Beteiligungs-Au- damit hausieren. Mit Kretschmann könnte man dits«. Leute, die das nie von sich gedacht hätten, beweisen, dass der Vorwurf der Dagegen-Partei gründen gemeinsam eine Genossenschaft. Hun- sich erledigt hat – aber keiner tut es. Das kommt derte davon haben sich seit Kretschmanns Amts- nicht nur daher, dass Kretschmann gläubiger Ka- antritt vor knapp einem Jahr registrieren lassen. tholik ist und Mitglied im Schützenverein. Lieber »Goldgräberstimmung« nennt das Gisela Erler, als zu irgendwelchen Gremiensitzungen nach Ber- Kretschmanns Staatsrätin für Zivilgesellschaft und lin geht er während der Fasnacht zum Froschkut- Bürgerbeteiligung. Im Nordosten Deutschlands, telnessen in Riedlingen – einer Herrenveranstal- wo man arm, aber sexy ist, kann man sich nicht tung mit Rinderinnereien, die damit endet, dass vorstellen, dass Sparsamkeit und Rebellion zusam- die Männer aus dem Fenster rutschen, weil die Tür mengehen, aber so ist es im Süden. von Weibern versperrt wird. Nicht gerade eine Sternstunde für eine Quotenpartei. Nirgendwo hat die Kretschmann-Wende Die grünen Ressentiments gegen Kretschmann solche Folgen wie bei der CDU rühren auch daher, dass er ein Schwarz-Grüner der Winfried Kretschmann, 30.03.2012, gesehen von Anatol Kotte für DIE ZEIT für DIE ZEIT Anatol Kotte 30.03.2012, gesehen von Winfried Kretschmann, ersten Stunde ist – auch wenn man manchmal den Die »Stromrebellen« aus Schönau im Schwarzwald Eindruck hat, die CDU, von der er spricht, ist eher sind der Prototyp dessen, was Kretschmann überall eine Utopie, wie Ex-Linke sie sich wünschen. Er ist in Baden-Württemberg will: Energiewende schafft mit dem Ex-Ministerpräsidenten und Glaubens- Bürgergesellschaft und umgekehrt. Ursula und bruder Erwin Teufel auf Kreuzfahrt gewesen, nicht Michael Sladek, sie Lehrerin und Umsorgerin von mit Jürgen Trittin auf Gomera. Als die CDU im fünf Kindern und Enkeln, er ein rübezahlartig zu- Wahlkampf vor einem Jahr das Gerücht lancierte, gewachsener Dorfarzt mit ausgeprägtem »Hass auf der 63-Jährige sei schwer krank und werde gar keine Bevormundung«, waren 1986 nach der Reaktor- ganze Legislaturperiode durchhalten, da insinuierte katastrophe in Tschernobyl wild entschlossen, den eine bekannte Parteifreundin, es könne durchaus Energiekonzernen die Stirn zu bieten. Zuerst woll- etwas dran sein. Es kursiert ein Spruch unter Berliner ten sie nur Strom sparen, gern mit technischer Grünen, der immer auf wieherndes Gelächter zählen Hilfe des Anbieters. Als der aber ablehnte (»wir kann: »Der Kretschmann versteht unter DVD immer wollen Ihnen doch Strom verkaufen, nicht spa- noch eins: ›Dem Volke Dienen‹.« ren«), da haben sie ein Bürgerbegehren in Gang Aber Kretschmann verfügt über eine ganz eigene gesetzt. Die Leute im Ort hatten im Laufe der Aus- Kraft-Wärme-Koppelung, die ihn weitgehend un- einandersetzung dann schon so viel über Stromer- abhängig macht von seiner Partei. Und die Bürger zeugung gelernt, dass sie selbst zusammenlegten, scheinen durchaus elektrisiert: Nach einem Jahr um ein Stromnetz zu kaufen. Und jetzt leben sie, stehen die Grünen bei 30 Prozent Zustimmung, wie es ihnen gefällt: ökologisch, dazu günstig – und gewonnen hatten sie die Wahl mit 26 Prozent. Dabei frei. Sie sind nicht bei den Grünen. Die sind ihnen war das Jahr eigentlich voller schlechter Nachrichten. zu präsidial. Sie sind bei den Freien Wählern. Die Grünen unter Kretschmann, die 30 Jahre lang Es gibt kaum einen Satz, den man unterwegs so für die Atomwende gekämpft und deshalb von einer oft hört wie diesen: »Die Grünen – na ja! Aber der Atomkatastrophe ins Amt gespült worden waren, Kretschmann, der isch echt.« Kretschmann selbst wurden mit Regierungsübernahme Besitzer zweier macht keinen Hehl daraus, dass er sich als Solitär Atomkraftwerke der EnBW. 30 Jahre haben sie für sieht. Als sein Landesverband ihm vor der Wahl mehr Bürgerbeteiligung gekämpft, und die erste die quotierte Doppelspitze aufnötigen wollte, auf Volksabstimmung, die das Land dann abhielt, die zu die es nun im Bund bei den Grünen herausläuft, »S 21«, wurde für sie ein Schlag ins Gesicht. Den gab er kurz und knapp zu verstehen: »Ohne mich. Solitär Bahnhof, den Kretschmann und die Seinen 15 Jahre Dann muss es jemand anders machen.« und Güte. Der verspricht daraufhin, sein Hab und Stuttgart darüber abstimmen ließ, wer Kandidat lang erbittert bekämpft haben, müssen sie nun bau- Dass Bescheidenheit nicht sein Problem ist, Gut an die Armen zu verteilen. »Denn der Sohn für das Amt des Oberbürgermeisters werden soll. 17. 5. 1948 geboren in en. Der Mann, der nichts lieber getan hätte, als wenn es um die Beschreibung der eigenen Rolle in des Menschen ist gekommen, um zu suchen und Die CDU hat auch die Frauen entdeckt. Ein Spaichingen Kultusminister unter einem guten schwarzen Hirten der Energiewende geht, konnte man kürzlich in zu retten, was verloren ist.« Die Leute waren be- Jahr lang wollen sich, wie der neue Landesvorsit- 1980 Gründungsmitglied zu werden, muss als Ministerpräsident einen ge- der Wallfahrtskirche Käppele in Schemmerhofen geistert. Wer in diesem Moment in Schemmerho- zende, der Bundestagsabgeordnete Thomas Strobl der Grünen in Baden- kränkten sozialdemokratischen Juniorpartner hinter bei Biberach sehen, im schwärzesten Landkreis der fen der Jesus war, haben alle gewusst. Alle haben erzählt, die CDU-Kader in die Fußgängerzonen Württemberg sich herziehen. Welt. Kretschmann ist gekommen, die Fastenpre- daran gedacht, dass Kretschmann mit Bahnchef stellen und die Frauen fragen: »Was wollt ihr?« Bei 2002–2011 Fraktions- Wenn man Kretschmann fragt, worauf er stolz digt zu halten. Auf einen Auftritt bei Günther Grube reden, seinen Bahnhof bauen und sich da- den Frauen nämlich hat man furchtbar schlecht vorsitzender im Landtag sei nach diesem verrückten Jahr, dann kommt Jauch in Berlin, auf fünf Millionen Zuschauer, hat für von den Leuten mit einem Schuh bewerfen abgeschnitten. »Guckt euch in euren Familien 27. 3. 2011 Grün-Rot blitzartig etwas Schwarz-Grünes heraus: dass er an er an diesem Tag verzichtet und das vorsichtshal- lassen musste. Niemand hat daran Anstoß genom- um«, habe der Stuttgarter Ex-Bürgermeister Man- gewinnt die Landtagswahl in der Seite von Horst Seehofer erst die Atom-Revo- ber auch alle Welt wissen lassen. Elastisch erklimmt men, dass der Ministerpräsident hier in die Rolle fred Rommel einmal in die Runde geworfen. »Die Baden-Württemberg lution und dann die Endlager-Revolution ins er die Stufen zur Kanzel, das weiße Haar steht ex- des Religionsgründers geschlüpft ist. Frau vom Ratspräsidenten oder deine Tochter oder 12. 5. 2011 Vereidigung Werk gesetzt habe. Ausgerechnet ein grüner Mi- tra steil. Die Bibelstelle, die er aus dem Lukas- Bei der CDU nennen sie ihn in hilfloser Wut seine Cousine – die wählen uns nicht mehr. Die zum ersten grünen nisterpräsident ließ als erster Regierungschef Evangelium ausgewählt hat, beschreibt, wie Jesus den »sechsten Landesbischof« oder »Erwin Teufel wählen grün!« Der ganze Stil müsse sich ändern, Ministerpräsidenten überhaupt die Bereitschaft erkennen, in seinem beim Oberzöllner Zachäus einkehrt, der sich im light«. Es gehört zu den Paradoxien der Kretsch- nicht mehr so »von oben herab«, sagt Strobl. 27. 11. 2011 Der Volksent- Land nach einem Platz für den gefährlichen Müll Zuge seiner Amtstätigkeit ausgiebig bereichert hat. mann-Wende, dass sie ausgerechnet dort die sicht- Die CDU hat in Baden-Württemberg mehr Mit- scheid zu Stuttgart 21 bringt zu suchen. Lieben werden sie ihn dafür nicht bei Draußen vor der Tür stehen die Ausgenommenen barsten Wirkungen erzeugt, wo die Gegenwehr am glieder als die Grünen im ganzen Bundesgebiet. eine deutliche Mehrheit für sich zu Hause; je grüner die Leute, desto weniger. und protestieren, dass Jesus bei diesem Schwindler heftigsten ist: in der CDU. Nicht genug damit, Natürlich wird man sich jetzt nicht einfach hinlegen das umstrittene Bauprojekt Aber einer muss es machen. Und sie haben nicht einkehrt. Jesus aber bekehrt Zachäus mit Liebe dass man plötzlich durch Mitgliederentscheid in und sterben. Es wird fleißig Kampagne gegen die viel Zeit. 8 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 POLITIK

»Wie kannst du so leben? Geh fort!«

Weil er immer wieder die Machenschaften der Mafi a off enlegt und die Bosse beim Namen nennt, lebt der Journalist ROBERTO SAVIANO seit Jahren unter ständigem Polizeischutz. Für die ZEIT schildert er seine Eindrücke einer Lesereise durch Deutschland

Roberto Saviano (re.) bei einer Lesung mit dem Schauspieler Ulrich Matthes in Berlin Foto [M]: foto-ritter.de/imago Foto

m 18. März verlasse ich Rom die mehr oder weniger zeitgleich mit einem selbst aufmerksamen Anti-Mafia-Polizisten. Er bestätigt man erst einmal einen Weg eingeschlagen, wird es land habe ich über Themen gesprochen, die man in Richtung Köln. Ich bin debütiert haben, oder solche, die man gelesen hat, meine Befürchtung, dass das Fehlen einer gesamt- einem schwer gemacht, wieder umzudrehen. Ein in Italien nicht zur Sprache bringen kann – zu- zum Abendessen eingeladen als man selbst schon schrieb, ist leichter. Aber europäischen gesetzlichen Basis für Mafia-Delikte Neustart ist heikel, es fehlt die Zeit, und während mindest nicht in der Form. Es müssten zu viele und treffe auf un ge wöhn- Schriftstellern zu begegnen, ohne die man niemals ein großes Handicap darstellt. Er erzählt mir, wie man noch überlegt, den Kurs zu wechseln, macht Erklärungen vorausgeschickt, zu viele Gemein- liche Tischgenossen: Martin mit dem Schreiben angefangen hätte, ist schwer. zäh die Verständigung zwischen Deutschland und der Arbeitsmarkt dicht oder verändert sich, und plätze abgebaut werden. Amis und Jeffrey Eugenides. Martin Amis ist einer von ihnen. Ich habe seine Italien ist und dass die italienischen Kollegen die am Ende bleibt man auf der Strecke. Ein Arbeits- Und so komme ich zum Fazit meiner langen Ich fühle mich befangen und Bücher verschlungen, seinen Lesungen entgegen- Arbeit der Behörden jenseits der Alpen häufig un- markt wie der italienische gibt einem kaum die Deutschlandreise, denn ein solches gibt es, und ungewohnt frei zugleich. Sie gefiebert, und ihm jetzt gegenüberzusitzen ist ein terschätzen. In Stuttgart wird schmutziges Geld Chance, andere Bereiche kennenzulernen, andere aus Respekt vor meinen Lesern und mir selbst will haben mich nicht erkannt, und so bin ich in der wenig so, als begegnete man dem Teil von sich, der aus Sizilien und Kalabrien investiert, doch bis die Möglichkeiten auszuloten und Erfahrungen zu ich es nennen. Aseltenen Lage, ihrer Unterhaltung als stiller Zuhö- einen mal unnachgiebig, mal nachsichtig sein lässt, Informationen nach Italien gelangen und Reaktio- sammeln. Deshalb ist ein Polizist, der auf Journa- Alles nimmt hier seinen Anfang: Ich treffe rer folgen zu dürfen. der einem Kühnheit und gleich darauf Besonnen- nen erzeugen, vergehen Monate oder gar Jahre, in list umsattelt, für mich so erstaunlich. Anna Leube, die ich seit langer Zeit nicht gesehen Irgendwann beschließe ich, ihnen für das zu heit verleiht. Fragmente des eigenen Wesens, die denen das Geld zu Zement und der Zement wie- Am nächsten Morgen sitze ich im Flugzeug habe. Für mich ist Anna, meine Lektorin beim danken, was sie für mich getan haben. Immer wie- diesen Büchern entstiegen sind und sich in einem der zu Geld, Geldwäsche und Drogenhandel wird. nach Berlin, wo ich mit Herta Müller zu Abend Hanser Verlag, eine Art Inbild des deutschen Ver- der treffe ich Schriftsteller, die mir vor Jahren mit Menschen bündeln. Und solange kein Blut fließt, gilt die Arbeit von esse. Wie viel Energie in diesem zierlichen Kör- legertums. Anna ist eine wunderbare Frau. Groß, ihrer Unterschrift ihre Solidarität bekundet haben, Dann kehrt man wie immer ins Hotel zurück. per steckt. Wie viel Feuer in diesen hellen Augen. klug, hochgebildet. Mit größter Leichtigkeit und ohne dass ich mich bei ihnen hätte bedanken kön- Wenn ich nicht in einer Kaserne untergebracht Vielleicht ist es dieses Bild, das ich von meiner ohne eine Spur von Snobismus kann sie über die nen. Wenn ich ihnen dann oft rein zufällig begeg- bin, werde ich mit einer strengen Eskorte in ein Deutschlandtour mitnehme: ihre Augen und komplexesten Themen reden. Sie ist der Inbegriff ne, ist dies das Erste, was ich tue. Hotel eingeschlossen. Es ist schrecklich, auf Rei- Leben im Versteck ihre Hände, die bei Tisch mit der Serviette spie- der intellektuellen Frau: frei, beschlagen, freund- »Danke, Jeffrey. Danke, dass du 2008 diesen sen zu sein und nichts zu Gesicht zu bekommen len. Sie wirkt wie ein Kind, frei und unbe- lich, aufmerksam, unideologisch. Ihr gegenüber Unterstützungsaufruf für mich unterschrieben als vollkommen identische Hotelzimmer. Vor sechs Jahren veröffentlichte der schwert, was unbegreiflich ist, wenn man weiß, empfinde ich fast so etwas wie Ehrerbietung; was hast. Er ist ein Appell für die Meinungsfreiheit.« Am 19. März treffe ich meine Leser zu einer italienische Journalist Roberto Sa- was sie erlebt hat. Herta hat über das Leben in sie mir sagt, kann ich nicht auf die leichte Schulter Eugenides sieht mir in die Augen. »Selbstverständ- Podiumsdiskussion mit dem stern-Journalisten viano sein erstes Buch über Macht Rumänien unter Ceaușescu geschrieben. Die Fa- nehmen. Es trifft mich in der Seele. lich. Ich habe deine Situation nicht angesprochen, Dominik Wichmann. Wichmann ist kaum älter und Strukturen der Camorra in brik, für die sie arbeitete, entließ sie, weil sie sich weil ich nicht aufdringlich sein wollte, aber erzähl: als ich, blickt mich mit wachen, blauen Augen an seiner Heimatstadt Neapel. »Go- weigerte, mit der Securitate zusam men zu arbei- enn sie der Ansicht wäre, etwas, Wie ist dein Leben? Wie lebst du? Wo?« und drückt mir lächelnd die Hand. Mehrere Stun- morrha«, ein erschütternder Repor- ten. Nach ihrer Ausreise nach Deutschland er- das ich geschrieben habe, sei Jeffrey hatte mich sehr wohl erkannt, aber eine den unterhalten wir uns vor über tausend Zu- tage-Roman, wurde millionenfach fährt sie, dass es zwei Akten über sie gibt: Eine nicht gut, würde ich nicht ver- Diskretion an den Tag gelegt, wie ich sie seit Jah- schauern, als säßen wir gemütlich bei Freunden im verkauft, verfilmt, in 42 Sprachen stellt sie als »Regimefeindin« dar, in der anderen suchen, sie umzustimmen und ren nicht mehr erlebt habe: Da ist einer, der spürt, Wohnzimmer. Mein letzter Deutschlandbesuch übersetzt und mit zahlreichen Prei- wird ihr ein plausibel klingendes Parallelleben als davon zu überzeugen, dass es dass man einfach nur dasitzen und etwas essen im Oktober 2010 anlässlich eines Auftritts in der sen ausgezeichnet. Securitate-Kollaborateurin angedichtet. Ich frage Wdoch funktioniert. Ich würde ihr Urteil annehmen. möchte, anstatt ständig über sich selbst und seine Berliner Volksbühne ist bereits eine Weile her, Wenige Monate nach Erscheinen des mich, wie dieser zierliche Körper es fertigbrach- Und als sie mich bei unserer Begrüßungsumar- Situation zu reden. doch die Anteilnahme und Empathie ist gleich ge- Buches ließ die italienische Regie- te, solch eine Last zu tragen. In der Nacht schlafe mung husten hört und mich sofort in mein Hotel- Ich erzähle ihm von meinem Leben, dessen blieben. Ich stoße auf Interesse, auf den aufrichti- rung Saviano wegen Morddrohun- ich nicht. Ich denke an Herta Müller. Ich habe zimmer zurückschickt, damit ich mir einen Pulli Widrigkeiten, meinen Plänen in Amerika. Wir gen Wunsch, zu verstehen, sich hineinzudenken. gen der Mafia unter Polizeischutz ihre Worte im Ohr: »Wie kannst du so leben? hole, versuche ich gar nicht erst, ihr zu sagen, dass tauschen unsere E-Mail-Adressen aus. »Wieso Ich stoße auf aufgeschlossene Menschen, die Ein- stellen. Seither lebt der 32-Jährige Das ist doch kein Leben. Geh fort, weit weg, hol ich keinen Pulli brauche, dass ich mich prima füh- lebst du nicht hier – oder besser dort?« Er lacht, zelfälle wie die des sich verändernden Italiens als unter permanenter Bewachung an dir dein Leben zurück.« Ich kann nicht schlafen, le und mit 30 Jahren bestens selbst mit meinen wir sind ja in Köln. »Komm nach Amerika.« universale Geschehnisse begreifen, als universale wechselnden Orten, die Polizisten denn während Herta redete und mir nahelegte, Erkältungen fertigwerde. Wie ein Soldat leiste ich Was mir an Eugenides so gefällt, ist sein Blick Schicksale, die uns alle betreffen und von denen um ihn herum sind oft seine einzige fortzugehen und alles hinter mir zu lassen, sagten Gehorsam. Auch das ist mein Verhältnis zu Anna, beim Schreiben. Diese nahezu einmalige Besonder- das Überleben Europas abhängt. Diese großartige Verbindung zur Außenwelt. ihre durchscheinenden Augen etwas anderes. Sie und in gewisser Hinsicht hat es etwas extrem Beru- heit, dass seine Geschichten von anderen Stand- Eigenschaft überrascht mich stets aufs Neue und Vor Kurzem erschien Savianos neu- sagten: »Ich verstehe dich, ich verstehe, warum higendes. Sie erkundigt sich nach meinem neuen punkten als dem eigenen ausgehen. In seinen Bü- macht mir vor allem Hoffnung, dass sich eine ge- es Buch. In »Der Kampf geht wei- du nicht fortgehst. Wie könntest du aufhören zu Buch, und das auch, weil sie überzeugt ist, dass chern findet sich nie nur der alleinige Blick des meinsame Basis des Denkens finden lässt. ter« schildert er die Strukturen schreiben? Wie könntest du aufhören, deine Ar- darin meine Bestimmung liegt, dass dies mein Erzählers, sondern eine Vielfalt von Stimmen. Weil und Verflechtungen der kalabri- beit zu tun?« Und dieses Verständnis, das ich in Raum und meine Freiheit ist: wieder zu schreiben, er öffentliche Auftritte scheut und man kaum etwas m 20. März wache ich im Morgen- schen ’Ndrangheta. Auf einer Le- ihren Augen zu lesen meinte, raubt mir den um wieder zu leben. »Ich will Bücher, keine Artikel über sein Privatleben weiß, könnte man meinen, grauen auf. Ich bin unruhig, vielleicht sereise durch mehrere deutsche Schlaf. Es war die Bestärkung eines Schicksals, zwischen zwei Buchdeckeln.« wenigstens in seiner Arbeit gäbe er sich preis und ein wenig aufgeregt: Ich werde Bahn Städte, unter anderem veranstaltet das nicht gänzlich in meiner Hand liegt. Sie hat mich erzählen sehen und begriffen, dass ließe seinem Ich freien Lauf, doch dem ist nicht so: fahren. In Italien habe ich das seit vom Hanser Verlag und von der Am 21. März bin ich mit Klaus Staeck, Frank A. es das ist, was ich will. Sie sagt mir nur, dass ich Seine Bücher sind Choräle. Eine seltene Gabe. über sechs Jahren nicht mehr getan. ZEIT, hat er das Buch dem deut- Meyer und dem großartigen Schauspieler Ulrich entscheiden muss, was aus mir werden soll: Mein Kaum habe ich Martin Amis begrüßt, sagt er: ADas letzte Mal war ich gerade auf dem Rückweg schen Publikum vorgestellt. Matthes in der Akademie der Künste. Matthes schwieriges Leben ist dadurch, dass man mich in »Keine Sorge, du kommst aus dieser elenden Sache von einem Literaturfestival in Pordenone, als mir Zwischen den öffentlichen Auftrit- spielt den Joseph Goebbels in dem Film Der Unter- den letzten Jahren zum Saubermann gegen die raus. Genauso wie Salman Rushdie, wie Pamuk. eröffnet wurde, dass man mich unter Polizeischutz ten hatte Saviano Gelegenheit, an- gang, der in Italien den Zusatz »Hitlers letzte Tage« schmutzige Politik erklärt hat, noch schwieriger Und wenn es so weit ist, werden wir da sein. Wir stellen würde. Ein befreundeter Carabiniere rief dere prominente Schriftsteller und trägt. Das italienische Fernsehen zeigte diesen Film geworden. Ich gelte als positives Symbol, als eine Schriftsteller werden da sein.« Amis’ Memoiren mich an. Künstler zu treffen, die ihn immer während des Zusammenbruchs der Regierung Ber- Art Gütesiegel, das für die Echtheit einer Sache Die Hauptsachen habe ich geliebt. Ein ehrliches, »Roberto, wo bist du?« wieder unterstützt haben. lusconi. Viele von uns konnten sich damals des iro- steht. »Du bist Schriftsteller, kein Gütesiegel oder äußerst klar blickendes Selbstbildnis, das dem Le- »Im Zug.« nischen Gedankens nicht erwehren, wie gut der Symbol. Du bist weitaus mehr als ein Echtheits- ser die nackte Seele offenbart. Beim Lesen war ich »Am Bahnhof warten zwei Carabinieri auf Filmtitel zu unserem Gemütszustand passte. zertifikat oder eine Anti-Mafia-Garantie.« berührt, erschreckt, empört, als wären diese Tode dich. Die holen dich ab und bringen dich in eine Wolfgang und seinen Mitstreitern als überflüssig Tags darauf bin ich wieder unterwegs, diesmal Und das ist das Fazit. Das habe ich in Deutsch- meine, als gingen diese Medienattacken gegen Kaserne, dann erklären wir dir alles.« und sinnlos. nach München, die letzte Etappe. Auch über diese land begriffen. Ich habe begriffen, dass ich mei- mich, als widerführe all das mir und ich durchlitte »Du machst Witze, oder?« Am Abend des 20. März treffe ich im Theater- Stadt kann ich kaum etwas sagen, nur so viel: Von nem Publikum und meinen Lesern ohne Furcht es am eigenen Leib. Als hätte ich mit diesem Leben »Nein, Robbè, das ist kein Witz, die Situation haus Stuttgart auf Ulrich Ladurner, Journalist der Annette Pohnert, die mich während der ganzen begegnen will. Ohne die ständige Panik, auf fri- etwas zu tun. Und dann Koba der Schreckliche, ist ernst.« ZEIT mit Südtiroler Wurzeln. Alle Menschen, die Reise begleitet hat, bin ich mit Schokolade über- scher Tat ertappt zu werden, ein Bein gestellt zu diese wichtige Erzählung über die Kommunisti- So sind damals meine letzten Stunden in einem ich auf meiner Reise durch Deutschland treffe, häuft worden. Der Abend in der Ludwig-Maximi- kriegen. Ohne die Angst, dass dauernd jemand sche Partei Englands, der auch Amis’ Vater ange- italienischen Zug wie im Flug vergangen, fortge- haben wichtige Geschichten zu erzählen. Als Ul- lians-Universität war für mich bewegender als versucht, mich von dem Sockel zu reißen, auf den hörte und die sich nach dem Zusammenbruch der wischt von zahllosen Gedanken und Ängsten, die rich noch nicht für die ZEIT arbeitete und in Ita- erwartet. Anlässlich der Verleihung des Geschwis- man mich gehoben hat. »Ihr verfluchten Drecks- Sowjetunion von sämtlicher Verantwortung und mir durch den Kopf schwirrten. Ich hatte keine lien lebte, war er bei der Polizei. Als Italiener über- ter-Scholl-Preises war ich zwar schon einmal dort kerle, ich lebe noch«, lautet mein Schlusssatz von Konnivenz lossagte, statt sich zu reformieren oder Ahnung, was passieren würde. Es waren schreck- rascht mich das ein wenig. In Italien Journalist zu gewesen, doch in einer Universität zu sprechen ist Gomorrha. Ich lebe und schreibe noch. Das sage neu zu erfinden. Der Untertitel spricht Bände: Die liche Stunden, und doch waren sie nicht annähernd werden ist nicht nur äußerst schwierig, sondern jedes Mal wieder überwältigend, das Herz klopft ich jetzt. Und immer. Und ohne Furcht. zwanzig Millionen und das Gelächter. Seit Jahren vergleichbar mit denen, die folgen sollten. Wenn setzt auch einen ganz bestimmten Werdegang vo- heftig, und jegliche Routine ist hinfällig. Wieder Übrigens, ich arbeite gerade an einem Projekt lese ich Martin Amis, ich las ihn schon, als ich ich an jene Zugreise denke, fühle ich mich leicht raus: Hochschulabschluss, Praktika in verschiede- kam so vieles zur Sprache, über das man in Italien fürs Fernsehen. Wenn daraus etwas wird, sehen selbst noch gar nicht schrieb, und es ist ein seltsa- und frei. Meine letzten Stunden Freiheit. nen Lokalredaktionen, und wenn man Glück hat, nur schwer reden kann: überzogene Anti-Mafia- wir uns in Deutschland bald wieder. mes Gefühl, Schriftstellern zu begegnen, die einen Bahnfahrt Köln–Stuttgart. Bei meiner Ankunft schafft man den Sprung nach oben. Im Grunde Maßnahmen, das Vertrauen in reuige Mafiosi geprägt haben. Gleichaltrige Autoren zu treffen, treffe ich auf Wolfgang, einen gewissenhaften, gilt das mehr oder weniger für alle Berufe, und hat oder die Rolle der Abhöraktionen. In Deutsch- Aus dem Italienischen von VERENA VON KOSKULL POLITIK ANALYSEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 9

m Sonntag wurde in Birma, Land seit Mitte der Neunziger belegt: wünschten sich die Generäle die Annähe- wird, gibt es nur drei Möglichkeiten des das seit 1988 Myanmar Einreiseverbote, Kontosperren, Einschrän- rung an die USA. Dieser Weg war aber ver- Wandels: durch Rebellion. Durch den Haben Sanktionen heißt, gewählt. Es ging nur kungen bei der Entwicklungshilfe und stellt – durch die Sanktionen des Westens. freiwilligen Rückzug der Herrschenden. um wenige Parlamentssitze, Handelsbeschränkungen. Den Westen zu Und so kann man auch andersherum argu- Oder durch Kooperation. um jene 45 genauer gesagt, besänftigen, ihn von seinem Sanktions- mentieren: Wäre der Wandel nicht schon Eine andere Sache als Strafmaßnah- dieA durch Besetzungen in den Ministerien kurs abzubringen ist sicher ein überragen- früher möglich gewesen, wenn westlicher men, die direkt auf das politische und mi- den Wandel in frei geworden sind. Eine Nachwahl. Und des Motiv der Führung. Druck ein ohnehin paranoides Regime litärische Establishment zielen, sind Wirt- doch, die Begeisterung ist gewaltig. Die Sanktionen also gleich politische Re- nicht noch paranoider gemacht hätte? schaftssanktionen. Allerdings werden sie Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu form? Tatsächlich brachten sie viele Jahre Keinem haftet der Ruf des Paranoikers schnell widersprüchlich: Warum treibt Kyi wird ins Parlament einziehen und mit lang nichts. Die Generäle fuhren zur mehr an als der alten Nummer eins, Ge- man regen Handel mit China, aber Myanmar gebracht? ihr die National League of Democracy, Herzoperation eben nicht in die Schweiz, neral Than Shwe. Sein Rücktritt machte schneidet das schwache Myanmar? NLD, jene Partei, der die Generäle 1990 sondern nach Singapur. Dort regelten sie die Reformen überhaupt erst möglich. Vor allem aber leidet unter Wirt- den Wahlsieg raubten. auch ihre Finanzgeschäfte. Waffen, Kapi- Sein Anliegen war es aber wohl vor allem, schaftssanktionen die Bevölkerung. Es Eine echte Demokratie ist Myanmar tal, Kredite, Technologie, das alles ge- ein politisches Kons trukt zu hinterlassen, gibt Menschen wie die Näherin, die ihren damit noch lange nicht. Mit allerlei währte der übermächtige Nachbar China, das ihn und die Seinen vor dem Gericht Job verliert, weil die ausländisch finan- Klauseln haben sich die Generäle, die der eigentliche Profiteur der Sanktions- bewahren würde. zierte Textilfabrik schließen musste. Wie neuerdings Zivil tragen, auf Jahre die politik. Es durfte Gas- und Ölpipelines Das ist das Problem von Sanktionspo- den Tourguide, der vergeblich auf Tou- Macht gesichert. und unzählige Wasserkraftwerke bauen litik und regime change-Rhetorik. Sie ver- risten wartet. Wie die Studenten und Für den Reformprozess aber ist die und die Ressourcen des Landes aus- mitteln den Mächtigen: Der Wandel Mönche, die sich nach Austausch mit der Nachwahl ein riesiger Erfolg. Was war der beuten. Als Gegenleistung hielt China kostet euch den Kopf. Da ist es nicht er- Außenwelt sehnen. Und es gibt das Heer Auslöser für diesen Prozess? Warum ließ im UN-Sicherheitsrat seine schützende staunlich, wenn sie ihn mit allen Mitteln der Armen, die sich von Tag zu Tag han- sich das Militär, das Myanmar jahrzehnte- Hand über die Generäle. verhindern wollen. In einem Land aber, geln. Die politische Erfahrung zeigt: Da- lang in eisernem Griff hielt, überhaupt Doch die betrachteten den Einfluss des in dem eine Demokratiebewegung gegen mit Demokratie funktioniert, damit sie Lange in Haft, auf dieses Experiment ein? Nachbarn skeptisch, hatte Peking doch ein übermächtiges Militär steht und in nicht von Radikalität und Populismus jetzt Parlamentarierin: Für einige ist es eine direkte Folge der jahrzehntelang in Myanmar kommunisti- dem keine ausländische Macht je einen verzerrt wird, braucht es ein wenig Wohl- Aun San Suu Kyi Sanktionen, mit denen der Westen das sche Rebellen finanziert. Schon lange Regimewechsel gewaltsam herbeiführen stand. ANGELA KÖCKRITZ

in Handwerker hat sich vor Deutlicher wurde die Partei von Silvio Ber- Lange galten die Italiener als Meister im uns herum auch untergeht, wir schaffen es dem Finanzamt in Bologna lusconi. Die Politik dürfe diese »Verzweif- Umkurven von Problemen. Trotz horrender trotzdem. Berlusconi verkaufte ihnen ein Macht die Krise angezündet und wird schwer lungsschreie« nicht überhören. »Wir haben Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit buntes Reich der Fantasie und hinterließ ein verletzt gerettet. Man weiß die Pflicht, unsere Bürger von der erdrü- führte Italien über Jahrzehnte die europäi- graues Krisenland. Über 11 000 Unterneh- nicht, ob er überlebt. In einem ckenden Steuerlast zu befreien«, sagte der sche Glücksstatistik. Italiener waren zu- men gingen 2011 pleite – ein Rekord. In EAbschiedsbrief schrieb er: »Ich habe im- Parlamentsvizepräsident Maurizio Lupi. friedener als ihre besser verdienenden Nach- den reichsten Regionen des Landes funk- Italien depressiv? mer meine Steuern gezahlt.« Gegen den Genau mit diesem Versprechen – die Ita- barn, sie lebten auch länger. »Basta che c’è il tioniert das System Italien nicht mehr. Ein 58-Jährigen läuft ein Verfahren wegen liener vom Staat und seinem Fiskus zu be- sole«, hieß es in einem alten Schlager, Haupt- System, das von mittelständischen Unter- Steuerhinterziehung. freien – hatte Silvio Berlusconi Wahlen ge- sache, es scheint die Sonne. Mit einem nehmen getragen wurde, die sich mit Fleiß, Nur wenige Tage später übergießt sich wonnen. Unter seiner Ägide erreichten Nebenjob, wenn nötig auch mit zweien, Kreativität und einer milden Steuermoral vor dem Rathaus in Verona ein 27-jähriger Steuerhinterziehung und Staatsverschul- arrangierte man sich. Der Staat gab nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen konnten. Marokkaner mit Benzin. Er erhalte seit vier dung Rekordmarken. Als die Zinsen für die viel und musste nicht alles wissen. Das ge- Jetzt richten die ersten Handwerkskammern Monaten kein Gehalt, er habe seine Woh- Staatsanleihen himmelwärts kletterten, messene Durchschnittseinkommen der Ita- eine Telefonseelsorge für ihre Mitglieder ein. nung verloren und esse in der Armenmensa, musste Berlusconi abtreten. Sein Nachfolger liener lag 2011 bei gerade 19 250 Euro. Fast Die beiden Verzweifelten von Bologna berichtet er den Carabinieri, die ihm das Mario Monti saniert seither die Staatsfinan- die Hälfte der Steuerzahler, darunter Selbst- und Verona sind zwei Gesichter der Krise. Leben retten. zen mit einem rigiden Sparprogramm. ständige wie Gastwirte und Einzelhändler, Der Selbstständige und der Arbeitnehmer, Seit der Antike ist die Piazza in Italien Die Guardia di Finanza kontrolliert nun verdienten angeblich weniger als 15 000 sie wissen beide nicht mehr weiter. An ihnen ein Synonym für den öffentlichen Raum. überall, an den Autobahnen die Fahrer von Euro. In 2012 werden die gemeldeten Ein- scheiden sich aber auch die Geister. Denn Wer dort den Feuertod sucht, will seine Ver- Luxuswagen und in den Postämtern die kommen unter dem Druck der Finanzpoli- Selbstmorde und Selbstmordversuche wer-

zweiflung öffentlich machen – und poli- Arbeitsinvaliden, wenn diese ihre Rente ab- zei vermutlich steigen. Und das Sich-Arran- den in Zeiten schmerzhafter gesellschaftli- Horree/action press Peter (o.); [M]: Barbara Walton/picture-alliance/dpa Fotos tisch. Denn der inszenierte Hilfeschrei pro- holen. Es gibt Razzien in den teuren Ge- gieren wird immer schwieriger. Genauso wie cher Reformen politisch instrumentalisiert. voziert ein starkes Medienecho. Auf die schäften von Capri und Cortina d’Ampezzo, das Glücklichsein. Kürzlich brachte die christdemokratisch beiden Selbstmordversuche reagierte deshalb in Mailänder Restaurants und ligurischen Es ist, als habe das Land nach Berlusconis orientierte Gewerkschaft CISL Töchter von Das Kolloseum in auch die Politik. Der frühere Ministerprä- Strandbars. Viele Bürger empfinden das als Abtritt alle Illusionen verloren. Die Illusion, Unternehmern und Arbeitnehmern, die den Rom, nicht kaputt sident Romano Prodi sprach von »einem Last. Ausgerechnet mitten in der Krise ist die ihnen der Populist über seine Medien so Freitod gesucht hatten, auf eine Bühne. Als gespart, nur alt schrecklichen Signal der Verzweiflung«. der Staat plötzlich unerbittlich. lange verkaufen konnte: Wenn die Welt um »Krisenopfer«. BIRGIT SCHÖNAU MEINUNG 10 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 POLITIK

ZEITGEIST I Schäuble

JOSEF JOFFE: Im Steuerkrieg mit Bern bewahrt er als Einziger die Contenance

Die »garstige Schweiz« ist wieder da, titelt ironisch HEUTE: 2.4.2012 die Neue Zürcher Zeitung. Was haben unsere Nach- barn verbrochen, außer eine Sprache zu sprechen, die wir nicht verstehen sollen? Oder uns mit ihrer hochpreisigen Währung die Wiederbesiedelung Verkleidet alemannischer Stammesgebiete zu verwehren? Die Eidgenossen haben sich erfrecht, wegen Ach Büßer. Einmal im Jahr, zu ei- »nachrichtlicher Wirtschaftsspionage« Haftbefehle ner Zeit, wenn Jesus ans Kreuz gegen drei NRW-Steuerfahnder zu erlassen, die für genagelt wird und wieder aufer- 2,5 Millionen Euro Diebesgut aufgekauft hätten, steht, zieht sich dein Herz zusam- eine CD mit gestohlenen Daten von deutschen men und du dir Kutte und Kapu- Kunden der Credit Suisse. So hätten die Schnüff- ze über. Keine Jeans. Keine Schu- ler 900 Millionen an hinterzogenen Steuern ein- he. Kein Gesicht. Für eine heilige treiben können, heißt es. Die Schweizer glauben Woche tauchst du unter, wirst nicht, dass der profitable Zweck die üblen Mittel vom Bürger zum Büßer und Bru- heiligt. Deshalb gehörten die drei staatlich bestall- der, eilst zur Prozession und ge- ten Ganoven vor den Untersuchungsrichter. Au- denkst Jesu, der sich für dich ge- ßerdem ist der deutsche Fiskus ein Wiederholungs- opfert hat. Du bist ganz bei dir täter, hatte er doch seit 2006 derlei digitales Heh- und deinem Glauben, die Kapuze lergut mehrfach gegen Bares getauscht. schirmt dich ab. Du fühlst dich Jetzt haben Wilhelm Tells Nachfahren mit dem sicher, unbeobachtet, selbst die Haftbefehl zurückgeschossen. Was, wir als Land- gigantischen Augen in deinem vogt Hermann Gessler? Das ist Großmachtsbelei- Rücken können dir nichts anha- digung. »Die Schweiz, du kleines Stachelschwein, ben. Du bist Büßer und Bruder, dich nehmen wir beim Rückzug ein«, sangen bis du dir in einigen Tagen wieder schon die Nazis. Der gute Sozialdemokrat Peer deine Schuhe anziehst und deine Steinbrück wollte etwas später das Schweizer Jeans. Wer dich nicht kennt, Bankgeheimnis mit der »Kavallerie« niederreiten. könnte dich für einen Fanatiker Und jetzt? »Ungeheuerlicher Vorgang!«, böllert halten, einen Irren, einen vom NRW-Regierungschefin Kraft. »Einschüchte- Ku-Klux-Klan. Aber das bist du rungsversuch!«, legt die deutsche Steuergewerk- nicht. schaft nach. Mit der Stalinorgel schießt der Grüne Wie es wohl anderen Ver-

Trittin: »Bodenloser Skandal!« Der SPD-Frakti- del Pozo/Reuters Marcelo Foto: schleierten geht? ABT onsvize Poß sieht die Schweiz als Räuberhöhle, wo der »Schutz von Steuerkriminalität zum Staats- und Geschäftsmodell erhoben« werde. Überdies seien die Schweizer moralisch nicht auf der Höhe der Deutschen, denn sie »hinken der rechtsstaatli- Der Albtraum von Emden BERLINER BÜHNE chen Entwicklung hinterher«. Unser aller Onkel Sigmund würde hier über den Abwehrmechanismus der Projektion dozieren: Die Polizei muss ihre Fehler im Mordfall der 11-jährigen Lena wiedergutmachen VON ROBERT LEICHT »Haltet den Dieb!«, schreit der Dieb. Rechtsstaat- Die Bestseller

Gewiss, die Bevölkerung und die Behörden in gleich alle 17-Jährigen in Emden festnehmen alsbald im Netz der Mob mit seinen Lynch- Christian Wulff und Gattin enthüllen Emden, die immer noch unter dem Schock können. forderungen tobte und eine halbe Hundert- die 598 Tage im Schloss in zwei Büchern des Mordes an einem elfjährigen Mädchen Nein, man nahm erst einmal irgendeinen schaft von irregeführten und -geleiteten Leu- stehen, dürfen ein wenig erleichtert sein, weil fest, und dann verhörte man ihn, das war die ten vor der Polizei auf Volkszorn machte; selbst – nachdem ein zuerst verhafteter Schüler wie- Emdener Parole. Was Wunder, dass ein un- die Vorführung beim Haftrichter fand so de- Deutschland erhält wieder die Gelegenheit, zu ei- der freizulassen war – nun im zweiten Anlauf schuldiger Jugendlicher eine solche Festnah- monstrativ statt, dass sie mit Rufen wie »Hängt nem richtigen Dichter aufzusehen. Grass, Walser, ein junger Mann gefunden wurde, der die Tat me als einen Schock erlebt und hernach wi- ihn auf, steinigt ihn!« begleitet werden konnte. Enzensberger sind hochgeehrt, aber alt, manche gestanden hat. Verurteilt ist dieser Geständige derspruchsvolles Zeugs stammelt. Aber seit Seit geraumer Zeit neigen Staatsanwälte in Nachwuchsschreiber begnügen sich mit Plagiaten, Josef Joffe ist freilich noch nicht, und so lange gilt auch für wann nimmt man die psychische Wirkung Deutschland immer wieder dazu, ihr Hand- andere fantasieren über Kokosnussesser im brau-

Foto: Vera Tammen für DIE ZEIT Tammen Vera Foto: Herausgeber der ZEIT ihn die Unschuldsvermutung, eins der kardi- eines solchen Zugriffs als Beweis für die vo- werk mit populistischem Prominenzgehabe nen Sumpf. Doch nun ist glücklicherweise dem nalen Sicherungselemente in unserem Straf- rausgegangene Tat? Wären die Ermittler in zu begleiten. Fehlt diesen Herren denn jede Autor Christian Wulff die am besten ausgestattete liche Regeln haben die deutschen Steuerfahnder system, ja im zivilisierten Rechtsstaat über- Emden professionell und human vorgegan- Einfühlung dafür, was sie mit dem voreiligen Schriftstellerförderung der Bundesrepublik zuge- durch den Aufkauf geklauter Daten gebrochen. haupt. Denn so wichtig es ist, dass möglichst gen, hätten sie ihr Vorgehen unter der zwin- Herausposaunen angeblicher Erfolge, gerade sprochen worden: das unregelmäßig verliehene so- Das entlastet nicht die deutschen Steuersünder. alle Verbrecher zur Rechenschaft gezogen wer- genden Leitfrage einrichten müssen: Was, in Zeiten der Sozialen Netzwerke, anrichten genannte Haushaltsausschussstipendium. Fahrer Aber ein Staat, der Kriminelle mit kriminellen den – kein Jota weniger wichtig ist es, dass wenn der Jugendliche doch nicht der Täter können? und Wagen sind darin enthalten, eine Schar Sekre- Methoden jagt? Den Amerikanern verzeihen wir niemand zu Unrecht einer Straftat bezichtigt ist? Wieso hat man nicht zuerst die DNA- Und was soll nun mit dem unschuldigen täre, exklusive Kreativräume in Berlins Wilhelm- weder Guantánamo (Haft ohne Prozess) noch die oder gar zu Unrecht verurteilt wird. Spuren am Tatopfer so weit entschlüsselt, Schüler geschehen? Wer gibt ihm seine Un- straße sowie eine Aufwandsentschädigung in Höhe Drohnen (Todesurteil ohne Verfahren). Ein wenig Hoffen wir also, dass die Behörden we- dass man sie gegebenenfalls auf der Stelle an schuld so zurück, dass man die Narben nicht von 199 000 Euro jährlich. Die Ankündigung moralische Bescheidenheit täte hier gut, zumal ein nigstens im zweiten Anlauf alles richtig ge- verdächtigten Personen vergleichen kann, be- mehr sieht? Die Emdener Behörden geben Wulffs, sein Leben und seine 598 Tage im Schloss von der Justiz abgesegneter Haftbefehl klassischer macht haben – denn im ersten Anlauf haben vor man überhaupt jemanden festnimmt? sich unbelehrbar und behaupten, alles sei vor- Bellevue literarisch zu verarbeiten, elektrisiert Bestandteil des Rechtsstaates ist. sie alles so falsch gemacht wie nur irgend Weshalb hat man nicht anhand der Mobil- schriftsmäßig gelaufen. Demnach stehe ihm nicht nur den Buchmarkt. Die Freude wird durch Umso mehr sei angesichts der hochfahrenden möglich. Gegen den 17-jährigen Schüler, den funkdaten geprüft, ob der Schüler überhaupt eine Haftentschädigung zu – schlappe 75 die Ankündigung seiner Frau verdoppelt, ihr Le- Rhetorik von Kraft und Kollegen der Finanzmi- die Polizei öffentlich in Handschellen abge- in der Nähe des Tatorts gewesen sein konnte, Euro oder so. Er werde überdies beschützt ben an der Seite Wulffs und ihre 598 Tage im nister Schäuble zu ehren. Der Mann hat als Einzi- führt und bloßgestellt hatte, lag eben kein bevor man aus seinen im Schock gemachten und betreut ... Schloss Bellevue ebenfalls literarisch zu verarbei- ger mit der gebotenen Bedachtsamkeit reagiert: durch irgendwelche Fakten und Spuren un- Aussagen auf ein fehlendes Alibi schloss? Und Wenn es in diesem Staat – oder genauer: ten. Gerade Friedrich Schiller sei in Deutschland »Die Schweiz hat ihr Strafrecht, und in der Schweiz terstützter »dringender Tatverdacht« vor, der wenn man schon einer möglichen Wieder- im Land Niedersachsen noch Anstand und wiederzubeleben, sagten die Wulffs – wie etwa ist die Verletzung des Bankgeheimnisses mit Strafe die unerlässliche Voraussetzung eines Haft- holungstat vorbeugen wollte, weshalb hat Einfühlungsvermögen gibt, dann reist entwe- seine zu Unrecht vergessene Ballade Die Bürgschaft bedroht.« Hehlerei ist es auch. Dass die Schweizer befehls ist. Dringend war nur das Bedürfnis man den Schüler nicht zunächst diskret ob- der der Innenminister (Polizei) oder der Jus- oder seine Räuber. Das Ehepaar beabsichtigt, die das geplante Steuerabkommen mit Haftbefehl und von Polizei und Staatsanwaltschaft, nach die- serviert, bevor man etwas mehr – und das tizminister (Staatsanwaltschaft), nein, dann deutsche Literatur auf eine »spielerische und zeit- Rechtshilfeersuchen torpedieren wollten, wies sem schrecklichen Verbrechen möglichst bald hieß in diesem Fall: überhaupt etwas zusam- reisen am besten beide aus Gründen der Soli- gemäße Weise« um das »Genre der Bundespräsi- Schäuble mit der gebotenen Strenge zurück. »Da einen Täter präsentieren zu können. Gegen menhatte? darität mit einem zutiefst Verletzten nach dialtragödie« zu bereichern. Unterdessen bestätigte gibt es keinen Zusammenhang.« Wohl darf man den Schüler hatte nichts, aber auch gar nichts Trotzdem hängten Staatsanwaltschaft und Emden und zeigen diesem jungen Mann so- Bundestagspräsident Lammert, dass einer szeni- einen solchen mit dem NRW-Wahlkampf unter- vorgelegen – außer dass er vielleicht ähnlich Polizei ihren vermeintlichen Fang auch noch wie dessen Familie nicht minder demonstra- schen Lesung von Wulffs Werken im Deutschen stellen. Freundlicherweise bewirbt sich Frau Kraft groß und schlaksig aussah wie die auf dem an eine so große Glocke (natürlich garniert mit tiv wie die Festnahme in Handschellen: Es Bundestag prinzipiell nichts entgegenstehe. Doch weder als Außenministerin noch als Verfassungs- unpräzisen Parkhausvideo für Sekunden auf- dem im rituellen Pianissimo angehängten tut uns aufrichtig leid – du gehörst zu uns müssten in diesem Fall die Beteiligungsrechte des richterin. scheinende Person; aber dann hätte man auch Hinweis auf die Unschuldsvermutung), dass wie eh und je! Parlaments gewahrt bleiben. THOMAS E. SCHMIDT

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IMMER SCHLIMMER Analog atmen Ansichten einer Kulturpessimistin VON SUSANNE GASCHKE

DAMALS: 22.7.2011 Eine glühende Verehrerin des Internets bin ich nicht. Ich glaube, dass das obwaltende Über- maß an Internetnutzung unsere Gesellschaft in den Wahnsinn treibt. Jedenfalls scheint Abgeschirmt kaum noch jemand in der Lage zu sein, ein Ach Bürger. Da gehst du durch Gespräch zu führen, Berlin, vielleicht eilst du zur Ar- ohne an seiner elek- beit, die Laptoptasche um den tronischen Kuschel- Arm, solide Schuhe, solider Gang. decke herumzufum- , aber du, du trägst lange meln. Laut einer Kleidung, vielleicht ist dir kalt. neuen, vom DGB in Die Zeiten sind so, dass man Auftrag gegebenen schnell frieren könnte, auch im Studie gilt der Ar- Sommer. Du schaust dich um. beitsplatz in Deutsch- Susanne Gaschke Durch was für eine Welt läufst du land als Stressfaktor da eigentlich? Die Ehec-Krise hast Nummer eins – und dies vor allem, weil sich du überlebt, der Staat schafft die die Forderung nach ständiger Erreichbarkeit Wehrpflicht ab, und für Griechen- so stark ausgebreitet habe. Aber wird der Stress land wird ein Rettungspaket ge- wirklich nur von den bösen Arbeitgebern ver- schnürt, ein Rettungsschirm nach ursacht? Oder entsteht er auch dadurch, dass dem anderen wird aufgespannt. immer mehr Leute in jeder Minute ihrer Frei- Aber du, Bürger, bist wehrlos. zeit online sind – mit denselben Geräten, die Kein Euro ist bislang geflossen für sie auch im Dienst gebrauchen? die Griechen, schon klar. Doch Wenn wir nicht aufpassen, dann verlernen bald bestimmt. wir womöglich noch die analoge Entspan- Was für ein elender Sommer in nung. Dabei ist an angenehmen, privat oder Deutschland, die Griechen haben politisch nützlichen Betätigungen ohne Netz immerhin Sonne. Huch, da guckt wirklich kein Mangel! Dinge, die ich offline ja wer! Jetzt schnell den gelben nützlicher und/oder schöner finde als online: Rettungsschirm aufspannen und Bücher, am liebsten englische und amerika- sich schön abschirmen. Euro, nische Weltuntergangsromane über künstliche

Griechenland, war was? ABT für DIE ZEIT (r.) Tammen John MacDougall/AFP/Getty Images (g.); privatFotos: (u.), Vera Intelligenz, die Amok läuft (da ist man schon mal gewarnt, falls das iPhone verdächtige Un- abhängigkeitsbestrebungen entwickelt). Tages- licht. Einen Artikel mit dem Füller schreiben (entschleunigt ungemein). Frische Luft. Gäs- Töten in Allahs Namen te haben (geselliger als Facebook). Pilates (an- strengender als Facebook). An einem Sonntag zur Wahl gehen und mir vorstellen, dass mei- ne Stimme den Ausschlag gibt (bisher demo- Warum wir Muslime Verantwortung tragen, wenn Islamisten morden VON MUHAMMAD SAMEER MURTAZA kratisch wirksamer als liquid democracy). An- grillen. Grillen. Abgrillen. Überhaupt jede Art evor jemand wieder zu einem »Der Zunächst galt der Wahhabismus in der musli- chen Quellen sich ihr Kind über den Islam infor- Häufig sind dann charismatische Laienprediger von Feuer (sinnlicher als eine Kaminfeuer- Islam ist Frieden« ansetzt, sollten wir mischen Welt als Sekte. Das hat sich zum einen ge- miert, und dürfen es bei Fragen zur Religion nicht oder das Internet erste Anlaufstationen. DVD). Rotwein! Weißwein! Champagner! innehalten und uns klarmachen, was ändert, weil die Wahhabiten zu Ölreichtum kamen alleinlassen. Dafür brauchen wir Imame aus Das alles können wir aus Tou louse lernen. Wir Bier! Die Schriften von Sven Regener, Nicho- geschehen ist. Ein Mann, der den Na- und ihr Islamverständnis durch Moscheebau, Spen- Deutschland. Muslime und Moscheegemeinden werden solche Attentate niemals gänzlich verhin- las Carr, Frank Rieger, Cory Doctorow und menB des Propheten trägt, hat in Toulouse drei den und die Verbreitung kostenloser Literatur in sollten aber auch kritischer mit Literatur umgehen, dern können, aber wir können sie entschiedener, Norbert Lammert (anregender als anonyme jüdische Kinder und einen Rabbiner hinge- andere Länder exportierten. Zum anderen kontrol- insbesondere mit jener, die im Internet angeboten nämlich theologisch und religionsgeschichtlich ver- Netzkommentare). Musik hören von selbst richtet. Zuvor hatte er drei französische Solda- lierten sie die heiligen Stätten Mekka und Medina. wird. Wahhabitische Ideologie hat in Moscheen ge- urteilen und präventive Maßnahmen ergreifen. gekauften CDs (gutes Gewissen). Staatliche ten getötet, zwei von ihnen waren Muslime. Al-Kaida, der sich auch der Täter von Tou louse nauso wenig zu suchen wie die zahllosen wahhabiti- Doch die wohl wichtigste Herausforderung wird Museen. Theater. Kino (mein Beitrag zum Im Koran steht: »Aus diesem Grunde haben zurechnete, ist letztlich eine hyperradikalisierte Form schen Laienprediger, all jene »Abu Soundsos«, die sein, den Islam neu zu beleben. Zu sehr ist er zu einer Erhalt bildungsbürgerlicher Werte). wir den Kindern Israels angeordnet, dass, wer des Wahhabismus. Sie ist längst keine Organisation glauben, nachdem sie die Hälfte eines Buches zum Gesetzesreligion verkommen, die reinen Gehorsam Dinge, die ich weniger mag als das Internet einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen mehr, sondern ein Gedanke, eine – wie der Schrift- Islam gelesen haben, predigen zu dürfen. Schließlich fordert und sich in den Begriffen halal (erlaubt) und und die analog wahrscheinlich stressiger sind Mord begangen oder Unheil im Lande ange- steller Navid Kermani schreibt – Philosophie der müssen die Gemeinden Konvertiten besser betreu- haram (verboten) erschöpft. Der Extremismus der als digital: definitiv Baumärkte. Regionalex- richtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Zerstörung, die von der Mehrheit der Muslime abge- en. Wenn Menschen zum Islam konvertieren, ist der Wahhabiten ist ein deutliches Beispiel dafür, was pas- presszüge. Fußballhooligans. Hamas. Und Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben lehnt wird. Muslime, die sich wie Merah durch das Jubel in den Moscheen groß, doch anschließend siert, wenn Religion nur noch blindes Handeln ist, bar Leber. Diese fünf Sachen wären sicher gesün- erhält, soll sein, als hätte er die ganze Mensch- Internet mit dieser Philosophie infizieren und sich sind diese neuen Muslime meist auf sich gestellt. jeder Barmherzigkeit und jeder Vernunft. der, wenn sie nur im Internet existierten. heit am Leben erhalten.« Dieser Text ist uni- selbst radikalisieren, sind Einzelgänger, oftmals mit versal gültig. Er erteilt den Gläubigen die Wei- einer kriminellen Vergangenheit und ohne Kontakt sung: Du sollst nicht töten! Hab Ehrfurcht vor zu einer muslimischen Gemeinde. dem Leben! Merah tötete Kinder, die Gabriel, Arieh und Mohamed Merah hatte diese Ehrfurcht nicht. Myriam hießen. Sein Hass hatte auch Wurzeln in Nun sagen viele Muslime: Er war gar kein Muslim, dem islamischen Anti semi tis mus, der, wie der His- da Muslime so etwas eben nicht tun. Aber diese toriker Bernard Lewis nachgewiesen hat, zunächst Stimmen sollten jetzt lieber schweigen. Denn mit den europäischen Antisemi tis mus übernahm und diesem Argument ersparen sich die Muslime die schließlich durch Ideologen wie Sajjid Kutb isla- Auseinandersetzung mit den ideengeschichtlichen misiert wurde. Dessen Exegese »Im Schatten des Wurzeln der Gewalt im Namen Gottes. Men- Korans« ist eine verführerisch wortgewaltige Sinfo- schen wie Mohamed Merah berufen sich bei ihren nie des Antisemi tis mus, die zahlreiche Muslime Taten auf eine selektive Lesart des prägte. Korans. Sie glauben, gottgefällig Merahs Hass richtete sich gegen M. S. MURTAZA zu handeln. Da sie sich aber als jene Religionsgemeinschaft, die sich gläubige Muslime ansehen, sind an die Seite der Muslime stellt. Seit sie auch Teil der muslimischen Thilo Sarrazin seine Thesen über Gemeinschaft. Muslime in Deutschland verbreitet Seit dem 11. September ver- und Islamfeindlichkeit gesellschafts- spürten Muslime die Verpflich- fähig geworden ist, waren es wieder- tung, den Islam zu verteidigen, holt Juden, die sich an die Seite der indem sie die Täter außerhalb der Muslime stellten und sie verteidig- Religion stellten. Nun sind die ten. Gerade in diesen schlimmen Muslime keine Terroristen. Aber ist Islamwissenschaftler Zeiten haben wir Muslime erfahren, Terroristen, die sich auf den Islam bei der Stiftung Welt- wer unsere Freunde sind. Deshalb berufen, gehören in der Regel ethos. Kürzlich erschien müssen wir den verbrämten islami- dem Wahhabismus an. Deshalb sein Buch »Islamische schen Anti semi tis mus bekämpfen. ist es an der Zeit, sich kritisch mit Philosophie und die Wie kann es sein, dass Moscheen dieser islamischen Strömung aus- Gegenwartsprobleme immer noch die von Hass erfüllten einanderzusetzen. der Muslime« Werke von islamistischen Ideologen Aus den Wirren des ersten wie Sajjid Kutb in den Bücherregalen islamischen Bürgerkriegs im stehen haben oder verkaufen? 7. Jahrhundert entstanden die Sunniten und die Es ist nicht nur die Erfahrung des Fremdenhas- Schiiten, aber auch die kurzlebige Splittergrup- ses, die wir mit den Juden teilen. Wir teilen eine pe der Charidschiten. In ihrem extremen Den- gemeinsame Verantwortungsethik, wir glauben an ken sahen sie sich als die einzig wahren Muslime den einen und einzigen Gott, wir sind abrahami- an und überzogen bald den Irak mit Terror. Je- sche Brüder und Schwestern. Der Tod dreier jü- den, der sich ihnen nicht anschloss, töteten sie discher Kinder und eines jüdischen Vaters ist so, mitsamt seiner Familie. Sie glaubten, dass der als hätte man sie unserer Gemeinde entrissen. Gläubige Erlösung nur innerhalb der »wahren« Wir Muslime müssen den Wahhabismus in Gemeinschaft finden könne. Alle, die außerhalb seine Schranken weisen, indem wir ihn und Al- dieser stehen, seien zu töten. Ihre theologische Kaida dekonstruieren. Es sei nur an das Schweigen Legitimation diente später Extremisten als der Muslime erinnert, als der wahhabitische Predi- Grundlage für Mord und Terror. ger Pierre Vogel vergangenes Jahr zu einem Toten- Der Begründer des Wahhabismus, Moham- gebet für Osama bin Laden aufrief und die musli- med ibn Abdel Wahhab, folgte dieser terroristi- mische Community sich theologisch nicht zu schen Linie der Charidschiten. Er kam 1740 auf wehren wusste. Gerade das wahhabitische Netz- die Arabische Halbinsel und schmiedete Allianzen, werk um Vogel und Co. entzweit die Community um den Islam von allen Neuerungen zu säubern, und radikalisiert junge Muslime. Auch wenn sich die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen die Wahhabiten in Deutschland von Gewalt dis- hatten. Die Lehre des Wahhabismus wurde zur tanzieren, so ist doch ihre Spiritualität ein Durch- vorherrschenden religiösen Richtung auf der Ara- lauferhitzer für ein Islamverständnis, das die bischen Halbinsel, und 1932 gelang es den Wah- menschliche Würde verachtet. habiten, das heutige Saudi-Arabien zu gründen. Wir Muslime tragen Verantwortung dafür, dass Ihre Gewaltexzesse richteten sich vorwiegend der Wahhabismus sich nicht weiter in unseren Ge- gegen Sufis und Schiiten. So überfielen die Wah- meinden verbreitet. Wir täten gut daran, ihn wie- habiten 1802 die irakische Stadt Kerbala und er- der als das zu betrachten, was er ist: eine Sekte. Des mordeten 2000 schiitische Muslime. Weiteren müssen Eltern darauf achten, aus wel- TITEL Religion: Start einer Serie IN DER ZEIT zur Zukunft des Glaubens 12 POLITIK 29 Euro-Gruppe Warum kein 57 Politisches Buch AUSGABE: Deutscher Chef werden sollte Adam Zamoyski »1812« 2 Schlecker-Frauen VON VOLKER ULLRICH Gekündigt 30 Welthandel WTO-Chef Pascal – und nun? VON FRANK DRIESCHNER Lamy spürt die Machtlosigkeit Henryk M. Broder »Vergesst Auschwitz!« 3 USA Das ungerechte Land 31 Öffentlicher Dienst 6,3 Prozent VON MARTIN KLINGST – und jetzt? Fünf Antworten zum VON ALEXANDER CAMMANN 4 Karriere Der Aussteiger Tarifabschluss VON KOLJA RUDZIO 58 Libyen Ein Gespräch mit Roland Koch und sein neues Ahmed al-Senussi 32 Gas aus der Nordsee Risiko in 15 Leben VON TINA HILDEBRANDT 4. APRIL 2012 großer Tiefe VON K. FINKENZELLER Kino Luc Bessons Film »The 6 Koalition Worüber die Regierung Lady« VON ELISABETH VON THADDEN Fördern vor unserer Küste streitet VON PETER DAUSEND 59 Kunst Damien Hirst wird in 33 Benzinpreis Künstliche Bühnenkunst In Berlin der Londoner Tate Modern geehrt Aufregung VON FRITZ VORHOLZ lesen Migranten Hass-E-Mails vor VON HANNO RAUTERBERG

Foto: Edith Wagner für DIE ZEIT für DIE ZEIT Edith Wagner Foto: 34 Weltraum-Politik Der EU fehlt VON ÖZLEM TOPÇU 60 Diskothek die klare Linie VON CLAAS TATJE 7 Baden-Württemberg Was hat 61 Museumsführer Das Kultur- nah Ministerpräsident Winfried 35 Piratenpartei Auf der Suche historische Museum in Rostock nach dem Wirtschaftsprogramm Kretschmann im ersten Jahr VON DÖRTE BLUM erreicht? VON MARIAM LAU VON THOMAS FISCHERMANN »Im Flieger lese ich ›Super-Illu‹« Kunstmarkt Wie heutige 36 Spanien Wird das Land 8 Deutsche Begegnungen Galeristen Herwarth Walden Die Züricher Intelligenzforscherin Elsbeth Stern (Mitte) gefährlich für den Euro? VON Tagebuch einer Lesereise nacheifern VON TINA KLOPP Dinah Foto: Hayt hat sich dem ZEIT-Bildungstest gestellt – und fand ihn VON ROBERTO SAVIANO K. FINKENZELLER UND M. SCHIERITZ 62 Buchbranche Barnes & Noble Schön bunt: Blumen in 38 Dividenden Heimische Konzerne »nicht besonders herausfordernd«. Bei einigen Fragen 9 Myanmar Haben die Sanktionen drängt auf den deutschen Markt den Modefarben der Saison schütten groß aus VON D. SELBACH allerdings musste sie passen: Angelina Jolie, »ist das die, den Wandel bewirkt? VON ALEXANDER PLESCHKA VON ANGELA KÖCKRITZ Geld und Leben Schön blöd: Unser Autor wollte die ständig den Afrikanern die Kindern wegreißen will?« 63 Theater Hollywoodstar Cate ein Haus, jetzt hat er auch noch Im Interview mit den ZEIT-Autoren Alexandra Werdes Italien Macht die Krise die 39 Schlecker Sollte der Staat Blanchett in Botho Strauß’ »Groß einen Garten – und Probleme Menschen aggressiv? (rechts) und Urs Willmann stellte sie fest, dass dieses bürgen? Ein Pro und Contra und klein« VON PETER KÜMMEL VON BIRGIT SCHÖNAU Schon schön: Die interessan- Test-Spiel eine Aussage über Intelligenz treffen kann: Bertelsmann Schlussstrich testen Produkte für draußen 10 Mord In Emden hat die Polizei 64 GLAUBEN & ZWEIFELN »Menschen, die intelligent sind, schnappen Wissen unter ein verlorenes Jahrzehnt das Leben eines Jungen gefährdet VON GÖTZ HAMANN Populäre Religion Der moderne WISSEN SEITE 21 leichter auf als andere.« Da haben wir’s VON ROBERT LEICHT Glaubensmix – seine Chancen 40 Was bewegt ... China-Manager und Gefahren VON EVELYN FINGER Zeitgeist VON JOSEF JOFFE Peter Sjovall? VON DANIELA MEYER 64 Darf man sich seinen Glauben 11 Toulouse Wir Muslime selber basteln? VON MAXIMILIAN tragen Verantwortung, PROBST UND PATRIK SCHWARZ wenn Islamisten töten WISSEN 65 Kirche ist ein cooler Ort. Wie VON MUHAMMAD SAMEER MURTAZA 41 Hirnforschung Wann Kinder multireligiös sozialisiert ist der Mensch wirklich tot? werden VON STEFANIE FLAMM VON CHRISTIAN SCHÜLE DOSSIER 66 Über die Unglaublichkeit der Bildung Eine Lösung Auferstehung VON K. HARPPRECHT 17 Judentum Erstmals seit dem für den Kompetenzstreit zwischen Holocaust werden in Deutschland Bund und Ländern wieder Rabbiner ausgebildet VON JAN-MARTIN WIARDA REISEN Foto: und in die Gemeinden entsandt 42 Navigationssystem Die ersten VON ANDREA JESKA 67 Mein Wallfahrtsort Fünf Der letzte beiden Galileo-Satelliten profane Pilger und ihr heiligstes Stellvertreterkrieg 18 WOCHENSCHAU VON DIRK ASENDORPF funktionieren Ziel VON BENEDIKT ERENZ, In Angola wirkt der Kalte Krieg Berlin Der Prozess gegen den 43 Bio Warum es nicht unbedingt ELSEMARIE MALETZKE, BJØRN ERIK SASS, noch nach. Erst vor zehn

Mann, der 102 Autos anzündete OLIVER MARIA SCHMITT UND Jahren endete der Bürgerkrieg. Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT besser schmeckt VON HAUKE FRIEDERICHS VON ALINA SCHADWINKEL BURKHARD STRASSMANN Er ließ ein Land zurück, Düsseldorf Zwei Messen über das mit seinen Traumata Das Osterrätsel Der Koch Ali Güngörmüs 69 »Titanic« Eine Reise an die Röhren und Drähte VON C. RIETZ kämpft bevorzugt regionale Produkte Ostküste Kanadas, wo die letzten VON ECKSTEIN Funksprüche ankamen und viele www.zeit.de/ausland 44 Grafik Das Verkehrsaufkommen Was den Großen der Bildungstest Teil 2 ist, ist den jüngeren Opfer der Schiffskatastrophe GESCHICHTE auf Deutschlands Autobahnen Lesern das Rätsel der KinderZEIT mit Fragen, die sich um begraben liegen VON PETER KÜMMEL 19 Mittelalter Kinderkreuzzüge – 45 Technik Die Suche nach dem Die so gekennzeichneten Ostern drehen. Wie schnell zum Beispiel können Hasen 71 Oxford Ein Gespräch über gab’s die wirklich? Ein Gespräch perfekten Laufschuh VON D. BINNIG die schönsten Sonnenuhren in der Artikel finden Sie als Audiodatei flitzen – 30 oder 70 Kilometer pro Stunde? KINDERZEIT SEITE 49 im »Premiumbereich« mit dem Historiker Nikolas Jaspert 49 KINDERZEIT britischen Universitätsstadt unter www.zeit.de/audio 20 Freiheit Das filmreife Leben Das große Osterrätsel Blickfang des Revolutionärs, Journalisten ZEIT Kinderfilm-Edition (4) Anzeigen in dieser Ausgabe und Armenarztes Georg Kerner »Ein Pferd für Winky« Link-Tipps (Seite 36), VON ANDREAS FRITZ CHANCEN Museen und Galerien (Seite 45), Spielpläne (Seite 62),Bildungsangebote 73 Handwerk Ein Backberater und Stellenmarkt (ab Seite 75) FEUILLETON bringt die Tradition zurück in die BILDUNGSTEST Backstuben VON STEFANIE BILEN 51 Gottschalk und Co. Früher informiert! 21 Interview mit der Lehr- und Abschied von den alten Meistern Der Coach Die entscheidenden Die aktuellen Themen der ZEIT Lernforscherin Elsbeth Stern VON IJOMA MANGOLD Zeilen nach einem schon am Mittwoch im ZEIT-Brief, Bewerbungsgespräch dem kostenlosen Newsletter So machen Sie mit beim Test DDR Margot Honeckers www.zeit.de/brief 22 33 Fragen aus dem Ressort Triumph VON ADAM SOBOCZYNSKI 88 ZEIT DER LESER Wirtschaft 53 Kino Helen Mirren, 23 34 Fragen aus dem Ressort die Queen des britischen Films RUBRIKEN Feuilleton 54 Oper Andrea Breth inszeniert 2 Worte der Woche Foto: Giles Keyte/Camera Press/Picture Press Press Press/Picture Giles Keyte/Camera Foto: 25 33 Fragen aus dem Ressort Reisen »Lulu« in Berlin VON W. GOERTZ 30 Macher und Märkte 27 Die Lösungen – und Buchtipps Brandbrief »Tatort«-Autor Here she comes J. Greve über die Umsonstkultur 42 Stimmt’s?/Erforscht & erfunden VON SUSANNE MAYER 55 Roman John Burnside 52 Wörterbericht Die ZEIT-AppA WIRTSCHAFT »In hellen Sommernächten« 56 KrimiZEIT Lösen Sie auch den zweiten Teil Sexy? Witzig? Klug? Alle Vorurteile über die Schauspielerin VON CLEMENS J. SETZ des großen ZEIT-Bildungstests Helen Mirren stimmen. Ein Treffen mit der Queen des 29 Globalisierung Der Welthandel 57 Impressum interaktiv auf dem iPad! Außerdem blüht – trotz Protektionismus. 56 Biografie Marc Spitz »Mick im Video: Udo Lindenberg singt – britischen Kinos, deren neuer Film jetzt zu uns kommt: 63 Finis/Berliner Canapés und eine Kunstaktion mit Warum? VON THOMAS FISCHERMANN Jagger – Rebell und Rockstar« tollen Bildern aus der Mülltonne »Hinter der Tür« FEUILLETON SEITE 53 UND PETRA PINZLER VON STEFAN HENTZ 87 LESERBRIEFE WOCHENSCHAU Vor Gericht in Berlin: Der Mann, der 102 Autos anzündete S. 18 GESCHICHTE Freiheit über alles: Das filmreife DOSSIER Leben des Georg Kerner S. 20 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 13 »Kein besseres Land für Juden«

Aus der ganzen Welt kommen sie nach Deutschland, um sich hier zum Rabbiner ausbilden zu lassen und Gemeinden zu übernehmen. Die neuen deutschen Juden spüren das Trauma des Holocaust nicht und sind voller Zuversicht. Eine Auferstehungsgeschichte VON ANDREA JESKA

Großes Bild: Der in Deutschland ausgebildete Rabbiner Paul Strasko in Genf. Unten: Seine Katze. Rechts unten: Strasko wird im Geiger-Kolleg in Berlin ordiniert

er Rabbiner Paul Moses sches Ehepaar singen, in dem der Mann seine Frau heute in Deutschland haben. Raum zum Wachsen zis, Polizisten halten vor Synagogen Wacht. Ist das Strasko hackt auf einem hal- plötzlich fragt: »Do you love me?« – Sie antwortet: ist da, heißt es. Liberalität. Freiheit. Straskos grauer nicht die Wirklichkeit? Ja, auch. Doch darüber ben Dutzend Zwiebeln he- »Do I – what?« Kopf mit der Kippa, die mit zwei silbernen Mäd- breitet Strasko das Bild einer Gemeinde, in der das rum, aus denen er einen Doch noch reibt Strasko die Bete, und während chenspangen befestigt ist, nickt heftig dazu: »Es Schma Jisrael, das jüdische Glaubensbekenntnis, Borschtsch à la Strasko ma- er das tut, spricht er über das Judentum in Deutsch- gibt ein großes Potenzial.« kein Trauergesang mehr ist, sondern ein Jubellied: chen wird. Dabei schwärmt land, dem Land, in dem er ausgebildet wurde. Al- Die Kartoffeln sind geschält, da mäandert das Höre, Israel, unser Gott, der Ewige, ist einzig! er von Berlin: wie verrückt tes Judentum, zerstörtes Judentum und neues Ju- Gespräch schließlich doch zum Antisemitismus. In Deutschland werden wieder Rabbiner aus- die Stadt ist und wie lebendig! Und jüdisch dazu. dentum. Er spannt den Bogen, stellt Zusammen- Schale um Schale kringelt sich auf dem Schneide- gebildet. Nicht Rauschebärte mit finsterem Blick, DEr schiebt die letzte Zwiebel unter das Messer, da hänge her, verwirft sie wieder, auf These folgt An- brett, und darunter kriecht das Gespenst einer sondern jugendliche Männer wie Paul Moses kommt ein ungeheuerlicher Satz: »Vielleicht gibt tithese, Synthese. Dialektik, sagt Strasko, das sei globalen Christenheit hervor, die den Judenhass in Strasko, der seinen Master der Jüdischen Studien es kein besseres Land für Juden als Deutschland.« typisch jüdisch – und sehr rabbinerisch. sich trägt, trug und immer tragen wird. Die es an der Universität von Potsdam gemacht hat und Das Echo der Worte hängt in der Genfer Kü- Paul Moses Strasko ist 39 Jahre alt, ein freund- wieder wagt, ungeschminkt antisemitisch zu sein am liberalen Abraham Geiger Kolleg in Berlin alles che, und es schweigt der Rabbi, als habe er sich licher Mann, und auch was er über Deutschland und Juden den Raum zu nehmen. Strasko sagt so lernte, was ein moderner Rabbiner braucht: Tho- selber erschrocken. Eigentlich ist das nicht der und das Judentum sagt, ist freundlich. Dabei ist etwas wie, die Zeit der Ruhe für die Juden sei vor- ra- und Talmudwissen, Hebräisch, Psychologie, Moment für Wahnwitz – Strasko hat noch zwei die Reporterin doch innerlich gewappnet gegen bei, die Juden seien weltweit wieder auf Wander- Sozialkunde, Menschenführung. Seit ein paar Mo- Stunden bis zum Freitagabendgebet, er muss noch Klagen über die Deutschen und ihre schlau über- schaft. Doch kaum einer wolle sie haben – bloß naten ist er jetzt Assistenz-Rabbiner in der libera- an seiner Predigt feilen, den Borschtsch fertig ko- tünchte Judenfeindlichkeit. Fremdheit und Be- Deutschland. Dort, sagt Strasko, herrscht Religi- len Jüdischen Gemeinde in Genf. Einer von in- chen für die Freunde, die nachher zum Sabbatmahl fremdung hatte sie erwartet, Apokalyptisches und onsfreiheit, und die Türen stehen uns weit offen. zwischen vier in Deutschland ausgebildeten Ex- vorbeischauen. Ein fröhliches Essen wird das sein, Apologetisches. Wohl auch einen Rabbiner, der Und dann formuliert er diese Gedanken, die allen port-Rabbinern, die nun jüdische Gemeinschaften voller Diskussion und Gelächter, voller Freund- die Toten mit sich trägt, dessen ganze Sehnsucht Wahn der Vergangenheit heraufbeschwören und im Ausland leiten. schaft und Musik. Irgendwann wird Strasko sich Israel gilt und den an Deutschland das Anbiedern- alle Hoffnung der Gegenwart. Plötzlich ist es, als Strasko ist ein cooler Rabbiner. Zu seinen Lieb- ans Klavier setzen und im Duett mit seiner Frau de oder das verkappt Faschistoide abstößt. Und stünden die Toten in der Küche, voller Abwehr. lingsfilmen gehören Kill Bill, Black Hawk Down

ein selbst komponiertes Lied über ein altes jüdi- jetzt das! Ein Loblied auf die Zukunft, die Juden Hinter ihnen marschieren grölend die neuen Na- und andere Schocker, er liebt die Musik des Anti- (u.) Ornella für Schmidt/ddp Cacace DIE ZEIT (2); Axel Fotos:

Fortsetzung auf S. 14 14 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 DOSSIER

Links und rechts: Die Rabbinerin Alina Fotos: Paul Schirnhofer für Paul DIE ZEIT Fotos: Treiger in der Synagoge Oldenburg. Mitte: Mit ihrem Mann, dem Rabbiner Tobias Jona Simon

Fortsetzung von S. 15 semiten Richard Wagner, kocht unerhört gut und Gemeinden das, was Dieter Graumann, Präsident meinden brauchten wieder festen Boden unter ih- dern auch um die Frage, wie viel Liberalität dem Straskos Ausbildung zum Geiger-Rabbiner mit mag exzellenten Wein. Er kann Deutsch, Hebrä- des Zentralrats der Juden, »Trauer- oder Liquidati- ren Füßen. neuen Rabbinertum gestattet sein sollte. Es sei einem Jahr am Hebrew Union College in Israel isch, Aramäisch, Englisch, seit Januar lernt er auch onsgemeinden« nennt: Holocaust-Überlebende Juden in Israel und in den USA diskutierten ein steiniger Weg gewesen, sagt Homolka, bis und endete im November 2011 in der Bamber- noch Französisch und spricht es schon leidlich. und ihre Angehörigen, im Schmerz erstarrt, ihre über diese Fragen, in Deutschland interessierte sich sein Kolleg in der Hierarchie der jüdischen Aka- ger Synagoge Or Chajim mit einer bewegenden Seine Frau Sandra schreibt ein Blog über Schoko- Gebete galten den Toten. Die Glaubensfreude, der niemand dafür. Die säkulare, globalisierte deutsche demikerzirkel die für die Ausbildung erforderli- Ordinationsfeier mit Händels Feuerwerksmusik lade. Die Wohnung in Genf teilen sich die beiden jüdische Witz und die Lust an der Kritik, die Gesellschaft des neuen Jahrtausends hatte viele Zie- che Anerkennung gefunden habe: »Doch heute und einer Rede des Zentralratsvorsitzenden mit Sandras Mutter und einer Katze. Kinder wollen Wonne an Streit und Widerspruch, alles war ver- le – wieder Heimat für Juden zu werden gehörte tragen wir zum Aufbau der jüdischen Weltge- Graumann zum Thema »Lasst hundert neue sie nicht. loren gegangen in den Gaskammern, in den Flam- nicht dazu. Vielleicht war der Gedanke immer noch meinschaft bei und haben einen hervorragenden Rabbiner blühen«. Neue Rabbiner, sagte er, seien Die jungen Rabbiner wie Paul Moses Strasko men der Krematorien. Hätte man diejenigen, die undenkbar. Doch auch unter den Juden glaubten Ruf. Unsere Rabbiner sind begehrt.« wie ein frischer Regen der Hoffnung. So etwas sind nicht mehr, wie der jüdische Journalist Michel den Rauch der Vernichtungslager an sich trugen, viele, ein Jude dürfe deutschen Boden nicht mehr An dieser Stelle ist es Zeit für Henryk M. Frohes aus dem Munde eines Juden hatte man in Friedman es einmal formulierte, »auf Gräbern ge- gefragt, ob deutsches Judentum je wieder heiter betreten, und tue er es doch, dann aus einer selt- Broder. Autor und Journalist. Jude ohne Re li- Deutschland lange nicht gehört. boren«. Sie sind Rabbiner ohne rabbinische Tradi- und hoffnungsvoll sein könne, ob sich die Opfer samen Perversion heraus, einer Art Stockholm-Syn- gion. Außerdem Provokant aus Überzeugung Graumann sagte, es brauche eine Vielfalt im tion, nicht die Söhne oder Enkel anderer Rabbiner, im Land der Täter je wieder daheim fühlen wür- drom – nur ins Sechsmillionenfache multipliziert. und so etwas wie ein Berufsquerulant unter den jüdischen Glauben und unter den Rabbinern – keine Träger eines in Jahrzehnten angehäuften Wis- den – sie wären fassungslos gewesen. Was ihnen Juden. Einer, der Freunde und Feinde hat und »es soll jeder auf seine Fasson fröhlich und jü- sens. Sie sind klug, aber ihnen fehlt die Weisheit der blieb, war, Mahner und Wächter der Erinnerung Viele Rabbiner sind Juden durch kaum was dazwischen. Broder hat in einem In- disch und glücklich sein können«. Er stellte pro- vorangegangenen Generationen und der bittere Ge- zu sein. Übertritt, nicht durch Geburt terview vor vielen Jahren gesagt: »Es gibt keine gressives und orthodoxes Judentum auf eine schmack der Vernichtung. Sie sind Rabbiner ohne Erst die Zuwanderung von fast 200 000 Juden Normalität für die Juden in Deutschland. Und es Stufe – eine Revolution. Zumal auf einer Feier, eigene Holocaust-Erfahrung. aus Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Trotzdem entstand 1999 an der Universität Pots- gibt auch keine Normalität für die Deutschen in bei der auch eine Frau ordiniert wurde. Noch Man muss weit ausholen, will man die Ge- Kommunismus änderte alles. Nirgends in Europa dam das liberale Abraham Geiger Kolleg, eine Aus- Deutschland. Auschwitz hat beide Seiten ge- Ignatz Bubis, Graumanns Vorvorgänger, hatte schichte der neuen Rabbiner in Deutschland erzäh- wuchs die jüdische Gemeinschaft so schnell wie in bildungsstätte für Rabbiner und seit 2009 auch für prägt, nur haben es die Deutschen leichter, diese sich über Rabbinerinnen empört. Die Gründung len. Warum das Land sie braucht, warum sie die Deutschland, nirgends hieß man jüdische Zuwan- Kantoren. Einer der zwei Gründer des Geiger-Kol- Erfahrung zu verdrängen oder mit ihr fertigzu- des Geiger-Kollegs hatte den Zentralrat der Ju- Verkörperung der Hoffnung auf ein neues deut- derer so freundlich willkommen. Aus schlechtem legs ist Walter Homolka, Träger vieler akademischer werden, sie von sich zu schieben. Diese Möglich- den seinerzeit aufgebracht, er stemmte sich gegen sches Judentum sind und warum diese Hoffnung Gewissen vielleicht, aus Kalkül, Sentimentalität, Titel, Oberstleutnant und Rabbiner, früher auch keit haben die Juden nicht.« den Wind der Freiheit, der durch diese staatliche vielleicht bloß eine Illusion ist. dem Wunsch nach Normalität – es hatte viele mal Geschäftsführer bei Greenpeace und im Vor- Über das Verhältnis des heutigen Deutsch- Bildungsstätte pfeift, und vor allem gegen den Es ist eine Geschichte über Empfindlichkeiten, Gründe. 108 jüdische Gemeinden entstanden, mit stand der Kultur-Stiftung der Deutschen Bank. Ur- land zu seinen Juden hat Broder viele harte und Wind der Gleichberechtigung. die so umfassend sind, dass man nur etwas Falsches rund 100 000 praktizierenden Mitgliedern. Und kunden und Ehrenbezeugungen tapezieren die böse Theorien aufgestellt. Auch über die neuen Für die Ausbildung von Rabbinerinnen hat fragen, sagen oder schreiben kann. Grabenkämpfe plötzlich brauchte man Synagogen, Glaubensbe- Wände seines Arbeitszimmers, Fotos zeigen Ho- Rabbiner hat er nichts Gutes zu sagen. Leider Homolka hart kämpfen und sich den Vorwurf unter den Juden spielen in diese Geschichte hinein, gleitung – und Rabbiner. Wanderrabbiner kamen molka mit VIPs aus Kirche und Politik. Die »Ach, dürfen aber die Gründe, warum Broder findet, gefallen lassen müssen, das wahre Judentum zu Feindseligkeiten, schwierige Verhältnisse zwischen ins Land, Fly-in-fly-out-Personal aus Israel, den das ist doch gar nichts«-Geste, mit der er darüber niemand brauche Rabbiner aus Deutschland, in verraten. 2010 wurde mit Alina Treiger zum ers- Deutschen und Israelis. Und die Fragen: Braucht USA, England. Sie reisten von Gemeinde zu Ge- hinwegfuchtelt, zeigt: Der Mann hält was von sich. dieser Geschichte nicht erzählt werden. Er hat ten Mal nach dem Holocaust in Deutschland dieses Land wieder Rabbiner? Was sind das für meinde, sie taten ihr Bestes – es war nicht genug. Homolka hat Gewicht in jüdischen und nicht- zwar lange mit der ZEIT geredet, wollte dann eine Rabbinerin ordiniert. Damit, so schrieben Menschen, die heute mitten unter den Tätern von Weder kannten sie die deutsche Kultur und Spra- jüdischen Kreisen, trotzdem gab es einen Aufschrei, aber lieber nicht zitiert werden. Broder hat näm- die Medien damals, stehe die 30-jährige Ukrai- gestern lernen und lehren? Was ist das für ein gro- che, noch hatten sie Antworten auf die Lebenspro- als er seine Idee des Geiger-Kollegs öffentlich mach- lich »keine Lust, den kritischen Appendix für ei- nerin in der direkten Nachfolge der ersten jemals tesker Slogan, unter dem sie angepriesen werden: bleme der hiesigen Juden. Sie taten, was Rabbiner te. »Auf diese Emotionen und das Ausmaß der Vor- nen Clown wie Homolka zu spielen«. in Deutschland ordinierten Rabbinerin, Regina Made in Germany? Soll das nach Qualität klingen? tun: Sie gaben rabbinischen Rat und unterrichte- behalte gegen Deutschland war ich nicht gefasst«, Diese Andeutung zeigt schon, dass man in Jonas. Ein unglücklicher Vergleich: Regina Jonas Auch Kruppstahl war »made in Germany«. ten. Aber sie trösteten nicht. Und waren den Hei- sagt er noch heute, und es ist nicht ganz klar, ob Deutschland nicht einfach Rabbiner ausbilden wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Ein Schick- Lange Zeit hat es so ausgesehen, als könnte das matlosen keine Stütze. sich die Vorbehalte tatsächlich auf Deutschland und glauben kann, damit sei ein neues Kapitel sal, das Alina Treiger nicht droht, das aber zeigt, Judentum nie wieder zu Deutschland gehören. Deshalb wuchs der Wunsch nach eigenen Rab- oder eher auf Homolka selbst bezogen. Denn das aufgeschlagen. Nicht für jene, die Kinder trau- wie schwierig der rechte Begriff, wie unmöglich Viele Gemeinden, die gleich nach dem Krieg ent- binern. Nicht herkömmlichen, wie es sie in Israel Kolleg ist von der Persönlichkeit seines Gründers matisierter Überlebender sind und in der Grau- die Nachfolge ist. Nachfolge setzt Kontinuität standen, haben nicht überlebt. Zu alt, zu verstört, und wie es sie schon seit Jahrhunderten gibt. Nein, bis in die letzte Faser durchdrungen. zone zwischen Vernichtung und Versöhnung voraus: Wo einer aufhört, fängt der andere an. zu verarmt, um den Glauben mit Leben zu füllen. mit dem neuen Deutschland versöhnte Rabbiner Bei der Diskussion »Rabbiner in Deutschland, aufwuchsen. Nicht solange die Angst vor dem Wo aber ein Loch klafft, auf dessen Grund sechs Und selbst dort, wo es gelang, eine kleine Flamme sollten es sein. Das Judentum sollte eine Zukunft ja oder nein?« ging es nicht nur um das komplizier- Bösen in den Deutschen nicht gewichen ist. Für Millionen Tote liegen, wo der Vorgänger nicht des Glaubens am Schwelen zu halten, waren die in Deutschland haben, und die verlorenen Ge- te Verhältnis zwischen Juden und Deutschen, son- Rabbiner scheint der einzige Weg auf diesem aufhörte, sondern gewaltsam starb, ist Nachfolge schmalen Grat zwischen dem Trauma und der das falsche Wort. Hoffnung darin zu bestehen, Jude ohne Stör- Auch Treiger ist eine, die dem neuen Typ potenzial zu werden. Oder Jude durch Übertritt Rabbiner angehört. Schön, klug und voller zu sein, nicht durch Geburt. Selbstvertrauen. Mit ihrem Bild könnte man Ti- Paul Moses Strasko wuchs als Sohn gläubiger telblätter zieren. Ungewollt wurde sie nach ihrer Christen in Montana, USA, auf. Er studierte Ordination zum Stern am Himmel des neuen Musik, er war ein Jazzprofi, machte seinen Ba- deutschen Judentums. Was über sie geschrieben chelor in den Fächern Klarinette und Kompo si- wurde, klang, als habe man eine schreckliche tion. Er war gut, wie er in allem gut ist. Irgend- Hexe mit verwarztem Gesicht erwartet und sei wann ging ihm das Geld für das Studium aus, nun mit dieser feenhaften Erscheinung be- und er arbeitete für eine Computerfirma. Irgend- schenkt worden. wo auf seinem Weg kam Strasko zum Judentum, Gut ein Jahr später sitzt Alina Treiger elegant oder das Judentum kam zu ihm, wer kann das gekleidet auf einer Bank ihrer Synagoge in Ol- schon wissen. Jedenfalls fand er sich wieder: in denburg und – anders kann man es nicht ausdrü- den Gesetzen, den Regeln, in der Hingabe an cken – singt wie ein Engel. Sie hat 2010 sofort einen allmächtigen Gott, in der strengen Abfolge eine Anstellung beim Landesverband der Jüdi- der jüdischen Gebetszeiten und Festtage. Irgend- schen Gemeinden in Niedersachsen erhalten. wann fasste Strasko den Gedanken, Rabbiner zu In der Synagoge haben sich rund zwanzig werden. Irgendwann hielt er vor Freunden eine Menschen zum Freitagabendgebet versammelt, Predigt – alle waren begeistert. Und irgendwann ein Mann und eine Frau sind an diesem Abend packte seine Frau Sandra ihn am Revers und Vorbeter. Treigers Stimme leitet sie. Auf den sagte: Paul, die Zeit ist da. Bänken hinter ihr brummen einige ältere Herren Strasko hätte sich auch in Amerika zum Rab- mit, gegenüber sitzt die Gemeinde gemischt. Die biner ausbilden lassen können. Aber so eine Aus- Synagoge ist eine ehemalige Baptistenkapelle, die bildung ist teuer, Kosten: bis zu 100 000 Euro. der Jüdischen Gemeinde Oldenburg überlassen Strasko hätte sich in Israel ausbilden lassen kön- wurde, als diese 1992 neu entstand. Man hat nen. Dann hätte er auf das Liberale verzichten eine Zwischendecke eingezogen, im Oberge- und einen Haufen Kinder kriegen müssen. Für schoss hat die Synagoge ihren Platz, im runden eine Rabbinerausbildung in Deutschland gibt es Fenster unter dem Dach ist jetzt der Davidstern Stipendien und wenig Konkurrenz. Strasko fand in das Glas gesetzt, und an einer Wand steht der das Abraham Geiger Kolleg im Internet. Das Schrank mit den Thorarollen. Die alten Synago- Curriculum, die Selbstpräsentation, alles gefiel gen sind zerstört, und die neuen jüdischen Ge- ihm. Als er vorsprach, erklärte man ihn für ver- meinden kommen in Kirchen unter. rückt. Ein Amerikaner! Einer, der daheim ein Alina Treiger ist erschöpft an diesem Abend. Judentum hat, das nicht in der Traumaschleife Sie erwartet ein Kind, das Kind hat viel getre- hängt, nicht um seine Existenz kämpfen muss! ten, der Tag war lang. Vor dem Gebet hat sie Ob er überhaupt wisse, dass er in die Wüste Gläubige über das Tempelopfer belehrt. Treiger komme, fragte man ihn. würde gerne einiges an den konservativen Ab- läufen in ihrer Gemeinde ändern, dafür aber 2010 wurde die erste Frau nach dem müsste sie Erklärungen abgeben, die belegen, Holocaust als Rabbinerin ordiniert dass diese Änderungen kein Verstoß gegen die Vorschriften sind. Auch nach dem Gottesdienst Aber Strasko mochte das jüdische Establish- wird die Rabbinerin noch nicht nach Hause ment der USA nicht, er wollte »Pionier« sein. gehen, sondern mit anderen die Lesung aus Gleich denkt man an abenteuerlustige Voor- dem hebräischen Thoratext für den nächsten trekker und furchtlose Landeroberer, an Men- Morgen üben. schen, die sich durch den afrikanischen Busch Treiger ist keine Konvertierte. Aber sie wuchs oder die amerikanische Prärie schlagen. An Sy- auch nicht als gläubige Jüdin auf. Ihre Kindheit nagogen denkt man nicht. Deutschland, sagt war eher ein religiöses Vakuum, das Judentum Strasko, fühlte sich für ihn vom ersten Moment ein Begriff ohne Inhalt. Erst als die Sowjetunion an wie Heimat an. »Als ich in Berlin stand, da zerbrach, wurde aus der Ukrainerin Treiger eine war es, als sei ich angekommen. Die lange jüdi- Jüdin. Sie war 21 Jahre alt, als sie in ihrer Hei- sche Geschichte, die Spuren des liberalen Juden- matstadt Poltawa eine liberale jüdische Gemein- tums in der deutschen Kultur, ich konnte das de gründete. Sie hat sich nicht für Deutschland förmlich spüren.« entschieden, sondern wurde von der World Strasko wurde am Geiger-Kolleg angenom- Union for progressive Judaism fürs Rabbineramt men. Seine Frau verkaufte ihr kleines Unterneh- ausgewählt und – »aufgrund meiner guten Leis- men und ihre Rentenansprüche. 2007 begann tungen« – nach Berlin geschickt. DOSSIER 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 15

Links und Mitte: Die Rabbinerin Antje Yael Deusel mit der Thora in der Synagoge Bamberg. Fotos: Tobias Barniske für DIE ZEIT Tobias Fotos: Rechts: Bei ihrer Ordination in Bamberg

Wenn Homolka von der Qualität seiner Rab- Dabei bestand Graumanns (wie Broders) keine Selbstverwirklichung, sie betrachteten es als Absolventen. Als sie ordiniert wurde, war sie schon Geruch haftete ihnen immer noch an. Sie folgte der biner spricht, dann meint er vor allem deren Kindheit aus Schmerzen und Ängsten der Eltern ihre Pflicht, Gott zu dienen. Viele Kinder zu be- 51 Jahre alt, und einen Medienhype wie die fotoge- Sehnsucht und dem Duft nach Jerusalem. Und reist Kompatibilität mit den besonderen Anforderun- – Überlebenden, die sich für eine Existenz unter kommen. Nach den Vorschriften zu leben, ohne ne Alice Treiger verursachte sie nicht. Dafür heißt seither immer wieder dorthin. Dreimal arbeitete sie gen in Deutschland. Dass sie auch die Verhält- den Tätern entschieden hatten. Eine gespensti- Ausnahme. es über sie: Sie ist die größte unter den Pionieren. als Ärztin in Israel, jeweils für einige Monate. In- nisse in den ehemaligen Sowjetstaaten kennt, sche Kindheit im Schatten der Vernichtungsla- Auch diese Rabbiner sind trotz der Lichtjahre, Denn sie ist Rabbinerin einer Einheitsgemeinde, zwischen hat sie dort eine feste Bleibe und dank macht Treiger für ihre Gemeinde zur idealen Be- ger. »Die Schoah ist immer in mir.« Niemand die sie von der säkularen und emanzipierten deut- also von altmodischen Juden, die Frauen nur auf ihrer jüdischen Herkunft, die sie berechtigt, Israel setzung. Denn wie sie selbst kommen die meis- würde ihm bittere, anklagende Sätze verdenken. schen Gesellschaft trennen, Teil des neuen Juden- der Empore dulden, sie niemals zur Thora rufen als Heimat zu bezeichnen, auch eine permanente ten der 314 Oldenburger Juden aus dem Osten Wenn er den deutschen Antisemitismus geißelte tums. Und auch diese Rabbiner haben keine ver- und schon gar nicht ordinieren würden. »Vor denen Aufenthaltsgenehmigung. Dass sie dennoch in – aus Russland, Weißrussland, der Ukraine. oder in Broders Verachtung verfiele. Aber Grau- giftete Tradition. Er mache sich über die Geschichte steht sie mit ihrer Kippa und dem Gebetsschal und Deutschland bleibt, begründet sie mit ihrer Boden- Ohne Zuwanderer gibt es kein deutsches Juden- mann, seit 2010 Stimme der deutschen Juden, Deutschlands keine Gedanken, sagt ein junger Stu- sagt, wo es langgeht«, sagt jemand. Rabbinerin ständigkeit und auch mit dem Benehmen der ultra- tum. Doch auch mit ihnen gibt es nur einen Ab- hat sich entschlossen, der Depression keinen dent – die sei Vergangenheit, nicht Gegenwart. Der Deusel traut sich was. orthodoxen Israelis. »Ich bin keine, die sich im Bus glanz. »Es sind gebrochene Gemeinden«, sagt Platz zu gönnen. »Wenn die Juden den Deut- Student, aufgewachsen in Russland, hatte jüdische Und sie ist eine Brücke. Sie verbindet Vergange- nach hinten setzt, nur weil jemand sagt, da gehören Walter Homolka. »Schwierige Klientel, psy- schen ihr Schicksal wieder anvertrauen, dann ist Eltern, die ihr Judentum nie auslebten und nach nes und Gegenwärtiges. Geboren als Kind von Ju- die Frauen hin.« In Bamberg, in einer Gemeinde chisch schwankend.« Die »Neuen« kennen Ge- das ein Kompliment.« Es sei nicht gewollt, sagt der Wende nach Deutschland auswanderten. Mit den, die in einer Nische den Nazis entgingen. Jü- mit 900 Mitgliedern, wollte sie nicht nur zur Thora setze und Rituale kaum. Hebräisch sprechen sie er, dass die Schoah, die Vernichtung, die jetzige 16 Jahren fand er zu den Wurzeln zurück und be- disch aufgewachsen. Was einfach klingt, aber auch gerufen werden, sondern als Rabbinerin einen gan- auch nicht, und viele können nicht einmal im jüdische Identität bestimme, auch wenn man- geisterte auch seine Familie für den neuen, alten schon wieder kompliziert ist. »Ich bin Nachkomme zen Gottesdienst leiten. Sie belegte Seminare, sie Siddur, dem Gebetbuch der Juden, lesen. Wenig cher sie zu einer Ersatzreligion mache. Judentum Glauben. Fast alle Studenten erzählen solche Ge- einer jüdischen Familie, deren Angehörige in arbeitete, sie kämpfte. Wurde Kulturreferentin ihrer wissen sie von der Thora (den fünf Büchern soll wieder positiv sein. »Es gibt einen Hunger schichten: Erst in einer jugendlichen Phase der Misch ehen überlebten«, sagt sie. Ihre Kommilito- Gemeinde, zweite Vorsitzende – für jede durch- Mose) und dem Talmud (der Niederschrift der nach Spiritualität. Die Rabbiner sollen der Reli- Selbstfindung wurden sie gläubige Juden. Alle sind nen schildern sie als herzlich und lustig, als Fränkin schnittliche Frau wäre jetzt der Weg zu Ende gewe- mündlichen Überlieferungen). Treiger versteht gion neue Kraft verleihen.« Und dann sagt er an einem Punkt ihrer Biografie heimatlos gewor- durch und durch. Sie stammt aus Nürnberg, stu- sen: Deusel war zu alt für ein Stipendium, sie muss- das. Als sie klein war, riefen ihre Verwandten auf noch einen Satz, der ungeheuerlich daher- den, mussten ein neues Land, eine neue Kultur ver- dierte in Erlangen. Medizin, Spezialgebiet Urologie. te Geld verdienen, Berlin und das Geiger-Kolleg Familienfeiern »Mazel tov«, das war das ganze kommt: »Wir Juden haben unsere Koffer in kraften. In den strengen Regeln der Orthodoxie »Die Herren Ärzte sagten, ich solle lieber Kranken- waren weit weg. »Und dann mit all den jungen Judentum. Mehr gab es nicht. Als man sich nach Deutschland längst ausgepackt.« fanden sie ihre Heimat. schwester werden.« Deusel lacht grimmig. Man Leuten ...«, sagt sie kokett. dem Ende des Kommunismus zum Sabbatgebet Rabbiner ist Aramäisch und bedeutet »mein ahnt, da hat jemand früh Vergnügen an Kampfan- Sie hat es trotzdem geschafft. Mit einer halben versammelte, wusste niemand, welche Worte zu Herr, mein Meister«. Anfangs waren die Rabbi- Sind sie sichtbar, die neuen Juden? Ist es sagen gefunden. »Diskriminierungen ziehen sich Stelle als Fachärztin. Sie pendelte wöchentlich nach sprechen waren. ner einfach Gelehrte, deren Aufgabe es war, die besser für sie, unsichtbar zu bleiben? wie ein roter Faden durch mein Leben. Als Jüdin, Berlin. Wie alle anderen musste sie neben der Rab- Alina Treiger teilt sich ihre Stelle mit ihrem Thora und den Talmud auszulegen, erst im 19. als Urologin und auch als Rabbinerin. Ich musste binerausbildung in Potsdam ihren Master in Jüdi- Ehemann, dem Rabbiner Tobias Jona Simon, Jahrhundert mit der Entwicklung des liberalen Von Berlin geht es mit dem Zug nach Bamberg. immer besser sein, mir mehr Mühe geben, höhere schen Studien machen und in ihrer Gemeinde als ebenfalls ein Absolvent des Geiger-Kollegs. Trei- europäischen Judentums wurden sie auch Seel- Übersensibilisiert durch die Beschäftigung mit dem Ansprüche erfüllen.« Kein Selbstmitleid schwingt »Praktikantin« arbeiten. Deusel lernte und las im ger betreut Oldenburg und Delmenhorst, Simon sorger und Prediger, gaben Religionsunterricht Thema, drängt sich der reisenden Reporterin plötz- mit. Es befriedige sie, fügt sie hinzu, dass diejeni- Zug, sie schlief wenig. Wie viel Fleiß und Disziplin Hameln, Hildesheim und Göttingen. und halfen bei der Klärung religionsgesetzlicher lich die Frage auf, wer im Abteil wohl aus einer Tä- gen, die ihr keine Chance gaben, immer unrecht das forderte – Rabbinerin Deusel wischt solche Simon hat, ähnlich wie Paul Moses Strasko, Fragen. Heute aber sind Rabbiner hauptsächlich terfamilie kommt. Und wer sich wohl interessiert hatten. Ärztin in leitender Position ist sie heute und Nachfragen fort: »Jetzt bin ich hier, alles andere ist eine christliche Vergangenheit. Er wuchs als Pas- Seelsorger, Jugenderzieher und Sozialfürsorger für die neuen Juden in der deutschen Mitte, für die Rabbinerin auch. nicht mehr wichtig.« torensohn auf, doch bewusst las er die Bibel erst – dort, wo Gemeinden sich einen leisten kön- neuen Synagogen, die neuen Hoffnungen, wer Anders als Simon, Treiger und Strasko, die Israel Wichtig sind die Leute aus der Gemeinde, die als Konfirmand. Dabei stellte er fest: Er fand das nen. Selbst wenn es einen Ansturm auf das Gei- überhaupt davon weiß. Sind sie sichtbar, diese Neu- erst bei ihrer Ausbildung kennenlernten, verbindet draußen vor der Tür warten, die ihre Rabbinerin Alte Testament faszinierend, das Neue dagegen ger-Kolleg gäbe, wäre für die meisten Gemein- en? Ist es besser für sie, unsichtbar zu bleiben? Deusel mit dem »Land der Väter« eine frühe Kind- sprechen wollen. In Ruhe. Unter vier Augen. langweilig. den ein Rabbi zu teuer. Auch für Freizeitange- In Bamberg steht Antje Yael Deusel noch im heitssehnsucht. Als Mädchen sammelte sie die Bild- In Bamberg ist es kalt. Menschen hasten durch Früher Christ, heute Jude zu sein bereitet Si- bote, Bildungsarbeit, Jugendprojekte fehlt vie- Mantel im Vorhof der Synagoge. Sie kommt gerade chen, die damals in den Kisten der Jaffa-Orangen den schneidenden Wind. Steht man wieder auf der mon keine Schwierigkeiten. »Mit dem Übertritt len von ihnen das Geld. Vor allem junge Juden aus der Klinik, jetzt muss sie noch ein paar adminis- lagen, Bilder vom Land Israel. Und weil sie den Straße und blickt zurück zur Synagoge, steht da war es, als sei da keine andere Vergangenheit beklagen, ihre Gemeinden seien heute vor allem trative Dinge regeln, dann ist sie bereit für ein Ge- Geruch dieser Früchte liebte, wollte sie eines Tages bloß ein schlichtes Gebäude, an dem der Uneinge- mehr.« Doch seinen Gemeindemitgliedern Interessenvertretungen, und fordern, kostspieli- spräch. Deusel, von Beruf Ärztin und seit einem hin. Seither ist Israel für sie gleichbedeutend mit weihte achtlos vorübergeht. Sie bleiben verborgen: könnte diese Metamorphose missfallen, und ge Synagogen-Neubauten müssten zugunsten halben Jahr Rabbinerin der Israelitischen Kultusge- Orangenduft. Jahre später, als Deusel ihren Schrank der Mut, die Mühe, die glühende Zuversicht der dann hätte Simon doch ein Problem. Der Druck, eines florierenden Gemeindelebens eingestellt meinde in Bamberg, fällt aus der Reihe der Geiger- aufräumte, fand sie die Bildchen wieder, und der neuen deutschen Juden. ein guter, also ein der Gemeinde angemessener werden. Rabbiner zu sein, ist groß. Die Gemeinden be- Gegen die Behauptung, das neue Rabbiner- zahlen ihre Rabbiner direkt. Schon im Vor-Nazi- tum sei bloß ein Konvertitenklub und damit Deutschland war Rabbiner ein Hire- and- fire- Job, eine Art Judentum aus der Retorte, abgekoppelt das zumindest hat sich nicht geändert. von der Vergangenheit und deshalb bequem in die Gegenwart zu integrieren, verwahrt sich »Wir Juden haben unsere Koffer in Graumann. Jude oder konvertierter Jude – das Deutschland längst ausgepackt« ist für ihn kein Unterschied. Kein Blut sei röter als das andere. Es steht geschrieben, wer konver- Es wäre vermessen, ausloten zu wollen, welche tiert, ist ein Jude. So echt, als sei er selbst dabei innere Zerrissenheit Simon bewog, mit der Tra- gewesen, als Moses am Berg Sinai die Zehn Ge- dition einer Pastorenfamilie zu brechen und Jude bote empfing. Doch auch Graumann weiß: »Ein zu werden. Er ist kein Schwärmer, kein Wankel- Riss geht durch die Geschichte des Judentums in mütiger. Er erklärt es mit der »Logik des Glau- Deutschland, und er wird immer sichtbar sein. bens«. Mit Vorschriften und Regeln, die nicht Wir können nie wieder anknüpfen an das Ver- beliebig sind, die nicht den Launen und der täg- gangene. Das Schweigen wird nie wieder voll- lichen Lust oder Unlust unterworfen werden. kommen beredt sein, und die Rabbiner werden Das fände man konsequent, käme einem nicht nicht wieder das sein, was sie einmal waren.« schon wieder Broder in den Sinn, der einmal ei- Das Rabbinerseminar zu Berlin versteckt sich nen Artikel mit dem Titel Zur Hölle mit den in einer unauffälligen Straße in Berlin-Mitte Konvertiten geschrieben hat. Darin heißt es: hinter einer schlichten Mauer, die nur deshalb »Jude kann man nur sein, man kann es nicht auffällt, weil davor ein Polizist steht. Es ist die werden.« Broder nennt die Konvertiten Instant- Ausbildungsstätte für orthodoxe Juden, der Ge- Juden, die das Judentum als Selbstbe die nungs- genentwurf zum Geiger-Kolleg. Durch die Tür laden verstünden, als eine Art Diners Club, für in der Mauer kommt man nur nach Anmeldung, den man nur eine gewisse Bonität brauche. Sie dann steht man in einem Hof, in dem Kinder nerven ihn, weil sie »die Rebellion als Teil des toben. Manchmal schreiten auch junge Männer Systems« nicht begriffen und hundertprozentig mit Bart und sinistrem Blick vorbei. Neben dem sein wollten, während ein echter Jude doch im- Seminar sind hier auch ein jüdischer Kindergar- mer schummle und mit Gott Geschäfte mache. ten, eine Jeschiwa, also eine Talmudschule, und Nichtjuden könnten sich zwar jüdisches Wissen die Büros der amerikanischen Ronald S. Lauder aneignen, Passah statt Ostern, Chanukka statt Foun dation untergebracht, die die Ausbildung Weihnachten feiern. Ein jüdischer Kopf lässt der orthodoxen Rabbiner bezahlt. Im Gegensatz sich laut Broder aber so nicht herstellen. »Das zum Geiger-Kolleg, das zur Uni Potsdam gehört wesentliche Element des jüdischen Denkens und und deshalb Geld vom Staat erhält, wird das Handelns war immer der Protest gegen die Re- Rabbinerseminar ohne öffentliche Unterstüt- geln, das Ringen mit Gott und der Versuch, auf zung bloß aus privaten Mitteln finanziert. Distanz zur jüdischen Überlieferung zu gehen.« Das Rabbinerkolleg ist eine Welt in der Welt Echtes Judentum sei »eine Mischung aus Frech- oder vielleicht sogar hinter der Welt, das kommt heit und Paranoia, schlechten Manieren und auf den Standpunkt des Betrachters an. Hier gutem Essen«. werden ernste junge Männer unterrichtet, die Dieter Graumann ist ein Mensch mit einem ausnahmslos aus Osteuropa und Russland stam- stillen Gesicht und ausgezeichneten Manieren. men. Sie haben bereits jahrelang an der Jeschiwa Seine Mimik zeigt Beherrschung und Beschei- die Thora und den Talmud studiert und sich dung, seine Sätze kommen stimmlich genau schon dort als besonders gelehrt hervorgetan. richtig temperiert. Er empfängt in seinem Büro Nur die besten unter ihnen werden für die Rab- in der Frankfurter Innenstadt, denn wenn er binerausbildung ausgewählt. Angeblich studie- nicht gerade dem Zentralrat vorsitzt, ist er Im- ren die jungen Männer manchmal die ganze mobilienverwalter. Graumann spricht wie einer, Nacht und fallen erst im Morgengrauen mit dem der weiß, dass die Liste der Dinge, die falsch Kopf aufs Pult. Im Interview sind sie ziemlich formuliert oder falsch verstanden werden kön- verhalten, man kommt nicht so recht an sie he- nen, endlos ist. Daher pflegt er die feine Diplo- ran. Sie schütteln keiner fremden Frau die Hand. matie. Graumann muss vielen Seiten gerecht Sie sagen, sie brauchten keine Freizeit, sie woll- werden: jenen Juden, die auf die Reinheit der jü- ten nur eines: lernen. Sie sagen, sie brauchten dischen Tradition Wert legen, und jenen, die auch keine romantische Liebe, sie würden die hoffnungsvoll die heile Welt eines unkomplizier- Frau heiraten, die ihnen von Eltern und Rabbi- ten Neuanfangs beschwören. Und auch solchen nern zugeteilt werde. Auch diese Art des Gehor- wie dem Zyniker Broder. sams sei Gottesdienst. Sie sagen, sie brauchten WOCHENSCHAU 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 18 Seniorenschutz

Ein elektrischer Rollstuhl darf nicht so heißen, Rollstühle, die rocken, dienen dem Abzocken. will die Beatles mit Pete Best? Jeder Alte, der die Herausforderungen der Fußgängerzone. dass er mit den Beatles verwechselt werden Da heißt es auf Kaffeefahrten dann: Lieben Sie noch ganz bei Sinnen ist, will die Vollversion mit Die Senioren würden verarmen ohne das Urteil. Heiß löten, kalt könnte. Das hat der Europäische Gerichtshof die Beatles? Und wer würde da Nein sagen? Klingel »Ringo« und Nackenstütze »Starr«. Verführung droht ihnen auch so noch genug: letzten Donnerstag entschieden (T-369/10). Die Erfahrung mit Heizdecken lehrt, dass das Jeder will den Vierzylinder-Pilzkopfmotor mit Wer schützt sie vor dem Treppenlift »Mick«, vor ziehen Wir finden: Das war allerhöchste Zeit! Denn Basismodell günstig angeboten wird, aber wer dem »Ob-La-Di, Ob-La-Da«-Allradantrieb für dem Ruhestandssekt »Smells Like Teen Spirit«? »Tube« und »Wire« – zwei harte deutsche Messen in Düsseldorf

Über die Röhrenindustrie wissen viele wenig, über die Drahtindustrie auch. Zu Unrecht, wenn man einmal be- denkt, wie vielen Rohren und Drähten man im Alltag begegnet. Stromleitun- Warum das alles, wofür das alles? gen, Abflussrohren, Heizungsrohren, Schaltdrähten, verkupfert, verzinkt, verchromt, heiß gelötet, kalt gezogen, André H. wollte der größte Feuerteufel verklebt, verdreht, gefalzt, gewalzt, gal- vanisiert und quetschverschraubt. sein und zündete 102 Autos an. Viele können heute sagen, was ein Tolles Gefühl – bis er geschnappt wurde. Einlagensicherungsfonds ist, aber nicht, welchen Durchmesser ein herkömmliches Über den Prozess vor dem Berliner Abflussrohr hat. Das kommt von den vielen Berichten über die virtuelle Welt Landgericht berichtet HAUKE FRIEDERICHS der Banken, und die reale Wirtschaft aus Stahl guckt sozusagen in die Röhre. Vergangene Woche in Düsseldorf gab es die exquisite Möglichkeit, das zu ändern und exemplarisch Einblick zu nehmen. Das Handfeste präsentierte sich auf gleich zwei Messen, die einfach Tube hießen (nicht YouTube!) und Wire – Röhre und Draht. Die ganze Metallwelt, vom Saarland bis nach Südkorea, kam zusammen; vom Erz bis zum fertigen Einkaufswagen war jeder Produktionsschritt zu besichtigen. Wer hätte zum Beispiel gewusst, dass Einkaufswagen aus sogenanntem 2D-Draht bestehen? Der Einkaufswa- gen ist zunächst – noch als Draht – auf eine meterhohe Spule gewickelt. Dann läuft er durch eine mannshohe Maschi- ne, die aussieht wie eine Schultafel aus Eisen. Es handelt sich um ein Heiß- drahtschneidesystem, wie zu erfahren ist, es kostet 80 000 Euro. Damit wird der Draht gebogen und geschnitten, am Ende rutscht ein Geflecht heraus. »Hinterher wird dann ein Einkaufs- wagen oder auch ein Fahrradkörbchen daraus«, sagt fröhlich der Maschinist, ein Fachmann aus England. Einmal ins Plau- dern gekommen, deutet er auf den ver- lassenen griechischen Stand nebenan: »Blöd für euch Deutsche, dass ihr jetzt wegen des Euro diese Jungs alimentieren müsst!« Danke fürs Mitgefühl. »Aber«, fährt er fort, »Deutschland kann sehr stolz auf diese Messe sein. Sie ist die welt- größte ihrer Art, und natürlich muss sie hier stattfinden.« Auf der Messe wird klar, was die Berlin im August 2011 Welt im Innersten zusammenhält, 237 Jahre nach dem Faust und im klaren Widerspruch zu ihm: Es ist das Ge- it dröhnendem Bass ruft zählt, wie man gemeinsam vor dem Fernseher ten herauszulesen, dass der Täter so blass und krankhafter Trieb, keine Drogen, kein Alkohol. winde. Die Metallindustrie verehrt das ein Justizbeamter das saß, in den Nachrichten Bilder brennender Au- farblos wirkt. Ein Dutzend Reporter beobachtet Der Gutachter hält den Angeklagten für voll Gewinde. Sie präsentiert es blank poliert Ver fahren auf, als wäre tos. »Wer macht so etwas nur?«, habe sie gefragt. das Verfahren. Die Süddeutsche Zeitung hebt ihn schuldfähig. in Vitrinen, angestrahlt, golden und im Saal 504 des Land- Es gebe vielleicht Menschen, die mit ihrem Frust am Montag dieser Woche auf ihre Seite drei, Ein politisches Motiv können auch die Er- silbern glänzend, blumengeschmückt, gerichts Ber lin-Moa bit nicht umgehen könnten, habe der Sohn geant- spottet aber schon in der Überschrift: Auf klei- mittler nicht erkennen. Noch im vergangenen auf Kissen gebettet. Manche Stücke an diesem Märzmorgen wortet. Autos abzufackeln sei ja auch keine Lö- ner Flamme. Sommer hatten Berliner Polizeifunktionäre im sehen aus wie Patronenhülsen mit Pro- ein Boxkampf zu eröff- sung, habe sie erwidert. André habe darauf Er habe ins Fernsehen kommen wollen, sagt Chor mit Politikern und Boulevardpresse »linke fil, andere wiederum sind armdick und nen und nicht der vierte Verhandlungstag in nichts mehr gesagt. Er habe übrigens mal Poli- der Angeklagte in der Vernehmung. Er scheint Chaoten« als Täter ins Visier genommen. Doch groß wie Sprudelflaschen. MSachen Autobrandstiftung vor der 17. Großen zist werden wollen und als Junge immer mit das Autoanzünden als Wettkampf in einer ano- inzwischen sieht es so aus: 537 Fahrzeuge wur- Der Vertreter einer italienischen Strafkammer. Das liegt am Angeklagten. Der kleinen Streifenwagen gespielt. nymen Konkurrenz verstanden zu haben. An- den in Berlin 2011 in Brand gesteckt, in 92 Firma müht sich redlich, Fachfremden 28-jährige André H. ist in der Stadt zu zweifel- So endet die Befragung, die Zeugin blickt dré H. wollte der erfolgreichste Brandstifter Fällen geht man von politisch motivierten Taten den kugelschreibergroßen Stahlpanzer- haftem Ruhm gelangt. »Feuerteufel« und »Hass- ihren Sohn missbilligend an und darf gehen. Er sein. Und so zog er in mancher Nacht los und aus. Lediglich elf Bekennerschreiben linker rohrgewindebohrer zu erklären, und brenner« nennen ihn die Boulevardblätter. Heu- lächelt ihr hinterher. steckte ein Fahrzeug nach dem anderen an: Gruppen tauchten auf. In Hamburg brannten kapituliert am Ende, indem er auf te soll ganz nüchtern geklärt werden, wie er zum Wie man Autos anzündet, wusste André H. Zwölf Wagen in einer Nacht sind sein Rekord. im selben Jahr 293 Autos, die Hamburger Be- einen Stand mit Schmuck aus 2D- Brandstifter wurde. aus dem Fernsehen. Er besorgte sich Grillan- Die Titelseiten der Boulevardzeitungen würdig- hörden vermuten eine politische Motivation in Draht verweist, wie er eben für Ein- Eine Frau Mitte fünfzig betritt den Saal und zünder und Feuerzeug, dann legte er los. Seine ten ihn als geheimnisvollen Unbekannten, von fünf Prozent der Fälle. kaufswagen und Fahrradkörbchen ver- wird als Zeugin nach vorn gebeten. Der Ange- Serie begann am 7. Juni 2011 und endete am der Polizei nicht zu fassen. Richtig greifbar wird Seit dem Oktober 2011 sinkt in Berlin die wendet wird. klagte sitzt nah bei ihr, er lächelt sie an. Sie 29. August. Der Angeklagte sagt, er habe auf- er auch als Angeklagter nicht. Zahl der Autobrände. Die Polizei löste ihre In den Hallen stampft, zischt, schaut gequält zurück. Draußen hatte sie noch gehört, weil er einen Job bei ei- André H. schloss die Haupt- Sonderkommission »Feuerschein« auf und re- brummt und dröhnt es. Maschinen zur gesagt: »Ich verstehe nicht, dass der André das ner Catering-Firma gefunden schule nach zehn Jahren ab, duzierte die nächtlichen Streifen. Sie verkauft Herstellung von anderen Maschinen be- gemacht hat. So viele Taten.« hatte – als Tellerwäscher für ein machte eine Lehre zum Maler den Rückgang als ihren Erfolg. Im vergangenen gegnen Anzug tragenden Herren der 102 Fahrzeuge soll der Angeklagte angezün- paar Euro die Stunde. Er sah das und Lackierer, bestand die Ab- Jahr hat man sieben Tatverdächtige festgenom- Kaltumformung. Reale Menschen han- det haben – fast ein Fünftel aller Berliner Auto- als eine Chance. schlussprüfung knapp mit der men, 2012 bereits fünf. Zwei sind bislang zu deln mit realen Waren, die sie mit realem brände 2011 werden ihm zugerechnet. In zwei Zudem habe er sich über- Note vier. Er wuchs in Berlin- Haftstrafen verurteilt worden, vier zu Bewäh- Geld bezahlen – nach allem wirkt das Fällen griffen die Flammen auf Gebäude über, wacht gefühlt. In der Tat wurde Mitte auf, zog dann ins benach- rungsstrafen. irgendwie beruhigend. ein Wohnhaus und ein Altenheim fingen Feuer. er von Ende August an von der barte Moabit. In Mitte habe sich Was immer André H. angetrieben haben Doch was ist ein Glasfaserkabel ge- Von schwerer Brandstiftung spricht die Anklage. Polizei observiert, nachdem er sein ganzes Leben abgespielt, mag, für eine kurzfristige Bekanntheit als gen die Information, die durch ein In Berlin brannte im Sommer vergangenen an einem U-Bahnhof in der Nä- Was soll er da sagen? sagt der psychiatrische Gutach- Bürgerschreck hat’s gereicht. Nun steht er vor Glasfaserkabel fließt? Stets bricht die Jahres fast jede Nacht ein Auto, bis zu 650 Poli- he eines Tatorts an einer Über- André H. findet kaum ter. Selbst beim Zündeln ent- den Trümmern seiner Existenz und einer trau- virtuelle Wirtschaft in die wirkliche zisten gingen auf Streife, um Täter auf frischer wachungskamera vorbeigelaufen Worte für seine Taten fernte er sich zunächst nicht rigen Zukunft. Wenn er verurteilt ist, werden ein, wenn man über die Messe geht Tat zu ertappen. Die Brandserie wurde zum und identifiziert worden war. Die weit von der Zweieinhalb-Zim- die Versicherungen auf ihn zukommen, um und nur die Augen aufhält. Da wird Thema des Berliner Wahlkampfes, sogar die Ermittler stellten fest, dass er sich mer-Wohnung, in der er mit die Schadenssummen einzutreiben, die sie ih- ein Dekorationselement der englischen Kanzlerin meldete sich zu Wort. Und nun ist die mehrmals in der Nähe angezündeter Autos auf- seiner Mutter und der behinderten Schwester ren vollkaskoversicherten Fahrzeughaltern aus- Firma Triwire gleich zur Metapher auf Frage: Warum zündelte André H.? gehalten hatte. Die Daten seines Mobiltelefons lebte. Beim ersten Brand habe er den aufsteigen- gezahlt haben. Geschädigte, die von ihrer Ver- den postmodernen Menschen: Ein le- Vielleicht kann die Zeugin Aufschluss geben? trugen wohl sehr zu dieser Erkenntnis bei. den Rauch und das Flackern des Blaulichts aus sicherung nichts bekamen, weil Vandalismus bensgroßer Mann, ganz aus Kupfer- Immerhin ist sie seine Mutter. Er habe ihr nie Ohne sein umfassendes Geständnis hätten dem Badezimmerfenster sehen können, erzählte im Kleingedruckten ausgeschlossen ist, werden draht geformt, sitzt auf einer großen Kummer gemacht, sagt sie. Probleme habe er André H. nicht alle Fälle zur Last gelegt werden er später den Beamten. Dabei habe er so etwas versuchen, sich das Geld mit Zivilklagen direkt Plastikspule. In der Hand hält er eine nicht gehabt. Nicht dass sie wüsste. Gut, das können. Sein Anwalt sagt, sein Mandant habe wie Triumph gespürt. bei ihm zu holen. Mehrere Hunderttausend kleine Plastikspule, auf die er nach- Geld sei knapp gewesen. Aber sonst: »Alles ganz sogar Taten eingeräumt, die ihm gar nicht zur Auf der Suche nach dem Warum untersucht Euro sind es, die er nun irgendwie zusammen- denklich blickt. Hat er Lichtenberg normal.« Last gelegt worden seien. Im Zimmer des Ange- der Psychiater das Seelenleben des Angeklagten: bringen muss. Zudem ist der endlich gefunde- im Sinn? Den deutschen Philosophen Sie tritt resolut auf, forsch, berlinert. Ihr Mit- klagten fanden die Ermittler Zeitungsausschnit- Er sei zehn gewesen, als der Vater die Familie ne Job weg, und die Arbeit im Gefängnis wird Georg Christoph Lichtenberg, der leid hält sich in Grenzen. Entlastendes erzählt sie te mit Berichten über seine Brandstiftungen. Er verließ, ihm habe eine männliche Bezugsperson noch schlechter bezahlt. 1776 in den Sudelbüchern erkannte: wenig. Hatte er Liebeskummer, wie er bei seiner scheint sich nach Aufmerksamkeit gesehnt zu gefehlt. Er habe wenig Energie, im Leben bisher Am vierten und vorletzten Prozesstag hat er »Daß die wichtigsten Dinge durch Vernehmung durch die Polizei angegeben hatte? haben. Die hat er bekommen. Das ist das Gesicht wenig erreicht. seine Taten noch einmal vor Augen. Das Gericht Röhren getan werden. Beweisen erst- Nein, davon wisse sie nichts. Nur ihre Krebser- zum Feuerhass, titelte das Berliner Boulevard- André H. sagt, er habe mit seinen Taten die begutachtet Fotos von allen 102 zerstörten Au- lich die Zeugungsglieder, die Schreib- krankung und die vier Chemotherapien, die blatt B.Z. zu einem Foto von ihm. Reichen treffen wollen. Das nimmt ihm der tos. Noch nie sind in Berlin einem Angeklagten feder und unser Schießgewehr, ja was hätten den Jungen beunruhigt. Die Leser sahen einen Mann mit schütterem Gutachter nicht ab. Als einen »Robin Hood des so viele Brandstiftungen an Fahrzeugen zur Last ist der Mensch anders als ein verworr- Dass ihr Sohn ein Brandstifter sei, das habe Haar, leicht abstehenden Ohren und hängenden ruhenden Verkehrs« verspottet ihn der Medizi- gelegt worden. Rekord! André H. steht vor der nes Bündel Röhren?« sie erst bei seiner Festnahme erfahren. Die Poli- Mundwinkeln. Vor Gericht steht kein diaboli- ner. Er spricht vom Versuch einer moralischen Richterin, schaut auf die Bilder und schweigt. Lichtenbergs Diktum gilt für den zisten kamen an einem Abend im Oktober. Da scher Feuerteufel, sondern ein harmlos wirken- Rechtfertigung des Angeklagten vor sich selbst. Kupfermann; es gilt auch für den In- hatte er, der lange ohne Arbeit war, gerade wie- der, ehrenamtlicher Missionar der Mormonen Denn er zündete keineswegs nur neue und teure ternetmenschen, der Informationen der welche gefunden. in abgetragenem blauen Pullover und verwa- Autos an, sondern auch alte und billige. Wie es Das Urteil gegen André H. erging am Dienstag nach besser leitet als jedes Glasfaserkabel, Ist in der Familie über die Brandstiftungen schener olivgrüner Hose. Aus einigen Artikeln gerade kam. Ein Pyromane sei André H. aller- Redaktionsschluss. Wie es ausfiel, lesen Sie auf auch wenn er von Röhren nichts mehr gesprochen worden? Die Zeugin nickt. Sie er- zum Prozess ist die Enttäuschung der Journalis- dings auch nicht, sagt der Gutachter. Kein ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/autobrandstifter weiß. CHRISTINA RIETZ David Muir/Masterfile (Hahn) (gr):(u.); ddp (r.); Zinken/dapd/ddp Foto [M]: Paul Björn Fotos Kietzmann/Demotix/Corbis; Freiheit, Freiheit über alles: Das filmreife Leben des Georg Kerner S. 20 19 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 GESCHICHTE

SCHAUPLATZ: WUPPERTAL

In aller Die große Sturmmaschine Das Von der Heydt-Museum rekonstruiert den Kosmos einer legendären Zeitschrift Unschuld Eigentlich war es nur eins dieser bibliophilen Journale, Fanzines, Kunstblättchen, wie sie in den letzten Friedens jahren des Kaiserreichs ohne Kinderkreuzzüge – hat es die wirklich gegeben? Zahl erschienen. Doch dann brach der Sturm Oder sind sie nur ein Mythos des Mittelalters? des Sturms los. Aus der Berliner Zeitschrift, vor rund 100 Jahren gegründet, wurde eine Bewe- Fragen an den Historiker Nikolas Jaspert gung mit Galerie, Bühne und Buchhandlung ...

Abb.: Hulton Archive/Getty Images (l.); Katalog (o.r.), Foto: privat privat Foto: (o.r.), Hulton Archive/Getty Images (l.); Katalog Abb.: Der Sturm wurde zur großen deutschen Expres- Kindersoldaten in Landsknechtskluft – eine historische Fantasie des 19. Jahrhunderts sionismusmaschine, mit Maschinisten wie Else Lasker-Schüler, August Macke, Ernst Ludwig Kirchner und nicht zuletzt Oskar Kokoschka DIE ZEIT: Zu den großen Erzählungen des Mit- der andere Teil des Begriffs, das lateinische Wort damit – zumindest indirekt – die Armut der Jaspert: Die französische Gruppe hat es womög- (unsere Abbildung). Aber es gehörten, gerade vor telalters gehört die Geschichte von den Kinder- pueri, meint nicht nur Knaben oder Kinder. Als gesamten Gesellschaft. lich nicht einmal bis ans Mittelmeer geschafft. dem Weltkrieg, auch Künstler anderer Länder kreuzzügen. Der Begriff ist in die Alltagssprache pueri bezeichnete man im Mittelalter auch jene, ZEIT: Richtete sich das vor allem gegen die mäch- Anders der deutsche Zug: Es kann als gesichert dazu, französische Surrealisten wie italienische eingegangen: Wann immer Minderjährige poli- denen im weitesten Sinne kindliche Attri bu te zu- tig gewordene Kirche? gelten, dass es zumindest Teilen geglückt ist, die Futuristen. So entwickelte sich das vielgestaltige tisch missbraucht werden, ist er zur Hand. Was geschrieben wurden: einfache, unschul dige Men- Jaspert: Nicht nur. Das Aufkommen der Bettel- Alpen zu überqueren. Doch dann verliert sich Projekt zu einem Zentrum der internationalen aber ist im Frühjahr 1212, vor genau 800 Jahren, schen meist jüngeren Alters. Die Züge des Jahres orden war eine Reaktion auf den allgemeinen ge- jede Spur. Manche Quellen sprechen davon, ein- Avantgarde, das bis weit in die zwanziger Jahre wirklich passiert? Damals sollen zwei Kinderzüge 1212 wurden also vor allem von wenig vermögen- sellschaftlichen Wandel. Die Städte wuchsen im zelne Gruppen seien bis in die Hafenstädte ge- hinein strahlte und erst 1932 erlosch. ins Heilige Land aufgebrochen sein, von Paris aus den, bäuerlichen Schichten getragen. Wenn einzelne 12. Jahrhundert rasant, und in den Händen der langt. Andere berichten, der Zug habe sich zuvor Das Von der Heydt-Museum hat dem Sturm und aus dem Kölner Raum. Chronisten den Begriff pueri verwenden, so wollen Kaufleute konzentrierte sich ein ganz neuer aufgelöst. und dessen Gründer Herwarth Walden (1878 Nikolas Jaspert: Es gab damals tatsächlich Züge in sie damit nicht nur die Altersstruktur, sondern auch Reichtum. Die Bettelorden übten aber nicht ein- ZEIT: Gab es noch andere Gründe für eine solche bis 1941) jetzt eine große Ausstellung gewidmet. Richtung Süden. Mythos und Wahrheit zu tren- die soziale Zusammensetzung beschreiben. fach nur Kritik daran. Sie waren auch so etwas wie peregrinatio außer den spirituellen? Wirt schaft - Mit Dokumenten und Kunstwerken aus Museen nen ist allerdings nicht leicht: So heißt es etwa, die ZEIT: Waren Frauen beteiligt? das gute Gewissen des reichen Städters. liche zum Beispiel? in aller Welt rekonstruiert es den Kosmos dieses Kinder seien bis nach Italien gewandert und hät- Jaspert: Ja, aber das war auch bei anderen Kreuzzü- ZEIT: Wie war es 1212 um die Kreuzzugsidee be- Jaspert: Das ist unwahrscheinlich. Wir haben kei- ungewöhnlichen Unternehmens, das europäi- ten sich dort eingeschifft, um nach Jerusalem zu gen der Fall. Das Besondere an den »Kinderkreuz- stellt? Löste sie noch so große Begeisterung aus nerlei Hinweise darauf, dass sich genau zu dieser sche Kulturgeschichte geschrieben hat. gelangen; doch dann seien sie ent- zügen« ist, dass sich keine Adligen wie hundert Jahre zuvor? Zeit am Rhein und um Paris die Lebensverhält- weder kläglich untergegangen oder darunter befanden. Und dass die Jaspert: Um die Mitte des 12. Jahrhunderts flaute nisse dramatisch verschlechtert hätten. Entschei- NIKOLAS JASPERT »Der Sturm – Zentrum der Avantgarde«, bis 10. Juni; aber in die Sklaverei verkauft wor- Teilnehmer unbewaffnet blieben. das Interesse merklich ab. Der zweite Kreuzzug dend waren religiöse Motive. Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, den – an die Muslime. ZEIT: Es handelt sich also tatsäch- 1147/49 war wenig erfolgreich verlaufen. Erst ZEIT: Existieren eigentlich Augenzeugenberichte? 42103 Wuppertal; Tel. 0202/563 25 00 ZEIT: Und das ist eine Legende? lich eher um Pilgerfahrten? 1187, nach dem Verlust eines großen Teils der Jaspert: Nicht von Teilnehmern, was wohl auch Jaspert: Mit großer Sicherheit. Es Jaspert: Die Grenzen zwischen Er- christlichen Territorien in Nahost, loderte der damit zu tun hat, dass die meisten Analphabeten gibt keine Quellen, die das ein- oberungszug und Pilgerreise waren Enthu si asmus wieder auf. Auch die Kirche warb waren. Über die »Kinderkreuzzüge« berichten vor deutig belegen. Grundlegender schon bei den früheren Kreuzzügen nun erneut für die Idee – zumal auch wichtige allem einzelne Stadtchroniken, wie die Kölner ZEITLÄUFTE aber ist ein anderer Irrtum, und fließend. Das kann man den Briefen Reliquien verloren gegangen waren. Dazu gehörte Königschronik. Die Registerbände in der päpst- der beginnt schon mit dem Begriff. und Testamenten der ersten Kreuz- die des »Wahren Kreuzes«, ein Gegenstand, des- lichen Kanzlei des Vatikans, die viele Informatio- s ist eine Urszene des Abendlandes, In einigen Schriften ist von einer fahrer entnehmen. Oft war es das sen Bedeutung man sich heute nur noch schwer nen über die Kreuzzüge bereithalten, schweigen immer wieder zitiert, wenn es um die peregrinatio puerorum die Rede. ist Professor für die höchste Ziel dieser Männer, Ver- vorstellen kann. Auch einige Teilnehmer der sich dagegen aus. Macht der Schrift und des Geistes, die Peregrinatio bedeutet so viel wie »in Geschichte des Spät- gebung zu erlangen für ihre Sünden. »Kinderkreuzzüge« sollen mit der Absicht los- ZEIT: Wie ist die Legende von den »Kindersol- E Macht Gottes geht. Der Kirchenvater die Fremde gehen«, »pilgern«. Das mittelalters in Bochum. Bei den »Kinderkreuz zügen« stand gezogen sein, das »Wahre Kreuz« zurückzuholen. daten« überhaupt in die Welt gekommen? aller Kirchenväter, Aurelius Augustinus, erzählt Wort kann zwar auch »Kreuzzug« 2003 veröffentlichte er ebenfalls der Bußgedanke im Vor- ZEIT: Gleichzeitig erstarkten häretische Gemein- Jaspert: Vor allem durch die Weltchronik, die der sie in seinen Bekenntnissen, diesem antik auf- heißen, aber hier war nicht unbe- sein Buch »Die Kreuz- dergrund. Die Teilnehmer wollten schaften wie die Katharer. Besteht da ein Zusam- französische Zisterzienserpater Alberich von geklärten und zugleich ganz mittelalterlich fana- dingt ein Kreuzzug im eigentlichen züge«, das 2006 auch mit ihrem Zug ein Beispiel geben menhang? Trois-Fontaines um 1240 verfasst hat. Darin ist tischen Buch, in dem er um das Jahr 400 seinen Sinne gemeint. Es gab auch keinen auf Englisch erschien und zur Läuterung aufrufen. Ihr Jaspert: Die orthodoxe Armutsbewegung und von 30 000 Kindern die Rede, die sich in Frank- Weg zu Gott aufgeschrieben hat. Aufruf des Papstes ... Appell richtete sich an eine Chris- verketzerte Formen der Frömmigkeit wie das Ka- reich auf den Weg gemacht hätten. Tausende seien Das »Heidentum« liegt hinter ihm, längst hat ZEIT: ... so wie 1095, als Urban II. tenheit, die in ihren Augen reich tharertum waren zwei Seiten einer Medaille. Es in die Sklaverei geraten. Zahlenangaben in mittel- er sich Christus zugewandt. Doch immer noch zum Ersten Kreuzzug aufrief, und bei den nach- und überheblich geworden war und christliche Ar- herrschte in dieser Zeit ganz generell eine starke alterlichen Quellen sind fast immer übertrieben. zögert er und zweifelt, hat keine Gewissheit im folgenden Eroberungsfahrten ins Heilige Land. mut und Demut vergessen hatte. Diese Züge waren spirituelle Aufbruchsstimmung. Bei Alberich kommt noch hinzu, dass er ein äu- Glauben. Da hört er plötzlich, wie er so durch den Jaspert: Um 1212 forderte Innozenz III. die Chris- so gesehen weder Kreuzzüge noch Pilgerreisen, son- ZEIT: Hatten die »Kinderkreuzzüge« auch religiö- ßerst moralisierender Autor war. Seine spektakulä- Garten geht, die Stimmen von spielenden Kin- tenheit nur zum verstärkten Kampf gegen die dern eine Art Reformbewegung. Die Teilnehmer se Anführer? re Schilderung des französischen Zuges ist daher dern im Haus nebenan. Tolle! Lege!, rufen sie, Muslime auf der Iberischen Halbinsel auf. Dort waren nicht nur arm: Sie predigten auch Armut. Jaspert: Südwestlich von Paris soll es ein Schäfer nicht für bare Münze zu nehmen. Über die Ideen nimm und lies! Da nimmt er die Bibel, die auf waren die christlichen Herrscher in Bedrängnis ge- ZEIT: So wie die Mönche der Bettelorden? gewesen sein. Stefan von Cloyes war sein Name. der Bewegung al lerdings erzählt sie indirekt eine dem Gartentisch liegt. Er liest – und glaubt. raten bei ihrem Versuch, die Muslime zu vertrei- Jaspert: Ja. Der Dominikaner- und der Franziska- Im Rheinland ist von einem gewissen Nikolaus Menge. Schließlich schreibt er aus demselben Kinderstimmen, Gottes Stimme. Doch was ben. Auch sind aus dieser Zeit Aufrufe des Papstes nerorden etwa wurden zur selben Zeit gegründet. von Köln die Rede. Näheres über diese beiden Geist heraus, der auch die Teilnehmer beflügelte, haben die Kleinen gespielt? Der protestantische gegen die Katharer überliefert, eine Sekte in Frank- ZEIT: Auch die Anfänge der Kreuzzugsbewegung Männer weiß man nicht, als religiöse Anführer im und kritisiert die auf materiellen Besitz versessene Theologe Adolf von Harnack vermutete 1916, reich, deren Lehre als häretisch galt. Inwieweit das standen in Verbindung mit einer Reform – der gre- engeren Sinne aber sind sie kaum anzusehen. Welt seiner Zeit. es sei ein antikes Spiel mit Schiffchen gewesen. Phänomen der »Kinderkreuzzüge« mit diesen go rianischen Kirchenreform, die den weltlichen ZEIT: Haben sich ihre Züge vereint, wie oft be- ZEIT: Unschuld und Armut gegen Macht und Tolle, lege bedeute nichts anderes als »Anker lich- päpstlichen Initiativen in Verbindung steht, lässt Einfluss auf die Kirche zurückdrängen wollte und hauptet wird? Gier? ten und Leinen los!«. Das aber hieße: Zweifle! sich jedoch nicht genau sagen. die Rückbesinnung auf urchristliche Werte forderte. Jaspert: Auch das wissen wir nicht. Es ist auch un- Jaspert: Ja, aber nicht wie man das vielleicht heute Glaube nichts und niemandem! Lass alle Wahrheit ZEIT: Die Kinder wollten laut der Erzählung ja Jaspert: Und auch damals schon, im 11. Jahr- klar, welche Bewegung die frühere war und even- verstehen würde. Es ging nicht um harte soziale zurück, setz die Segel und fahr hinaus aufs große auch nach Jerusalem und nicht nach Spanien. hundert, gab es Armutsbewegungen. Am Ende tuell auf die andere ausgestrahlt hat. Selbst die Verteilungskämpfe, sondern um das Seelenheil – Meer der Ungewissheit! War es das, was Gott dem Jaspert: Zumindest einige wollten das. Wobei es des 12. Jahrhunderts verstärkte sich diese Ten- Zahl der Teilnehmer lässt sich nicht bestimmen. des Einzelnen und der gesamten Christenheit. Augustinus durch den Mund der Kinder tatsäch- keineswegs nur Kinder waren. Und da sind wir schon denz. Die persönliche Armut des Einzelnen ZEIT: Ist denn bekannt, wie weit die beiden Züge lich riet? Welch ein seltsames Missverständnis, bei dem zweiten groben Übersetzungsfehler. Denn wurde nun besonders vehement propagiert und gekommen sind? Die Fragen stellte CHRISTIAN STAAS so ganz am Anfang der Kirchengeschichte. B.E. GESCHICHTE 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 20

ie Freiheit und die Deutschen, er für weitere bekannte Journale in Deutschland, für In der Schweiz lernt er Johann Heinrich Pestalozzi da hat der neue Bundespräsi- Die Geißel oder Frankreich. Oft wählt er die beliebte kennen. Dessen Pädagogik will »Kopf, Herz, Hand« dent recht, das ist ein schwieri- Form des Reisebriefs, um seine Eindrücke zu schil- gleichermaßen fördern, Kerner ist begeistert. Bildung ges Kapitel. Anders als die dern, ein Vorläufer der modernen Reportage. wird für ihn ein Schlüssel zur politischen Mündigkeit. Menschen anderer großer Na- Aus Hass gegen die Jakobiner schließt Kerner An der Schweizer Verfassungsdiskussion beteiligt er tionen lieben sie die Freiheits- sich der Gruppe »Goldene Jugend« an, die alles ver- sich noch mit einer Flugschrift, dann kündigt er männer und -frauen ihrer Ge- folgt, was ihr jakobinisch erscheint; gegen ehemalige seinen Posten bei Reinhard und geht ein letztes Mal schichte nicht besonders, ja die meisten Deutschen Terroristen empfiehlt er hart durchzugreifen. Als zurück nach Paris. Er sucht eine Anstellung, doch kennenD sie kaum, die Vorkämpfer unserer Republik Reinhard zum französischen Gesandten bei den drei nachdem er sich mit Außenminister Talleyrand über- im 18. und 19. Jahrhundert. Hansestädten Bremen, Lübeck und Hamburg er- worfen hat, sinken seine Chancen gegen Null. Einer dieser Pioniere ist der Arzt und Journalist nannt wird, bietet er Kerner an, sein Privatsekretär Georg Kerner ist 31 und fängt noch einmal von Georg Kerner, geboren am 9. April 1770 in Ludwigs- zu werden. Kerner willigt ein. Gemeinsam reisen sie vorn an. Er reist nach Hamburg, er will Kaufmann burg, gestorben am 7. April vor genau 200 Jahren in im September 1795 an die Elbe. werden. An der Elbe aber hat sich die Stimmung ge- Hamburg. Zeit seines kurzen Lebens stritt er für Frei- In Hamburg schaut man nach wie vor mit großer dreht. Sieveking ist tot, die Liberalen sind in der Defen- heit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die deutsche Ein- Sympathie auf Frankreich. 1790 haben die Bürger hier sive, die Revolution ist in Verruf geraten. Kerners poli- heit, gegen die Fürstleinwirtschaft des Ancien Régime bereits ein Freiheitsfest gefeiert, die erste demokrati- tische Haltung schreckt die Kaufleute davon ab, ihn als ebenso wie gegen den Terror der Sansculotten wie sche Kundgebung Deutschlands; Großdichter Fried- »Lehrling« aufzunehmen. So besinnt er sich auf sei- gegen Napoleons Despotie. Ein Feuerkopf, ein brillan- rich Klopstock und Adolph Knigge aus Bremen, der ne journalistischen Fähigkeiten und versucht sich ter Autor, ein engagierter Mediziner. Er sprühe »Frei- Autor des Umgangs mit Menschen, waren mit von der als Verleger eines politischen Wochenjournals. heit wie ein Vulkan«, beschrieb ihn sein Freund, der Partie. Kerner lernt führende Liberale und Demokra- Nordstern heißt das Blatt, Kerner schreibt alle Ar- Weltreisende , er sei »originell und gut- ten der Stadt kennen: den Kaufmann Georg Heinrich tikel selbst, sorgt auch für den Vertrieb. Trotz der herzig, wie ein junger Schwabe sein muss«, und habe Sieveking und den Gründer der Handelsakademie inzwischen scharfen Zensur – die Stadt versucht, »Kopf und Energie«. Und doch ist es Georg Kerners Johann Georg Büsch – und Klopstock natürlich. ihre Neutralität gegenüber dem napoleonischen 16 Jahre jüngerer Bruder, der gemütvolle Biedermeier- Kerner ist jetzt Sekretär und Journalist und Kurier in Frankreich um jeden Preis zu wahren – findet dichter Justinus Kerner, den die Deutschen bis heute einer Person. Als leidenschaftlicher Reiter, der Parforce- der freie Geist Kerner einen Weg, seine Mei- in Ehren halten – Georg scheint vergessen. ritte liebt und manchen Sturz wegsteckt, jagt er mehr- nung über die Lage der französischen Repu- Er war das älteste, Justinus das jüngste der sechs mals quer durch Europa von der Elbe an die Seine. blik und vor allem über Bona parte zu äußern. Kerner-Kinder. Die Ludwigsburger Familie gehört zu Ein großer Diplomat aber sollte nicht mehr aus Er ist ein Meister der verdeckten Kritik, die den angesehensten des Herzogtums Württemberg. Der ihm werden. Schon auf seiner ersten Mission in Bre- den Ersten Konsul nicht direkt angreift, son- Vater, Oberamtmann und Regierungsrat, ist ein treu- men provoziert er in der Gesellschaft kleine Skandale: dern Bemerkungen anderer über ihn zitiert. er Diener des absolutistisch regierenden Herzogs Carl Laut feiert er die neue Freiheit und weist alle Kritik an Aber dann kehrt Reinhard als französischer Eugen. Georg zeigt sich als unwilliger Schüler, seine Frankreich mit Verve zurück. In Bremen begegnet Gesandter nach Hamburg zurück. Aus- meist schlechten Noten bestraft der Vater mit »Prügel- Kerner auch Knigge (der den 25-Jährigen einen »of- gerechnet er setzt bei der Stadt ein Verbot suppen«. So atmet der Junge auf, als er 1779 nach fenen, feurigen Jüngling« nennt, der »das Herz auf der des Nordsterns durch und zerstört so nicht Stuttgart kommt, in die Hohe Carlsschule. Das Pres- Zunge« trage) und Charles-Maurice de Talleyrand, nur eine alte Freundschaft, sondern zu- tige-Institut des Herzogs, das ihm loyale Beamte mit dem er im Bremer Ratskeller zecht. Eine weitere gleich die neue berufliche Existenz seines heranziehen soll, ist halb Internat und halb Uni- Mission, nach St. Petersburg, scheitert an Kerners Ruf, langjährigen Sekretärs. versität. Eine militärische Schulordnung schottet die ein »revolutionärer Demokrat« zu sein. Die preußische Kerner zieht sich zurück. Er möchte wieder Schüler, zu denen auch Friedrich Schiller gehört, von Regierung setzt sich durch, in Berlin muss er die Rei- Arzt sein. »Ich wollte der Bekämpfung der der Welt ab. Georg entscheidet sich früh für die se abbrechen. Grund zur Freude bietet Kerner in geistigen Gebrechen der Menschheit mein Medizin – und 1789 für die Französische Revolution. dieser Zeit allein die Besetzung Württembergs durch Leben weihen, es gelang mir nicht. Nun Mit Gleichgesinnten gründet er einen politischen Klub. die Franzosen. kehre ich zur Bestimmung meiner Jugend Vive la liberté: 1790 feiern die jungen Männer den Ohne Rücksicht auf diplomatische Usancen grün- zurück, zur Bekämpfung körperlicher Ge- ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille. det er in Hamburg einen politischen Klub: die Philan- brechen der Menschen.« An der Kopenha- Im selben Jahr noch pilgert der junge Kerner zwei- thropische Gesellschaft. Sie wird für die Demokraten gener Universität frischt er sein Wissen auf, mal ins revolutionäre Straßburg. Er will nach Frank- zum Treffpunkt, zur Rednerschule. Kerner ist ihr Prä- die Geburtshilfe wählt er als Spezialgebiet. reich, raus aus der absolutistischen Enge Württembergs, sident. 1797 feiert man wieder, wie sieben Jahre zuvor, Ganz aber kann er vom Schreiben nicht er will die neue Freiheit selbst erleben, Politik machen. zum 14. Juli ein Freiheitsfest. Kerner beschwört den lassen. Nach einem Aufenthalt mit Freunden Eilig fertigt er mithilfe seiner Freunde eine Dok tor- »ewigen Ruhm« des Tages und die »Treue zur Repu- in Südschweden entsteht das Buch Reise über arbeit an. Schon im Juni 1791 ist er wieder in Straßburg blik«. Obwohl sich die »Philanthropen« nach außen den Sund, das Johann Friedrich Cotta, der Ver- – vorgeblich, um seine Ausbildung fortzusetzen, tat- hin eher harmlos geben, erheben die Gesandten an- leger Goethes und Schillers, in Tübingen ver- sächlich aber, um im Land der Revolution zu leben. derer Staaten den Vorwurf, es handle sich um einen öffentlicht. Kerner preist darin Schweden als Kurz zuvor hat er sich mit der Stuttgarterin Auguste »Jakobinerklub«. Die Vereinigung wird verboten. ideales Exil – für enttäuschte Freiheitsfreunde. Breyer verlobt. Es ist der Beginn einer unglücklichen Im August 1803 lässt er sich als Arzt nieder, am Verbindung, da Kerner nicht zurückkehren, die Ver- »Kopf, Herz, Hand« – Pestalozzis Großen Burstah, nicht weit vom Hamburger Rat- lobte ihm aber nicht nach Frankreich folgen will. neue Pädagogik begeistert Kerner haus. Er setzt die Pockenschutzimpfung, die er in In Straßburg tritt er gleich in die »Gesellschaft der Schweden kennengelernt hat, konsequent ein. Der Freunde der Konstitution« ein, den wichtigsten po- Kerner zieht es ohnehin weiter. Im Jahr darauf verlassen Senat ernennt ihn zum »Arzt für die Baracken«, das litischen Klub der Stadt. Der Sympathisant wird zum er und Reinhard, der in Hamburg die intelligente, sind die ausgedehnten Slums auf dem Hamburger Bekenner, zum Akteur. Schon hält er seine erste Rede, reizende Christine Reimarus geheiratet hat, Nord- Berg, dem heutigen St. Pauli. Die neue Aufgabe inter- schon wird er der deutsche Sekretär des Klubs und deutschland. Jetzt geht es nach Italien, wo die franzö- pretiert Kerner, der sich schon an der Carlsschule für beginnt seine journalistische Karriere. Als Herzog Carl sischen Truppen unter General Napoleon Bo na parte die staatliche Armenfürsorge eingesetzt hat, weit über Eugen davon erfährt, entzieht er ihm das Stipendium. gegen die Österreicher vorrücken. Reinhard ist zum das Medizinische hinaus als soziales Projekt. Er veranlasst Auch Vater Kerner tobt. Er verlangt, dass sein Sohn Gesandten im Großherzogtum Toskana ernannt wor- wohlhabende Freunde, für die Notleidenden zu spenden sofort nach Wien geht und dort zu Ende studiert. den; hier regieren noch die Habsburger. Auf der Reise und im Winter Holz zu liefern. Außerdem ermuntert Georg aber kennt nur noch ein Ziel: Paris. »Wien oder macht Kerner einen Abstecher in die Heimat und ver- er die Armen, Gärten anzulegen, der schönste wird Paris wird mein künftiger Aufenthalt sein, der Him- söhnt sich mit dem Vater, der im folgenden Jahr stirbt. prämiert. Besonders liebevoll aber kümmert er sich um mel oder die Hölle, das letztere muß notwendig Wien In Italien erlebt Kerner eine geradezu fiebernde Zeit. die Schwangeren. Selbst ein geschickter Geburtshelfer, für mich sein, da ich nun gewohnt bin, in Frankreichs Auf langen Ritten durchstreift er rastlos die Landschaft, bietet er einen Lehrkurs für Hebammen an. Das alles freierem Schoß zu leben«, schreibt er an Auguste. begleitet einen gefährlichen Geldtransport über den macht den Arzt Kerner bekannter und populärer, als Schließlich gibt der Vater nach, kürzt die Unterstüt- Apennin – und stürzt sich in eine leidenschaftliche es der Politiker und Publizist jemals war. zung aber auf ein Minimum. Affäre mit der Luccheserin Rosa Gianetti, einer verhei- Anfang November 1791 trifft Georg Kerner in der rateten Frau. Auguste Breyer löst endgültig die ewige Er rechnet mit Napoleon ab Hauptstadt der Freiheit ein. Das Geld zum Leben ver- Verlobung. Kerner plagen Schuldgefühle, Lebens- und hofft auf ein einiges Deutschland dient er sich als Deutschlehrer und als Korrespondent zweifel. Doch kaum haben die Franzosen Anfang 1799 der Ham burger Adreß-Comptoir-Nachrichten, später die Toskana besetzt, ist er mit Feuereifer dabei. Er hilft Im Mai 1804 heiratet er die Hamburgerin Friederike auch als Arzt am dänisch-schwedischen Hospital. Er bei der Entwaffnung der toskanischen Truppen und Duncker. Trauzeuge ist der alte Kamerad Reinhard, mit ist nicht der einzige deutsche Freiheitspilger an der der Umwandlung der patrizischen Stadtverwaltungen dem sich Kerner inzwischen wieder versöhnt hat. Vier Seine. Da sind Georg Forster und Adam Lux aus in republikanische. Mit einer selbst aufgestellten Bür- Kinder werden geboren und auf klangvolle Namen ge- , da sind der legendäre Graf Schlabrendorf, der gerwehr zieht er ins Gefecht gegen Konterrevolutionä- tauft: Bonafine, Klara Theone, Sacontala und Georg Diplomat Karl Friedrich Reinhard und viele andere. re in Arezzo, ein Schuss verwundet ihn an der Achsel. Reinhold. Doch dem häuslichen Glück und aller An- Das Kriegsglück der Franzosen wendet sich, Bona- erkennung zum Trotz ist Kerner unzufrieden. Die Po- Mit Talleyrand zecht er parte ist inzwischen in Ägypten, und Russen und Öster- litik lässt ihn nicht los. im Bremer Ratskeller reicher bedrohen die Toskana. Die Lage wird prekär, im Er beginnt wieder journalistisch zu arbeiten, für das Juli 1799 müssen Reinhard und Kerner fliehen. Die Freiheit, Hamburger Wochenblatt Nordische Miszellen. Sein größ- Allzu radikal mag es Kerner allerdings nicht. Nach Seereise von Livorno nach Frankreich gerät zu einem ter Wunsch ist die Einigung Deutschlands. Im Gedicht anfänglichen Besuchen im Jakobinerklub klebt er Albtraum: Die Flüchtlinge kämpfen abwechselnd mit Das blaue Fieber rechnet er mit Napoleon ab, der sich im Plakate gegen die Radikalen und tritt in die National- Piraten, Flaute und Sturm; kurz vor der Landung in Dezember 1804 zum Kaiser gekrönt hat: »Gieriger sind garde ein. Wie die meisten sogenannten deutschen Toulon stirbt der kleine Sohn der Reinhards am Fieber. nicht Hyänen, / Tiger hat er zu Mäzenen, / Flüsse hat er Jakobiner gehört er nach der Pariser Fraktionsordnung Just da steht Reinhard vor einem Höhepunkt seiner ausgesoffen, / und noch steht der Schlund ihm offen.« eher zu den Girondisten, den bürgerlichen Liberal- Karriere. Denn kaum wieder in Paris, wird er, der ge- Tatsächlich lässt Napoleon, um die Kontinental- demokraten. Einmal bewahrt er, beherzt eingreifend, bürtige Deutsche, Frankreichs Außenminister. Seine sperre gegen das verhasste England durchzusetzen, Ende zwei Abgeordnete der National versammlung vor dem Amtszeit ist allerdings nur von kurzer Dauer. Nach Freiheit 1806 Hamburg und Bremen besetzen. Jetzt ist Kerner Zorn der Sansculotten, und am 10. August 1792, dem Staatsstreich des aus Ägypten zurückgekehrten als Mittelsmann gefragt, und mehrfach gelingt es ihm, beim Sturm auf die Tuilerien, den Sitz Ludwigs XVI., Bona parte, Ende 1799, wird er abgelöst und in die die Folgen für die Städte zu mildern. Der Senat beruft kämpft er aufseiten des Königs gegen das Volk. Die Schweiz entsandt, in die Helvetische Republik. Noch ihn zusätzlich zum Armenarzt, außerdem soll er sich Lage wird brenzlig, er rettet sich unter die Holzbank einmal geht Kerner mit. um Zuchthaus und Entbindungsanstalt kümmern. einer Wachstube und bleibt unverletzt. Hier wird er Zeuge, wie die französischen Armeen Und Kerner kümmert sich, er reibt sich auf. Im Die Heimat behält er im Herzen. Für Württemberg auf ihrem erneuten Zug nach Italien den Großen Frühjahr 1812 bricht in der Stadt eine Epidemie aus, entwirft er große Pläne. Den Außenminister Lebrun- Sankt Bernhard überqueren – Jacques-Louis Davids wahrscheinlich ist es Flecktyphus. Der Arzt infiziert Tondu bestürmt er, die Franzosen sollten endlich ein- Gemälde von Bonaparte hoch zu Ross vor der Felsen- über alles sich bei einem seiner Patienten. Das Fieber wirft ihn greifen und das Herzogtum von der Tyrannei befreien. kulisse gehört heute zu den Ikonen der modernen nieder. Nach zwölf Stunden Bewusstlosigkeit stirbt Lebrun-Tondu wehrt ab. Da gerät Kerner erneut in Propagandamalerei. Kerner indes ist längst skeptisch Schwäbischer Rebell und französischer Revolutionär, Georg Kerner, zwei Tage vor seinem 42. Geburtstag. Gefahr: Als Danton und Robespierre die Revolution geworden. Er bewundert den General, den imperia- Die Trauer ist groß. Viele seiner Patienten und Schütz- in den Terror führen, taucht sein Name auf einer Ver- listischen Politiker lehnt er ab, bald wird er ihn hassen. Journalist gegen Napoleon und Arzt von St. Pauli: linge wollen Abschied nehmen und stürmen schier das haftungsliste auf. Anfang Mai 1794 flüchtet er in die »Großer von Europa und der Nachwelt besungener Haus, in dem er aufgebahrt liegt; auf dem Kirchhof von Schweiz. Den Pass hat ihm sein neun Jahre älterer Held! Auch Du bist worden nichts und wirst werden Das fi lmreife Leben des Georg Kerner VON ANDREAS FRITZ St. Petri wird er begraben. »Eine sich selbst vergessende Freund und württembergischer Landsmann Karl nichts, als ein Mensch, der nicht getan hat, was er Uneigennützigkeit, eine seltene Genialität und eine nichts Friedrich Reinhard besorgt, der inzwischen im Pariser hätte tun können, und nicht geworden ist, was er der verhehlende Offenheit machten ihn seinen Freunden be- Außenministerium arbeitet. ganzen Welt hätte werden können«, prophezeit Kerner sonders teuer«, heißt es in Deutschlands größter Zeitung, Kerner bleibt der Freiheit treu. Er wird Agent der unmittelbar nach einer Begegnung mit dem Ersten im Hamburgischen Correspondenten. »Er scheint in einem Re publik; im Oktober 1794 reist er von der Schweiz Konsul im Mailänder Hauptquartier. kurzen, aber gehaltvollen Leben die Summe eines länge- aus nach Württemberg, um für die Neutralität des Derweil wird die unter Frankreichs Fittichen ent- ren Daseins erschöpft und dessen Zweck erfüllt zu haben.« Herzogtums im drohenden Krieg zu werben. Carl standene Helvetische Republik von mehreren Staats- Das ist schön gesagt, stimmt aber leider nicht. Denn Eugen, der alte Despot, ist ein Jahr zuvor gestorben, streichen erschüttert. Kerner fordert die Bildung einer Georg Kerners größter »Zweck«, sein Lebensziel, war ein Nachfolger Ludwig Eugen verweist Kerner des Landes. neuen Regierung, vor allem müsse eine praktikable freies, einiges, soziales Deutschland. Es blieb ein Traum. In Frankreich geht die Schreckensherrschaft zu Verfassung her. Und noch einmal wendet er sich der Der Autor ist Historiker und Journalist. Er lebt in Ende, Robes pierre ist gestürzt, wieder arbeitet Kerner Heimat zu. Ein »Friedensaufstand«, ganz ohne fran- Ludwigsburg. Mehr zum Thema in seiner Biografie dort als Korrespondent. Seine erste große Veröffentli- zösische Hilfe, soll Württemberg in eine Republik »Georg Kerner – Fürstenfeind und Menschenfreund«, chung sind die Briefe aus Paris, die in der Leipziger Zeit- verwandeln. Vergebliche Hoffnung. Georg Kerners Das Medaillon zeigt Georg Kerner (1770 bis 1812) die 2002 im Liberté Verlag, Ludwigsburg,

Abb.: Archiv Ronald Max Vollmer Archiv Ronald Abb.: schrift Klio erscheinen. In den nächsten Jahren schreibt politische Enttäuschung wächst. um 1800, porträtiert von unbekannter Hand erschienen ist (695 S., 44,80 €; ISBN 3-00-010372-4) CHANCEN

BILDUNGSTEST TEIL 1/2 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 21

Herzlich willkommen zur zweiten Runde des Bildungstests der ZEIT! In dieser Woche erwarten Sie noch einmal 100 Fragen, mit denen Sie Ihr Wissen auf die Probe stellen können – diesmal aus den Ressorts Wirtschaft, Feuilleton und Reisen Tom Cruise?

Wirtschaft, S. 22 Oder doch Steve Jobs?

Feuilleton, S. 23

Reisen, S. 25

Auflösungen, S. 27

Fotos: [M] Norman Seeff/Photo12/StudioX; Edith Wagner für [M] Norman DIE ZEIT (u.) Seeff/Photo12/StudioX;Fotos: Edith Wagner Das Bild zeigt den Apple-Gründer Steve Jobs im Jahr 1984 Jahr im Jobs Steve Apple-Gründer den zeigt Bild Das »Im Flieger lese ich ›Super-Illu‹« Die Lernforscherin Elsbeth Stern hat sich an den ZEIT-Bildungstest gewagt – und erklärt, welches Wissen uns wirklich weiterhilft

DIE ZEIT: Hat der erste Teil unseres Bildungs- gemeines Wissen« im Hamburg-Wechsler-Intelli- ßer werden als eine Birke. Letztere kann aber – ZEIT: Hand aufs Herz, auch Sie sammeln nicht So machen Sie mit tests Ihr Wissen vergrößert? genztest den IQ am besten wiedergibt. Eine Er- gehegt und gepflegt – größer werden als eine Ei- nur Sinnstiftendes. Gucken Sie TV-Serien? Elsbeth Stern: Er hat mich an diese Quizsendung klärung dafür ist, dass Menschen, die intelligent che, die Sie vernachlässigen. Stern: Ich bin ein großer Fan der Simpsons. von Günther Jauch erinnert, wo auch isoliertes sind, Wissen einfacher aufschnappen als andere. ZEIT: Ist der Zug, ein gebildeter Mensch zu wer- ZEIT: Das müssen Sie uns erklären. Auf den folgenden Seiten finden Sie Wissen getestet wird. Fragt man solche Fakten Dieser Punkt ist entscheidend. Kindern, die we- den, irgendwann abgefahren? Stern: Ich mag die schnelle Abfolge von Witzen. 100 Fragen der ZEIT-Ressorts Wirtschaft, ab, weiß man nie, ob sie in ein strukturiertes nig Möglichkeit hatten, sich zu bilden, wird man Stern: Solange das Gehirn nicht durch Alzheimer Sie spiegeln ein anderes Amerika. Als Psycholo- Feuilleton und Reisen. Zu jeder Frage Netzwerk eingebettet sind. Ich kann die Frage mit solchen Tests nicht gerecht. Einfacher ist es, oder andere Leiden funktionsunfähig geworden gin mag ich die Charaktervielfalt der Simpson- werden Ihnen vier Antwortmöglichkeiten nach der Hauptstadt von Frankreich richtig be- über die Intelligenz von Menschen zu urteilen, ist, kann man Wissen erwerben. In vieler Hin- Familie. Ich verpasse kaum eine Folge. angeboten – nur jeweils eine davon ist antworten. Das heißt aber noch lange nicht, dass denen man alle Chancen gegeben hat – die aber sicht wird man im Alter sogar besser, weil man ZEIT: Aber Gala lesen Sie nicht mal beim Friseur. richtig. Kreuzen Sie also bitte die Ihrer ich auch weiß, ob Paris in Europa liegt. trotzdem ein bisschen stehen geblieben sind. In- dank des Gespeicherten Neues schnell akkumu- Stern: Aber im Flugzeug. Und sogar Super-Illu. Meinung nach zutreffende Antwort an. ZEIT: Fanden Sie den Test wenigstens schwer? sofern würde ich schon sagen, dass ein Test zum liert. Es sei denn, der Kopf ist voller Müllhaufen. ZEIT: Dann glauben wir Ihnen kein Wort, wenn Auf den Seiten 27 und 28 finden Sie Stern: Ich fand ihn nicht besonders herausfor- Beispiel mit naturwissenschaftlichen Fragen In- ZEIT: Jolie-Müllhaufen? Sie behaupten, Jolie nicht zu kennen. dann die Lösungen. Zusätzlich können dernd. Bei mancher Frage telligenz abbilden kann. Stern: Exakt! Stern: Deren Namen hatte ich gehört. Ich wusste Sie dort lesen, wie die ZEIT-Redakteure dachte ich mir, dass es nicht so ZEIT: Haben wir zu viele fal- ZEIT: Wichtiges geht oft schlechter in den Kopf. nur nicht, wer sie ist. Ich blättere diese Zeitschrif- Ihre Kenntnisse in dem jeweiligen The- schlimm ist, sich da nicht aus- ELSBETH STERN sche Fragen gestellt? Stern: Physikunterricht ist oft so gestaltet, dass ten durch. Und wenn ich auf den Namen Gauck mengebiet beurteilen, ob Sie Laie, Kön- zukennen. Muss ich wissen, Stern: Mir wäre peinlich, hätte auch die Intelligentesten kaum Wissen erwerben stoße, lese ich es auch. Mit seinem Wissen ner oder Experte sind. welcher Vogel den längsten Pe- » ich alle Dinge gewusst, die Sie – weil Definitionen losgelöst vom Alltag vermittelt ZEIT: Warum kokettieren wir mit Nichtwissen Wenn Sie auf den Geschmack ge- nis hat? Da waren so viele Din- definiert man gefragt haben. Es kann durch- werden. Brave Schüler lernen dann Formeln aus- – aber wer Gauck nicht kennt, soll sich schämen? kommen sind, dann greifen Sie doch die ge wie diese Angelina – wie die eigene aus ein Zeichen von Intelligenz wendig. Andere weigern sich, Dinge, die sie nicht Stern: Ich glaube, dass man seine Identität durch Buchtipps auf, die Ihnen die Redakteure heißt sie noch mal? – Dings- Identität. Man sein, einige Sachen nicht zu verstanden haben, auswendig zu lernen. Wenn ich Wissen definiert. Man zeigt, wo man dazugehö- dort zur Weiterbildung geben. bums. Mit welchen Männern wissen. Schließlich denken in- aber nun frage, warum ein Schiff aus Stahl ren will und wo nicht. Das scheint mir auch der Der Test wurde gemeinsam von der die zusammen war, hat mich zeigt, wo man telligente Menschen darüber schwimmt, während ein Klumpen Stahl unter- einzige Grund, warum man seine Kinder heute ZEIT-Redaktion und dem Leibniz-In- nie interessiert. dazugehören will nach, was sie aufschnappen geht, dann können Sie den Hintergrund schon noch zum Lateinlernen schickt. stitut für die Pädagogik der Naturwis- ZEIT: In der Frage zu Frau Jolie und wo nicht « möchten. Das mit dieser Jolie einem Achtjährigen verständlich machen. Kon- ZEIT: Wie meinen Sie das? senschaften und der Mathematik (IPN) ging es um die Anzahl ihrer zu wissen ist für mich ein Zei- frontieren Sie dasselbe Kind später mit Konzepten Stern: Latein ist eine Tradition der deutschspra- in Kiel entwickelt. Aber auch wenn wir Kinder. chen für Unintelligenz. wie Dichte und Auftrieb, dann versteht es das. chigen Länder. Die Angst der Mittelschicht vor uns viel Mühe bei der Entwicklung der Stern: Das habe ich verwechselt. Ist das die, die ZEIT: Was für eine snobistische Sichtweise! ZEIT: Warum macht es trotzdem Spaß, in Tests dem Abstieg ist derzeit sehr ausgeprägt, und mit Fragen gegeben haben, ist unser Test na- ständig den Afrikanern die Kinder wegreißen Stern: Kann sein, was ist schon Snobismus? Aber sein isoliertes Wissen abzufragen? Latein als Schulfach kann man sich von der Un- türlich in erster Linie ein Spiel. will? Intelligenz zeigt sich halt auch in der Hemmung, Stern: Menschen lieben Herausforderungen; alle terschicht abgrenzen. Wir würden uns sehr darüber freuen, ZEIT: Das macht sie zusammen mit Madonna. alles aufzunehmen, und in der Fähigkeit, ziel- möchten Kompetenz erleben. Beim Lösen Ihres ZEIT: Latein verbessere die Sprachkompetenz ... wenn Sie uns Ihre Meinung zu dem Bil- In der Frage nach den Typen ging es um Uschi orien tiert vorzugehen. Was man nicht braucht, Tests fiel mir auf, wie motivierend eine Situation Stern: Durch eine lebendige Sprache würde man dungstest und Ihre Erfahrungen damit Obermaier. dem muss man nicht hinterherlaufen. Nur dann schon ist, wenn ich von vier Antworten zwei aus- dieses Metawissen auch erwerben, und im Ge- mitteilten. Einfach per Mail an bildungs- Stern: Die hat in diesem Film mitgespielt, Der kann man sich auf komplizierte Dinge konzen- schließen kann. Da erlebe ich Kompetenz! Und gensatz zum fossilen Latein könnte man sie noch [email protected] oder als Brief an DIE ZEIT, Schuh des Manitu. Nein? trieren. Mathematiker und Physiker der Spitzen- schon mache ich gerne mit der nächsten Frage anwenden. Bildungstest, 20079 Hamburg. ZEIT: Sie unterschätzen unseren Test. Um die klasse wären in einem formalen Test ganz oben. weiter. Noch stärker ist dieser Effekt bei Compu- ZEIT: Immerhin kann man sich mit Latein viele Falls Sie den ersten Teil des Tests ver- Frage nach Darwins Evolutionstheorie zu beant- Aber in so einem sähen sie ganz schlecht aus. terspielen. Warum sind Schüler süchtig danach? Fremdwörter erschließen. passt haben sollten, dann können Sie die worten, muss man das Grundprinzip seiner Ar- ZEIT: Will ein Mensch als gebildet gelten, was Weil sie Kompetenz erleben. Üben macht sie bes- Stern: Da brauchten Sie eher Griechisch! Im Üb- Ausgabe der vergangenen Woche nach- beit verstanden haben. hilft ihm dann mehr: Wissen oder Intelligenz? ser. Sitzen sie dagegen vor Mathe-Aufgaben, er- rigen gilt: Ein Fremdwort für einen nicht ver- bestellen – per Mail an [email protected] oder Stern: Dort hätte ich andere Antworten formu- Stern: Gesammeltes Wissen hilft nie, sondern kennen sie nicht, ob sie es richtig machen. Ich standenen Sachverhalt zu verwenden ist das Ge- telefonisch unter Tel: 01805/252 909*. liert. Um die Theorie zu verstehen, muss man immer nur das Wissen, mit dem ich was erklären habe mich neulich gefreut, als es mir gelang, ei- genteil von Bildung. Und nun wünschen wir Ihnen wieder wissen, dass Mutation und Selektion entschei- kann: Warum ist etwas so und nicht anders? Ge- nen Knopf anzunähen. Ich konnte das nie. ZEIT: Manche glauben zu wissen, was man wis- viel Freude bei der Suche nach den rich- dend sind – egal, ob bei Menschen, Tieren oder bildet ist, wer Wissen in neuen Situationen an- ZEIT: Eine Hilfe im Leben sind uns heute die sen muss. tigen Antworten! STAN/AW Pflanzen. Der Kern bei Darwin ist nicht, wie Sie wenden kann – dabei hilft ihm Intelligenz. Suchmaschinen des Internets. Stern: Ein Bildungskanon mit suggerieren, dass der Mensch als Tier betrachtet ZEIT: Hilft ihm umgekehrt die Bildung, seine Stern: Wollen Sie etwas genau einer Liste von Themen kann *0,14 €/Min. aus dem deutschen Festnetz, wird. Dieser Aspekt ist ein Nebenprodukt. Aber Intelligenz zu erhöhen? verstehen, hilft Ihnen Google ELSBETH STERN nicht allgemein verbindlich max. 0,42 € aus dem ich will Ihren Test ja gar nicht kleinreden. Stern: Sie hilft, die Kompetenz zu verbessern. allein aber nicht weiter. sein. Hingegen ist es sinnvoll, deutschen Mobilfunknetz ZEIT: Sagt er uns etwas über unsere Intelligenz? Man muss sich Intelligenz als Startkapital vor- ZEIT: Immerhin ist dort all wie es derzeit geschieht, für Stern: Sehr indirekt. Intelligenz ist von der Idee stellen. Der eine erbt mehr, der andere weniger. das gespeichert, mit dem ich die Schulen einen Kompetenz- her etwas anderes: ein Potenzial, eine Lernfähig- Investiere ich diese Intelligenz in Begriffswissen, mich nicht belasten will. begriff zu formulieren und so keit, die sich im Gehirn niederschlägt. Intelligenz kann ich in vielen Bereichen kompetent sein. Stern: Das ist natürlich der Standards und Ziele zu defi- zeigt sich vor allem im schlussfolgernden Den- ZEIT: Kann man diese Kompetenz trainieren? Vorteil. Dinge, von denen nieren. Aber wenn Selbster- ken, und nur dann, wenn man gute Bildungs- Stern: Gehirnjogging hilft Ihnen da nicht weiter. ich mir nicht vorstellen nannte behaupten, man müsse Online möglichkeiten hat. Man kann sein Gehirn nicht wie einen Muskel kann, dass ich die irgend- die eine Literatur und nicht ZEIT: Lässt sie sich mit Wissenstests messen? trainieren. Allerdings nutzt man seine Intelligenz wann mal brauche, sind im Die gebürtige Hessin die andere gelesen haben: Da Unter www.zeit.de/ergebnisse können Stern: Menschen, die ein sehr großes Intelligenz- überhaupt erst mit Wissen – und fördert damit Netz gut aufgehoben. Die ist Psychologin und frage ich schon, warum das so Sie beurteilen, wie gut Sie im Vergleich potenzial mitbringen, aber keine Schule besuchen seine Fähigkeiten. Lassen Sie mich das anhand Gefahr ist, dass man sich ver- Professorin für sein soll und nicht anders. zu anderen Lesern abgeschnitten haben. konnten und den ganzen Tag im Bergwerk arbei- der Pflanzen beschreiben. Denen ist auch unter- zettelt, wenn man auf einem Lehr-Lernforschung ten mussten – denen würde man, wenn sie im schiedliches Potenzial in die Gene geschrieben. Gebiet nicht bereits über ein an der ETH Zürich Das Gespräch führten Wissenstest schlecht abschnitten, Unrecht tun. Eine Eiche, die auf gutem Boden wächst und die Gerüst an sinnstiftendem ALEXANDRA WERDES Andererseits zeigte sich, dass der Untertest »All- Sie ausreichend mit Wasser versorgen, wird grö- Wissen verfügt. und URS WILLMANN 22 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 BILDUNGSTEST Wirtschaft

George Clooney?

Oder doch Anshu Jain?

Foto: [M] Simon Dawson/GettyFoto: Images/© 2012 Bloomberg Finance Das Bild zeigt den Nachfolger Josef Ackermanns als Chef der Deutschen Bank (siehe Frage 19) Frage (siehe Bank Deutschen der Chef als Ackermanns Josef Nachfolger den zeigt Bild Das

1 2 3 4 5 Der Preis ist das zentrale Wie wird in der Börsensprache jemand Eine hohe Inflation begünstigt vor allem ... Wofür stand das Motto »No Logo« Was verhindert das Bundeskartellamt? Steuerungselement der Marktwirtschaft. bezeichnet, der auf steigende Kurse wettet? Anfang des Jahrtausends? Im Idealfall bildet er sich aus ... A c Personen, die Geld gespart haben A c Fusionen, die zu A c Optimist B c Personen mit einer A c Für Mode von unbekannten marktbeherrschenden Stellungen A c Euro und Cent B c Bär Lebensversicherung Designern führen würden B c Plus und Minus C c Bulle C c Personen, die Geld in Aktien B c Für die Kritik an globalisierten B c Irreführung der Verbraucher C c Angebot und Nachfrage D c Zocker und Fonds angelegt haben Konzernen, die ihre Marken- auf Verpackungen D c Import und Export D c Personen, die Kredite produkte billig produzieren lassen C c Unbegrenzte Ladenöffnungszeiten aufgenommen haben C c Für die Forderung, Firmenlogos auch an Sonntagen auf Produkten zu verbieten D c Scheinselbstständigkeit D c Für die Idee, Kaufentscheidungen intuitiv statt rational zu treffen

6 7 8 9 Was tut ein Content-Manager? Die Einnahmen aus der »Ökosteuer« ... Der Europäische Stabilitätsmechanismus Im Deutschen Aktienindex (Dax) zeigt sich ESM, auch Europäischer Rettungsschirm die Entwicklung ... A c Er sammelt Daten über die A c werden primär zur Förderung genannt, wird eingerichtet, ... Zufriedenheit der Bevölkerung erneuerbarer Energien verwendet A c aller an der Frankfurter Börse B c Er koordiniert die logistischen B c werden im Wesentlichen A c um insolventen EU-Ländern notierten deutschen Unternehmen Abläufe in Hafenterminals verwendet, um die Renten- Schuldenschnitte zu ermöglichen B c der 30 traditionsreichsten C c Er leitet das Controlling versicherung zu subventionieren B c um fast zahlungsunfähigen Euro- deutschen Unternehmen bei Versicherungsgesellschaften C c dienen in erster Linie Ländern Hilfskredite zu gewähren C c der 30 größten deutschen Unter- D c Er ist zuständig für die zur Bezuschussung C c um die Autohersteller wirtschafts- nehmen an der Frankfurter Börse Produktion und Veröffentlichung der Bundesagentur für Arbeit schwacher Euro-Länder zu stützen D c der 30 deutschen Unternehmen von digitalen Inhalten D c werden zur Schuldentilgung D c um die Insolvenz mit einem Kurs-Gewinn-

des Bundes verwendet der EZB zu vermeiden press Photoweb/action Foto: Verhältnis größer als fünf

10 11 12 13 Was wird an der Börse Von einer Rezession spricht man im Allgemeinen, wenn die Wirtschaft ... Noten- und Zentralbanken verfolgen Was bedeutet Tarifautonomie? als Leerverkauf bezeichnet? mit einer Anhebung A c in einem Quartal im Vergleich zum Vorquartal schrumpft der Leitzinsen das Ziel, ... A c Die im Grundgesetz verankerte A c Jemand verkauft alle Wertpapiere, B c in zwei Quartalen hintereinander Nichteinmischung der Regierung die er von einem im Vergleich zu den Vorquartalen schrumpft A c mehr Gewinne zu machen in Tarifverhandlungen Unternehmen besitzt C c in drei Quartalen hintereinander B c die wachsende Gefahr einer B c Die gesetzlich garantierte Ver- B c Jemand verkauft Wertpapiere, im Vergleich zu den Vorquartalen schrumpft Inflation einzudämmen handlungsfreiheit der Betriebsräte die er nicht besitzt D c in vier Quartalen hintereinander C c das Wirtschaftswachstum C c Das Recht der Regierung, C c Jemand verkauft Wertpapiere, im Vergleich zu den Vorquartalen schrumpft zu beschleunigen Tarifabkommen festzulegen die vom Handel ausgesetzt sind D c die wachsende Gefahr einer D c Das Recht eines Unternehmens, D c Jemand verkauft Wertpapiere Rezession einzudämmen Tarifabschlüsse an einen insolventen Käufer nicht anzuerkennen

14 15 16 17 Wann ist das politische Ziel Welche der folgenden Personen Welche Konsequenzen ergeben Volkswagen war 2011 der der Vollbeschäftigung erreicht? ist bei der privaten Riester-Rente nicht sich vermutlich aus der demografischen deutsche Konzern mit dem höchsten zulagenberechtigt? Entwicklung für den Arbeitsmarkt? Umsatz. Dieser betrug ... A c Wenn alle freien Arbeitsplätze besetzt sind A c Ein rentenversicherungspflichtiger A c Dem Arbeitsmarkt stehen immer A c 52,8 Milliarden Euro B c Wenn alle arbeitswilligen Arbeitnehmer mehr qualifizierte Arbeitskräfte B c 73,5 Milliarden Euro Erwerbspersonen beschäftigt sind B c Ein Arbeitslosengeld-II- zur Verfügung C c 106,5 Milliarden Euro C c Wenn die Arbeitslosenquote Empfänger B c Die Arbeitslosigkeit wird steigen D c 159,3 Milliarden Euro auf zwei bis fünf Prozent sinkt C c Ein niedergelassener Arzt C c Der Fachkräftemangel D c Wenn die Arbeitslosenquote D c Ein Wehr- oder wird steigen auf null Prozent sinkt Zivildienstleistender D c Es werden weniger Zuwanderer

Foto: Sebastian Willnow/dapd/ddp Foto: auf dem Arbeitsmarkt benötigt

18 19 20 21 Wie hoch ist der Anteil der kleinen und Wer tritt zusammen mit Jürgen Fitschen Welche der folgenden Aussagen stimmt Was ist der Gini-Index? mittleren Unternehmen (KMU) an die Nachfolge von Deutsche-Bank-Chef NICHT? allen Unternehmen in Deutschland? Josef Ackermann an? A c Ein Maß für die Wirtschafts- A c Die G-20-Staaten erwirtschaften leistung eines Landes A c Unter 15 Prozent A c Jeff Bezos rund 90 Prozent des weltweiten B c Ein Maß für das Verhältnis von B c Etwa 33 Prozent B c Anshu Jain Bruttoinlandsprodukts direkten und indirekten Steuern C c Etwa 58 Prozent C c George Clooney B c Die G-20-Staaten bestreiten rund C c Ein Maß zur Darstellung D c Über 99 Prozent D c Jerry Yang 80 Prozent des Welthandels von Ungleichheitsverteilungen, C c Die G-20-Staaten verzeichnen beispielsweise im Vermögen alle Exportüberschüsse D c Ein Maß für den Außenhandels- D c Die G-20-Staaten bestehen aus überschuss eines Landes

Foto: Yonhap/picture-alliance/dpa Foto: Industrie- und Schwellenländern

Lösungen auf Seite 27 BILDUNGSTEST 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 23 Wirtschaft

22 23 24 25 Welche Aussage ist richtig? Ein Konzern wird operativ geführt vom ... Welches ist aktuell das nach Wie viele Menschen leiden weltweit an Unternehmen mit hohem Cashflow ... Börsenwert teuerste Unternehmen Hunger? der Welt? A c können aus eigener Kraft A c Konzernbetriebsrat A c Weniger als eine Million größere Investitionen tätigen B c Vorstand A c Daimler B c Etwa fünfzig Millionen B c haben im abgelaufenen C c Aufsichtsrat B c Apple C c Etwa hundert Millionen Wirtschaftsjahr viel Kapital D c Aktionär C c Unilever D c Etwa eine Milliarde verloren D c General Electric C c haben hohe Ausgaben D c stehen kurz vor der Insolvenz Foto: P. Dazeley/Photographer´s Images Choice/Getty P. Foto:

26 27 28 29 Die Protestform »Carrot Mob« basiert auf Was fanden Forscher auf dem Gebiet der Die Begriffe der »Innovation« Was sind Mikrokredite? dem links abgebildeten Prinzip. Behavioral Finance heraus? und der »schöpferischen Zerstörung« Was tun die Demonstranten dabei? wurden geprägt von ... A c Kredite über eine geringe Summe A c Dass formale Regeln an Kleinunternehmer A c Sie füttern Zootiere mit Biomöhren Wirtschaftseinheiten beeinflussen A c Werner von Siemens in Entwicklungsländern B c Sie kaufen in einem Laden ein, B c Dass der Mensch nicht B c Friedrich August von Hayek B c Startguthaben in Spielkasinos dessen Besitzer verspricht, Teile des streng rational handelt C c Jack Welch C c Geringe Beträge, die Privatleute Gewinns fürs Klima einzusetzen C c Dass Menschen immer D c Joseph Schumpeter an Kleinunternehmer in hoch ver- C c Sie stellen Kunden zur Rede, altruistisch handeln schuldeten EU-Ländern verleihen wenn diese keine Ökoware kaufen D c Dass die meisten Staaten nie D c Kredite über einen sehr kurzen D c Sie verteilen symbolisch Möhren an mehr schuldenfrei sein werden Zeitraum, meist nur wenige Tage

Foto: Andia/VISUM Foto: die umweltfeindlichsten Manager

30 31 32 33 Welche der folgenden Organisationen Was bedeutet »Land Grabbing«? Wie hoch ist in Deutschland Von wem stammt das Zitat ist für die Schlichtung internationaler der Anteil erneuerbarer Energien am »Stay hungry. Stay foolish«? Handelskonflikte zuständig? A c Privatleute oder Konzerne bringen gesamten Bruttostromverbrauch? Land in ihren Besitz, A c Roland Berger A c Organisation für wirtschaftliche oft mit illegalen Mitteln A c Unter 5 Prozent B c Steve Jobs Zusammenarbeit B c Kleinbauern gründen B c Etwa 11 Prozent C c Bill Gates und Entwicklung (OECD) Kooperativen C c Etwa 17 Prozent D c Bernard Madoff B c Welthandelsorganisation (WTO) C c Saatgutfirmen bringen D c Mehr als 25 Prozent C c Weltbank Kleinbauern in Abhängigkeit D c Internationaler Währungsfonds D c Konventionelle Bauern bewirt- (IWF) schaften Flächen ausschließlich

mithilfe von Großgeräten Images M. Gottschalk/Photodisc/Getty Foto:

Feuilleton

Petra Kelly?

Oder doch Grace Kelly?

Foto: [M] People Picture/TIFF [M] People Foto: Das Bild zeigt die Schauspielerin Grace Kelly, nicht die Grünen-Politikerin Petra Kelly Petra Grünen-Politikerin die nicht Kelly, Grace Schauspielerin die zeigt Bild Das

1 2 3 4 5 Wer komponierte nur eine Oper, Welcher der folgenden Maler kann Was ist ein Haiku? In welchem von Lessings Stücken wird Welcher der folgenden Kinofilme stellt aber neun Sinfonien? NICHT dem Kubismus zugeordnet die »Ringparabel« erzählt? Bezüge zu Platons Höhlengleichnis her? werden? A c Eine japanische Gedichtform A c Ludwig van Beethoven B c Eine japanische Tuschezeichnung A c »Emilia Galotti« A c »Matrix« B c Johann Sebastian Bach A c Georges Braque C c Eine japanische B c »Nathan der Weise« B c »Vertigo« C c Wolfgang Amadeus Mozart B c Pablo Picasso Kampfkunstvorführung C c »Minna von Barnhelm« C c »Der Pate« D c Gustav Mahler C c Juan Gris D c Eine japanische D c »Miss Sara Sampson« D c »Pulp Fiction« D c Henri de Toulouse-Lautrec Blumenstecktechnik

Lösungen auf Seite 27 24 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 BILDUNGSTEST Feuilleton

6 7 8 9 Wer hat dieses Stück Wand zu Warum wurde die Inszenierung von Wer wartet in Samuel Becketts Wer sagte über sich einem Kunstwerk gemacht? »Idomeneo« an der Deutschen Oper in Theaterstück auf »Godot«? »Was bin ich wieder für ein Schelm«? Berlin 2006 zunächst abgesetzt? A c Harald Naegeli A c Estragon und Wladimir A c Hape Kerkeling B c Banksy A c Auf der Bühne wurde onaniert B c Statler und Waldorf B c Loriot C c Keith Haring B c Ein Kaninchen wurde C c Jules und Jim C c Ludwig Erhard D c Martha Cooper live geschlachtet D c Rosenkranz und Güldenstern D c Heinz Erhardt C c Die abgeschlagenen Köpfe von Mohammed und anderen religiösen Figuren wurden gezeigt D c Der Papst wurde

Foto: Thies Raetzke/Visum Foto: mit Hitler-Bart dargestellt

10 11 12 Was sind Zwiebelfische? Von wem stammte der ursprüngliche Welcher Architekturschule ist Entwurf zur Neubebauung dieses Gebäude zuzuordnen? A c Grammatische Fehler des Ground Zero in New York? B c Typografische Druckfehler A c Expressionismus in Büchern A c Peter Eisenman B c Bauhaus C c Ausstanzungen, die beim B c Norman Foster C c Strukturalismus Tippen mit der C c Daniel Libeskind D c Brutalismus Schreibmaschine entstehen D c Frank Gehry D c Zungenbrecher wie »Blaukraut bleibt Blaukraut ...« Foto: AP/ullstein Foto: Ebert/laif Bonn 2012 Bild-Kunst, © VG T. Foto:

13 14 15 16 Was stellt das Theodizee-Problem infrage? Was nennt man auch die »fünf Säulen Welcher Philosoph fordert die In welchem Werk von Heinrich Böll wird des Islams«? moralische Gleichbehandlung von eine unbescholtene Person Opfer der A c Die Vollkommenheit Gottes angesichts des Leidens in der Welt Tieren und Menschen? menschenverachtenden Berichterstattung B c Die Jungfräulichkeit Marias A c Die fünf Nachfolger Mohammeds der Boulevardpresse? C c Die Existenz von Dinosauriern angesichts der Schöpfungsgeschichte B c Die als Pentagramm angeordneten A c Peter Singer D c Die Wundergeschichten des Neuen Testaments Säulen im Innersten einer Moschee B c Peter Sloterdijk A c »Ansichten eines Clowns« C c Die fünf religiösen Grundpflichten, C c Noam Chomsky B c »Die verlorene Ehre die jeder Muslim zu erfüllen hat D c John Rawls der Katharina Blum« D c Die fünf Pilgerorte, die wichtige C c »Billard um halb zehn« Stationen aus Mohammeds D c »Gruppenbild mit Dame« Leben repräsentieren

17 18 19 20 Wie stirbt Thomas Buddenbrook? Welcher der folgenden Schriftsteller wird Die heutigen Literaturgattungen Welches der folgenden Werke NICHT der Beatgeneration zugerechnet? gehen im Wesentlichen auf Goethe zurück. ist NICHT im Sturm und Drang A c Infolge einer Zahnarztbehandlung Welche Unterscheidung hat er entstanden? B c Infolge eines A c Jack Kerouac vorgenommen? Pferdekutschenunfalls B c William S. Burroughs A c »Die Räuber« C c Er ertrinkt in der Trave C c Allen Ginsberg A c Roman, Gedicht, Novelle B c »Die Leiden des jungen Werthers« D c Er wird ermordet D c Truman Capote B c Epik, Lyrik, Dramatik C c »Die Wahlverwandtschaften« C c Drama, Schauspiel, Oper D c »Die Soldaten« D c Belletristik, Science-Fiction, Ratgeber-Literatur Foto: De Agostini Picture Lib./akg-images De Agostini Picture Foto:

21 22 23 24 Wann fand die erste öffentliche Welches Paar schaffte es mit einem Was haben die Filme »Pina«, »Avatar« und Welches der folgenden Wörter ist Filmvorführung in Europa statt? Dokumentarfilm über seine Hochzeit »Wickie auf großer Fahrt« gemeinsam? KEIN Palindrom? bis ins Kino? A c Im Jahr 1875 A c Sie wurden alle in den A c Regal B c Im Jahr 1895 A c Madonna und Sean Penn Universal-Studios gedreht B c Reck C c Im Jahr 1915 B c John F. Kennedy und B c Es handelt sich um 3-D-Filme C c Rebe D c Im Jahr 1925 Jacqueline Bouvier C c Sie wurden alle D c Rentner C c Diana Spencer und Prince Charles in Deutschland gedreht D c Grace Kelly und D c Es sind alles Fürst Rainier von Monaco Disney-Zeichentrickfilme Foto: Science & Society/Interfoto Science Foto:

25 26 27 Welche Stadt kann als Wiege des Jazz Zu welcher Gruppe von Instrumenten Georg Friedrich Händels »Wassermusik« wird so genannt, weil ... bezeichnet werden? gehört das Saxofon? A c eine der drei Suiten anlässlich einer Bootsfahrt des englischen Königs A c Chicago A c Blechblasinstrumente gespielt wurde B c New York B c Handzuginstrumente B c die Suiten das Spiel von Wasserfontänen in einem Brunnen beschreiben C c St. Louis C c Holzblasinstrumente C c die Suiten auf einer langen Schiffsreise komponiert wurden D c New Orleans D c Tasteninstrumente D c Händel in ihr seine Frustration über den vielen Regen in England ausdrücken wollte Foto: Datacraft Co Ltd/Getty Datacraft Images Foto: Foto: akg-images Foto:

Lösungen auf Seite 28 BILDUNGSTEST 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 25 Feuilleton

28 29 30 Wer gründete das Wer malte diese Venus von 1532? Worum handelt es sich bei West-Eastern Divan Orchestra? dem abgebildeten Kunstwerk? A c Lucas Cranach der Ältere A c Angela Merkel und Hamid Karsai B c Rembrandt A c Trompe-l’œil B c Etgar Keret und Rafik Schami C c Albrecht Dürer B c Quodlibet C c Daniel Barenboim und D c Pieter Brueghel C c Gouache Edward Said D c Impastotechnik D c Simon Rattle und Khaled Abb.: © Städel Museum/Artothek Abb.: Abb.: Gnamm/ARTOTHEK (Staatl. Kunsthalle Karlsruhe) (Staatl. Kunsthalle Gnamm/ARTOTHEK Abb.:

31 32 33 34 Von wem stammt diese Skulptur? Woher rührt der Künstlername »Milch macht müde Männer munter« – Welche Aktion des Künstlers der Dichterin Hilde Domin? um welche rhetorische Figur handelt es sich Christoph Schlingensief wurde gestoppt? A c Auguste Rodin hier? B c Marcel Duchamp A c Von ihrer Vorliebe A c Teilnahme seiner Partei »Chance C c Salvador Dalí fürs Dominospielen A c Anapher 2000« bei der Bundestagswahl D c Niki de Saint Phalle B c Von ihrem Zweitnamen B c Alliteration B c Öffentliche Abstimmungen über Dominika C c Allusion Asylsuchende in Containern C c Von ihrem Exil in der D c Abschwächung C c Küren von »Säulenheiligen« Dominikanischen Republik durch Pfahlsitzen D c Von einer Umkehrung in der »Church of Fear« ihres Mädchennamens Nimod D c Massenbaden mit Arbeitslosen

Foto: www.bridgemanart.com/VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Bild-Kunst, www.bridgemanart.com/VG Foto: im Wolfgangsee

Reisen

Robert F. Scott

Oder doch Roald Amundsen?

Foto: [M] Everett Collechtion, Inc./action Collechtion, press [M] Everett Foto: Das Bild zeigt den Norweger Roald Amundsen (siehe Frage 9) Frage (siehe Amundsen Roald Norweger den zeigt Bild Das

1 2 3 4 5 Auf welcher Insel befindet sich die Wo leben die Maori? In China ist es unhöflich, wenn man bei Wo finden Naturtouristen In welchem Land entwickelte sich die »Lange Anna«? einer Einladung zum Essen ... KEINE Pinguine? Musikrichtung Fado? A c In Island A c Auf Sylt B c In Afghanistan A c pünktlich kommt A c Südafrika A c In Kuba B c Auf Spiekeroog C c In Neuseeland B c alles aufisst B c Falklandinseln B c In Argentinien C c Auf Helgoland D c In Indonesien C c vor oder nach dem Essen raucht C c Peru C c In Spanien D c Auf Langeland D c Geschenke mitbringt D c Grönland D c In Portugal Foto: TopicMedia Foto:

6 7 8 9 Wo treffen Sie auf dieses Bauwerk? Wer saß in Zwickau im Gefängnis? Wer gründete in Lambarene Wie endete das Rennen zum Südpol ein Krankenhaus? von Scott und Amundsen? A c In Barcelona A c Marco Polo B c In Köln B c Karl May A c Reinhold Messner A c Amundsen kam vor Scott an, C c In Neapel C c Heinrich Heine B c Albert Schweitzer starb aber auf dem Rückweg D c In Paris D c Karl Marx C c Albert Einstein B c Scott kam nach Amundsen an D c Karlheinz Böhm und starb auf dem Rückweg C c Weder Scott noch Amundsen erreichte den Südpol D c Beide erreichten den Südpol zeitgleich und ließen sich später

Foto: Pascal Saez/Sipa Press/ddp Pascal Foto: gemeinsam feiern

Lösungen auf Seite 27 26 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 BILDUNGSTEST Reisen

10 11 12 13 Welches Verkehrsmittel benutzt der Wo findet das auf dem Foto abgebildete Bei Grauburgunder, Pinot grigio und Was hat schottischer Whisky mit Protagonist des Romans »In 80 Tagen um Spektakel jedes Jahr statt? Pinot gris handelt es sich um ... amerikanischem gemeinsam? die Welt« von Jules Verne NICHT? A c Genua A c dasselbe Weingut A c Er schreibt sich A c Dampfschiff B c Granada B c dieselbe Rebsorte manchmal »Whiskey« B c Eisenbahn C c Pamplona C c dasselbe Anbaugebiet B c Er reift meist in C c Ballon D c Siena D c dieselbe Keltertechnik frischen Holzfässern D c Elefant C c Er wird mithilfe von Hefe hergestellt D c Er wird traditionell aus Mais hergestellt Foto: Danny Lehman/Corbis Foto:

14 15 16 17 Wo befindet sich ein Tourist Die Porta Nigra ... Wo kommt Alpakawolle ursprünglich her? Was macht man beim Slacklining? mit dieser Aussicht? A c ist ein römisches Stadttor, A c Aus den Rocky Mountains A c Man schwimmt und A c Paris (Place de la Concorde) das man in Trier besichtigen kann B c Aus den Anden wandert durch Schluchten B c Berlin (Siegessäule) B c ist eine römische Brücke, C c Aus dem Himalaya B c Man schwingt sich C c London (Trafalgar Square) die man in Ulm besichtigen kann D c Aus den Alpen von Liane zu Liane D c Barcelona (Monument a Colom) C c ist ein Amphitheater, das man C c Man seilt sich von Brücken ab in Mainz besichtigen kann D c Man balanciert auf D c ist ein römisches Bad, das man einem Gurtband in Münster besichtigen kann Foto: P. Panayiotou/Bildagentur Huber Panayiotou/Bildagentur P. Foto:

18 19 20 21 Wie heißt die Trendsportart, Wie heißt Schnee, der mindestens Welches Land kann man bei einer Die »Compostela« wird allen Pilgern an der Traceure teilnehmen? ein Jahr alt ist? Mekong-Schifffahrt NICHT bereisen? auf dem Jakobsweg verliehen, die ...

A c Trekking A c Firn A c Thailand A c wenigstens die letzten 100 km zu B c Freeclimbing B c Pulver B c Laos Fuß oder die letzten 200 km per C c Parcours C c Harsch C c Malaysia Pferd oder Rad zurückgelegt haben D c Ice-Diving D c Eis D c Kambodscha B c den Weg an der französisch-spani- schen Grenze begonnen haben C c den Weg in weniger als sechs Wochen bewältigt haben D c sich am Ende in Santiago

Foto: Gregor Lengler/laif Gregor Foto: de Compostela taufen lassen

22 23 24 25 Welcher Naturstoff, aus dem man Die Transsibirische Eisenbahn fährt Ein Direktflug von Frankfurt nach Malariatabletten »stand-by« zu nehmen Drogen herstellen kann, wird auch gegen von Moskau nach ... New York startet um 10 Uhr. Wann landet bedeutet, ... die Höhenkrankheit genommen? er ungefähr in New York (Ortszeit)? A c Nowosibirsk und Shanghai A c sie morgens direkt nach dem A c Mohn B c Irkutsk und Nanning A c ca. 0.30 Uhr Aufstehen einzunehmen B c Fliegenpilze C c Wladiwostok und Peking B c ca. 4.30 Uhr B c sie sofort zu nehmen, wenn man C c Kokablätter D c Nowgorod und Shenzhen C c ca. 12.30 Uhr in ein Malariagebiet einreist D c Hanf D c ca. 16.30 Uhr C c sie erst beim Verdacht auf eine Malariainfektion einzunehmen D c sie bereits einige Zeit vor einer Reise in ein Malariagebiet

Foto: Andreas Hub/laif Andreas Foto: einzunehmen

26 27 28 29 Wer entdeckte als Erster den Seeweg Was brachten die portugiesischen Seefahrer Welche afrikanischen Länder liegen am In welcher Stadt kann man nach Indien? von ihren ersten Fahrten nach Afrika unter Indischen Ozean? die Omaijaden-Moschee besuchen? anderem mit? A c Vasco da Gama A c Sambia und Simbabwe A c Al-Ain B c Christoph Kolumbus A c Kartoffeln B c Mosambik und Tansania B c Damaskus C c Amerigo Vespucci B c Gold C c Niger und Tschad C c Kairo D c Ferdinand Magellan C c Kautschuk D c Namibia und Angola D c Beirut D c Rum Foto: Egmont Strigl/imagebroker/Mauritius Foto:

30 31 32 33 6360 Passagiere können auf dem Was ist Fugu? Wo bringt der Dabbawallah Was bedeutet NICHT »Zum Wohl«? Kreuzfahrtschiff »Oasis of the Seas« das Mittagessen? mitfahren. Wie viel Personal ist an Bord? A c Brasilianisches Maniokmehl A c »Santé« B c Eine japanische Spezialität, A c In Mumbai B c »Ganbei« A c Weniger als 500 die aus dem teilweise hochgiftigen B c In Bangkok C c »Cin cin« B c Etwa 1000 Kugelfisch zubereitet wird C c In Dubai D c »Santo« C c Etwa 1500 C c Eine vietnamesische Nudelsuppe, D c In Shanghai D c Mehr als 2000 die als Nationalgericht gilt D c Ein aus Getreidemehl fest gekochter Brei, der in Ostafrika gegessen wird Foto: Alamy/Mauritius Foto:

Lösungen auf Seite 28 BILDUNGSTEST 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 27 Wirtschaft

George Clooney Wie gut bin ich? Die Auflösung So urteilt das Wirtschaftsressort –

Foto [M]: Hans Heinz/colourpress.com Foto und empfiehlt Ihnen Bücher zur aus dem Ressort Wirtschaft Weiterbildung

1 C In der ökonomischen Modellannahme eines »vollkomme- 12 B Der Leitzins legt den Zinssatz fest, zu dem eine Zentralbank 23 B Der Aufsichtsrat ist ein Kontrollgremium, der Betriebsrat Weniger als 13 richtige Antworten: nen Marktes« steigt bei geringerem Angebot und höherer Geschäftsbanken Geld leiht. Ist er hoch, leihen sie sich vertritt die Anliegen der Beschäftigten. Ein Aktionär kann Nachfrage der Preis, im entgegengesetzten Fall sinkt er. weniger Geld. So bleibt die Geldmenge unter Kontrolle. je nach Umfang seiner finanziellen Beteiligung mehr oder weniger Einfluss auf die Unternehmensstrategie nehmen. Laie 2 C »Bullish« sagen Börsianer, wenn Aktienkurse über einen 13 A In der sozialen Marktwirtschaft sollen Arbeitgeber und längeren Zeitraum steigen. Fallende Kurse bezeichnet man Arbeitnehmer Löhne und Arbeitsbedingungen frei 24 B Am 29. Februar lag Apples Börsenwert erstmals über 500 Wie einsam es an der Spitze ist, wie hart als »bearish« und Anleger, die darauf spekulieren, als Bären. aushandeln. Die Gewerkschaften sind als Tarifpartei der Milliarden Dollar, aktuell liegt er bei rund 570 Milliarden. die Kämpfe auf den Vorstandsetagen sind Arbeitnehmer durch das Grundgesetz geschützt. und wie kalt es in Unternehmen zugeht, 3 D Wenn die Geldmenge stärker wächst als die Gütermenge, 25 D Die Zahl der Menschen, die weltweit an Hunger leiden, zeigt Andreas Veiel in Black Box BRD am entwickelt sich eine Inflation: Das Preisniveau steigt an, 14 C Der Logik nach hieße Vollbeschäftigung, dass es für jeden stieg nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung Beispiel des von RAF-Terroristen das Geld verliert an Wert, Schulden wiegen weniger schwer. Arbeitssuchenden sofort eine Stelle gibt. Da dies als und Landwirtschaft FAO im Jahr 2009 auf ermordeten Bankiers Alfred Herrhausen. unmöglich gilt, setzen viele Experten inzwischen eine 1,02 Milliarden an – den höchsten Wert seit 1970. 4 B Mit ihrem Buch No Logo wurde die kanadische Journalistin Arbeitslosenquote von 2 bis 5 Prozent als Zielmarke an. Naomi Klein zur Galionsfigur 26 B Die Aktivisten nennen dies »Buycott« in Abgrenzung zum der globalisierungskritischen Bewegung. 15 C Die subventionierte Zusatzrente sollte vor allem gesetzlich Boykott, bei dem Verbraucher ein Unternehmen meiden. Pflichtversicherte zur privaten Vorsorge animieren. Sie setzen stattdessen auf Belohnung – 5 A Die Behörde soll den Wettbewerb schützen. Sie schreitet Selbstständige Ärzte können sich nicht gesetzlich versichern halten also dem störrischen Esel die Möhre hin. 13 bis 23 richtige Antworten: auch ein bei Preisabsprachen zwischen Wettbewerbern – und somit auch nicht »riestern«. oder wenn Unternehmen ihre Marktmacht missbrauchen. 27 B Wirtschaftswissenschaftler arbeiteten traditionell mit dem 16 C In den kommenden Jahren gehen sehr viele gut ausgebildete Modell des Homo oeconomicus, der stets rational seinen Könner 6 D Das Berufsbild hat sich in den vergangenen Jahren Arbeitskräfte in den Ruhestand. Gleichzeitig rückt mit den Nutzen maximiert. In den vergangenen Jahren wurde entwickelt, seit Unternehmen zunehmend Informationen geburtenschwachen Jahrgängen wenig Nachwuchs nach. diese Annahme auch durch die empirischen Erkenntnisse Wenn Sie ökonomische Ideen und auf ihren Websites zur Verfügung stellen. der Behavioral Finance ins Wanken gebracht. die Menschen dahinter verstehen wollen, 17 D Die anderen Beträge entsprechen dem Jahresumsatz der Un- dann empfiehlt sich Grand Pursuit von 7 B Die Abgaben auf Mineralöl oder Strom sollen nicht nur ternehmen Deutsche Post (A), Siemens (B) und Daimler (C). 28 D Joseph Alois Schumpeter war ein österreichischer Ökonom Sylvia Nasar. Ihr – bisher leider nur Einnahmen erzielen, sondern auch das Verhalten der Bürger und Politiker. Im Prinzip der schöpferischen Zerstörung lag auf Englisch erhältliches – Buch berichtet lenken: Sie werden für hohen Energieverbrauch »bestraft«. 18 D Zu den KMU zählen Betriebe mit weniger als 500 für ihn die treibende Kraft ökonomischer Entwicklung – vom Ringen eines Charles Dickens, Beschäftigten und weniger als 50 Millionen Euro Umsatz. anders gesagt: Das Bessere ist der Feind des Guten. vom Wien Joseph Schumpeters oder 8 B Vor der Einrichtung des ESM hatte es eine Übergangslösung dem Leben eines John Maynard Keynes. für Notkredite gegeben, den EFSF. Diesen haben bisher 19 B Zum ersten Mal wird die Schlüsselposition der größten 29 A Der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus aus Portugal, Irland und Griechenland in Anspruch genommen. deutschen Bank mit einem Banker besetzt, der nicht aus Bangladesch entwickelte die Idee der Mikrokredite und dem deutschen Sprachraum stammt. Jain kommt wurde dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 9 C Die Zusammensetzung des Dax wird angepasst, wenn sich aus Indien und lebte lange in New York und London. die Umsätze der gelisteten Unternehmen verändern. 30 B Die WTO wurde 1994 gegründet, um die internationalen Zuletzt wurde am 21. Juni 2010 der Stahlkonzern Salzgitter 20 C Die G 20 umfassen die 19 wichtigsten Industrie- und Handelsbeziehungen verbindlich zu regulieren. Mehr als 23 richtige Antworten: durch Heidelberg Cement ausgetauscht. Schwellenländer sowie die EU. Zu den Mitgliedern zählen auch Staaten wie die USA, die seit Jahren eine negative 31 A Land Grabbing wird auch als »neue Form des Kolonialis- 10 B Besonders Hedgefonds sind bekannt dafür, dass sie mit Handelsbilanz, also mehr Importe als Exporte, aufweisen. mus« bezeichnet, weil dabei oft multinationale Konzerne Experte Leerverkäufen auf fallende Kurse wetten und so auch aus in armen Ländern Agrarflächen pachten oder aufkaufen der Banken- oder der Euro-Krise Profit schlagen können. 21 C Der Index gibt an, wie groß etwa die Einkommensunter- und Kleinbauern so ihre Existenzgrundlage nehmen. Das Muss zur Finanzkrise: Die schiede innerhalb eines Staates sind. 0 bedeutet Gleichver- Unfehlbaren von Andrew Ross Sorkin. 11 B Im Moment schrammt Deutschland knapp an einer teilung, 1 maximale Ungleichverteilung. Im Englischen 32 C Zum starken Anstieg der letzten Jahre haben vor allem die Der Journalist der New York Times Rezession vorbei: Nachdem die Wirtschaft im vierten wird der Wert oft auch zwischen 0 und 100 angegeben. Anreize durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz geführt. zeichnet minutiös den Absturz der Wall Quartal 2011 um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal Street und ihre Rettung durch den geschrumpft war, rechnen Wirtschaftsforscher für das Ende 22 A Der Cashflow beschreibt die Veränderung des liquiden, also 33 B »Bleibt hungrig, bleibt tollkühn«, riet der Apple-Gründer amerikanischen Staat im Jahr 2008 nach – des ersten Quartals dieses Jahres mit einer schwarzen Null. kurzfristig verfügbaren Kapitals in einer Abrechnungsperiode. Absolventen der Universität Stanford in einer Rede. spannend wie ein Krimi.

Feuilleton

Petra Kelly Wie gut bin ich? Die Auflösung So urteilt das Feuilleton-Ressort – und empfiehlt Ihnen Bücher zur Foto [M]: Werner Schuering/imagetrust [M]: Werner Foto aus dem Ressort Feuilleton Weiterbildung

1 A »Fidelio« ist Beethovens einzige Oper. 12 B Klare, zweckmäßige Formen machen diesen Stil aus. 23 B Durch Digitaltechnik ist die Herstellung von 3-D-Filmen Weniger als 14 richtige Antworten: Abgebildet ist ein Gebäude von Walter Gropius in Dessau. einfacher geworden: Der Film muss von einer Stereokamera 2 D Seine Werke werden dem Post-Impressionismus zugeordnet. in zwei leicht verschobenen Perspektiven gedreht werden, Berühmt sind vor allem die Plakate, die er unter 13 A Der Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab und die sich bei der Vorführung wieder überlagern. Laie anderem für das Pariser Varieté Moulin Rouge anfertigte. bedeutet so viel wie »Rechtfertigung Gottes«. 24 B Ein Palindrom ergibt sowohl vorwärts als auch rückwärts Sind Sie über Ihr Abschneiden enttäuscht? 3 A Ein Haiku gilt als die kürzeste Gedichtform der Welt. 14 C Dazu gehören das Glaubensbekenntnis, täglich fünf gelesen einen Sinn. Dann lesen Sie den »Parzival« des Im Deutschen besteht es in der Regel aus drei Zeilen. Gebete, Almosen geben, Fasten im Ramadan und einmal Wolfram von Eschenbach (etwa die im Leben eine Pilgerfahrt nach Mekka. 25 D Der wohl bekannteste Vertreter des New-Orleans-Jazz Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages 4 B Nathan selbst erzählt von einem Vater, der jedem seiner drei ist Louis Armstrong. mit der lebendigen Übersetzung von geliebten Söhne einen Ring vererbt – wobei alle glauben, 15 A Kirchen und Behindertenverbände protestierten heftig Dieter Kühn), und Sie werden erleben, den einzigen echten zu besitzen. Die Parabel steht für die gegen die Thesen des Australiers, da nach seinen Kriterien 26 C Ein Rohrblatt am Mundstück erzeugt beim Saxofon dass der junge Parzival von nichts eine Gleichberechtigung von Christentum, Judentum und Islam. manchen Tieren die Rechte einer »Person« zukommen, den Ton, ähnlich wie bei der Klarinette. Ahnung hatte, dann aber hart lernte und manchen Menschen (wie Embryonen oder Behinderten) am Ende Gralskönig wurde. 5 A Ähnlich wie die Gefesselten in Platons Höhle, die Schatten einer möglichen Interpretation zufolge aber nicht. 27 A Am 17. Juli 1717 spielte ein Orchester Händels Komposition an der Wand für die Wirklichkeit halten, nehmen die bei einer Spazierfahrt von König Georg I. auf der Themse. Gefangenen in der Matrix die virtuelle Realität, die ihnen 16 B In der Erzählung von 1974 tötet Katharina Blum am Ende von Computern vorgegaukelt wird, als ihr wahres Leben an. aus Wut und Verzweiflung den verantwortlichen Reporter. 28 C Der argentinisch-israelische Dirigent Barenboim und 14 bis 25 richtige Antworten: der in Palästina geborene Literaturwissenschaftler Said 6 B Naegeli ist auch als »Sprayer von Zürich« bekannt, der 17 A Die Hauptperson des Romans von Thomas Mann stürzt gründeten das Friedensorchester 1999 in Weimar. Pop-Art-Künstler Haring ließ sich von Graffiti beeinflussen. auf dem Heimweg nach einer missglückten Zahnoperation Könner Cooper fotografierte in den 1970er und 1980er Jahren und bleibt im Schmutz liegen – ein Symbolbild 29 A Der abgebildete Akt hängt im Städel in Frankfurt. die Graffiti-Szene in New York. Der Street-Artist Banksy für den tiefen Fall des Lübecker Kaufmanns. Bekannt ist der Renaissance-Maler vor allem für Falls Sie an die Grenzen Ihrer Möglichkei- hält seine Identität geheim. seine Altarwerke und für seine Porträts von Martin Luther, ten gegangen und völlig erschöpft sein 18 D Bekannte Werke der Beatgeneration waren Kerouacs dessen Trauzeuge er auch war. sollten, so sollten Sie jetzt das Das große 7 C Aus Angst vor islamistischen Anschlägen wurde die Insze- Roman »On the Road« (1957), Ginsbergs Gedicht »Howl« Lalula von Christian Morgenstern nierung der Mozart-Oper zunächst vom Spielplan genom- (1956) und Burroughs’ Roman »Naked Lunch« (1959). 30 A Der Begriff bedeutet »Täusche das Auge«, weil mittels rezitieren, dessen erste Strophe lautet: men, dann aber unter Polizeischutz doch noch aufgeführt. Capote sagte angeblich abfällig über die Literatur Kerouacs: geschickter perspektivischer Darstellung Räumlichkeit »Kroklokwafzi? Semememi! / Seiokrontro – »This isn’t writing, it’s typing.« vorgetäuscht wird. Das abgebildete Stillleben malte prafriplo: / Bifzi, bafzi; hulalemi: / quasti 8 A Statler und Waldorf sind Figuren aus der »Muppet Show«. der niederländische Künstler Samuel van Hoogstraten. basti bo … / Lalu lalu lalu lalu la!« Jules und Jim verlieben sich im gleichnamigen Film von 19 B Goethe schrieb: »Es gibt nur drei echte Naturformen der Sie finden diesen Meilenstein der 1962 in dieselbe Frau. Rosenkranz und Güldenstern treten Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte 31 C Die geschmolzene Uhr ist ein typisches Motiv von Dalí. deutschen Poesie in den »Galgenliedern«. bei Shakespeare als Jugendfreunde Hamlets auf. und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama«. 32 C Als Hilde Löwenstein in Köln geboren, zog sie schon 1932 9 D Den Spruch rief der deutsche Komiker (1909 bis 1979) oft 20 C In die Epoche gehören Friedrich Schillers »Räuber« und das ins »Exil auf Probe« nach Italien und fand später in seinem Publikum zu, wenn er wieder mal ein Wortspiel Drama »Die Soldaten« von Jacob Michael Reinhold Lenz. der Dominikanischen Republik Zuflucht vor den Nazis. Mehr als 25 richtige Antworten: oder einen sinnverdrehenden Versprecher gemacht hatte. Anders als sein »Werther« lassen sich Goethes »Wahlver- Gedichte veröffentlichte sie erst nach ihrer Rückkehr 1954. wandtschaften« nicht dem Sturm und Drang zuordnen. 10 B Sie entstanden beim traditionellen Buchdruck durch 33 B Bei diesem Stilelement haben die betonten Silben von min- Experte falsch abgelegte Buchstaben in den Setzkästen, 21 B Mithilfe ihres »Cinematographen« projizierten die Brüder destens zwei aufeinanderfolgenden Wörtern denselben Anlaut. sodass im Text zum Beispiel ein einzelnes A in der Louis und Auguste Lumière in Paris zum ersten Mal Um Sie vor Hochmut zu bewahren, emp- falschen Schrifttype auftauchte. vor einem größeren Publikum bewegte Bilder an die Wand. 34 D 1998 sollten die damals vier Millionen deutschen fehlen wir Ihnen Klopstocks »Messias«. Arbeitslosen gleichzeitig im österreichischen Wolfgangsee Möglicherweise werden Sie zu den wenigen

Zum Raustrennen! Zum 11 C Nach einem Streit mit dem Pächter des World Trade Center 22 D Die MGM-Studios sollen die Filmrechte als Entschädigung baden, um das nahe gelegene Feriendomizil des Kanzlers zählen, die dieses gewaltige Versepos, von ist von Libeskinds »Freedom Tower« in der dafür erhalten haben, dass die Hollywood-Schauspielerin Helmut Kohl zu überfluten. Der Bürgermeister von dem Grabbe sagte, es sei ein »unfehlbares jetzigen Umsetzung der Pläne nicht mehr viel zu erkennen. mit der Heirat ihre Karriere an den Nagel hängte. Salzburg stoppte die Aktion wegen Linksradikalismus. Schlafmittel«, gänzlich gelesen haben. BILDUNGSTEST Reisen

MarilynRobert MonroeF. Scott Wie gut bin ich? Die Auflösung So urteilt das Reisen-Ressort – und empfiehlt Ihnen Bücher zur Foto [M]: picture-alliance/dpa Foto aus dem Ressort Reisen Weiterbildung

1 C »Lange Anna« wird der rötliche, frei stehende Felsen 11 C Zum Fest des heiligen San Fermin im Juli lassen sich Tau- 22 C Koka-Blätter werden traditionell in den Andengebieten Weniger als 15 richtige Antworten: genannt, der charakteristisch für Deutschlands einzige sende Menschen von sechs Bullen durch die engen Gassen gekaut oder als Tee aufgesetzt. In der dünnen Höhenluft Hochseeinsel Helgoland ist. jagen. Dabei gibt es Verletzte und manchmal sogar Tote. verbessern sie angeblich die Aufnahme von Sauerstoff. Laie 2 C Die Maori kamen vermutlich im 13. oder 14. Jahrhundert 12 B Es handelt sich um die deutsche, die italienische und 23 C Die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn teilt sich im nach Christus mit Booten von Polynesien nach Neuseeland. die französische Bezeichnung für dieselbe Rebsorte. russischen Ulan-Ude nahe dem Baikalsee. Reisen ist nicht für jeden das Wahre. Sie nannten ihre neue Heimat Aotearoa – »Land der langen Trösten Sie sich mit Paul Bowles’ Roman weißen Wolke«. 13 C Hefe ist bei jeder Art von Whisky eine typische Zugabe. 24 C Nach etwa achteinhalb Stunden Flug gen Westen ist es in Himmel über der Wüste. Da fährt ein Doch nur der amerikanische und der irische schreiben sich Deutschland halb sieben – und in New York, wo die Sonne Paar nach Nordafrika, macht alles falsch 3 B Wer in China seinen Teller leer isst, suggeriert damit, auch »Whiskey«. Anders als Bourbon wird schottischer sechs Stunden später aufgeht, erst halb eins. und gerät in furchtbare Schwierigkeiten. er hätte noch mehr essen können. Für den Gastgeber ist Whisky außerdem traditionell auf der Basis von Gerste Ideal für das heimische Sofa. das eine Blamage – es sieht so aus, als hätte er nicht hergestellt und lagert in gebrauchten Fässern. 25 C »Stand-by« bedeutet: Man hat die Tabletten parat, falls sich genug aufgetischt. ein akuter Infektionsverdacht ergibt. Anders die Prophylaxe: 14 C Zu sehen ist die Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square, Hier nimmt man die Tabletten vorbeugend schon einige 4 D Pinguine haben sich von der Antarktis aus nach Südafrika, errichtet zu Ehren des Admirals, der 1805 bei Trafalgar Zeit vor, während und meistens auch noch nach der Reise. auf die Falklandinseln und entlang des kalten Napoleons Seeflotte besiegte und in der Schlacht starb. 15 bis 25 richtige Antworten: Humboldtstroms bis an die Küsten Perus ausgebreitet. 26 A Magellan gelangte westwärts nach Asien, weswegen die See- 15 A Der Name »Schwarzes Tor« lässt sich wohl auf die dunkle passage bei Feuerland Magellanstraße heißt. Kolumbus gilt 5 D »Fado« kommt vom lateinischen »Fatum«, Schicksal. Farbe zurückführen, die der Stein im Laufe der Zeit annahm. als Entdecker Amerikas. Amerigo Vespucci erforschte die Könner Zentrales Element in den Liedern der Portugiesen ist Küste Südamerikas und wurde Namenspate des Kontinents. die »Saudade«, der Weltschmerz. 16 B Das Alpaka gehört zur Familie der Kamele und wird wegen Englisch ist sicher kein Problem für Sie. seiner flauschigen Wolle inzwischen nicht mehr nur in Peru 27 B Die Kartoffeln stammen aus Südamerika. Kautschuk Lesen Sie The Great Railway Bazaar 6 A Die Sagrada Família ist noch immer nicht fertiggestellt. und Bolivien gezüchtet. hat seinen Ursprung in Mittelamerika. Rum wurde von von Paul Theroux also im Original; Begonnen hatten die Bauarbeiten im Jahr 1882, ursprüng- den Europäern selbst eingeführt und hergestellt. die deutsche Ausgabe ist lange vergriffen. lich im neugotischen Stil. 1883 übernahm der junge 17 D Der Name kommt daher, dass das Nylonband nie sehr fest Theroux ist ein seltsamer Reisender: Architekt Antoni Gaudí die Leitung und änderte die Pläne gespannt wird, sondern recht schlaff (»slack«) unter den 28 B Mosambik und Tansania ziehen unter anderem wegen ihrer an Sehenswürdigkeiten desinteressiert immer mehr in Richtung seines modernistischen Stils. Füßen des Balancierenden nachgibt, sodass ein ständiger schönen Strände und Tauchreviere Touristen an. und meistens schlecht gelaunt. Gleichgewichtsausgleich nötig ist. Aber mit einem untrüg lichen Blick für 7 B Es war nicht das einzige Mal, dass May wegen Betrugs ein- 29 B Die Moschee wurde Anfang des 8. Jahrhunderts errichtet. Zu die kleinen Besonderheiten, saß. In der Gefängnisbibliothek soll er sich vor allem in Rei- 18 C Beim Parcours gilt es, auf einer gedachten Linie direkt von der Zeit reichte das Kalifat von Damaskus bis nach Spanien. die das Fremde so anziehend machen. seliteratur vertieft und dabei den Entschluss gefasst haben, A nach B zu kommen und Hindernisse als sportliche Schriftsteller zu werden. Als Erfinder von »Winnetou« präg- Herausforderung zu sehen. So überwindet der Traceur auf 30 D 2394 Menschen aus 70 Ländern arbeiten auf dem Kreuz- te er die deutsche Vorstellung vom »Wilden Westen«, ob- seinem Weg durch die Stadt Mauern, Zäune, sogar Häuser. fahrtschiff, das mit 16 Passagierdecks zu den Größten gehört. wohl er selbst erst kurz vor seinem Tod nach Amerika reiste. 19 A Firnschnee wird durch wiederholtes Auftauen und 31 B Die Brasilianer streuen Farofa über ihr Essen, die Vietname- Mehr als 25 richtige Antworten: 8 B 1913 reiste der frisch promovierte Missionsarzt nach Wiedergefrieren körnig. Nach und nach entsteht milchiges, sen lieben ihre Pho-Suppe, und in Ostafrika isst man Ugali. Lambarene am Ufer des Ogowe im damals von Frankreich wasserundurchlässiges Firneis. Durch zunehmenden Druck kolonialisierten Gabun. Das von ihm gegründete Spital geht das Firneis in Gletschereis über. 32 A Dabbawallahs sind Kuriere, die daheim gekochtes Essen Experte nimmt heute jährlich Tausende von Patienten auf. an die Arbeitsplätze der Empfänger bringen. Über ein 20 C Der Mekong ist fast 5000 Kilometer lang und fließt auch ausgeklügeltes Logistiksystem wechseln die Essensboxen Alles schon gesehen, was? Entdecken Sie 9 B Nachdem der Brite Robert F. Scott das Rennen gegen durch Tibet, China, Birma und Vietnam. Dort verbreitert er oft mehrmals den Zusteller, kommen aber so gut wie immer die Nähe neu. Am besten mit den Norweger Roald Amundsen verloren hatte, kamen er sich zum Delta und mündet ins Südchinesische Meer. beim richtigen Empfänger an. der Harz reise von Heinrich Heine. und seine Gruppe auf dem Rückweg ums Leben. Der Harz war auch damals nicht das 21 A Um das zu beweisen, braucht man einen Pilgerpass, der an 33 D »Santé« ist die französische, »ganbei« die chinesische, angesagteste Ziel. Aber wie viel Spaß 10 C Obwohl auf dem Buchcover oft ein Ballon abgebildet ist, den einzelnen Stationen abgestempelt worden sein muss. »cin cin« die italienische Variante. macht es, diesen klugen, witzigen Erzähler

reist Phileas Fogg nicht im Ballon. Die Urkunde »Compostela« wird auf Latein ausgestellt. »Santo« heißt auf Spanisch »heilig«. auf seiner Wanderung zu begleiten. Raustrennen! Zum

Benzinpreis: Die künstliche Aufregung Von Fritz Vorholz S. 33

WIRTSCHAFT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 29

EUROPA Der falsche Job Wasserschlacht Wolfgang Schäuble sollte nicht Chef der Euro-Gruppe werden

Dezentes Auftreten und Desinteresse sind mitunter schwer voneinander zu unterschei- elt den. Wenn es in der Vergangenheit darum ie W ging, in der EU einen Spitzenposten zu be- Die tägliche D setzen, hat sich die deutsche Regierung SA: n U meist fahrlässig zurückgehalten. Oder sie ge ie ER hat Günther Oettinger als Kommissar ge- ge n s L pa INZ schickt. Umso unverständlicher ist es, dass uro rohe P sie nun ausgerechnet auf einen Posten a, E ed in . B PETRA drängt, mit dem sie wenig gewinnen kann. Ch ge n rie ND Die Frage ist, wer künftig die Euro- gege lsk U Gruppe führen soll. Die Amtszeit des bishe- A de NN UUSAS gegen China,an Europa gegen USA: Die Welt rigen Präsidenten Jean-Claude Juncker endet H ERMA in H im Sommer; der Luxemburger hat mehrfach h SC erklärt, er höre auf, wenn sich ein anderer sic FI S finde. Dieser andere könnte Wolfgang ckt MA tri O Schäuble heißen. Ganz offensichtlich hat der ers TH vverstrickt sich in Handelskriege.N Bedrohen sie deutsche Finanzminister Am bi tio nen. VVONO THOMAS FISCHERMANN UND PETRA PINZLER ? Man kann die persönlichen Einwände, nd die nun hier und da gegen den Deutschen sta vorgebracht werden, getrost ignorieren. Et- hl wa seine vermeintlich mangelhaften Eng- Wo lischkenntnisse, die so mangelhaft nicht sind n re – außerdem gibt es Übersetzer. Oder sein nse Alter. Schäuble wird im September 70 und uunseren Wohlstand? muss selbst entscheiden, was er sich noch zu- mutet. Schließlich gibt es auch keine zwin- gende Logik, wonach Vertreter aus kleinen Ländern die Interessen innerhalb der EU per se besser ausbalancieren können als ein Deutscher, Italiener oder Franzose. mit Finanzkrise und steigender Arbeitslo- Gegen Schäubles Ambitionen spricht arack Obama lässt gerade sigkeit und sind kaum zu Zugeständnissen etwas anderes, Härteres: die deutschen Inte- in Washington eine neue Kiel, sei das »schon ein recht scharfer Gift- bereit. Damit bestätigen sie die Entwick- ressen. Die Bundesregierung würde, wenn Behörde einrichten. Trade cocktail«. lungsländer in ihrem alten Verdacht, der sie den Euro-Gruppen-Chef stellt, ihren Enforcement Center wird Handelsexperten der in England und Westen habe es mit dem Marktzugang für politischen Handlungsspielraum in der EU sie heißen, Büro zur der Schweiz operierenden Denkfabrik ärmere Länder nie ernst gemeint. massiv beschneiden – ohne dafür im Gegen- Durchsetzung des Han- zug besonders viel Einfluss zu gewinnen. Global Trade Alert haben festgestellt: Die Frage ist nur: Ist das Scheitern der dels, und amerikanische 2012 gab es dreimal mehr Maßnahmen Doha-Runde so schlimm? Schließlich blüht Gewiss, die Euro-Gruppe ist derzeit ne- Firmen bei Geschäften in aller Welt unter- zum Schutz von Märkten als zu ihrer Libe- der Welthandel trotz allem weiter. Größere ben den Staats- und Regierungschefs das stützen.B Wenn Geschäftspartner gegen zweitwichtigste Gremium innerhalb der ralisierung. Spitzenreiter beim Erlassen Massen von Waren werden um die Welt ge- amerikanische Interessen verstoßen, sollen neuer Handelsschranken sind ausgerech- schippert, durch die Lüfte geflogen und über EU. Doch die Macht ihres Präsidenten ist die Beamten Alarm schlagen, und der Prä- net die erstarkenden Schwellenländer. Ar- Grenzen hinweg gehandelt als je zuvor. Plus begrenzt: Die Finanzminister der 17 Euro- sident organisiert schnell die Gegenwehr. gentinien liegt vorn mit 192 neuen Regeln fünf Prozent allein im vergangenen Jahr – Länder müssen einstimmig entscheiden. Gerade jetzt seien die US-Exporteure al- zur Importbegrenzung, Russland folgt mit und es liegen keine Prognosen für eine ernst- Und jeder von ihnen muss darauf achten, lerlei »unfairen Praktiken« ausgesetzt, sagt 172 knapp dahinter, China und Brasilien hafte Trend umkehr vor. dass die Beschlüsse, die er in Brüssel trifft, Obama. auch zu Hause, in Paris, Wien oder eben sind kaum zaghafter. Feststeckende Verhandlungen und neue Tatsächlich gab es schon lange nicht Die Beschränkungen reichen von Handelsauseinandersetzungen? Vielleicht Berlin, Bestand haben. mehr so viel Streit zwischen den Handels- schlichten Zöllen, Quoten und Einfuhr- gehören sie künftig einfach dazu, werden zu Wolfgang Schäuble hat in der Euro- nationen. Erst am Wochenende protestier- verboten über Subventionen für die hei- einer Art täglicher Wasserschlacht, und die Gruppe auch deshalb zuletzt oft besonders te der amerikanische Handelsbeauftragte mische Industrie bis hin zu detaillierten Containerschiffe fahren trotzdem weiter. harte Positionen formuliert. Das war so, als Ron Kirk bei der Welthandelsorganisation Sicherheits- und Produktionsvorschriften, Nach neuen Regeln und in neuen Bahnen. über die Bedingungen für das zweite Grie- (WTO) in Genf: Die Europäische Union die heimische Unternehmen besonders Das passt dann bloß nicht mehr so recht zu chenlandpaket verhandelt wurde oder in der subventioniere trotz mehrfacher Beschwer- leicht und ausländische nur schwer erfül- der alten Welt, in der die WTO und ihre vergangenen Woche über die Höhe des den und Urteile immer noch ihren Flug- len können. Oft geht es ganz gezielt gegen Vorgängerorganisation erdacht wurden. künftigen Euro-Rettungsfonds. Oft hat Schäuble sich durchsetzen können, weil er zeugbauer Airbus. Ein Untersuchungsaus- Konkurrenten aus der reichen Welt: Ar- Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in schuss in Washington soll schon mal über gentinien zum Beispiel erließ kürzlich die frühen siebziger Jahre hinein war der als deutscher Finanzminister sprach und die mögliche Sanktionen nachdenken. zum 30-jährigen Jubiläum des Falkland- Welthandel fast ausschließlich von einer anderen 16 akzeptiert haben – oder ak- Zuvor, Mitte März, zogen die USA, die Krieges eine Einfuhrbeschränkung speziell Handvoll großer Industrienationen be- zeptieren mussten –, dass sie gegen das EU und Japan gemeinsam vor die WTO und für Güter aus Großbritannien. stimmt, unter ihnen die USA, Deutschland größte und finanzstärkste Mitgliedsland kei- verklagten China, weil das Land die Ausfuhr Vor einem Jahrzehnt wäre solches Ver- und später Japan. Aus dem Süden bezog man ne Entscheidung erzwingen können. Hätte wichtiger Spezialrohstoffe (Seltene Erden) halten allgemein geächtet worden. Damals zwar Gewürze, Baumwolle, Kautschuk oder Schäuble hingegen die Positionen aller 17 beschränke. Dagegen verkauften die Chine- war sich die Welt nahezu einig, dass ein Erze, aber der Handel mit Reifen und Autos, Euro-Länder als Präsident moderieren müs- sen der Welt zu Dumpingpreisen viel zu möglichst freiheitlich organisierter Welt- Motoren und Maschinen wurde vom Nor- sen, hätte er die deutschen Interessen viele Solaranlagen, meinten die Amerikaner handel allen nutzt. Je mehr davon, desto den bestimmt. niemals so hart vertreten können. Klingt pa- zudem – und verhängten Strafzölle auf die besser. Gleich nach den Anschlägen vom Schon 1990 sah die Welt aber anders aus. radox, ist aber so: Manchmal bedeutet weni- Kollektoren made in China. 11. September 2001 galt dies sogar als Rezept Die Tigerstaaten Ostasiens waren zu den ger Amt mehr Einfluss. MATTHIAS KRUPA Bei Politikern und Handelsstrategen aus zur Weltverbesserung. Als Zeichen der Hoff- großen Handelsnationen hinzugestoßen. Im aller Welt hat ein Gesinnungswandel einge- nung und als Impuls für mehr Wohlstand Jahr 2010 hatte sich die Welt schon wieder setzt. Man flirtet wieder mit dem Protektio- begannen in der katarischen Küstenstadt gewandelt: Jetzt war China der zweitgrößte nismus. Mal beschwert man sich über zu viel Doha die Verhandlungen über ein neues Exporteur der Welt, gleich nach den USA. Export und mal über zu wenig, mal über Freihandelsabkommen. Die Zölle sollten Und von Brasilien bis Südafrika traten alt- unfaire Subventionen und ein andermal über weltweit weiter sinken und Handelsbarrieren bekannte Partner mit neuen Muskeln auf. 60 SEKUNDEN FÜR wettbewerbsverzerrende Steuern. Die Be- fallen, so wie es in solchen Handelsrunden Weg mit den Handelsbeschränkungen, gründungen sind verschieden, der Trend ist immer geschehen war, und diesmal sollten das war der alte Ansatz. Aber der war nur eine aber eindeutig: Die Welt streitet über den auch ganz neue Arten von Handelsbarrieren Ursache dafür, dass der Welthandel so dra- Händeringen Handel, und die Stimmung wird gereizter. auf den Verhandlungstisch. matisch zunahm. Mindestens genauso wich- Vor ein paar Wochen warnten die Chefs Es war ein ehrgeiziger Traum: Beson- tig waren die Fortschritte in der Transport- Wenn in Deutschland Unternehmen nach der großen europäischen Luftfahrtunter- ders ärmere Länder sollten die Märkte der technik, etwa bei den Verladeanlagen in den qualifizierten Arbeitskräften suchen, tun sie nehmen Airbus, Lufthansa, MTU Aero Reichen leichter erreichen. Die EU und Häfen oder in der Luftfracht. Ebenso neue das auf eine eigentümliche Weise. »Wir bei Engines und Air Berlin bereits vor einem die USA sollten ihre Agrarsubventionen Computer-, Kommunikations- und Ma- Siemens suchen händeringend nach Inge- Zeitalter »größerer Handelsauseinanderset- abbauen, damit Produzenten aus Afrika nagementtechniken, die zunehmend eine nieuren«, sagt Konzernchef Peter Löscher. zungen«. Handelskriege brächen aus, und dort ihre Waren verkaufen könnten. Um- Planung von Ressourcen und Produktion »Wir suchen händeringend gute Leute«, sie selbst säßen zwischen den Fronten: Seit welt- und Sozialstandards sollten Einzug quer über Kontinente, Zeitzonen und Kul- gibt Bahn-Chef Rüdiger Grube zu Proto- die EU sich in den Kopf gesetzt hat, aus- in die Verträge halten. Urheberrechte für turräume hinweg erlaubten. koll. Und der Verband der Metallindustriel- ländische Fluggesellschaften zu Klima- Medien oder Software sollten besser ge- Als Ergebnis entstanden – bildlich ge- len Niedersachsens teilt mit: »Wir suchen schutzabgaben zu zwingen, haben China, wahrt werden. Auch der Schutz von Rech- sprochen – Fließbänder, die die Welt um- händeringend weibliche Fachkräfte.« Und Russland und 24 weitere Staaten Vergel- ten an Innovationen, etwa neuartiger Arz- spannten. Transportkosten spielten kaum ergänzt: »Brauchen aber keine Quote.« tung angedroht. Peking soll schon über die neien, sollte besser werden, aber ohne eine Rolle, also zerlegten Unternehmen Es ist immer dasselbe. Ob Tellerwäscher Stornierung eines Großauftrages für A380- a rmen Menschen den Zugang zu Arznei- die Produktion in feinste Glieder und lie- oder Köche als Saisonkräfte für die Ostfrie- Flugzeuge nachdenken, Moskau den Ent- mitteln zu verwehren. Faire Regeln für ßen bald jeden Produktionsschritt dort sischen Inseln angeworben werden sollen zug von Überflug-, Start- und Landelizen- alle, lautete das Ziel. Keiner würde mehr erledigen, wo es am billigsten oder besten oder »TOP engagierte Gabelstaplerfahrer« zen für europäische Airlines erwägen. benachteiligt, die ganz Armen würden so- war. »Made in the world« nennt der für eine Zeitarbeitsfirma, stets setzen die Ar- Immer, wenn in irgendeinem wichtigen gar bevorzugt. WTO-Chef Pascal Lamy das (siehe Inter- beitgeber bei der Suche nicht auf Inserate Land der Wahlkampf tobt, geht es neuer- Und heute? Der britische Premier Da- view nächste Seite). und Aushänge, sondern vertrauen auf die dings auch gleich gegen den Handel. In vid Cameron sprach es Anfang des Jahres Doch so schön diese Geschichte ist, wenig effiziente Technik des Händeringens Frankreich hat Nicolas Sarkozy ein Acheter beim Treffen der Weltelite in Davos zum auch sie ist zu einfach. Zu Beginn des – was vielleicht ein Grund dafür ist, dass sie Européen-Programm gefordert, und in den ersten Mal offen aus: Die Doha-Runde ist Jahres hat der Internationalen Währungs- niemand finden. USA erklärte Barack Obama beim Besuch nicht mehr zu retten. So bald wird die fonds in Washington eine Studie über die Wer händeringend und vergeblich sucht, einer Autofabrik: »Ich mag kein Zeug, das Menschheit kein globales Handelsabkom- sich wandelnden Handelsmuster auf der wird darüber nicht glücklich, sondern un- dort (in China) produziert und dann hier men mehr schließen. Welt veröffentlicht. Sie lässt einige alte glücklich oder gar verzweifelt. Verzweiflung verkauft wird. Die Sachen sollen hier pro- Zu viele Themen, zu viele starke Ak- Vorstellungen ins Wanken geraten. Es ist ein psychischer Extremzustand, in den duziert und dort verkauft werden.« Zu- teure: Brasilien, Indien und China sind sind ja nicht bloß die internationalen heutzutage aber auch eine so starke Frau wie sammengenommen, urteilt Rolf Lang- wirtschaftliche Großmächte geworden Konzerne, die entscheiden, was an wel- Ursula von der Leyen schon mal geraten hammer vom Institut für Weltwirtschaft in und wollen bessere Deals als früher. Die kann. Die Bundesarbeitsministerin hätte alten Industrieländer kämpfen dagegen sich während der Rezession nicht vorstellen können, »dass wir nun verzweifelt nach Fachkräften suchen«. Aber was ist nun Fortsetzung auf S. 30 schlimmer? RÜDIGER JUNGBLUTH Foto: Aufwind-Luftbilder/VISUM Foto: 30 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT

MACHER UND MÄRKTE kommen. Politiker wollen nicht auch noch durch ein Handelsabkommen Wähler gegen sich aufbringen – auch dann nicht, wenn es dem Bodenübung Land insgesamt nützt. ZEIT: Wird sich diese Haltung ändern, wenn die Der Vorschlag des EU-Verkehrskommissars Finanzkrise vorbei ist? Siim Kallas, die Bodenverkehrsdienste auf Lamy: Ja, aber sie ist ja nicht vorbei. Und je län- europäischen Flughäfen zu liberalisieren, ger sie dauert, desto schwieriger ist es, sie koope- stößt weiter auf heftigen Widerstand. Be- rativ zu lösen. Das ist ein Teufelskreis. troffen wären die Gepäck-, Post- und ZEIT: Warum sagen Sie die Runde nicht einfach Frachtabfertigung. Auch Dienste wie die ab und fangen neu an? Enteisung und Betankung von Maschinen, Lamy: Weil wir am nächsten Tag wieder mit den das Catering sowie der Passagiertransport gleichen Fragen beginnen würden: Wie be- zwischen Flugzeug und Terminal hat der kommen wir faire Handelsregeln für das 21. EU-Kommissar im Sinn. Bisher gibt es Jahrhundert? selbst an großen Flughäfen wie Frankfurt ZEIT: Sie könnten nach einem Neustart einfach nur zwei Anbieter, Konkurrenten aus dem kleinere Brötchen backen. »Das Schiff Lamy: Ausland ist der Marktzutritt nicht möglich. Es stimmt, wir hatten uns in der Doha- Siim Kallas will das Runde sehr viel vorgenommen. Wir wollten zeit- ändern, erntet dafür gleich Abkommen über 20 verschiedene Themen aber Kritik. »Die Li- schließen. Die arbeiten wir jetzt nach und nach beralisierung führt zu ab. Wir erzielen Fortschritte bei der Frage der einem weiteren Preis- klarmachen« Handelserleichterungen. Das ist für Journalisten kampf zu lasten der kein sehr aufregendes Thema, aber für den Han- Arbeitnehmer«, warnt Der Chef der Welthandelsorganisation del ist es extrem wichtig. Die Kosten für Zoll- der SPD-Eu ro pa parla- formalitäten und andere Bürokratien belaufen mentarier Knut Fle- (WTO), Pascal Lamy, über verfahrende sich auf fünf Prozent des Handelsvolumens. Schluss mit dem ckenstein . Auch der Verhandlungen, korrupte Zollbeamte und Verringert man diese Kosten, nimmt auch die Monopol auf CSU-Abgeordnete Mar- Korruption ab. den Rollfeldern? kus Ferber ist skep- die Rettung der Umwelt durch Container ZEIT: In vielen anderen Ländern haben die Leu- tisch: »Herr Kallas wird te Angst vor Globalisierung und Liberalisierung. sich viele Verbündete suchen müssen. Sie aber wollen immer mehr davon. Noch hat er nur wenige.« Lamy: Verwechseln Sie Handelsöffnung nicht Dirk Goovaerts von Menzies Aviation, mit Deregulierung. Handel braucht faire Re- dem weltweit zweitgrößten Anbieter von geln, so wie die Finanzmärkte auch. Genau das Bodenverkehrsdiensten, hat bereits verspro- will ich. chen: Sein Unternehmen würde das Perso- ZEIT: Was sagen Sie den Ökologen? Die fürch- nal und bestehende Verträge übernehmen, ten, dass wir schon aus Umweltgründen unser wenn es Zugang zum deutschen Markt be- Wachstum nicht unendlich steigern könne? käme. »So haben wir es in Frankreich und Lamy: Da kennen wir doch längst die Lösung.

Spanien gemacht, so würden wir das auch Philipp Guelland/dapd (r.); Bernard Bisson/SIPA/ddp Fotos: Wir müssen die Kosten der Umweltzerstörung in Deutschland machen. Wir wollen keine einpreisen. Sonst werden die Folgen tatsächlich Löhne drücken, sondern die Abläufe opti- katastrophal sein. mieren, darauf sind wir spezialisiert.« DIE ZEIT: Herr Lamy, verlieren Sie langsam die Die Regierungen sollten sich auf neue, fairere Zölle. Staaten gleichen vielmehr ihre Regeln an, ZEIT: Was, wenn die Preise nicht früh genug Offiziell wird das Europäische Parlament Lust an Ihrem Job? Regeln einigen. Darauf warten wir nun seit über oder ein Land setzt seine Standards anderswo si gna li sie ren, dass wir die Natur unwiederbring- zu alldem allerdings erst nach der Sommer- Pascal Lamy: Warum sollte ich? Die Welthan- einem Jahrzehnt vergeblich. durch. Und das macht die Welt zu einem sehr lich zerstören? pause Stellung nehmen. TAT delsorganisation ist wichtiger denn je. Lamy: Dabei müssten die Regeln dringend der unübersichtlichen Platz. Lamy: Wo Marktpreise nicht funktionieren, ZEIT: Ach ja? Realität angepasst werden. Sie stammen aus dem ZEIT: Warum? Europa und die USA planen bei- brauchen wir Regeln. Aber den Welthandel wird Lamy: Ohne die WTO wäre spätestens in der Fi- Jahr 1995, sind also ziemlich altmodisch. spielsweise ein bilaterales Abkommen. Wenn die ökologische Frage nicht massiv beschränken. nanzkrise eine riesige Protektionismuswelle über ZEIT: So mahnen Sie seit Jahren. andere Länder sich dem hinter- Der wird zu 90 Prozent über Containerschiffe den Globus geschwappt. Viele Regierungen hät- Und gleichzeitig boomt der Welt- her anschlössen und damit deut- abgewickelt, und das ist eine ziemlich billige und Sonnenwende ten Handelsbarrieren errichtet. Die Krise wäre handel. PASCAL LAMY sche oder amerikanische Schutz- ökologisch nicht sehr schädliche Art des Trans- noch viel schlimmer ausgefallen. Lamy: Stimmt, aber wir laufen regeln übernähmen, wäre das ports. Im Moment werden die Umweltschäden Große Solarparks, Freiflächen mit Solar- ZEIT: Sie sind also eine Art Staudamm? Gefahr, dass die Regeln dafür Der 64-jährige Franzose doch nicht die schlechteste aller tatsächlich nicht eingepreist. Doch selbst wenn modulen, haben in Deutschland keine Zu- Lamy: Nein, wir sind mehr. Die Welt braucht die anderswo gemacht werden. Bei- kennt die Welt der Welten. das komplett geschieht, werden Transporte künf- kunft. »Neue werden kaum gebaut«, sagt WTO aus dem gleichen Grund, aus dem sie spielsweise in bilateralen Ab- Politik so gut wie die Lamy: Vielleicht wollen die an- tig noch billiger sein. Jan-Philipp Gillmann, Analyst und Ex- Zentralbanken braucht. Damit das System funk- kommen. der Wirtschaft. 1981 deren aber ganz andere Regeln. ZEIT: Sie halten also wenig von Lokalisierung, perte für erneuerbare Energien bei der tioniert. Es braucht Gerüste, gemeinsame Insti- ZEIT: Warum ist das ein Pro- begann er als Berater Und dann? Wenn Sie die bilate- von der Idee, Produkte besser aus der näheren Commerzbank. Den Firmen, die Solarparks tutionen und Regeln. Wir kümmern uns um die blem, wenn zwei Staaten sich ge- des Finanzministers rale Karte spielen wollen, sollten Umgebung zu kaufen? planen und sich auf den deutschen Markt Regeln für ein globales System. genseitig den Zugang zu ihren Jacques Delors, in den sie verdammt sicher sein, dass Sie Lamy: Das kommt auf den konkreten Fall an. konzentrieren, sei »die Geschäftsgrundlage ZEIT: Aber ohne große Fortschritte. Märkten erlauben, statt abzuwar- neunziger Jahren arbeitete der Spieler sind, der die Regeln Ob es ökologisch sinnvoller ist, die Rosen in entzogen«, seit die deutsche Politik die So- Lamy: Im vergangenen Jahr haben wir hier in ten, bis sich alle 153 WTO-Mit- er dann bei der Bank bestimmt. Sonst sind Sie schnell Kenia zu züchten oder in Gewächshäusern in larförderung gekürzt habe, so Gillmann. Genf etwa 800 Treffen zu allen möglichen The- glieder einigen? Crédit Lyonnais. 1999 der Dumme. Für 99 Prozent der den Niederlanden, ist fraglich. Die Konsequenz: »Der deutsche Markt für men organisiert. Da ging es um Schlichtung von Lamy: Das ist erst einmal kein wurde er Europäischer Länder ist der Multilateralismus ZEIT: Laufen Sie eigentlich noch Marathon? Modulhersteller hat sich drastisch verklei- Streit oder um Antidumping-Verfahren. Wir be- Problem, wenn es dabei um die Handelskommissar und deswegen angenehmer. Lamy: In den vergangenen drei Jahren nicht nert«, sagt der Analyst. obachten und berichten über die Handelspolitik Senkung von Zöllen geht und 2005 Chef der WTO ZEIT: Trotzdem haben sich die mehr. Ich komme nicht mehr zum Trainieren. Es Dementsprechend war der Insolvenz- der Länder. Vielleicht fehlt es dabei an Drama, wenn keine Handelsströme um- Regierungen nicht zu einem ist hier wie bei der Marine. Entweder ist man auf antrag, den der Bitterfelder Solarzellen-Her- an der Hollywood-Inszenierung ... gelenkt werden. Je mehr solcher weltweit gültigen Handelsvertrag hoher See im Einsatz, oder man muss das Schiff steller Q-Cells am Dienstag dieser Woche ZEIT: Nein, an den Ambitionen. Als Sie den Job bilateralen Abkommen es gibt, desto mehr glei- durchringen können. klarmachen. stellen wollte, für Branchenkenner seit Lan- als WTO-Chef übernahmen, wollten Sie die chen sie am Ende einem multilateralen System. Lamy: Stimmt, weltweit sinkt spätestens seit der gem absehbar. Hingegen geht es Unterneh- Doha-Welthandelsrunde erfolgreich beenden. In der neuen Welt aber geht es kaum noch um Finanzkrise das Interesse an internationalen Ab- Das Gespräch führte PETRA PINZLER men, die andere Bereiche der Solar-Wert- schöpfungskette bedienen, vergleichsweise gut: internationalen Maschinenbauern wie Centrotherm aus Blaubeuren und Konstanz Fortsetzung von S. 29 zum Beispiel und Anbietern von komplet- ten solaren Systemen für Hausbesitzer wie chem Fleck der Welt produziert wird. Die Zu- Die Handelsverbindungen der Schwellenlän- Am schlimmsten wird es dann, wenn knappe länder noch viel stärker ausgesetzt wäre. Viele Solarworld aus Bonn. AKU lieferer dieser Konzerne haben ihren eigenen der untereinander sind entsprechend stabil, vor Güter wie Öl oder Kupfer bloß noch nach poli- afrikanische Länder haben das in jüngster Ver- Kopf, lagern ihrerseits Produktionsschritte an allem in der jeweiligen Nachbarschaft. Die gro- tischen Gesichtspunkten gehandelt werden – gangenheit bei ihren Verhandlungen mit der andere Orte aus, kaufen nach eigenem Kalkül ßen virtuellen Fließbänder der Welt umspannen und nicht mehr dort, wo sie aus der Marktlogik EU erlebt, wenn es um bilaterale Handelsab- im Ausland Rohstoffe ein. Und siehe da, das also doch nicht den ganzen Planeten, sondern heraus am produktivsten eingesetzt werden kön- kommen ging: Ergebnis ist überhaupt keine flache Welt, befreit häufig nur einen bestimmten Teil. nen. Doch auch Bhagwati, der Ökonom mit Die sogenannten Europäischen Partner- von jeder Geografie, von jeder historischen oder Der wirtschaftliche Trend wird politisch dem Kämpferherz, findet sich mit der gegen- schaftsabkommen zwingen die Afrikaner zu Stromrechnung kulturellen Vorliebe. Eher das Gegenteil: »Die verstärkt. Während die Verhandlungen über eine wärtigen Entwicklung ab: »Eine echte multilate- Zollsenkungen, auch bei Agrarprodukten. Erst Grüner Strom ist mittelfristig billiger als Expansion des Welthandels ging mit einer neue WTO-Runde im Nichts verlaufen und rale Lösung steht im Augenblick außer Frage. im Februar warnte der ehemalige tansanische Strom aus Kohle- oder Gaskraftwerken. Das wachsenden regionalen Konzentration einher«, Protektionisten das Wort führen, ist zugleich Werden wir sie eines Tages wiederbeleben kön- Präsident Benjamin Mkapa davor, diese geht aus einer noch nicht veröffentlichten schrei ben die IWF-Forscher. eine andere Sorte von Freihandelsverträgen nen? Wer weiß das schon!« Abkommen zerstörten lokale Märkte. Das Studie hervor, die das Deutsche Zentrum Der Handel zwischen den großen regionalen wieder in Mode gekommen. Schwellen- und Protagonisten der alten Handelswelt wie Genfer South Center, ein Beratungsinstitut für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie Blöcken – Asien mit seinen großen Wirtschafts- Entwicklungsländer in Asien und Lateinamerika Bhagwati machen sich noch aus einem anderen für Entwicklungsländer, urteilte Ende 2011, zwei weitere Forschungseinrichtungen für zentren China und Japan, haben seit 2004 insgesamt Grund Sorgen. Sie fürch- dass die Pakte mit Europa das Bundesumweltministerium angefer- Europa, die USA und ihre 13 regionale Freihandels- ten, dass mit einem öffent- den betroffenen afrikani- tigt haben. In der sogenannten Leitstudie Nachbarstaaten in Nord Lieber mit dem Nachbarn abkommen neu abge schlos- lich besiegelten Scheitern Explosives Wachstum schen Ländern »mehr Ver- 2011 steht, dass die durchschnittlichen und Süd – ist in den ver- sen. Und die Entwicklung der Doha-Runde auch die lust als Gewinn« brächten. Stromgestehungskosten für erneuerbaren gangenen Jahrzehnten gar Anteil des Handels innerhalb wichtiger geht weiter: Der russische ganze Institution WTO in- Summe der weltweiten Exporte So fordern die Europäer ja Strom bis zum Jahr 2030 auf rund 7,6 nicht so eindrucksvoll ge- Handelsblöcke und zwischen den Präsident Wladimir Putin frage gestellt wird. Wenn es in Mrd. US-$ diese Zollsenkungen ein, Cent pro Kilowattstunde sinken, während wachsen. Sein Anteil an der Handelsblöcken und dem Rest der Welt schlug kürzlich eine »Eura- aber der WTO an den Kra- ohne selber auf die massi- Strom aus neuen Steinkohle- oder Gas- weltweiten Wertschöpfung sische Union« für die frü- gen geht, fällt auch ihre 14 851 ve und wettbewerbsverzer- kraftwerken dann voraussichtlich mehr als betrug 1980 wie auch 2009 Nafta Asean heren Sowjetstaaten vor. Funktion als internationale 15 000 rende Subventionierung ih- (Nordamerikanisches (Verband Südostasia- neun Cent kostet. Nur Strom aus beson- recht genau zwölf Prozent. Freihandelsabkommen) tischer Nationen) Über die Jahre kam Schlichtungsstelle für Han- rer heimischen Landwirt- ders klimaschädlichen Braunkohlekraft- Förmlich explodiert ist auch eine Fülle von Han- delsauseinandersetzungen schaft zu verzichten. werken wäre laut der Studie im Jahr 2030 hingegen der Handel in- delsverträgen zwischen zwei weg – was eine Menge po- 12 000 Die USA sind nicht bes- 49 51 75 25 noch etwas billiger. nerhalb dieser Regionen. % % Ländern oder Regionen litischen Ärger auch jen- ser als Europa. Seit Jahren Die durchschnitt- Er hat sich auch gewandelt. hinzu – etwa zwischen den seits der Handelspolitik 9000 protestieren die sogenannten lichen Strom ge ste- Zuerst lagerten Japan und USA und Marokko oder be deuten könnte. Fallen Cotton-4, die afrikanischen innerhalb hungskosten aller die asiatischen Tigerstaaten der EU und Südkorea. die Profi-Schlichter aus Baumwollproduzenten Be- mit Rest der 6000 neu installierten viele Arbeiten nach China Welt Doch es sind die regiona- Genf aus, dann eskalie- nin, Mali, Burkina Faso und »grünen« Stromfa- aus; dann verschob China len Abkommen, die die ren die Han dels strei tig kei- Tschad, vergeblich gegen die 16 35 briken hätten im wiederum Arbeiten nach Struktur des Welt handels ten schneller. Auch deswe- 3000 unfairen Subventionen der Jahr 2010 bei 14 Vietnam oder in ostasia- % % zurzeit massiv verändern. gen finden manche Exper- Amerikaner für deren hei- 65 59 7,6 Cent pro Kilowatt- tische Nachbarländer, und 84 All das geht gegen die ten den neuen Krach zwi- mische Produzenten. Cent pro Kilowatt- stunde gelegen, so im Lauf dieser Zeit über- Ideale der Welthandelsorga- schen China und Amerika, 0 Der tansanische WTO- Mercosur Europäische Union stunde, so wenig kos- die Studie weiter. nahmen die Zulieferer wach- (Gemeinsamer nisation WTO. »Wir zer- die Auseinandersetzung zwi- 1948 53 63 73 83 93 03 10 Botschafter in Genf, Charles tet Ökostrom in 2030 Damit sei das sende Teile der Wertschöp- Markt Südamerikas) ZEIT-Grafik/Quelle: WTO teilen hier gerade die Welt- schen Boeing und Airbus ZEIT-Grafik/Quelle: WTO Mutalemwa, trauert der al- Maximum jetzt al- fung. Sie produzierten auch wirtschaft«, warnt Jagdish oder den argentinisch-briti- ten Welt hinterher und lerdings erreicht, »bereits bis 2020 sinkt der hoch komplizierte Dinge, die eine fortgeschritte- Bhagwati, der berühmte Handelsexperte von der schen Zwist ungewöhnlich gefährlich für die sagt, er sehe bei multilateralen Verhandlungen Mittelwert des Gesamtmixes auf 9,2 Cent nere Technik und eine bessere Bildung der Mit- Columbia-Universität in New York. Zukunft des Handels. noch viel Potenzial für sein Land. Unterm Strich pro Kilowattstunde«. arbeiter erforderte. Der Vordenker der WTO sagt, es sei nun ein- Einige der stärksten Befürworter des alten geht es in Genf wohl immer noch ein wenig fai- Wesentlich sei auch, dass die Kosten- Eine Sache war dabei anders, als man sie sich immer mal etwas ganz anderes, ob die Welt einen Vertrag Systems sitzen nicht in den USA oder in Euro- rer zu für die Ärmsten. Doch in diesem Punkt entwicklung bei den erneuerbaren Energien vorgestellt hatte. Die einmal gewachsenen, vor- schließe oder nur ein paar Länder sich einigten. pa, sondern in den Entwicklungsländern, die unterscheidet sich die neue Welt des Handels im Vergleich mit der konventionellen Ener- wiegend regionalen Handels- und Produktions- Die Unterzeichner genössen zwar fortan geringe- besonders arm geblieben sind. Illusionen macht kaum von der alten: Auf Leute wie Mutalemwa gieversorgung langfristig wesentlich besser beziehungen erwiesen sich als erstaunlich beharr- re Handelsbarrieren untereinander, aber alle an- man sich dort nicht: Man weiß, dass die WTO hört niemand. Die Vertreter ganz armer Länder kalkulierbar sei, »da sie überwiegend durch lich, selbst wenn die nackten Zahlen dagegen deren seien künftig relativ benachteiligt. Das und ihre Welthandelsrunden lange von den hatten noch nie viel mitzureden. technologische Entwicklungen und weniger sprachen – wenn zum Beispiel die Wechselkurse lenke den Handel in willkürliche Bahnen und reichen Ländern dominiert wurden. Doch durch die Entwicklung der Brennstoffpreise oder die Lohnkosten eigentlich für eine erneute koste am Ende die ganze Menschheit einigen ebenso ist dort bekannt, dass man ohne sie den Weitere Informationen im Internet: beeinflusst wird«. VO Verlagerung der Produktion sprachen. Wohlstand. Interessen der alten und der neuen Industrie- I www.zeit.de/globalisierung WIRTSCHAFT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 31

6,3 Prozent mehr – Und jetzt?

Was der Lohnabschluss im öff entlichen Dienst bedeutet: Für weitere Tarifkämpfe, für den Aufschwung und die Infl ation VON KOLJA RUDZIO

ohnabschlüsse in Deutschland haben Dieser Trend dürfte sich in diesem Jahr noch- sie doch zum Rekordanstieg der Lohnsumme bei. die höheren Löhne die Wettbewerbsfähigkeit des Benzinpreis oder auf gestiegene Inflationsfurcht? eine neue Zielmarke. Sie heißt 6,3 mals deutlich beschleunigen. Nun werden gleich Es war der höchste seit fast 20 Jahren. Landes ruinieren. Jens Weidmann, der Chef der Der Argumentation in den Tarifverhandlungen Prozent. Warnstreik war auf Warn- in mehreren großen Tarifbereichen deutliche Ob positiv oder negativ, starken Einfluss auf Deutschen Bundesbank, wurde Anfang dieser ist das jedenfalls noch nicht zu entnehmen. Auch streik gefolgt, Verhandlung auf Ver- Gehaltssteigerungen erwartet. Nach den Ange- die Konjunktur haben die Löhne ohnehin meist Woche mit Warnungen vor einer solchen Lohn- bei den Metallern spielt bisher eher die Gewinn- handlung. Dann verständigten sich stellten von Bund und Ländern (rund 2 Millio- erst, wenn sie deutlich davon abweichen, wie sich Preis-Spirale zitiert. situation der Firmen eine Rolle als die akute die Tarifparteien im öffentlichen Dienst ver- nen Beschäftigte) sind die Metall- und Elektro- die Inflation und die Produktivität entwickeln. Ein typischer Auslöser für eine solche Ent- Sorge, die Inflation könnte den Arbeitnehmern

L [M]: bestprice-stock Foto gangene Woche darauf, die Löhne schrittweise industrie (3,6 Millionen) sowie die Chemiein- Viele Experten gehen davon aus, dass beide zu- wicklung ist der von Verbrauchern viel beachtete ihre hinzugewonnene Kaufkraft bald wieder anzuheben – um insgesamt 6,3 Prozent. Ver.di- dustrie (0,4 Millionen) am Zug. sammen mittelfristig um etwa drei Prozent pro Benzinpreis, dessen Anstieg gerade für so große streitig machen. Chef Frank Bsirske spricht von einem »beacht- Jahr steigen. Entwickeln sich die Löhne mit einer Aufregung sorgt. Wenn die Arbeitnehmer sich bei Konjunkturexperten wie DIW-Forscher Ficht- lichen« Erfolg, während einige Arbeitgeber- ähnlichen Rate, wäre ihre Wirkung für Konjunk- ihren Lohnverhandlungen an dieser Preissteige- ner glauben außerdem, dass die Unternehmen funktionäre schon vor Stellenabbau warnen. tur und Beschäftigung neutral. rung orientieren, kann es zu überhöhten Ab- noch nicht in der Lage sind, jede Kostensteige- Das klingt nach einem Erfolg der Arbeitneh- Muss die IG Metall mit ihrer schlüssen führen. rung gleich in Form höherer Preise an die Ver- mer. Doch welche Folgen hat der Tarifkompro- 3 Lohnrunde jetzt ver.di übertreffen? Die Unternehmen, die selbst unter den höhe- braucher zu überwälzen. Nur dann könnte die miss, über den die ver.di-Mitglieder noch ab- ren Ölpreisen leiden, reagieren dann womöglich, Lohn-Preis-Spirale richtig in Gang kommen. stimmen müssen, wirklich? Ziehen andere Natürlich schauen Arbeitnehmer darauf, wie Beginnt womöglich eine Lohn-Preis- indem sie die Preise für ihre Produkte erhöhen, Dazu sei aber die Wirtschaft noch nicht stark ge- Branchen jetzt nach? Befördert das Ergebnis stark die Gehälter in anderen Branchen stei- 5 Spirale? Droht mehr Inflation? was wiederum die Inflation und die Lohnforde- nug ausgelastet, noch sei der Wettbewerb um die den Aufschwung, oder belastet es ihn? Droht gen. Die Frage ist nur: Wer guckt auf wen? In rungen in die Höhe treibt. Tückisch ist das beim Kunden zu groß, erklärt Fichtner. »Völlig aus- jetzt noch mehr Inflation? Die fünf wichtigsten den vergangenen Jahren mussten Kindergärt- Die Inflation gilt normalerweise als wichtiger Ölpreis besonders, weil die erdölexportierenden schließen kann man eine Lohn-Preis-Spirale al- Fragen und Antworten zum Tarifabschluss im nerinnen, Müllwerker und Verwaltungsange- Maßstab für angemessene Lohnzuwächse. Doch Länder der gesamten hiesigen Volkswirtschaft auf lerdings nicht.« öffentlichen Dienst: stellte oft zusehen, wie die Bezahlung in der diese Regel hat ihre Ausnahmen. Manchmal diesem Wege Kaufkraft entziehen, die auch kein In diesem Jahr rechnet er nicht mit einer sol- Wirtschaft deutlich stärker anzog als bei ihnen. schaukeln sich steigende Preise und steigende Arbeitgeber zurück in den Wirtschaftskreislauf chen Entwicklung. Doch dann kommt die kleine »Dieser Tarifabschluss jetzt«, sagt Michael Löhne gegenseitig weiter und weiter hoch. Da- bringen kann. Warnung hinterher: »Nächstes Jahr, wenn der Ar- Bräuninger, Konjunkturexperte am Hambur- runter leiden dann die Sparer wegen der Inflation Die Frage ist nun: Steckt in dem Lohn- beitsmarkt noch weiter leer geräumt ist, kann das Sind 6,3 Prozent zu viel gischen Weltwirtschaftsinstitut, »ist eher der und irgendwann auch die Arbeitnehmer, sofern abschluss von ver.di schon ein Reflex auf den schon viel eher der Fall sein.« 1für den öffentlichen Dienst? Versuch nachzuziehen. Der öffentliche Dienst reagiert auf die Industrie, nicht umgekehrt.« Schon kurz nach der Tarifeinigung warnten Dass das wiederum zu nochmals höheren Lohn- einzelne Vertreter von Kommunen, dieser Ab- abschlüssen etwa bei den Metallern führen wer- schluss könne sie zwingen, Jobs zu streichen de, hält der Ökonom für unwahrscheinlich. oder Aufgaben an private Firmen zu vergeben. Zwar erwarten die meisten Experten auch dort Schließlich hätten die klammen Kommunen ein deutliches Lohnplus, aber eben nicht als Re- kaum Spielraum für Lohnerhöhungen. Aller- aktion auf die Schwestergewerkschaft ver.di, dings fällt die jetzt anvisierte Gehaltssteigerung sondern eher als Reflex auf die außerordentlich nicht ganz so drastisch aus, wie sie auf den ers- guten Geschäftszahlen und Erwartungen in der ten Blick scheint. Die 6,3 Prozent mehr Lohn Metallbranche selbst. sollen erst nach mehreren Stufen erreicht wer- den. Die erste Stufe: 3,5 Prozent mehr, rück- wirkend ab 1. März. Auf das ganze Jahr be- zogen bedeutet das für die Arbeitgeber nach Stützen hohe Lohnabschlüsse den eigener Rechnung, dass ihre Kosten um 2,95 4 Aufschwung – oder gefährden sie ihn? Prozent steigen. Im nächsten Jahr beträgt die durchschnittliche Belastung dann nur noch Geht es nach dem üblichen Argumentations- 2,12 Prozent. Und was im Jahr darauf heraus- muster vieler Gewerkschaftsfunktionäre, ist kommt, hängt von dem Lohnabschluss ab, der der Fall klar: Mehr Geld in den Taschen ihrer sich an den jetzt bis Februar 2014 geltenden Mitglieder führt zu mehr Nachfrage und da- Tarifvertrag anschließen wird. mit zu mehr Wirtschaftswachstum. Die meis- Eine deutliche Ausgabensteigerung ist also ten Volkswirte argumentieren da vorsichtiger, vor allem in diesem Jahr zu erwarten. Zuletzt denn Löhne sind auch Kosten. Deshalb wäre haben aber die Kommunen auch ihre Einnah- zum Beispiel im öffentlichen Dienst wenig ge- men deutlich erhöhen können. Die gute Kon- wonnen, wenn der Staat seine Steuern und junktur macht sich unter anderem bei der Ge- Gebühren erhöhen müsste, um die Gehalts- werbesteuer bemerkbar. erhöhung seiner Angestellten zu bezahlen. Was In diesem Jahr erwarten die Spitzenverbände die einen dann mehr in der Tasche hätten, der Kommunen daher, dass sie erstmals seit der würde den anderen im Portemonnaie fehlen. Finanzkrise 2008 wieder einen Überschuss erzie- Einen konjunkturellen Impuls löste man so len, in Höhe von rund zwei Milliarden Euro. nicht aus. Dabei ist ein Anstieg der Personalausgaben um »Im öffentlichen Dienst«, sagt Ferdinand 2,9 Prozent bereits einkalkuliert. Der ganz große Fichtner, Konjunkturexperte am Deutschen Schock dürfte der Tarifabschluss daher nicht Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), »ist sein. Dessen ungeachtet bleibt das Problem be- so ein Impuls über die Löhne dann möglich, stehen, dass Bund, Länder und Gemeinden ei- wenn der Staat mehr Schulden macht oder sie nen riesigen Schuldenberg vor sich herschieben. langsamer als geplant abbaut.« Mit anderen Worten: Die zusätzliche Nachfrage müsste auf Pump finanziert werden. Bei der Industrie, so Signalisiert dieser Abschluss Fichtner, sei das anders. Dort könne es der eine Wende – ist endlich Konjunktur durchaus helfen, wenn die Arbeit- 2 Schluss mit Reallohnverlusten? nehmer mehr verdienten und die Aktionäre im Gegenzug dazu weniger Gewinne einstreichen Seit Jahren heißt es: Die Arbeitnehmer profitie- würden. Denn die Arbeiter gäben in der Regel ren nicht vom Aufschwung. Nach Abzug der einen größeren Teil ihres Einkommens für den Inflation würden ihre Löhne sogar sinken. Tat- Konsum aus als die Kapitalbesitzer. sächlich gab es Reallohnverluste, nicht in allen Allerdings gilt auch diese Sicht nicht ohne Branchen, aber vielerorts, und das vor allem in Einschränkungen: Weniger Geld für Anleger der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts. In- kann auch bedeuten, dass weniger investiert zwischen hat aber eine Trendwende eingesetzt. wird. Das verringert dann auch die Nachfrage. Schon seit zwei Jahren steigen die Löhne der Und schließlich kommt es bei der Kaufkraft durchschnittlichen Vollzeitarbeitnehmer wieder nicht nur auf die Lohnhöhe an, sondern auch schneller als die Inflation. Laut Statistischem auf die Zahl der Arbeitnehmer. In den vergan- Bundesamt legten die Reallöhne im vergangenen genen Jahren wuchs die Summe aller Löhne be- Jahr um 1,1 Prozent zu, nach 1,5 Prozent im Jahr sonders kräftig – 2011 um enorme 4,7 Prozent davor. So gesehen findet der Wandel zu besserer –, weil viele Menschen eine neue Arbeit fan- Bezahlung also längst statt. den. Auch wenn die schlecht bezahlt war, trug 32 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT

Die Gas- und Ölsee Unfälle inklusive Aus der Nordsee bekommt Bergen Schon in den dreißiger Jahren des vergange- nen Jahrhunderts wurden die ersten kleinen Europa große Teile seiner Gasfelder in der Nordsee entdeckt; 1958 stießen Geologen dann vor der niederländi- Energie – mit schlimmen schen Küste bei Groningen auf ein Vor- Folgen für die Umwelt kommen, das sich später als eines der größ- ten Gasfelder der Welt entpuppte. Richtig VON DIETER DUNEKA (GRAFIK) los ging die Ausbeutung der Gas- und Ölla- x »ELGIN«-BOHRINSEL gerstätten in der Nordsee aber erst nach der weltweiten Ölkrise 1973. Steigende Preise Aberdeen NORWEGEN für den fossilen Rohstoff rechtfertigten fort- an die hohen Investitionskosten in dem wegen der teilweise hohen Wassertiefen und der instabilen Wetterverhältnisse schwieri- gen Fördergebiet. Auch politisch schien die Nordsee-Förderung opportun, weil sie die Abhängigkeit Europas vom internationalen Nordsee Ölkartell Opec minderte. Inzwischen stammt rund ein Viertel des jährlichen Ölbedarfs Deutschlands aus den Feldern unter der Nordsee. Etwa 450 Bohr- inseln sind über den rund 400 bekannten IRLAND Öl- und Gaslagerstätten im Einsatz. Allein DÄNEMARK aus den Bohrlöchern in den britischen Ho- heitsgewässern sollen seit den 1970er Jahren Dublin 40 Milliarden Barrel Öl gepumpt worden sein, schätzen Experten. Allerdings gehen die Nordsee-Lagerstät- ten trotz neuer Funde – der letzte große ge- lang 2011 westlich der norwegischen Küste – langsam zuneige. Der Förderhöhepunkt (peak oil) wurde wahrscheinlich 1999 er- reicht. Damals produzierten die in der Nordsee tätigen Unternehmen mehr als 300 Millionen Tonnen Öl im Jahr, zuletzt waren es nur noch etwa 210 Millionen Tonnen. Die Ausbeutung existierender Öl- und Gas- felder wird dabei immer schwieriger, teurer GROSSBRITANNIEN und gefährlicher. DEUTSCHLAND Hamburg Der Unfall auf der Plattform Elgin ist freilich nicht der erste seiner Art – und bei London Weitem nicht der schwerste. 1977 flossen nach einem Blowout im Feld Ecofisk Bravo 23 000 Tonnen Öl aus und verbreiteten sich Das zeigt die Grafik über 40 000 Quadratkilometer Meeresober- Gaspipeline fläche. 1988 starben 166 Menschen auf der Ölpipeline Plattform Piper Alpha. Daneben gibt es Jahr Gasfeld für Jahr mehrere Hundert kleinere Unfälle, BerlinBebeierlinerlrlrlin deneninn tonnenweise Öl oder Chemikalien Ölfeld in die Nordsee gelangen. TEN Grafik/Quellen: Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, Petroleum Economist, MJMEnergy ZEIT- Desaster mit Ankündigung

Der französische Energieriese Total ging mit der jetzt havarierten Bohrinsel »Elgin« bewusst ein Wagnis ein. Er wollte besser sein als die Konkurrenz VON KARIN FINKENZELLER

lgin-Franklin wird Geschichte schreiben.« gebüßt, täglich entgehen dem Konzern Millionen Preisen – machen es lukrativ, dieses hohe Risiko ein- Zwischenfälle bleiben bei solchen Bedingungen Total war bislang nicht als besonders skrupellos Als der damalige Total-Explorationsvorstand Euro an Einnahmen. Die Reparaturen werden je zugehen. nicht aus. Auf Nachfrage bestätigte ein Total-Sprecher bekannt. Firmenchef De Margerie will zwar die EChristophe de Margerie das vor zehn Jahren nach Ausmaß zwischen einigen Hundert Millionen Tief unter der Erdoberfläche müssen Drücke von Berichte, wonach allein zwischen 2009 und 2010 Ausbeutung von Ölschiefer in Frankreich durch- sagte, kannte er die Risiken wahrscheinlich, die mit und mehreren Milliarden Euro kosten. Und die rund 1100 Bar und Temperaturen um die 190 Grad insgesamt 4600 Kilogramm Öl und Gas aus Elgin- setzen; Total war auch in Korruptionsaffären ver- der Ausbeutung eines Gasvorkommens 5500 Meter Debatte um die Gefahren der Tiefseeförderung von Celsius beherrscht werden. HP-HT heißt so etwas Franklin entwichen sind. Daraus habe das Unterneh- wickelt und hat in Birma angeblich mit der frühe- unter dem Meeresgrund einhergehen würden. Aber Gas und Öl geht von vorne los. im Fachjargon, für »High Pressure, men aber nie ein Geheimnis gemacht. An die große ren Militärjunta gemeinsame Sache gemacht – damals ging es darum, die Fähigkeiten des französi- Man könnte auch sagen: De High Temperature«. Um diese Be- Glocke werden solche Pannen freilich nicht gehängt. aber all das ist nach Einschätzung von Experten schen Ölkonzerns zu loben und sich von der Kon- Margeries Worte lesen sich heute dingungen für den Laien verständ- Nach Recherchen des britischen Guardian kommen fast schon normal für die Branche. Am Pranger kurrenz abzuheben. Deshalb fehlte es in der 2002 nicht mehr wie eine Werbekampa- lich zu machen, griffen französische sie in der Nordsee dauernd vor. Als Ursache des jetzt stand Total zuletzt nur, weil es – wie viele andere veröffentlichten Firmenbroschüre auch nicht an gne, sondern wie die Ankündigung Zeitungen in den vergangenen Tagen aufgetretenen Lecks hat Total ein vor einem Jahr still- französische Großunternehmen – trotz Rekordge- weiteren Superlativen: Die Bohrung sei eine nie da eines Desasters. in Zahlen zu einfachen Vergleichen: Das sei, als gelegtes Bohrloch in 4000 Meter Tiefe ausgemacht. winnen kaum Steuern bezahlte. Zwischen 2008 gewesene Herausforderung mit Bedingungen jen- Gas aus fünf Kilometer Tiefe zu wolle man ein Loch in einen Schnell- Nach einer »Anomalie« sei es verstopft worden. und 2010 nicht einen Cent und 2011 gerade ein- Umsatz seits der üblichen Normen, hieß es da. holen wäre ein paar Jahre zuvor noch 184,7 Mrd. € kochtopf bohren – oder das Gewicht Welcher Art diese »Anomalie« war, wollte er nicht mal 300 Millionen Euro. Aber diese Diskussion Inzwischen ist Christophe de Margerie Chef von als hanebüchenes Vorhaben verlacht von mehr als einer Tonne auf einem konkretisieren. Keine Angaben machte er zu einem war schon nach wenigen Tagen wieder verpufft. Operatives Total – und schweigt. Bei Redaktionsschluss war worden. Erst die Kombination von Ergebnis 25,0 Mrd. € Daumennagel platzieren. Total selbst Bericht der norwegischen Umweltorganisation Bel- nicht klar, wann und wie der Ölkonzern das Leck steigender Nachfrage und sinken- wies darauf hin, dass ab einer Tem- lona, wonach ein Gewerkschaftsvertreter Elgin-Frank- Weitere Informationen im Internet: schließen will, aus dem seit dem 25. März giftiges dem Angebot aus vergleichsweise Mitarbeiter peratur von 180 Grad Celsius die lin eine Häufung von Problemen attestierte – in ei- I www.zeit.de/energiewirtschaft 96 100 und explosives Gas strömt. Seit dem Unglück hat leicht ausbeutbaren Quellen – und Geräte zur Echtzeitmessung an den nem solchen Maß, dass Total vor einigen Wochen ZEIT-Grafik/Quelle: Total, Total mehrere Milliarden Euro Börsenwert ein- den damit einhergehenden höheren alle Zahlen 2011 Bohrstellen versagten. sogar überlegt habe, das Tiefseeabenteuer aufzugeben. www.zeit.de/audio WIRTSCHAFT 4.4. AprilApril 2012 DIE ZEIT No 15 33

Die Mär von der Preistreiberei

Stimmt: Die Ölkonzerne verdienen am Benzinverkauf. Aber die großen Gewinne machen Staaten im Nahen Osten VON FRITZ VORHOLZ

m vergangenen Jahr mussten deutsche Ar- Preise fast im Minutentakt. Es ist das Resultat des gleichsweise billig zu fördern ist – während die west- Politiker, die bei den Autofahrern jetzt die Hoff- wäre jeder zehnte Deutsche ein Förster – rund zehn beitnehmer gut vier Minuten arbeiten, um Aufeinandertreffens von Angebot und Nachfrage. lichen Multis die teureren Vorkommen ausbeuten nung schüren, Kraftstoff könne wieder merklich Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge; im Jahr sich einen Liter Benzin a 1,55 Euro leisten Niemand hegt deshalb den Verdacht, dass sich hier müssen, die unter dem Meeresboden, wo die Ölför- billiger werden, handeln gleich mehrfach fahrlässig. davor waren es nicht einmal sieben Prozent. Die zu können. Dieser Tage ist der Kraftstoff jemand unrechtmäßig bereichert. derung oft zum Vabanquespiel wird. Auch das ist Erstens fördern sie die Politikverdrossenheit, wenn Bedeutung der »Minis« bei den Neuzulassungen hat

zwar deutlich teurer als im Durchschnitt des Warum aber soll, was an der Börse vollkommen bei Weltmarktpreisen von mehr als 100 Dollar pro es ihnen nicht gelingt, die vermeintliche Macht der derweil deutlich abgenommen, absolut und relativ. [M]: F1online Foto vergangenenI Jahres. Aber gemessen in Arbeitszeit, normal und gesellschaftlich sanktioniert ist, auf dem Fass meist noch ein lukratives Geschäft. Aber die Multis wirklich zu brechen, wofür es keinerlei An- Das alles schlägt auf den Kraftstoffverbrauch durch, ist er immer noch günstiger als 1960. Damals Kraftstoffmarkt dubioses Gebaren sein? Wenn die Riesengewinne der Konzerne entstehen eben bei der zeichen gibt. Zweitens müssten die Autofahrer der übrigens weit überwiegend bei Fahrten entsteht, musste für einen Liter mehr als zehn Minuten ge- Nachfrage hoch ist und wenn die Anbieter glauben, Ölförderung, im upstream-Geschäft – nicht im wegen der weltweit wachsenden Ölnachfrage selbst die der Freizeitgestaltung dienen. Der Berufsverkehr schuftet werden, 1970 und 1980 waren es immer- mehr Geld für ihr Produkt verlangen zu können, downstream-Geschäft, beim Verkauf der Erdölpro- in diesem Fall mit steigenden Preisen rechnen; bringt es nur auf halb so viele Kilometer. hin noch mehr als fünf Minuten. Gemessen am erhöhen sie die Preise – durchsetzen können sie sich dukte. Dort sind die Umsatzrenditen bescheiden. deutsche Autofahrer konkurrieren schließlich in- Auch deshalb zeugt die inzwischen von Bundes- Einkommen, ist Benzin langfristig also sogar bil- damit nur, wenn die Nachfrager mitspielen. Ostern Benzinverkauf ist alles andere als eine Goldgrube. zwischen mit Kollegen aus China und Indien um kanzlerin Angela Merkel wieder einkassierte Idee, liger geworden. Weil obendrein moderne Autos tun sie das meist, weil sie in den Urlaub fahren oder den begrenzten Rohstoff. Und drittens sähe der Staat die Pendlerpauschale zu erhöhen, nicht von großer etwas genügsamer sind als die Fahrzeuge von ges- ihre Verwandten besuchen möchten. sich schnell mit der Forderung konfrontiert, gefäl- Sachkenntnis; das Jammern an den Zapfsäulen wäre tern, müssen die Deutschen heute weniger arbei- Nun heißt es, auf dem deutschen Tankstellen- Hoch besteuert ligst einfach auf ein paar Steuern zugunsten der auch dann nicht verstummt. Stattdessen hätte sich ten als früher, um hundert oder tausend Kilometer markt gebe es ein Oligopol, und das sei schuld an automobilen Wählerschaft zu verzichten. Tatsäch- der Urheber des Vorschlags, Bundeswirtschaftsmi- weit zu fahren. dem Übel. Es stimmt, fünf Unternehmen beherr- Bestandteile des Benzinpreises in Deutschland, lich fließt mehr als die Hälfte des Zapfsäulenpreises nister Philipp Rösler (FDP), verdient gemacht, Teures Benzin, derzeit wieder einmal das Auf- schen den Markt – Aral (BP), Shell, Jet, Esso und Angaben in Eurocent pro Liter Superbenzin in die Kassen des Fiskus, rein arithmetisch wäre ein hätte er beispielsweise eine Reform der Dienstwa- regerthema Nummer eins, tatsächlich ist das kaum Total. Das Bundeskartellamt, der natürliche Feind im Februar 2012 Nachlass um ein paar Cent möglich. Doch wenn genbesteuerung ins Gespräch gebracht. Tatsächlich mehr als ein nicht kleinzukriegender Mythos. aller Preismanipulatoren, untersuchte den Markt der Fiskus wirklich verzichtete, stiege entweder der werden inzwischen rund 60 Prozent der neuen Pkw Verbraucherpreis: 161,5 Dennoch könnte das Getöse an den Stammti- aber kürzlich noch einmal akribisch. Nach dreijäh- Beitrag zur Rentenversicherung oder die Zahl der als Dienstfahrzeuge zugelassen; weil sich an deren schen der Nation kaum größer sein. Von Preistrei- riger Fleißarbeit präsentierten die Wettbewerbs- Schlaglöcher auf deutschen Straßen. Kosten der Fiskus beteiligt, tun weder die Anschaf- berei ist die Rede – und von der FDP bis zu den hüter vor einem Jahr das Ergebnis. Herausgekom- Mineralölsteuer 65,5 Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass die Auto- fungs- noch die Spritkosten besonders weh. Grünen werden plötzlich alle Politiker zu Freunden men war, was jeder Interessierte schon lange weiß: fahrer ihr Schicksal selbst mitverursacht haben. Das hätten die Verantwortlichen, die mit den der großen deutschen Autofahrergemeinde. Als gäbe dass es auf dem Tankstellenmarkt eben ein Oligopol Hätten sie sparsamere Autos gekauft, kämen sie jetzt Autofahrern jetzt angeblich mitleiden, längst än- es ein Menschenrecht auf billiges Benzin. gibt. Mehr nicht. mit »einmal tanken« deutlich weiter. Wie spürbar dern können – ebenso wie sie längst ein spritspa- Für Empörung sorgt nicht nur das hohe Preis- Missbrauch konnten die Kartellwächter den 100 Kilometer Autofahren das Portemonnaie leeren, rendes Tempolimit hätten verhängen können. niveau, sondern auch der Umstand, dass die Preise Oligopolisten nicht nachweisen. Weshalb alles wie ist schließlich von zwei Faktoren abhängig: vom Wenigstens hätten sie sich Vorschriften einfallen 25,8 an den Zapfsäulen sich mehrmals pro Tag ändern. gehabt blieb – inklusive des nicht ausrottbaren Ver- Mehrwertsteuer Kraftstoffpreis – und von der verbrauchten Menge. lassen können, die Autokäufern bei der Wahl ei- Schuld an dem Übel sollen die Ölmultis sein, allen dachts, die Ölmultis beuteten die Autofahrer aus. Doch was haben die ins Auto vernarrten Deutschen nes sparsamen Fahrzeugs helfen. Ein Energielabel voran Aral und Shell, die immer gemeinere Me- Apropos Ölmultis. Im Geschäft mit der weltweit Beschaffungskosten 59,2 getan? Sich immer stärkere Autos zugelegt: Plus 25 aus dem Hause Rösler gibt es inzwischen zwar, thoden erfinden, um Deutschlands Autofahrer aus- immer noch wichtigsten Energie mischen BP, Shell PS, das ist nach Berechnung des Gelsenkirchener aber was für eins! Es sorge »für große Verunsiche- zunehmen. & Co zwar mit, aber eher als Zwerge. Den Ton ge- Deckungsbeitrag Car-Instituts die Bilanz der vergangenen 10 Jahre rung bei den Autofahrern«, ließ der ADAC wis- Dass sich die Tankstellenpreise mehr als einmal ben andere an: Die Saudi Arabian Oil Company (z. B. Transport, Lagerhaltung, – 135 durstige Pferdestärken hat inzwischen ein sen, weil es schwere Autos bevorzuge. Also Sprit- pro Tag verändern, lässt sich indes schwerlich als oder das südamerikanische Staatsunternehmen gesetzliche Bevorratung, neuer Pkw im Durchschnitt. schlucker. Beleg für Manipulation interpretieren. Das Gegen- Petroleos de Venezuela zum Beispiel. Diese Konzer- Vertrieb, Verwaltung) 11,0 Im Jahr 2010 wurden in Deutschland fast So viel Heuchelei ist bei der Benzinpreisdebat- teil ist richtig. An der Aktienbörse ändern sich ne sind die Gebieter über das Erdöl, das noch ver- ZEIT-Grafik/Quelle: Mineralölwirtschaftsverband 300 000 Geländewagen zugelassen, das sind – als te im Spiel. 34 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT

ie sind noch mannter Raumfahrt und um 2 Milliarden auf 5,3 Milliarden Euro erhöht. stellt werden (deren Finanzierung ist nur bis 2015 einmal davon- von Schlüssel tech no lo- Eines zumindest haben Raumfahrtpolitik und Schul- gesichert) und wie groß die Bereitschaft ist, künftig gekommen. gien für künftige Raum- denkrise gemeinsam. Am Ende geben Deutschland mittels Robotik den Mars zu erkunden. Ohne fahrtstationen. US-Prä- und Frankreich den Ton an. Wie beim Euro eint Am Samstag Tatsächlich wird die europäischer Weltraumpoli- voriger Wo- sident Barack Obama, sie vor allem die Streitlust. tik überschattet von der grundsätzlichen Debatte. cheS evakuierte der Ame- der das Nasa-Budget Hier die Franzosen, die großzügige Förderungen Wer soll die Milliarden verwalten? Die Esa, die EU- rikaner Dan Burbank zuletzt massiv zusam- nie gescheut haben, weil sie »die Raumfahrt immer Kommission oder beide? die internationale Raum- menstrich, erklärt bis- als strategische Schlüsselindustrie verstanden«, wie Deutschland ist glücklich mit der derzeitigen station ISS. In einer an- weilen, wie das Apollo- Ifri-Forscher Venet sagt. Dort die pragmatischen Struktur, die der Esa ein Milliardenbudget und viel gedockten So jus-Kapsel Programm Technologien Deutschen, die zwar Wert auf ihre Anteile an der Einfluss sichert. Vor allem aber garantiert sie den Ein- harrten sechs Astronau- Kompass gefördert habe: zum Bei- Hochtechnologie legen, aber stets nach Kosten-Nut- zahlern (Deutschland ist mit 750 Millionen Euro Detlev van Ravenswaay/Picture Press Abb.: ten aus und fürchteten spiel für eine verbesserte zen-Rechnung agieren wollen. Während für die Jahresbeitrag der größte) gleich hohe Rückflüsse für die Kolli sion mit alten IInn dderer SSchuldenkrisech rächt sich, dass Nierendialyse oder ener- Franzosen der autonome Zugang zum All und die die heimische Industrie. uldenkrise räc russischen Satellitenteilen. EEuropauropa eine klare Linie inht der sic h, dass giesparende Gebäudemate- Fähigkeit eigene Raketen in den Orbit zu schießen Dieses Prinzip, warnt Marcel Dickow von der Am Ende verfehlte der Welt- eine klare L rialien. Und feuerfeste Mate- wichtig sind, begnügen sich die Deutschen im Zwei- Stiftung Wissenschaft und Politik, unterlaufe »die WelWeltraumpolitik fehltinie in der raumschrott die ISS um 14 traumpolitik rialien, die ursprünglich der fel mit dem Bau von Satelliten – ins All befördert Idee des freien Wettbewerbs im Binnenmarkt und Kilometer. fehlt VVONON CLAAS TATJE Erkundung des Weltalls gedient werden können sie später auch von russischen oder trägt dazu bei, dass zumindest teilweise abgeschotte- CLAAS TAT So glimpflich geht es nicht JE hätten, schützten heute Soldaten amerikanischen Raketen. te und quasisubventionierte Industriesegmente er- immer aus. Schon heute beträgt der und Feuerwehrleute. DeGrasse Ty- halten bleiben«. Schaden, den Weltraumschrott durch son führt weitere Entwicklungen an – Deutschland verweigert weitere Aufbrechen könnten es die Länder, würden Kollisionen mit europäischen Satelliten von der Digitalfotografie über die Mam- Kompetenzen für die EU-Kommission weitere Kompetenzen auf die EU-Kommission und anderen Himmelskörpern verursacht, mografie zur Brustkrebserkennung bis hin übertragen. Doch da spielt Deutschland kaum über 330 Millionen Euro im Jahr. All das rech- zur Navigationsbestimmung über Satelliten. Zähe Verhandlungen erwartet Venet daher für die mit. »Wenn Brüssel neue Zuständigkeiten be- nete der Europaparlamentarier Aldo Patriciello in Das letzte Beispiel ist jedoch gerade für Europä- nächste Runde im Esa-Ministerrat. Dann gehen kommt, besteht immer die Gefahr, Doppelstruk- einem Bericht an die Mitgliedsstaaten und die Heu- te erwirt- er ein Grund, besonders kritisch mit der Raum- die 19 Mitgliedsstaaten der Esa in Klausur. Auf der turen zu schaffen«, heißt es in deutschen Diploma- Kommission bereits im vergangenen Herbst vor. schaftet die euro- päische Weltraum- fahrtförderung umzugehen, zumal in Zeiten der Tagesordnung steht aller Voraussicht nach, ob Eu- tenkreisen. So lähmen sich die Staaten am Ende Der Parlamentarier fordert Investitionen in Mil- branche mit 31 000 Beschäftigten einen Umsatz Schuldenkrise. Die Kosten für den Aufbau ropa einen Nachfolger für die Trägerrakete gegenseitig mit ihrem Hickhack um Kompe- liarden höhe für die Raumfahrt. Mit neuen Rada- von 5,4 Milliarden Euro. Ihr Einfluss ist enorm. des Navigationsprogramms Ariane 5 baut, wie viele Mil- tenzen, anstatt die Milliarden möglichst sinnvoll ren und Teleskopen könne der Schrott im All bes- Schätzungen zufolge sollen sieben Prozent des Galileo haben sich liarden künftig für zu verteilen. ser überwacht werden. Die Mitgliedsstaaten sollten Bruttoinlandsprodukts der westlichen Staaten, binnen weni- die ISS be- Schon jetzt wird hart um Finanzmittel im Euro- sich zudem zu einem Satelliten-Überwachungs- 800 Milliarden Euro in der EU, mithilfe von Satel- ger Jah- reitge- päischen Rat gerungen. Der Europäische Haushalt programm für die Umwelt und die Sicherheit auf litennavigationstechnologien erwirtschaftet wer- re wird von 2014 bis 2020 ein Budget von bis zu 1000 der Erde bekennen – und Jahr für Jahr 850 Millio- den. Genutzt werden diese Systeme von Lastwa- Milliarden Euro haben. Doch Mittel für die Raum- nen Euro bereitstellen. genfahrern, Fluggesellschaften oder Ackerbauern. fahrt finden sich eher mühsam. 1,7 Milliarden Euro Die Programme sind längst beschlossen, doch Doch sogar wer wie Reul eher skeptisch ist, Forschungsförderung werden versprochen, für um die Finanzierung wird immer noch gerungen. wenn es um allzu optimistische Zahlen Galileo sind Jahr für Jahr 850 Millionen Euro »Es fehlt der politische Wille, sich zur Raumfahrt- geht, findet Gründe für ein klares Be- eingeplant. Vollkommen ausgelagert aus politik zu bekennen«, kritisiert der Vorsitzende der kenntnis zur Raumfahrtpolitik. Für dem Haushalt ist das andere Zukunfts- CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, Her- Reul geht es »auch darum, den Men- projekt der EU: GMES. Es soll zwi- bert Reul. 2012 soll das anders werden. Von »ei- schen im Land eine Idee von Eu- schenstaatlich finanziert werden. nem entscheidenden Jahr für die europäische ropa in der Zukunft zu geben«. Diesen Vorschlag der Kommission Weltraumstrategie« spricht der Koordinator der Politiker konnten Wähler – da sind sich Deutschland und Bundesregierung, Peter Hintze. Christophe Venet, noch immer für den Welt- Frankreich ausnahmsweise ei- Wissenschaftler am Pariser Forschungsinstitut Ifri, raum begeistern. Das Wett- nig – weisen beide Länder wird noch deutlicher: »Die Zukunft der europäi- rennen um die erste zurück. schen Raumfahrt steht auf dem Spiel.« Mondlandung war auch Der zuständige Indus- Im Herbst kommt es zum Schwur. Zum einen ein Duell des Kalten triekommissar Antonio müssen die Mitgliedsländer der Europäischen Krieges – Astronauten Tajani müht sich unter- Weltraumbehörde (Esa) während eines Minister- gegen Kosmonauten. dessen um ein eigenes treffens im November künftige Prioritäten und In der aktuellen Aus- Profil. Schon im ver- Projektfinanzierungen festlegen. Bei früheren Ver- gabe des Magazins gangenen April ver- sammlungen wurden mehr als zehn Milliarden Foreign Affairs wertet öffentlichte er eine Euro verteilt. Auf der anderen Seite feilschen die der Physiker Neil Mitteilung zur künf- Regierungschefs um den künftigen EU-Haushalt. deGrasse Tyson die tigen Raumfahrtpoli- Darin soll verbindlich festgeschrieben werden, wie einstmaligen An- tik. Auch den Um- viel Geld Europa für die Satellitennavigation Gali- strengungen John gang mit Weltraum- leo, das Überwachungsprogramm GMES und die F. Kennedys als ei- schrott macht er Weltraumforschung ausgibt. »Diese Milliarden- nen »Kampfschrei darin zum Thema programme der EU lassen sich mit den Sparan- gegen den Kommu- und fordert wie der strengungen vieler Länder nur schwer in Einklang nismus«. Jahrzehn- Parlamentarier Pa- bringen«, klagt der CDU-Parlamentarier Reul. telang sei die Unter- triciello ein System stützung der Nasa zur Weltraumlage- Lastwagenfahrer und Fluggesellschaften keine Frage der Par- erfassung. Zum Fort- nutzen die Systeme teizugehörigkeit ge- gang der Debatte um wesen. »Die Erkun- die Landkarte für Welt- Dabei geht es um ein lukratives Geschäft. Allein dung des Weltraums raumschrott gibt sich ein der weltweite Markt für globale Satellitennavigati- stand über Parteipoli- Sprecher der Kommission onssysteme, für die Galileo genutzt werden soll, tik«, urteilt deGrasse Ty- kleinlaut: »Die mittel- verspricht im Jahr 2020 Jahresumsätze von 240 son. Bis heute rühmten fristige Finanzplanung sieht Milliarden Euro. GMES wiederum steht für Glo- sich Präsidenten mit dem eine Finanzierung bisher bal Monitoring for Environment and Security, ein Nutzen der Technologie für nicht vor.« Schlechte Nach- Überwachungsprogramm für Meer, Land und für zivile Zwecke. Gerade erst richten für die Besatzung der die Atmosphäre. Anwendung kann es beim Klima- verabschiedete China einen ISS. oder Katastrophenschutz, aber auch im Krieg fin- Fünfjahresplan. Von Weltraum- den. Ein weiterer Milliardenmarkt. laboren ist darin die Rede, von be- Siehe auch Wissen S. 42

Galileo-Satellit mit Solarzellen PIRATEN WIRTSCHAFT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 35 Knappheit ist von gestern

etzt will man also frei von Klischees und Nebeneinanders großer, kleiner und winziger Unter- Aber, um noch mal darauf zurückzukommen, ist kennt er sich offen, hat es die real existierende kapi- Vorurteilen zur Piratenpartei gehen und nehmungen, über die Bedeutung der Ökologie und es denn wirklich so, dass wir keine materiellen Sorgen talistische Informationsökonomie gut gemeint. »Ich sich das Wirtschaftsprogramm erklären das Ziel einer »besseren sozialen Marktwirtschaft«. Will die Piratenpartei mehr haben? Gibt es keine Armut mehr? »Wir haben habe nichts, wovon ich noch träumen würde«, sagt lassen. Und was ist? Man landet im obers- Aber die Sprüche sind nur zum Aufwärmen. Armut, das lässt sich nicht wegdiskutieren«, ant- er und meint die materiellen Dinge. »Höchstens ten Stockwerk des Berliner Abgeordneten- Eigentlich, das merkt man schnell, sitzt da ein eigentlich auch Wirtschafts- wortet Mayer. »Wobei die meiner Meinung nach noch, so reich zu werden, dass man nicht mehr ar- Jhauses, bekommt eine Club-Mate in die Hand wissbegieriger Mensch in einer beneidenswerten Po- politik machen? Ein Treff en nicht notwendig ist. Wir tolerieren diese Armut, und beiten muss. Freiheit!« Die vierköpfige Familie May- gedrückt – ein Kultgetränk unter Programmie- sition: Er kann sich eine neue Wirtschaftspolitik aus- sie ist auch politisch gewollt! Wegen dem, was die er hat einen VW Touran, sie wohnt auf 220 Quadrat- rern, das die Durchhaltekraft vor dem Bildschirm denken – für eine Partei, die bisher keine hat. Zu mit dem Unternehmer und FDP als ›Leistungsgerechtigkeit‹ bezeichnet.« metern im Prenzlauer Berg. Als Mayer Parlamentarier stärkt und heftiges Aufstoßen hervorruft – und »Pflichtthemen« wie der Euro-Debatte, den Feinhei- Parteivordenker Pavel Mayer Für Mayer hat das wesentlich mit der Infor ma- wurde, »war das schon eine Einkommenseinbuße«, sitzt vor Pavel Mayer (47), wirtschaftspolitischer ten der Steuerpolitik oder der Drogeriekette Schlecker tionsge sell schaft zu tun. Der alte Ausweg aus der Ar- aber immerhin bezog er zuletzt monatlich fast 8000 Sprecher der Fraktion und Internetunternehmer. haben sich Piraten selten klar geäußert, und Mayer VON THOMAS FISCHERMANN mut, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen, Euro extra aus Aktiendividenden und der Vermietung Seit 1980 Hard- und Softwareentwickler. Mit- fängt damit auch nicht an. Er verzichtet sogar weit- sei versperrt. Die Informationsgesellschaft erfordere einer Doppelhaushälfte. wirkender im Chaos Computer Club, Experte in gehend auf glatt geschliffene, programm- und wahl- von ihren Teilnehmern Abstraktionsvermögen, einen »Die meisten Piraten haben nichts gegen Reich- 3-D-Programmierung. kampftaugliche Politikerformulierungen. gewissen Bildungsgrad, und da würden »viele Men- tum und Reiche, sie wollen aber nicht tolerieren, dass Und kaum sind die ersten Höflichkeiten ausge- Und welchen Sinn sollten die auch haben? Bei schen aus rein wirtschaftlicher Sicht überflüssig. Sie es auch Armut gibt«, sagt Mayer. Klassenkampf oder tauscht, redet Mayer vom »Star Trek-Sozialismus«. den Piraten ist nicht vorgesehen, dass sich alle sind also nicht in der Lage, so viel zu erwirtschaften, das alte Rechts-links-Schema, das sei nichts fürs Pi- »In der Science-Fiction-Welt von Star Trek«, führt der dauerhaft auf ein Programm festlegen. Die Pira- wie sie für ihren Lebensunterhalt brauchen. Das beißt ratenvolk, es passe ja nicht mal mehr auf die Lebens- Fraktionsexperte aus, »spielen materielle Güter dank tenpartei will laufend zu allen Themen ihre Mit- sich mit der Überzeugung, sie müssten sich ihren wirklichkeit. Die meisten Leute in seinem Umfeld der Replikator-Technologie eine untergeordnete Rol- glieder befragen, und man kann nicht zugleich Lebensunterhalt verdienen. Es findet sich niemand, wollten keine klassische Erwerbsbiografie mehr: le.« Replikatoren? In der amerikanischen Fernseh- Basisdemokratie und die Treue zu einem Fertig- der so viel für ihre Arbeit bezahlen will.« 40 Jahre beschäftigt und dann in die Rente. »Die und Filmserie können solche Geräte auf Knopfdruck programm pflegen. Der Wirtschaftsexperte hat Da kommt sie her: Die Forderung der Piratenpar- Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände aus der wohl auch deshalb kein Problem damit, jetzt an- tei nach einem bedingungslosen Grundeinkommen Luft zaubern. derthalb Stündchen Club-Mate zu trinken und für jedermann. Sie steht sogar im Grundsatzpro- Pavel Mayer, das sagt er gleich, hat ungefähr 600 über das große Ganze zu philosophieren. gramm und hängt mit etlichen anderen Piratenfor- Folgen von Star Trek gesehen. Er sei aber eigentlich Aber Star Trek? Das Ende aller materiellen Knapp- derungen eng zusammen. Medien, Musik, Bücher kein »Trekkie«, nicht im engeren Sinne, und er habe heit dank Science-Fiction-Technik? »Da laufen wir und dergleichen sollen zumindest privat und für die auch 3000 bis 4000 ganz andere Scifi-Romane gele- definitiv in die Richtung, und teilweise haben wir es Bildung kopiert werden dürfen, denn nur die un- sen. Bei ihm zu Hause stehe da eine »größere Biblio- schon erreicht«, sagt Mayer. Und ehrlich gesagt: gehemmte Verbreitung solcher Inhalte könne eine thek«. Sollten wir darüber reden, um das Wirtschafts- Wenn man sich mit ihm in das Thema vertieft, dann Informationsökonomie aufblühen lassen. Man ist programm der Piraten zu verstehen? »Direkte Ideen kommt einem der Vergleich nicht mehr ganz so ex- skeptisch gegenüber Patenten. Der Staat soll dafür beziehe ich aus so etwas nicht«, sagt Mayer, gelassen zentrisch vor. Dann wird er zur Metapher des Struk- verantwortlich sein, dass jeder Bürger einen Zugang und amüsiert, »das ist eher eine Lockerungsübung turwandels. Die rein materiellen Bedürfnisse, sagt zum Internet hat, ob arm oder reich. fürs Gehirn. Um sich Großes vorstellen zu können.« Mayer, seien heute ja im Allgemeinen gesichert, und Mayer selber ist kein Müßiggänger, sondern ein An Pavel Mayer kann geraten, wer sich bei der daher funktioniere das Wirtschaften auch ganz an- Mann, der seit Jahrzehnten erfolgreich IT-Unterneh- Piratenpartei nach einem Experten in Sachen Wirt- ders. »Die Menschheit nähert sich einem Punkt, an men leitet. Er hat die Datango AG mitgegründet, die schaft erkundigt. Einen einzigen offiziellen bundes- dem die Menschen nicht mehr bereit sind, für ein etliche Großkonzerne bei der Einführung neuer Soft- weiten Oberexperten gibt es so wenig wie ein aus- Mehr an materiellen Gütern noch zu arbeiten. Dafür ware unterstützt: E.on, BayerSchering, Bosch. Seine formuliertes Wirtschaftsgrundsatzprogramm, und werden postmaterielle Güter wichtiger. Freiheit, aktuelle Firma Hoccer GmbH vertreibt eine App zum daher kommt es, dass man mal an dieses und mal an Selbstentfaltung, Erhaltung der Umwelt, ethisches Austausch von Daten zwischen Mobiltelefonen. Drei jenes Mitglied verwiesen wird. Die Kollegen von der Handeln.« Ganz bestimmt wollten im Jahr 2100 Hoccer-Angestellte wurden gemeinsam mit ihm für Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurden ver- nicht mehr so viele Menschen als Konzernsoldaten die Piraten ins Abgeordnetenhaus gewählt. meisten sind ein Prekariat der Besserverdienenden: gangene Woche nach Bayern geschickt, zum Wirt- in Großunternehmen vor sich hin schaffen. Wenn das Gespräch auf Fragen des praktischen Sie können gutes Einkommen erzielen, müssen dies schaftssprecher der dortigen Landespartei; das Han- Seinen eigenen Job als Kundschafter einer neuen Unternehmertums kommt, ist bei Mayer schnell aber unter Verhältnissen tun, die kurzzeitig in Pro- delsblatt landete mal bei dem Finanzanalysten und Wirtschaftspolitik macht Pavel Mayer ganz offen- Schluss mit Star Trek. Ob es je möglich sein könnte, jekten organisiert sind.« Viel Zeit verbringe diese Bundesvorstandsmitglied Matthias Schrade. Die sichtlich mit extragroßem Einsatz. Er schaue sich »in die ganze Wirtschaft so zu organisieren wie die En- Leistungselite auch mit unbezahlter Arbeit, zum Bei- ZEIT traf auf Pavel Mayer. allen möglichen Wissenschaftsbereichen« um, sagt zyklopädie Wikipedia, die von freiwilligen Helfern spiel mit dem Programmieren kostenloser Software, Und der stellt sich wirklich gerne Großes vor. er, und dann zitiert er mal das Max-Planck-Institut ständig und kostenlos weiterentwickelt wird? Manche mit Bloggen oder Musikmachen. »Eine wesentliche Frage ist: Wie kann Wirtschaft in für Gesellschaftsforschung und mal frisch gelesene Piraten hoffen das. Mayer hält das jedoch für reich- Dann sind die anderthalb Stunden um. Der Wirt- einer Informationsgesellschaft aussehen?« Das hat er Unterlagen der Bundeszentrale für Politische Bildung lich übertrieben. schaftsexperte sammelt die leeren Club-Mate-Flaschen

gleich zu Beginn des Gesprächs als Thema gesetzt. (»Die Zahl der Postmaterialisten liegt deutlich über [M]: Ben de Biel/interTOPICS Foto »In Teilbereichen funktioniert das ganz gut. Aber ein. Ein kräftiger Händedruck zum Abschied. Live Dann ist er ein paar Gemeinplätze losgeworden – 40 Prozent«), mal einen niederländischen Soziologen irgendwer muss ja zum Beispiel Software für Steu- long and prosper, möchte man ihm wünschen. über die Notwendigkeit, die Wirtschaft wandelbarer und dann wieder den amerikanischen Ökonomie- Pavel Mayer (47) denkt sich ererklärungen schreiben. Da hat aber keiner Lust, das zu machen als bisher, über die Vorzüge eines gesunden Nobelpreisträger Paul Krugman. Wirtschaftspolitik aus in seiner Freizeit zu machen.« Mit Mayer, dazu be- A www.zeit.de/audio 36 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT

Fällt jetzt auch Madrid?

s ist exakt 15.51 Uhr, als das spa- Wirtschaftsleistung weniger Schulden als Deutsch- Ausfälle rissen tiefe Löcher in die Bilanzen von Ban- übernahm, wurde schnell klar, dass die Schuldenquo- gierung in diesem Jahr mindestens 25 Milliarden nische Staatsfernsehen endlich die land. Den neuen Fiskalpakt, mit dem die Bundes- ken und Sparkassen, die deshalb mit Krediten an die te 2011 deutlich über dem mit Brüssel vereinbarten Euro zurück in die legalen Bahnen holen. ersehnte Nachricht meldet: Die regierung künftige Krisen verhindern will, hätten die Unternehmen knausern. Und weil die überschulde- Ziel lag. Ohne Rücksprache mit den Partnern in der Auch der große Generalstreik vom Donnerstag Zinsen sinken, die Investoren an Spanier problemlos eingehalten. Der Absturz des ten Haushalte ihren Konsum einschränken müssen, EU lockerten die neuen Machthaber in Madrid auch vergangener Woche ist aus Sicht von Berater Díaz den Finanzmärkten sind zufrie- finanzpolitischen Musterschülers ist deshalb für lahmt die Konjunktur. Seit dem Ende des Immobi- für das laufende Jahr die Vorgaben. Die Bundesregie- Güell noch kein Alarmzeichen. Er sieht darin le- den. Das war am vergangenen Berlin nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine lienbooms wurden rund drei Millionen Arbeits- rung reagierte wie die Brüsseler Kommission extrem diglich ein »Ventil für die zahlreichen Probleme Freitag, die Regierung in Madrid intellektuelle Herausforderung. plätze vernichtet. Die Erwerbslosenquote liegt ak- verärgert, und nach langen Verhandlungen wurde ein im Land«, aber keine Bedrohung für die soziale hatte gerade den neuen Haushalt vorgestellt: Ins- Die spanische Misere hat ihre Ursache nicht in tuell bei 23 Prozent, fast jeder zweite Jugendliche ist Kompromiss gefunden: Auf 5,3 Prozent der Wirt- Stabilität. Das sehen die Gewerkschaften naturge- Egesamt 27,3 Milliarden Euro will sie einsparen. staatlichen, sondern in privaten Schuldenexzessen. ohne Arbeit. schaftsleistung soll das Defizit nun sinken – von der- mäß anders und haben der Regierung ein Ultima- Infrastrukturprojekte werden zusammengestrichen, Mit der Einführung des Euro ging ein wahrer Geld- Erst die Euphorie und dann der Absturz – Spanien zeit 8,5 Prozent. tum bis zum 1. Mai gestellt, um ihnen »die Hand die Zuwendungen an die Ministerien gekürzt, die regen über dem Land nieder. Die Europäische Zen- ist ein Musterbeispiel für die vernichtende Wirkung Zudem hat die Regierung umfangreiche Ar- zu reichen«. Steuern angehoben. Seit dem Ende der Diktatur tralbank hielt die Zinsen niedrig, und jede Menge von Spekulationsexzessen. Darunter leidet jetzt auch beitsmarktreformen verabschiedet. Die Unterneh- Das wird wohl nicht geschehen. Spaniens Premier- 1975 sei in Spanien noch nie derart radikal ge- Kapital aus dem Ausland strömte nach Spanien – al- der Staat, denn die geringen Steuereinnahmen und men können in schwierigen Zeiten ohne Zustim- minister Mariano Rajoy ist entschlossen, seinen Re- spart worden, sagte Wirtschaftsminister Cristóbal lein deutsche Banken hatten auf dem Höhepunkt des die zusätzlichen Ausgaben für die Arbeitslosenunter- mung der Gewerkschaften die Löhne senken und formkurs fortzusetzen – und er verfügt über eine Montoro. Die Ruhe währte trotzdem nicht lange. Booms fast 200 Milliarden Euro in dem Land ver- stützung belasten den Etat. die Arbeitszeiten verändern, die Abfindungszah- komfortable Mehrheit im Parlament. Er kann auf Schon am Montag dieser Woche stieg das Miss- liehen – aktuell sind es noch 125 Milliarden. Die Einen einfachen Ausweg aus der Krise gibt es lungen bei Entlassungen wurden gesenkt. Soziale erste Erfolge verweisen. Die Exporte sind zwischen trauen wieder. Spanier zapften die neuen Geldquellen fleißig an. Die nicht, auch weil dem Land eine wettbewerbsfähige Unruhen wie in Griechenland sind trotzdem bis- 2008 und 2011 um 8,8 Prozent gestiegen. Insbeson- Im Rest Europas beobachtet man sehr genau, Schuldenquote der privaten Haushalte stieg nach Be- Industrie fehlt, die den Platz der schrumpfenden Bau- her ausgeblieben. Das liegt nach Einschätzung des dere in außereuropäischen Märkten machen die spa- wie die Spanier mit den Märkten ringen. Fällt Spa- rechnungen des Beratungsunternehmens McKinsey wirtschaft einnehmen könnte. Das viele Geld aus dem Madrider Soziologen Miguel Requena unter ande- nischen Firmen Boden gut. »Wenn Spanien den nien, dann sind die eben erst erweiterten Rettungs- bis zum Jahr 2008 auf 85 Prozent der Wirtschafts- Ausland blähte nicht nur die Hauspreise, sondern rem daran, dass die Arbeitslosenversicherung im Haushaltsentwurf umsetzt, wird es keine Hilfen schirme wohl bald schon wieder zu klein. Die leistung. Das ist fast dreimal so viel wie vor dem auch die Gehälter auf. Wegen der hohen Lohnkosten Vergleich mit anderen Ländern relativ großzügig benötigen. Es wird nicht einfach, aber es ist machbar«, Zukunft der Währungsunion – möglicherweise Beitritt zur Währungsunion. tun sich die iberischen Unternehmen auf den Welt- ist – und an der verbreiteten Schwarzarbeit. sagt Fernando Fernández, Ökonom bei der Madrider entscheidet sie sich in Madrid. märkten schwer, zumal die Entwicklung innovativer Auf 82 Milliarden Euro jährlich taxiert das IE Business School. Es ist ein ungewöhnliches Land, das sich die Fast jeder zweite Jugendliche ist Produkte vernachlässigt wurde. »Spanien hat über Madrider Finanzministerium das Volumen der Aber das sehen nicht alle so. Denn der Sparkurs Schuldenkrise als nächstes Opfer ausgesucht hat. Die heute ohne Arbeit seinen Möglichkeiten gelebt, und nun muss es abspe- Schattenwirtschaft – das sind acht Prozent des belastet zunehmend die Konjunktur. Unabhängige spanischen Staatsschulden waren bislang nie ein Pro- cken«, sagt Carlos Díaz Güell, Professor an der Uni- Bruttoinlandsprodukts. Die Steuerhinterziehung Experten gehen davon aus, dass die Wirtschaft in blem. Die Regierung in Madrid hat in den vergange- Mit dem billigen Geld wurden vor allem Immobilien versidad Complutense in Madrid. etwa aus dem Verkauf von Wohneigentum – ein diesem Jahr um bis zu drei Prozent schrumpfen nen Jahren immer alle Defizitvorgaben der Europäi- finanziert. Die Hauspreise stiegen auf immer neue Und es will abspecken. Als die konservative Re- Drittel des Kaufpreises wird traditionell schwarz könnte – fast doppelt so stark wie von der Regie- schen Union eingehalten, und selbst nach zwei Jahren Höhen – und als die Blase platzte, konnten viele gierung im vergangenen Dezember nach der vorgezo- als so genanntes dinero B bezahlt – noch nicht ein- rung erwartet. Zudem entweicht aus der Immobi- Krise haben die Spanier mit knapp 70 Prozent der Spanier ihre Hypotheken nicht mehr bedienen. Die genen Neuwahl das Ruder von den Sozialdemokraten gerechnet. Mit einer Steueramnestie will die Re- lienblase weiter Luft. Bislang sind die Preise seit WIRTSCHAFT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 37

Die fl aue Konjunktur könnte Spanien unter die Brüsseler Rettungsschirme zwingen VON KARIN FINKENZELLER UND MARK SCHIERITZ

ihrem Höchststand im Dezember 2007 um fast maroden Banken ausscheiden und die gesunden nationale Währungsfonds wohl einen Teil der 30 Prozent gefallen, nach Berechnungen der Institute ihre Bilanzen in Ordnung gebracht haben, Auslagen übernehmen würde. Kampf dem billigen Geld amerikanischen Großbank Citigroup ist die an- kann die EZB ihre Hilfsprogramme wie geplant Die Finanzminister der EU haben am ver- stehende Preiskorrektur damit gerade einmal zur zurückfahren. Lieber gezielt die Aufräumarbeiten gangenen Freitag zwar verkündet, das Volumen Wie sammelt man eine Billion ein? Das ist die Staaten bei ihren Reformanstrengungen nach- Hälfte geschafft. im spanischen Finanzsektor finanzieren, als weiter der Rettungsfonds »auf ungefähr 800 Milliar- Frage, mit der sich die Europäische Zentral- lassen. Das sehen aber nicht alle Notenbanker im ganz Europa mit billigem Geld überschwemmen, den Euro« erweitert zu haben. Doch bei den bank (EZB) in diesen Tagen auseinandersetzen Rat der EZB so. Vor allem die Vertreter der süd- Es drohen neue Verluste in den argumentiert man in Brüsseler Diplomatenkreisen. angeblich neuen Mitteln handelt es sich größ- muss. 1018 Milliarden Euro hat Notenbankprä- europäischen Staaten fürchten, dass die Kon- Bilanzen der Kreditinstitute César Pérez, bei der Investmentbank JP Morgan tenteils um bereits zugesagte Gelder für Portu- sident Mario Draghi in zwei Schritten an die junktur noch zu schwach ist, um den Entzug zu für Privatkundenvermögen in Europa, Afrika und gal, Griechenland und Irland. Für neue Hilfs- Banken im Währungsraum verteilt, weil er ver- überstehen. Damit drohen neue Verluste bei den Banken, Nahost verantwortlich, rechnet damit, dass die programme sind 500 Milliarden Euro da – und hindern wollte, dass die klammen Finanzhäuser Deshalb werden derzeit verschiedene Kompro- auch weil die Regierung die Rechte der Verbrau- Banken rund 50 Milliarden Euro an frischem Ka- die könnten im Ernstfall nicht allein für Spanien der Wirtschaft die Kreditzufuhr abschneiden. missvorschläge diskutiert. Einer sieht vor, dass die cher gestärkt hat. Säumige Immobilienschuld- pital benötigen. ausgegeben werden. Viele Experten erwarten, In der Notenbank gilt die Aktion als voller Er- EZB jeder Bank eine Obergrenze für das Gesamt- ner können demnach mit ihren Banken in Doch bislang wollen die stolzen Spanier die dass zumindest ein Teil der bisherigen Pro- folg. Eine schwere Kreditklemme sei verhin- volumen der Kredite setzt, die bei der Notenbank Neuverhandlungen treten. Vorgesehen ist unter Unterstützung nicht. Der Gang nach Brüssel grammländer noch einmal frisches Geld benöti- dert worden, und viele Institute könnten sich abgerufen werden. Als denkbar gilt auch, dass die anderem, dass die Banken vier Jahre lang keine wird in Madrid als Schmach empfunden. Zu- gen wird. inzwischen wieder bei privaten Investoren Geld Notenbank die Problembanken identifiziert – und Tilgung verlangen und die Zinsen senken. Je dem gewährt die EU – im Gegensatz zur EZB Gut möglich also, dass schon bald wieder borgen. Einige Großbanken wollen nun von die Staaten auffordert, diese Institute entweder zu mehr Schuldner davon Gebrauch machen, desto – ihr Kredite nur gegen strenge Auflagen. Auch nachgebessert werden muss. Dabei sind längst einer Ausstiegsklausel Gebrauch machen und sanieren oder abzuwickeln. Die EZB könnte sich größer sei die Belastung für die Banken, sagt Portugal wehrte sich lange gegen ein offizielles auch die Geberstaaten an den Grenzen ihrer die Notenbankdarlehen vorzeitig zurück- dadurch ein Stück weit aus dem Rettungs- Joaquín Trigo, Direktor des Forschungsinstituts Hilfsprogramm und knickte erst nach massivem politischen und ökonomischen Belastbarkeit an- bezahlen. Das liegt daran, dass das billige Geld geschäft zurückziehen. Instituto de Estudios Económicos. Schon heute Druck der Partnerregierungen ein. gelangt. Im Kreise seiner Kollegen zeigte sich der aus Sicht einer Bank nicht nur ein Segen ist. Wenn sich Weidmann in der EZB mit seinen überleben viele Institute nur, weil sie sich bei der In Brüssel hofft man allerdings, dass sich ein spanische Finanzminister Luis de Guindos am Wer bei der EZB einen Kredit aufnimmt, muss Vorstellungen nicht durchsetzen kann, ist er Europäischen Zentralbank (EZB) mit billigem mögliches Hilfsprogramm für Spanien auf den Freitag allerdings zuversichtlich, dass seine Re- Wertpapiere als Sicherheit hinterlegen – und aber noch lange nicht zur Untätigkeit verurteilt. Geld eindecken können. Finanzsektor begrenzen lässt. Denn wenn die gierung die Krise meistern werde. Nicht nur die diese Wertpapiere können dann nicht mehr In der Krise wurden die Aufsichtsbehörden mit An den Finanzmärkten haben derzeit die Skep- Regierung in Madrid auch ihre übrigen Ausga- Spanier hoffen inständig, der Minister möge anderweitig verwendet werden. Instrumenten ausgestattet, um auf nationaler tiker die Oberhand. Nach Einschätzung von Wil- ben mit EU-Geldern finanzieren muss, könnte recht behalten. Der Bundesbank geht das aber nicht schnell Ebene zu intervenieren. Bundesbank und Fi- lem Buiter, Chefvolkswirt der Citigroup, wird das Geld schnell knapp werden. Die Kosten für genug. Bundesbankchef Jens Weidmann will die nanzaufsicht BaFin können also die Kredit- Spanien noch in diesem Jahr Gelder aus den Ret- ein Rettungsprogramm, wie es Irland oder Por- Weitere Informationen im Internet: Hilfsprogramme möglichst bald beenden. Er vergabe der hiesigen Banken drosseln, wenn sie tungstöpfen beantragen, um die Sanierung der tugal erhalten haben, würde sich Schätzungen I www.zeit.de/finanzkrise fürchtet unter anderem, dass durch das billige fürchten, dass das viele Geld in der boomenden Kreditinstitute bezahlen zu können. In der EU zufolge im Fall Spaniens alles in allem auf rund Geld Pleitebanken ohne Geschäftsmodell künst- deutschen Wirtschaft spekulative Exzesse be- A sähen das einige sogar gerne. Denn nur wenn die 420 Milliarden Euro belaufen, wobei der Inter- www.zeit.de/audio lich am Leben gehalten werden – und dass die fördert. MARK SCHIERITZ Jurk fürIllustration: Frederik DIE ZEIT/www.frederik-jurk.de FINANZSEITE 38 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT

Kursverlauf $ PALLADIUM SOJABOHNEN ALUMINIUM DAX DOW JONES JAPAN-AKTIEN INDIEN-AKTIEN EURO ROHÖL (WTI) 662 US$/ 14,26 US$/ 2173 US$/ Veränderungen 7053 13 257 NIKKEI: 10 094 SENSEX: 17 478 1,33 US$ 104 US$/BARREL FEINUNZE SCHEFFEL TONNE seit Jahresbeginn +19,5 % +8,5 % +19,4 % +13,1 % +3,2 % +5,3 % +11,0 % +17,8 % +6,2 %

GELD UND LEBEN

Von ganz unten Nostalgie? Spekulation? Überreste der »Titanic« stehen zur Auktion bereit

Historische Artefakte ziehen die Menschen immer wieder in ihren Bann. Sei es das Exemplar der briti- schen Magna Charta, das der amerikanische Finanz- investor David Rubenstein 2007 für mehr als 20 Mil- lionen Dollar erwarb, oder seien es Kugelschreiber von Lehman Brothers, die ein jeder von uns bei eBay er- Gute Laune steigern kann. Geld für etwas zu bieten, dessen Wert vor allem ideeller Natur ist, hat mal etwas mit Nostal- gie zu tun, dem Gefühl, Geschichte zum Greifen nahe- zukommen, mal mit einer Lust am Kuriosen – und immer wieder mit der Hoffnung, dafür später noch mehr Geld zu bekommen. Mit Spekulation also. für alle! Wer wollte, der konnte nun bis zum Montag dieser Woche ein schriftliches Gebot für eine Sammlung ganz Trotz unsicherer Zeiten schütten Deutschlands besonderer Artefakte ab- geben: für gut 5500 Ge- Konzerne so viel Geld aus wie seit Jahren nicht. Diese Woche von genstände aus dem Wie lange geht das gut? VON DAVID SELBACH Arne Storn Wrack der Titanic – vom Fernglas über Schmuck bis zu Tassen. Im Ange- bot hat sie das Auktions- haus Guernsey’s in New

York, kurz vor dem 100. für DIE ZEIT/www.splitintoone.com Petrat Illustration: Karsten Jahrestag der Schiffskata- strophe. Erkennbar den Preis im Blick, verweist Guernsey’s auf die »extrem gefährlichen und kostspieligen« Tauchgänge; für ine gewaltige Schuldenlast setzt Geschäfte, die Erträge seien konstant oder würden Womöglich mehr, als sie sollten. Der Versicherer geben, sagt Otte. 30 bis 50 Prozent gelten als opti- manche sei die Sammlung »die außergewöhnlichste weite Teile Europas unter sogar steigen, sagt Rüdiger von Rosen, Geschäfts- Allianz etwa will seine Dividende in diesem Jahr mal. »Aber natürlich sollte es nicht mehr sein, als Sammlung von irgendetwas auf der Welt«. Druck, die Gemeinschaftswäh- führer des Deutschen Aktieninstituts. »Da ist die konstant bei 4,50 Euro pro Aktie halten, obwohl an Gewinn und Rücklagen da ist«, betont er. Für Spekulanten ein Problem, für Historiker ein rung steht auf dem Spiel. An Zahlung von attraktiven Dividenden angemessen.« sich der Gewinn im vergangenen Jahr halbiert hat. Doch selbst daran halten sich nicht alle. Die Segen: Ersteigern lässt sich die Sammlung nur in sich müssten Unternehmen in Zum anderen habe es in Deutschland Tradition, Nehmen die Aktionäre den Vorschlag von Vorstand Deutsche Telekom hat in den vergangenen Jahren Gänze. Wer den Zuschlag erhält, muss wie ein Mu- diesen unsicheren Zeiten Geld- gleichbleibend hohe Dividenden zu zahlen. und Aufsichtsrat auf der Hauptversammlung an, immer wieder mehr Dividenden ausgeschüttet, als seum ihren Erhalt sicherstellen und stets einen Teil der reserven anlegen. Doch ganz im Anleger suchen in unsicheren Zeiten nach ver- werden 80 Prozent des Jahresüberschusses aus dem sie an Gewinn verzeichnet hat. So wird es auch Öffentlichkeit zugänglich machen. Einzelstücke ver- Gegenteil: Die 30 Konzerne aus dem Dax wer- lässlichen Erträgen auf ihr Kapital. Die Renditen Unternehmen abfließen. Der Rückversicherer 2012 wieder sein. Obwohl der Überschuss sich im kaufen darf er nur in Ausnahmefällen, etwaige Erlöse Eden nach Angaben der Bank HSBC Trinkaus in festverzinslicher Wertpapiere sind historisch nied- Munich Re, 2011 schwer gebeutelt durch die Fi- vergangenen Geschäftsjahr von 1,7 Milliarden Euro müssen wieder der Sammlung zugutekommen. Und diesem Jahr Dividenden in Höhe von 29 Mil- rig, da werden sogar Aktien mit bescheidenen nanzkrise, magere Zinsen und mehrere Naturkata- auf gut 600 Millionen Euro mehr als halbierte, als wären diese Auflagen nicht genug, gibt Guernsey’s liarden Euro an ihre Aktionäre ausschütten. Das Dividenden interessant. Sind die Kurse niedrig, strophen, geht noch weiter. Bei einem Konzern- bleibt das Unternehmen bei seinem Versprechen, auch die Richtung vor: Der Schätzwert der Sammlung wäre der höchste Wert seit 2007, dem letzten fällt die Dividendenrendite, also das Verhältnis der gewinn von nur gut 700 Millionen Euro bleibt die die Dividende bis 2012 stabil bei 70 Cent je Aktie liege bei 189 Millionen Dollar. Jahr vor der Krise. Zehn Konzerne erhöhen ihre Dividende zum aktuellen Kurs, noch günstiger aus. Dividende konstant bei 6,25 Euro pro Aktie. Das zu halten. Der Konzern wird in diesem Jahr rund Ob David Rubenstein wieder mitbietet? Das von Gewinnausschüttung pro Aktie im Vergleich Bei der Deutschen Telekom betrug sie zuletzt 7,7 bedeutet, dass das Unternehmen 1,1 Milliarden drei Milliarden Euro ausschütten – fünfmal mehr, ihm mitbegründete Investmenthaus Carlyle hat ihm zum Vorjahr sogar noch. Die Hauptsaison der Prozent. Im Vergleich zu den Renditen von An- Euro an seine Aktionäre ausschüttet – mehr, als es als laut IFRS-Bilanz an Gewinn erzielt worden ist. jüngst erst eine Gewinnbeteiligung von 134 Millionen Hauptversammlungen, die mit dem Aktionärs- leihen oder Pfandbriefen ist das ziemlich üppig. verdient hat. »Die großen Aktionäre wie der Bund und die KfW Dollar ausgezahlt – und Rubenstein hat seinen Sinn treffen von Daimler am Mittwoch dieser Woche Der Käufer macht Gewinn, ohne dass der Aktien- »Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit sind für sind an einer hohen Ausschüttung interessiert«, sagt für Historisches bewiesen. Das Exemplar der Magna beginnt, bringt einen wahren Geldregen. kurs dafür auch nur einen Cent steigen muss. Anleger in bewegten Zeiten besonders wichtig«, Tina Hecking, Telekom-Analystin der Hamburger Charta hat er restaurieren lassen. Seit Februar ist es im Gründe gibt es dafür mehrere. Zum einen Unternehmen, deren Aktienkurs vor sich hin begründet Finanzvorstand Jörg Schneider den Sparkasse (Haspa). »Es dürfte aber zukünftig US-Nationalarchiv in Washington zu sehen. machten viele Aktiengesellschaften weiter gute dümpelt, schütten Gewinne aus, was das Zeug hält. Schritt. Munich Re hat die Divi- schwierig werden, dieses dende seit 1969 kein einziges Mal Niveau zu halten.« gekürzt. Der Versicherer zehre auch Ein großer Teil der T-Ak- dieses Mal nicht von der Substanz, tionäre hätte sich ohne die sagt Schneider: »Uns kommen jetzt Dividenden üppigen Dividenden wohl die Ersparnisse der Vergangenheit schon längst von seinen An- zugute.« In guten Jahren bilde das Die Vorstände von teilen getrennt. Finanzvor- Unternehmen Rücklagen, um in Aktiengesellschaften stand Timotheus Höttges schlechten nicht gleich in die Mie- schlagen den Aktionären gibt zu, dass die Aktionäre sen zu geraten. Zudem richtet sich zur Hauptversammlung eine »wichtige Interessen- die Ausschüttungsquote nicht nach (HV) vor, was mit dem gruppe« für die Telekom dem internationalen Bilanzierungs- Gewinn des Geschäfts- seien und eine angemessene standard IFRS, bei dem der Ge- jahres geschehen soll. Ausschüttung auf ihre Ak- winn für 2011 bei den genannten In der Regel erhalten tien verdienten. Höttges rech- gut 700 Millionen Euro liegt, son- Anteilseigner pro Aktie net vor, dass nach der HGB- dern nach dem deutschen Handels- einen Gewinnanteil, die Bilanz 2011 ein Gewinn von gesetzbuch (HGB). Danach er- Dividende, die am ersten 4,7 Milliarden Euro zur Ver- reicht der Jahresüberschuss 1,1 Bankarbeitstag nach der fügung stehe – genug, um Milliarden Euro – so viel, wie der HV ausgeschüttet wird. die aktuelle Ausschüttung zu Rückversicherer ausbezahlt. »Wir Weil die Aktionäre Geld decken. Überhaupt: In der haben auch weiterhin ausreichend vom Firmenkonto in ihr Telekommunikationsbran- Puffer, um profitabel wachsen zu Privatvermögen über- che sei die Kassenlage, der können«, versichert Schneider. tragen, sinkt an diesem sogenannte Free Cashflow, Fragt sich nur, wie lange. sogenannten Ex-Tag ohnehin entscheidender als Aus Aktionärssicht sei die Divi- meist der Aktienkurs der Gewinn. Und diese Bar- dendenpolitik zu begrüßen, sagt mittel, sagt Höttges, hätten der Kölner Vermögensverwalter 2011 bei 6,4 Milliarden Euro und Hochschullehrer Max Otte. gelegen. »Es ist vernünftig, die Dividenden im Zeitverlauf Alles gut also? Nicht ganz: Bei der Telekom zu glätten«, sagt Otte. »Als Investor will ich schließ- stehen enorme Investitionen an, etwa für die Um- lich möglichst konstante Erträge erhalten.« Der rüstung des Mobilfunknetzes auf den neuen LTE- Spezialist für Aktien von tendenziell unterbewerte- Standard – allein in den USA kommen dafür in den ten Unternehmen hält sich von Firmen fern, die nächsten zwei Jahren 1,4 Milliarden Dollar zu- ihre Gewinne einbehalten. »Man sollte Investitions- sätzlich auf die Telekom zu. Das Geld, das sie aus- pläne des Managements grundsätzlich skeptisch schüttet, steht dafür nicht mehr zur Verfügung. betrachten«, sagt Otte. »Besser, die Erträge werden Die Dividende konstant zu halten oder gar zu ausgeschüttet als – wie sehr oft – in unsinnige und erhöhen ist für Anleger ein Signal der Zuversicht. verlustreiche Investitionen gesteckt.« Experten der Fondsgesellschaft Allianz Global In- Die jüngste Untersuchung der Fondsgesellschaft vestors (AGI) kamen unlängst in einer Studie zu ING Investment Management (ING IM) kam zu dem Schluss, dass hohe Ausschüttungsquoten auf dem Ergebnis, dass Dividenden langfristig einen höhere Gewinne in der Zukunft hindeuten. Das großen Teil der Gesamtrendite von Aktien aus- Management ist offenbar überzeugt, dass die Über- machen. »Dividenden und Dividendenwachstum schüsse in Zukunft steigen werden. tragen zu etwa zwei Dritteln zu den Gesamterträgen Der zweite Grund dreht das Argument der von Aktienportfolios bei«, sagt Nicolas Simar, bei Dividenden-Kritiker um: Unternehmen, die aus- ING IM verantwortlich für Dividendenfonds. »Nur schütten, sind stärker auf externes Kapital für In- das letzte Drittel beruht auf Kurszuwächsen.« Al- vestitionen angewiesen, müssen Kapitalgeber von lerdings warnt Simar davor, dass Unternehmen mit der Profitabilität überzeugen und sollen deshalb hohen Ausschüttungen weniger Spielraum für In- erfolgreicher sein. »Externe Geldgeber sind sehr vestitionen haben. Er empfiehlt: »Man darf sich kritisch«, erklärt AGI-Chefvolkswirt Stefan Hof- nicht allein die Dividendenrendite anschauen, richter. »Deshalb sind solche Investitionsprojekte sondern muss auch prüfen, ob die zukünftigen Er- häufig besser durchdacht als selbst finanzierte.« träge die Ausschüttungen decken.« Die Studie hat aber einen Haken: Sie gilt nur im Max Otte folgt einer einfachen Faustregel: Fir- Mittel über alle Aktiengesellschaften hinweg. Dass men, bei denen keine großen neuen Investitionen einzelne Unternehmen Anleger mit einer hohen anstünden, könnten ruhig ihren gesamten Über- Ausschüttung blenden, bleibt die große Gefahr. Der schuss ausschütten. Wachstumsfirmen, etwa aus US-Autohersteller General Motors etwa hielt seine den Hightech-Branchen, sollten ihren Aktionären Dividende lange auf dem immer gleichen, hohen jedes Jahr zumindest einen Teil des Gewinns ab- Niveau. Und beantragte dann Insolvenz. ANALYSE UND MEINUNG WIRTSCHAFT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 39 Hat der Staat bei Schlecker versagt? Es hätte eine Transfergesellschaft für entlassene Mitarbeiterinnen geben müssen, sagt der Gewerkschaftschef. Hätte nichts gebracht, widerspricht der Arbeitsforscher

s werden keine frohen Ostern für die es zu stören, dass die milliardenschwere Drogerie- as Schicksal der »Schlecker-Frau- nanzieren durch das Transferkurzarbeitergeld Schlecker-Beschäftigten. In diesen Ta- kette von Anton Schlecker als »eingetragener Kauf- Pro en« berührt viele, denn sie sind diese scheinbaren Lösungen mit, die am Ende gen werden ihnen die Kündigungs- mann« geführt wurde – als handele es sich um eine gleich doppelt gestraft: Erst muss nach einem Jahr leider doch zu oft in der Sack- schreiben zugestellt, sie müssen sich Pommesbude. ihr Unternehmen Konkurs an- gasse der (dann Dauer-)Arbeitslosigkeit enden. arbeitslos melden und fragen sich ver- Mit der Transfergesellschaft hätte man Zeit melden, dessen Geschäftspolitik Obendrein wird oftmals der finanzielle Ezweifelt, wie es weitergehen soll. gewonnen, sowohl für den Insolvenzverwalter als schonD seit Langem in der Kritik steht. Dann wer- Beitrag des gescheiterten Arbeitgebers – wie es Die Angestellten von Schlecker, überwiegend auch vor allem für die Beschäftigten. Sie hätten den bei ihnen mit dem Zauberwort »Transfer- im Falle Schlecker geplant war – auch noch Frauen, hatten es nie leicht. Lohndumping, Schi- zumindest für eine Übergangszeit 80 Prozent ih- gesellschaft« falsche Hoffnungen geweckt. durch einen vom Steuerzahler verfügten Kredit kanen, Überwachung – Anton Schlecker, der trotz res Gehalts bekommen. Und ihnen wäre die Die Befürworter von Transfergesellschaften der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau Pleite weich fällt, hat nichts ausgelassen, um sei- intensive Betreuung und Qualifizierung zuteil wollen den Betroffenen helfen. Doch ist es kein ersetzt. nen Beschäftigten das Leben schwer zu machen. geworden, die sie brauchen und die sie auch ver- Ausdruck »sozialer Kälte«, zu fragen: Hilft dies So wird der Staat vollends zur Reparatur- Die Angestellten haben sich mutig zur Wehr ge- dient haben. Es ist leichtfertig, zu behaupten, die wirklich, sie zurück in Arbeit zu bringen, und zu kolonne unternehmerischen Versagens. Das Ri- Giribas Jose/SZ Photo/laifFotos: ullstein (o.); setzt und trotzdem loyal ihre Arbeit getan. Jetzt Betroffenen hätten gute Chancen, eine neue Be- MICHAEL welchen Kosten? Und warum misstraut man siko bleibt bei den betroffenen Mitarbeiterin- setzt man über 10 000 von ihnen vor die Tür. schäftigung zu finden. Viele Schlecker-Beschäf- SOMMER dem Arbeitsmarkt und der gestärkten Bundes- nen: Sie verzichten vorab auf eine mögliche Ab- Man lässt die Schlecker-Frauen über die Klinge tigte sind über fünfzig, das Durchschnittsalter Der DGB-Chef agentur für Arbeit? findung, erhalten aber keine erkennbar bessere springen, weil die Führungsriege der FDP ihre ei- beträgt Ende vierzig. Oft sind es alleinerziehende klagt: Bankern hilft Transfergesellschaften haben die in sie gesetz- Beschäftigungsperspektive. Das ganze Konstrukt gene Haut retten will. Sie sollten sich schnell nach Mütter, die meisten sind familiär und regional ten Erwartungen nicht erfüllt, wie die einzige hat also bestenfalls einen Placeboeffekt. einer »Anschlussverwendung« umsehen, beschied gebunden. Sie können nicht einfach ihre Sachen man, Schlecker- vorliegende Studie des Instituts zur Zukunft der Entstanden sind die Transfergesellschaften vor ihnen der FDP-Vorsitzende. Mit der grausigen packen und alles hinter sich lassen. Für viele en- Frauen nicht Contra Arbeit (IZA) schon vor einigen Jahren zeigte. Sie etwa 15 Jahren in Zeiten wachsender Massen- Kälte, die aus diesen Worten spricht, ließe sich die det die Suche nach Röslers »Anschlussverwen- helfen den Betroffenen im Durchschnitt nicht arbeitslosigkeit, als die Arbeitsagenturen mit der Hölle einfrieren. dung« wahrscheinlich im Niedriglohn-Ghetto schneller aus der Arbeitslosigkeit, als dies bei der Vermittlungsaufgabe völlig überfordert waren. Es ist in diesem Zusammenhang wieder viel der Minijobs. Betreuung durch die Arbeitsagenturen der Fall Doch nach den erfolgreichen Arbeitsmarktrefor- von Ordnungspolitik die Rede. Es sei ordnungs- Es stimmt ja: Bei kleinen Firmenpleiten greift ist. Transfergesellschaften sind ihrerseits bisher men sind die neuen Jobcenter heute erheblich politisch nicht vertretbar, eine Transfergesellschaft der Staat in der Regel nicht ein. Aber das ist doch einen fundierten Qualitätsbeweis ebenfalls besser. Genauso wie die Lage auf dem deutschen für die Schlecker-Beschäftigten mit staatlichen kein Grund, auch in diesem Fall, in dem es um schuldig geblieben. Arbeitsmarkt: So gibt es derzeit bundesweit Bürgschaften zu stützen. Merkwürdig ist nur, dass 10 000 betroffene Familien geht, die Hände in Der Schlecker-Fall ist zudem um vieles kom- 25 000 offene Stellen für Verkäuferinnen. die Ordnungspolitik immer nur dann beschworen den Schoß zu legen. Die Politik hätte den Beschäf- plizierter als andere Fälle, da es hier um weit ver- Statt teure, ineffektive Parallelstrukturen zu wird, wenn es darum geht, Tausenden von Be- tigten helfen können, wie sie es auch in anderen streute Unternehmensteile geht, für die elf errichten, sollten alle Anstrengungen darauf schäftigten die helfende Hand zu verweigern. Die Fällen immer wieder getan hat. Aber sie tut es die- Transfergesellschaften geplant waren. konzentriert werden, die Arbeitsagenturen durch Liberalen, die sich gerade ordnungspolitisch auf- ses Mal nicht, weil die FDP glaubt, dass mindes- KLAUS F. Jedenfalls sind Transfergesellschaften ein die Schlecker-Herausforderung noch effizienter blähen, hatten kein Problem damit, gierige Banker tens fünf Prozent der Bevölkerung genauso ge- ZIMMERMANN ziemlich teures Instrument. Für in Schieflage zu machen. mit Milliarden zu retten. fühlskalt sind, wie sie selbst es ist. Der Chef des Insti- geratene Unternehmen mögen sie praktisch sein. Zu Recht werden alle Instrumente der Ar- Sie hielten es für geboten, die Hotelbranche So bleibt am Ende ein fataler Eindruck: Milli- tuts zur Zukunft Die ersparen sich Abfindungszahlungen, Kündi- beitsmarktpolitik regelmäßig geprüft und bei In- mit einem völlig sinnfreien reduzierten Mehrwert- arden für die Banken, keinen Cent für die Schle- gungsprozesse und vermitteln zudem das schöne effizienz abgeschafft. Wer das jetzt wieder tut, steuersatz zu beglücken. Und keinen der selbst er- cker-Beschäftigten. Die Großen lässt man laufen, der Arbeit setzt auf Gefühl, etwas Gutes für die von Entlassung be- wird sehen: Transfergesellschaften sollten zurück nannten Gralshüter der Ordnungspolitik scheint die Kleinen lässt man hängen. die Jobcenter drohten Mitarbeiter zu tun. Die Arbeitsämter fi- in die Mottenkiste der Geschichte.

Der lange Weg

Bertelsmann mag bald die passende Rechtsform für einen Börsengang haben. Bereit dafür ist der Konzern nicht VON GÖTZ HAMANN

Für den Medienkonzern Bertelsmann könnte ein Dass Bertelsmann zudem keine einfache KGaA nach mit ein, ging der Umsatz in den fortgeführten Ge- diese Zeit brauchen, um Investoren eine überzeu- verlorenes Jahrzehnt zu Ende gehen. Vorige Wo- deutschem Recht sein will, sondern die Form einer schäften auch im vergangenen Jahr zurück. gende Perspektive zu bieten. DIE ANALYSE che hat der neue Vorstandschef Thomas Rabe an- Europäischen Aktiengesellschaft (SE & Co. KGaA) Bleibt die Frage, wie viel Vertrauen die Anleger Zu seiner Strategie gehört, so viel ist schon klar, gekündigt, den Konzern in eine SE & Co. KGaA wählt, hat für die Eigentümer und den Vorstand einige darin haben können, dass es in Zukunft besser wird. eine Expansion außerhalb von Europa, wo Bertels- umzuwandeln. Dies ist eine noch recht junge organisatorische Vorteile. So erleichtert eine Europäische Auch hier wird sie die Gewinn-und-Verlust-Rech- mann bis heute 80 Prozent seines Umsatzes erwirt- Rechtsform, und sie könnte zwei bisher unverein- Aktiengesellschaft innerhalb eines Konzerns viele buch- nung entmutigen. Die Zahl der fehlgeschlagenen schaftet. Und wie andere Manager setzt auch Rabe bar scheinende Interessenlagen miteinander ver- halterische Abläufe und Umstrukturierungen. Auch Geschäfte lässt sich nicht an zwei Händen abzählen. auf die wirtschaftliche Entwicklung Asiens. Nur ist binden: die der Familie auf der einen und die der ließe sich der Konzernsitz aus steuerlichen Gründen Viel davon reicht in die Ära von Thomas Rabes das Mediengeschäft ein anderes als etwa das Auto- Top-Manager im Konzern auf der anderen Seite. leicht in ein anderes EU-Land verlegen. Vorvorgänger Gunter Thielen zurück. mobilgeschäft. Beispiel China: Für den Bertels- Dazu muss man die Besonderheiten einer Kom- Die Frage ist nun: Wer soll sich darauf einlassen, in Die Misserfolge hinterlassen ihre Spur in den mann-Verlag Gruner + Jahr ist China bereits einer manditgesellschaft auf Aktienbasis (KGaA) berück- solch eine SE & Co. KGaA als minderberechtigter Ge- fortlaufenden Sondereinflüssen, die Bertelsmann der größten Auslandsmärkte geworden, mit beein- StarreA in Westfalen sichtigen. In ihr treffen weiterhin die persönlich sellschafter zu investieren? Antwort: Sind die Aussichten ausweist (siehe Grafik). Jahr für Jahr dokumentieren druckenden Wachstumsraten zwischen zehn und haftenden Gesellschafter – sogenannte Komplemen- für das Unternehmen gut, kommen die Anleger in Scha- sie fehlgeschlagene Investments oder stehen, anders zwanzig Prozent pro Jahr. Jedoch hängt dieser Um- Umsatz in Mrd. € täre – alle wesentlichen Entscheidungen und haben ren. So schlicht ist das, und sehen kann man es an der ausgedrückt, für unglückliche Entscheidungen des satz vollständig an einer Lizenzvergabe durch die operatives Ergebnis in Mrd. € bestimmenden Einfluss auf die Geschäftsführung. Fresenius SE & Co. KGaA, einem der wachstumsstärks- Managements. Alle zusammen summieren sich in kommunistische Bürokratie. Im Verlagsvorstand Sondereinflüsse in Mrd. €* Die übrigen Gesellschafter, die sogenannten Kom- ten Werte im Deutschen Aktienindex. Fresenius kon- den vergangenen Jahren auf nahezu drei Milliarden selbst schätzt man die Lage als so instabil ein, dass manditisten, besitzen zwar Kontrollrechte, sie dürfen trolliert einen der größten deutschen Krankenhausbetrei- Euro. Thomas Rabe, der neue Vorstandschef, hat man zwar auf Bilanzpressekonferenzen die telefon- Einsicht nehmen, aber sie haben keine Mitsprache- ber (Helios) und ist zugleich ein führender Anbieter für sie in seiner Funktion als Finanzvorstand nach buchstarken Zeitschriften für den chinesischen 18,8 rechte wie in einer normalen Aktiengesellschaft. Dort Infusionnahrung und Infusionstherapie. Darüber hinaus außen hin mitgetragen. Markt stolz präsentiert, über Details aber seit Jahren 16,1 kann ein Aktionär, der über 25,1 Prozent der An- ist die Fresenius SE maßgeblich an der Fresenius Medi- Zählt man auch die 4,5 Milliarden Euro hinzu, eisern schweigt. Wie willkürlich China mit auslän- 15,4 15,1 15,3 teile verfügt, im Zweifelsfall die wesentlichen Ent- cal Care beteiligt, einem ebenfalls im Dax notierten die Bertelsmann vor einigen Jahren dafür aufwand- dischen Medien- und Internetunternehmen um- wicklungen blockieren. Konzern, der als Komplettanbieter für die Behandlung te, einen Minderheitsaktionär auszuzahlen, be- geht, mussten in den vergangenen fünfzehn Jahren Die Kommanditisten einer KGaA erhalten für von Dialysepatienten auf der ganzen Welt reüssiert. kommt man eine Vorstellung davon, wie viele sowohl Medientycoon Rupert Murdoch als auch ihre Geldeinlage Aktien, die sie leicht verkaufen Nur, und das ist die Krux bei Bertelsmann: Voraus- Chancen dieses Unternehmen ausgelassen hat. der Suchmaschinen-Konzern Google erfahren. Es können, was umso leichter fällt, wenn die KGaA an setzung dafür, dass sich Anleger auf diese Rechtsform Auch diesen Vorgang hat Rabe, damals ganz frisch kostete beide am Ende viel Geld. 1,8 1,6 1,4 1,8 1,7 der Börse notiert ist. Das wiederum kann geschehen, einlassen, sind die Aussichten des Unternehmens. Und in den Vorstand berufen, exekutiert. Trotzdem, und das ist die gute Nachricht: Mit –0,9 –0,7 –0,7 –0,2 –0,3 ohne dass die Komplementäre (in diesem Fall letztlich die sind beim Medienkonzern aus Gütersloh derzeit Wenn sich der neue Vorstandschef nun, wie der Perspektive, Anleger am Kapitalmarkt über- 2007 2008 2009 2010 2011 die Familie Mohn, die Bertelsmann kontrolliert) so nicht berauschend, ja geradezu dürftig. Um das zu er- angekündigt, fünf bis zehn Jahre Zeit lassen will, zeugen zu müssen, bekommt das Management von viel Einfluss verlieren wie beim Börsengang einer kennen, reicht ein Blick auf die vergangenen fünf Jahre bis der Konzern wieder so wachstumsstark ist wie Bertelsmann mehr Freiheiten. Dann zählt eben *Wertberichtigungen, Verkäufe unter dem bilanzierten Wert, Einstellung von Geschäften, Abfindungen normalen Aktiengesellschaft. Warum das so ist? Eben (siehe Grafik). Der Umsatz schrumpfte in dieser Zeit um zuletzt in den 1980er und 1990er Jahren, dann ist nicht mehr nur der Wille der Familie und ihres ZEIT-Grafik/Quelle: Bertelsmann weil die Aktionäre nur beschränkte Rechte besitzen. ein knappes Fünftel, und rechnet man die Inflationsrate das realistisch, vorsichtig und klug. Rabe wird Beraterkreises. Dem Konzern wird das helfen. WAS BEWEGT 40 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT Peter Sjovall? Fotos: Daniela Meyer für Eric Tschaen/REA/laif (u.) Daniela Meyer DIE ZEIT; Fotos: Peter Sjovall in Hongkong Perfekt chinesisch Wie ein Schwede aus Malmö die Geschicke von Chinas größtem Bambusproduzenten lenkt – und um deutsche Aktienanleger wirbt VON DANIELA MEYER

er chinesische Fahrer war zu Bei einem Seminar in Bamberg hatte er erst- Kurz vor Sjovalls Einstieg Ende 2007 war Asian meisten ausländischen Manager sind schlicht schnell gefahren, der Hund hatte mals chinesische Studenten kennengelernt. Die- An die Börse Bamboo als zweites chinesisches Unternehmen nach nicht lange genug im Land, um chinesische Un- auf der sandigen Piste gestanden. se versprühten Optimismus und die Lust, Neues dem Recyclingkonzern Zhong De an die Deutsche ternehmen, ihre Strategie und Wirtschaftlichkeit Es war wohl der Wachhund eines zu entdecken. Er ließ sich anstecken von ihrer Im Sommer 2007 ging Zhong De, ein Börse gegangen und hatte seinen Hauptsitz von einschätzen zu können«, sagt er, »sie sehen nur Bauern. Es knallte, als der Hund Aufbruchstimmung. »Ich war in meinem Leben Entwickler für Müllheizkraftwerke, als Fuzhou nach Hamburg verlegt. das Risiko, nicht die Chance.« Ddie Stoßstange traf, es rumpelte kurz, als er unter noch nie weit gereist, aber plötzlich sicher: In erstes chinesisches Unternehmen an die In einem Umfeld, in dem chinesischen Firmen Dass es ein besonderes Risiko sein kann, in eine den Wagen gezogen wurde. Ein Jaulen, dann lag China kann ich etwas erreichen, etwas erleben«, Deutsche Börse. Es folgten der Bam- Argwohn entgegenschlug, brauchte Lin Sjovall als chinesische Firma zu investieren, hat sich einmal das Tier, das weiße Fell in Blut getränkt, hinterm sagt Sjovall. busproduzent Asian Bamboo und der ein Vertrauen stiftendes Gesicht. Dass sie mit ihrem mehr Mitte 2011 gezeigt. Carson Block – ein um- Auto im Staub. Irgendwo auf der Strecke zwi- Sein Studium an der Stockholm School of Mobilfunkspezialist Vtion. Mittlerwei- Konzept derart erfolgreich sein würden, hatten strittener Spekulant aus Hongkong, der sein Geld schen der südchinesischen Stadt Fuzhou und den Economics, einer renommierten Wirtschaftsuni- le sind im stark regulierten Börsenseg- beide nicht erwartet. Lange Zeit bestand Sjovalls mit Wetten auf fallende Kurse verdient – behaup- Wuyi-Bergen war das, zwischen Reisfeldern und versität, hatte er gerade abgeschlossen – und ment Prime Standard neun chinesische Job hauptsächlich darin, Rekorde zu vermelden. In tete, der an der Börse Toronto gelistete Waldbetrei- winzigen Lehmhütten. plötzlich keine Lust mehr, in seine beschauliche Firmen gelistet. Zuletzt kamen Aktien den ersten vier Jahren nach dem Börsengang wuchs ber Sino Forest habe die Größe seiner Anbauflächen Kein guter Start in den Tag, an dem Peter Heimatstadt Malmö zurückzukehren. Er wollte des Schuhherstellers Ultrasonic im Asian Bamboos Konzernumsatz um jährlich durch- gefälscht. Beweise dafür gibt es bis dato nicht. Doch Sjovall einer bunten Truppe aus chinesischen nicht mehr Banker werden, nur um es seinen Dezember 2011 an die Frankfurter schnittlich 60 Prozent – von 15 Millionen Euro auf Börsianer sind emotional, sie wandten sich auch Mitarbeitern, deutschen Wirtschaftsprüfern und Eltern – einem Buchhalter und einer Friseurin – Börse. knapp 90 Millionen Euro im Jahr 2011. von anderen chinesischen Unternehmen ab. Journalisten die Plantagen von Asian Bamboo, recht zu machen. Er wollte nicht, wie seine Kom- Weitere Börsengänge aus China wer- Die chinesische Ausgabe des Forbes-Magazins Chinas größtem Bambusproduzenten, zeigen militonen, über die schlechte Wirtschaftslage den erwartet. »Die Pipeline ist voll«, listete den Bambusproduzenten als eines der am »Die Vorurteile gegenüber China sind wollte. Während die Chinesen im Auto völlig und die hohe Arbeitslosigkeit jammern. Er muss- sagt Alexander von Preysing, bei schnellsten wachsenden chinesischen Unternehmen nach wie vor gigantisch« ungerührt blieben, brach unter den Deutschen te raus. Kurze Zeit später saß er im Flieger nach der Deutschen Börse verantwortlich auf. Die Aktie kletterte auf ein Allzeithoch von Tumult aus. Dem Tier helfen, den Hund vom Hongkong. für die Akquise internationaler Un- 42,10 Euro – ein Anstieg um 154 Prozent. Ana- Auch die Aktie von Asian Bamboo, einst für 17 Leid erlösen. Es flossen Tränen. Der Fahrer dach- Wenn der 43-jährige Vorzeigeskandinavier – ternehmen. Ein Listing hierzulande lysten und Anleger feierten. Das Geschäftsmodell Euro ausgegeben, stürzte im Kurs, derzeit notiert te gar nicht daran anzuhalten. Die Chinesen, ir- groß, hellblond, blaue Augen – sich heute auf sei ein »enormer Imagegewinn« für war originell, exotisch und doch leicht zu verstehen. sie bei 12 Euro. Es ärgert Sjovall, dass es so leicht ritiert vom deutschen Gebaren, wiederholten Chinesisch am Telefon meldet, wird er oft ge- eine chinesische Firma. Der Zugang Asian Bamboo baut Moso-Bambus an, auf mitt- ist, chinesische Firmen zu beschuldigen und über immer wieder, es sei doch nur ein Hund. fragt, aus welcher Provinz er stamme. Ein Jahr zum Kapitalmarkt sei vergleichsweise lerweile 54 511 Hektar, einer Fläche dreimal so Jahre aufgebautes Vertrauen zu ruinieren. »Die Vor- Sjovall, Finanzchef von Asian Bamboo, lang hat er dafür 14 Stunden täglich gebüffelt, an einfach. »In China haben die großen groß wie Stockholm. Innerhalb von nur zwölf urteile gegenüber China sind nach wie vor gigan- machte aus der Not eine Lehrstunde in kulturel- seiner Aussprache gefeilt, die komplizierten Staatskonzerne Vortritt, das Listing Wochen schießen die Stämme 20 Meter in die tisch«, sagt er. Seit Sjovall den Anlegern zu Beginn lem Verständnis. Dem Fahrer erklärte er, dass er Schriftzeichen verinnerlicht. Das war 1993, ein eines kleinen Unternehmens kann Höhe, nach dem Abschlagen wachsen sie nach, des Jahres erklären musste, dass der Umsatz des dem Hundebesitzer auf dem Rückweg eine Ent- Jahr nach seiner Ankunft in China. dort mitunter Jahre dauern«, sagt von nicht einmal gedüngt müssen sie werden. Damit Unternehmens im Jahresvergleich zwar um 18 Pro- schädigung zahlen müsse. Den Deutschen, die Sjovall hatte sich vorgenommen, seine Kar- Preysing. ist Bambus ein günstiger Ersatz für die in China zent gestiegen ist, die Gewinnziele aufgrund einer existenziellen Sorgen in der Provinz seien trotz riere außerhalb eines internationalen Konzerns Durch den Skandal um Sino Forest knappen Holzressourcen. Möbel, Fußböden und Neubewertung der biologischen Vermögenswerte Wirtschaftsboom immer noch groß, und ein zu machen. Er suchte sich einen Job als Aushil- hat sich das Umfeld für chinesische Papier werden daraus hergestellt. Nebenprodukt aber verfehlt wurden, bleibt ihm nichts, als Krisen- Hund sei hier schlicht ein Sachwert. Und den fe in einer kleinen Unternehmensberatung. Ihn Unternehmen verschlechtert. Dem sind Bambussprossen, die auf heimischen Märkten management zu betreiben. Er organisiert Road- Chinesen, dass Deutsche einen Hund als gelieb- wurm te, dass Ausländer, die sich nicht fürs Land chinesischen Forstunternehmen, das und nach Japan verkauft werden. Seit Kurzem stellt shows durch Europa, schreibt den Geschäftsbericht tes Familienmitglied betrachteten. Alle waren interessierten und ohne ihre einheimischen As- an der kanadischen Börse gelistet war, der Konzern zudem Bambusfasern als Baumwoll- lieber gleich selbst, nimmt sich Zeit für stunden- erstaunt. Die Irritation verflog. Und plötzlich sistenten hilflos waren, das dicke Geld machten. wurde Mitte 2011 Bilanzbetrug vor- substitut für die Bekleidungsindustrie her. lange Telefonate mit Anlegern und springt als fand man sich gegenseitig wieder interessant. Sjovall stieg vom Laufburschen zum Aktien- geworfen. Unter Generalverdacht ge- Lin Zuojun, selbst Sohn eines Bauern, kennt die Pressesprecher ein. Entmutigen lässt er sich nicht. händler bei einer Investmentbank auf, wurde raten, brachen auch die Aktien ande- Landwirte, von denen Asian Bamboo Anbauflächen Gerade wegen der Spannung, der schnellen Chinesische Studenten steckten ihn an Berater bei der Kommunikationsagentur Bruns- rer chinesischer Firmen ein. pachtet. Um ihre Lebensqualität zu verbessern, Erfolge und unerwarteten Rückschläge, die er in mit ihrem Optimismus wick Group und schließlich Finanzchef von Alle im Prime Standard der Frank- unterstützt er sie mit einem Entwicklungsfonds. China erlebt, ist ein Leben im behäbigen Europa Asian Bamboo. Was bewog ihn, den gut be- furter Börse (Foto unten) gelisteten Der Unternehmer sei ein einfacher Mann, der zu für ihn unvorstellbar geworden. »Ich bin nicht 20 Jahre lebt Sjovall nun schon in der Volksrepu- zahlten Job bei Brunswick zu kündigen, um bei chinesischen Aktien notieren derzeit Geschäftsreisen stets nur eine Krawatte mitnehme, verblendet, nicht verliebt in China«, sagt Sjovall, blik, pendelt zwischen Hongkong (Familie), Pe- einer damals noch unbekannten Bambusklitsche unter ihren Ausgabepreisen. DM erzählt Sjovall. »Er sagt, dass er ja täglich andere »ich sehe die Probleme und weiß, dass sich das king und Shanghai (Geschäftstermine) sowie einzusteigen? Leute trifft und ohnehin niemand weiß, wie sein Land politisch und wirtschaftlich weiter öffnen Fuzhou (Büro). In dieser Zeit ist der Schwede zu Sjovall hatte den Firmengründer Lin Zuojun Schlips von gestern aussah.« Sehr unchinesisch sei muss.« Aber seine Tochter zu einer dieser satten einem geworden, den die Chinesen ein Ei nen- über einen befreundeten Investmentbanker ken- das, andere würden sich mit Statussymbolen Westlerinnen heranwachsen zu sehen, die aus nen – außen weiß und innen gelb. Politisch kor- nengelernt, und ihm gefiel die klare Zukunftsvision schmücken und Gleiches von Untergebenen erwar- Angst vor Veränderung lieber in einer Situation rekt ist das vielleicht nicht, aber es beschreibt des Chinesen, die Gradlinigkeit, mit der dieser ten. »Da dürfte ich kaum mit meinem alten Škoda verharren, die sie hassen – nein, das wolle er auf ganz gut, wie er sich selbst oft fühlt: »Wenn ich seine Ziele verfolgte. Lin seinerseits sah in dem mit dem Kindersitz für meine fünfjährige Tochter keinen Fall. Das Beste aus beiden Kulturen soll mit Chinesen zusammen bin, mit ihnen disku- Schweden die perfekte Besetzung für die Rolle des bei Geschäftsterminen vorfahren«, sagt Sjovall. das Mädchen mitbekommen: die moralischen tiere, denke ich nicht wie ein Schwede oder Eu- Vermittlers. Einen, der Europa und Asien gleicher- Andere in Lins Position hätten zudem einen Ver- Vorstellungen der Europäer, ein paar westliche ropäer, dann bin ich ganz Chinese«, sagt er. Man maßen versteht, mit einer Koreanerin verheiratet wandten eingestellt, auf jeden Fall einen Chinesen. Prinzipien. Und die Dynamik und Anpassungs- glaubt ihm, denn Sjovall beherrscht Mandarin ist und neben Chinesisch und seiner Muttersprache Sjovall ist seines Wissens der einzige westliche fähigkeit der Chinesen, die in der Lage seien, sich wie nur wenige Ausländer. fast akzentfrei Deutsch und Englisch spricht. Finanzchef eines chinesischen Konzerns. »Die ständig neu zu erfinden. 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WISSEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 41

BILDUNG Geld gegen Kontrolle Mehr Kooperation von Bund und Ländern ist sehr einfach möglich

Winfried Kretschmann hat eine Entdeckung gemacht. Im Artikel 106 des Grundgesetzes, sagt der grüne Ministerpräsident Baden-Würt- tembergs, stehe die Lösung für den bildungs- politischen Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern. Unter Absatz 3 heißt es: »Die Anteile von Bund und Ländern an der Um- satzsteuer sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Aus- gaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt.« Anstatt über komplizierte Änderungen der Verfassung zu schwadronie- ren, um das Kooperationsverbot zu lockern, solle man Selbige einfach anwenden. Seit der Föderalismusreform von 2006 ist der Bund aus der Unterstützung von Schulen und Hochschulen weitgehend ausgestiegen – auf den Wunsch der Länder hin übrigens, die die Bildung als ihre Kernkompetenz be- greifen. Dabei hat man, und das beklagt nicht nur Kretschmann, zwar A, aber nicht B gesagt: Die Steuern wurden nie den gewachsenen Auf- gaben der Länder entsprechend neu verteilt. So hat die Überforderung der Länder fatale Ausmaße erreicht – die Unterfinanzierung der Bildung ebenfalls. Mehr Umsatzsteuerpunkte hatten die Länder schon mehrfach, zuletzt 2010, vom Bund gefordert. Der jedoch hat immer wieder abgeblockt, nach der Devise: Wer garantiert, dass das Geld wirklich bei Schulen und Hoch- schulen ankommt? Außerdem macht es ja

Foto: Bertram Solcher/laif Foto: auch mehr Spaß, das Geld selbst auszugeben. Schwebezustand auf So stellte die Bundesbildungsministerin An- der Intensivstation: nette Schavan (CDU) eine andere, nicht ganz Das Gehirn ist tot. uneigennützige Forderung auf: Weg mit dem Der Körper wird Kooperationsverbot, lasst den Bund bei der von Maschinen am Bildung dauerhaft mitmischen! Und tatsäch- Leben gehalten lich waren die Länder zuletzt finanzpolitisch derart weich gekocht, dass ein Kompromiss möglich schien. Aber, das ist die Krux, nur zur Unterstützung der Hochschulen – obwohl die Lage an den Schulen als viel prekärer gilt. Wann ist ein Mensch tot? Genau in dieser Situation tritt Kretsch- mann mit seiner Idee auf den Plan und ver- kauft sie als neu – fast so, als wäre sie nicht Wenn seine Hirnfunktionen ausgefallen sind, sagen Mediziner. Jetzt wachsen Zweifel an dieser Defi nition. längst am Veto des Bundes gescheitert. Was eine neue Regelung für Organtransplantationen bedeuten würde VON CHRISTIAN SCHÜLE Kretschmann, der Naive, mal wieder? Wer so denkt, unterschätzt Kretschmann. Der Grüne setzt seine Naivität als strategisches Mittel ein und stellt so die immer gleiche Frage nach der ngenommen, einer 35-jährigen Es dauerte einige Zeit, bis die Abwendung vom tionen sind eingeschränkt. Meist sind Patienten im Wenn im Fall der 35-jährigen Frau eine Rest- Logik des politischen Betriebs: Warum den Frau widerfährt auf der Land- Hirntodkriterium von deutschen Medizinethikern Wachkoma sogar spontanatmend, und manchmal aktivität im Gehirn messbar ist, wenn die Körper- komplizierten Weg gehen, wenn es auch ein- straße zwischen zwei deutschen und Ärzten wahrgenommen, aufgegriffen und ver- kommen sie zurück. Dass scheint bei der hirntoten temperatur aufrechterhalten bleibt, die Finger- fach ginge? Die Vernunft gebietet in der Tat Kleinstädten ein schrecklicher, breitet wurde. Öffentlich sichtbar wurde das The- Frau ausgeschlossen zu sein. nägel wachsen, so ist sie im biologischen Sinne genau dieses. Wenn die Länder Bildung zu ein folgenschwerer Unfall. Die ma in Deutschland 2010 durch einen Kommentar Die Grenze zwischen Tod und Leben ist biolo- lebendig, auch wenn sie korrekterweise für hirntot ihren Kernaufgaben zählen, dann sollte man Notärzte leisten Erstversor- der Berliner Medizinethikerin Sabine Müller in gisch nicht definierbar. Bestimmbar ist nur der erklärt wurde. Das kann nur heißen, dass der Tod ihnen dafür das Geld geben. Wenn gleich- gung, die Frau wird künstlich der Zeitschrift Ethik in der Medizin und durch Hirntod. In Deutschland heißt Hirn in diesem ein Konzept ist. Der Tod, und vor allem, wann er zeitig eine kleine Verfassungsänderung derzeit beatmet. Ihr Kreislauf ist stabilisiert, der Körper darauf folgende Artikel in der Frankfurter Allge- Zusammenhang: Hirnstamm, Großhirn und gegeben ist, scheint eine künstliche Setzung zu nur für den Teilbereich der Hochschulen Awarm, sie lebt. Das heißt: Ihre Organe funktio- meinen Zeitung. Bald nahm sich auch das öffent- Kleinhirn. In Großbritannien nur: Hirnstamm. sein. Aber wer setzt da was fest? Und aufgrund möglich scheint, dann sollten sich Bund und nieren. Man bringt sie in die Notaufnahme eines lich-rechtliche Fernsehen des Themas zaghaft, aber Wie kann man zum jetzigen Zeitpunkt hundert- welcher Kriterien? Ist die hirntote, schwitzende, Länder darauf einigen – und sich nicht mit Kreiskrankenhauses, die Angehörigen werden in- kritisch an. Mittlerweile haben sich die Zweifel an prozentig sicher sein, dass alle drei Hirnbereiche Exkremente bildende Frau mit messbarer neurona- fruchtlosen Diskussionen über die große Lö- formiert. Die Computertomografie ergibt den der Todesdefinition Hirntod so stark gemehrt, dass der Frau definitiv erloschen sind? ler Restaktivität noch ein Mensch? Wenn nein: Ist sung blockieren. Befund: Große Teile des Hirnstamms und des der Deutsche Ethikrat am 22. März zu einer öf- Angenommen, die Angehörigen der Frau er- Menschsein allein an die Funktionsfähigkeit von Anders als 2010, und das ist das Entschei- Großhirns sind durch eine Hirnblutung schwer fentlichen Sitzung seines Forums Bioethik nach fahren nun, dass sich die klinischen Hirntod-Tests Hirnstamm und Großhirn gebunden? Wenn ja: dende, lockt Kretschmann den Bund mit einer geschädigt. Seit ihrer Einlieferung ist die Frau an Berlin lud, um der Frage nachzugehen: Wie steht ausschließlich auf Hirnstamm und Großhirn be- Wodurch ist Menschsein überhaupt bestimmt? Gegenleistung. Die Länder müssten sich zur ein Beatmungsgerät angeschlossen, der Brust- es um Moral und Menschenwürde bei der prakti- ziehen. Das EEG misst die Aktivität der oberen totalen Transparenz bei der Verwendung der korb hebt und senkt sich. Die Neurochirurgen zierten Hirntoddefinition? Was bedeutet das für Schicht des Gehirns direkt unter der Schädeldecke. Für Hirntod-Kritiker ist das Gehirn nur Mittel verpflichten. Das gehe, wenn Bund und wissen nicht, ob die Frau je wieder zu Bewusst- die Transplantationsmedizin? Wer über Organ- Zeigt es eine Nulllinie, heißt das ja nur, dass kein eines von vielen wichtigen Organen Länder sich vorher auf bestimmte Themen- sein kommen wird. spende spricht, muss heute offenbar auch wieder Bewusstsein mehr vorhanden ist, weil Bewusstsein schwerpunkte – frühkindliche Bildung oder Die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr schät- über den Hirntod reden. Großhirnaktivität erfordert. Es heißt nicht, dass Das Gehirn, die zentrale Steuerungseinheit für den Ganztagsschulen zum Beispiel – einigten. zen die Fachärzte als äußerst gering ein, sie ent- Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass die Dis- zwischen Großhirn und Hirnstamm keine Aktivi- Organismus, sei die Verkörperung des humanen So wirkt Schavans Plan plötzlich nur scheiden sich für eine Hirntod-Untersuchung. Die kussion zu einem Zeitpunkt aufflammt, da die tät mehr stattfindet. Prinzips, meinen die Hirntod-Befürworter und noch wie die zweitbeste Lösung. Die span- Körpertemperatur der Frau liegt über 32 Grad, Organspende politisch neu geregelt und künftig zu Und das Kleinhirn wird gar nicht explizit un- argumentieren wie folgt: Ohne Gehirn sei Atmung nende Frage lautet nun: Ist der Bund bereit, eine Unterkühlung ist nicht gegeben, Medika- einer staatsbürgerlichen Angelegenheit wird. Die tersucht, weil vorausgesetzt wird, dass bei defek- nicht möglich. Der hirntote Mensch sei zwar phy- sich ebenfalls zu bescheiden? Kretschmann, mentenvergiftung und Sauerstoffmangel werden Regierung will das Transplantationsgesetz re- tem Hirnstamm auch das Kleinhirn nicht mehr sisches Dasein auf zellulärer Ebene, jedoch ohne der scheinbar Naive, sagt: Warum nicht, ausgeschlossen. Die Pupillen zeigen keine Reakti- formieren und die Förderung der Spende gesetz- durchblutet wird und abstirbt. Eine Annahme, Verstandestätigkeit und soziale Interaktion – und beim Bund sitzen doch auch kluge Leute? on auf Lichteinfall, auch der Kornea-Reflex, der lich verankern. In Kürze werden alle Versicherten keine Gewissheit. Eine Kleinhirnuntersuchung ist das sei Vegetieren, nicht Leben. »Der Mensch als Seine eigenen Ministerpräsidenten-Kolle- automatische Lidschluss, ist erloschen. Auf von den Krankenkassen angeschrieben, nach ihrer aufwendig, teuer und technisch schwierig; möglich einzigartiges Geschöpf existiert nicht mehr, wenn gen will er bei der nächsten gemeinsamen Schmerzreize im Gesicht erfolgt keine Reaktion, Bereitschaft zur Organspende befragt und zu einer wäre sie etwa durch eine Positronen-Emissions- sein Gehirn nicht mehr funktioniert«, sagt Walter Sitzung überzeugen. Dann wären Merkel Schluck- und Würgereflexe bleiben aus. Kurzum, Entscheidung aufgerufen. Ethisch, medizinisch und Tomografie (PET), wozu die Frau samt metalle- Haupt, Universitätsprofessor und leitender Ober- und Schavan am Zug. JAN-MARTIN WIARDA bei den vorgeschriebenen Tests aller zwölf Hirn- juristisch gilt: Tod ist Hirntod, und ohne Hirntod nem Zubehör der künstlichen Beatmungsappara- arzt der Klinik des Zentrums für Neurologie und nerven ist keine Funktion mehr feststellbar. Zu- keine Organentnahme. tur in den Scanner gefahren werden müsste. Die Psychiatrie an der Universität Köln. Ein von außen letzt folgt der Apnoe-Test auf eigenständige At- meisten Kliniken aber verfügen nicht über dieses künstlich aufrechterhaltener Körper mit totem mungsfähigkeit, die Frau wird vom Respirator ge- Die Frau schwitzt. Aber medizinisch, Gerät, und eine PET-Untersuchung ist nirgends Gehirn ist nach Haupts Auffassung kein Individu- trennt. Innerhalb von fünf Minuten steht fest: ethisch und juristisch gilt sie als tot vorgeschrieben. Sollen die Angehörigen der Or- um mehr. Schalte man den Respirator ab, breche Das Erbgut malt mit Eine selbstständige Atemtätigkeit bleibt aus. Nach ganentnahme wirklich zustimmen? der Kreislauf in kürzester Zeit zusammen, das zwölf Stunden führen zwei Ärzte alle Schritte die- Doch dem neurozentrischen Todeskonzept stellen Weiter angenommen, die Frau würde vom Kreis- Herz stehe still. In dieser Logik wird das Men- Da Vincent van Gogh uns als fotorealistischer ser klinischen Diagnostik ein zweites Mal durch, sich immer mehr Kritiker entgegen: Einzelfallbe- krankenhaus in ein Universitätsklinikum der schenleben gleichgesetzt mit körperlicher und Präzisionsmaler bekannt ist, ließen seine Son- so sehen es die Richtlinien der Bundesärztekam- richte über Lebensfunktionen bei Hirntoten wür- nächstgelegenen Großstadt transportiert. Dessen geistiger Autonomie des Individuums. nenblumen einigen US-Genetikern keine mer vor. Das Ergebnis ist das gleiche. Der Ausfall den zum Umdenken zwingen. Zwar können die neurochirurgische Abteilung ist ausgestattet mit Nein, Menschsein sei bestimmt durch die Ein- Ruhe. In den Meisterwerken des Niederlän- der Hirnfunktion ist irreversibel. Die Frau wird Kritiker keine umstürzenden neuen medizinischen einem PET-Scanner und einem funktionalen Mag- heit aller Organe, befinden dagegen Hirntod- ders sind nicht nur klassische Exemplare mit für hirntot erklärt. Erkenntnisse vorweisen, doch ergeben die Berichte netresonanztomografen (MRT). Und schließlich Kritiker. Das Gehirn sei nicht der große, allein ver- dunklem Blütenzentrum zu sehen, sondern Dieser erfundene Fall illustriert einen Sachver- von Leben nach dem Hirntod ihrer Ansicht nach angenommen, nach Tests mit PET und MRT wür- antwortliche Lenker, sondern nur eines unter auch vollständig gelbe. halt, der längst geklärt schien, jetzt aber aufs Neue so etwas wie kumulative Evidenz. Innerhalb der de tatsächlich eine Aktivität der Nervenzellen in den mehreren gleich wichtigen Organen, weswegen HALB Die Wissenschaftler aus ins Zentrum einer Debatte um unser Menschen- Ärzteschaft, vor allem unter Neurochirurgen, tiefer liegenden Hirnarealen der Frau gemessen – je seine Sonderstellung als oberstes Steuerungsorgan WISSEN Georgia machten sich bild rückt: Wann ist ein Mensch tatsächlich tot? Neuroradiologen und Psychiatern, sowie unter besser die bildgebende Technik, desto wahrschein- infrage zu stellen sei. Nach Auffassung des Neuro- auf die Suche nach der Angestoßen wurde das erneute Nachdenken über Philosophen, Theologen, Politikern und Juristen licher die Entdeckung von noch lebenden Neuronen logen Alan Shewmon vom Medical Center der biologischen Existenz dieser Sonderlinge. die Gleichsetzung von Tod und Hirntod vor vier gehen die Fronten quer durch die Reihen und in Hirnstamm oder Kleinhirn. Ist das Gehirn der kalifornischen Universität Los Angeles verfügt der Prompt stießen sie auf ein Gen, das normaler- Jahren, als der US-amerikanische President’s Konfessionen. Überall sind gleichermaßen Kriti- Frau also doch nicht tot? Sollen die Angehörigen Organismus über keinen zentralen Integrator, son- weise inaktiv ist. Eingeschaltet sorgt es für die Council on Bioethics ein aufsehenerregendes ker wie Befürworter des Hirntod-Kriteriums zu der Entnahme des Herzens jetzt zustimmen? dern sei definiert durch Integration – eine Eigen- dynamisch gelbe Kolorierung der Blüten. »White Paper« veröffentlichte, in dem die Begrün- finden. Die gegenläufigen Haltungen hängen alle- An diesem Punkt wird die Frage nach Leben schaft, die sich aus der Interaktion gleichberechtig- Zuchtversuche bestätigten den Forschern: dung des 1968 von einem Ad-Hoc-Ausschuss der samt an der einen großen Frage: Ist ein hirntoter oder Tod zum Dilemma. Was ist noch Leben? ter Organe ableitet. Ein holistisches System also, Van Gogh malte keine blumigen Visionen. Harvard Medical School vorgeschlagenen und Mensch wirklich tot? Wann ist der Tod das Ende des Lebens? Die Frage das erst in totaler Desintegration ende. Seine Bilder zeigen eine »Mutation«. Dieser seither gültigen Kri te riums für den Hirntod infra- Angenommen, nach der Hirntod-Diagnose bei nach dem Tod ist immer zugleich die Frage nach Die Ethikerin Sabine Müller, die an der Klinik Fahndungserfolg ist nur ein Anfang. Welches ge gestellt wird. Das Erlöschen der Hirnfunktion dem 35-jährigen Unfallopfer wird festgestellt, dass dem Leben; wer über den Tod befindet, befindet für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner biologische Mysterium verbirgt sich hinter den als Todesdefinition sei empirisch widerlegt, argu- die Frau noch schwitzt. Sie bildet Exkremente und automatisch über Leben. Die Definition des Todes Charité arbeitet, fügt an dieser Stelle an, dass »bei gelbstichigen Platanen von Arles? Welche mentieren die Mitglieder des Councils. Der Tod scheidet sie aus. Dass sie sich in einem Wachkoma muss aber nicht notwendig die Definition des hirntoten Patienten im Allgemeinen nicht das Mutation ließ Rübenäcker zu van Goghs müsse weniger neurozentrisch als vielmehr biolo- befindet, ist ausgeschlossen, denn bei einem Koma Lebensendes sein, versteht man Leben als Aktivität Zeiten hellgrün erstrahlen? Die Antwort da- gisch verstanden werden. ist das Hirn keinesfalls tot, sondern seine Funk- von Zellen und Organen. Fortsetzung auf S. 42 rauf kennt bislang nur das Genom. WILL KOMPAKT 42 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 WISSEN

STIMMT’S? Es hat gefunkt Erhöht ein Schiff auf einer Kanalbrücke die Last? Die beiden ersten Satelliten des europäischen Navigationssystems Galileo funktionieren. ... fragt Wolfgang Hartel aus Lage Nun fehlen noch 22 weitere VON DIRK ASENDORPF Es ist schon eine eindrucksvolle Angelegenheit, Vergleicht man also die Situation »Brücke ohne wenn eine Wasserstraße per Brücke über eine an- Schiff« mit der Situation »Brücke samt Schiff«, dere geführt wird. In Deutschland gibt es das bei- lastet im ersten Fall mehr Wasser auf den Pfeilern. spielsweise in Minden, wo der Mittellandkanal die Dessen Gewicht entspricht exakt dem Gewicht des Weser kreuzt, und in Magdeburg, wo derselbe Ka- Schiffes im zweiten Fall, die Gesamtlast bleibt nal über die Elbe geführt wird. Und wenn man gleich. Sie hängt einzig und allein vom Wasser- dann einen dicken Kahn in luftiger Höhe die Brü- spiegel des Kanals ab, der zum Beispiel bei starkem cke überqueren sieht, kann man sich schon fragen: Regen höher sein kann.

Fotos: ESA; Dirk Enters/Imagebroker/OKAPIA (r.) ESA; Dirk Enters/Imagebroker/OKAPIA Fotos: Wie gut hält die das aus? Immerhin bringt so ein Eine einzige Situation kann man sich vorstel- Auf der grünen Wiese im belgischen Redu stehen die Parabolantennen für Satellitentests Binnenfrachter gern ein paar Tausend Tonnen auf len, in der ein Schiff tatsächlich gefährlich auf die die Waage. Brückenpfeiler drücken würde: wenn es nämlich Aber das Gewicht, das auf der Brücke lastet, just an dieser Stelle sinken sollte. Dann verdrängt ür den Höhepunkt der Feierstunde sorgte 20 Metern wird die Position so bis auf einen Meter Ungelöst ist ein Streit zwischen China wird nicht größer, wenn das Schiff darüberfährt. es weniger Wasser, als es wiegt, und die Differenz ein Freudscher Versprecher des Gesandten genau angezeigt, auch in der Vertikalen. Erstmals und der EU um die Nutzung des Frequenz- Dafür sorgt das archimedische Prinzip: Ein wäre eine zusätzliche Belastung für die Brücke. der Europäischen Kommission. Der Satel- wird damit eine zuverlässige Navigation innerhalb bereichs, der in beiden Navigationssystemen schwimmender Körper verdrängt genauso viel Aber selbst für solche Extrembelastungen sind die litennavigationsexperte Kris Vanderhau- von Gebäuden möglich. Denn aus der exakten für ein verschlüsseltes Signal verwendet wird, Wasser, wie seinem eigenen Gewicht entspricht. Bauwerke ausgelegt. CHRISTOPH DRÖSSER Fwaert lobte den »bemerkenswerten Fortschritt in Höhenangabe kann das Empfangsgerät errechnen, das ausschließlich staatlichen Sicherheits- den letzten zwölf Jahren« und korrigierte sich in welchem Stockwerk es sich befindet. und Rettungsdiensten zur Verfügung steht. Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts prompt: »Äh, in den letzten zwölf Monaten.« Es Eine deutliche Verbesserung der Zuverlässig- Die Tests in Redu haben gezeigt, dass die Sig- ging um das europäische Navigationssystem Gali- keit und Genauigkeit soll Galileo zudem für die nale sich gegenseitig kaum beeinflussen; wür- www.zeit.de/audio leo – das bisher vor allem mit Verzögerungen und Navigation unter dicht belaubten Alleebäumen de aber ein Land den Frequenzbereich des Kostensteigerungen von sich reden gemacht hatte. und in Häuserschluchten bringen. Dort stören anderen gezielt stören, wären stets beide Eigentlich sollte es bereits 2008 in Betrieb gehen. meist Reflexionen der abgestrahlten Signale. Dienste lahmgelegt – eine Vorstellung, die Jetzt konnte zumindest die volle Funktionsfähig- Auch deren Verhalten wird in Redu vermessen. vor allem dem Militär nicht gefällt. Nach der ERFORSCHT UND ERFUNDEN keit der beiden ersten Galileo-Satelliten gefeiert Bisher unmöglich sind dagegen Tests der bisherigen Beschlusslage ist Galileo – im Un- werden, die im Oktober 2011 gestartet waren. Notruffunktion. Künftige Galileo-Navigations- terschied zu GPS und Compass – zwar ein Nebenprodukten. Es wird aus Fruchtschalen Rund 100 Experten der Europäischen Raumfahrt- geräte sollen einen Hilferuf mit exakter Stand- rein ziviles Projekt. »Aber das erste Ziel des Die Farben der Ente gewonnen, die bei der Orangensaftpro- agentur Esa, Vertreter der Zulieferindustrie und ortangabe direkt an einen der Satelliten funken Militärs ist ja die Sicherung des Friedens«, duktion als Abfall übrig bleiben. Das in den Endgerätehersteller waren dafür ins belgische Redu können. Von dort soll er innerhalb von Sekun- sagt Javier Benedicto, der technische Direktor Warum schillert das Gefieder von Enten in Schalen enthaltene Limonenoxid wird durch gereist. Hier, in einem abgeschiedenen Hochtal der den an den zuständigen Rettungsdienst weiterge- des Galileo-Programms bei der Esa, »und da- bestimmten Farben? Die Antwort haben For- eine chemische Reaktion mit Kohlendioxid Ardennen, stehen gewaltige Parabolantennen für leitet werden. Die ersten beiden Galileo-Satelli- für wird es das Galileo-Signal sicher nutzen.« scher der University of Akron in Ohio bei der umgewandelt, dadurch entsteht Limonen- Funktionstests. Deren Ergebnisse sind ermutigend. ten haben die dafür nötige Technik allerdings 3,4 Milliarden Euro sollte der Aufbau von Untersuchung der Melanosome gefunden (Jour- dicarbonat. Dieses wird mit Zitronensäure- Auf allen drei Frequenzbändern zeigten die emp- noch nicht an Bord. Sie sollte ursprünglich von Galileo kosten. Inzwischen liegt die Prognose nal of the Royal Society amidoamin gehärtet, und es bilden sich Po- fangenen Signale die gewünschte scharfkantige Form. China zugeliefert werden. Doch den entspre- bei 5,5 Milliarden, plus 800 Millionen Euro im In terface, 4. April 2012). lyurethane mit flexibler Materialstruktur. Aus »Daneben hatten wir nichts, was über das Grund- chenden Vertrag hat die Esa wieder gekündigt, Jahr für den laufenden Betrieb. Mit größeren Diese Pigmentstrukturen dem Stoff können etwa Formteile für Autos rauschen hinausgegangen wäre«, sagte der Esa- als China mit dem Aufbau eines eigenen Naviga- Einnahmen aus dem Lizenzverkauf rechnet sind in den Federn wa- hergestellt werden. Systemingenieur Marco Falcone. tionssystems namens Compass begann. niemand mehr. Nun wirbt die EU-Kommission benartig angeordnet. Sie Das Grundrauschen ist in Redu besonders ge- mit einem geschätzten volkswirtschaftlichen legen fest, welche Licht- ring. Brüssel und Luxemburg, die nächstgelegenen Nutzen von 90 Milliarden Euro jährlich. wellen reflektiert und Großstädte, sind mit ihren Mobilfunkmasten, Ra- Ob es dazu kommt, hängt vor allem da- welche absorbiert wer- Triebwerk in Miniatur diosendern und Radaranlagen mehr als 100 Kilo- MEHR WISSEN: von ab, ob Galileo tatsächlich vor der nächs- den. Entscheidend für Um die Kosten für künftige Missionen im meter entfernt. Seit über 40 Jahren nutzt die ESA ten, deutlich verbesserten GPS-Generation die schillernden Farben Weltall möglichst gering zu halten, haben Wis- die Funkstille der Ardennen für Satellitentests. Für betriebsbereit ist. Deshalb drängt die Zeit. der Flügelfedern ist der Abstand zwischen den senschaftler der École Polytechnique Fédérale Galileo wurden drei zusätzliche Antennen gebaut, Im Netz: Noch vor Ende des Jahres sollen die nächsten Melanosomen bei der Reflexion des Lichts. de Lausanne und deren europäische Partner ei- die größte hat einen Durchmesser von 20 Metern Der tägliche Kampf an der Gasplattform beiden Satelliten starten. Die Viererkonstella- nen 200 Gramm schweren Prototyp eines be- Elgin www.zeit.de/umwelt und wiegt 140 Tonnen. Auch bei starkem Wind tion am Himmel soll dann für einige Stunden sonders effizienten Ionentriebwerks entwickelt. darf sie sich nur um wenige Millimeter verschie- am Tag eine vollständige Navigation ermögli- Statt durch Verbrennen von Raketentreibstoff Mit dem Flugzeug Der Duft der Autos ben, sonst würden ihre Daten unbrauchbar. verreisen,v ohne der chen. Liefert auch sie die gewünschte Quali- erzeugt dieses extrem kompakte Triebwerk sei- Exakte Signale sind die Voraussetzung für eine Umwelt zu schaden – tät, sollen die restlichen 22 Satelliten bis Ende Riechen Neuwagen bald nach Zitrusfrüch- nen Schub durch den Ausstoß eines Ionen- exakte Navigation. Und sie sind nötig, damit sich die geht das überhaupt? 2015 folgen. Dann könnten die ersten End- ten? Wissenschaftler der Albert-Ludwigs-Uni- strahls. Das Triebwerk soll in Nanosatelliten verschiedenen Systeme nicht gegenseitig stören. geräte auf den Markt kommen. Es sei denn, versi tät Freiburg haben gemeinsam mit ei- mit einem Gewicht von 1 bis 100 Kilogramm Galileo und das amerikanische GPS werden ihre Sig- Das aktuelle vorher geht noch etwas schief. Damit muss in nem Automobilhersteller einen Kunststoff aus eingebaut werden, etwa in den CleanSpaceOne. ZEITZ Wissen: am nale im gleichen Frequenzbereich ausstrahlen. Navi- Kiosk oder unter der Raumfahrt immer gerechnet werden. Orangenschalen entwickelt (Green Chemistry, Nanosatelliten sollen sich künftig mit Ionen- gationsgeräte können dann beide Systeme gleich- www.zeitabo.dew 30. März 2012). Dieses Material ist frei von triebwerken autonom im Weltall bewegen und zeitig nutzen. Statt mit einer Abweichung von 10 bis Siehe auch Wirtschaft Seite 34 umweltschädlichen Stoffen und toxischen dort zum Beispiel Satellitenschrott beseitigen.

Fortsetzung von S. 41 talistischem und organismischem Todesverständ- nen geht. Ohne Hirntod gäbe es keine Organtrans- und für die Zukunft kein Bewusstsein mehr zu er- Sache, Zuwachs an wissenschaftlicher Redlichkeit nis. Dem mentalistischen Todesverständnis zufol- plantation und keine Transplantationsmedizin. warten ist, sehe ich nicht, dass einzelne Zuckungen und Zeit für die eher geringe Wahrscheinlichkeit, ganze Gehirn tot« sei. Der Fuldaer Bischof Heinz ge fällt der Tod mit dem irreversiblen Erlöschen Angenommen, die für hirntot erklärte Frau besäße im EEG aufgrund des Überlebens isolierter Ner- dass ein hirntoter Mensch irgendwann zurück- Josef Algermissen hält das Hirntod-Konzept gar des Bewusstseins zusammen; dem organismi- einen Organspendeausweis und hätte der Entnahme venzellpopulationen zu einem Umdenken führen kommt – in welchem Zustand dann auch immer. für einen »Tatbestand der bewussten Täuschung«, schen zufolge ist der Tod identisch mit dem irre- ihrer Organe schriftlich zugestimmt. Herz, Nieren und müssten.« Etwas brutal gefragt: Zuckt nicht auch In Abertausenden Fällen ist akribisch danach wie er Anfang März in der katholischen Zeitung versiblen Erlöschen der Fähigkeit des Organis- Lunge sind durch Unfall und Lebenswandel unbe- ein Hühnerkörper noch eine ganze Weile, nach- gesucht worden, ob ein Hirntoter jemals wieder Tagespost schrieb. Nach Meinung des Geistlichen mus zu integriertem Funktionieren. schädigt, eine HIV-Infektion liegt nicht vor, das Alter dem ihm der Kopf abgeschlagen wurde? das Bewusstsein wiedererlangt hätte; es gibt bis suggeriere der Begriff Hirntod einen Zustand, der So oder so: Die beiden entscheidenden Be- von 35 ist für eine Spende ideal. Weiter angenommen, heute nicht einen einzigen wissenschaftlich akzep- nicht den Tatsachen entspreche. Der Begriff der griffe der Debatte heißen Selbststeuerungsfähig- die Angehörigen der verunglückten Frau stimmten Die Verfassung lässt offen, tierten Fall. Und eine PET- oder MRT-Untersu- »postmortalen Organspende« sei eine willkürliche keit und Unumkehrbarkeit. Unumkehrbarkeit ihrerseits der Entnahme des Herzens unter der Voraus- was genau der Tod ist chung als letztgültige Sicherheit auf erloschene Setzung. Mit ihr werde vernebelt, dass die Organ- aber ist eine Prognose, keine Diagnose. Niemand setzung zu, dass die Frau definitiv tot ist. Aber wäre sie Hirnaktivität für jeden einzelnen Patienten zu for- entnahme an einem Sterbenden eine Tötung dar- kann mit letzter Sicherheit sagen, dass sich Teile das? Und hätte sie Schmerzen? Den Juristen interessieren Regeln, keine biologi- dern scheiterte an den Kosten der apparativen stelle – was mit den moralischen und ethischen des Gehirns eines Hirntoten – analog zu regene- Eine Studie aus dem Jahr 1992 konnte zeigen, schen Konzepte. Die Rechtsordnung definiert Untersuchung und stünde dem Grundsatz der Ansprüchen des Evangeliums nicht zu vereinbaren rierten Patienten mit Schlaganfällen oder Hirn- dass im Körper hirntoter Patienten zum Zeitpunkt nicht den Tod eines Menschen, sie definiert eine Verhältnismäßigkeit entgegen, den der Medizin- sei. In der katholischen Kirche fühlen sich manche blutungen – nicht vielleicht doch irgendwann des Einschneidens zur Organentnahme ein drasti- Zäsur. Sie muss den Übergangspunkt vom Leben rechtler Taupitz vehement verteidigt: »Ich halte es angesichts neu auftretender Fälle um den Primat noch erholen und jedenfalls im Sinne eines orga- scher Anstieg von Stresshormonen sowie eine in den Tod festmachen, um daran Rechtsfolgen zu nicht für verwerflich, dass eine Kosten-Nutzen- nismischen Lebensverständnisses ein Weiterle- sprunghaft angestiegene Herzfrequenz gemessen knüpfen. Mit einer Zweidrittelmehrheit des Bun- Abwägung vorgenommen wird und Therapiemaß- ben möglich machen, in welcher Qualität auch wurde. Offensichtlich reagiert der Organismus – ob destags wurde 1997 im Transplantationsgesetz be- nahmen umso eher begrenzt werden, je geringer immer. (Lange Zeit wurde der Tod durch den auf Schmerz, ließe sich nur durch Befragung des schlossen, dass für die Entnahme von Organen die Hoffnung auf die Rettung des Menschen ist.« irreversiblen Herz-Kreislauf-Stillstand festgelegt. Hirntoten klären. Möglicherweise sind es Rücken- mindestens der Hirntod eingetreten sein müsse. Ethische, juristische und politische Erwägun- Nach Erfindung der Herz-Lungen-Maschine marksreflexe. Aber das Rückenmark ist Teil des zen- Das heißt aber nicht, dass der Hirntod als Tod des gen unterliegen dem Geist der Zeit, der oft genug 1952 konnten selbst Menschen ins Leben zu- tralen Nervensystems, das wiederum Teil der zen- Menschen damit festgesetzt ist. Zeitgeist ist. Im Gegensatz zu früher kennt der rückgeholt und am Leben gehalten werden, de- tralen Steuerung durch das Gehirn ist, welches ja Die Verfassung lässt offen, was genau der Tod Zeitgeist heute kein Schicksal mehr. Schicksals- ren Herz im Extremfall schon eine Stunde still- eigentlich tot sein soll. ist, ebenso wie sie offen lässt, was Leben ist. Es gibt denken bestünde darin, ein völlig sinnloses Ereig- gestanden hatte.) Der 35-jährigen Frau wird nun das Herz ent- zwar in Artikel 2 das grundgesetzlich garantierte nis wie den schrecklichen Autounfall der Frau als Hinsichtlich eines Ausfalls der Hirnfunktio- nommen, weil ihr Gehirn irreversibel funktionsun- Recht auf Leben, aber worin Leben besteht, ob- sinnmachend zu begreifen, eben weil es dem Leben des Lebensschutzes betrogen, da Sterbende wäh- nen lautet die entscheidende Frage: Wie hoch ist fähig ist. Strafrechtlich ist das keine Tötung. Der liegt der Interpretation durch die Rechtswissen- widerfährt. »Ich halte es für ausgeschlossen, dass rend des Hirnversagens ja doch augenscheinlich der Prozentsatz der Reversibilität? Doch weder Chirurg leistet weder aktive Sterbehilfe, noch be- schaft. Trickreich knüpft die Politik an den »Stand heute ein Todesbegriff nach holistischem Weltbild noch lebende Menschen seien. Rechtsordnung noch Politik können mit Pro- geht er im Sinne des Strafgesetzbuches Körperverlet- der Erkenntnisse medizinischer Wissenschaft« an wie zu Zeiten Goethes wiederhol- oder gar durch- Angenommen, der Kreislauf der Frau arbeitet, zentsätzen und Wahrscheinlichkeiten operieren. zung. Juristisch gesprochen, ist die Frau jetzt keine und lässt sich somit ein Tor zur jederzeitigen No- setzbar wäre«, meint der emeritierte Bonner Straf- ihr Organismus funktioniert. Doch er funktioniert Sie brauchen Zäsuren, an die Konsequenzen ge- »Person« im Sinn einer Trägerin von Rechten mehr. vellierung offen, sollte es neue Erkenntnisse geben. rechtler und Rechtsphilosoph Günther Jakobs. nur, weil der Körper künstlich am Leben erhalten knüpft werden können – wie etwa das Recht zur Sie ist nicht Individuum, nicht Person, nicht Wenn es welche gäbe, fänden sie ihren Nieder- »Wenn Rechtsbegriffe verstanden werden und wird. Sie wird nie mehr spontan atmen, dazu wä- Organentnahme. Also muss eine Grenze gesetzt Mensch. Sie ist eine Leiche, obwohl in ihrem Körper schlag in den Richtlinien der Bundesärztekammer. handlungsleitend sein sollen, können sie sich ge- ren Impulse des Hirnstamms nötig. Der Hirn- und ein Todeszeitpunkt bestimmt werden. Um biologische Prozesse stattfinden. Genau dieser aber halten Hirntod-Kritiker vor, gen den Geist der Zeit auf Dauer nicht stemmen.« stamm gilt als Lebenszentrum; er regelt die wich- die Dehnbarkeit dieser Grenze dreht es sich beim Mithilfe künstlicher Beatmung kann der Körper kein Experten-, sondern ein privatrechtliches Ein neuer Todesbegriff würde sich erst dann he- tigsten Reflexe und wird von allen Hirnnerven erneuten Diskurs um den Hirntod. eines Hirntoten heute jahrzehntelang am Leben er- Interessensgremium aus Verbandsfunktionären zu rausbilden, wenn sich der Geist der Zeit umkehrt. durchlaufen. Was ist die Frau zu diesem Zeit- halten werden. Eine weitere Studie hat die Fälle von sein. Schon immer hätten bei der Definition des Der ist aber nach Lage der Dinge auf ein glückseliges, punkt: noch Individuum? Noch Mensch? Was Ist der Prozess des Sterbens 175 Menschen dokumentiert, die nach erklärtem Hirntods die Interessen der Transplantationsmedi- schmerzfreies, stets reparables Leben ausgerichtet – im unterscheidet das Individuum vom Menschen? ein Teil des Lebens? Hirntod mindestens noch eine Woche weiterlebten. zin eine gewisse Rolle gespielt, befindet Sabine Sinne eines pragmatischen Materialismus, des »cor- Und was mehr ist der Mensch als sein Körper? Mindestens zehn Fälle von hirntoten schwangeren Müller. Schon das Harvard Ad Hoc Committee riger la fortune« und einer Unterscheidung in entwe- Wäre dieses Mehr das Bewusstseinserleben, wie Angenommen, man sähe in der für hirntot er- Frauen sind bekannt – die schließlich ihre Kinder hatte 1968 Organbeschaffung und Krankenhaus- der Glück oder Pech. Wer ein Organ erhält, heißt das manche Philosophen behaupten, dürfte man be- klärten Frau keinen toten, sondern einen ster- erfolgreich ausgetragen haben. »Es ist unter Exper- kapazität explizit als Ziele aufgeführt. Wenn nicht im Umkehrschluss, erhält damit das Glück, sein Un- wusstseinslose Lebewesen nicht als Menschen be- benden, schwerstkranken Menschen. Man kann ten überhaupt nicht strittig, dass bei Hirntoten ein Zustand vor dem vollständigen Zerfall des glück zu beenden. zeichnen, etwa Embryos oder großhirngeschädigte der Auffassung sein, der Tod sei kein punktuelles noch Leben vorhanden ist«, sagt Sabine Müller, »die Körpers als Grenze bestimmt würde, wäre die poli- Der Hirntod fungiert als Rechtsbegriff dieser Wachkomapatienten. Wären sie keine Menschen, Ereignis, sondern ein Prozess. Und wenn Sterben Frage ist eher, wo genau man die Grenze zwischen tisch geförderte Transplantationsmedizin tot. Darf Transplantations-Metaphysik, deren höchste Wert- genössen sie weder Menschenwürde noch Rechts- als Prozess ein Teil des Lebens ist, wäre die Leben und Tod zieht.« man den Hirntod also als gesetzte Erlaubnis zur setzungen freilich auch Forschungsinteresse, Ärz- schutz, dann würde »Leben« in höher- und nieder- hirntote Frau während ihres Sterbens noch am Nirgendwo anders als bisher, sagen jene, die das Organplünderung des Menschen betrachten? tekunst und letztlich die Ökonomisierung des wertige Lebensformen hierarchisiert. Passiert aber Leben. Die Medizin kann zwar verschiedene Hirntod-Kriterium nicht verwerfen wollen, weil es Wenn es nun nach Meinung von Befürwortern Menschlichen sind. Und doch ist der Hirntod weit nicht längst, was sich schockierend anhört? »Nahe- Stadien des Sterbeprozesses beschreiben, einen keine neue Erkenntnis dafür gebe. »Wir brauchen wie Kritikern des Hirntods keine neuen, das Men- mehr: die Grundlage einer Ethik der Solidarität, zu alle Systeme der Ethik sprechen dem Bewusst- juristisch verbindlichen Todesbegriff festlegen kein neues Konzept des Todes«, sagt Jochen Taupitz, schenbild umstürzenden medizinischen Erkennt- indem durch das geschenkte Organ Sinn im Tod seinsleben einen höheren moralischen Status zu als kann sie nicht. der Mitglied des Deutschen Ethikrats, stellvertreten- nisse gibt – warum dann eine abermalige Debatte entsteht – ein »Akt der Liebe«, wie Papst Bene- dem bewusstseinslosen Leben«, meint der Philo- Und doch ist eine akzeptierte Definition des der Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission über den Tod des Menschen? Den Todesbegriff dikt XVI. Entnahme und Spende lebender Organe soph und Anthropologe Dieter Birnbacher. Da Todeszeitpunkts von gesellschaftlich hoher Rele- bei der Bundesärztekammer und Professor für Medi- nach hinten, in Richtung einer kompletten Ver- nennt. Ist das nicht der neue Zauber in einer ent- »Tod« und »Leben« primär biologische Begriffe vanz, weil es um die Entnahme funktionsfähiger zinrecht der Universität Mannheim ist. »Wenn wesung der Zellen zu verschieben, würde alles in zauberten Welt, die zwar das Heilige einbüßt, aber sind, unterscheidet die Philosophie zwischen men- Organe bei gleichzeitigem Mangel an Spenderorga- Groß- und Stammhirn irreversibel ausgefallen sind allem nicht mehr bringen als Ehrlichkeit in der an Mitmenschlichkeit gewinnt? WISSEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 43

Schmeckt Bio besser?

Das fragten viele Leser unserer Titelgeschichte »Die Wahrheit über Bio«. Die Wissenschaft sucht nach einer Antwort VON ALINA SCHADWINKEL

émy schließt die Augen, seine Nase »Daher lässt sich unser Geschmacksempfinden sehr schuss. In den Blindverkostungen wurde dieses Ver- DIE ZEIT: Herr Güngörmüs, schmeckt Bio ZEIT: Wie ist das bei Fleisch – würden Sie zuckt. Er beißt ein Stück Käse ab leicht beeinflussen.« trauen jedoch nicht bestätigt. Biologisches Gemüse und wirklich besser? Bio-Fleisch als solches erkennen? und lässt es mit einem Happen Erd- Bei so vielen Einflüssen sind die Geschmacks-, Obst schnitt bei diesen Geschmackstest nicht besser Ali Güngörmüs: Ja! Güngörmüs: Ja, bei Fleisch ist das anders als beere auf der Zunge verschmelzen. Textur- und Geruchswahrnehmung nur schwer zu ob- ab als seine konventionellen Pendants. ZEIT: Sie würden es sich also zutrauen, in bei Gemüse oder Obst. Wenn Tiere im Frei- Sofort entsteht in seinem Kopf ein jektivieren. Doch wer die gustatorischen Qualitäten Wenn weiterverarbeitete Lebensmittel wie Toma- einem Blindtest eine Bio-Tomate von einer land gehalten worden sind, wenn sie nicht Spektakel. Gelbe und lilafarbene von Bio und Nicht-Bio vergleichen will, kommt um tenketchup und Joghurts getestet wurden, schnitt das konventionellen zu unterscheiden? künstlich gedopt wurden und genügend Formen pulsieren im Rhythmus diese Aufgabe nicht herum. Zur Verfügung stehen Bioessen meist sogar schlechter ab. »Aufgrund der Güngörmüs: Okay, Sie haben recht: Bei al- Zeit zum Wachsen hatten, dann merkt man for scher Trommeln, untermalt von zarten Streichern. Wissenschaftlern unter anderem zwei Methoden, die Rezeptur bei der Verarbeitung werden konventionelle len Produkten würde ich den Unterschied das am Fleisch, schon von der Festigkeit her. R»Jeder Geschmack ist einzigartig«, sagt die kleine sie oft miteinander kombinieren. Zum einen werden Produkte bevorzugt«, sagt Mlodzianowski. Das Resul- sicher nicht erkennen. Bei Gemüse bei- Solche Tiere haben mehr Muskeln ent- Ratte im Animationsfilm Ratatouille. Der haarige Menschen darauf geschult, bestimmte Attribute im tat deckt sich mit den Auswertungen der Stiftung spielsweise ist es schwierig – was da die wickelt und weniger Fett. Hobbykoch stellt klar: Geschmack ist nicht einfach Geschmack eines Produkts wiederzuerkennen. Granny- Warentest. Dort kam man zu dem Ergebnis, dass Bio- Züchter und die Indus- ZEIT: Erkennen Ihre nur Schmecken, es ist ein sensorisches Erlebnis. Smith-Äpfel zum Beispiel sind knackig und saftig, sie hersteller oft bei Fertigprodukten scheiterten. Ein trie heutzutage an Aro- Gäste den Unterschied Hätte Rémys Geschmackserlebnis noch schöner sein haben eine unreife grüne Note und eine stärkere Säure. Biokartoffelpüree sei kleistrig, der Schaum beider Bio- men zustande kriegen, auch? können, noch intensiver, noch befriedigender, wenn er Ein Elstar hingegen ist sehr viel mehliger und süßer und cappuccinos grobporig gewesen. Auch Biomargarine ist schon unglaublich. Güngörmüs: Sie erken- nicht zu konventionellem Käse, sondern zum Biopro- hat eine blumige, aromatische Note. Die Prüfer be- kann mit konventioneller nur schwer mithalten. Das Andererseits: Ich habe »Für mich nen den Unterschied. dukt gegriffen hätte? Bio, Lebensmittel aus ökologi- schreiben das Obst und messen danach, wie intensiv sie Pflanzenöl darf nicht gehärtet werden – Biohersteller meine ersten zehn Le- Aber nicht immer ist schem Anbau, das bessere Essen. Konsumenten führen die einzelnen Eigenschaften herausschmecken – das ist nehmen daher Palm- oder Kokosfett. Diese sind von bensjahre noch in der ihnen Bio-Fleisch lie- gleich mehrere gute Gründe dafür an, sie konventio- die eine Methode. Zum anderen werden Konsumenten Natur aus fest, verändern jedoch die Struktur und die Türkei verbracht, ganz ist Bio ber. Wie gesagt: Es ist nellen Lebensmitteln vorzuziehen: Tierschutz, Klima, gefragt, ob sie das Produkt mögen oder nicht. »Bringt Streichfähigkeit. »Ökolebensmittel beinhalten weniger im Osten. Da haben fester im Biss. Und da Gesundheit ... – manche dieser Annahmen entsprechen man die Datensätze zusammen, lässt sich zeigen, welche Zusatzstoffe, das kann sich in der Konsistenz nieder- wir selbst Obst und höre ich schon mal vor- dem Stand der Wissenschaft, andere lassen sich nicht Produkte beliebt sind und warum. Das machen wir für schlagen«, sagt der Ökotrophologe Guido Ritter von Gemüse angebaut, und wurfsvolle Kommenta- erhärten (ZEIT Nr. 13/12). Zu den umstritteneren unterschiedlichste Lebensmittel«, sagt Mechthild der Fachhochschule Münster. wir hätten ja gar nicht gleich re wie: »Also dieses Fragen gehört sicherlich: Schmecken Biolebensmittel Busch-Stockfisch von der Hochschule für angewandte Auch für den, der kräftige Geschmäcke gewohnt ist, das Geld gehabt, um Fleisch, das musste man besser als ihre herkömmlichen Pendants? Wissenschaften in Hamburg. bedeutet Bio eine Umstellung. Wenn der Gaumen mit Düngemittel und Un- schon kauen!« Da er- Von dem guten Ruf, dass Bio das schmackhaftere Deutschlandweit sind bereits einige kleinere Stu- stark gewürzten und aromatisierten Lebensmitteln ver- krautgift in den Garten Bauer« warten die Leute in je- Essen sei, profitierten Bauern und Erzeugerverbände dien durchgeführt worden, die ökologische Lebens- traut ist, schmecken ökologisch hergestellte Produkte zu kippen. Ich weiß dem Fall etwas Butter- gleichermaßen. Allerdings scheint er zu bröckeln. So mittel mit konventionellen vergleichen – mit zum schnell fad. »Dabei sind Bioprodukte authentisch und also noch, wie Früch- Der Koch Ali Güngörmüs zartes und merken gar fanden die Marktforschungsinstitute GfK und AMI in Teil unklaren, zum Teil widersprüchlichen Ergeb- reich im Geschmack«, sagt Ritter. Greife man regel- te schmecken müssen, schmeckt einen Unterschied nicht, was für eine Ge- einem Vergleich repräsentativer Meinungsumfragen nissen. Eine Verkostung des Ökoverbands Bioland mäßig zum Ökoapfel, könne man wieder erlernen, wenn sie natürlich, also schmacksexplosion in unter Konsumenten heraus: Im Jahr 2007 lag der Anteil hat beispielsweise ergeben, dass Kindergartenkindern Natur zu schmecken. Natürlich gebe es aber auch auf biologisch angebaut wer- – bei regionalen Produkten ih rem Mund passiert. derer, denen Bio besser schmeckt, noch bei 28 Prozent Bioprodukte besser schmecken als herkömmliche. dem Biomarkt große Qualitätsunterschiede. »Es gibt den. Eine Karotte zum ZEIT: Wenn wir nun der Befragten. 2010 waren es nur noch 19 Prozent. Dem steht eine Studie von Busch-Stockfisch ent- gut und schlecht produzierte Waren, ebenso wie bei den Beispiel muss nach Ka- nicht von Rohproduk- Hat die Qualität von Bioprodukten nachgelas- gegen. Sie hat 138 Kindern im Alter von zwei bis konventionellen Produkten.« rotte schmecken, sie muss eine gewisse Rest- ten sprechen, sondern etwa von Nahrungs- sen? In Einzelfällen mag das zutreffen. Doch viel sieben Jahren Äpfel, Mohrrüben und zu Brötchen süße haben und saftig sein. mitteln, die deshalb bio sind, weil sie keine wahrscheinlicher ist, dass durch intensive Be richt- verarbeitetes Getreide zu essen gegeben. Es handelte Wer bio mit konventionell vergleicht, ZEIT: Finden Sie diesen Geschmack bei ei- künstlichen Geschmacksverstärker enthal- erstattung und bewusste Auseinandersetzung die sich jeweils um die gleiche Sorte, einmal aus biologi- vergleicht Äpfel mit Birnen ner Bio-Karotte aus dem Supermarkt? ten: Können Sie sich vorstellen, dass eine Produkte etwas an Glanz verloren haben. »Bio gleich scher, einmal aus herkömmlicher Herstellung. »Die Güngörmüs: Nein, nicht in jedem Fall. Es Mehrheit der Bevölkerung solche Bio-Pro- schmackhaft« mag manchen Käufern inzwischen all- Kinder haben überhaupt keinen Unterschied ge- Busch-Stockfisch hält es daher für wenig sinnvoll, gibt gute und schlechte Bio-Produkte. dukte fade findet? zu simpel erscheinen. Tatsächlich ist das Phänomen schmeckt«, sagt die Ökotrophologin. Es ist das Er- einen Unterschied im Geschmack von biologischen Wenn ich selbst Bio kaufen will, kaufe ich Güngörmüs: Ja, leider. Das hat die Lebens- Geschmack viel komplexer, als dass es sich auf eine gebnis vieler Untersuchungen. und konventionellen Lebensmitteln zu suchen. »Da nicht im Supermarkt oder beim Discoun- mittelindustrie geschafft. so schlichte Formel bringen ließe. Die Bundesforschungsanstalt für Ernährung und vergleicht man schnell Äpfel mit Birnen«, sagt sie, ter, sondern frisch auf dem Wochenmarkt ZEIT: Die Antwort auf die erste Frage müss- Was ist Geschmack überhaupt? Jeder Bissen wird Lebensmittel hatte sich 2003 beispielsweise gemeinsam »denn die Frage ist viel zu allgemein.« Ein Bioapfel oder beim Bauern. Für mich ist Bio gleich te also eher lauten: »Ja, mir schmeckt Bio zunächst von 3000 bis 10 000 Geschmacksknospen mit der Bundesforschungsanstalt für Fischerei Forellen aus der Oberrheinischen Tiefebene und ein her- Bauer. Es geht um den Erzeuger, der hinter besser«? auf der Zunge analysiert. Dort schmecken wir die gewidmet. Fazit: Die Frage, ob ein Unterschied zwischen kömmlicher Apfel aus dem Alten Land seien eben seinem Produkt steht und für dessen Qua- Güngörmüs: Ja. Ich kann nur für mich Basisnoten bitter, süß, sauer, salzig und umami (ähn- Zucht- und Ökoforellen in einem Blindtest verifiziert grundverschieden. »Natürlich schmeckt der eine lität. Gerade heute bekommen wir wie- sprechen. lich wie Brühe). Weit mehr als im Mund geschieht werden könne, »muss eindeutig verneint werden«. In Apfel anders als der andere«, sagt Busch-Stockfisch. der achtzig Kilo Bio-Kalbfleisch geliefert, jedoch im retronasalen Raum, dem Nasenrachen- einer Auswertung von 52 Tests, die zwischen 2002 und Ob der Konsument den einen dem anderen vorzie- direkt vom Hof. Das Gespräch führte WOLFGANG LECHNER raum. Hier reizen flüchtige Aromen aus der Nahrung 2010 durchgeführt worden sind, kam auch die Stiftung he, hänge dann nicht mit Bio zusammen, sondern Millionen Rezeptoren. »Auf diese Weise entsteht der Warentest zu dem Ergebnis, dass Bio nicht besser damit, was der Apfel »erlebt« habe. Feingeschmack«, sagt Thomas Hummel, der Medizi- schmeckt. Vielmehr unterscheide sich die Qualität von Eine ganze Reihe von Parametern beeinflusst das ner am Uniklinikum Dresden ist. Das meiste, was wir Öko- und konventionellen Lebensmitteln im Schnitt Aroma des Apfels; die Sorte, der Standort, der Bo- Güngörmüs führt das zu schmecken glauben, hat eigentlich mit dem Ge- kaum. Von den 249 verschiedenen Bioprodukten wur- den, das Düngemittel, die Sonneneinstrahlung, der Hamburger ruch zu tun. »Man muss sich nur mal die Nase zu- den jedoch nur abgepackte im Geschmack getestet, Regen, der Reifegrad und die Verarbeitungsmethode Restaurant Le Canard halten, wenn man eine Erdbeere isst – da fehlt etwas.« frisches Obst und Gemüse hingegen nicht. sind nur einige Beispiele. »Es gibt sehr viele Faktoren, De facto sind sogar all unsere Sinne beteiligt. Wir Für die ultimative und endgültige Antwort auf die die mitwirken. Schon von einem Feld zum nächsten sehen, schmecken, riechen, fühlen und hören, wenn drängende Geschmacksfrage ist das Ecropolis-Projekt kann das Produkt daher anders schmecken«, sagt wir essen. »Das Gehirn setzt die Erfahrungen dann zu ins Leben gerufen worden. Mehr als zwei Jahre lang Guido Ritter, der Busch-Stockfischs Meinung teilt. einem Gesamteindruck zusammen«, sagt Hummel. erforschten Wissenschaftler, Naturkostunternehmen Um ein Bioprodukt mit einem konventionellen ver- und Bioverbände aus sechs EU- Ländern, was ökolo- gleichen zu können, müssten all diese Faktoren be- Für den Geschmack sind auch das gisch hergestellte Lebensmittel von konventionellen dacht werden. Meistens sei das aber nicht möglich. Aussehen und der Kontext wichtig unterscheidet und ob sie den Verbrauchern besser »Die Unterschiede, die man bei bisherigen Studien schmecken. Aufgrund des aufwendigen Studiende- herausgearbeitet hat, lassen sich eventuell auf die Geräusche, Farben, Gefühle – all das beeinflusst unser signs und des umfassenden Produktkatalogs wurden biologische Herstellung zurückführen, aber nicht Geschmacksempfinden. Wie etwas schmeckt, ist stark die Ergebnisse mit Spannung erwartet. Doch auch unbedingt«, betont Ritter. von der Situation abhängig. Die Psychologin Ellen hier ist die Antwort ernüchternd: »Es gibt sensorische Schmeckt Bio also nicht besser? Jein. Was in wis- Poliakoff hat zum Beispiel herausgefunden, dass Men- Unterschiede zwischen konventionellen und ökolo- senschaftlichen Studien zutage gefördert wurde, sind schen weniger Süßes und Salziges schmecken können, gisch hergestellten Lebensmitteln, in vielen Fällen meist keine eindeutigen Unterschiede. Allein für wenn im Hintergrund laute Geräusche zu hören sind. sind die Unterschiede allerdings nicht signifikant«, einzelne Produkte lassen sich Aussagen treffen. Doch Bei einem anderen Test sollten Önologiestudenten der heißt es in der Kurzdarstellung. Also: Selbst wenn selbst in diesen Fällen schmeckt Bio nicht unbedingt Universität von Bordeaux Rot- und Weißweine be- einzelne Biolebensmittel beliebter waren, dann nur so besser oder schlechter, sondern mitunter einfach an- werten. Was keiner merkte: Alle Weine waren Weiß- geringfügig, dass sich nicht genau sagen lässt, ob sie ders. Eins aber darf man nicht unterschätzen: »Ge- weine, nur waren einige durch Lebensmittelfarbe als denn wirklich besser schmecken. schmack ist mehr als nur Schmecken, Geschmack Rotwein getarnt. Und das Technologie-Transfer-Zen- »Auffällig war, dass Bio bei Deutschen und Nieder- hat mit Genuss zu tun«, betont Ritter. »Wenn ich trum (ttz) in Bremerhaven stellte 2009 in einer Studie ländern immer dann besser abgeschnitten hat, wenn mit einem guten Gefühl esse, dann schmeckt es mir fest, dass Liebende süße und bittere Noten ihres Essens die Leute wussten, dass es sich um Bioprodukte han- auch besser.« Und bei Bioprodukten haben viele schlechter, salzige und saure dafür deutlicher wahr- delt«, sagt Werner Mlodzianowski, Geschäftsführer des eben ein reines Gewissen. nehmen. »Für den Geschmack sind auch das Aussehen ttz, das an der Studie beteiligt war. Ökologische Pro-

des Essens und der Kontext wichtig«, sagt Hummel. dukte hätten in Deutschland einen Vertrauensvor- A www.zeit.de/audio Joerg Mueller/VISUM Montage: DZ; (o.), Markus Hanke/VISUM Fotos: 4. April 2012 44 GRAFIK DIE ZEIT No 15 No Verkehrsbelastung

Durchschnittliche Fahrzeugzahl pro Tag 1990 1980 1985 an typischen Messpunkten 1975 42 000 25 000 30 000 31 000 147 1995 43 000

Unfälle Dichtes Netz 1 pro Jahr Zeigt man Deutschlands Autobahnen als U-Bahn-Plan, wird deutlich: Rendsburg Wir sind gut vernetzt. Doch die Straßen könnten Entlastung vertragen. Bordesholm Wismar Rostock Millionen Autos rasen pro Tag kreuz und quer durch die Republik. Auf Lübeck 21 mit Verletzten 35 Prozent der Strecken gibt es ein Tempolimit 7 18 828 23 14 19 20 29 31 27 Hamburg-Nordwest Schwerin 48 000 Bremen Horst/Maschen 24 2005 2000 2010 28 1 Hamburg-Ost Leer Oldenburg 12 813 km 430 Uckermark West/Ost 39 Wittstock THEMA: mit Todesopfern Stuhr 11 AUTOBAHN 31 27 Walsrode Oranienburg 1 Schwanebeck 25 578 10 Havelland Die Themen der Schüttorf Osnabrück-Süd Bad Oeynhausen Braunschweig-Nord Magdeburg 12 30 2 Spreeau letzten Grafiken: Potsdam Schönefeld Lotte/ Hannover Ost/ Wolfsburg/ Werder Osnabrück Kirchhorst/Süd Königslutter 146 Pasta 43 Münster Süd 2

2000 39 48 000 11 515 km 145 907 3 9 13 Salzgitter Graffiti Bottrop Recklinghausen Kamen 33 57 Ober- hausen Dortmund/Unna 144 Kamp-Lintfort 42 14 Titanic Werl Spreewald 15 40 44 Moers 7 52 Westhofen Weitere Grafiken im Internet: Wuppertal Wünneberg/Haaren Schkeuditz Meerbusch Breitscheid Nord Mönchen- www.zeit.de/grafik Ratingen-Ost gladbach Drammetal 38 Dresden-Nord 52 Kaarst 46 Hagen Rippachtal 4 50 000 Neuss 2011 46 Nossen Dresden-West D-Süd 1 MG- 61 Kassel-Süd Wanlo Hilden Chemnitz 46 45 17 Hermsdorf 4 27 443 K-Nord 72 Jackerath Leverkusen Kirchheim Erfurt K-Ost Hattenbach Aachen K-Süd 4 5 4 Heumar Olpe-Süd Kerpen Hochfranken Bayr. Vogtland Erfttal Bonn/Siegburg Bliesheim Gambach Fulda 71 13 014 1990 Mecken- 3 heim 8822 km* 61 Dernbach 12 645 1470 66 Suhl 9

60 48 73 Koblenz Hanau Werntal Bamberg Wiesbaden Frankfurt Vulkaneifel Schweinfurt/ 70 Bayreuth/ NW Seligen- Werneck Kulmbach Wittlich stadt Fürth/Erlangen Mönchhof 3 17 380 WÜ- Biebelried Nahetal 60 93 Nonnweiler Mainz- Rüsselsheim West Alzey Süd Darmstadt Nürnberg Nürnberg Ost 6 8 1 63 11 041 62 K‘lautern Frankenthal Alt- Oberpfälzer Wald Saar- 5 6 81 dorf 1980 Saarlouis brücken Regensburg 9 Landstuhl- Ludwigshafen Viernheim Weinheim 7292 km* 7 Deggendorf 943 West Heidel- Holledau 92 Neunkirchen Mutter- berg 6 3 stadt 67 65 61 Walldorf Weinsberg Feuchtwangen/ Hockenheim Crailsheim bis 30 000 Fahrzeuge pro Tag Stuttgart München-West Neufahrn 30 000 bis 45 000 Fahrzeuge pro Tag 8 94 Karlsruhe Leonberg Ulm/ 45 000 bis 60 000 Fahrzeuge pro Tag 5 Elchingen 99 60 000 bis 75 000 Fahrzeuge pro Tag 81 München-Süd Memmingen 96 75 000 bis 90 000 Fahrzeuge pro Tag Inntal M-Südwest 8 mehr als 90 000 Fahrzeuge pro Tag 95 ohne Geschwindigkeitsbegrenzung 93

6629

1970 4110 km* Gas geben Das deutsche Autobahnnetz ist weit verzweigt. Auf rund 12 800 Kilometern gelangen Fahrer durch EU-Spitzenreiter die Republik – wenn sie nicht gerade im Stau stehen. Das längste Autobahnnetz in Europa hatte Die Grafi k zeigt, wo besonders viel Verkehr herrscht 2009 zwar Spanien, aber schon direkt dahinter rangierte Deutschland mit 12 645 Kilometern. und wo man noch heizen darf Weit abgeschlagen: Luxemburg (Balken oben) 1960 3560 2551 km*

1950 2128 km* 2582 2613 Eile mit Weile 1880 1696 1763 Gründonnerstag 21.04.2011 Ostermontag 1409 25.04.2011 1103 55 933 Min. Karfreitag 34 415 765 22.04.2011 Min.

31 891 Irland Illustration: Min. Luxemburg 269 Jelka Lerche; 1935 147 Christoph Drösser Finnland Griechenland Dänemark Österreich Belgien Schweden Niederlande Portugal Großbritannien Italien Frankreich Deutschland Spanien

*Westdeutschland 108 km L IRL FIN GR DK A B S NL P GB I FDE Recherche: 4604 Min. 3600 3 4 12 24 21 Claudia Füßler Min. 65 70 89 89 108 Quellen: ADAC; Immer im Bau 139 132 Ostersamstag Ostersonntag Bundesanstalt für Straßenwesen; Immer schneller, immer weiter: In den 23.04.2011 24.04.2011 248 dreißiger und vierziger Jahren boomte Bundesministerium für Verkehr, Bau der Autobahnbau. Auch danach wurde An Ostern kommt es hierzulande jedes Jahr zu einer Reisewelle. Vorn liegt Deutschland leider auch, was die auf 350 das Asphaltnetz Jahr für Jahr Mit Konsequenzen: Allein am Gründonnerstag 2011 standen die Autobahnen tödlich Verunglückten angeht, hier und Stadtentwick- vergrößert. Heute sind 1,8 Prozent Autofahrer 55 933 Minuten im Stau – auf einer Länge von mehr angegeben für 2009. EU-weit starben damals lung; International 475 unserer Straßen Autobahnen als 2700 Kilometern. Das war der Rekord im April 2011 1829 Menschen bei Autobahnunfällen (Balken unten) Road Traffic and Accident Database (IRTAD); WISSEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 45 Fotos: Eitan Abramovich/AFP/Getty Images; PR (u.) Eitan Abramovich/AFP/Getty Fotos: Unabhängig von Stil und Federung gilt: In bequemen Schuhen läuft man Doping durch die Sohle schneller Marathon

Schneller, länger und gesünder laufen: Dafür suchen Forscher nach dem perfekten Schuh VON DAVID BINNIG

it dem Schuh, der seinen Träger Bewegung, zur Freiheit des Fußes. Bis vor einigen sern. Ihre Wirkung ist bislang jedoch umstritten. niel Lieberman. Er verglich die Laufstile von kenia- natürlichen Frequenz der Waden- und Oberschen- schneller machen soll, läuft man Jahren sollten immer dickere Gel-, Gummi- oder Die Kölner Forscher konzentrieren sich aktuell nischen und US-Athleten, von Barfuß- und Schuh- kelmuskeln, kann es zu Resonanzerscheinungen wie auf Sand. Man sinkt ein. Auf Luftkissen in den Sohlen den Fuß vor Stößen weniger auf das künstliche und mehr auf das Bio- läufern. Ergebnis: Wer barfuß rennt, landet eher auf kommen. Dämpft man die von außen, etwa durch der Sohle des »On« sitzen 13 klei- schützen, Stützsysteme seine Einwärtsdrehung material, also den menschlichen Teil des Interface. dem Vorfuß. Dabei sei die Stoßbelastung geringer spezielle Einlagen, erspart man den Muskeln Ar- ne Gummischläuche, die sich ver- beim Aufsetzen, die Pronation, verhindern. Heute Das Biomechaniklabor ist dunkel, vor den Fens- als bei einer Landung auf dem Rückfuß. Vorfuß- beit. Sie ermüden dann langsamer. Allerdings ist formen,M wenn man auftritt. Der On ist die derzeit weiß man, dass die Pronation um zehn Grad eine tern hängen schwarze Jalousien, an den Wänden laufen gehöre zur Natur des Ausdauerjägers Mensch. auch diese Theorie noch nicht bewiesen. ungewöhnlichste Entwicklung auf dem Lauf- natürliche Bewegung ist und ebenso wenig schadet Hochgeschwindigkeitskameras. Ein Student sitzt Auf diesen Trend reagierte die Industrie mit dem Und bislang sind Laufschuhe nicht an die Mus- schuhmarkt. wie die Stoßkräfte beim Aufsetzen des Fußes. auf einer Art tiefergelegtem Sessel und stemmt sein paradoxen Produkt des »Barfußschuhs«. kelfrequenz ihres Trägers angepasst – oder an die Die 17 Millionen Hobbyläufer in Deutschland Das künstliche Ding zwischen dem Menschen rechtes Bein gegen eine Platte. Sein Sprunggelenk Doch die Frage, welcher Laufstil am gesündes- Elastizität seiner Achillessehne. Bis es so weit ist, wollen Laufschuhe, die leicht sind, bequem, leis- und der Erde, auf der er wandelt, ist nur einige steckt in einer Ultraschallmanschette. Auf dem ten ist – Vor-, Mittel- oder Rückfuß –, ist längst lautet Benno Niggs Lösung aller Schuhkaufproble- tungsfördernd, gelenkschonend, Millimeter dick. Doch die Schuh- Bildschirm vor sich kann er sehen, wie sein Waden- nicht geklärt. »Viele Studien haben gezeigt, dass me: Man kaufe, was sich am besten anfühlt. In einer muskelauf-, fettabbauend. Die sohle wird ständig neu erfunden. muskel die Achillessehne spannt. Dass sich Sehnen der Vorfußstil Knie- und Sprunggelenke stärker seiner Studien testeten die Probanden fünf verschie- Hersteller liefern so einiges. Vor Die des On sei eine gute Idee, an Trainingsreize anpassen, ist erst seit etwa zehn belastet und das Risiko, umzuknicken, erhöht«, dene Modelle. In denen, die sie als die bequemsten allem Versprechungen. Jedes Jahr sagt Gerd Brüggemann – »theo- Jahren bekannt. Wie genau diese Adaption funk- sagt Gerd Brüggemann, der den meistverkauften einschätzten, liefen sie auch am ökonomischsten. kommen Hunderte neue Model- retisch«. Theoretisch gibt die Soh- tioniert, wollen die Wissenschaftler herausfinden. Barfußschuh mitentwickelt hat, den Nike Free. Er Sie verbrauchten darin beim Laufbandtest durch- le auf den Markt. Aber was le aus röhrenförmigen Gummis Im April werden deshalb zwei von ihnen nach Ja- ließ Leichathleten ein halbes Jahr lang viermal pro schnittlich 0,7 Prozent weniger Sauerstoff als beim macht überhaupt einen guten nach, wenn der Fuß auftritt, sie maika fliegen. Zum schnellsten Mann der Welt. Ihr Woche das Aufwärmtraining damit bestreiten. Sie Laufen im unbequemsten Modell. Laufschuh aus? In den Füßen ste- verlängert Weg und Zeit des Auf- Forschungsobjekt: Usain Bolts Achillessehne. steigerten dadurch das Volumen mehrerer Mus- cken rund ein Viertel der mehr pralls, verlangsamt den Impuls Der Grad der Steifigkeit der Sehne variiert von keln im Unterschenkel und im Fuß um bis zu als 200 Knochen des menschli- des Stoßes. »Wenn ein Muskel Mensch zu Mensch um bis zu 40 Prozent. Mara- 12 Prozent. Ein Jahr nach dem Training hatten sie chen Körpers, 33 Gelenke, 107 Das Prinzip Röhre lang samer kontrahieren kann, hat thonläufer haben eher flexible Achillessehnen, 30 Prozent weniger Verletzungen erlitten als die Bänder. Wer dafür eine passende er ein größeres Kraftpotenzial.« Sprinter steife. Steife Sehnen können höhere Kräf- Läufer der Kontrollgruppe. »Mit einem solchen Hülle finden will, muss Bescheid 13 Gummischläuche In der bislang einzigen Studie te übertragen. Sie gezielt zu trainieren ist ein Ziel Schuh kräftigt man seine Füße«, sagt Brüggemann. wissen. Über Pro- und Supina- federn die Sohle des mit den On-Schuhen fanden For- der Forscher. Das zweite ist, Verletzungen vorzu- »Er ist aber nicht dafür gemacht, damit zehn Kilo- tion, Vor-, Mittel- und Rückfuß- Laufschuhs »On«. scher der ETH Zürich tatsäch- beugen: Der Anteil an Läufern, die pro Jahr min- meter oder gar einen Halbmarathon zu laufen.« lauf, Dämpfung, Sprengung, Sie geben beim lich einen Effekt. Im Vergleich destens eine laufbedingte Verletzung erleiden, liegt Im Kölner Labor finden fast täglich Testläufe statt. Schuh oder Anti-Schuh. zum Lauf mit ihren eigenen seit 30 Jahren fast konstant bei etwa 50 Prozent. Der Raum ist klein und kahl, hinter blauen Jalousien Der On ist schlicht und ein- Auftreten nach und Schuhen hatten die 37 Proban- »Das liegt heute wohl weniger an den Schu- steht ein niedriges Holzpodest, an den Ecken Laser- Einigen Laufschuhen ist ihr Konstruktionsfeh- farbig, anders als die etwa hun- verlangsamen so den den mit den Ons an den Füßen hen«, sagt Brüggemann, »sondern an den Läufern. messsysteme, Kameras, ein 3-D-Ganzkörperscanner. ler schon anzusehen: der hohe Absatz. Bei vielen dert anderen Modelle in dem Impuls des Stoßes eine signifikant niedrigere Herz- Heute läuft eine ganz andere Klientel als vor Gegenüber nimmt ein Laufband ein Fünftel des Modellen beträgt die Sprengung, also der Höhen- vollgestopften Raum. Neben der frequenz und eine um 5,4 Pro- 20 Jahren.« Er meint Leute, die in ihren ersten kleinen Raumes ein. Anfang März lief Chrissie Wel- unterschied zwischen Vor- und Rückfuß, zwölf Tür steht ein Umzugskarton vol- zent niedrigere Laktatkonzentra- Lebensjahrzehnten kaum Sport gemacht haben lington darauf, die vierfache Triathlon-Weltmeisterin. Millimeter oder mehr. »Biomechanisch am besten ler Schuhkartons. Schuhe, am Stück oder zer- tion im Blut – ein möglicher Hinweis darauf, dass und dann zu schnell zu viel wollen. Doch nicht Sie kam, um Schuhe zu testen. »Es ging um die Stei- sind aber acht Millimeter«, sagt Brüggemann. Zu- schnitten, stehen und liegen auf Regalen, Schrän- der Körper Energie spart. nur falsches Training, auch falsche Schuhe können figkeit der Mittelsohle«, erklärt Brüggemann. Und mindest für gesunde Füße. »Den Fuß völlig flach ken und dem Boden. Aus dem Chaos ragt ein »Allerdings sollte man mit solchen physiologi- belasten. Zum Beispiel Hüfte und Knie. Um 54 um ein Phänomen, das der Wissenschaftler als »Wab- auf den Boden zu stellen ergibt jedoch auch nicht Schreibtisch, hinter dem Gerd Brüggemann sitzt. schen Parametern sehr vorsichtig sein«, sagt Brüg- beziehungsweise 36 Prozent wurden die Gelenke beln der Muskeln« bezeichnet. viel Sinn.« Wer trotzdem den radikalen, schuhlo- Er spielt mit dem Skelettmodell eines Fußes und gemann, »denn sie unterliegen starken natürlichen der Probanden beim Laufen in Neutralschuhen Muskeln machen Musik, sie schwingen wie die sen Weg gehen will, der sollte sich ein Jahr Zeit sagt: »In den letzten Jahrzehnten lief in der Lauf- Schwankungen.« Noch sei von keinem Laufschuh stärker belastet als barfuß. Zu diesem Ergebnis Saiten einer Geige. »Wenn ein Muskel wabbelt, nehmen. »So lange dauert es, bis sich der Körper schuhkonstruktion ganz viel falsch.« bewiesen, dass er seinem Träger Vorteile verschaffe. kamen 2011 Forscher der University of Virginia. muss er gedämpft werden«, sagt Brüggemann. ans Barfußlaufen gewöhnt hat.« Wer durchhält, Brüggemann leitet das Institut für Biomecha- »Aber wenn, wären wir tatsächlich beim Thema Auf Studien wie diese beruft sich auch eine wach- »Und das kostet Energie.« Die Schwingungen las- kann sich belohnen. Mit dem Gefühl, direkt auf nik und Orthopädie an der Sporthochschule Köln. Materialdoping.« Das wurde schon bei der Ent- sende, missionierende Gruppe innerhalb der Lauf- sen sich aber von außen beeinflussen. Muskel-Tu- Gras, Ton, Sand zu laufen, Matsch zwischen den Er forscht seit 1986 in Sachen Interface – so nennt wicklung der Kompressionssocken heiß diskutiert. szene – die Sohlenlosen, Anhänger des Barfußkults. ning nennt Benno Nigg, ein Schweizer, der an der Zehen zu spüren – und der Gewissheit, sich keine er die Verbindung aus Fuß, Schuh und Boden. Er Die knielangen Strümpfe sehen zwar komisch aus, Jäger jagten und Sammler sammelten schließlich Universität Calgary forscht, seine Theorie. Dem- neuen Schuhe kaufen zu müssen. hat etliche Schuhtrends miterlebt, der aktuelle werden bei Läufern aber immer beliebter. Sie sol- auch jahrtausendelang schuhlos. Dieses Evolutions- nach erfährt ein Fuß beim Aufsetzen einen Impuls heißt »Natural Running« – zurück zur natürlichen len den Blutfluss und dadurch die Leistung verbes- argument stammt von dem Harvard-Biologen Da- mit einer bestimmten Frequenz. Gleicht diese der A www.zeit.de/audio HIER AUSREISSEN!

4. AAprilpril 20122012 DIDIEE ZEZEITIT No 1515 49

POLITIK,P O L I T I K , WWISSEN,I S S E N , KKULTURU LT U R UUNDN D AANDEREN D E R E RRÄTSELÄ T S E L FFÜRÜ R JJUNGEU N G E LLESERINNENE S E R I N N E N UUNDN D LLESERE S E R Das große Osterrätsel Am Wochenende darfst Du bunte Eier suchen, hier Antworten! Die Buchstaben vor den richtigen Lösungen ergeben zwei Wörter VON ECKSTEIN

Illustrationen: Martin Burgdorff für DIE ZEIT/www.martinburgdorff.de Fragen über Fragen. Kennst Du die richtigen Antworten?

1. Was stimmt nicht? 6. Die Hersteller von Nugat- 11.Weil an diesem Tag Christus gekreuzigt 16. Osterhase Stups möchte 20 Ostereier auf Ostern ist immer Ostereiern kaufen besonders wurde, ist der Karfreitag ein stiller Nester verteilen. In keinem soll die glei- Gewinnen: K im April viel hiervon ein Feiertag. Dazu gehört auch, dass che Anzahl liegen. Das kann klappen bei R an einem Sonntag U Rosinen K Hupen verboten ist R 5 Nestern S im Frühling R Haselnüsse L die Kirchen geschlossen bleiben I 6 Nestern 1. Preis: Erlebt das Abenteuer im LEGOLAND® Deutschland W 1 bis 7 Tage nach einem Vollmondtag F Butter U jeder sein Gebet leise spricht G 7 Nestern Das LEGOLAND® Deutschland in Günzburg feiert sein P Ahornsirup E die Glocken wenig/gar nicht läuten N 8 Nestern 10-jähriges Jubiläum und lässt Dich in der neuen Flugat- traktion »Flying Ninjago« abheben und in 22 Meter Höhe turbulente Abenteuer erleben. Im Mai wird zudem Ninjago MINILAND aus Tausenden von Legosteinen enthüllt. Gewinn einen Familienaufenthalt für 4 Perso- 2. Früher war gar nicht nur der Osterhase 7. Zur Osterzeit wird an vielen Orten ein 12. Der Holzstapel für ein Osterfeuer wird 17. Bei einem Osterbrauch, der Eierpicken nen, und feiere mit: zwei Tage lang in den acht Abenteu- fürs Eierverstecken zuständig. In Palmbusch oder Palmstock aufgestellt. vorm Anzünden umgeschichtet, weil oder Eiertitschen heißt, gewinnt der erwelten mit mehr als 50 Attraktionen, Shows, Work- manchen Gegenden Europas war’s Hierzulande enthält er meist auch Mitspieler, dessen Ei shops, 4-D-Kino, Unterwasserwelt und einem erlebnisrei- H die Feuerwehr das verlangt chen Veranstaltungskalender. Freu Dich auf eine Über- A das Känguru E Efeu I dadurch das Feuer länger brennt U am schönsten bemalt ist nachtung und Frühstück im LEGOLAND-Feriendorf – U der Osterfuchs I Eichenäste B das eine Sitte des Wintervertreibens ist L am weitesten rollt zum Beispiel in einem Familienzimmer im Ägypten- oder neu gestalteten Abenteurer-Stil. www.legoland.de C das Osterlamm B Weidenzweige O es Kleintiere aus dem Geäst T alle Zusammenstöße übersteht T die Wildgans N Ölbaumzweige vertreibt Z zwei Dotter enthält Preis 2–4: Je ein iPod nano in Grün

Preis 5–10: Die neue DVD- Edition der ZEIT: 3. Eine Woche vor Ostern, am Palm- 8. Im Jahr 1012 konnte es schon deshalb 13. Osterkerzen sollen aus besonders reinem 18. 1 Schoko-Hase, 5 Marzipaneier und 20 Kinderfilme aus aller Welt sonntag, wird daran erinnert, wie Jesus in keine Schoko-Eier geben, weil Material sein. Deshalb macht man sie Schoko-Eier enthalten so viel Zucker, wie Jerusalem einzog. Er kam dabei O der Kaiser Ostern verboten hatte traditionell aus N in einen 10-Liter-Eimer passt Lösungswörter: H barfuß F die Fastenzeit erst im Mai endete E Talg R eine Kiste Mineralwasser enthält N auf einem Esel U Schokolade nur in Amerika D Petroleum E in einer Schüssel Erbseneintopf ist S auf einem Pferd bekannt war S Bienenwachs A zum Süßen von 50 Tassen E in einer Kutsche V Eier nur als Weihnachtsspeise galten A Olivenöl Kaffee ausreicht

4. Man kann auch mit Kräutern und 9. Am Gründonnerstag wird an das Letzte 14. Am Ostermorgen entdeckten mehrere 19. Hasen sind schnelle Tiere. Sie schaffen Schick sie bis zum 30. April 2012 an Früchten Eier färben. Holunderbeeren Abendmahl Jesu gedacht. Frauen, dass das Grab von Jesus leer war. bis zu DIE ZEIT, KinderZEIT etwa färben Eierschalen Gegessen wurde laut Bibel insbesondere Dass er auferstanden sei, erfuhren sie Stichwort Osterrätsel F 30 km/h 20079 Hamburg R rot A grünes Gemüse T von zwei Engeln L 40 km/h O gelblich-braun E Eiersalat U vom Verräter Judas I 50 km/h M grün H Hirse L durch die Grabbewacher G 70 km/h Name, Vorname (Erziehungsberechtigter): T bläulich-schwarz N Brot S vom Apostel Petrus Straße und Hausnummer:

5. Hasen und Kaninchen kannst Du daran 10.Narzissen oder Osterglocken sind am 15. Nicht überall fällt Ostern auf dasselbe 20. Die Osterinsel bekam ihren Namen, weil unterscheiden, dass nur die Kaninchen nächsten verwandt mit Datum. In diesem Jahr feiert man Ostern S auf ihr das allererste Ostern PLZ und Wohnort: P Pinselohren haben S Tulpen P in Madrid am 4. April gefeiert wurde I Bocksprünge machen G Glockenblumen E in Moskau am 15. April E Europäer sie an Ostern entdeckten E in Erdbauen verschwinden T Schneeglöckchen A in Manila am 22. April N dort auffällig viele Hasen leben E-Mail: T mit den Pfoten auf den Boden Z Speisezwiebeln M in Mexiko am 1. Mai T sie von riesigen eiförmigen Statuen trommeln bedeckt ist Unterschrift:

Ja, ich bestelle den ZEIT-Familien-Newsletter. Die Lösungswörter: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Ja, ich möchte aktuelle Informationen zum LEGOLAND Deutschland erhalten und abonniere den Newsletter. 50 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 KINDERFILME Ein Pferd, ein Pferd!

Das Mädchen Winky zieht von China in die Niederlande. Ein Vierbeiner hilft ihr beim Eingewöhnen VON MAGDALENA HAMM

s gibt zwei Typen von Mädchen: entsetzlich. Mit ihren pechschwarzen Haaren und seelenallein, wie Winky sich fühlt. Es muss ein wird ihr zum Ersatz für menschliche Kontakte, es ab 6 Mädchen und Pferdemädchen. ihren mandelförmigen Augen fällt Winky zwischen magischer Moment für das Kind sein, denn das gibt ihr Halt. Leider dürfen ihre Eltern nichts da- Jahren Letztere erkennt man daran, dass all den Blondschöpfen auf. Jeder ihrer Schritte wird Pferd zeigt keinerlei Scheu, keine Ablehnung, es von erfahren, denn sie halten Pferde für gefährlich. an ihren Ohren vergoldete Rös- von den Mitschülern genau beobachtet. Über die kommt auf Winky zu und lässt sich streicheln. Endlich findet Winky auch in der Schule An- ser im Sprung baumeln, dass sie Frühlingsrollen, die ihre Mutter ihr statt eines Pau- »Willst du mein Freund sein?«, flüstert sie ihm ins schluss, Meike (ein echtes Pferdemädchen!) will sich in der großen Pause gegen- senbrotes eingepackt hat, rümpfen die Ohr. Natürlich ist das Tier nicht ohne unbedingt Winkys Pony sehen. Doch als die bei- DIE ZEIT EDITION seitig auf dem Rücken herum- Kinder die Nase. In der Hof- Besitzer, atemlos stürzt eine den Mädchen zur Koppel kommen, ist Sartje ver- KINDERFILME AUS ALLER WELT tragen und dabei Wiehergeräusche von sich geben pause steht Winky ver- Niederländerin heran, schwunden. Winky erfährt, dass das Pony sehr Eund dass sie einfach keine anderen Themen ken- loren am Rand die nach dem krank ist und eingeschläfert werden muss. Sie ist nen außer Schritt, Galopp und Trab – ätzend! und schaut Pony ge- am Boden zerstört. Und weil sie mit ihren Eltern Zehn preisgekrönte Spielfilme, die Diese Einteilung stammt aus meiner Grundschul- den ande- sucht nicht darüber sprechen kann, bleibt sie mit ihrem zeit, und es ist nicht schwer zu erraten: Ich war ren Schmerz allein. zeigen, wie Kinder in verschiedenen © FilmConfect Home EntertainmentFoto: GmbH kein Pferdemädchen, und auch heute hege ich Erst als Meike ihr vom Nikolaus erzählt, einem Ländern leben, wovon sie träumen, keine große Sympathien für den Reitsport. Dem Mann, der Kindern Geschenke bringt, schöpft wofür sie kämpfen. Film Ein Pferd für Winky begegnete ich dement- Winky neuen Mut. Zwar sind ihr die Bräuche Für Mädchen und Jungen von sprechend kritisch. Schon allein das Cover: Ein rund um das niederländische Nikolausfest völlig niedliches Mädchen mit Zöpfen reitet auf einem neu, und so recht versteht sie den Sinn dahinter 6 bis 12 Jahren weißen Pferd. Und dazu der alberne Name Win- auch nicht, dennoch hofft sie, ein eigenes Pony ky. Ich stellte mich darauf ein, meine langjährig zu bekommen. Dafür lernt sie akribisch alle gehegten Vorurteile gegenüber Pferdefreun- Nikolauslieder auswendig, bemüht sich, be- dinnen bestätigt zu finden – glücklicherweise sonders artig zu sein, und stellt voller Hoffnung DIE FILME: war das nicht der Fall. ihre bunten Turnschuhe vor den Kamin – mit Denn das Spielfilmdebüt der Regisseurin einer Karotte für den schwarzen Piet, den Mischa Kamp handelt nicht in erster Linie Nikolaus-Begleiter, darin. Ihre Eltern sind ihr 1. Whale Rider von einer Pferdenärrin, sondern von einem bei alldem keine große Hilfe. »Papa kapiert chinesischen Einwanderermädchen – mit gar nichts«, beschwert sich Winky, obwohl 2. Tsatsiki – Tintenfisch dem wirklich albernen Namen Winky er seit drei Jahren in Holland lebe, verwechs- und erste Küsse Wong –, das sich in einer völlig neuen Kul- le er den Nikolaus immer noch mit dem tur zurechtfinden muss. »Früher habe ich Weihnachtsmann. 3. Wintertochter gedacht, dass China die ganze Welt ist«, Als der große Tag gekommen ist und der sagt die Sechsjährige zu Beginn des Films. Nikolaus die Schule besucht, um die Kinder 4. Ein Pferd für Winky Doch dann sitzt sie plötzlich mit ihrer Mut- zu beschenken, passiert das Unfassbare: Der ter im Flugzeug nach Amsterdam. Dort an- Nikolaus besitzt die Frechheit, Winky mit einem 5. Die Stimme des Adlers gekommen, ist alles fremd: »Ich wusste gar lausigen Kuscheltier abzuspeisen! Das Mädchen 6. Billy Elliot – I will dance nichts von Holland, nur dass mein Papa da ein verliert die Nerven, all die Anstrengungen sollen Restaurant hat. Aber wie mein Papa aussieht, umsonst gewesen sein? »Du blöder Nikolaus!«, 7. Zaïna – Königin der Pferde das hatte ich vergessen.« schreit sie dem bärtigen Mann ins Gesicht und Der Vater des Mädchens war schon drei Jahre fragt sich: »Ob der Nikolaus keine chinesischen 8. Soul Boy zuvor ausgewandert, um sich in einem kleinen Kinder mag?« – »Der Nikolaus mag alle Kinder«, Küstenstädtchen eine neue Existenz aufzubauen. beim W hat. kann Freundin Meike sie schließlich überzeugen. e! Wieder vereint, ist die Mutter vor allem damit Spielen in ng Sie be- Als Zuschauer kann man bei diesem Film 9. Lippels Traum ky la fü t beschäftigt, im Restaurant zu helfen und Hollän- zu. Ver- hl ich dankt sich gleich über zwei Kulturen Neues lernen, sofern t si r n 10. Kinder des Himmels disch zu üben. Winky lernt die Sprache mühelos zweifelt rennt ch i Abe bei Winky und man über die Nikolausbräuche in unserem Nach- n de am. nebenbei, und da gerade Sommerferien sind, hat sie ihrer Mutter ent- r neuen Heimat eins lädt sie ein, sie auf barland so wenig weiß wie ich bisher. Das Char- sie viel Zeit, um ihre neue Umgebung zu erkun- gegen, als diese sie abholt: ihrem Hof zu besuchen. mante dabei: Kleinen Kindern wird er die Illusion den. Leider verbringt sie die meisten Tage allein, »Nie wieder gehe ich in diese Von nun wird alles besser, der vom Nikolaus nicht nehmen, Größeren liefert er Zehn DVDs für denn außer dem Aushilfskellner Samir hat nie- scheußliche Schule!« – »Aber Winky, morgen wird Gedanke an das Pony, das übrigens Sartje heißt, ausreichend Indizien, um dessen wahre Identität 89,95 Euro mand so recht Zeit für sie. es bestimmt schon viel besser!« – »Nein!«, schreit lässt Winky die Tage in der Schule besser ertragen. zu enttarnen. Die letzte Filmszene ist unvermeid- www.zeit.de/shop Wie sehr freut sich Winky deshalb auf die die Kleine und läuft vor ihrer Mutter davon. Jeden Nachmittag fährt sie mit ihrem roten Fahr- bar kitschig: Ein Mädchen mit Zöpfen reitet auf Der Reinerlös geht an Schule, endlich wird sie Kinder in ihrem Alter Und da steht es plötzlich, mitten auf der Straße: rad zur Koppel, um mit ihm zusammen zu sein: einem weißen Pferd – und allen Widerständen terre des hommes kennenlernen! Doch der erste Schultag verläuft ein Pony, braun-weiß gefleckt und ebenso mutter- »Sartje ist mein bester Freund!«, sagt sie. Das Tier zum Trotz bin ich gerührt. LITERATUR GLAUBEN & ZWEIFELN John Burnsides Antithriller »In Schöner glauben: Wie die moderne Gesellschaft hellen Sommernächten« S. 55 sich ihre Religion selber bastelt S. 64–66 FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 51

MARGOT HONECKER

Ihr Glück Die Erziehungsministerin der DDR triumphiert im Westen

Nun wird allerorts vermerkt, als sei ernsthaft anderes erwartet worden, dass Margot Hone- cker keine Reue, keine Einsicht, kein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung ge- äußert habe angesichts des Regimes, dem sie in leitender Funktion gedient hat und das für Mauertote und allerlei grässliche Repressio- nen verantwortlich war. Der an diesem Mon- tag ausgestrahlte beeindruckende Dokumen- tarfilm von Eric Fiedler zeigte die ehemalige Erziehungsministerin und Gattin des Staats- ratsvorsitzenden der DDR in unbeirrtem Glauben, nicht nur in der Vergangenheit alles richtig gemacht zu haben, sondern ei- ner strahlenden sozialistischen Zukunft ent- gegenzublicken, wenngleich sie diese an- gesichts ihres Alters – Margot Honecker ist 84 – vermutlich nicht mehr erleben wird. Es verschlägt dem Westen, der heute die Matrix für die gesamte Welt abgibt, ja stets Thomas Gottschalk, Harald Schmidt, Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk die Sprache für die schwer begreifbare Un- beirrtheit alter Kommunisten, die einem mit Nonchalance erklären, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Dialektik der Geschichte sich durchsetzen und die Arbeiterklasse zum Sieg führen werde. Die Zukunft ist dem Kapitalisten dunkel und voller Gefahren (»Herausforderungen« Alte Meister ist ein Euphemismus), dem Kommunisten ein hindernisreicher, aber vorhersehbarer Es wird nicht besser werden: Die großen Fernseh-Entertainer verlieren ihr Revier – und wir unsere Sofa-Helden VON IJOMA MANGOLD Lauf ins Glück. Der Kapitalist vermag es, die Kapitalverbrechen in moralisch-pädago- gischer Hinsicht zwar zu benennen (wo blei- s gehört zur kulturkritischen Lita- wehte hier ein Hauch von Ewigkeit. Das politische Die Unwandelbarkeit der Fernsehwelt war misses gehörte der Dreiklang aus Wetten, dass..?, ben die Reue, die Einsicht, das Bedauern?), nei, die Schnelllebigkeit unserer System war demokratisch und flüchtig, das Fern- auch für die ein Vorteil, die sich längst vom Fern- Harald Schmidt Show und Philosophischem Quar- dem stoisch-linken Platonismus weiß er Zeit zu beklagen. Doch gibt es ei- sehsystem monarchisch und ehern. sehen oder doch seinem Programmschema verab- tett. Solange für alle etwas dabei war, bildete das letztlich nichts entgegenzusetzen. Dieser ver- nen erstaunlichen Anker der Kon- Das Fernsehen als Konservierungsmedium schiedet hatten und sich stattdessen ihren Medien- Fernsehen die Gesellschaft als Ganzes ab. Selbst schließt sich elegant einer Gegenargumenta- tinuität: das Fernsehen. Entgegen wird mit dem Abschied von Harald Schmidt, Tho- cocktail im Internet zusammenmixten: Gerade die Philosophen bekamen ihr Plätzchen – ganz tion: Für Margot Honecker sind wir jene in seinem Ruf, institutionalisiertes mas Gottschalk, Peter Sloterdijk und Rüdiger Sa- wer den Fernseher nicht mehr einschaltete, wusste im Sinne von Harald Schmidt, der kürzlich sei- der unterirdischen Höhle Gefangenen, die an Dauerrauschen ohne Langzeit- franski endgültig vergehen. Noch 2004 erschien den Umstand zu würdigen, dass er nichts verpass- nen Zuschauern vorschlug, doch einmal die der Wand nur Schattenbilder erblicken. Der wirkung zu sein, war es sehr lange ein Medium der ein Buch der Genervtheit mit dem Titel Meine te. Es gab verlässliche Gesichter, auf die sich jeder »breiten Schenkel eines Buches« zu öffnen, und Kommunist allein hat von der köstlichen ETreue und der Anhänglichkeit. Auch wenn ständig Sonntage mit Sabine Christiansen. Heute, wo allein über Klassen-, Bildungs- und Lifestyledifferenzen sei es nur, um festzustellen: »Donnerwetter, so Frucht der Wahrheit gekostet, um den Preis Neues in der Welt geschah, blieben die Gesichter bei der ARD sich fünf Talkmaster abwechseln, hinweg beziehen konnte. Gottschalk war die sinn- viele Buchstaben hat unser Alphabet.« Mit die- allerdings, dass ihn alle für einen Verwirrten auf dem Bildschirm die alten. Der Rhythmus des wäre die beklagte Gleichschaltung der Bewusstsei- fälligste Verkörperung dieser Einheitsillusion, in sem Zynismus leistete auch Schmidt noch einen halten. Er aber weiß sehr genau um seine ein- Livetickers war nur in die Welt der Nachrichten ne nicht mehr denkbar. Damit geht aber auch das der Generationen und Schichten zu einem öffent- sozialen Integrationsakt, indem er die Verach- same Klarheit. eingezogen, in der Welt der Unterhaltung herrsch- wohlige Gefühl der Kontinuität zu Ende. Jetzt, da lichen Bewusstseinskörper verschmolzen. Das war tung für das Fernsehen selbst noch erfolgreich im Man muss sich Margot Honecker als te das Gesetz der longue durée, der langen Dauer. Günther Jauch nur noch ein Moderator unter vie- auch sein Anspruch, und nie hat er ihn dramati- Fernsehen unterbrachte. glücklichen Menschen vorstellen. So glück- Diese Epoche geht jetzt zu Ende. Selten gab es len ist und kein letztinstanzlicher Sinnvermittler scher zum Ausdruck gebracht als in jenem Ge- lich, wie sich kein Kapitalist im Alter denken in der Fernsehgeschichte so viel Abschied: Sat.1 mehr, dürfte er auch nicht mehr zum Bundesprä- spräch, das er mit Marcel Reich-Ranicki führte, er Preis für die longue durée dieser lässt. Dieser, zum dialektischen Denken un- trennt sich von Harald Schmidt und seiner Late- sidenten der Herzen ausgerufen werden. nachdem dieser die Annahme des Deutschen Gestalten war ihre radikale Ent- fähig, erblickt ja eines Tages, wie er von den Night-Show. Das ZDF verkündete das Ende für Fernsehpreises mit dem Hinweis abgelehnt hatte, wicklungslosigkeit. Schmidt und Jüngeren herzlos überrundet wird, da er vor das Philosophische Quartett mit Rüdiger Safranski m aus ihren Fernsehstars monar- das alles sei abscheulich niveaulos. Gottschalk konnten ihre Sender den allerneuesten Innovationen der Technik, und Peter Sloterdijk. Thomas Gottschalk kämpft chischen Trost zu ziehen, hatte die Mit Engelszungen sprach Gottschalk auf wechseln, ihre Rollen nicht. Und der Geschwindigkeit der Warenströme, der um die Rettung seiner Talkshow Gottschalk live. Öffentlichkeit vorauseilend alle Stei- Reich-Ranicki ein, um ihn in die Gemeinschaft Ddie Sender fügten sich lange Zeit darein, weil es körperlichen Ausdauer seiner Konkurrenten Und auch dass Johannes B. Kerner einmal der Igel ne aus dem Weg geräumt, über die der Gebührenzahler und in die Einheit der Ge- jeden Innovationsdruck von ihnen nahm. Dass kapituliert. Sein Glück ist die nostalgische unter den Moderatoren war, der auf jedem Sende- ihre Heroen hätten stürzen können. sellschaft zurückzuholen. Habe nicht schon im Gottschalk, der uns so lange wie ein milder König Verklärung der eigenen Lebensleistung, viel- platz immer schon da war, gehört bereits der Vor- UWährend jede Diätenerhöhung für Politiker Volkes alten Rom Seneca kluge Sätze gesagt, während regiert hat, nun mit wegbrechenden Quoten zu leicht noch die Religion oder aber, nicht sel- zeit an. So unterschiedlich diese Figuren, durch Zorn hervorruft, waren die Millionengehälter der der Plebs im Circus Maximus nur darauf gewar- kämpfen hat, hätten wir uns und ihm gerne er- ten, die Umnachtung. Von der Gegenwart ist ihre schiere Beharrlichkeit waren sie Identitäts- Stars (selbst wo sie von Zwangsgebühren bezahlt tet habe, dass die Löwen reinkämen? Mit dem spart. Aber Unterhaltung und Mitleid gehen nicht nichts zu erwarten, von der weltlichen Zu- stützen der Gesellschaft. Man musste sich nicht wurden) nie Gegenstand der Empörung. Harald pädagogischen Eros dessen, der einst Deutsch- zusammen. Er, der sich immer auf sein Gespür ver- kunft erst recht nicht. Der Alte des Westens überall auf Neues einlassen. Das ewig Jungenhafte Schmidt durfte sogar darüber witzeln, dass er deut- lehrer werden wollte, versuchte Gottschalk lassen konnte, wann die Masse weiterzappt und ist immer der Unzeitgemäße. Gottschalks drückte das vollkommen aus. lich mehr Millionen verdiene, als er Zuschauer Reich-Ranicki zu einem Kompromiss zu gewin- wann sie bleibt, ist plötzlich ein König ohne Land, Der alte Kommunist aber, dialektisch Man kann sich über das Phänomen gar nicht habe. Nicht nur im Vergleich mit Politikern haben nen, der zwischen der Masse und der intellektuel- verlassen von seinen Zuschauern. Es ist ein wenig geübt, weiß, heute zumal, sehr genau: Er genug wundern. Es war, als ob die Gesellschaft ihre Fernsehstars überraschend skandalfreie Lebensläu- len Elite vermitteln sollte. Als aber Marcel Reich- wie am Ende der fast 70-jährigen Regierungszeit lebt in einer Zeit der aufgeschobenen Revo- ganze Sehnsucht nach Kontinuität in die Fernseh- fe. Es ist völlig unwahrscheinlich, dass das nur mit Ranicki meinte, dann solle doch bitte der große von Kaiser Franz Joseph I.: Man weiß um den Re- lution. Der letzte Kommunist ist immer gesichter projizierte. Die Fernsehstars wurden zu ihrer charakterlichen Superiorität zu tun hat. Die Unterhaltungsautor Shakespeare fürs Fernsehen formstau, man weiß, dass das Reich auseinander- auch Kommunist der ersten Stunde. Sein Gegenfiguren der Politik. In der Politik herrscht Öffentlichkeit gewährte ihnen einen Raum, in verfilmt werden, schüttelte Gottschalk verzagt- fallen wird, aber man denkt mit Rührung an den Glück ist die Klarheit, die zur Steigerung das Amtsprinzip, also die verlustfreie Ersetzbarkeit dem moralische Fehltritte nicht vorgesehen waren. verzweifelt den Kopf. Bei aller Liebe, das war un- Charme der Anachronismen zurück. Denn eines seiner Zufriedenheit alle anderen für eine des Amtsträgers. Im Fernsehen aber gönnte sich Thomas Gottschalk schmiss nicht zufällig Wetten, realistisch. Es machte aber Gottschalks Größe ist klar: Es wird nicht besser werden. Man kennt ja Verblendung halten. Der Welt gezeigt zu die Gesellschaft die Illusion der Unersetzbarkeit. dass..? in dem Moment, in dem seine Unbeschol- aus, dass er sich vornahm, den Circus Maximus seine Pappenheimer. haben, dass sie mit sich im Reinen ist, ist Während Politiker in immer kürzeren Rhythmen tenheit, ja die moralische Unangreifbarkeit des zwar ohne Shakespeare, aber auch ohne Löwen Margot Honeckers später, verachtenswer-

Illustration: Thomas Kuhlenbeck für DIE ZEIT/Agentur Fricke; Rahmen: DZ für Rahmen: DIE ZEIT/Agentur Fricke; DZ Illustration: Thomas Kuhlenbeck über immer marginalere Verfehlungen stürzten, Formats in Gefahr war, zweifelhaft zu werden. zu rocken. Zu der Idee eines solchen Kompro- www.zeit.de/audio ter Triumph. ADAM SOBOCZYNSKI DIE WIESE 52 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON

MURMELN IM THEATER italienischen Schulcurricula verbannt. Ghe- rush92, die immerhin die UN in Menschen- rechtsfragen berät, wurde daraufhin von zahl- Von der Rolle reichen italienischen Intellektuellen kritisiert. Man könne, so der Tenor, die Political Cor- Der Regisseur Herbert Fritzsch macht in seiner rectness auch zu weit treiben. Und in der Tat: jüngsten Produktion nicht viele Worte, tat- sächlich braucht dieser Theaterschelm nur ein einziges, aus dem sich durch konsequente Wie- derholung ein amüsantes Stündchen ergibt. Anlässlich der deutschen Erstaufführung von Dieter Roths Bühnenwerk Murmel, Murmel an der Volksbühne in Berlin drucken wir hier exklusiv einen repräsentativen Auszug: »Murmel. Murmel! Murmel? MURMEL MURMEL MURmel. murmel ... muRmel, Murmél! Mur- mel, Murmel, Murmel, MURMEL! ... Mur- Endlich Schwung in der mel?« Das Publikum war sich der Einzigartigkeit ARCHITEKTUR Betonbude – Fotomontage des Erlebten bewusst und reagierte angemessen: von Victor Enrich mit Gemurmel im Parkett. NINA MAY Wenn Hochhäuser Handstand üben So sieht sie also aus, die endgültige Freiheit. Nichts geblendet (victorenrich.com). Seine Bilder kur- ein neues, aufgekratztes Leben. Das sieht man DANTE POLITISCH KORREKT hält mehr, alles wird beweglich, selbst die Häuser sieren gerade im Internet, lauter Ansichten aus gern, und gruselt sich doch. Denn es wird wohl versuchen sich im Handstandüberschlag oder sa- einer digital entfesselten Welt, in der sich Hoch- nicht lange dauern, bis sich irgendein reicher In- cken müde in sich zusammen, weil ihnen gerade häuser blumengleich gen Himmel öffnen, Balko- vestor für all die schönen Ideen begeistert – und Höllische Komödie Würde man die NGO beim Wort nehmen, danach ist. Bislang gibt es diese Freiheit zwar nur ne zu gigantischen Rutschen mutieren und Brand- sie plötzlich in Barcelona, Rio oder Hamburg aus die Konsequenzen wären fatal. Verantwor- im Computer, doch der spanische Architekt und schutztreppen plötzlich ihre ganz eigenen Wege der Baugrube wachsen. Unsere Städte aber leiden Einer gewissen KKomikomik ent- tungslos wäre es fortan, den Schülern die Photoshop-Künstler Victor Enrich hat sie schon gehen. Die Architektur macht mobil, und noch ja nicht unter zu wenig Einfällen. Sie leiden unter behrte sie nicht, die De-De- Lektüre des vulgären Shakespeare zuzumu- einmal in die Wirklichkeit unserer Städte hinein- der tristeste Bürohausriegel gewinnt bei Enrich zu vielen. HANNO RAUTERBERG batte, die sich unlängstlängst in ten. Goethes Faust strotzt nur so vor Sexis- den italienischen MedienMedien men, und auch der laszive Racine müsste der um die Göttliche KomödieKomödie Zensur anheimfallen. Stattdessen würden entfachte. Dantes berühmtesberühmtes sich die eifrigen Zöglinge wohl in die mora- Werk, so hatte diee Nichtregie-Nichtregie- lisch weniger verdächtige Lyrik Friedrich KULTURKAMPF IM WDR In besseren Zeiten wäre der Kulturradiokampf hotel und Luxusbungalows in Ras al-Chai- rungsorganisation Ghe-Ghe- Schillers vertiefen und sich durch die Dramen ein Thema für das Kritische Tagebuch gewesen. ma in den Vereinigten Arabischen Emiraten rush92 befunden,n, sei etwa eines Johann Christoph Gottsched quä- Doch die Sendung gibt es nicht mehr, der fertig werden. Der Verein setzt auf sein sym- antisemitisch, rassis-assis- len. Dante müsste man dann in der Tat nicht »Einschüchterung« WDR hat sie abgeschafft – im Zuge einer Pro- bolisches Kapital, um den fußballverrückten tisch und homo-o- mehr in sein Inferno folgen. Der politisch grammreform. THOMAS ASSHEUER Scheichs das Geld aus der Tasche zu ziehen. phob und gehöre korrekte Literaturunterricht wäre Hölle auf Im gemütlichen Köln tobt ein Krieg ohne Und damit das auch ja klappt, warten sie daher aus den Erden genug. ALEXANDER PLESCHKA Schlacht. Der WDR will sein Hörfunk-Kul- jetzt schon mit einem Begrüßungsgeschenk turprogramm reformieren, zum vierten Mal auf: Aus Rücksicht auf die Gefühle des innerhalb von zehn Jahren (ZEIT Nr. 11/12). FUSSBALL UND RELIGION Gastlandes werden die stolzen Spanier im Nicht nur viele Hörer befürchten einen Ni- Luxusresort ihr Wappen modifizieren – das veauverlust des Senders, auch Redakteure und kleine Kreuz, das bislang als Krönung auf WÖRTERBERICHT WDR-Mitarbeiter üben Kritik und haben der Weg mit dem Kreuz der Krone thront, dieser Fingerzeig der Intendantin Monika Piel einen besorgten Brief kulturellen Herkunft, soll wegretu- geschrieben. Wie die Initiative »Die Radio- Wer sich einen positiv konnotierten schiert werden. Während wir noch Realisieren retter« berichtet, soll ihnen dieses Schreiben Markenkern aufgebaut hat, kann mit grübeln, wie es zu diesem voraus- nicht gut bekommen sein, die Rede ist von seiner Repu ta tion dolle Dinger ma- eilenden Gehorsam kommen konnte Spricht ein Bürgermeister davon, »Bauvor- Tatsache ebenso wie in die entgegengesetzte »Einschüchterungsversuchen« und Repressio- chen. Das jüngste Beispiel: Real (es hatte sich bislang ja noch nie- haben zu realisieren«, meint er: Nun wird Richtung, von der Wirklichkeit ins Bewusstsein: nen. Die Fernsehdirektorin Verena Kulen- Madrid. Als weltweit erster Fuß- mand ernstlich über das Kreuz gebaut. »Realisieren« ist ein graues Verwal- Bricht bei des Bürgermeisters Bauprojekt das kampff habe die Namen aller renitenten ballverein legten die Königlichen beschwert), fragen wir uns: Wo tungswort, abzulegen hinter »Budgetkür- Dach ein, muss er das erst einmal – realisieren. FS-Redakteure auf einer Leitungskonferenz vor- in der vergangenen Woche den bleibt eigentlich der spanische zungen« und »Machbarkeitsstudien«. Aber Ein Wort für zwei sich entgegenstrebende Bewe- gelesen und deren Vorgesetzte aufgefordert, den Grundstein für den Bau eines Thilo Sarrazin, der jetzt, da in der Aktenmappe schimmert doch etwas gungen, von der Welt der Ideen in den Alltag und Aufständischen ihre Missbilligung auszurichten. Luxusresorts – 2015 soll die selbst der Fußball vor dem Islam platonischer Glanz. Denn zwischen Ideen- zurück – in Verwaltungssprache übertragen hieße Der WDR will davon nichts wissen und erklärt »Real Madrid Resort Island« mit kuscht, den Untergang des Abend- welt und Wirklichkeit schlägt das »Realisie- das wohl bloß: Begriff in beide Richtungen be-

Fotos: Victor Enrich (4); [M] Zoonar RF/Getty Images; Abb.: ddp (u.l.); [M] C.E. Wagstaff/ddp RF/Getty Images; Abb.: (4); [M] Zoonar Victor Enrich Fotos: auf Anfrage: »Wir weisen die Vorwürfe zurück.« Stadion, Vereinsmuseum, Fünfsterne- landes ausruft? KILIAN TROTIER ren« gleich zwei Brücken. Von der Idee zur fahrbar. CATHARINA KOLLER FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 53 Here she comes Sexy? Witzig? Klug? Alle Vorurteile über Helen Mirren stimmen. Ein Treff en mit der Queen des britischen Kinos, deren neuer Film jetzt zu uns kommt: »Hinter der Tür« VON SUSANNE MAYER

Nichts könnte das Erstaunen, die grenzenlose Er- wie sie von dieser Generation erfahren wurde, es ist leichterung beschreiben, die einen beim Auftritt von eine Erfahrung, die über meine Generation hinaus Helen Mirren durchrieselt. Here she comes! Der Rü- geht und vielleicht sogar über ihr eigenes Verste- cken gerade. Das weißgoldene Haar am Hinterkopf hen. Also musste ich in diese sehr dunkle Welt von hochgesteckt. Stirn, Nase, Kinn – eine vollkommene Emerenc hineingehen. Und dann, nachdem man Linie. Sie trägt ein tief dekolletiertes Top zu einem den Hintergrund und die Psychologie der Person Tulpenrock aus grauem Flanell, sie kommt auf High erforscht hat und wieder auftaucht, dann ist da Heels, über die Leopardenfell wuchert, sie schwebt diese einfache, direkte Person mit tiefen Gefühlen durch ihr Publikum der Bühne zu, sie setzt sich, und von Stolz. Würde. Und einer großen Stärke. man kann den Ansatz ihrer Brüste sehen. Dame ZEIT: Wenn man aus dieser Tiefe wieder hervor- Helen Mirren, geboren 1945, geadelt 2003, Com- kommt – ist man auch innerlich eine andere? mander of the Order of the British Empire. Mirren Mirren: Ja. Es ist dieses Gefühl von Bloßgestellt- lächelt ein rotes Lipglosslächeln, keinen Wimpern- sein. Kein Make-up, keine Möglichkeit, sich zu schlag lang sieht sie aus wie Emerenc, es wirkt fast so, verstecken, keine Verstellung. Es fühlt sich pein- als wolle sie uns versichern, dass sie im wirklichen lich an. Vermutlich hat sich Emerenc so gefühlt. Leben kein bisschen so aussieht wie diese Kreatur, die Ich fand es schwierig, mich so zu sehen. sie in dem Film Hinter der Tür von István Szabó spielt, der hier in Berlin Premiere hat, mit Mirren als eine Der Film ist eine Abfolge von behutsam nebenei- vom Schicksal grau geschleuderte Person, eine Haus- nandergesetzten Szenenbildern, getaktet durch das hälterin im Budapest der sechziger Jahre. Auf- und Zuschlagen von Türen, das Fegen der Der Film folgt einem Roman der ungarischen Straße, ein böses Hin und Her des Besens, das Auf- Autorin Magda Szabó (1917–2007). Hinter der einanderprallen zweier starker Frauen. Es ist das Tür (Suhrkamp Verlag) ist eine Erzählung über zweite Mal, dass Mirren eine Haushälterin spielt, in Distanz und Nähe zwischen zwei Frauen, einer Robert Altmans Gosford Park gibt sie eine Frau, die Romanautorin Magda, von Martina Gedeck vo- die Dienstboten eines Landsitzes so eisern im Griff 005 luptuös gespielt, und ihrer Hauhälterin Emerenc, hat wie ihre Gefühle von Enttäuschung, Mutterlie- einer Alten in Kittelschürze. Der Film konzentriert be, Hass. Emerenc ist noch extremer als Figur, alles sich auf Emerenc, die im Schatten einer Schuld scheint in ihr verknotet. Mirren holt genau das mit lebt, vor der sie sich versteckt, unter Kopftuch und minimalen Veränderungen der Gesichtszüge, der Kittel, sie ist eine hart wirkende, innerlich bro- Blicke behutsam aus ihr heraus. delnde, furchterregende Person. Was man von Emerenc sieht, ist das Gesicht. Ausdruck: wie ver- ZEIT: Die Frau steht unter Verdacht. Man weiß stummt. Mimik: minimal. Welche Herausforde- nicht, hat sie im Krieg das Kind der Juden gerettet, rung! Für eine Schauspielerin wie Mirren, die alles ihr Geschirr gehortet oder gestohlen. Mussten Sie geben muss, um dieser Gestalt Kontur zu geben. in sich die Zwiespältigkeit auflösen, um sie zu sein? Unter der Regieanweisung: nicht spielen! Mirren: O absolut. Er habe, sagt der Regisseur István Szabó, der ZEIT: Absolut in welche Richtung? mit seinem Film Mephisto 1981 einen Oscar ge- Mirren: Emerenc ist eine Heldin. Im Buch finden wann, er habe Mirren immer wieder gesagt: nur Sie eine Passage, in der sie einen Widerstandskämp- leben! Szabó: »Nur sie kann das. Helen Mirren fer versteckt, der vor den Nazis flieht. Später, als die kann alles, was sie will. Sie ist ein Mensch ohne fliehen, versteckt sie einen Nazi. Sie hilft einfach Angst. Sie ist eine präzise Schauspielerin, aber es Leuten, die in Not sind. Sie ist vollkommen unpo- sind vor allem Haltung und Würde, mit denen sie litisch. Politik ist für sie so unnütz wie Religion. spielt. Wir sehen es nicht, aber wir spüren es.« ZEIT: Ihre Arbeitgeberin will sie in die Kirche Helen Mirren hat ihre Kunst bei Shakespeare schleppen, Emerenc sagt: »Ich war im Krieg, ich gelernt. Als sie 20 war, wurde sie das bis dahin habe gesehen, was Gott macht.« jüngste Mitglied der Royal Shakespeare Company. Mirren: Alles steckt in diesem Satz. Emerenc hat Helen Mirren war Kleopatra und Ophelia, sie war die Empfindsamkeit eines Tiers, es geht ums Über- Julia und Cressida, sie gilt als eine der großen leben. Du tust, was nötig ist. Wie ein Hund. Shakespeare-Interpretinnen, Julie Taymor hat vor zwei Jahren die Hauptrolle im Sturm für Mirren Das Animalische ist nichts, was man mit Helen von männlich Prosperus in Prospera umschreiben Mirren verbindet, will man Erotik nicht mit dem lassen. Mirren beherrscht das Repertoire, das der Animalischen gleichsetzen. Was sich verbietet bei größte Dichter aller Zeiten für die Frauen aufgefä- ihrer Finesse, der Schönheit, dem Witz. In ihre chert hat, die herzzerreißenden Monologe, das Ver- Autobiografie In the Frame (2007) hat Mirren Fo- zücken von Verliebtheit, die Tiefe des Leidens, den tos der frühen Mirren geklebt. Ein Mädchen mit © Piffl 2 © Granada Screen Medien; Mirrorpix/Bullspress; Getty (v.l.n.r.): Images; kl. by Fotos 2011 Jake Walters/Contour Foto: Zugriff des Wahnsinns. Sie hat Racines Phädra ge- schulterlangen Locken, im Schneidersitz unter in- Helen Mirren, London 2011 geben und John Websters verzweifelte Herzogin dischen Wandgehängen. Mirren im Lederkorsett. von Malfi. Sie hat für Peter Brook vor Nomaden in Eines zeigt sie als glitzernde Körperlandschaft, die Helen Mirren der Sahara experimentelles Theater ausprobiert, sie aus einer weißen Emulsion ragt. Eselsmilch? war jahrzehntelang Detective Chief Inspector Jane Es gab eine Zeit, in der wenige Leute davon ab- wurde am 26. Juli 1945 in London geboren Das Schönste passierte: Die legendäre Royal »The Long Goodbye«, sie spielte in »Cal« und Tennison in der Kultserie Prime Suspect und hat sehen konnten, mit Helen Mirren als erstes über als Tochter einer englischen Arbeiterin Shakespeare Company nahm sie 1967 »Caligula«, sie war 16 Jahre lang Jane Tennison, sich gegen Prostitution, Pädophilie, Einsamkeit ihren Sexappeal zu reden. Ein Highlight das legen- und eines russischen Emigranten namens in ihr Ensemble auf, sie gilt bis heute als Kriminalinspektorin der Metropolitan Police, und Alkohol gestemmt. Sie war ein »Calendar däre Michael-Parkinson-Interview von 1975. Mir- Vasily Petrov Mironov. Eine Familie mit drei eindrucksvolle Shakespeare-Interpretin. in der Kultserie »Prime Suspect«. Für ihre Girl«, nackt hinter der Saftpresse, sie war Elizabeth ren hatte noch die Prallheit einer reifen Kirsche, Sir Kindern, von finanziell beschränkten Ihr Erfolg im Film ist legendär – ihr Darstellung der Elizabeth of Windsor in »The of Windsor im grünen Kaschmir-Twinset, sie war Michael lehnt sich also zurück und fixiert das junge Mitteln, aber großer Diskussionsfreude. Publikum kennt sie aus Robert Altmans Queen« (2006) gewann sie den Oscar. die Queen. Und jetzt: nicht schauspielern …? Wesen, das seine Finger spielerisch über eine lange Wir sitzen uns in ihrem Hotel gegenüber, welch Feder gleiten lässt und sagt: »Sie werden beschrie- ein Strahlen, ist es gespielt? Oder echt? ben als die Sex-Queen der Royal Shakespeare Com- pany. Sie haben diese – Ausstattung ...« machen ja Bilder, auf denen sie furchtbar aussieht, Frisur. Sie hat ihre Füße fest auf dem Boden, ihren Mirren: Ich bin ein Kind des europäischen Sozialis- DIE ZEIT: Wieso sind Sie nicht geflohen vor Eme- Mirren hebt ihre kleine Hand, sie lässt sie in der schlecht gelaunt, andere, wie Annie Leibovitz, Hut auf dem Kopf, ihre Handtasche am Arm, und mus. Ich konnte auf die Universität gehen, ich renc, dieser unmöglichen, harschen Rolle? Luft verweilen – und sagt: Meinen Sie – Finger?« lassen sie wunderbar aussehen, neulich wurde sie sie hat viele Stürme überstanden. Ich verbeuge habe eine Ausbildung als Lehrerin, alles bezahlt Helen Mirren: O, ich weiß. Leute haben mich ge- 1 164 184 Aufrufe auf YouTube. f o to grafiert mit der Krone auf dem Haupt und ge- mich vor ihrem Mut und ihrer Beständigkeit, und vom Staat. Anders wäre es nicht gegangen. Und es warnt, im Stile von »Ob das so eine gute Idee ist?« Mit Frauen kann Mirren in Sekunden diese schlossenen Augen, sehr schön. Sie ist offen. Viel- ich danke ihr, ohne sie wäre ich nicht hier.« war genau diese, meine Generation, in der diese Vermutlich dachten sie, ich sollte große Filme ma- Freundinnen-Nähe herstellen. Unnachahmlich ihr leicht, weil sie weiß, nichts hat Bestand ... In ihrer Autobiografie schreibt sie, dass sie in Explosion im Theater, in der Literatur, im Journa- chen. Aber ich liebe kleine, interessante Filme. Post-Oscar-Auftritt 2007 in der Oprah Winfrey Show, ZEIT: Als Sie den Film The Queen machten, wa- der Queen jene Elterngeneration verehre, die ihr lismus, auch in der Geschäftswelt stattfand ... ZEIT: Woher weiß man, was im Herzen einer al- Oprah zwitschert erwartungsgemäß etwas von »die- ckelte ihr Thron. Diana war tot, und die Monar- Leben an harter Arbeit und Pflicht orientiert habe. ZEIT: … und die Tochter des Krämers konnte ten, verbitterten Frau vorgeht, in Ungarn, vor 50 sem herrlichen Kleid von Lacroix«, und Helen flötet, chie schien am Ende. Womöglich hat Ihre Dar- Sie ist eine Vatertochter. Der Vater ein gebilderter Premierministerin werden. Jahren, inmitten des Kommunismus? »O, ich habe es mitgebracht!« Oprah holt tief Luft, stellung sie gerettet? Es war doch merkwürdig: Exilant, Taxifahrer. Die Mutter Textilarbeiterin. Mirren: Man muss sich in sie hineinbohren – und schon senken sich beide die Köpfe über diesen Traum Niemand kennt die Queen, dann spielen Sie die Ihre Eltern begegneten sich 1939 in dem, was Mir- Sie hat viele große Rollen gespielt, aber es sind ge- am anderen Ende wieder herauskommen. Es geht aus fleischfarbenem Tüll und Spitze, Helen sagt, man Queen, und alle denken: Genau so ist sie! ren, mit Furor, als »eine klassenbesessene Ge- rade auch die kleineren, die sie beherrscht wie sonst um dieses Wiederherauskommen. Ich habe viel müsse es nach innen drehen, hier, diese Nähte!, und Mirren: Ja. Ich glaube, das stimmt. sellschaft, eine arrogante und fremdenfeindliche, nur Judi Dench, die wie sie eine ganze Handlung in ZEIT: Sie gehen wie die verkochtes Rindfleisch mit Kohl essende Welt« be- einer Nebenrolle fokussieren kann. Ida in Brighton Queen – sogar mehr so schreibt. Die Mirrens waren so arm, dass im Win- Rock etwa, Ida mit ihren roten Lippen und zu wie die Queen. Ob sie ter das Eis innen an den Fenstern hing. Aber das viel Mascara, die auf dem Pier über dem Meer das amüsiert hat? Leben war reich an Diskussionen und Gelächter, ein Café betreibt, die um ihre Tochter kämpft, Mirren: Ich meine, wis- noch heute ist sie ein Familientier, wechselnd zwi- Vorlage: Graham Greene. Caroline in The Comfort sen Sie, nie habe ich schen England und ihrer neuen amerikanischen of Strangers, Skript: Harold Pinter, Vorlage: Ian eine Rückmeldung aus Familie mit dem Regisseur Taylor Hackford. McEwan, Caroline, die sanfte Gattin eines Exilanten dem Palast bekommen, in Venedig, man hört ihr dunkles, unverschämtes so etwas wäre undenk- ZEIT: Blair ist im Film The Queen eine große Lachen und ahnt: Alles ist jetzt möglich. Eine bar. Nicht im Entfern- Hoffnung. Jetzt ist in Afghanistan der 400. briti- furchtbare Drohung. testen hätte ich damit sche Soldat gefallen. Der Sozialstaat ist am Ende. gerechnet, irgendeinen Millionäre geniessen Steuerentlastungen, die Ren- ZEIT: Sie spielen jetzt viel diese älteren Frauen, de- Helen Mirren als Emerenc (links) in »Hinter der Tür«. Ob als junge Frau oder strenge Queen – ihr Zauber wirkt Kommentar zu hören. ten werden geschrumpft. Was wird aus England? ren Silhouetten unter dem Druck der Jahre, von ZEIT: Aber ein klitze- Mirren: Die ganze Welt durchlebt eine traumati- Überforderung oder seelischer Erschöpfung, nach- kleiner Hinweis ...? sche Phase. Den Zusammenbruch vielleicht des geben. Oft sind diese Figuren älter als Sie, die Sie gelesen. Geschichte Ungarns, Zweiter Weltkrieg. Oprah macht Ohs und Ahs, und Helen sagt, unter so Mirren: Ich wurde eingeladen, zum Dinner in den Kapitalismus. Wir sitzen alle in einem Boot ... mit über 60 nicht älter als 50 wirken. Was ist das Und nachgedacht, vor allem nachgedacht. Ich habe einem Kleid brauche man keine Unterwäsche, man Palast. Und zum Tee. Es hat mir alles bedeutet. Es ZEIT: Nun, Sie können in England durch pastorale für ein Gefühl? ja öfter im Osten gedreht, in Prag, in Vilnius ...… könne einfach nackt sein ... Publikumsgekreische! bedeutete, dass man im großen Ganzen einver- Landschaften fahren – oder sich in den abgefackel- Mirren: Man muss sich mit dem Alter versöhnen, ZEIT: ... in Vilnius standen die Sets für Tudor In ihrer Berliner Hotelsuite schwärmt Mirren standen war. Ein unglaubliches Kompliment! ten Straßen von Hackney wiederfinden. Was haben es bleibt einem nichts anderes übrig. England, in denen Sie Elisabeth I. spielten ... übrigens mit nicht minderer Wärme von Emerenc’ ZEIT: O je! Sie haben sich in sie verknallt! Allen Sie beim Aufstand der Armen empfunden? ZEIT: Oft wurde gejammert, es gäbe für reife Frau- Mirren: Ja. Wann immer ich in diesen Ländern Schnürschuhen, ich sage, es seien Klumpen wie passiert das. Neulich war ein Bekannter im Buck- Mirren: Ich finde es schwierig, dass Leute plün- en keine Rollen. Werden nun diese tapferen, älte- bin, besuche ich alte Friedhöfe, Orte, an denen Sy- die, die mein Vater von seinem Vater erbte, wir la- ingham Palace eingeladen, kaum hörte er dieses dern, weil sie meinen, ihnen stünde ein Fernseher ren Frauen, die Sie spielen, uns ein neues Bild er- nagogen standen oder Konzentrationslager. Ich chen, wie lange das her ist, dass Schuhe so lange Bup-Bup-Bup, bevor das Corgi-Rudel um die zu. Ich bin in einer anderen Welt groß geworden. wachsener Weiblichkeit geben, uns inspirieren? wurde nach dem Krieg geboren, aber ich habe das hielten, dass man sie vererben konnte! Ecke stürmt, schon war es um ihn geschehen. Wir hatten genau ein Paar Schuhe und ein Kleid Mirren: Nein. Ich habe es immer gesagt: Macht Gefühl, Geschichte liegt in meiner DNA. Mirren: Wirklich! O wie wunderbar! Wie gemein, und einen Teddybär, und nicht Hunderte auf dem euch keine Sorgen über Rollen für Frauen. Macht ZEIT: Geschichtlich gesehen sind Sie die vermut- ZEIT: Wie war es, in die Schuhe der Queen zu stei- also das habe ich nicht erlebt, ich bin so neidisch ... Bett im Kinderzimmer. Ein Teil von mir dachte: euch Sorgen über die Rolle der Frau im wahren lich glamouröseste Urenkelin eines russischen Gra- gen? Für das Kind eines verarmten Emigranten, ein Das ist alles kopflos und dumm. Selbstzerstöre- Leben. Wenn wir endlich sehen, dass Frauen fen,eine geborene Ilyena Vasilievna Mironov, … Arbeiterkind? Wie war es wohl für die Queen? Über die Queen sagte Mirren in ihrer Oscarrede: risch. Trotzdem: Es ist auch eine Botschaft. dort die großen Rollen spielen, dann wird es Mirren: (lacht) Es ist wichtig, die Erinnerung nicht Mirren: Die Queen ist sehr generös. Elizabeth II »Fünfzig Jahre und länger hat Elizabeth von Wind- ZEIT: Aber welche? Wie haben Sie aus der Armut auch im Theater so sein, denn die Kunst spiegelt loszulassen. Es geht um die Geschichte Europas, so, erlaubt Künstlern zu tun, was ihnen beliebt. Einige sor ihre Würde bewahrt, ihr Pflichtgefühl und ihre herausgefunden, was hat Ihnen geholfen? das Leben. 54 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON

In einem Brandbrief geißeln 51 »Tatort«- Wir werden Autoren die Umsonstkultur im Internet und eine verfehlte Urheberrechtspolitik. Ein Gespräch mit dem Unterzeichner enteignet! Jochen Greve © Fünf Minuten lang wütete der Autor und Musiker Greve: Wir wollen in eine Diskussion über die Ge- fälligst Nach Greve: Ein Großteil der Urheber arbeitet in einem Sven Regener kürzlich im Radio gegen Google, You- staltung des Urheberrechts miteinbezogen werden, arm zu diesen Bereich, in dem man viel Geld benötigt. Fun- Tube und alle, die die Rechte von Künstlern gering- denn die Netzgemeinde ist nicht die ganze Welt. sein hat. Tenden- draising kann Kunstformen wie Theater, Oper schätzen – damit begann die neuste Runde im Streit Der Chaos Computer Club argumentiert, Urheber Es ist wohl zen müs- oder Film, die schon immer viel Geld gekostet ums Urheberrecht: 51 Tatort-Drehbuchautoren ver- könnten im Netz Geld verdienen. Klar! Aber für eine deut- sen wir uns haben, nicht am Leben erhalten. Es geht nicht öffentlichten einen Brief an Grüne, Piraten, Linke einen Journalisten oder Softwareentwickler ist das sche Tradition, Gehör ver- anders, als dass die Kunst-Industrien eigenes und die Netzgemeinde, in dem sie »die millionen- einfacher als für einen Opernlibrettisten. Unsere Kultur nicht ernst schaffen, und es Geld verdienen, das dann zurückfließt. fache illegale Nutzung von urheberrechtlich ge- Bedürfnisse werden kaum oder gar nicht berück- zu nehmen. funktioniert – es ZEIT: Und was für langfristige Folgen hat die schützten Inhalten« brandmarken und mit »Lebens- sichtigt, und das nur, weil eine in den letzten Jahren ZEIT: Wenn man zum wird diskutiert. Umsonstkultur, die Sie anprangern? lügen« der Netzgemeinde aufräumen. Eine Antwort entstandene Umsonstkultur legalisiert werden soll. Beispiel an den Shitstorm ZEIT: Werden Tatort- Fol- Greve: Teile der Volks-, Straßen- und Internetkul- folgte prompt: Als »Opfer des Verwertungs- Frei darf nicht gleichgesetzt werden mit kosten- denkt, den kürzlich die Wutrede gen häufig urheberrechtsfrei wei- tur funktionieren ohne Geld. Was aber am meis- systems« bezeichneten 51 Hacker vom Chaos und rechtefrei. Daher auch der Furor der Antwor- des Musikers und Autors Sven Regener terverwertet? ten im Netz hochgeladen wird, sind Produkte ei- Computer Club die Kreativen und riefen ihnen zu: tenden: Man fühlt sich ertappt. Die Menschen ausgelöst hat, fragt man sich, warum der Ton Greve: Der illegale Download findet seit 15 Jah- ner extrem hoch entwickelten Kultur, in der hoch Wir stehen doch auf einer Seite gegen die großen wissen: Was sie fordern, ist nicht ganz koscher. An- der Debatte so ausufert. ren statt. Die Leute, die diese Kultur entwickelt spezialisierte Leute arbeiten, die so kaum noch Rechteinhaber, die Künstler nur ausnutzen. ders kann ich mir diese Reaktionen nicht erklären. Greve: Weil wir Autoren jahrelang versucht ha- haben, würden sie gerne in die Gegenwart retten von ihrer Kunst leben können. Nicht die regiona- ZEIT: Was haben Sie sonst für Reaktionen erhalten? ben, mit jedem zu reden, der uns zuhören woll- und dafür vieles andere beschneiden. Sie propa- le Kunst, die unseren Reichtum hier in Europa DIE ZEIT: Herr Greve, warum beginnen die Künst- Hat sich die Piratenpartei geäußert? te, aber nichts passiert ist. Stattdessen wird der gieren ein Geschäftsmodell, mit dem am Ende ausmacht, wird übrig bleiben, sondern die Spitzen ler erst jetzt, sich in der Urheberrechtsdebatte zu Greve: Einige Piraten haben aus Berlin ein Ge- Begriff des geistigen Eigentums erodiert und soll amerikanische Großkonzerne ein Vermögen ma- der amerikanischen Film- und Musikindustrie. positionieren? sprächsangebot gemacht, aber bei denen, die sich jetzt Immaterialgüterrecht heißen. Künstler wer- chen, ohne uns Urhebern unseren Anteil ab- Und am Ende wird dann auch das Netz zusam- Jochen Greve: Wir sind bereits seit Langem politisch mit Netzthemen befassen, stößt man schnell auf den herabgewürdigt und enteignet, indem man geben zu müssen. Eine Verkürzung der Schutz- menbrechen. Ich als Drehbuchautor darf das viel- unterwegs. Das Leidensmaß ist voll. Das geistige Ei- Granit. Ich nehme an, dass diese Generation nach Begriffe umwidmet. Es heißt auch nicht mehr fristen bedeutet zum Beispiel nicht, dass Filme leicht so apokalyptisch weiterführen. Am Ende ist gentum wird immer mehr infrage gestellt, und nach dem Motto »Geiz ist geil« sozialisiert wurde und Inhalt sondern Content. Ich werde also zum umsonst laufen, sondern nur, dass wir Schöpfer nichts mehr da, was man herunterladen kann, den Wahlsiegen der Piraten äußern sich auch die darum so seltsam Manchester-kapitalistische und Content-Lieferanten und bin kein Schriftsteller nichts einnehmen. Nur noch der Sender verdient weil es niemanden mehr gibt, der etwas Relevan- großen Parteien immer schwammiger. Wir brauchen eigentlich ganz unmoderne Ansprüche stellt. Über mehr. Auch wie die Netzgemeinde immer das oder YouTube, weil sie sich weigern, für Clips, an tes erschafft. Wir müssen klarmachen: Kultur hat dringend eine Reform des Urheberrechts, mit der der die Hälfte aller Reaktionen, die wir bisher be- Copyright anzuführen ist ein Problem. Das denen sie viel Geld verdienen, zu bezahlen. einen Wert! Urheber etwas anfangen kann. kommen haben, sind herabsetzend. Heute lese Copyright ist das Recht auf Kopie. Unser Recht ZEIT: Kann Fundraising den Künstlern ein Aus- ZEIT: Wie geht es jetzt mit der Debatte weiter? ich zum fünften Mal, dass ein wahrer Künstler ge- heißt Urheberrecht, das Recht des Urhebers. kommen schaffen? Das Gespräch führte JULIA DAUMANN

Alles sehr kalt hier Andrea Breths und Daniel Barenboims mitleidlose Interpretation von Alban Bergs »Lulu« in Berlin VON WOLFRAM GOERTZ

ie Besetzungsliste der jüngsten und so weitet sich der Abend zum multiplen Er- die Sogkraft des Hingangs gelegentlich ins Ko- Berliner Lulu-Premiere erlaubt es, lebnis. Wenn die Musik tätschelt, packt die harte mische. Wo alles verfällt – Männer und Räume, von einem G-5-Gipfeltreffen des Hand der Breth zu. Sie lässt nichts durchgehen. Begierden und Träume –, darf Ironie durch- modernen Musiktheaters zu spre- Lulu ist eine elegante Hündin, der sie die Seele schimmern. Lulu kennt die Eifersuchtsdebatten chen. Es treffen zusammen: Da- zerschossen haben, bevor sie zur Dressur ins der Männer um sie herum zur Genüge, einen nielD Barenboim, der skeptische Weltbürger am Tierheim kam. Jetzt, bei den vielen neuen Besit- dieser Dialoge zwischen eifersüchtigem Ehe- Pult. Andrea Breth, die ruhelose Ausleuchterin zern, brechen die alten Reflexe auf. Wenn sie mann und offensivem Bewunderer kann sie in der menschlichen Seele. Erich Wonder, der ab- kokettiert und tänzelt, fletscht ihre Seele bereits geklärte Bühnenzauberer. Moidele Bickel, die die Zähne, stets mit süßestem, aber auch abwe- geniale Stilistin des Kostüms. Mojca Erdmann, sendem Unschuldsblick. In ihrem Silberlamé- die immens begabte Stratosphären-Sopranistin. Kleid sieht Mojca Erdmann aus wie eine Mi- Es wäre stark untertrieben zu sagen, wir Zu- schung aus Undine, Salome und Germany’s next schauer hätten im Schillertheater (der aktuellen Topmodel, sie singt das fabelhaft, vielleicht et- Außenstelle der Staatsoper) auf gepflegte künstle- was schlank korsettiert. rische Harmonie dieses Leitungsteams gewartet. In Erich Wonders Welt verliert Lulu nie ihre Nein, wir erhofften das schiere Wahnsinnsthea- Präsenz, das ist ein Glück und eine Kunst, denn ter, die dialektische Debatte, den sündig-analyti- der Bühnenmagier hat das Schillertheater schen Rausch, die heimliche Allgegenwart von prachtvoll herunterkommen lassen zu einer Dr. Sigmund Freud. Und natürlich wollten wir Skulptur des Hinfälligen. Auf der linken Seite die Schönheit der Zwölftonmusik von der Staats- türmen sich Autowracks, als habe Caspar David kapelle Berlin wie tönendes Manna empfangen. Friedrich sie aufgebahrt, rechts stehen die Skelet- Den Nervenkitzel erhöhte noch die Ankündi- te von Stahlträgern, denen das zugehörige Haus gung einer Uraufführung: der geschickt-einfühl- verloren gegangen scheint. In diese Ruine der samen, sehr überzeugenden Neufassung des Objekte begibt sich eine Choreografie der Sub- dritten Aktes von David Robert Coleman, der jekte, der unentwegten menschlichen Erinne- den Prolog und das Paris-Bild eliminiert, aber die rung, denn wie in Bergs Oper die Sänger jeweils London-Szene neu orchestriert hat. mehrere Identitäten annehmen, so lässt Breth In der Tat liefern alle ihr Bestes und geizen alle Figuren durch diese moribunde Welt wan- nicht mit Überraschungen. Barenboim dirigiert dern, auch wenn die Partitur sie nicht benötigt. zum einen, als habe Alban Berg die Wiener Filia- Sie umschwirren Lulu wie Parasiten, und dieser le der Firma Debussy gegründet. Er hüllt kalte männliche Andrang ist so groß, dass Breth der Melodien in Seide, dämpft grelle Akzente zu Lulu zwei Doubles spendieren muss. farblichen Sensationen. Es ist manchmal mehr Was ein wenig nach Überbeschäftigung aus- Schleier als Schaufenster, trotzdem klingt es auf- sieht, verliert in den einzelnen Szenen doch nie regend. Die Musik hat etwas Gelassenes und an Profil und Griffigkeit, denn abermals hat wird nicht zur Hysterie verdonnert. Barenboim Breth mit den Figuren fanatisch gearbeitet. fühlt sich ein in den wundersam distinguierten Chefredakteur Dr. Schön (mit ängstlicher Tonfall einer Gesellschaftstragödie und insze- Wucht: Michael Volle) ist ein sich bäumendes niert eine Kunst der Andeutungen. Zuweilen Opfer des Eros, sein Sohn Alwa (mit loderndem scheint es, als plaudere die Musik die Figuren Tenor: Thomas Piffka) krümmt sich in eine dif- beinahe zu Tode. Anderswo lässt Barenboim den fuse Zukunft, Deborah Polaski leiht der Gräfin beiden Rollen stumm mitsprechen, böse lächelnd schneidenden Gestus des Schreckens aus der sen- Geschwitz wunderbar erhabene Ruhe. In den wie eine Sphinx. Das sieht aus, als habe sich sationell virtuosen Staatskapelle so ungehemmt schönsten Momenten scheinen die Figuren Breth mit Claude Chabrol über das Stück und hereinfahren, als entsetze sich die Musik vor dem durch diesen Raum zu schweben, sie sind überall seine Abgründe verständigt. So bleibt der Abend Stoff, den sie vertont. Selten hat Barenboim ein und nirgends, lagern müde auf dem Autofried- ohne Hoffnung, ohne Mitgefühl. Und Lulu Werk so vielseitig von innen begriffen wie hier. hof, schreiten durchs Gestänge und transportie- bleibt uns fern, Breth ergründet sie uns nicht. Es ist eine expressive Offenbarung – mit expansi- ren Leichen mit Schubkarren ab. Letztlich ist es Am Ende kommt Jack the Ripper, legt das Mord- vem Raum für die Nuancen, für das Parlando, Zwölftontechnik in Bildern: Alles gehört zusam- messer weg und überschüttet Lulu mit Benzin. für das Stammeln, Keuchen und Raunen. men, von einem Leitthema beherrscht, und be- Die Flamme aus seinem Feuerzeug darf sie selbst Die Kunst des Beiseitesprechens beherrscht findet sich doch in Osmose, Verwandlung, Va- entzünden. Stirbt sie? Vergeht sie? Überlebt sie? die Regisseurin Andrea Breth ebenso brillant, riation, Auflösung. Nur die Stahlskelette stehen plötzlich in Flam- trotzdem liebt sie es, dem Dirigenten und der Doch ist der Abend kein unscharfer drama- men. Lulu, vollständig erloschen, erklärt nichts. Partitur auf offener Bühne zuu widersprechen, tischer Albtraum. Vielmehr veverflüchtigtr sich Alles sehr kalt hier.

UnschuldigU abwesend: MMojca Erdmann als Lulu mit GGeorg Nigl (Ein Athlet)

Fotos: Tatort, ©WDR, Montage DZ (o.); [M] Bernd Uhlig FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 55 LITERATUR

WIR RATEN ZU GEDICHT: ANNE BERESFORD Ein Letzter, ein Erster Ganz von außen ist es ein Band der Bibliothek Heimweh Suhrkamp. Derselbe Glanzumschlag, dasselbe Format. Und auch das innere Format ist so schon gut erklärt: ein moderner Klassiker. 23 Re por- eine Drossel singt tagen und Porträts, wild und leuchtend, sanft, jeden Abend cholerisch, ironisch, brillant, von einem nahe- in der Esche zu klassischen Autor. Helmut Schödel, geboren 1950 in Hof, im Jean-Paul-Land Franken, Autor der Süddeutschen Zeitung und des Freitags, lange sie singt schon Jahre auch der ZEIT, ist ein Großer und Letzter so lange und Erster. Ein großer Menschenforscher, ob er ich mich erinnern kann nun den verschollenen Schauspieler Helmut Berger porträtiert, einen Wiener Tierarzt oder aber damals den wuchtigen Dichter Einar Schleef, einen war der Baum wahrscheinlich Butler in Salzburg oder eine Kneipe in Berlin. Ein letzter Radikaler, dem das Debattengedudel eine Eiche und Promi genudel des zeitgenössischen Feuille- tons am großen A vorbeigeht, der lieber auf Ab- das Lied wegen balanciert, die Ränder entlang, wo alles schmerzt und schmerzt zu Ende geht und wieder neu beginnt. Und ein Erster. Denn von ihm können nicht nur unsere im grünen Licht Journalistenschüler lernen, wie man sich für wenn ich wüßte die Welt interessiert. Wie man neugierig wird wo das ist und zornig und hingebungsvoll und hellhörig. Kurz: Wie man schreibt – wenn man denn so ginge ich schreiben kann wie er. BENEDIKT ERENZ heim

Helmut Schödel: Der Wind ist ein Wiener Anne Beresford: Sonnenlicht im Obstgarten Reportagen für morgen; mit einem Vorwort Gedichte, Englisch/Deutsch, übersetzt von von Jakob Augstein; Müry Salzmann Verlag, Kevin Perryman; Babel Verlag, Denklingen 2012; Salzburg 2012; 173 S., 19,– € 79 S., mit CD, 29,– € Foto: Alamy/Mauritius Foto: Schauplatz des Romans: Die norwegische Insel Kvaløya Menschen im Dämmer Der Ire John Burnside erkundet in seinem Antithriller »In hellen Sommernächten« die Küstenlinien eines noch weitgehend unbekannten Literaturkontinents VON CLEMENS J. SETZ

lle spannenden Geschich- nambul durch ihre eigene Geschichte stolpert. Vergangenheit, sondern nur in eine weitere ten gleichen einander auf Ihr Nachbar, Kyrre Opdahl, versorgt sie zwar Stasis. Obwohl es zu dramatischen Ereignissen bestimmte Weise. Wirklich mit dämonischen Legenden, mit denen er sich kommen könnte, irrt Liv in London nur durch interessant wird es, wenn das Unglück der Ertrunkenen zu erklären ver- Straßen, Hotelflure und Museen und begegnet die Form der spannenden sucht – sie seien Opfer der Huldra geworden, am Ende, wie könnte es anders sein, einem Erzählung nur noch als meint er –, doch auch dieses, den Wind mär- Gemälde, das etwas aus ihrer Heimat zeigt: ein geisterhafte Hülle um ein chenhafter Erzählgeschwindigkeit andeutende kleines Fischerhäuschen, erstarrt in Raum und langes Stück Prosa liegt, so wie ein ordentli- Motiv fruchtet nicht. Der Bericht von Liv tritt Zeit, »als wäre es Teil einer Theaterkulisse, Acher Sonntagsanzug um eine beunruhigende, weiter auf der Stelle, so wie es der Sommertag temporär, provisorisch und nur vorüberge- aus dem Leim gehende Vogelscheuche. John auf der im hohen Norden gelegenen Insel tut. hend bewohnt«. Burn sides neuer Roman In hellen Sommer- Der finnische Literaturnobelpreisträger Frans Beim Lesen dieses rätselhaften Antithrillers nächten (im Original Summer of Drowning) ist Emil Sillanpää konnte in seinem bekanntesten fühlte ich mich mehrere Male erinnert an die nur den Grundelementen nach ein Thriller, Werk, Menschen in der Sommernacht (1934), berühmte Vermutung von W. G. Sebalds seine Essenz allerdings hat mit dem Aufdecken über die speziellen Lichtverhältnisse der nörd- Jacques Austerlitz: »Es ist mir immer mehr, als eines Geheimnisses oder eines Verbrechens lichen Länder noch schreiben: gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur ver- nicht viel zu tun. »Die Sommernacht im Norden ist kaum schiedene, nach einer höheren Stereometrie Der schottische Dichter und Romancier eine Nacht; sie ist nur ein zögernder, in seinem verschachtelte Räume, zwischen denen die Le- John Burnside (geboren 1955), der vor einem Zögern ein wenig dunkelnder Abend, aber bendigen und die Toten, je nachdem es ihnen Jahr im deutschen Sprachraum durch noch in diesem leisen Dunkeln liegt zumute ist, hin und her gehen können.« sein schwindelerregend intensives jene ihr eigene, mit Worten nicht aus- Memoirenwerk Lügen über meinen zusagende Helle. ... Der Morgen ist nd in der Tat tappen an mehreren Vater berühmt wurde, besuchte in bereits wieder da, obgleich doch eben Stellen von Livs Bericht Men- den späten neunziger Jahren zum ers- noch Abend war. Es steigt die Lerche schen in der niemals ganz in Dun- ten Mal die am Polarkreis liegende hoch und immer höher und singt den kelheit versinkenden Landschaft norwegische Insel Kvaløya und kehrte kleineren schmuckeren Singvögeln in durch unsichtbare Portale und danach immer wieder dorthin zu- Wald und Buschwerk zu, von dort verschwindenU einfach. Zurück bleiben kleinere rück. Bei mehreren Gelegenheiten droben, wo des Morgens lichtere Wei- Spuren im Gras, ein ungutes Gefühl, eine stum- erzählten ihm die Inselbewohner die te sie umfängt.« me Panik, aber niemals etwas Verwertbares. Legende von einer wunderschönen Von diesem Jubel über das uner- Dieses rätselhafte Buch des bedeutenden Frau, die junge Männer ins Verderben John Burnside: schöpfliche Sommertageslicht ist in schottischen Poeten ist eine Anatomie jenes reißt. Erkennbar sei diese sogenannte In hellen Som- Burnsides Roman nichts mehr zu (möglicherweise in der Literatur noch zu wenig Huldra, so Burnside in einem Inter- mernächten spüren. Wo sich in einem gewöhnli- erforschten) Zustandes, den der österreichische view, an einem »Sartreschen Nichts« A. d. Engl. v. chen Mystery-Thriller das Geschehen Philosoph Franz Schuh in seinen Notizen über auf ihrem Rücken, also an der nur Bernh. Robben; am Ende des Tages in die Parallelwelt die Dumpfheit so treffend charakterisiert: »Das mit metaphysischen Fühlern als Riss Knaus 2012; der Nacht verlagern würde, erwartet Dumpfe im Visuellen, also dumpf für den Ge- in der Wirklichkeit spürbaren Ab- 384 S., 19,99 € einen auf Kvaløya nur eine »silbrig sichtssinn, ist das Fahle, die Nacht, die man wesenheit eines Schweifs. weiße Dämmerung«, die den Verlauf schlaflos verbringt; das Morgengrauen, ein un- Um solche besonderen, weil un- der realen und der erinnerten Zeit gesundes, unentschiedenes Licht, dumpfes sichtbaren Risse in der Wirklichkeit geht es in aufzuheben scheint: »Geisterhafte Pfade wan- Unbehagen, unbehagliche Dumpfheit.« Burnsides gesamtem Werk. So auch in dem den sich an unserem Haus vorbei zum Strand, So wie Haruki Murakamis Helden oder seltsamen Bericht jenes Sommers des Ertrinkens: als würden sie wie aus ferner Vergangenheit für manche von Roberto Bolaños Intellektuellenfi- Die inzwischen erwachsene Liv Rossdal erzählt eine Nacht wieder sichtbar; geisterhafte Vögel guren erlebt auch Burnsides Erzählerin die ei- uns von einem Sommer ihrer Kindheit auf schwebten über dem glasigen Wasser des Fjords; gene Geschichte als ein Ding ohne die geringste Kvaløya, in welchem zwei Brüder kurz hinter- geisterhafte Wiesen erstreckten sich kilometer- Anziehungskraft. Sie ist ihr unfreiwilliger Satel- einander bei mysteriösen Bootsunglücken den weit in jede Richtung.« lit, der gerne einfach ins All davontrudeln wür- Tod fanden. Liv ist die Tochter einer berühm- de. Und möglicherweise sind die Mysterien ten, trotz ihrer einsiedlerischen Wohnverhält- ichts hilft. Ein Schotte namens dieses vollkommen ziellosen Erzählens die Sig- nisse ständig von Männern umschwärmten Martin Crosbie, offenbar ein Li- natur eines neuen Literaturkontinents, von Malerin, doch sie selbst ist menschenscheu, terat, ein sonderbarer, schüchter- dem bislang erst einige wenige Küstenstriche desinteressiert, absichtslos. Die Rolle, die sie ner Mensch, kommt in das Dorf. gesichtet wurden. Eine Dreiecksgeschichte, die sich zuschreibt, ist die der Spionin, der vom Be- Aber auch seine Geschichte sich plötzlich in Indifferenz auflöst. Eine Taxi- obachteten unkontaminiert bleibenden Beob- Nkann, obwohl sie auf eine geheimnisvolle und fahrt bei strömendem Regen, die einer Verfol- achterin. Am liebsten sitzt sie in ihrem Zimmer gegen Ende sehr dramatische Weise mit der der gungsjagd gleicht, aber doch nichts mit ihr ge- und liest oder sieht sich alte Bildbände an. Sie ertrunkenen Brüder zusammenhängt, die Er- meinsam hat. Ein Laptop, auf dem sich Bilder tut auch wenig anderes, als sie von den beiden zählerin nicht wirklich berühren. Sie wünscht von Mädchen finden, welche allerdings ebenso ertrunkenen Brüdern erfährt. Immer scheint es, sich immer nur, allein gelassen zu werden, in wenig der Erzählung zu bedrohlichem Schwung dass sie eigentlich das Dunkle, das Dämonische ihrem Zimmer zu sitzen und »über rein gar verhelfen können wie all die anderen reglos wie sehen und aufstöbern möchte – ihre Beschwö- nichts nachzudenken«. Die abwesende Finster- gefallene Blätter über den ganzen Roman ver- rungsformeln à la »Aber zu diesem Zeitpunkt nis hat etwas aus dem Bewusstsein der Men- streut liegenden Plot-Points. ahnte ich noch nicht, was dahintersteckte« tö- schen herausgeschnitten und, stellvertretend, in Am Ende scheint es, als habe die Dumpf- nen durch das ganze Buch –, aber es ist nir- der Landschaft der niemals schlafenden Welt er- heit, die das Herz der abwesenden Finsternis gends wirklich fassbar, und eine seltsame Läh- scheinen lassen, das normales spannendes Er- ausmacht, von Liv nie wieder abgelassen. Selbst mung nimmt von ihr Besitz. Als Leser be- zählen aushebelt. Selbst als sich der im fernen als erwachsene Frau bleibt sie als Geschichten- kommt man manchmal das Bedürfnis, sie zu London im Sterben liegende Vater von Liv, den erzählerin so bewegungsunfähig, ungastlich packen und durchzuschütteln, auf dass sie viel- sie niemals kennengelernt hat, bei ihr meldet, und unentschlüsselbar wie die halbjährig fie- leicht ein bisschen weniger verträumt und som- wird ihre lustlose Reise zu ihm keine Reise in die berhell daliegende Landschaft ihrer Kindheit. 56 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON LITERATUR

KRIMIZEIT Klirrende Wut Er ist der Boss Oliver Bottini schreibt über Die Mick-Jagger-Biografie von Marc Spitz porträtiert den Rolling- Verbrechen im Jugoslawienkrieg Die zehn besten Krimis im April 2012 Stones- Sänger als unumschränkten Chef der Band VON STEFAN HENTZ

Das gleiche Bild in zwei Romanen. Ein Donald Ray Pollock: Das Meade, Ohio/Coal Creek, West Virginia. Mit 10 hungert und betet ick Jagger? Keine Ahnung, steig einer Vorortbahn, die zur Entdeckung Mann steht im Garten eines Hauses, Handwerk des Teufels Arvin Russell gegen das Sterben seiner Mutter an. Mit 18 hat er wo der sich aufhält. Viel- gemeinsamer Musikvorlieben führt. Da sind stumm, als Mahnung, Drohung, Erinne- Aus dem Englischen von vier Menschen erschossen. Dann haben ein Vergewaltiger, zwei leicht kommt er gleich um das Eintauchen in die angesagten Clubs in rung. In Oliver Bottinis Die Nacht der Väter Peter Torberg Serienmörder, ein mörderischer Sheriff und ein Prediger-Paar seinen die Ecke, vielleicht auch London, die Bekanntschaft mit dem so coolen von 2007 war es ein Mann, dem in Bosnien Liebeskind, 304 S., 19,80 € Weg gekreuzt. Wüstes, grandioses Romandebüt. nicht. Vielleicht ist Mick wie musikalischen Brian Jones, der erste Auf- Haus und Familie verbrannt worden wa- 1(3) JaggerM nur eine Fiktion. Ein magischer Spie- tritt unter dem Namen Rollin’ Stones am 12. ren. Die deutsche Ausländerbehörde hatte gel, der das, was man auf ihn projiziert, zu- Juli 1962 im Marquee Club. Das Apartment die Flüchtlinge nicht anerkannt und zu- Oliver Harris: London Hampstead. Als Detective Belsey das Haus eines rückwirft. Natürlich in schönerer, drasti- am Edith Grove, das kleine, heruntergewirt- rück in den Krieg geschickt. Der Mann, der London Killing russischen Oligarchen leer vorfindet, ergreift er die Chance, sein scherer, noch sinnlicherer Form. Ein Pop- schaftete Loch, in dem Jagger, Jones und Ri- jetzt, in Der kalte Traum, das Bauernhaus Aus dem Englischen von beschissenes Leben zu ändern. Er übernimmt Auto, Haus und star, der in einem halben Jahrhundert auf chards in der Gründungsphase der Band bei Rottweil bedrohlich beobachtet, kommt Wolfgang Müller Kreditkarte. Und die Feinde des Milliardärs. Rasantes Debüt. der Bühne die Gleichsetzung von Musik hausten. Die Frauen Jaggers, Chrissie Shrimp- auch aus den Trümmern Blessing, 480 S., 19,95 € Oliver Harris gewinnt dem British Noir unverfrorene Heiterkeit ab. und Musiker unter dem Banner ton und Marianne Faithfull, Anita (5) des Jugoslawienkriegs. 2 der Authentizität überwunden Pallenberg und Marsha Hunt, Bian- Aber nicht Rache für er- Rottweil/Berlin/Kroatien. 15 Jahre nachdem Thomas Ćavar in und es verstanden hat, sich so hell ca Jagger und später Jerry Hall bis littenes Schicksal liegt Bosnien gefallen ist, wird er gesucht. Vom kroatischen Geheim- anstrahlen zu lassen, dass das Licht hin zu Jaggers aktueller Lebensge- ihm im Sinn, sondern dienst, von der deutschen Polizei und einer Journalistin. Thomas, seine Konturen verwischt und ihm fährtin L’Wren Scott. Die Drogen- die Eliminierung eines Oliver Bottini: aufgewachsen in Rottweil, wollte 1995 die kroatische Heimat ein Stück Intimität lässt. Mick geschichten. Im Unterschied zu Zeugen. Der kroatische Der kalte Traum retten. Kluger, starker politischer Roman. Nah an den Tatsachen: Jagger? Genaueres weiß keiner, Keith Richards hat Jagger hier immer General Ante Gotovina, Dumont, 448 S. 18,99 € Kriegsverbrechen und Folgen. auch nicht Marc Spitz, der New eine Reserve bewahrt, die ihn vor der 1995 die ethnische 3(–) Yorker Schriftsteller und Musik- dem Absturz schützte. Die revolu- Säuberung der Krajina journalist, der gerade ein Buch ge- tionäre Phase, in der Jagger Teil der von serbischen Bewoh- Fred Vargas: Paris/Normandie. In Ordebec wurde »Die Wilde Jagd« gesehen. schrieben hat: Mick Jagger – Rebell revoltierenden Jugend wurde und in nern kommandierte, Die Nacht des Zorns In der Horde: vier Männer aus dem Dorf. Todgeweiht? Kommissar und Rockstar, mit dem die Band Marc Spitz: Street Fighting Man seine revolutio- Oliver Bottini: steht mit weiteren An- Aus dem Französischen von Adamsberg, genervt vom Mord an einem Finanzmagnaten, folgt wieder ins Rampenlicht rückt, Mick Jagger – näre Perspektive erläuterte. Schritt Der kalte geklagten wegen der da- Waltraud Schwarze fasziniert normannischen Mythen, Ängsten, Intrigen. Nach drei nachdem schon letztes Jahr Keith Rebell und für Schritt verfolgt Spitz die Lauf- Traum Rockstar mals begangenen Kriegs- Aufbau, 454 S., 22,99 € Jahren Abstinenz: der neue Polar Poétique von Vargas. Richards’ Autobiografie Life so bahn der Rolling Stones und kehrt DuMont (8) A. d. Engl. v. verbrechen vor dem überaus erfolgreich war. Jaggers Führung der Band heraus, für Buchverlag, 4 Sonja Kerkhoffs; Haager Tribunal. Tho- Köln 2012; Bereits im Untertitel, im engli- Edel Vita 2012; die er als Einziger über die nötige mas Ćavar, ein kroati- 448 S., 18,99 € Arne Dahl: Den Haag/Riga/London/Stockholm. Opcop – streng geheim ist schen Original ergänzt um die Be- 304 S., 24,95 € Klarheit verfügt habe. scher Junge, den vor 15 Gier die neue operative Truppe von Europol. Ist sie den Verbrechen griffe rambler und rogue, also etwa Doch so beredt Spitz sich in Jahren die nationale Eu- Aus dem Schwedischen von von heute gewachsen? Umweltverseuchung, Finanzspekulation, »Flaneur« und »Schurke« oder den ekklesiastischen Auseinander- phorie aus Rottweil just in Gotovinas Säu- Antje Rieck-Blankenburg Kinderhandel, koordiniert mit Geld und Macht der Mafia. Ganze freundlicher: »Spitzbub«, wird sein Dilemma setzungen der Rolling-Stones-Gemeinde auf berungs-Aktion Sturm gespült hatte, soll Piper, 512 S., 16,99 € Staaten usurpiert. Dahl stellt sich globalen Aufgaben. Wie keiner. deutlich: dass sich das Bild allenfalls in einzel- die Seite des Sängers schlägt, so viele Fakten damals nicht gefallen, sondern immer noch 5(2) nen Facetten erzählen lässt, die sich wie in ei- er auch auffährt, sein Buch krankt daran, am Leben sein – und damit ein Augenzeuge nem Kaleidoskop permanent gegeneinander dass er zu Jagger und dem engeren Kreis der der Gräuel, die von kroatischer Seite be- Finsterau, Oberpfalz, 1947. Afras Aufbruch ist gescheitert. Mit verschieben. Es sind die vertrauten Stationen, Beteiligten an der Geschichte keinen Zu- gangen wurden, als die Welt noch auf die Andrea Maria einem Kind von einem französischen Zwangsarbeiter musste sie die Spitz heranzieht und in der Geschichte des gang hat. So gerät das Werk zu einer weite- Massenmorde starrte, die serbische Fanati- Schenkel: Finsterau zurück zu den Eltern. Ihr Vater wird verhaftet, als man Mutter und Pop verankert. Da ist die erstaunliche Begeg- ren – gut lesbaren – Zusammenfassung der ker in Srebrenica wenige Wochen zuvor be- Hoffmann und Campe, Kind erschlagen findet. Gewalt, Armut, Nachkriegszeit. In Ton und nung eines Business-School-Studenten mit Geschichte der Rolling Stones. Der Person gangen hatten. 126 S., 16,99 € Handlung Anklänge an Tannöd, Schenkels großen Erfolg. einem Art-School-Drop-out auf dem Bahn- Mick Jagger begegnet man hier nicht. Der kroatische Geheimdienstler bleibt 6(–) nicht sinnend vor dem Hof von Thomas Ćavars bestem Freund stehen. Je näher der Tapani Bagge: Södertälje/Hämeenlinna. Coup 1 geht in die Luft: Eine Windhose Prozesstermin rückt, desto weniger zim- Schwarzer Himmel schleudert Erno, Komplizen und geraubte Millionen in Schwedens perlich geht er vor. Der Prozess weckt auch Aus dem Finnischen von Himmel. Der ist auch in Finnland schwarz. Mit einer Gang alter andere Spürhunde. Ein ehemaliger Diplo- Stefan Moster Jugendfreunde plant Erno Revanche am Schicksal. Noir-Groteske Lernen vom Feind mat wendet sich mit der Bitte um Nach- Suhrkamp, 272 S., 8,99 € über die Tücken des Gangsterlebens. (–) forschungen an seinen Neffen bei der Kri- 7 Zwei sowjetische Starautoren bereisten 1935 die Vereinigten Staaten po. Eine gutmenschelnde Reporterin glaubt sich in Zagreb der Entlarvung eines Windhoek/Karibib. Auf Steinland wurde der Farmer erschossen, der Kriegsverbrechers nahe und löst mit ihrer Bernhard Jaumann: Sohn entführt. Chief Inspector Clemencia Garises in der Klemme: m Jahr 1933 nahmen die UdSSR und schnell im Westen zusammenkaufen, dafür naiven Stocherei allzu realen Waffenge- Steinland Unter den Gangstern aus der Township war ihr Bruder. Im Hinter- die USA erstmals diplomatische Bezie- wurden alle Devisen benötigt – vom Ver- brauch aus. Kindler grund der Klassenkampf um Landbesitz. Ein brisanter Fall: Wird hungen auf. Nur zwei Jahre später kauf der Rembrandts und Raphaels aus der Oliver Bottini hat in diesem grandiosen, 320 S., 19,95 € Namibia ein zweites Simbabwe? schickte die Prawda die beiden belieb- Petersburger Eremitage wie vom Verkauf vor Kälte und Wut klirrenden Politthriller 8(–) tenI sowjetischen Schriftsteller Ilja Ilf und des aus den Bauern herausgepressten Ge- seine aus fünf früheren Romanen vertraute Jewgeni Petrow in die USA. In einem klei- treides: Während der Hungersnot exportier- Kommissarin Louise Boní zeitweilig beur- München. Zwei Kommissare in der Klemme. Diller ist solide, Kessel nen Auto durchquerten sie das Land von te die Sowjetunion eine Million Tonnen laubt. Der damit verbundene Verlust an Georg M. Oswald: Junkie. Kessel überfährt einen Dealer, Erpressung folgt. Diller will Ost nach West und zurück. Das Ergebnis Getreide in den Westen. Liebes- und Leidensgeschichten mag man- Unter Feinden ihn und sich schützen im Trubel der Schutzmaßnahmen für die dieser Reise liegt jetzt endlich in deutscher Ilf und Petrow beschreiben mit Staunen che Leser betrüben. Zur Schärfung der Piper internationale Sicherheitskonferenz. Weit planende arabische Rächer Übersetzung vor – zwei schmucke Bänder den Tomatensaft und überhaupt die Saftbe- Handlung und zeitgeschichtlichen Zuspit- 256 S., 19,99 € gegen kleine deutsche Polizisten. unter dem Titel: Das eingeschossige Amerika. sessenheit der Amerikaner. Jeder, der in der zung hat der Verzicht auf eine zentrale Er- 9(4) Vermutlich wurden Ilf und Petrow als Nachkriegs-UdSSR aufgewachsen ist, kennt mittlerfigur jedenfalls beigetragen. Das Per- Späher ausgesandt. Sie widmen nicht wenige die Folgen: eine kleine Theke im Gemüse- sonenregister im Anhang informiert über Giancarlo de Cataldo/ Rom, Vorspiel in Kroatien. Krieg zweier Fraktionen im Staatsappa- Seiten den Wolkenkratzern und Naturwun- laden – mit drei nach unten zulaufenden viel reale und relativ wenige fiktive Figuren. Mimmo Rafele: rat. Filmisch schnelle Szenen: Lupo jagt die Mörder seines Freundes dern Amerikas – mit einer Plastizität, die Konussen in einem Dreikreis-Halter, darin Selten ist es so exzellent gelungen, komple- Zeit der Wut Dantini, den »Kommandanten«, seine Spezialtruppe und die Mäch- verständlich macht, warum Nabokov die bunte Säfte, unter ihnen unbedingt der To- xe politische Geschichte in einem derart A. d. Ital. v. Karin Fleischan- tigen dahinter. Zwischen den Fronten der junge Marco, voller Wut. beiden zu seinen Lieblingsautoren zählte. Sie matensaft für zehn Kopeken das Glas. Das spannenden Plot zu vergegenwärtigen. Bot- derl, Folio, 244 S., 22,90 € Italienische Schattenkämpfe: blutig duster. schildern das Amerika der Highways (mit alles hat Das eingeschossige Amerika bewirkt! tini, der Heimat immer als demokratisch 10 (–) Tankstellen und Imbissbaracken) und der Überhaupt, in diesem Buch trifft man im- gestaltbares Seelenterritorium beschrieben Fabrikhallen (inklusive der Ford-Werke). mer wieder Merkmale der künftigen hat, steigt tief in die fortwirkende Ge- An jedem ersten Donnerstag des Monats geben 16 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland und Dabei erstaunt, wie amerikafreundlich UdSSR, der UdSSR nach dieser Reise: Es Österreich die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die KrimiZEIT-Bestenliste ist eine schichte eines grausamen, kaum zurücklie- Kooperation der ZEIT mit dem NordwestRadio, einem gemeinsamen Programm von Radio Bremen und dem NDR dieses Buch geworden ist: Es ist angenehm, scheint, die sowjetischen Architekten und genden Krieges ein, der um Heimat und mit Amerikanern befreundet zu sein, und Ingenieure haben teilweise direkt nach Ilf ihre Ideologien geführt wurde. Zugleich Die Jury: leicht, mit ihnen Geschäfte zu machen. Der und Petrow gearbeitet. Wenn auch nur sel- Tobias Gohlis, Kolumnist der ZEIT, Sprecher der Jury | Volker Albers, »Hamburger Abendblatt« | Andreas Ammer, navigiert er kühl an der Oberfläche einer Kapitalismus ist natürlich böse, aber er ver- ten so gut wie die. OLEG JURJEW raffinierten Kriminalhandlung, die bis zum »Druckfrisch«, Dlf, BR | Fritz Göttler, »Süddeutsche Zeitung« | Michaela Grom, SWR | Lore Kleinert, Radio Bremen | Thomas Klingenmaier, »Stuttgarter Zeitung« | Kolja Mensing, »Tagesspiegel« | Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR | fügt in den Augen der Autoren über die Ende daran festhält, dass Kriegsverbrechen Jan Christian Schmidt, »Kaliber 38« | Margarete v. Schwarzkopf, NDR | Ingeborg Sperl, »Der Standard« | Sylvia Staude, Grundlagen, um beinahe mühelos in den Ilja Ilf/Jewgeni Petrow: Das eingeschossige bestraft werden können. Wenn das keine »Frankfurter Rundschau« | Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ | Hendrik Werner, »Weser-Kurier« | Thomas Wörtche, Sozialismus überführt zu werden. Die Amerika. Aus dem Russ. von Helmut Ettinger; gute Nachricht ist. TOBIAS GOHLIS »Plärrer«, »culturmag«, DRadioKultur UdSSR wollte ihre »Industrialisierung« Eichborn Verlag; 700 S., 65,– € FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 57 LITERATUR

Provokationsprofi Henryk Broder fordert nun Die Tragödie des Rückzugs »Vergesst Auschwitz!«

m 24. Juni 1812 über- Besser kann Geschichte nicht erzählt werden: Der Historiker zum Erfolg verdammt – das Lebensge- Achtung, aufgehorcht, Ihr korrekt Unkorrek- querte Napoleons Grande setz seiner Herrschaft. ten: Ist der Publizist und Blogger Henryk M. Armée auf drei Ponton- Adam Zamoyski hat über Napoleons Russlandfeldzug zum 200. Jahrestag Aber auch im russischen Lager war Broder etwa ein übler Holocaust-Verharmlo- brücken den Njemen, den die Kriegführung nicht unumstritten. ser? »Auch der Führer hat nur dazu aufgeru- das herausragende Buch »1812« verfasst VON VOLKER ULLRICH Grenzfluss zum russi- Eine Gruppe hoher Offiziere drängte fen, die Welt von den Juden zu befreien. Von schenA Zarenreich. »Der Rubikon ist darauf, endlich zur Offensive über zu- Vernichtung war keine Rede. So wie Ahmadi- überschritten«, notierte ein französi- gehen. Unter dem neuen Oberkom- nedschad sich heute eine ›World without Zio- scher Hauptmann am Abend in sein mandierenden Fürst Kutusow stellte nism‹ wünscht«, heißt es bei Broder, der selbst Tagebuch. »Das funkelnde, aus der sich die russische Armee am 7. Septem- im Wunsch, den iranischen Präsidenten kor- Scheide gezogene Schwert wird nicht ber bei Borodino, nur hundert Kilome- rekt aus dem Persischen zu übersetzen, »eine wieder eingesteckt, bevor den glorrei- ter vor Moskau, zur Schlacht. Ein ganzes PR-Aktion zugunsten der nächsten Endlö- chen Annalen unserer großen Nation Kapitel widmet Zamoyski dem hin und sung« diagnostiziert. Broders neues Buch nicht einige glanzvolle Seiten hinzuge- her wogenden Kampf – einem der heißt Vergesst Auschwitz!, aber das mit dem fügt werden.« fürchterlichsten Gemetzel der Kriegsge- Vergessen klappt eben nicht. Zu Broders Rhe- Ein knappes halbes Jahr später, An- schichte. Am Ende behielten die Fran- torik gehört die Logik, in der er etwa bekennt: fang Dezember 1812, wollten die Ein- zosen die Oberhand, doch es war, wie »Mich interessieren die toten Juden nicht«, wohner von Wilna ihren Augen kaum der Autor hervorhebt, ein »schaler Sieg«, nachdem er fünfzehn Seiten zuvor an die »El- trauen, als die vollkommen demorali- da sich die Russen geordnet zurückzie- tern meiner Eltern« erinnert hat, »die in sierten, elenden Reste der einst stolzen hen konnten. Damit war der Feldzug Rauch aufgegangen sind«. Die Professionali- Armee die Stadttore erreichten. »Zuerst gescheitert, und nach dem Einzug in tät des Provokateurs zwingt ihn, Wider- schauten sie uns voller Überraschung Moskau wenige Tage später schnappte sprüchlichkeiten zu ignorieren, sonst wäre an, dann mit Entsetzen«, schrieb einer die Falle endgültig zu. seine erfolgreiche Dauerbrennerrolle als Kra- der Ankömmlinge. »Sie eilten nach Viel ist darüber spekuliert worden, wer wallschachtel vom Dienst rasch ausgespielt. Hause und verbarrikadierten Türen und für den verheerenden Brand verantwort- Im neuen Buch finden Fans reichlich Sätze, Fenster.« Der Kaiser der Franzosen hatte lich war, der unmittelbar danach ausbrach. die man außer in den Blogs nirgendwo ver- eine vernichtende Niederlage erlitten – Für Zamoyski steht fest: Es war der Mos- nimmt – wo Broder draufsteht, ist auch Bro- der Anfang vom Ende seiner Herrschaft kauer Militärgouverneur Rostoptschin, der der drin, ein nunmehr seit Jahrzehnten er- in Europa. schon früh Vorkehrungen getroffen hatte, probtes, höchst verlässliches Markenprodukt Napoleons Feldzug in Russland mar- um alles, was den Franzosen von Nutzen made in Germany. kiert einen der großen Wendepunkte der sein konnte, vor allem die Vorratslager, zu Vergesst Auschwitz! ist schillernd bis irrlich- europäischen Geschichte. Und doch ist vernichten. Während sich die französi- ternd, mal schal und ermüdend, mal ganz witzig dieses Drama zumeist aus französischer schen Soldaten in der weithin zerstörten – und mit einigen scharfen Beobachtungen aus oder – wie noch jüngst im Buch von Do- alten russischen Hauptstadt mehr schlecht den Skandälchen der letzten Jahre. Broder seziert minik Lieven Russland gegen Napoleon. Die als recht einrichteten, verharrte Napoleon die Vorgänge um den skurrilen Protestler Walter Schlacht um Europa (C. Bertelsmann, unschlüssig im Kreml, noch in der Il lu- Hermann, der mit seiner »Kölner Klagemauer« München 2011) – aus russischer Sicht sion, dass der Zar ihm die Hand zum Frie- täglich Israels Politik gegenüber Palästinensern erzählt worden. Der große Vorzug der den reichen würde. So ließ er wertvolle attackiert; er stellt seine Sicht der Dinge auf den Darstellung von Adam Zamoyski besteht Zeit verstreichen, und als er endlich am Fall des geschassten RBB-Moderators Ken Jebsen darin, dass sie die beiden Perspektiven mit- 19. Oktober den Befehl zum überstürzten dar, inklusive der ekelhaften Mails, die Broder ein an der verknüpft. Auf diese Weise ge- Aufbruch gab, war es bereits zu spät. nach seiner Aktion gegen Jebsen bekam. lingt es dem britischen Historiker polni- Das Desaster des Rückzugs ist oft be- Zweifellos legt er dabei scher Herkunft, manche Mythen, die in schrieben worden, aber noch nie so ein- Finger in Wunden: Allein der Geschichtsschreibung beider Seiten dringlich, so erschütternd wie hier. Za- die vielen Demo-Fotos mit um die Ereignisse von 1812 gesponnen moyski räumt mit einer weiteren hart- antiisraelischen Transparen- wurden, zu zerstören. Das Werk, das be- näcki gen Legende auf: dass es der extrem ten (»Stoppt Holocaust in reits 2004 in England erschienen ist und kalte russische Winter gewesen sei, der den Gaza«), die er abbildet, of- nun in einer vorzüglichen deutschen Untergang der Grande Armée besiegelt fenbaren genug finsteren Übersetzung vorliegt, ist ein herausragen- habe. In den letzten Oktober- und ersten Wahn, ebenso die in der der Beitrag zum 200. Jahrestag – und ein Novembertagen herrschten im Gegenteil Linkspartei grassierenden glanzvolles Beispiel angelsächsischer his- ungewöhnlich milde Temperaturen. Zwar antizionistischen Ressenti- torischer Erzählkunst dazu. fiel am 6. November der erste Schnee, ments. Bizarr wird es, wenn Zamoyski beschränkt sich nicht darauf, doch strenger Frost bis zu minus 30 Grad er dem Berliner Zentrum für Henryk M. einen bis dahin beispiellosen Krieg in setzte erst Ende November ein, als das Antisemitismusforschung Broder: seinen Abläufen nachzuzeichnen; ihn in- Gros der französischen Streitmacht bereits Relativierung des Holocaust Vergesst Auschwitz! teressiert vor allem die Frage, was die Er- vernichtet war. vorwirft, weil die Forscher Knaus Verlag, eignisse für die Betroffenen bedeuteten, akg-images Abb.: Dass die Truppen auf ihrem Rückweg Vorurteilsstrukturen von Théodore Géricault, »Rückkehr aus Russland«, Stich von 1818 München 2012; denn – so heißt es im Vorwort – »es ist eine nur sehr langsam vorankamen, lag zu- Islamophobie und Antise- 176 S., 16,99 € menschliche Geschichte schlechthin, von nächst nicht am Wetter, sondern daran, mitismus vergleichen. Auf Hybris und Nemesis, von Triumph und dass sie sich mit Beutegut schwer beladen jeder Seite wird deutlich, Katastrophe, von Ruhm und Elend, von Freude und sich mit der Rolle eines Juniorpartners des korsischen diesem Vorgehen ein wohlüberlegter strategischer hatten – und dass die Russen ihre Zermürbungs- dass er die Buchüberschrift keineswegs ernst Leid«. Als Quellengrundlage dienen ihm die Zeug- Eroberers nicht abfinden und provozierte diesen mit Plan zugrunde gelegen habe, verweist Zamoyski taktik fortsetzten. Unaufhörlich umschwärmten nimmt, auch wenn er lautstark Auschwitz, die- nisse der unmittelbar Beteiligten – Briefe, Tage- einer Massierung seiner Truppen an der russischen ins Reich der Legenden. Vielmehr, so legt er dar, Kosakenregimenter die zurückflutenden Kolonnen sen »Rummelplatz des Schreckens«, von dessen bücher, Erinnerungsberichte –, die sich auf beiden Westgrenze. Im Grunde ging es um die Frage, wem war die gewählte Defensivtaktik das unfreiwillige und fügten ihnen schwere Verluste zu. Besuch er abrät, »dem Erdboden gleichmachen« Seiten in einer erstaunlichen Vielzahl erhalten haben, die Hegemonie in Europa zufallen sollte – Frankreich Resultat chaotischer Verhältnisse im russischen Zamoyski lässt nichts aus – nicht das Los der möchte, um das gesparte Geld lieber an die und zwar nicht nur aus der Feder von Offizieren, oder Russland. Hauptquartier, wo man sich auf den französischen Nachzügler, die in die Hände russischer Bauern letzten Opfer zu geben. Ja und dann? sondern auch von einfachen Soldaten. Eingehend schildert Zamoyski, wie beide Seiten Angriff nur unzureichend vorbereitet hatte. fielen und auf grausame Weise gefoltert und mas- Bedenkenswerten Beobachtungen wie de- Damit ist ein weiterer Vorzug dieses Buches zum Kriege rüsteten. Besonderes Augen- Die Folgen für Napoleons Armeen sakriert wurden, nicht die furchtbaren Zustände in nen, dass sich die Deutschen weder um Tibe- bezeichnet: Es verbindet nicht nur die französi- merk wendet er dem Aufbau der Grande waren allerdings verheerend. Je weiter sie den Notlazaretten, in denen die Verwundeten mehr ter noch Nordkoreaner so viel Sorgen mach- sche und russische Perspektive, sondern auch die Armée zu, der Menschen fast aller Natio- ins russische Kernland vordrangen, desto oder weniger ihrem Schicksal überlassen wurden, ten wie um die Palästinenser, folgt noch im- Dimensionen von »oben« und »unten«, von den nen Europas angehörten. Nach den Be- größer wurden die Nachschubprobleme. und auch nicht das letzte und schrecklichste Kapitel mer die rhetorische Eskalation. Das »obsessive Feldherren und militärischen Führungsstäben bis rechnungen des Autors waren es nicht, wie Zehntausende Pferde gingen wegen Fut- nach dem Übergang über die Beresina am 27. No- Interesse an der Israel-Frage« bei den Deut- hinab zu den Infanteristen und Kanonieren, den oft zu lesen, über 600 000, sondern weni- termangels zugrunde, viele Soldaten er- vember, als der Kampf ums nackte Überleben im- schen sowie deren Solidarität mit Arabern Feldschern und Marketenderinnen. Das Ergebnis ger als 450 000 Mann, die zum Angriff am krankten oder desertierten. Als die Grande mer brutalere Formen annahm, alle moralischen und Palästinensern speise sich vor allem aus ist eine Erfahrungsgeschichte des Krieges, wie Njemen antraten. Wie dem auch sei – es Armée am 17. August Smolensk einnahm, Hemmschwellen fielen und Kannibalismus an der einer Quelle: »dem Wunsch, irgendjemand man sie in dieser Dichte und Intensität noch nicht war die größte Streitmacht, die jemals auf- war sie bereits um mehr als die Hälfte ge- Tagesordnung war. Freilich verschweigt der Autor möge den Job zu Ende bringen, den die Nazis hat lesen können. geboten worden war. schrumpft. nicht, dass es inmitten dieses Infernos auch einzelne nicht vollendet haben, um die Deutschen von Auch die diplomatische Vorgeschichte des Kon- Bislang hatten Napoleons Erfolge auf Warum marschierte Napoleon gegen leuchtende Beispiele von Solidarität und Mit- ihrem exklusiven Kainsmal zu befreien«. Als flikts kommt nicht zu kurz. Der Autor vermeidet hier der Fähigkeit beruht, den Gegner zur den Rat seiner Generäle immer weiter? menschlichkeit gab. Provokation möchte er dies ausdrücklich jede einseitige Schuldzuweisung. Weder Napoleon Entscheidungsschlacht zu stellen und Adam Der Autor bietet dafür eine einleuch- 1812 gehört zu den seltenen historischen Bü- nicht verstanden wissen: »Ja, ich meine es noch Zar Alexander I. wollten den Krieg, doch beide ihm anschließend die Friedensbedingun- Zamoyski: 1812 tende Erklärung an: Ein Halt, gar ein chern, die man von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur so, ich bin davon überzeugt.« Gegen C. H. Beck, trugen das Ihre dazu bei, die Spannungen ständig zu gen zu diktieren. Doch nun zogen sich München 2012; Rückzug hätte das Eingeständnis eines mit angehaltenem Atem liest. Besser als in diesem solche Überzeugung lässt sich nicht viel sagen. verschärfen. Bonaparte war bestrebt, Russland in das die russischen Truppen kampflos zurück 720 S., 85 Abb., Irrtums bedeutet und dem Nimbus sei- grandiosen Epos über eine militärische und Siehe oben: Argumentationslogik braucht er System der Kontinentalsperre zurückzuzwingen, aus und lockten die Invasoren immer tiefer 29,95 € ner Unfehlbarkeit geschadet. Als Parve- menschliche Katastrophe kann Geschichte nicht nicht. Und wir erholsamerweise bei ihm meist dem es ausgeschert war. Alexander seinerseits wollte ins Landes inne re. Die Annahme, dass nü unter Europas Monarchen war er erzählt werden. ebenso wenig. ALEXANDER CAMMANN

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C. 20045, Video: René Dettmann, Adrian Pohr; Community: Sebastian ZEIT-LESERSERVICE Feuilleton: Jens Jessen/Moritz Müller-Wirth (verantwortlich), Straßmann, Dr. Volker Ullrich E-Mail: [email protected] Horn, Franziska Kelch; E-Mail: [email protected]; Gründungsverleger 1946–1995: Thomas Assheuer, Peter Kümmel, Ijoma Mangold, Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche New Yorker Redaktion: Heike Buchter, 11, Broadway, Bildredaktion, Grafik und Layout: Tibor Bogun (Leitung), Gerd Bucerius † Katja Nicode mus, Iris Radisch (Literatur; verantwortlich), Art-Direktion: Haika Hinze (verantwortlich), Suite 851, 10004 New York, Tel.: 001-212/269 34 38, Paul Blickle, Anne Fritsch, Nele Heitmeyer, Sonja Mohr, Leserbriefe Abonnement USA Herausgeber: Dr. Hanno Rauterberg, Dr. Adam Soboczynski (Koordination), Klaus-D. Sieling (i. V.) E-Mail: [email protected] Martina Schories; Entwicklungsredaktion: Sascha Venohr Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & DIE ZEIT (USPS No. 0014259) Co. 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April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON

Märchenhaft Die Realität ist mal besser als der Film: »The Lady« VON ELISABETH VON THADDEN

at sich dies zuvor schon einmal zugetragen? Dass die erbärmliche politische Wirklich- Hkeit mit der schönen Filmkunst in einen Wettlauf um die bessere Version des Stoffs, um das bessere Ende eintritt – und dass die Realität dabei eine fast traumhafte Performance zustande bringt, während die Kunst menschelt? Den Stoff für den Film The Lady von Luc Besson liefert der friedliche Kampf einer Frau gegen die jahr- zehntelange Militärgewalt in Birma (heute Myan mar): der Volksheldin Aung San Suu Kyi, Tochter des Un- abhängigkeitskämpfers Aung San, seit 1989 jahrelang unter Hausarrest gestellt und 1991 in Abwesenheit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Eine Ikone aller Freiheitskämpfe, diese zierliche »Lady«, wie sie im Volk genannt wird, die den Gewehrläufen

Fotos (v.l.n.r.): B. Szandelszky/AP/dapd; M. Christen ©European Union; M. Bragard ©Universum Union; M. Bragard Film M. Christen ©European Szandelszky/AP/dapd; B. (v.l.n.r.): Fotos trotzt. Die Dreharbeiten endeten im Moment ihrer Der 79-jährige Freilassung im November 2010. Die Wirklichkeit aber Al-Subair al-Senussi findet seither ungerührt ihre Fortsetzungen: Jetzt kan- ist Großneffe des didierte und siegte die Lady bei den Nachwahlen am letzten libyschen Königs 1. April mit der National League for Democracy fürs Parlament, 30 Sitze sind zu besetzen, und Suu Kyi »Wir sind noch im Krieg« kann die Opposition vertreten. Ausgerechnet jetzt kommt der Film. Ursprünglich sollte The Lady im März anlaufen, nun wurde seine Ein Gespräch mit Ahmed al-Senussi, der in Libyen 31 Jahre in Gaddafi s Gefängnis saß und nun als deutsche Premiere auf den Moment der Wahlen ver- Vorsitzender des Übergangsrates für die Demokratie in seinem Land kämpft schoben, und so fordert er den Vergleich mit der Wirklichkeit eigens heraus. Sein stärkstes Mittel: die Expressivität des Gesichts von Michelle Yeoh in der Die Menschen von Bengasi waren es, die vor einem den Veränderungen. Sie leben immer noch in einem Zustand des Krieges. Die Menschenrech- beginn übergelaufen sind. Die Milizen werden Hauptrolle, jener einstigen guten Jahr die Revolution gegen den libyschen Armut. Sie haben das Gefühl, dass die Regie- te hier können nicht so sein, wie ihr euch das im aus guten Gründen erst die Waffen abgeben, Miss Malaysia, die ein Diktator Muammar al-Gaddafi begannen. Sie rung ihre Stimme nicht hört, und es steht zu Westen vorstellt. Gerade in Misrata wurden die wenn sie vertrauenswürdige Institutionen an- Weltstar ist, seit sie als zahlten einen hohen Preis. Wofür? Früher wie befürchten, dass die Wut auf der Straße jeden größten Verbrechen begangen. Wir hoffen den- treffen, die auch klarstellen, wer die Freiheit Li- Bond-Girl glänzte, und die heute werden die Geschicke des Landes in Tripolis Augenblick explodieren kann. Wir brauchen noch, ein System errichten zu können, das Men- byens erkämpft hat. Und das sind nun einmal nun als Suu Kyi zeigt, dass entschieden, und Bengasi hat wenig zu melden. Da- deswegen dringend eine transparente Regierung, schenrechtsverletzungen bestraft, gleich, ob es die Rebellen. Ihr Verdienst wird übrigens nicht sie auch einen vielschichti- mit das nicht so weitergeht, wurde kürzlich die in der die Interessen der verschiedenen Landes- sich um Verletzungen durch Rebellen oder um durch die neuen Foltervorwürfe geschmälert. gen Charakter ergreifend autonome Provinz Cyrenaica (arabisch Barka) aus- teile vertreten werden. Der Zentralismus ist ein Verbrechen der Gaddafi-Anhänger handelt. Da- ZEIT: In Libyen gibt es viele, die im Kampf er- darstellen kann. Doch da- gerufen. In Zukunft will Ostlibyen seine inneren Erbe der Gaddafi-Zeit, das schwer zu überwin- bei sollten wir überlegen, ob wir internationale probt sind und derzeit keine Beschäftigung ha- mit fast schon genug. The Angelegenheiten selbst regeln. Nur was Außen- den ist. Wir sind alle Kinder eines Landes und Beobachter ins Land bitten. ben. Angeblich sind junge Libyer bereits nach Lady hätte das bleibende und Verteidigungspolitik angeht, soll Tripolis weiter wollen uns nicht trennen lassen. Deswegen ist es ZEIT: Was war Ihnen das Wichtigste im ver- Syrien gereist, um den Kampf gegen Baschar al- Porträt eines politischen den Ton angeben. Zum Vorsitzenden des Rates von wichtig, jetzt eine gerechte Regierung zu grün- gangenen Jahr? Assad zu unterstützen. Was halten sie davon? Freiheitskampfes werden Cyrenaica wurde Ahmed al-Subair al-Senussi den. Ein drängendes Problem sind aber auch die Al-Senussi: Die Freiheit. Dass Gaddafi gestürzt Al-Senussi: Es ist verständlich, dass junge Leute können, wie es Richards Michelle Yeoh als gewählt. Der 79-jährige Großneffe des letzten geflohenen Gaddafi-Anhänger. Sie müssen aus- wurde. Nach 31 Jahren im Gefängnis wurde ich nach Syrien fahren. Auch wir hatten schließlich Attenboroughs Gandhi ge- Aung San Suu Kyi libyschen Königs saß 31 Jahre lang in Gaddafis Ge- geliefert und verurteilt werden, auch weil sie 2001 begnadigt. Aber auch da war ich nicht frei. Hilfe von Freiwilligen aus dem Ausland. Das lang – doch dieser Film fängnis, davon 18 Jahre in Einzelhaft. Senussi gehört wirtschaftliche Macht haben, Libyen zu stören. Ich durfte zwar meine Freunde besuchen, doch sind allerdings Entscheidungen, die einzelne rührt vor allem als auf- zu den Gründern des Übergangs rates und zugleich ZEIT: Es gibt heftige Kritik am Übergangsrat. es herrschte Angst. Freiheit bekam ich erst 2011. Menschen treffen, weil sie mit ihrem Gewissen wühlende Ehe-, Mutter- und Tochtergeschichte zu seinen schärfsten Kritikern. Ist Föderalismus das Von Unfähigkeit und Korruption ist die Rede. Ich kann heute im Übergangsrat sagen, was ich nicht vereinbaren können, dass ein Volk von lauter zerrissene Herzen zu Tränen. richtige Modell für Libyen oder bedeutet die Al-Senussi: Der Protest ist berechtigt: Die Men- denke, und in der Presse den Übergangsrat kriti- seinem Herrscher niedergemetzelt wird. Sie tref- Denn Luc Besson hat sich dafür entschieden, das Autonomie von Cyrenaica den Beginn des Zerfalls schen wollen, dass der Übergangsrat, zu dem ja sieren. Die Intellektuellen müssen diese Freiheit fen diese Entscheidung zu einem Zeitpunkt, an bisher kaum bekannte private Drama in den Mittel- Libyens? Das ist nur eines von vielen heiklen auch ich gehöre, die Forderungen der Bevölke- dem Volk immer wieder vor Augen führen. dem es als sehr unwahrscheinlich gilt, dass die punkt seines Films zu rücken: Im Jahr 1988 wird Themen, wenn es um die Zukunft Libyens geht. rung zur Kenntnis nimmt. Sie wollen wissen, Ähnlich wie in Deutschland nach der Hitlerzeit Weltgemeinschaft direkt in Syrien interveniert, Suu Kyi, die mit ihrem Mann, dem Tibetologen wofür das Geld ausgegeben wird, das wir aus die Autobahnen gelobt wurden, gibt es bei uns wie sie es in Libyen getan hat. Dafür gibt es Michael Aris, und zwei Söhnen in Oxford lebt, ans dem Ausland bekommen, und wo die Öl-Ein- Stimmen, die die Verdienste Gaddafis loben, Gründe. Sicherlich spielen auch die Geografie Sterbebett der Mutter nach Birma gerufen. Sie kehrt nahmen hinfließen. Dann ist da noch das Pro- ganz besonders die Sicherheit, die unter ihm und die ethnische Zusammensetzung in Syrien in ihre Heimat zurück. »Wie lange fährst du weg?«, blem der Bildung: Libyen ist unter Gaddafi zu herrschte. Dem muss widersprochen werden. eine Rolle. fragt ihr jüngerer Sohn, als sie aufbricht. »Eine Wo- einem zurückgebliebenen Land geworden. Die Wichtig ist auch die Anerkennung durch die ZEIT: Bald soll in Libyen gewählt und der che. Vielleicht zwei«, sagt sie. Sie irrt sich. Sie kommt Rückständigkeit macht sich auch gerade im Be- Weltgemeinschaft. Als ich den Sacharow-Preis Übergangsrat aufgelöst werden. Was machen nicht wieder. mühen um Gerechtigkeit bemerkbar: Die Vor- verliehen bekam, war das nicht nur für mich Sie dann? Die Opposition will die Heldentochter an der stellung individueller Rechte ist unbekannt. wichtig: Ganz Libyen ist ausgezeichnet worden. Al-Senussi: Auch wenn die Arbeit im Übergangs- Spitze des demokratischen Aufstands sehen, dieser ZEIT: In Misrata habe ich mit dem Chef der ZEIT: Ist die Region ein Jahr nach Beginn rat zu Ende geht und eine Nationalversammlung wird blutig niedergeschlagen, sie wird in Arrest ge- Verhörzentrale gesprochen. Der Mann soll ver- des Arabischen Frühlings auf dem Weg zur gewählt ist, sehe ich es als meine Aufgabe an, nommen und steht fortan in einem unauflösbaren antwortlich für die Folterung ehemaliger Gadda- Demokratie? mein Volk zu begleiten und darüber zu wachen, Dilemma zwischen Familie und Politik. Nur selten DIE ZEIT: Vor einem Jahr begann die Revolution fi-Anhänger sein. Hinter seinem Schreibtisch Al-Senussi: Leider nicht. Tunesien ist vielleicht dass wir wirklich den Schritt in die neue Zeit dürfen Mann und Kinder sie kurz in Rangun besu- hier in Bengasi. Wo stehen wir heute? hing das Bild seines Sohnes, der bei den Kämp- die Ausnahme. Es kommt aus einer eher milden schaffen und auch wieder voll und ganz in die chen. Ihr Mann, gespielt als solidarisch-treuer Mär- Ahmed al-Subair al-Senussi: Wir sind immer noch fen in Misrata getötet wurde. Er war voller Hass Diktatur, und der Übergang fällt deswegen Weltgemeinschaft aufgenommen werden. chenprinz-Gatte von dem wunderbar britischen am Anfang. Wir haben den Diktator Muammar und Trauer. Ist in einer solchen Situation Ge- leichter. Was Ägypten angeht, so regiert dort das ZEIT: Das heißt, Sie wollen Präsident werden? David Thewlis, stirbt schließlich 1999 einsam an al-Gaddafi vertrieben, aber die Strukturen der rechtigkeit möglich? System Mubarak weiter, wenn auch unter einem Al-Senussi: Wer weiß? Wenn das Volk mich Krebs. Sie bleibt allein zurück, eingesperrt in ihrem Diktatur bestehen noch und bedrohen das Neue. Al-Senussi: Libyen ist noch kein Staat. Es gibt anderen Namen. Der Blick nach Ägypten er- wählt, werde ich nicht Nein sagen. Ich werde Elternhaus im Birma der Militärs. Selbst hier in Bengasi, wo die Revolution begann eine Vielzahl von Milizen, die Teile des Landes klärt, warum unsere Milizen zögern, ihre Waffen aber nicht kandidieren. Was für ein seltenes Spiel mit Illusion und po- und die Entwicklung am weitesten fortgeschritten kontrollieren. Manche von ihnen üben Gerech- abzugeben. Viele der neuen Verantwortlichen litischer Freiheit das ist: Kaum wird es im Kinosaal ist, spüren die Menschen noch nicht genug von tigkeit, andere Rache. Wir befinden uns noch in sind Gaddafi-Leute, die erst mit Revolutions- Das Gespräch führte JULIA GERLACH hell, trocknet die Wirklichkeit schon die Tränen. FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 5959

Der letzte Kunstgott London feiert Damien Hirst mit einer ersten großen Ausstellung. Für viele ist er bloß ein banaler Radaukünstler. Sie unterschätzen ihn VON HANNO RAUTERBERG

in Künstler, der Schmetterlingen rein gar nichts, was überraschend wäre. Über- der Lebenden, so hatte Hirst sein Werk ge- Einmal mehr zelebriert sich Hirst mit die- dessen, für manche von ihnen zahlen Samm- Eine erstickte die Flügel ausreißt, um damit sei- raschend ist nur, dass hier die Kunst ihr Foto- nannt. Und nun steht man davor und ahnt, sem Paradoxon als Herrscher über das Werden ler schon mal 1,2 Millionen Dollar. Friedenstaube: ne Leinwände zu bekleben. Einer, gesicht ablegt. Sie sieht nicht aus, wie man sie dass nichts schlimmer sein kann als das hier: und Vergehen, als letzter Künstlergott auf Er- Nicht zufällig tragen viele seiner Spot-Pain- »Unvollständige der blutige Kuhschädel ins Muse- aus Magazinen und Zeitungen kennt, sie ver- nicht tot und nicht untot zu sein. den. In zwei raumgreifenden Werken führt er tings medizinische Namen. Sie heißen Ventolin Wahrheit«, um schleppt, damit die Maden liert den kalten Glanz. Und jene Macht der Hirst ist der große Einwecker und Vitrini- uns den ewigen Lebenszyklus vor Augen, ver- oder Ergocalciferol, als handele es sich um Me- 2006. Und Edort nisten und sich tief eingraben ins Bild- Emblematik, für die Hirst so bekannt ist, weil seur unter den Gegenwartskünstlern. Alles bei zaubernd und grausig zugleich. Da sind die dizin und als könnte Heilung erwarten, wer Schmetterlinge gedächtnis des Publikums. Einer, dem nichts er wie kein anderer seine Werke medienge- ihm ist gesichert, vieles luftdicht weggeschlos- Fliegen, die sich vom Blut eines Rinderschä- nur lange genug hinschaut. Vieles dreht sich aus Hirsts ekelig, nichts banal genug zu sein scheint. Er recht zurichtet, sie scheint im Museum zu sen, unvergänglich, wie es scheint, und unge- dels nähren, ihre Eier ablegen und schließlich bei Hirst um lebensverlängernde oder stester-r- Installation hat es so zu Weltruhm gebracht, als Kadaver- verpuffen. Hier bekommt die glatte Kunst ein fährlich. Deshalb rückt man nah heran, auf vor unseren Augen sterben, mit einem Blitz, bensbeschleunigende Mittelchen, für ihnn ist »In and Out of karrierist. Er hat irrwitzige Summen verdient, paar Runzeln, und sie riecht. Nein, sie stinkt. Nasenlänge, bis sich unter den eigenen Blicken einem kleinen Qualm, wenn sie an die strom- das Pendant zum Riesenaschenbecher eine Love«, 1991 als Pünktchenmaler und Pillenarrangeur. Er Schon im ersten Raum, in dem die Tate die Kunst verwandelt. Aus Schrecken wird führenden Stäbe eines Fliegentöters stoßen. Riesenapotheke, die er hineinstellt in die Tate, ist schon heute, mit nur 47 Jahren, in die ein paar recht possierliche Hirst-Werke aus Elend, wie beim Hai. Und die weiße Taube, begleitet von Medizinschränken, in denenen er Kunstgeschichte eingegangen – als Massen- den achtziger Jahren zeigt, hängt ein seltsamer dieses kitschige Inbild des Friedens, erscheint nd da sind die blau und grün Spatel, Sägen, Zangen, lauter Operationsbeste beste-- produzent schier unerschwinglicher Status- Mief. Zwei Säle weiter dann: ein Aschenbe- als Botschafterin des Todes. Lauter Luftbläs- schillernden Falter, die sich im cke als monströse Kostbarkeiten inszeniert.eniert. symbole. Nein, Damien Hirst muss einem cher, groß wie ein Kinderplanschbecken, an- chen umfangen das Gefieder, als wäre der Vo- Museum entpuppen und, ohne Und auch Tabletten, Zäpfchen, Pillen werden nicht sympathisch sein. gefüllt mit uralten Kippen, die vor sich hin gel tief hineingestürzt in ein Wasser, das ihn ein Wo, Wie oder Warum zu bei ihm wie Reliquien verabreicht. Und so ärgert es viele, dass er nun zu allem dünsten. Hirsts große Kunstparty, das steigt nicht wieder hergibt. Als sähen wir zu, wie er kennen, durch die dumpfige Das mag man albern finden oder einfaeinfachchh Überfluss auch noch eine große Ausstellung einem unmissverständlich in die Nase, ist aus gerade erstickt, die Augen qualvoll verzogen. UAusstellungsluft trudeln. Manche legen noch nur fad. Doch angenehm verwirrendd ist es bekommt, die erste überhaupt in einem und vorbei. Und so ist hier eigentlich alles: Das erinnert nicht zufällig an die klassische Eier, bevor sie irgendwo auf dem Fußboden schon, wie Hirst dort, wo es einzig um WirWir-- Kunstmuseum und ausgerechnet in der ko- sehr präsent und sehr vorbei. Vanitas-Kunst, an die überbordenden Stillle- verenden, von den Besuchern zerquetscht. kung geht, um heilende Ingredienzien,ien, mit lossalen Tate Modern in London. Fällt denen ben mit ihren Früchten, Tieren und Blumen, Einzig in der Kunst scheint ihre Schönheit großer Nonchalance die Form feiert und zeigt, denn nichts Besseres ein? erfolgt vom kalten Qualm, steht die auf den ersten Blick ungemein verlockend zu überleben, wenn Hirst und seine Mitarbei- wie bunt und leuchtend und schön dasas ist, was Abb. (Detail): ©Damien Hirst Um es klar zu sagen: zum Glück nicht! man Aug in Aug dem Haifisch erscheinen und auf den zweiten ranzig, faulig, ter die zarten Flügelchen in feuchte Farbe drü- eigentlich ja nur helfen soll. Und wiedereder ist es and Science Ltd./©VG Bild- Normalerweise ist Hirst ja nicht ohne Da- gegenüber, jenem oft beschriebe- modernd. Leben ist nur dort, wo Tod ist, das cken und zu großen Mosaiken arrangieren, erst die Kunst, die dem Vergänglichen,chen, den Kunst, Bonn 2012; fotografiert von Hanno Rauterberg für mien zu haben, nicht ohne die ewigen Ge- nen Wappentier der Gier, wie Werden nicht denkbar ohne das Vergehen – von denen manche wie abstrakt-bunte Kir- zum Verzehr bestimmten Heilstoffen,n so etwas DIE ZEIT schichten von dem kleinen, armen Arbeiterkind gemacht für die Großwildjäger das ist die recht ungemütliche Wahrheit dieser chenfenster aussehen, seit je lichtmystisch auf- wie Ewigkeit verleiht. Wir schauen uns das an, aus Leeds, das gerne zeichnet, sonst nicht viel unterV den Kunstsammlern, eine Trophäe, er- Bilder. Und Hirst übersetzt sie ins 21. Jahr- geladene Zeichen der Transzendenz. Einzig in spiegeln uns in der Vitrine mit den abertau- mit sich anzufangen weiß und es dennoch mit worben vom Hedgefondsmanager Steven hundert, sprich: mit gewaltigem Aufwand. der Kunst, so scheint uns Hirst zuzuflüstern, send Tabletten, erblicken unser Ebenbild, das viel Glück und noch mehr Chuzpe zum allbe- Cohen für 9,4 Millionen Euro. Doch diese Noch nie war der Tod so wertvoll wie bei kann die Schönheit überleben. Der Preis da- sich auflöst in bunte Pillenpünktchen. Und kannten Schlagzeilenkünstler und Schlossbesit- Summe schreckt so wenig wie das Riesen- ihm. Nie hat man ihn so gerne herumgezeigt für: brutaler Tod. augenblicklich geht’s uns besser. zer bringt. Er ist der Kunstunternehmer mit maul, egal wie weit der Hai es aufreißt. Nicht in Magazinen und im Internet. Nie haben Auf mal lakonische, mal provokante und Damien Hirst fällt nichts Neues mehr ein, 180 Angestellten, mal auf Droge, mal im Fa- Furcht, nicht Ekel, eher stilles Mitleid be- ihn Menschen so dringlich besichtigen wol- gerne auch auf dekorative Weise spricht aus mit dieser Erkenntnis verlässt man die Tate. milienglück mit drei Kindern. Und seine Skulp- schleicht die Betrachter: wie der Fisch dort im len wie jetzt, da die Tate Modern eigens eine den meisten der unendlich vielen Hirst-Werke Seit 20 Jahre macht er dasselbe, was man ihm turen und Bilder scheinen kaum mehr zu sein Riesentank vor sich hin schwappt, derart an- Art Kaaba in ihre Turbinenhalle gestellt hat, die Angst. Eine Angst, auf die er mit Gesten aber nicht vorwerfen sollte. Er will halt nicht als fotogene Accessoires des Erfolgs. Wie man geschrumpelt, dass er kaum mehr aus den vor der sich endlose Schlangen bilden. Alle der Macht reagiert, mit einer Kunst der abso- als sein eigener Schmetterling enden, er will sich täuschen kann. Augen schauen kann. Und was sind das für drängen sie dem ultimativen Vanitas-Symbol luten Beherrschtheit. Selbst in Hirsts Malerei nicht werden und vergehen. Lieber bleibt er, Die Tate hat viele seiner wichtigsten Wer- Risse über den Flossen; und die Kiemen, wa- entgegen, dem Hirstschen Totenschädel aus ist alles millimetergenau justiert, jeder bunte wie er ist, endlos endlich Damien Hirst. ke versammelt, zwei in Formaldehyd einge- ren die schon immer so papierdünn? Der Platin, mit 8601 Diamanten – echten Dia- Punkt ist in sich perfekt, so perfekt wie der Bis zum 9. September; www.tate.org.uk/modern. legte Haifische, mehrere Kühe und Schafe ganze gestorbene Leib scheint noch einmal zu manten! – besetzt. Es ist ein Wahnwitz-, ein Abstand zum nächsten perfekten Punkt. Das Der Katalog erscheint bei Prestel, auch auf und eine Taube, dazu eine große Zahl von sterben, vor unseren Augen. Als wollte der Habgier-, ein Sündenschädel, ein Zeichen der System ist total und schier ewig verlängerbar. Deutsch, und kostet 39,95 € Medizinschränken, etliche Punktebilder, Hai seinen Bezwinger widerlegen: Die physi- Vergänglichkeit, doch hergestellt in der denk- Hier scheint das Ende tatsächlich überwun- Schmetterlingsbilder, Schleuderbilder – und sche Unmöglichkeit des Todes in der Vorstellung bar unvergänglichsten Form. den. Über 1500 solcher Bilder gibt es unter- A www.zeit.de/audio 60 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON DISKOTHEK

The Shins: »Port of Morrow« Johann Sebastian Bach: »h-Moll-Messe« (Columbia/Sony Music) (Phi/Note 1)

Die Verantwortung lastete schwer auf The Shins. Ihre unerbittlichsten Kritiker sind die Künstler 2004 wurden sie im Film Garden State zu einer selbst. Kaum haben sie ihre neuen Platten aus Band gekürt, »die dein Leben verändert«. Seit- der Folie gerissen und erstmals als Normalhö- dem kämpft Shins-Kopf James Mercer mit der rer aufgelegt, stellen sie missglückte Übergän- Dialogzeile aus dem Kinohit. Ein Kampf, den er ge, mangelnde Inspiration, verwackelte Töne oft verlor, weil seinen Liedern ausgerechnet ihr fest. Bei den Aufnahmesitzungen hatte nie- Alleinstellungsmerkmal abhanden kam: die mand gemeckert. Nun aber keimt der Gedan- Leichtigkeit, mit der die Band aus New Mexico ke: So darf das nicht stehen bleiben. Und er zum Beginn ihrer Karriere noch die belangloseste denkt schon an die nächste Einspielung. Na- Melodie zum erleuchtenden Erlebnis befördern türlich handelt es sich bei den angeblichen konnte. Fehlern um Petitessen, doch unter der Lupe Diese Unbekümmertheit findet Mercer auch vergrößern sie sich zu Monstern. auf Port of Morrow nicht wieder. Aber er findet Niemand kann dem Dirigenten Philippe etwas Besseres: Ein zweites Leben als ernstzuneh- Herreweghe nachsagen, dass er sein Juwel, mender Singer-Songwriter. Dazu hat der mitt- Bachs h-Moll-Messe, bislang mit schmutzigen lerweile 41-Jährige den Großteil seiner Band neu Pfoten aus der Vitrine geholt hat. Herreweghe besetzt und den Produzenten Greg Kurstin enga- hat sich ihr stets auf Zehenspitzen und mit

giert, der bewiesen hat, dass er mit Indie-Spin- Broede Felix Foto: Handschuhen genähert, andächtig und um- nern wie The Flaming Lips, aber auch mit Pop- Maximilian Hornung ist Solocellist sichtig, er hat die besten Kräfte zusammenge- größen wie Britney Spears arbeiten kann. im Symphonieorchester zogen. Stets wähnte man sich bei den Auf- Kurstin hat den Sound der Shins entschlackt. des Bayerischen Rundfunks nahmen von 1988 und 1998 im Bereich der Die Gitarren sind schlicht, das Schlagzeug un- Spitzenklasse, die erste war bei Virgin, die aufdringlich, und auch die Elektronik wird spar- Begabung als Verpflichtung zweite bei Harmonia Mundi erschienen. Jetzt sam eingesetzt, auf dass nichts ablenken möge hat Herreweghe sein eigenes Label Phi gegrün- von Mercers warmer Stimme und seinen Texten, Der Cellist Maximilian Hornung ist Hoffnungsträger einer neuen Musikergeneration VON MIRKO WEBER det und Bachs Opus summum abermals auf- in denen viel die Rede ist vom Meer und von der genommen. Nun muss der Künstler gegen Sonne, von der Liebe natürlich, vor allem von sich selbst konkurrieren. der Liebe, aber auch von Limonade – also eben arum wird einer Musiker? Der Hause Apolls. Das Reich der Kunst ist so uner- cherart problemlos am Kommerzgeschnipsel Wie Karajan, der die Beethoven-Sinfo- von all den Dingen, die dein Leben verändern Saxofonist Sonny Rollins hat ge- messlich groß.« vorbei. »Jump!« hatte, abgesehen vom Titel, der nien alle Jahre neu einspielte, gibt auch Her- können. THOMAS WINKLER sagt, es sei das Instrument gewe- Maximilian Hornung hat dieses Kunst-Haus einen nun mal unweigerlich an die unselige reweghe etappenweise Auskunft über seine sen, so glänzend und kunstvoll zunächst über einen kleinen Umweg, aber mit Band Van Halen denken lässt, etwas Einladen- Perspektive auf die h-Moll-Messe. Große metallverschlungenW schön im Koffer, wie es da- rasanter Zielstrebigkeit betreten. Es ist nämlich des: Hereinspaziert!, und Hornung hat über- Neuigkeiten sollten nicht zu erwarten sein. rin lag – da habe er sich einfach verliebt. Der das Cello gewesen, für das er prädestiniert war, haupt nichts dagegen, wenn man auch die Nie war Herreweghe ein Sprinter, nie ein Dirigent Pierre Boulez antwortete: »Je veux do- nicht die Geige, und Hornung hat gelernt, was Saint-Saëns/Dvořák-CD in diesem Sinn ver- Kraftmeier: Für ihn war und ist historische miner«, und wenn man ihn so anschaut und ihm das Zeug hielt – für das Musikerleben, nicht für steht. Wiewohl Dvořáks h-Moll-Konzert dies- Aufführungspraxis vielmehr ein Weg zu grö- als immer noch genialem Erkenntniserheller zu- die Schule. Mit 16 ist er raus aus dem Gym na- mal die mögliche romantische Doppelrahm- ßerer Subtilität musikalischen Denkens und hört, war damit natürlich auch nicht alles, aber sium, auch weil seine Eltern schließlich ihren stufe ausspart. Hornungs Adagio ist hier kein Sprechens. Schon 1988 musizierte der Flame doch eine ganze Menge gesagt. Der Cellist Ma- Segen dazu gaben. Und auf einmal habe er rich- kurzer Besuch im Krankenzimmer der Spätro- so reflektiert, als ob er den Klang seines En- ximilian Hornung hingegen, 25 Jahre alt, also tig viel Zeit gehabt, sagt Maximilian Hornung mantik, sondern eine detailgenaue, sehr tief sembles dem geistig klaren Raum der Musik jung und frisch wie der Frühling, erinnert zual- bei einem Gespräch in München. Heute ist gehende Ausleuchtung einer verletzten Seele. anverwandeln wollte. Jetzt ist Herreweghe lererst an einen Blick aus seiner Kinderzeit auf Hornung Erster Solocellist im Symphonieor- Man hört, wo es wehtut, das soll man auch. Im der Musik als hörbar deutender Interpret vier gesetzte Herren, die sich in einem Augs- chester des Bayerischen Rundfunks, einem der Epilog des dritten Satzes jedoch schließt Hor- komplett entwichen; er steht gleichsam hin- Birdy: »Birdy« burger Wohnzimmer über Streichquartettlitera- besten Orchester der Welt. Er gehört zu einer nung märchenhaft weich und virtuos mitlei- ter einer der gotischen Säulen, die das Opus (Warner Music) tur beugten. Einer davon war sein Vater. Die jungen neuen Generation von Musikern, und dend die Wunde. Keiner stirbt für sich allein. summum tragen, und freut sich der Gelas- Wangen am Holz, prüften und berieten sie, wenn es weiterhin gut geht, wird sie womöglich Dass Hornung schon ein bisschen jenseits der senheit, mit der seine Musiker durch die lachten, stritten, disziplinierten sich und ließen ein neues Publikum erschließen. Kunstwelten gelebt hat, spricht aus jedem seiner Musik strömen. Coverversionen haben nicht gerade den besten sich gehen – und hatten am Ende der Probe zwar Worte (»Ich habe schon auch eine Menge Unsinn Vor allem begreift Herreweghe das Werk Ruf. Als Mittel, Aufmerksamkeit zu schaffen, nicht unbedingt die Werke neu erfunden und Detailgenaue Ausleuchtung gemacht«), aber eben hauptsächlich aus seiner flüssiger als je zuvor. Beinahe jeden Satz durchaus gängig, im Ausnahmefall immerhin die Welt verändert, aber zumindest einen Stand- einer verletzten Seele Musik. Und er hat, bei aller Höflichkeit und Um- nimmt er zügiger, aber das ist keine Frage des geduldet, schmälert es die Reputation doch sehr, punkt bezogen und Freude gehabt und das Ge- gänglichkeit im Gestus, einen unerhört hohen metronomischen Tempos, sondern der Ge- wenn sie zum Strukturmerkmal werden. Cover- meinschaftsglück genossen. Die alten Abonnenten kennen noch die Zele- Anspruch an sich selbst. Früher waren zwei, drei schmeidigkeit, des rhetorisch Sinnfälligen. band? Kirmesband! Es sei denn, jemand inter- Wer ernsthaft hören möchte, wie das Glück der britäten: Menschen wie aus einem anderen Vergleichsaufnahmen auf Platte normal beim Stü- Herreweghe muss nicht mehr verdeutlichend pretiert das Ausgangsmaterial so eigenständig musikalischen Gemeinsamkeit klingt, muss den Jahrhundert, Kunstmönche und Hohepriester ckelernen. Wenn überhaupt. Heute gibt es – und ausbreiten, was sowieso in Überfülle daliegt. wie Jasmine van den Bogaerde. Unter dem letzten Take auf Maximilian Hornungs neuer CD der strengen und anstrengenden Sorte. Dann da muss man gar nicht mal mit Bach-Suiten an- Und in theologischen Aspekten versagt er Künstlernamen Birdy eignet sich die Britin auf mit Dvořáks Cellokonzert und Stücken von Ca- kamen Epigonen, etliche nicht ganz durch die fangen – Dutzende Orientierungsmöglichkeiten. sich das Mystische. Wunderbar der Über- dem gleichnamigen Debütalbum zehn charts- mille Saint-Saëns wählen. Opus 36 ist eine kleine Bank legitimierte Exzentriker – und manches Hornung nutzt das Angebot, lernt aber Stücke, gang vom Confiteor zum Ex expecto, wo Bach ferne Songs von The XX über Bon Iver bis hin zu Romanze des Franzosen, keine hundert Takte, ur- schwer medienmanipulierte Blendwerk war nicht zuletzt von Bach, »von innen heraus«, um den Chorsatz bei der Erwartung der Aufer- den Fleet Foxes an. Sie macht mit ihnen etwas, sprünglich einmal geschrieben für Horn und Kla- auch dabei. Hornung zählt zu einer Handvoll die Werke »fürs Publikum aufzumachen«. stehung der Toten zu harmonischen Wun- das derlei Kopismus nachhaltig adelt: Sie lässt vier, und, wie oft bei Saint-Saëns, herzlich dem Hochbegabungen, die einerseits die üblichen Er ist musikgeschichtlich bestens informiert, dern beugt. Nun bestaunt der Chor diese das Original vergessen, ohne es zu verhunzen. Solisten gewidmet. Nichts Bahnbrechendes. Kei- Pfade gegangen sind (2005 Gewinn des Deut- aber kein großer Freund der historischen Auf- Wunder nicht mehr, indem er vor ihnen Ob Rockballade, Indiepop, Countryfolk oder ne neue Weichenstellung in der Musikgeschichte. schen Musikwettbewerbs, 2007 Erster Preis führungspraxis. Unterhaltend in einem existen- schier verharrt, sondern durchmisst sie eilig Elektronisches – was immer die gefühlvolle Pia- Eine Melodie, easy going, aber: Sie will getragen beim ARD-Musikwettbewerb mit dem Tecch- ziellen Zusammenhang zu sein ist ihm wichtig und scheu. Der Verzicht auf Ausdruck er- nistin anpackt, es erhält durch das betörend werden. Maximilian Hornung und die Bayerische ler Trio), andererseits eigene Wege im Sinn – und die Begabung Verpflichtung: »Wer raus- höht die Wirkung ungemein. Spröde, das tiefgründig Ausbalancierte ihrer Staatsphilharmonie unter Sebastian Tewinkel haben. geht«, sagt er, »muss alles geben, jeden Abend.« Und das Collegium Vocale Gent musiziert Stimme eine unvergleichliche Kraft. Das einzige nehmen dazu alle Hände, die sie haben, bis das Nach Aufnahmen mit Kammermusik debü- Am Schluss nachgerade unvermeidlich die Dis- wirklich paradiesisch. Alle Spitzentöne klingen selbst komponierte Stück Without A Word lässt Stück scheinbar abhebt und sich akademische tierte Hornung im vergangenen Jahr bei Sony kussion, unter welchem großen Dirigenten der wonnig und weich wie Sahnehäubchen, auch hoffen, ihr Auftakt könnte ein Indiz entstehen- Fragen nicht mehr stellen, die Saint-Saëns ohnehin Classical mit einer CD, die programmatisch Vergangenheit er gerne einmal gespielt hätte. Er in scheinbar harmlosen, in Wirklichkeit hunds- der Individualität sein. Dass Birdy bisweilen dick ungern in Betracht zog. auf den ersten Blick ein wenig konfettihaft zögert ein wenig, aber eigentlich nur zum Spaß, gemeinen Koloraturen wie im Et in terra pax aufträgt, dass sie in der Tradition von Kate Bush Als Jules Massenet starb, dessen Erfolgsopern wirkte: Boulanger-Zuckerstückchen, ein biss- denn wen wunderte, wer Maximilan Hornung schmiert nichts. Die Solisten fühlen sich in oder Tori Amos steht, kann man ruhig aufs Alter er selber gerne geschrieben hätte, erschien in Saint- chen Debussy, ein wenig Schubert und sogar spielen und reden hört, die Antwort: Leonard dieser positiv-leichten, nicht vergrübelten, mit- schieben: Mit 15 hat man schließlich noch Idea- Saëns’ Nachruf recht unverklausuliert seine eigene ein Arrangement von Bachs Air. Dies nun aber Bernstein. unter sogar heiteren h-Moll-Messe sehr wohl; le. Wer jugendlicher Unbekümmertheit etwas Standortbestimmung, auch wenn der Kollege ge- waren nur die (fabelhaft gespielten) Lockmittel die Damen und Herren Mields, Blažiková, abgewinnen kann, sollte ihr das umgekehrt nicht meint war: »Er ist oberflächlich, heißt es, er hat für Herausforderndes: zwei Stücke von Anton Saint-Saëns: Romanze; Dvořák: Cellokonzert Guillon, Hobbs und Kooij bieten reinen, sinn- zur Last legen. Birdy ist Birdy, weil sie das Ande- keine Tiefe. Das stimmt: Er hat keine Tiefe, aber Webern zum Beispiel oder Mahlers Lieder eines Maximilian Hornung (Cello); lichen, stilistisch perfekten Bach. Bassist Kooij re eigenartig macht. Viel mehr kann man von das ist auch völlig bedeutungslos. So wie des Herrn fahrenden Gesellen, ohne Worte. Nach der glän- Bamberger Symphoniker, Bayerische war übrigens schon 1988 dabei, doch nie war Coverversionen kaum erwarten. JAN FREITAG Haus viele Wohnungen hat, gibt es auch viele im zenden Oberflächenpolitur kam Hornung sol- Staatsphilharmonie; Ltg. Sebastian Tewinkel (Sony) er so wertvoll wie heute. WOLFRAM GOERTZ KUNSTMARKT 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 61 Der Erfinder des Kunst-Hypes

Wie heutige Galeristen Herwarth Walden nacheifern, der ein visionärer Vermarkter von Avantgarden war VON TINA KLOPP

ottentotten in Oberhemden und Harry »Judy« Lybke. Ihm gelang es vor wenigen ihre theoretischen Manifeste zu veröffentlichen, 12 farbspritzende Brüllaffen – der Erste Jahren mit ähnlicher Verve, Neo Rauch und die über die Zeitschrift bewarb er vor allem Wan- Deutsche Herbstsalon, der vom 20. Neue Leipziger Schule international bekannt zu derausstellungen. Zwar waren die bereits in der September bis zum 1. Dezember machen. »Galeristen sind auch heute noch die zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekom- 1913H in einem Abrisshaus an der Potsdamer Schlüsselfiguren für die Positionierung von men, aber erst Walden machte sie zum echten Straße in Berlin stattfand, war alles andere als Künstlern im Markt«, sagt etwa die Kunst- Werbemotor. Heute ist das eine gängige Me- erfolgreich. »Man glaubt aus der Gemäldegalerie marktexpertin Piroschka Dossi. Die Kampfzo- thode zur Wertsteigerung: Kunstwerke gehen eines Irrenhauses zu kommen«, schrieben die ne, so Dossi, sei heute allerdings »nicht mehr die als Leihgaben auf Reisen und gewinnen mit je- Hamburger Nachrichten, und der Vorwärts hatte bürgerliche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts der Ausstellung an Popularität. Darüber hinaus »Tollwütige Pinseleien« gesehen. Der Galerist mit ihren Werten und Tabus, sondern der ka- war Walden gut darin, die deutsche Kunst in- Herwarth Walden, der für die Ausstellung einen pitalistische Markt des 21. Jahrhunderts«. ternational bekannt zu machen: Er verschiffte Saal von 1200 Quadratmetern angemietet hatte, Aber Walden war eben nicht allein der Idea- die Werke sogar bis nach Japan und in die USA. quittierte den Nichterfolg mit Achselzucken. list, der sich selbstlos für die Werke seiner Zugleich war er ein Kommunikationstalent, Die Schmähungen der Kunstkritik druckte er Künstler einsetzte. Zwar hatte sich Walden den auch hier ein Vorläufer des digital vernetzten auf Flugblätter, verteilte sie noch während der Kampf gegen das bourgeois-verbohrte Kunst- Kunstmarkt-Dealers – am Telegrafiegerät. Ausstellung – und machte weiter. verständnis auf die Fahnen geschrieben. Aber Sein Geschäftserfolg hatte allerdings noch So groß die Widerstände anfangs waren – der bahnbrechend waren vor allem seine Werbe- eine andere Seite. Walden genoss einige ominö- Oskar Erfolg, der sich bald einstellte, war umso über- Kniffe. »Walden war sehr charismatisch, aber se Privilegien während des Ersten Weltkriegs. Kokoschka wältigender. Vermutlich zeigte sich schon beim eigentlich kein Galerist«, sagt Andrea von Hül- Ein sogenanntes Nachrichtenbüro brachte ihm malte den Bedrucken dieser Flugblätter, was Herwarth sen-Esch. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte Zahlungen vom Auswärtigen Amt ein. Dass Galeristen- Walden wirklich beherrschte: das Orchestrieren in Düsseldorf und hat die Wuppertaler Aus- Walden Spionage betrieb und nicht nur Zei- Star von Aufmerksamkeit. Heute könnte man ihn stellung über Jahre vorbereitet. Walden war ein tungstexte übersetzte, kann Expertin Hülsen- Herwarth sich gut als Leiter einer großen Marketingabtei- echter Fuchs. Im Ersten Weltkrieg verdiente er Esch »nicht ausschließen«. Er hatte auch pro- Walden lung oder an der Spitze eines Medienkonzerns vermutlich Millionen mit Werken von Chagall minente Kritiker: László Moholy-Nagy klagte 1910 vorstellen. Walden gilt als der Prototyp des ge- und Kandinsky, die ihre Bilder in seinem Lager 1920 in einem Brief, Walden sei »Millionär ge- wieften, strategischen Galeristen und als der eigentlich nur deponiert hatten. Nach dem worden« und habe eine »prächtige Bildersamm- Mann, der die Avantgarden des 20. Jahrhun- Krieg hatte die Inflation die Gewinne aufgefres- lung«. Weil er »die Bilder umsonst« bekomme. derts – Expressionismus, Futurismus, Dadais- sen. Man traf sich vor Gericht wieder. Dazu noch seine »fürstlichen Allüren«. Die bil- mus, Neue Sachlichkeit – ins piefige Deutsch- Im Ersten Weltkrieg gingen Waldens Ge- dende Kunst werde nur noch »in Cliquen be- land geholt hat. »Man muss sich die Frage stel- schäfte ohnehin richtig gut, was sich auch im trieben«. Kommt einem vertraut vor? Schon. len, ob die Sammlungen der großen Museen in Gründungseifer jener Zeit spiegelt: Bereits 1914 Aber selbst ein so einflussreicher Galerist wie Berlin, Bern, New York, Paris, Washington heu- wurde der Verlag Der Sturm gegründet, von Lybke, so Hülschen-Esch, habe nur einen ein- te ohne ihn nicht völlig anders aussehen wür- 1916 an folgte eine Sturm-Kunstschule, die zigen Künstler wirklich groß gemacht. den«, schreibt die Kuratorin Antje Birthälmer Weltpressestelle, Sturm-Abende in der Galerie, Herwarth Walden als Erfinder des moder- Bonn 20 Bild-Kunst, beide: © VG Museum Rostock; Kulturhistorisches Häntzschel/Nordlicht/© T. Oskar Kokoschka; © Fondation Abb.: im Katalog der großen Ausstellung Der Sturm, außerdem die Sturm-Buchhandlung und die nen Kunst-Hypes? Durchaus, sagt Hülsen-Esch: die gerade im Wuppertaler Von der Heydt-Mu- Sturm-Bühne. Walden habe schon damals ver- »Man könnte sagen, dass Walden den Blauen seum gezeigt wird (bis zum 10. Juni). standen, eine Marke zu kreieren, sagt Hülsen- Reiter gehypt hat.« Waldens Erfolg gilt als vorbildlich für heuti- Esch. Geschickt bespielte er die Kanäle: In sei- Der Unterschied zu heute? Ein Hype hatte ge Galeristen. Häufig fällt da der Name Gerd ner Zeitung bot er den Künstlern Raum, um früher noch ein bisschen länger Bestand. Finstere Weltgeschichte im Kloster Der ZEIT-Museumsführer: Das Kulturhistorische Museum in Rostock VON DÖRTE BLUHM

TÄGLICH usgerechnet hier, hinter den Mauern Oskar Schlemmers im Stil seiner berühmten der Rostocker mit der Freien Universität in küste durch die Künstlerkolonien Ahrenshoop GEÖFFNET, des einstigen Zisterzienserinnen- Bauhaustreppe über Erich Heckels bedrückend Berlin. Am Ende erklärten sich die betroffenen und Schwaan einen intensiven Austausch mit AUSSER klosters in Rostock, zeigen sie den wirkendes Clown und Knabe bis hin zu Christi- Museen damit einverstanden, dass die Werke den großen deutschen Kunstzentren. So kamen MONTAGS Nachlass von Bernhard A. Böhmer, an Rohlfs düsteren Werken Krieg und Spöken- in Rostock verbleiben, um sie in dieser ebenso Erich Heckel, Elisabeth von Eicken und Thuro Aeine der finstersten Kunstsammlungen der kieker. Zu den ausgestellten Grafiken zählt ein eindrucksvollen wie erschreckenden Fülle an Balzer zum Arbeiten in den Norden. Wer die Nazizeit. Böhmer war einer von vier autorisier- Blatt der Otto-Dix-Radierung Streichholzhänd- einem Ort zeigen zu können. Denn so schön ruhigen Landschaften mit weitem Himmel ten Händlern, die im Auftrag der National- ler. Sie zeigt einen blinden, seiner Arme und viele der Bilder auch sein mögen, liegt doch der oder die stillen Porträts jener Zeit mag, wird sozialisten jene Kunst verkaufen durften, die Beine beraubten Kriegskrüppel, der auf der eigentliche Wert dieser Ausstellung nicht in der die Ausstellung mit Freude betrachten. unter Hitler als »entartet« galt. Heute ist der Straße versucht, Zündhölzer zu verkaufen, Kunst allein. Dank der sorgfältigen Auswahl Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch der N° letzte geschlossen erhaltene Bestand von Wer- während ihm ein Hund an einen der Bein- und vieler Informationen über die Herkunft Rundgang durch die Klosteranlage mit Kirche ken aus der Aktion »Entartete Kunst« in Ros- stümpfe pinkelt. Das gleichnamige Gemälde, der Bilder lädt diese Schau dazu ein, sich am und Innenhof überaus anregend und informa- tock zu sehen, nachdem das Kulturhistorische das zusammen mit der Radierung entstand, konkreten Beispiel mit der deutschen Ge- tiv ist. Kleinen Besuchern wird die mittelalterli- 137 Museum langwierig umgebaut wurde. hängt in der Staatsgalerie Stuttgart. schichte auseinanderzusetzen. che Holzplastik des Heiligen Georg im Kampf Das bekannteste Stück in der neuen Dauer- Ein Teil des nach Rostock gelangten Böh- Doch damit hat sich ein Besuch dieses er- mit einem Drachen gefallen. In der Ausstellung ausstellung Verfemte Moderne ist Rudolf Bel- mer-Nachlasses ging bereits in den 1950er staunlichen Museums natürlich längst nicht mit historischem Spielzeug ist zudem Anfassen lings Messingkopf. Insgesamt hat der Künstler Jahren an die Museen zurück, aus denen die erschöpft. Entdecken lässt sich hier beispiels- ausdrücklich erwünscht. Der Eintritt im Kul- sechs Güsse hergestellt, den Probeguss besitzen Werke einst entfernt worden waren. Hingegen weise die Mecklenburger Kunst aus der ersten turhistorischen Museum ist kostenlos. die Rostocker. Auch Feininger und Klee wer- blieben jene Werke, die den Sammlungen im Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sehr zu Un- den hier gezeigt, ebenso wie Marc, Corinth, Westen Deutschlands gehörten, in Rostock recht kaum jemand kennt und die wohl nir- Jetzt neu erschienen: Der reich illustrierte zweite Rudolf Belling: Barlach oder Kokoschka. Die Bandbreite der und bildeten nach dem Mauerfall die Grund- gendwo sonst so eindrücklich zu sehen ist wie Band des beliebten ZEIT-Museumsführers, hg. von »Messingkopf« Gemälde reicht dabei von der Frauenschule lage für ein gemeinsames Forschungsprojekt hier in Rostock. Damals gab es an der Ostsee- Hanno Rauterberg im Edel Verlag 62 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 FEUILLETON

Buchhandlungen sind heutzutage vor allem eines: oder libri.de stiegen stetig. Den großen Filialisten Die durch den Onlineverkauf ausgelöste Um- Zugleich gilt Barnes and Noble im Gegensatz zu Sie sind groß. Bücher stehen nicht einfach im Re- aber ging es zunehmend schlechter. Insbesondere strukturierung des Buchhandels ist in den Ver- Amazon oder Apple als Traditionsunternehmen. Ein gal, sondern werden auf Tischen und in Auslagen Thalia befindet sich nun schon seit Monaten in einigten Staaten bereits sehr viel weiter fort- Es wurde 1873 als Buchdruckerei gegründet, die aufwendig in Szene gesetzt. Der Buchhändler berät einer Krise, unterzieht sich einer groß angelegten geschritten. Dies liegt vor allem daran, dass das erste Buchhandlung eröffnete 1917 in New York. weniger. Er präsentiert vielmehr seine Bücher, staf- Restrukturierungsmaßnahme, schließt beispiels- E-Book in Amerika auf eine weitaus größere Ak- Dass ein solch einflussreiches und traditionsreiches fiert sie mit allerlei Beiwerk aus und protzt vor al- weise immerhin 15 ihrer fast 300 Filialen. zeptanz stößt als in Europa. Während in Deutsch- Großunternehmen auf den deutschen und euro- Platzhirsch lem mit Masse. Vergangene Woche wurde nun bekannt, dass land heute nur knapp zwei Prozent der verkauften päischen Markt drängt, ist wohl das wichtigste der Jahrelang verfolgten große Buchhandelsketten die führende amerikanische Buchhandelskette Bücher E-Books sind, ist in den USA bereits jedes vielen Symptome für die Krise, in der sich der wie Weltbild, Hugendubel oder Thalia die immer Barnes and Noble mit einer deutschen Nieder- fünfte Buch ein elektronisches. deutsche Buchmarkt derzeit befindet. gleiche Strategie: Vor allem durch ein umfangrei- lassung auf den europäischen Markt drängt, auch Die großen amerikanischen Buchhandelsket- Der Schritt aufs europäische Festland verdeut- mehr ches Sortiment und dessen glanzvolle Präsentation wenn das Unternehmen dazu noch keine Stellung ten verzahnten daher schon sehr früh den kon- licht, dass man hierzulande die Veränderungen im sollten Kunden, die ihre Bücher mit einem einfa- nimmt. Zukünftiger Geschäftsführer soll der der- ventionellen Verkauf von Büchern mit einem Leseverhalten unterschätzt hat, wie sie sich in Die amerikanische Buchhandelskette chen Klick auch im Internet bestellen könnten, in zeitige Vizepräsident und Chefanwalt des US- bedeutenden E-Book-Programm. So ist Barnes Nordamerika seit Langem abzeichneten. Barnes Barnes and Noble drängt auf den die Geschäfte gelockt werden. Heute weiß man, Unternehmens Eugene DeFelice werden. Zuvor and Noble heute am amerikanischen Markt vor and Noble wird sich auch in Deutschland für das deutschen Markt diese Strategie ist nicht aufgegangen. schon kursierten Gerüchte, der nordamerikanische allem im E-Book-Bereich sehr erfolgreich. Vor E-Book einsetzen. Schon im vergangenen Jahr Kleine Buchhändler wurden zwar in vielen Fäl- Buchhändler würde auf den Buchmarkt in Groß- Kurzem erst lancierte das Unternehmen das An- stieg der Umsatz in diesem Bereich erheblich. VON ALEXANDER PLESCHKA len verdrängt oder aufgekauft, man wurde zum britannien und den Niederlanden expandieren. droid-Tablet Nook, senkte die Preise für die ge- Die ungewisse Lage am Buchmarkt wird sich da- Platzhirsch vor Ort, mit dem Onlineverkauf konn- Barnes and Noble, das in den USA und Kanada be- wöhnlichen E-Reader und profilierte sich damit mit weiter zuspitzen. Buchhandlungen werden te jedoch nicht Schritt gehalten werden. Die reits mehr als 700 Filialen führt, hatte zuletzt selbst als direkter Konkurrent zu Amazon und dessen schrumpfen und seltener werden. Weniger ist wohl Marktanteile von Internetanbietern wie Amazon mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Kindle- Produktkette. auch hier mehr. FEUILLETON 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 63

inen beträchtlichen Teil der jüngeren gerüsteten. Sie findet nur niemanden, der fähig wäre, deutschen Literatur erkennt man da- ihre Lebensfreude zu teilen. Sie bleibt mit ihrem ran, dass ihre Autoren alles tun, um zu Übermut allein. Ihr Leben ist ein Fest, zu dem alle Das Letzte verbergen, dass sie deutsche Literatur Eine Frau stürzt eingeladen sind, aber es wird von allen boykottiert. schreiben. Die Helden dieser Texte Am Ende verrät Lotte, dass sie eine der 36 Ge- Immer wieder behaupten die lieben Kollegen von Etragen internationale Vornamen, sie haben an- rechten sei, die Gott auf der Erde herumirren lässt, der Mehrheitsmeinungspresse, das Leben in gelsächsische Filme im Kopf und angelsächsische damit sie die Welt zusammenhalten. Dabei macht Deutschland sei kalt und herzlos geworden. Musik im Ohr, und sie bewegen sich durch Städ- Cate Blanchett beschwichtigende Gesten zum Him- Während große reiche Banken tonnenweise mit te, die nicht zu erkennen geben, dass es deutsche mel hin, als wolle sie sagen, er, unser nachlässiger Steuermitteln beschenkt werden, landen arme Städte sind. Darin verrät sich ein mächtiger aus der Welt Schöpfer, solle mal nicht alles auf seine ewige Gold- kleine Drogerieverkäuferinnen in der Hölle von Fluchtreflex: Wenigstens im Schreiben wollen die waage legen, er müsse doch wissen, dass auf Erden Hartz IV. Liebe Kollegen, wir sind anderer Mei- Autoren dem Land entkommen, in dem sie leben, Hollywoodstar Cate Blanchett spielt »Groß und klein« von Botho die Worte eine geringere Dichte hätten und dass man nung. Es hat sich viel zum Guten gewendet in jenem Deutschland, das junge Angelsachsen in hier unten dicker auftragen müsse. diesem Land, zum Beispiel gehen immer mehr Umfragen immer wieder zum langweiligsten Ort Strauss in Paris – und bald auch in Deutschland VON PETER KÜMMEL Selbst in der größten Verzweiflung bewahrt Firmen dazu über, ihre gehobenen Mitarbeiter auf dem Planeten wählen. Blanchetts Lotte die Grazie einer unbesiegbaren nicht einfach zu feuern, sondern sie vorher zu Eine andere Strategie hat im Jahr 1978 der Thea- Stand-up-Komödiantin, die auf Johannes Schütz’ einem Abendessen in angenehmer Atmosphäre terdichter Botho Strauss verfolgt, als er sein Stück schwarzer Bühne nun einfach weiterziehen und sich einzuladen. Ein Schandmaul von der Gewerk- Groß und klein schrieb. Dessen unglückliche, nach ein anderes Publikum suchen wird – selbst wenn sie schaft spricht bereits vom »Letzten Abendmahl«. Geborgenheit und Zusammenhang suchende Hel- dazu erst einen neuen Planeten finden muss. Dann Die Frage für den Gekündigten lautet dabei din, Lotte, ist ins Deutsche wie geworfen, sie schickt sie einen kollegialen Shut-up-Wink zu Gott natürlich: Was ziehe ich an? Wie vermeide ich stammt aus Remscheid-Lennep, und die Verzweif- hinauf: Du hältst dich jetzt raus, du wirst hier unten Benimmpatzer? Hier unser Tipp: Um das Essen lungsreise, auf welche Strauss sie in seinem Statio- ordentlich vertreten, und zwar von mir. so nett wie möglich zu gestalten, sollte der Kan- nendrama schickt, führt sie von Saarbrücken über Der englische Dramatiker Martin Crimp hat didat gut gelaunt und hübsch gekleidet dem Er- Essen nach Hörnum/Sylt. Sie fällt durch ihr Land Strauss’ Stück ins Englische gebracht, er hat aus Groß eignis beiwohnen. Die Dame macht mit einem wie durch einen grauen Schacht. und klein nun Big and Small gemacht. Crimp schuf knielangen Rock nichts falsch; ihre Bluse ist Strauss hat seine Lotte mit den Eigenarten und eine sorgfältige, sozusagen sangbare englische Fas- hochgeschlossen, beim Blazer sind alle Farben Mulmigkeiten ihres Heimatlandes geradezu geteert sung (Cate Blanchett ist manchmal tatsächlich ver- erlaubt, Hauptsache, er ist dunkelblau. Für den und gefedert; er lässt sie eine Sprache sprechen, die sucht, in Gesang zu fallen, so sehr ist sie berauscht Herrn gilt: Braune Sandaletten und Ringelsocken nur eine überempfindsame, schutzlose, welthell- von der Fülle ihrer Monologe). Aber er hat den Text zu schwarzem Armani-Anzug sind keine gute Stemmler für Illustration: QuickHoney DIE ZEIT/www.quickhoney.com/Peter Lisa Tomasetti; Foto: hörige Deutsche sprechen kann; und er umgibt (um eher für den internationalen Markt flottgemacht, als Idee, »No brown after six«, sagt der Fachmann. nicht zu sagen: erdrückt) sie mit Nebenfiguren, die dass er ihn kongenial übersetzt hätte. Strauss hat in SZ-Online hat jüngst daran erinnert, dass wäh- von einem verlegenen Erklärungszwang und grö- Groß und klein ein Land erfasst mittels der falschen rend eines Geschäftsessens alle Kleidungsstücke ßenwahnsinnigen Erklärungsrausch getrieben sind, Töne, die es produziert. Von diesem unglaublichen am Körper verbleiben müssen. »Jackett und wie ihn so nur Deutsche kennen. Reichtum an Nuancen der Verstellung und Vertu- Krawatte bleiben an. Was man bei der Vorspeise Wenn nun die australische Hollywood-Schau- schung kann der Übersetzer Crimp nur das wenigs- trägt, trägt man auch beim Dessert.« Betritt der spielerin Cate Blanchett im ausverkauften Théâtre te in die Zielsprache tragen. Er ist wie ein Fährmann, Personalchef das Lokal, wird er per Handschlag de la Ville in Paris sich der Lotte annimmt, hat man der das große Gepäck mitnimmt; aber die kleinen begrüßt. Pünktlich mit der Vorspeise stößt der ein wenig den Eindruck, hier tue eine weltberühm- Habseligkeiten der Reisenden, den unersetzlichen Gekündigte mit seinem künftigen Ex-Chef auf te Person eine gute Tat: Blanchett, Inhaberin eines Tinneff, bringt er nicht über den Fluss. die Zukunft seiner Ex-Firma an und wünscht Sterns auf dem Walk of Fame in Hollywood, über- Big and Small kam 2011 in Australien heraus; in ihnen persönlich alles Gute. Vorsicht, Fettnäpf- nimmt eine Patenschaft für eine verwirrte, unter- der solid-einfallsreichen Inszenierung von Benedict chen! Nicht mit den Fingern in der Vorspeisen- gehende deutsche Theaterfigur. Andrews bereist das Stück nun Europa. Die Pro- platte herumstochern oder in Erwartung des Lotte, die nach der Trennung von ihrem Mann duktion bringt doppelten Gewinn: Erstens kann man Hauptgangs mit der Zunge schnalzen. Auch bei niemanden mehr hat, an dem sie sich festhalten die tolle Cate Blanchett endlich bei uns auf der Büh- Kündigungsessen werden grundsätzlich Messer kann, ist die wunderlichste Heilige des modernen ne sehen. Zweitens wird man animiert, sich Botho und Gabel benutzt. Häufiger Stolperstein ist die deutschen Theaters. Indem sie verzweifelt, tröstet Strauss’ Stück im deutschen Original vorzunehmen Bouillon, wie Jochen Mai, Autor der Karriere- sie die Mitmenschen; indem sie strauchelt, stabili- – als Lesetext. Man merkt dann, welch prophetische Bibel, weiß: nicht pusten, nicht schlürfen und siert sie die Umstehenden: ein menschlicher Tritt- Leistung Groß und klein war. Strauss hat schon 1978 den Löffel nur mit der Spitze zum Mund führen. stein, auf den andere springen, um ans sichere Ufer gezeigt, woran wir heute leiden; und er wusste schon Cremesuppen werden gelöffelt, klare Brühen zu kommen, eine Katalysatorin, die nichts hat von damals, wie wir heute sprechen. dürfen auch getrunken werden. Bitte keine Brot- den rettenden Vorgängen, die sie bewirkt. Strauss war, als er dieses Stück schrieb, 34 Jahre reste mit der Begründung in die Serviette ein- Frühere Lotte-Verkörperungen wirkten immer alt; heute ist er 68. Groß und klein markiert also die wickeln, die Familie könne künftig von Hartz IV so, als seien sie auf dem Weg in eine geschlossene Mitte eines Künstlerlebens. Seltsam, heute hat man nicht leben. Wem bei einer Kündigungsspeise Anstalt oder in ein Kloster – ihnen war auf Erden den Eindruck, das sei Strauss’ beste Zeit als Drama- wider Erwarten die Tränen kommen, der tupft nicht zu helfen (man denke an Edith Clever, die in tiker gewesen. Es kamen danach von ihm noch diese zügig mit einer sauberen Serviette ab; an- Peter Steins Uraufführung, 1978 an der Berliner viele wichtige, unverwechselbare Stücke, aber zum schließend wieder lächeln und Trauerkloß mit Schaubühne, die Lotte spielte). Cate Blanchetts Kanon, zu der Literatur, die ein Land »aufhebt« und einem ortsüblichen Eau de vie runterspülen. Lotte hingegen wirkt, in dieser Produktion der von erfasst, gehören sie weniger als dieses frühe Schau- Gläser mit Stiel werden auch an diesem angefasst! ihr geleiteten Sydney Theatre Company, als gehöre spiel aus der Mitte eines Lebens, eines Landes. Sobald es ans Zahlen geht, bieten Sie Ihrem Chef sie in ein überirdisches Varieté: eine leuchtende »Big and Small« ist vom 27. April bis zum 19. Mai an, die Rechnung als Spesen abzusetzen. Danach Eisbrecherin im Packeis. Hier fällt eine Übermütige in London, vom 25. Mai bis zum 3. Juni bei den ist für Sie endgültig FINIS unter die Verdrossenen, eine Freigiebige unter die Wiener Festwochen und vom 9. bis zum 17. Juni bei Klemmer, eine Aufgeschlossene unter die Ein- Cate Blanchett als Lotte, verloren und heimatlos mitten in Deutschland den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu sehen www.zeit.de/audio

BERLINER CANAPÉS Die lebenden Körper und die toten Buchstaben sein Werk zugesteht, schachmatt gesetzt werden geschichte (»Neo-Romantik«) einzuverleiben. Aber fühl, als gäbe es in seinem Werk einen Mangel an sind zwei Sphären, die man besser getrennt von- können? Als vor einigen Jahren ein wissenschaftli- anders als Helmut Krausser war Georg Klein nicht Wahrheit, eine Art Sinn-Skorbut der Lektüre. Dabei IJOMA MANGOLD einander hält. Was am Ende zählt, ist das Buch, cher Kongress sich dem quietschlebendigen deut- nur für die ganze Dauer des Kongresses anwesend, sei er keineswegs ein unfairer Autor, er wolle den Le- sind nicht die Macken seines Schöpfers. Aber wie schen Schriftsteller Helmut Krausser widmete, er mischte sich auch beherzt, ja herausfordernd in ser nicht durch Rätselhaftigkeit brüskieren. der König hat auch der Schriftsteller zwei Körper: fuhren die Wissenschaftler erschrocken zusam- die Diskussionen über sein Werk ein. Und dann entfaltete Georg Klein auf anrührende einen konkreten, raumzeitlichen, mit allen orga- men, als zu Beginn der Tagung Helmut Krausser Die Philologie hütet sich traditionell, einem Weise sein sehr ernsthaftes Autoren-Ethos: Wenn er nischen Bedürfnissen und psychischen Nickelig- persönlich zur Tür hereinkam. Krausser, der für literarischen Werk eine eindeutige Botschaft oder vor Schülern lese und diese ihn nach der Botschaft keiten. Und einen geistigen Körper, der als schöp- seinen schrullig-maßlosen, geradezu operetten- Wahrheit zu unterstellen. Stattdessen betont sie des Gehörten fragten, sei es doch feige zu antworten: ferisches Mysterium gilt und nach Lesungen – haften Narzissmus geliebt, gehasst und gefürchtet gerne den ambivalenten, mehrdeutig schillernden »Hehe, ihr habt ja keine Ahnung von der Postmoder- eine irdische Spur aus höherer Sphäre – seine Ro- wird, wollte dann aber zum Glück nur überprü- Charakter des Sprachkunstwerks. Das sind Routi- ne und dem Ende aller Botschaften.« O Gott, mane signiert. Erst wenn der Schriftsteller tot ist fen, ob alle Wissenschaftler, die sich angemeldet ne-Posen der Philologie, für die es gute Gründe Den Zauberschlüssel zu seinem Werk verriet und man postum seine Tagebücher und seine hatten, auch brav erschienen waren. Nachdem er gibt. Zum Beispiel weil eine allzu handfeste Moral Klein den anwesenden Interpreten indes nicht. Aber der Dichter ist da! Briefwechsel erforscht, bringt die Wissenschaft sich davon zu seiner umfassenden Befriedigung von der Geschicht’ immer etwas banal und unter- umso interessantere Zeichen hinterließ er auf einem diese beiden Körper wieder zueinander: »Sieh ei- überzeugt hatte, verließ er den Raum wieder – zur komplex wirkt. Außerdem hätte sich der Autor Notizzettel: Während auf dem Podium über Kleins ner an, so ein Schlawiner war also unser National- großen Erleichterung seiner Exegeten. den anstrengenden Umweg über einen ganzen Faszination für die Schundliteratur gehandelt wurde, Klassiker!« Aber die Voraussetzung dafür ist der Diese hübsche Anekdote erzählte der Germa- Roman sparen können, wenn man ihn auf eine zeichnete dieser ein eigentümlich stilisiertes Gesicht Tod des Autors. nist Lutz Hagestedt aus einem ähnlichen Anlass Botschaft reduzieren kann. Doch plötzlich mel- auf ein Blatt Papier: zwei gespenstisch durchdringen- Aus dem gleichen Grund beschäftigt sich die wie dem Helmut-Krausser-Symposion. Es hatten dete sich Georg Klein zu Wort: Warum man im- de Augen, aus denen ein Plus- und ein Minus-Zei- Hier lesen Sie im Wissenschaft insgesamt nur sehr selten mit noch sich nämlich Literaturwissenschaftler und Litera- mer »nur« vom Sprachkunstwerk spreche, von ei- chen funkelten, schauten einen an, während die Wechsel die Kolumnen lebenden Autoren, denn wie sollte die Philologie turkritiker zu einem wissenschaftlichen Kongress nem nicht zu fixierenden Bedeutungsfluss, wäh- Schriftzüge »Schund«, »Schuld« und »Karriere« wie »Klarer denken« von Rolf Dobelli, mit ihren Erkenntnissen und Interpretationen zusammengefunden, um das Werk des ebenfalls rend man um die andere Seite dieses »nur«, um eine Pyramide die Wangen- und Kinnpartie dieses »Jessens Tierleben« von Jens Jessen und umgehen, wenn diese durch den Einspruch des noch lange nicht toten Schriftstellers Georg Klein die Botschaft, den Inhalt, die Wahrheit immer ei- Autor-Gesichts bildeten. Auch der Autor aus Fleisch »Berliner Canapés« von Ijoma Mangold Autors, dem man eine privilegierte Einsicht in unter die Lupe zu nehmen und der Literatur- nen großen Bogen mache. Fast habe er das Ge- und Blut bleibt eine wundersame Sphinx. der konnte Rest sich nicht entscheiden. und unpersönlich, religionen. religionen. Traditionen aus verschiedenen Welt- Lediglich selbst bei den Katholiken ist es nur nur es ist Katholiken den bei selbst eine Instanz; moralische sieht im Papst zu treten, ohne Kirchen oder Gottesdienste. inVerbindung Göttlichen dem mit Art, Kirche erhoffen. den Papst für ein Vorbild halten, wählen wählen Vorbild halten, ein für Papst den ob siegestellt, eher den Dalai oder Lama bezeichnen sich als religiös, sichals bezeichnen in der Bibel, eine haben, Seele Menschen dass sindDeutschen überzeugt, für ihre Kirchenzugehörigkeit. Grund wichtigste der Hochzeit, einer Lebenswenden, der etwa Taufe oder Gott, glauben an einen persönlichen Deutschen und übernatürliche Phänomene. Gleiche: Gleiche: sind und nicht Kirchlichkeit das Religiosität persönlichen Schutzengel haben, die Welt geschaffen hat. nach dem Tod dem nach und lediglich können. sozialen Bei Problemen sind es auf moralische Probleme geben Kirchen dass denkt, eine Antwort und Multiversums-Theorien desIslam-Punkder Erfolg Unternehmensberater, Consulting –Pastoren als unter anderem: Spiritual In dennächstenFolgen der Auferstehung ein EssayüberdieZweifel an populäre Religiosität sowie Auftakt zehn Thesenüber Mittelpunkt einerSerie. Zum Dieseerfunden? Frage stehtim Wie wird Glauben neu und Weltanschauungen. Heilslehren,kombiniert Rituale westliche Gesellschaft bunt –denndiemoderne Die Zukunft derReligion wird konkrete Vorstellung von Gott. von Vorstellung konkrete keine hat Drittel restliche Das strafend. für 55% Kirchenmonitor, DerSpiegel, P.M.Perspektive,MDGTrendmonitor Zahlenwerk derEKD,Europäische Wertestudie,Bertelsmann ZEIT- Für 43% Deutsche Jeder vierte 24% 43% 44% j Kirchenmitglied 12% Die Hälfte Religion in Zahlen w W protestantisch. Insgesamt gehören fast gehören fast Insgesamt protestantisch. sind entweder katholisch oder Religionsgemeinschaft an. an. Religionsgemeinschaft Sohn ist, 59 % 59 drei Viertel J TITELGESCHICHTE eweils rund rund eweils eder Zweite. eder ohlwollend und gütig, eniger als die Hälfte der Befragten Befragten der Hälfte die als eniger Grafik/Quellen: Forsa,Allensbach, emnid,Infratestdimap, 68% der Gläubigen halten Gott für für Gott halten Gläubigen der hin und wieder,

den Dalai Lama und und Lama Dalai den glauben, dass sie einen einen sie dass glauben, halten es für möglich. interessieren sich für das Heilige Heilige das sichfür interessieren 41% denken, Jesus dass Christus Gottes 28%,

31% jeder Zweite jeder ein Drittel ein der Christen ist die Feier der der Feier die ist Christen der 41% an ein höheres Wesen. höheres ein an ein Drittel ein der Deutschen liest nie nie liest Deutschen der 30 % der Bevölkerung einer einer Bevölkerung der der Konfessionslosen der die sich eine Lösung von der der von Lösung eine sich die Vor die Entscheidung Vor Entscheidung die sagen, sie hätten ihre eigene eigene ihre siehätten sagen, 63 % 4% der Deutschen Deutschen der sagt, es sei nicht religiös. nicht sei es sagt, 44% aller Befragten Befragten aller 5% für autoritär und und autoritär für

7% glaubt an ein Leben

(Seite 66) 23% selten, selten, glauben an Gott, Gott, an glauben daran, dass Gott daran, Gott dass mischt häufig. 89 42% jedes sechste sechste jedes für distanziert distanziert für % aller aller den Papst, den Papst,

aller .

2% 2%

Illustration: Smetek für DIE ZEIT; Verwendung eines Gemäldes von P. von Cornelius: »Die drei Marien am Grab« (Ausschnitt), 1815/22; © Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Neue Pinakothek München; Foto: bpk Religion. BeidesStatt- hatsichnicht bewahrheitet. ist nichttotundEuropa erlebteineRückkehr der Atheisten. Die Gegenthese hießResakralisierung: Gott sich sukzessive entkirchlichen, amEnde sindwiralle Gott isttot,diemoderneGesellschaftlarisierung: wird rende Thesenentwickelt.Die ersteThesehießSäku- ker indenletzten150Jahren zwei große konkurrie- Zur Zukunft derReligion habendiewestlichen Den- 2. Die Religion isteineBaustelle frei undfühlemichBuddha inEhrfurcht verbunden.« »Ich theologisch begründen: bininderLiebeChristi schen kanndasGlaubensparadox, daserlebt,jedenfalls Lebenverstehen. Brant-training füreinglobalisiertes Kombination von Zen undKatholizismusalsToleranz- tisch zuwerden seiderWeg. Vielleicht mussmandie Ihnen zuhelfenseidieAufgabe. Dabei nichtdogma- religiös oderareligiös. Die sinderstmalNervenbündel.« »Den Menschen, diezuunskommen,gehtesnichtum Religionen ebensobeheimatet seinwillwieinderWelt. steht füreinekatholischeAvantgarde, dieinanderen sen«, diemehralsihren Gott fürmöglichhalten.Er zurwachsendenZahlist. Er »religiöser gehört Virtuo- schen, dernichtnurJesuit, sondernauchZen-Meister desInstitutsernst«, sagtderBegründer Niklaus Brant- schen heran,sondernnehmensieinihren Fragen ging, boomendieLehrgängefür»Geist &Leadership«. ist, aberauseinemBildungshaus derJesuiten hervor- am Schweizer Lassalle-Institut, daszwar keinKloster gibtesschonjetztkeinePlätzeschwarzach mehr. Und Anselm Grün inderfränkischenAbtei Münster- die Führungsseminare 2012desBenediktinermönchs beliebtesten Kursleiter immerausgebucht sind.Für willig, manmusssichnurzeitig anmelden,weil die man weder Kirchenmitglied seinnochbekehrungs- oder »Spirituelles Coaching«.Um teilzunehmen,muss tragen verheißungsvolle Titel wie»Führen mitWerten« Gefühl fürdierichtigeRichtungverloren haben. te Manager, Arbeitsalltagdas dieimflexibilisierten die hektischeHausfrau undBesinnung fürgestress- gibtesLebenshilfefüralle:Kontemplationdort für sich selbsthaben,danngehensieinsKloster. Denn Vertrauens. Wenn Atheisten heuteeinProblem mit hatten, danngingensievielleichtzumPfarrer ihres Wenn einProblem Christenfrüher mitderWelt 1. Ein Gott kommtseltenallein Der moderneGlaubensmix –seineChancenundGefahren Erlaubt ist, was gefällt 64 moderne dazu, sichreligiös zuvergewissern.« wollen:»Der Menschworten neigtauchinderSpät- anthropologische Konstante sind,liebernichtbeant- Transzendenz, Glaubenwollen unser ewiges nuneine gionssoziologen dieFrage, obunsere Sehnsucht nach schen demSakralen unddemProfanen, sodassReli- Dabei verschwimmenkombiniert. die Grenzen zwi- Alltag werden (pseudo)religiöse Praktiken munter Steine undkauftfernöstlicheRatgeberliteratur. Im zum Yoga, liestHoroskope, glaubtandieHeilkraft der zum Beispiel lässtdanndochseineKindertaufen,geht allem gemischt.Der Atheist evangelisch sozialisierte Postmodernisierung desReligiösen: Alleswird mit westeuropäischen Gesellschaften ereignet sicheine damentalismus nebeneinander. Und inderMitte der dessen existieren heute KampfatheismusundNeofun- Klosterkurse einMegatrend. sindhierzulande Sie »Wir Wahrheiten tragenkeineewigen andieMen- 4.April 2012DIEZEITN o 15 gegnet dem Himmelsherrscher auf Augenhöhe. gegnet demHimmelsherrscher auf andererseits antiautoritärgemeint. Der Sänger be- Allmächtigen«. Die Blasphemie isteinerseitsfromm, geldgeilen, betontdiesseitigen Songs gern»Gott, dem minente Gangsta-Rapper ihre Platten mitsexfixierten, sondern kannauchaggressiv sein.So widmenpro- Popreligion mussabernichtweich undanschmiegsam, Skateboard7. Gott fährt ternativen von Joggen bisKinokonkurriert. der Freizeit stattfindetund mitalldensäkularen Al- er nichtmehrdie»sozialePerson« betrifft,sondernin schondeshalbnichtanstrengend sein,weil ben darf mehr, sondernleichtkonsumierbare Wellness. Glau- schwer verdauliches weltanschauliches Komplettpaket Glauben heute glücklichmachensoll.Er istkein Möbelhaus einenBuddha gekaufthat,derweiß, dass Wer jeim Feng-Shui-Hotel übernachtetoderim 6. Glauben machtglücklich unddurch Optionenabgesichert überfordert«. das einschwachesSubjekt ist:»durch Traditionen nicht tinuität istkaumaushaltbarfürdasmoderneSubjekt, weise inder»Familienphase«. Doch lebenslangeKon- aneineGemeindevorübergehend binden,typischer- Theologen beobachtenzwar, dassMenschen sich heißt Glauben ohneZugehörigkeit. Die praktischen keit, Unverbindlichkeit. derne Spiritualität heißtInnerlichkeit, Unmittelbar- dass manihnunverbindlich praktizieren kann.Mo- Das Bequemste amPatchwork-Glauben istnatürlich, 5. Spiritualität verpflichtet zunichts duums, sichauchgegenKirchendogmen behauptet. heitsprinzip derModerne, dieAutonomie desIndivi- berale sehendarindieChance,dassdasobersteFrei- geißeln dasalstraditionsvergessenen Narzissmus. Li- religiöse Heimkehr, sondernEinkehr. Konservative das Absolute, sondern dasIch. Ihr Ziel istnicht zur Ruhe zukommen.Ihr Bezugspunkt istnichtmehr streben, diepilgernodersichineineKirche setzen, um die vor Ostern fasten,weil sie»innere Klarheit«an- das praktischbedeutet,sehenwiranjenenAtheisten, vielleicht nichteinmalmehreinenGott braucht.Was Restreligiositätindividualisierte keineKirche und »eigenen Gott« verehren werde. Gemeint war, dassdie loge Ulrich Beck prophezeite, dassbaldjederseinen »postsäkularen Gesellschaft« geprägt,undderSozio- der Der Philosoph Jürgen Habermas hatdenBegriff 4. Jeder istseineeigeneKirche »intuitives Bogenschießen«. drama und»ganzheitlicheMassage«, sondernauch nichtnurYoga,Räumen mittlerweile Reiki, Psycho- mit Ketzern vorlieb. Und sogibtesinkirchlichen weihen. Wo dieFrommen aussterben,nimmtman für standesamtlicheTrauungen undsogarJugend- zur Messe aufraffen,öffnendiePfarrer ihre Türen auch Prozent derKirchenmitglieder sichSonntag noch früh Seit dieKirchen immerleerer werden undkaumzehn willkommen 3. Ketzer sindherzlich Believing withoutbelonging VON EVELYN FINGER Mein Der Engel der Auferstehung am leeren Grab des Heilands – davor hockt der Schokoladenosterhase der hockt –davor Heilands des Grab leeren am Auferstehung der Engel Der populären Glaubensmix einbisschenentspannen. den reinen Lehre ablegenundsich mitBlick ruhig auf zuhöhlen. Diese Angstkönntendie Vertreter dereinen und kaumgeeignet,diegroßen Weltreligionen aus- Religion garnichtreligiös sind.Sie sindreines Ritual sagen, dassgroße Bereiche dersogenanntenpopulären schlafen, andersatmen, sein.–Man könnte zuwerden.sioniert Ich wollteandersessen, ohnemis- und michfremden Ritualenunterwerfen, sagen: Ich wolltemitmeinenGewohnheiten brechen nicht von der Suche nachneuenWahrheiten, sondern haben, nachihren dannberichtensie Beweggründen, Topmanager, dieeineAuszeit imKloster genommen stellen dasKörperliche indenMittelpunkt. Fragt man und geatmetstattgeredet. Entspannungsübungen lichen Führungskräfteseminaren wird oftgeschwiegen leicht gehtesgarnichtumSinnsuche? In denklöster- das Christentumintellektuellaufweichen. Aber viel- suche diedrei großen Buchreligionen undnamentlich listen durch ihre Denkfaulheit undihre naive Sinn- schätzt. Die landläufige Klagelautet,dassdieSpiritua- Kritikern der»spirituellenRevolution« meistunter- dern vor allemderKörper. Doch derwird von den der Entgrenzung dientdabeinichtnurderGeist, son- ebenso wieinMusik, Tanz undMeditation. AlsMittel kulturellen Mainstream. Sie geschiehtimRisikosport Ekstatische Überschreitung desSelbst heutezum gehört 10. Sinnsuche istNebensache Gefühlsausnahmezustand, inderEkstase, imRausch. darin diewahre Sehnsucht derpopreligiösen Ära:im sieschönenSchauder.uns verursacht Vielleicht besteht ängstigend, weil siekeinenEndpunkt bedeutete,aber Den Mayaüberträgt. erschiendieEndzeit nichtbe- einePhilosophie derzyklischenWiederkehr tasien auf Missverständnis, weil siechristlicheApokalypse-Fan- einemtypischeninterreligiösen Die Frage auf beruht besitzt, undfragen:Wo isthierderWeltuntergang? Dresden indasMuseum, dasdenoriginalen Kalender geweissagt wurde, strömen nundie Menschen nach nächste Wendepunkt fürden21.Dezember 2012 Zeitalter endetundeinanderes beginnt.Weil der Die Maya glaubten,dassallepaarTausend Jahre ein 9. Die Gemeinde will,dasswaspassiert unsere vernunftgeleitete Gesellschaft tragen. dienenundeinMomentbewältigung von Magie in in Bodyguards diederprivaten Angst- verwandelt, längst nichtmehralssolcheauf, sondernhabensich zu glauben.Die Beamten desHimmels treten nämlich schen fälltesleichter, aneinenSchutzengel alsanGott Buchhandlungen epidemischaus.Und vielenDeut- verschenkt. Sie breiten sichindenEsoterik-Ecken der hausseelsorgern anPatienten jeglichenBekenntnisses Abstand ambeliebtesten.Sie werden von Kranken- demwestlichen Markt derReligionen mit heute auf Von allenProtagonisten desJenseitigen sindEngel 8. Engel helfenimmer God Forgives, IDon’t des amerikanischenRapstarsRickRoss trägtdenTitel Achtzigern. Das demnächsterscheinendeneueAlbum Gott Skateboard fährt –Gott vergibt, ichnicht. hießeineSkaterhymne ausden GLAUBEN & nem Guss: unantastbar, derZeit enthoben. Grund wird, verschleiert alsseiensieausei- hingegen dann,wenn dieBastelei anihrem standen. Problematisch werden Religionen geln aus.Genau darinhatihrAufbruch be- auch Nachlässigkeit imUmgang mitdenRe- Gelassenheit,eine gewisse Lässigkeitoder Stifter lehren, durch zeichnet sichdarum ben. Jene wahre Religiosität, wiesieunsdie ihre eigeneReligion zusammengebasteltha- Zeit eineneue,zuersteinmal: vorfanden, Menschen, diesichausdem,wassiezu ihrer nen glaubt,derglaubtaneineHandvoll Glauben schenken. Glauben schenken. die wirdurchschauen undderwirdennoch Literaturbetrachten,alsFiktion,potenzierter konterkarieren, müssenwirsiealseineArt wir dieseideologischeVerhärtung derReligion spur sichdurch dieGeschichte zieht.Wollen Kompensation durch Aggression, deren Blut- ihrer Musealisierung, imschlimmstenzujener imInnern.erstarrt imbestenFall Das führt zu ne, von derMacht beschlagnahmteReligion R E Gewissheit erreichen wir nie):Ich kannmir bestimmer soschwer zu finden(undletzte Weg zumGlauben fürunsmoderne Selbst- Gott an, nichtmitmir. Deswegen jaistder beim Glauben nicht.Glauben fängtmit um dieseIndividualisierungslogik gehtes oder sicheinerKirche zuverschreiben. Aber Religionnen, einerüberlieferten zufolgen weniger kreativ erschei- oderanspruchsvoll mich.Esmagauchbedeutend dann auf Gott anund komme beimGlauben erstauf schrecklich anti-individualistischfinden,es mir selber. bisschen Gott, dasichbrauche,mache auch ohnemeinZutun da,undderIdee: das schied zwischenderÜberzeugung: Gott ist Unterschied umsGanze. EsistderUnter- mehr teilen.Basteln odernicht–dasistein aberichkannsieimGrundesiert, nicht Ich habelangemitdieserHaltung sympathi- dem Glauben bloßnichtzuweit zutreiben. zusein,esabermit gepflegt an-spiritualisiert In vielenKreisen eszumgutenTon, gehört finden: Nein, Glaubens-Basteln gehtnicht. Eine solchedemfreien Gebrauch entzoge- Natürlich kannmandieVorstellung mich auf dieserSeite derBarrikade zu mich auf Bastler. Sie werden überraschtsein, inige meinerbestenFreunde sind wer aneinedergroßen Weltreligio- Religionen sindMenschenwerk, und eligionen fallennichtvom Himmel. postmoderner Immer mehr Ihre Kritiker praktizieren Beliebigkeit Religion als Patchwork. warnen vor Menschen verfängt auchderEinwandverfängt nicht,selbstgebas- Geiste. Sie istaberGott seiDank keinabstraktes ZWEIFELN selbst basteln? selbst Glauben seinen sich man Darf verbindet, nichtvoneinandertr on nurdarinerkennen kann,dasssie Menschen Und mehrnoch,weil ichdenSinn von Religi- mittags Buddhist undabendsChristzusein. Japan ist,morgensShintoist, längsttradiert draußen, fremd oderheimisch? Freund oderFeind, drinnenoder sortieren zumüssenglaubt:in dieallessauber oder unterwerfen, sich derLogikdesEntweder- und Buddhis mus? Christentum müssen zwischen ten siesichdannentscheiden ressierten sichfürReligion. Soll- genommen, meineKinderinte- Rein heitsgebote alsGift. An- dern, empfindeichreligiöse von zwei halbjapanischenKin- mit einerJapanerin, umtobt auch ichgemachthabe:Liiert die teilen vieleeineErfahrung, notwendigkeit. In unserer Welt globalisierten Programm, sondernmeisteineschlichteLebens- Yang und Yin für Symbol chinesische das sie hält Hand linken der –in Schoß ihrem auf Jesuskind das hat Maria Angst vor derFestlegung zu beobachten–undmit Unfugsresistenz insich. hat, vereint Maß eingewisses anWeisheit und wirkt: Der KanondesGlaubens, dersicherhalten Christentums hatebenauchals Unsinnsfilter ge- schweigen –,aber2000Jahre Geschichte des worden –vom Unrecht ganzzu Religionen vielUnsinn verbreitet Natürlich istimNamen von beständig etwasaufzuschwatzen. esGott geht,nicht,Gott rum bige versucht zuverstehen, wo- gung einegerichtete:Der Gläu- Vielmehr wird dieSuchbewe- dasSuchenrum nichtauf geben. kennen gibt,dermussaberda- seinen eigenenWegen –zuer- daran, dassersich–undseiesauf setzt. Wer anGott glaubtund ausge- suchung zurBorniertheit Gläubige istderständigenVer- Esoterik-Messe. Zugegeben, derdogmatisch der ser alsderKirchgänger undderKunde auf gläubige Muslim unddergläubigeChristoftbes- nicht Gott. Gott nichtpassendmachen,sonstwäre er Religiöse Bastelei geschiehtgenauindiesem Absurd erscheintmirdasauch,weil esin Ich meinebeivielen Glaubens-Shoppern eine Wahrscheinlich der verstehen sichdarum Sollten sie ennt. D nicht mituns mit Gott an, der Glaube fängt Denn neu erfinden: will Gott nicht Contra Menschen verbindet Sinn ist,dasssie der Religion: Ihr freien Gebrauch fürden plädiert Pro SCHWARZ PATRIK PROBST MAXIMILIAN eshalb eshalb on nur als spirituelles und moralisches Leben zu on nuralsspirituellesundmoralischesLebenzu ist, missbrauchenlässt.Ernsthaft aberistReligi- Selbst. Das magesgeben,weil sichalles, wasgut umseigene telte Religionen drehten sichstumpf ZEIT und gehört der evangelischen Kirche an Kirche evangelischen der gehört und ZEIT der Feuilleton im Autor ist 34, Probst, Maximilian ihn.« So weit solltenwiresnichtkommenlassen. nur fürdichbestimmt.Ich gehejetztundschließe schreit ihnderTorhüter an:»Dieser Einlass war AlserimSterben Allgemeinsten verwehrt. liegt, Mann lebenslangderEingang zumHeiligtum des mer geworden, sondernreicher, seitichfürdenkbar Kirchengegner gernsuggerieren. Ich binnichtär- bei Weitem nichtsoein,wieesRegelverächter und einenderVerzichtungen. Dabei sperrt aufsBasteln Überangebot imSupermarkt derWeltanschau- den Jahren einebeträchtlicheErschöpfung vom Er ist Sohn einer Pastorin aus Bayern aus Pastorin einer Sohn ist Er &Welt« aufgebaut. »Christ ZEIT-Beilage die Jahr 41, vergangenen im hat Schwarz, Patrik komme, binichgutausgelastet. dieReihe be- und Heiliger Geist –bisichdasauf mit derDreifaltigkeit zutun.Gottvater, Gottsohn religiöses Ding. Man tutes,um blemlösung basteltmansichsein bahnt undbestimmt. zu denNächsten undFernsten, gleich denWeg zudenanderen, anderen, höchstenPrinzips zu- haben: weil dieIdee einesganz bitte. Ich selberhabeschongenug tiefung ihres Glaubens dient, universums? Wenn esderVer- Son derbotschaftern desEngels- ren Heilsteinen, Tarotkarten und Chance derVertiefung. auchdie Glauben einlässt, erfährt ernsthafter. Wereinen sichauf hernehme), wird meine Suche könnte (oderwoicheinenneuen was anmeinemGott faulsein Weil ichmichnunseltenerfrage, was dasChristentumausmacht. halte, dassvielesvon demstimmt, ängstlichen, autoritätsgläubigen rabel wusste, warKafka.In seinerPa- Einer, dervon diesemParadox ja zumUniversellen zufinden. Erden, Liebe unddesFriedens auf einen eigenenZugang zurIdee der Nicht alsozurprivaten Pro- Und meineFreunde mitih- Vor demGesetz wird einem wird einem Eine ausdemmultireligiösen Erweckungsgeschichte Berlin Kirche ist ein cooler Ort vorgedrungen, daswarMännersache.vorgedrungen, Samia kann Frauen inihrer Familie istsienie tieferindenKoran Allah warnicht zuverhandeln. Wie die meisten nachkam, musstemitKonsequenzen rechnen. Mit es ernst.Das Gebet wareinePflicht,undwer ihrnicht sammen aßen.Doch wenn derMuezzin rief, wurde voller Verwandter, einegroße Tafel, andersiezu- zählt, klingtdasimmersehr malerisch.Ein Hof sen, imHaus ihrer Großeltern. Wenn siedavon er- Religion von ihrer Tochter fernhaltenwürde. weise geben, warfürSamia immer klar, dasssiedie gentlich treffen sollten, wenn wirihnenkeineHin- welcher Grundlage siedieseEntscheidung ei- auf wir unsamAnfangöftermalGedanken machten, Religionsgemeinschaft anschließen.Und während sie späterselberentscheidensollen,obsicheiner Mein Freund undichwaren unsimmereinig,dass Brauch ist,wäre mirnieindenSinn gekommen. ne Kindertaufenzulassen,weil dassoeinschöner der Pubertät irgendwoimRheinlandverloren. Mei- habe meinenkatholischenKinderglaubenwährend nicht nurMuslim, sondern»sogarSchiit«zusein.Ich migen Künstler verheiratet, dergerndamitkokettiert, dox getauftundinBerlin miteinemiranischstäm- na istRussin, Schauspielerin, inSt. Petersburg ortho- Zinsverbot ihrer muslimischenVaterreligion. Tatja- Genuss gegendas rin täglichundmiteinemgewissen W wieder inunserLebeneinschleicht. schauen dabeizu,wiesichdieReligion langsam Religion istkomplizierter. Man könntesagen,wir nicht zudiesenMenschen. Unser Verhältnis zur Eltern sehnen.Samia, Tatjana undichgehören Kinder haben,wiedernachdenTraditionen ihrer sonders vieleMenschen, diesichjetzt,dasieselber vielleicht lebenindiesemSprengel einfachnurbe- die Geschichte, dertollePfarrer, dieLage.Aber der von Gethsemane, mittenimgottlosenBerlin: und höllischlauteKindergottesdienste. taktete Hochzeitswochenenden, Massentaufen Sagenhafteblik gehört. 4000Mitglieder, engge- te zudenerfolgreichsten Gotteshäusern derRepu- eine heroische Rolle gespielthat.Und dasssieheu- sticht, inderfriedlichenRevolution vor 20Jahren schön ausdemGründerzeitgeschachtel heraus- sen wir, dassdiesekleineKirche, diesopostkarten- Die nächsteEisdiele istnichtweit. Natürlich wis- alten Bäumen umstandenundnichtzusonnig. einenschönenSpielplatz,dort übersichtlich,von treffen, hatvor allempraktischeGründe. Esgibt Dass wirunsregelmäßig anderGethsemanekirche unsereberufstätig, KindergehenindieselbeKita. ist derdritteSohn Wir sindalle geradeunterwegs. alsesdafürfastschonzuspätwar.gründet, unserer Nachbarn habenwirersteineFamilie ge- ist, alseslangsamschickwurde. Wie diemeisten als eshiernochbilligwar, unddergernegeblieben der irgendwannimNordosten Berlins gelandetist, Sie istinderAltstadtvon Damaskus aufgewach- Samia kommtausSyrien undverstößt alsBanke- Es gibtvieleErklärungsversuche fürdasWun- Samia hateinKind,ichhabezwei, beiTatjana wegs wohlhabenderMittelstand, Nicht mehrganzjunger, halb- lauer Berg geschimpftwird. Rede ist,wenn überdenPrenz- ir sinddieLeute,von denendie deshalb nichtmitSicherheit sagen,dassderFurcht begeistert. Siebegeistert. besorgte gleicheinweißes Kleidmit Die Großmutterschon nichtmehr gewundert. war Weihnachten einEngel seinwürde, hatmichdann schneiden, fallssieeinemBettler begegne. Dass sie wolle sie,wiederheiligeMartin, ihre Jacke durch- Tochter zog eineKinderschere ausderTasche. Damit großer Sohn eininbrünstiges wurde, Tatjanas gefeiert schmetterte Lichterfest November, einsehrweltliches alsimKindergarten vermutlich auchdasevangelische Gesangbuch. Im undrunter,Wonne und rauf die deutscheLiederfibel einem Jahr ohnegroßes Talent, singtesdort abermit Seit den zuhaben,dasKindsosehrfaszinierte. halbwegs profanen Zugang zudemGebäude gefun- Gethsemanekirche anzumelden,warichfroh, einen gehen wireigentlichnieindieKirche?« warum gendwann kamdieunvermeidliche Frage: »Mama, wie vom demAbendgeläut. Donner Ir- gerührt dem Gethsemane-Spielplatz waren, lauschtesie mussten. Und wenn wirabendsumsechsnochauf schaurige Dies-Irae-Portal desDoms bewundern Zug verpasst, weil wireineEwigkeit langdas laufen konnte,habenwirinKöln einmaleinen AlsmeineTochtersich gernüberwältigen. gerade nicht voneinander zutrennen sind.Kinderlassen turkatastrophe, wobeiAngstundFaszination oft Gewitter hatfürsiedieBedrohlichkeit einerNa- nicht verstehen unddieihnenAngstmachen.Ein umgeben von Dingen undPhänomenen, diesie leben KinderwiedieMenschen imMittelalter, getragen werden, warihrdenKrach wert. Gewissheit, dassihre Jungs nunbesserdurchs Leben »Doch damussten wirdurch«, sagtTatjana. Die bisihre gedauert, Beziehung sichdavon erholthatte. dieStraße. EshateineZeit mal einFernseher auf Dienstreise war.auf Nach seinerRückkehr flogerst alser gesprochen hat.Esistdann»passiert«, darüber Mann, demiranischen Künstler, nie ausführlich war fürsiesoselbstverständlich, dasssiemitihrem zu verdienen. der neunzigerJahre indieSchweiz ging, umGeld noch zuihrem Schutz engel gebetet,alssieAnfang zu verstehen gibt:Du bistnieallein.«Sie selbsthabe etwas,dasihnen einenKinderglauben,auf Recht auf ein wackerer Weggefährte wäre. »Kinderhabenein nicht etwa,weil derunnahbare Gott derOstkirche dasstärkste Rückgratständig ändert, Aber garantiert. zeugung, dassdieReligion ineinerWelt, diesich vom Gethsemane-Spielplatz, istderfestenÜber- aufs Lebenvorzubereiten. Und Tatjana, dieRussin tischen Frühförderprogrammen, ihren Nachwuchs Babys, mitEntspannungstherapien oder mathema- suchen mitKinder-Englisch oderChinesisch für nicht »sogebücktdurchs Lebengehen«.Andere ver- ihre KleinenzumYoga, seitsiedrei sind,damitsie Menschenselbstbewussten sagtsie. erziehen«, nicht gutgenugzusein.»Ich möchtesiezueinem beschützen, derihralsKindständigdasGefühl gab, sie ihre Tochter vor diesemungnädigenHerrscher lime ist.Doch fürdenFall, dassessoseinsollte,will einflößende Gott ihrer KindheitderGott allerMus- Und esstimmtja.Auch im21.Jahrhundert Dass sieihren erstenSohn taufenlassenwürde, Als Tatjana vorschlug, dieKinderbeimChorder Das wollenalleEltern. Meine Nachbarin schickt Sankt Martin. VON STEFANIE FLAMM Meine goldenen Flügeln, damitdasKindunsHeiligabend begibt, soll es zumindest wissen, woher es kommt. begibt, solleszumindest wissen,wohereskommt. Gethsemanekirche. Und bevor essichunters Kreuz Das Kindwillnämlichunbedingt zumSingen in die dass wirMuslime sind.«Das solljetztbald passieren. schnell. »Wir habenunserer Tochter janieerzählt, zu gehen.Das gingihrdanndochzuweit. Und zu dieHadsch gleich vorschlug, einmalgemeinsamauf hat dieseVerwandlung dasserihr sobeeindruckt, und versöhnt mitsichundderWelt. Samias Mann seiner Rückkehr warerwieausgewechselt,strahlend großen nachMekka Pilgerfahrt teilgenommen. Nach krankheit, zumerstenMal inseinemLebenander Kindheit soeineTrostfunktion zutraut. te, indenenauchSamia demAngstgottihrer ein höheres Wesen wenden. Und esgibtMomen- könnten dieDinge beeinflussen,indemsiesich an denMenschenschert Gefühl, sie dasberuhigende mal alsKern derReligion bezeichnet hat:Sie be- genau das,wasderSoziologe Rosa Hartmut ein- jana. »Auch inderMoschee.« Und damittrifftsie Glaube? Und wer sagt,dassnurdasAlteechtist? die Welt immerglobalerwird, dannnichtder warum einen.DochGott wiesoeigentlich?Wenn erwählt aus, wählt mansichnichtnachseinenBedürfnissen Haltung verächtlich Patchwork-Religion. Denn Gott gibt. Monotheistische Dogmatiker nennendiese dassesdenrichtigenRingvielleichtgarnicht darum, der andere denrichtigenRinghabenkönnte.Esgeht dassauch sich gelassen.Esgehtnichtmehrdarum, Lessings die Theaterfrau, seiner religiösen Kultur.« Wenn mansowill,hat sie, »sehr inOrdnung«: dieKinderauchin »Esverankert auch nochbeschneidenzulassen.Tatjana fanddas war,fe verflogen schlugerihrvor, dieJungs später ums Schriftlicheeinfachnichtschert. Tatjana umihren musikalischenGlauben, dersich es nocheinpaarJahre dauern.So langebeneideich sprechenmit meinenKindernsodarüber kann,wird schenopfer, ohneBlut undWunden. Doch bisich könnte erunsaucheinfachvergeben, ohneMen- Wennbrutal? Gott gnädigist,wieesimmerheißt, Warum Und, sokompliziert? so vor allem,warum zu erlösen,dieabertrotzdem irgendwiesündigbleibt? sein Vater ansKreuz nagelnließ,umdieMenschheit diese gedemütigteKreatur ist?Der Sohn Gottes, den wenn sieoderihrkleinerBruder einmalfragt,wer ich sagte:»Ganz schlimmesAua«.Doch wassageich, wollte siebloßwissen,wasderarmeMann hat.Und mich vor derPassionszeit. Damals, mitzwei Jahren, hat,fürchte ich fenden Schmerzensmanngemustert rockkirche einmalgefühlteStunden einenbluttrie- nicht mehrrankommt? zählung, anderen theologischenKern manselbst kommen dieProbleme. Wie vermittelt maneineEr- nach Weihnachten kommtOstern, undmitOstern nachtsgeschichte auchmeineGeschichte ist.Doch Mal seitvielenJahren dasGefühl, dassdieWeih- gerade einhalbesJahr alt,undichhattezumersten mit hochrotem Kopf. Daneben lagderkleineBruder, sagen, dasBaby istendlichrausgekommen«,sagtees die frohe Botschaftverkünden konnte.»Ich solleuch »Mein Gott isteiner, sagtTat- derunszuhört«, Seitdem meineTochter ineinersardischen Ba- Ihr Vater trotz hatkürzlich, einerschweren Herz- Als beiihrem Mann derersteÄrgerüberdieTau- 4. April 2012DIEZEITN Ringparabel längst hinter längsthinter o 15 65

Illustration: Smetek für DIE ZEIT; Verwendung eines Gemäldes von Leonardo da Pistola »Madonna mit Kind und einem Stieglitz«, um 1505 (Ausschnitt); Foto: AKG; © Breslau, Muzeum Narodowe. 66 4. AprilApril 2012 DIE ZEIT No 1515 GLAUBEN&ZWEIFELN

»Jesus brauchte keine Gymnastik« Ein Gespräch mit dem Rostocker Universitätsprediger Thomas Klie

DIE ZEIT: Herr Klie, Sie sind Professor für Theologie. Wieso machen Sie neuerdings Yoga? Thomas Klie: O Gott, das ist ja eine funda- Wer glaubt mentale Frage! Es begann in einer psy- chischen Krisensituation, als ich einen Aus- gleich brauchte. Da wurde ich zum Yoga eingeladen. Ich war zwar skeptisch wegen des Überbaus, aber dachte, ich nehme das schon an Ganze mal als religiöse Gymnastik. Das war typisch postmodernes Probierverhalten. ZEIT: Und wieso Ihre Skepsis? Klie: Weil das ganze Yoga-Segment esoterisch besetzt ist, wie so viele dieser fernöstlichen Auferstehung? Potpourries im Westen. Ich suchte ja keine Glaubenslehre, bloß eine Entspannungstech- nik, die der Protestantismus nicht bietet. Viele Christen können mit der zentralen ZEIT: Weil er leibfeindlich ist? Botschaft der Bibel nichts mehr anfangen. Klie: Das ist mir zu plakativ. Sagen wir leib- vergessen. Da ist eine Leerstelle im Über- Die Kirchen ignorieren das Problem gangsbereich vom Leiblichen zum Geistigen. Wir kennen keine Leibesübungen, denn das VON KLAUS HARPPRECHT Eigentliche des Glaubens geschieht, wie Schleiermacher sagt, in der Zirkulation des religiösen Bewusstseins. Protestantismus fin- Der auferstandene Weltenretter – mit einem Banner verschiedener religiöser Zeichen det darum auch eher im Sitzen statt. Anders als die Katholiken knien wir ja nicht mal. Das hat auch mit unserem Freiheitsbegriff zu um Ostergottesdienst trat mein Vater, Blick auf Auschwitz, aber auch auf den Gulag, das jorität der katholischen Amerikaner sich weiter treu- durch die Mythenwelt der Computerspiele und tun. Hinter jeder äußeren Form wittern wir der Herr Dekan, stets mit einer grün- triumphierende Paulus-Wort in den Mund nehmen: herzig wortwörtlich zum Credo bekennt, darin eins Cyber-Sagen. Die Jüngeren, wenn sie in ein Museum einen moralischen Zwang. weißen Stola überm schwarzen Talar »Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg«? Der mit den protestantischen Fundamentalisten? Für die geraten, starren die Heilige Familie, die Susannen im ZEIT: Und davon bekommen wir Rücken- vor die Gemeinde, die erschrocken auf millionenfache Mord: Das war die Hölle. Wer tröste- lateinamerikanischen Brüder und Schwestern scheint Bade, die Apostel und Märtyrer an wie Wesen von schmerzen. Was haben Sie im Yoga gelernt? die quasikatholische Verkleidung ihres te sich mit der Zuversicht, durch das Jüngste Gericht die Frage noch nicht zu existieren; auch nicht für die einem anderen Stern. Kann die schiere Ästhetik die Klie: Dass man diese Techniken des Zur- HirtenZ starrte – wie sie auch mit hochgezogenen würde von den Schuldigen Rechenschaft gefordert – Kinder Gottes in Afrika (sofern sie Aids, trotz Kon- Inhalte überdauern? Das Volk der Neuheiden ist von Ruhe-Kommens, den Wechsel von Anspan- Brauen zur Kenntnis nahm, dass er nach dem Segen von den Mördern, die Zehntausende zählten, von den domverbot, überleben). Unter den evangelischen der Kraft der Sprache Luthers kaum mehr berührt. nung und Entspannung auch ohne das Kreuz schlug: geradezu eine Provokation für die Organisatoren des Mordes, die womöglich mit vatika- Theologen ist jede seriöse Debatte um diese wahrhaft Nichts teilt sich ihnen von der Poesie der Psalmen Buddhismus rezipieren kann. protestantischen Schwaben, die nach dem Bekennt- nischen Pässen nach Südamerika geflüchtet waren? »letzte Frage« verstummt. An den Gräbern retten sich oder des Hohen Liedes mit. Sie kennen keine Cho- ZEIT: Haben Sie sich vorher informiert? nis lutherisch, doch in ihren sparsamen Riten von Keine Auferstehung, keine letzte Instanz. die Pastoren, wie ein prominenter Kirchenlehrer räle mehr, höchstens das erbärmliche E-Gitarren-Ge- Klie: Nein. Aber es wirkt. Das ist die Evi- der reformierten Kirche der Schweiz geprägt waren. Mancher Pastor lebte und predigte damals über dieser Tage sagte, meist in die wolkige Beschwörung schrammel der neukirchlichen Popmusik. denz des Leibes: Ich komme zu mir selbst, Am liebsten hätte der Vater die lutherische Messe die eigenen Zweifel hinweg. Kein Theologiestudium einer vagen transzendentalen Hoffnung. Die Kathedralen und Oratorien bezeugen auf zu meinem Gott und zu einer Resonanz von wieder zum Leben erweckt, aber das wäre einer und keine Hochamtsroutine räumten sie aus. Bis Wie ertragen die Kirchen diese amtliche Heuche- grandiose Weise die Geschichte der europäischen Leib und Seele. Stille ist ja durchaus auch Revolution gleichgekommen, heute halten sie dazu an, schärfer lei, diese christliche Lebenslüge, ohne Schaden zu Christenheit. Sie hatte, weiß Gott, ihre dunkle Seite: christlich tradiert. Und die Bibel weiß, dass die damals in der Zeit der Be- nach den »letzten Dingen« zu fra- nehmen? Vielleicht haben sie das alte Europa schon die Ausrottung der »Ketzer«, die Inquisition, die der Körper kein bloßer Appendix des Ge- drängung durch das braune Re- gen, von denen wir nichts wissen. der geistlichen Versteppung und dem spiritisierenden Gräuel der Kreuzfahrer, die Judenpogrome, die De- hirns ist. Auch wir Christen kennen Leibes- gime und die »Deutschen Chris- Unsere Lebenslüge Die Auferstehung, das zentrale Ele- Neuheidentum anheimgegeben. Dann könnte Rom zimierung ganzer Völkerschaften durch die kolonia- übungen wie etwa die Stundengebete, aber ten« nicht ratsam war. ment christlicher Existenz, kann bald nach Santo Domingo umziehen und den Peters- len Eroberer, den Dreißigjährigen Krieg, die Einseg- die wurden ausgelagert ins Mönchtum und Ostern, verkündete der Herr Die »letzte Frage« wird ihre Realität mehr denn je nur dom den Denkmalpflegern überlassen. Und die Pro- nung der Waffen durch Priester hüben und drüben, fanden hinter Klostermauern statt. eria Palatina Palazzo Pitti Firenze Palazzo eria Palatina Dekan, sei das höchste Fest der nicht mehr diskutiert. durch das »credo quia absurdum est« testanten emigrierten sektengleich auf die Inseln der die Duldung zweier Weltkriege, der Diktaturen und ZEIT: Bringt Yoga Sie nie in Konflikt mit Christenheit, ein Aufruf zur Freu- An den Gräbern retten des Tertullian gewinnen: Ich glaube, Kerngemeinden. Dabei riskierten die Kirchen aller- des Holocaust. Noch auf meinem Koppelschloss dem Christentum? de an diesem Dasein und zur Vor- sich die Pastoren meist weil es unglaublich ist. dings das Geschick aller kämpferischen Minoritäten: stand das lästerliche »Gott mit uns«. Klie: Nein, wenn Übungsanweisungen ins freude auf das kommende. Nun in die wolkige Nicht viele sind dazu willens. eine fundamentalistische Radikalisierung, die sie Europa heute, in Wirklichkeit bis in die Graswur- Esoterische kippen, blende ich das aus. ja. Über Weihnachten ging uns Laut einer Studie des Spiegels sahen weiter und weiter vom Gros der Gesellschaft entfernt. zeln christlich-jüdisch und auf untergründige Weise ZEIT: Und beim Sonnengruß? nichts, trotz Ostereiern, trotz der Beschwörung einer im Jahre 2007 zwar noch mehr als Die »Volkskirche« gibt es in Wahrheit ja längst hellenisch geprägt, es müsste sich einem toleranteren, Klie: Nach der Genesis gehört die Sonne zur »Narzissen und der Tulipan« des vagen Hoffnung die Hälfte der erwachsenen Deut- nicht mehr, trotz der Massen, die zu den Kirchentagen weltläufigen Christentum öffnen. Oder es wird nicht Schöpfung, insofern kann ich sie gut begrü- Paul Gerhardt. Der Karfreitag war schen den Tod nicht als das totale strömen. Die bürgerlichen Schichten, die einst die mehr Europa sein. Das geistige Niemandsland, das ßen – allerdings ohne einen Gegengruß zu uns wichtiger, nicht weil wir dem Ende ihres Lebens, aber nur 35 Pro- evangelische Kirche trugen, lebten schon im 19. Jahr- der Nazismus und der Stalinismus zurückgelassen erwarten. Das ist mir schon wichtig. Leidenskult angehangen hätten, den die Katholiken zent der Mitglieder einer der großen Konfessionen hundert einen nicht allzu verpflichtenden »Kultur- haben, müsste geduldig von Neuem kultiviert wer- ZEIT: Missfällt Ihnen eigentlich irgendet- uns Evangelischen nachsagten, sondern weil er durch akzeptierten die christliche Lehre von der Wiederauf- protestantismus«, von dem man heute zu Recht sagt, den. Ein mühseliger Prozess. Doch es lassen sich be- was am Yoga-Boom? die Passionen des »fünften Evangelisten« Johann Se- erstehung des Leibes. Das Fortleben der Seele viel- er sei an seiner Staatshörigkeit gescheitert. Er schien scheidene Lebenszeichen erkennen. Geistliche Musik Klie: Die Kritiklosigkeit gegenüber esote- bastian Bach überhöht wurde, auch dies dank des leicht. Aber eine Auferstehung von Leib und Seele, im Nazi-Regime, das er mitverschuldet hatte, ein für trägt heute die Botschaft weiter als jedes andere Me- risch aufgeladenen Begriffen. Zum Beispiel Herrn Dekan, der – musikalisch ambitioniert – dann die nur zusammen unsere Persönlichkeit ausmachen? alle Mal zerbrochen, von der radikalen Theologie des dium – in den hintersten Winkel Europas und weit Energie. Es gibt aber auch schöne Vokabeln und wann eine Aufführung in unserer Kleinstadt zu- Lediglich 40 Prozent der deutschen Katholiken be- Schweizers Karl Barth und der »Bekennenden Kirche« über die Kulturkreise des Westens hinaus. Sind die wie Gleichgewicht, was das ist, konnte ich wege brachte. jahen die Auferstehung, wie sie das Neue Testament für immer zerschmettert. Könnte es geschehen, dass Passionen Bachs nicht längst bis nach Asien vor- im Yoga noch mal sehr direkt lernen. Ich Zwei Jahrzehnte danach, als der Vater im Sterben verheißt, bei den Protestanten ist es jeder Zweite. jener Kulturprotestantismus eine Renaissance erfährt gedrungen, ein universeller Besitz der Menschheit? habe auch schon biblische Meditation mit lag – die Ärzte ließen ihn nicht gehen, obwohl er gesagt Im Korinther-Brief steht geschrieben: »Ist aber – vom Staat weit genug entfernt und nicht in ein enges Vielleicht wachsen aus dem Kulturchristentum wie- Zen-Elementen gemacht, aber da blieb die hatte, dass er sterben wolle –, in jenen Tagen und Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt ver- Bekenntniskorsett eingeschnürt? der Kirchen, die im Volk zu Hause sind. Vielleicht Religionsmelange im erträglichen Bereich. Nächten seiner Qual wagte ich es nicht, ihn zu fragen, geblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« Stellen Dafür spräche vieles. Der Reichtum des europäi- sind es vor allem Bildungskirchen. Sabine Rückert ZEIT: Hätte Jesus Yoga gemacht? ob er an die Auferstehung glaube. Ich meinte, Zweifel sich die Kirchenoberen die Frage, wie sie’s mit den schen Geistes, der gestalteten Landschaften, der hat in einem Auferstehungs-Essay, den sie für dieses Klie: Nein, sicher nicht. Da könnten Sie zu spüren. Während des Krieges, in der Trauer um zwei Christen halten, für die des Heilands Auferstehung prangenden Städte, der Künste, der Musik – sie sind Blatt schrieb, das gewaltige resurrexit aus Bachs auch fragen, was wäre, wenn Hitler Mutter gefallene Söhne, hatte er nie vom »Wiedersehen in keine Wahrheit mehr ist? Wagt es einer der Glaubens- allesamt überwältigende Offenbarungen der kreativen h-moll-Messe zitiert, »da sich der vereinte Chor, von Theresa getroffen hätte. Jesus brauchte kein einer besseren Welt« gepredigt. Er war auf eine schlich- hüter, ihnen das Christsein abzusprechen? Aus dem Energien des christlichen Wesens und seines jüdi- Trompeten vorangepeitscht, im Fortissimo aufbäumt. Yoga, weil er in seiner jüdischen Kultur so te Weise fromm, was sich ohne Disharmonie mit seiner Vatikan kommt dazu seit Menschengedenken kein schen Erbes. Entchristlichung heißt immer auch kul- Geflutet von einer unverwüstlichen Zuversicht«. tief verwurzelt war, dass er nichts adaptieren klassischen Bildung vertrug. Doch etwas war zerbro- Wort. Keines der Verdammnis, keines der Toleranz. turelle Verarmung. Sie fand, sie findet statt. Mehr als Musik kann offensichtlich die Krisen leichter musste. Er hat die religiösen Praktiken des chen. Das Opfer zweier blutjunger Söhne für ein Re- Die Päpste, die Kardinäle, die Bischöfe führen sich 80 Prozent der Bürger in der einstigen DDR äußern hinter sich lassen. Einer der stilleren französischen Judentums – so weit wir wissen – streng be- gime, das er als kriminell erkannt hatte, dieser Schmerz auf, als gäbe es dieses dramatische Problem nicht: dass kein oder kaum ein Interesse an der Religion – und Philosophen unserer Tage schrieb, der liebe Gott folgt, dazu gehörte auch der Rückzug in die war wohl zu stark, seinen Glauben unbeschädigt zu die Majorität der europäischen Christen die Grund- so auch mehr als 70 Prozent der westlichen Bundes- könne sich glücklich schätzen, dass er Johann Sebas- Einsamkeit, das Aushalten der Leere, das lassen. Gerechtigkeit Gottes? Das Wort ging ihm, als substanz des Glaubens leugnet. Wenn es denn jemals bürger. Keine Kenntnis der »Schrift«, der kirchlichen tian geschaffen habe – denn der beweise, dass es Gott Fasten. Ich glaube nicht, dass er in der Wüs- er mit dem Geschick seiner Schwiegertochter und eine Ketzerei gab, schlimmer als die der Lutheraner, Geschichte, auch der christlich geprägten Kunst wird gibt. Mein Vater, der Herr Dekan, hätte sich an der te Glaubensgymnastik gemacht hat. ihrer Familie in den Vernichtungslagern konfrontiert der Calvinisten, der Katharer – dann ist es diese. vermittelt. Aus der Fantasie der Kinder sind die Ge- heiteren Einsicht gefreut. Die Musik Bachs, Händels,

Illustration: Smetek für DIE ZEIT; unter Verwendung eines Gemäldes von Fra Bartolomeo Fra »Savator eines Gemäldes von 1516 © Gall Mundi« (Ausschnitt), Illustration: Smetek fürunter Verwendung DIE ZEIT; war, nicht mehr über die Lippen. Wer wollte mit dem Bauen die Regenten im Vatikan darauf, dass die Ma- schöpfe der biblischen Geschichten verbannt, ersetzt Mendelssohns war für ihn Gottesdienst. Die Fragen stellte EVELYN FINGER REISEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 67

Klar und tief: Der Stechlinsee in Brandenburg

Rettendes Wasser Früh, wenn die Vögel still sind, ist Auf Wallfahrt es am Stechlinsee am schönsten eidenweich. Seidenkühl. So fühlt es Fünf Pilger und ihr heiligstes Ziel: Ein seidenweicher See, ein geheimnisvolles sich an, wenn ich eintauche. Und Pfarrhaus, ein Hutladen, eine Insel und eine wundersame Kneipe dann kommt der besondere Augen- blick: Ich trinke. In großen Zügen Strinke ich Seewasser. Und spüre Seide innen und außen. Er ist sauber, klar, sauerstoffreich, tief, er hat alles, was man braucht – der Stechlin. Neunzig Kilometer nördlich von Berlin liegt er im Wald versteckt. Fisch gibt’s reich- lich, Hecht und Maräne, und eine Fisch- braterei, aber nur eine. Es gibt Boote und einen Badestrand mit einer »Gockelbude«, da kriegt man Waldmeisterbowle, wenn gerade Mai ist. Und ein Dorf hat er. Das trägt den wenig romantischen Namen Neu- globsow, aber der ganze Ort ist ja rundhe-

Fotos: Dominik Butzmann für DIE ZEIT (o.); alamy/Mauritius (u. l.); Bulls Press (u. r.) alamy/Mauritius (u. l.); Bulls Press Dominik Butzmann fürFotos: DIE ZEIT (o.); rum unromantisch mit den abgewetzten Zeugnissen seiner Badegeschichte. Berliner Industrielle, Adelige, Ärzte stellten hier zu Beginn des letzten Jahrhunderts Villen für die Sommerfrische hin, die jetzt zerbrö- ckeln. Die nationalsozialistische Freizeit- Im Reich der Wolkenschaufler Erhobenen Hauptes organisation Kraft durch Freude belegte Das Pfarrhaus der englischen Geschwister Brontë belebt die Fantasie Mit einem Hut aus dem J. J. Hat Center in New York fühlt man sich nie allein Häuser mit organisierten Urlaubern, später der DDR-Gewerkschaftsbund FDGB. Frü- her konnte sich hier sogar eine Nachtbar ie wären vermutlich entsetzt, zu Doch jedes Mal, wenn ich in das Ma- uche ich Schutz vor bösen, himmlischen also einen neuen Hut!«, sagt der Senior Hat Con- halten – heute spürt man überall die Flucht hören, dass ihr Haus ein Wall- gnetfeld von Haworth gerate, das zwischen Kräften und strebe ich nach dem Gefühl sultant. Er hält seine Hände vor dem Bauch und touristischer Infrastruktur. fahrtsort geworden ist, ein Mu- Leeds und Newcastle aktiv ist, zieht es mich der Erneuerung, das mich vom Haupt spricht so gedämpft, wie es nur Männer tun, die Neben dem See liegt das stillgelegte seum, in dem ihre Schreibpulte hin, und ich stehe als gerührte Tante vor her gründlich durchwirkt, gehe ich in ein paar feste Gewissheiten im Leben gefunden Versuchs-AKW Rheinsberg, das den Stech- Sund Nähkästchen, ihre Locken und So- dem Sofa, auf dem Emily starb, den schlech- Sder Stadt New York an einen Ort in der 5. Ave- haben. Nachsichtig hat das Rod nicht gemacht. lin zur Kühlung missbrauchte. Der See cken den Blicken Tausender gerührter ten Ölbildern ihres Bruders Branwell, dem nue, kurz vor der Ecke zur 32. Straße. Nur ein Weil ich auch gern einmal elegant wäre, schiele ich hat’s überlebt – doch kann man die radio- Tanten – denn es kommen meist Pilgerin- Amulett mit Annes Haar und vor Char- paar Blocks nach Westen liegt die Kirche des zu den Fedoras mit schmaler Krempe. »Steht Ihnen aktive Nachbarschaft einfach vergessen? nen im mittleren Alter – preisgegeben sind. lottes Brille. Was habe ich hier zu suchen, heiligen Franz von Assisi. Doch will ich ja nicht nicht, macht Ihren Kopf noch schmaler!« Vor dem Ich muss, denn ich bin ein Verfallener. das nicht in ihren Romanen zu finden wäre? Spiegel probiert ein anderer Kunde ein irisches Vielleicht weil ich ein Inseltyp bin. Der Etwas, das sie nicht preisgeben wollten, Barett. Der Stoff ballt sich auf dem Kopf wie eine Stechlin ist eine inverse Insel, ein rettendes das ihre Kindheit wie ein Schutzmantel um- große, zusammengeknüllte Wolltüte. »Eine schö- Wasser inmitten von ernstem und ge- hüllte und ihnen die Realität vom Leibe ne Mütze«, sagt Rod. »Sie sehen damit aus wie ein schichtsschwerem Brandenburgland. Die- hielt. Ihre Mutter war tot. Zwei Schwestern Mädchen. Wie ein ziemlich hässliches Mädchen, sem Wasser bin ich verfallen. hatten ein furchtbares Internat nicht über- wenn Sie mich fragen!« Am schönsten ist es morgens, so früh, lebt. Der Reverend Brontë tat sein Bestes, Mit einem Mädchen hing auch mein erster dass die Sonne nur zu ahnen ist, und spät aber er war bereits mit seiner Gemeinde Besuch in dem Laden vor vielen Jahren zusammen. genug, dass die Vögel schon wieder still überfordert, ein sturmumpfiffenes Indus- Ich hatte eine Freundin und reiste mit ihr nach sind. Dann finde ich, worauf es mir an- triekaff auf dem Moor mit schlechtem Was- New York. Wir unternahmen einen getrennten kommt – Ruhe. Eine herrliche, umfassende ser und hoher Kindersterblichkeit. Vormittag. Sie ging ins Museum, ich ging spazie- Stille, die ein bisschen schmerzt. Bis ein In dieser Situation begann die wunder- ren. Dabei geriet ich in diesen Laden. Ich kaufte Fisch platscht. Ich lasse mich im Sand nie- bare Komplizenschaft zwischen drei kleinen einen Westernhut für 300 Dollar. Als wir uns der und lese in einer Schwarte mit dem Mädchen und ihrem Bruder. Sie spannen wieder trafen, hatte ich nicht mehr genug Geld für Titel Der Stechlin ein paar Seiten Majors- ein Gedankenspiel um das Traumreich das Abendessen, das ich ihr versprochen hatte. Sie gedröhn und Adelsgespreiz vom ortskundi- Angria und schrieben die Abenteuer ihrer machte Schluss, gleich dort. Es interessierte sie gen Fontane. Nach drei Seiten bin ich in- Helden in winzige Hefte, Hunderte von zu- nicht, dass der Hut zu einem sensationell hohen nerlich ganz leer. getiftelten Seiten, eingebunden in Tüten- Anteil aus Biber- statt Kaninchenfellhaar und da- Vor ein paar Tagen war Weltwassertag. papier, vor der Außenwelt streng verborgen, mit unterm Strich unglaublich günstig war. Da hat der Global Nature Fund den Stech- Vor allem ältere Damen pilgern heute unter der Lupe in der Vitrine: »High »Steht Ihnen nicht!« Im J. J. Hat Center Ich überließ ihr das Hotelzimmer und ging lin zum »Lebendigen See des Jahres 2012« zum Pfarrhaus in Haworth Life in Verdopolis«, »Mein Schlachten- in der 5. Avenue gibt es kein Vertun durch die Nacht und fühlte mich doch nicht al- ernannt. Im See leben nämlich geschützte buch«, »Zamornas Rückkehr«. Das Pfarr- lein. Eine Schirmkappe oder eine Wollmütze Raritäten wie das Faden-Laichkraut und haus war ein Fantasiebergwerk, in dem vier hätten das nicht geschafft. Also kam ich immer die Erbsenmuschel. Nicht zu vergessen Die Schwestern Char lotte, Emily und fleißige Wolkenschaufler erzählend und die Sprache der Vögel lernen, ich will verhindern, wieder ins J. J. Hat Center. Manchmal hatte ich eine spezielle Armleuchteralge. Und, aber Anne Brontë, Bestsellerautorinnen des schreibend einander an Kühnheit, List, Lei- dass sie mir auf den Kopf machen. Einen solchen nicht genug Geld dabei für den einen richtigen das wissen die Leute hier schon seit Jahr- 19. Jahrhunderts, aufgewachsen im Pfarr- denschaft, Ruchlosigkeit und Schrecken zu Schutz, dauerhaft und wetterbeständig, form- Hut, dann war ich wie der Pilger, den kurz vor hunderten: ein riesiger roter Hahn. Der haus von Haworth, waren stolze, aber au- übertreffen suchten. stabil und atmungsaktiv, der sich dabei doch seinem Ziel die Kräfte verlassen. Sechsmal aber taucht manchmal aus dem Wasser auf und ßerordentlich scheue Wesen. Ihre Romane Sie sind nicht alt geworden. Branwell ver- weich anfühlt und meinen Eigenheiten anpasst, konnte ich meine Hut-Wallfahrt bisher allein in schreit. Wenn der rote Hahn betrunkene Jane Eyre, Sturmhöhe, Agnes Grey schrieben kam in Suff und Opium, Emily und Anne finde ich im J. J. Hat Center. diesem Geschäft erfolgreich krönen. Ich verließ Griller entdeckt oder auch nur Berliner sie unter einem Pseudonym, das nicht ein- starben an Tuberkulose; Charlotte, die Letzte, Center ist ein großes Wort für diesen Hutladen: den Laden immer aufrechter, gelassener und mit Kofferradio – schnapp, sind sie weg! mal Rückschlüsse auf ihr Geschlecht zu- wurde 38. Aber ich walle nicht nach Haworth, ein langer Schlauch, grauer Linoleumboden aus selbstgewisser, als ich ihn betreten hatte. Darum Und Ruhe ist. BURKHARD STRASSMANN ließ. Charlotte, die Älteste, lief mit gesenk- um zu seufzen oder ihre Strümpfe unter Glas den Fünfzigern, Glasvitrinen rechts, offene Re- höre ich auf Männer wie Rod, wenn sie sagen, tem Kopf an den ersten Leserreportern anzubeten, sondern um in ihrem Kinderge- gale links. Noch bevor der Kronleuchter am hin- die Krone eines Hutes muss immer so hoch sein vorbei, als die das Haus am Rand des kritzel die lebensrettende Macht der Fantasie teren Ende meinen Blick in die kathedralenhafte wie der Abstand zwischen Nasenspitze und Friedhofs ausfindig gemacht hatten. zu ehren. ELSEMARIE MALETZKE Höhe zieht, steht da jemand wie Rod. »Sie suchen Haaransatz. BJØRN ERIK SASS Fortsetzung auf S. 68 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 68 Fortsetzung von S. 67 REISEN

Mocca mit Robben Er kann wieder gehen! Ach, Helgoland! Da sinkt der Pilger seufzend in den Sand Die Wunder der schwäbischen Gastwirtschaft Hessersbeck

enn es im hohen Sommer rich- Ach, Helgoland. Hässlich finden es die ur einen Ort gibt es auf dieser nium als kleinste Recheneinheit gilt. Ent- tig heiß wird in Hamburg, so Leute. Was für ein Irrtum. Gewiss, es ist nicht Welt, den ich in loser, jedoch schleunigung ist nicht vonnöten, man hat richtig drückend, bruttig, wie mehr das Capri des Nordens, wie im 19. Jahr- schöner Regelmäßigkeit auf- ja schon bei der Beschleunigung der Welt die Hamburger sagen, dann hundert, als die Künstler kamen, die Maler suche, um den Zudringlich- kaum mitgemacht. Der Hessersbeck ist wirdW der Wunsch nach einer kleinen Wallfahrt aus Düsseldorf, die Schauspieler aus Wien. keitenN der verwalteten Welt zu entfliehen: ein Zeitfenster zum Drinsitzen. ganz übermächtig. Dann geht es die Straße 1890 fiel das Heilige Land der Fischer und den Hessersbeck in meiner Heimatstadt Die Küche offeriert ein niedrigschwel- hinunter am Michel vorbei zu den Landungs- Schmuggler dem Militär in die Hände, da Heilbronn. Auch wenn das Schild überm liges Nahrungsangebot, dessen Höhe- brücken an der Elbe, wo das Schiff liegt, der wurde es in die Schlacht geworfen, und erst Eingang die alte Weinwirtschaft noch punkt der schwäbische Rostbraten bildet. 1952 kroch es daraus wieder hervor, zerrissen, immer stur als Kernerhöhe ausweist, so ist Frau Helga, die mildtätige Kellnerin, zerrupft, aber es hat überlebt. Es gibt keine sie doch allen nur unter ersterer Bezeich- reicht dazu einen blutroten Lemberger anderen 1,7 Quadratkilometer in Deutsch- nung bekannt. Weil 1919, als das Lokal im Viertelesglas mit Henkel – alles andere land, die von der Macht der Geschichte und eröffnete, dort auch gebacken wurde. Es wäre überkandidelt. Ist das Glas leer, füllt der Natur so geformt wurden wie dies Felsen- liegt auf einer Anhöhe über der alten es sich auf wundersame Weise wieder. eiland, die einzige deutsche Hoch see insel. Winzerstadt, dahinter endet das Leben – Gleich vorne links über Tisch eins, an Der Pilger ist am Ziel, er küsst den roten da kommt nur noch der Hauptfriedhof. dem ausschließlich routinierte Regres- Stein. Ist die kleine Flut der Tagesgäste gegen Heimat ist da, wo man in Ruhe gelas- sionstrin ker geduldet sind, wird in einem vier Uhr abgeflossen, wird es still. Weit geht der sen wird. Wer hier sitzt, tut nichts ande- Fotoschrein des Altwirtes Heinz Hesser Blick vom Oberland ins Rund, nur See, bis zum res. Mag die Globalisierung da draußen gedacht. Früher, heißt es, habe er sich Horizont, und in der Luft die wilden Vogel- auch noch so toben – im Geviert des drüben, auf dem Friedhof, unter Trauer- gesellen, die heiseren Möwen- und Basstölpel- kärglichen Schankraums ist seit Adenauer gemeinschaften gemischt, um sie dann Engel. Zeit der Exerzitien, der großen Meer- alles gleich geblieben. Jenseits vom Tresen wie zufällig in sein Lokal zu lotsen. Vor meditation. Kommt die Nacht, streift der Strahl hat sich eine weitgehend eigenständige ein paar Jahren wurde er selbst nach ge- des Leuchtturms über das grüne, baumlose Land, Zeitrechnung eta bliert, in der das Dezen- genüber geschafft, gefolgt von seiner und bei jeder Umdrehung blitzt das goldene Gattin Helene. Nun verwaltet Erbwirt Schiff der Kirchturmspitze schicksalsfromm auf. Lothar Hesser, der sich seinen Ruf als Die Häuschen, die Gassen. Für den Pilger, Original zäh erarbeitet hat, mit einem der in den sechziger Jahren groß wurde in Fluidum aus edler Einfalt und stiller Deutschland-West, ist eine Wallfahrt nach Größe das Institut. Wenn nicht bis zur Helgoland auch eine Reise in die Kindheit. Ewigkeit, so doch mindestens bis zur Damals wurde der Ort wieder aufgebaut, und Sperrstunde, wenn auch der letzte Gast die Bauhauslinien, die leichten Mauern und gefragt wird, ob er eigentlich keine Bleibe skandinavischen Farben erzählen von der klei- habe oder gar »dem Bettschonerverein« nen Vorstadt-Moderne für alle. Längst his- angehöre. torisch, das Ganze, wie die knarzende Gast- Es sind nicht die großen, spektakulä- stätte Zum Seehund oder die Mocca-Stuben. ren, eher die kleinen, ganz alltäglichen Mocca, wie weht einen das an! Wunder, die der Kneipe ein Air außer- Die echten Seehunde und Kegelrobben, weltlicher Gebenedeitheit verleihen. Erst die liegen auf der Düne. Dahin setzt man über, neulich konnte ein stark rotgesichtiger von der großen Insel auf die kleine, und da- Herr, der zuvor über Stunden hinweg an nach ist man ganz aus dieser Welt. Am Strand, seinen Stuhl gefesselt schien, ganz plötz- am Wassersaum, liegen sie in der Sonne, riesi- lich wieder gehen – wenn auch nur stark gen Findlingen gleich. Aber mit welch jugend- schwankend. Aber immerhin.

Fotos: Bernd Rohrschnei/Prisma (u.l.); Jonathan Trappe/imago für DIE ZEIT (u.r.) (u.l.); Jonathan Trappe/imago Bernd Rohrschnei/Prisma Fotos: stilsicherer Eleganz drehen sie die Flosse, dem OLIVER MARIA SCHMITT Besucher zuwinkend. Abwinkend. Lass es sein. Wie riesige Findlinge liegen die Katamaran nach Helgoland. Ein langweilig Gib’s auf! Sink nieder, Pilger, in den Sand, Die Kernerhöhe in Heilbronn kennen Robben in der Sonne Ding, ein Intercity, aber anders als der Inter- schau nach oben, und vergiss dich im Him- alle unter dem Namen Hessersbeck. city kommt es wirklich vom Fleck, brummt melsblau, wo die Möwen im Wind schaukeln, Früher wurde hier gebacken den Strom hinunter, der breiter und breiter einem sanften Wind, der aus einer anderen wird, legt in Cuxhaven noch an, und dann Zeit wohl kommt und einer anderen Welt. schwenkt’s hinaus auf die offene See. BENEDIKT ERENZ REISEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 69

Blick auf den Hafen von St. John’s vom Signal Hill aus. Von hier gelang 1901 die erste transatlantische Funkübertragung nach Europa Foto: Peter Kümmel für DIE ZEIT (gr.); Courtesy Everett Collection/action press (kl.) Collection/action press für Courtesy Everett Kümmel DIE ZEIT (gr.); Peter Foto: Die Gräber der »Titanic«

Ein Leuchtturm, ein Hafen, ein Friedhof in Kanada: Wo noch heute Spuren der Schiff skatastrophe zu fi nden sind VON PETER KÜMMEL

n der Nacht zum 15. April 1912, fünf- einen Gottesdienst. Die BBC sendet live. Und ich der Dritte, »die Titanic ist ganz woanders gesunken. Halifax ist ein dunkler, nordischer Ort am Meer, Minuten explodierte das Schiff, und die Detonation zehn Minuten nach Mitternacht, geht auf halte als Funker alles zusammen.« Ich erzähle euch jetzt, wie es wirklich war ...« dessen Glut sich am besten in einer feiersüchtigen riss mit einer gewaltigen Druck- und Flutwelle 2000 einem Leuchtturm am östlichsten Rand Wer sich zum 100. Jahrestag auf die Spur des Ich verabschiede mich vor dem Ende der Ge- Freitagnacht erschließt. Im Norden hat die Stadt mit Menschen in den Tod – angeblich der größte Ex- des amerikanischen Kontinents ein Funk- Titanic- Unglücks machen möchte, hat viele Möglich- schichte, um nicht im versinkenden St. John’s ver- der Trostlosigkeit zu kämpfen, die es in vielen Hafen- plosionsunfall der Menschheitsgeschichte. spruch ein. Ein kurzes Notsignal, gefolgt keiten: Man kann nach Belfast reisen, dort wurde das loren zu gehen. Als ich ins Freie trete, reißt mir ja- metropolen zu finden gibt. Ihr Süden aber ist grün, »Aber genug davon«, sagt Blair mit einem Räus- von der Botschaft: »Have struck iceberg« Schiff gebaut. Nach Southampton, von dort stamm- gender Eiswind die Atemluft weg. Schneekristalle offen, wohlhabend. Wer der Küste folgt, gerät in pern, »jetzt besuchen wir die Gräber der Titanic.« Wir – Haben einen Eisberg gerammt. Absen- ten die meisten Besatzungsmitglieder. Oder nach New schmirgeln mein Gesicht, pulvrige Schläge treffen stille, von Fels und Tannenwald geschützte Buchten. fahren aus dem Hafen westwärts, den Berg hinauf, der ist die Titanic. Aufgefangen wird die Nachricht York, wo die Titanic ankommen sollte. Ich aber, als meine Kniekehlen. Dieser Sturm führt sich auf wie Am Ufer stapeln sich Hummerkäfige, weit geht der vorbei an dem Grundstück, auf dem sich einst der Inicht von dem Leiter der Station, sondern einem alter Melancholiker, habe mich entschlossen, dorthin eine Naturgewalt aus dem Stephen-King-Universum: Blick auf den offenen Atlantik, freundlich sind die Mayflower Curling Club befand. Heute steht dort Halbwüchsigen: Jimmy Myrick, 14 Jahre alt. zu fahren, wo die letzten Funksprüche empfangen ganz so, als wäre er mein persönlicher Dämon. Mehr Menschen, die man trifft, immer lieblicher werden ein Supermarkt für Waffen und Militaria, der sich in »Er hat über die Sache sein Leben lang geschwie- wurden. Und dann weiter nach Halifax in Nova Sco- oder weniger schneeblind, mit glühender Haut, er- die Dörfer. Doch diese Idylle ist letztlich ein Trug. einem Film der Brüder Coen gut machen würde; man gen«, sagt David Myrick, Jimmys Großneffe. »Erst tia, wo die Toten der Titanic begraben liegen. reiche ich mein Hotel. Die Felsküste Neuschottlands wird auch Friedhof des möchte nicht wissen, was hinter den mit Flaggen ver- kurz vor seinem Tod hat er uns davon erzählt. Er St. John’s ist die älteste und östlichste Stadt Nord- Nordatlantiks genannt: Zwischen 10 000 und 25 000 hängten Schaufenstern so verkauft wird. wollte nicht, dass herauskommt, dass der Funker amerikas. Einerseits eine der großen energy cities der n der zweiten Station meiner Reise – Schiffswracks sollen hier auf Grund liegen, bei Sturm Wir sind an diesem stillen Morgen die einzigen nicht auf seinem Posten war.« Welt, ein Stützpunkt der Ölkonzerne. Andererseits Halifax, gut 900 Kilometer südwest- und Nebel wurden sie gegen die Felsen geworfen. Besucher des Fairview Lawn Cemetery – der größten Ich bin nach St. John’s gereist, in die Hauptstadt ein beschaulicher Ort mit bunten Holzhäusern an lich – erwartet mich Blair Beed, ein In Halifax selbst hat sich, fünf Jahre nach dem Titanic-Totenstätte, die es gibt. 121 Passagiere des der kanadischen Insel Neufundland, um mich mit wild-welligen, steilen Straßen und einem atemberau- Mann, der sich seit Jahrzehnten mit Untergang der Titanic, eine noch größere Katastrophe Schiffes liegen hier begraben. In der Ferne bereiten David zu treffen. Ein Ire im Herzen, der gleichwohl bend schönen Naturhafen, der es so wirken lässt, als der Katastrophe befasst. Er hat ein abgespielt. »Zwei Schiffe«, sagt Blair Beed unten im Totengräber eine Beerdigung vor, ein Bulldozer hebt Neufundland nie verlassen hat. 73 Jahre alt, Jazzfan liefen die Schiffe vom offenen Meer direkt in das ABuch über jene Toten der Titanic geschrieben, die Hafen, »stießen hier an der engsten Stelle zusammen.« eine Grube aus. Neuschnee hat die Gedenksteine ver- und Charmeur, dessen Familie seit Generationen auf Zentrum der Stadt ein. Auf dem Signal Hill, einem in Halifax auf drei Friedhöfen begraben liegen. Das erste ein Passagierschiff aus Norwegen, das zwei- hüllt, Blair bahnt mir mit seiner Schaufel einen Weg der legendären Funkstation in Cape Race lebt, gut Wahrzeichen von St. John’s, gelang dem Funkpionier Blair erzählt mir: Vier Schiffe fuhren von Hali- te ein bis oben hin mit Sprengstoff beladener franzö- zu drei Gräberreihen, die sich den Hügel hinaufziehen 150 Kilometer von hier entfernt. Alle Titanic-Be- Guglielmo Marconi im Dezember 1901 die erste fax hinaus zum Unglücksort, 1100 Kilometer ent- sischer Munitionsfrachter, der auf dem Weg nach in der Bogenform eines Schiffsbugs. sessenen haben den Klang dieses Ortes im Ohr: Cape transatlantische Funkübertragung nach Europa. fernt, an Bord hatten sie einen Bestatter, einen Europa war. Ein Kapitän missverstand das Manöver Er zeigt mir die Ruhestätte des unbekannten Race, das letzte Stück Festland, mit dem der Ozean- In den Tagen vor der drahtlosen Kommunikation Priester, Särge, Leinensäcke. Die meisten Leichen des anderen, sie wichen einander nicht aus, sondern Kindes, dessen Schuhe unten am Hafen im Maritime dampfer Kontakt hatte. Eine nebelige Felsküste mit hatten die Schiffe, die aus der Alten Welt kamen, barg die Mackay-Bennett, ein Kabellegerschiff. 306 steuerten wie in Zeitlupe aufeinander zu. Das Muni- Museum of the Atlantic ausgestellt sind. Der im Meer einem einsamen Leuchtturm. Von hier aus ging die noch wasserdichte Kanister mit Nachrichten aus den Tote holte die Besatzung an Bord, Passagiere, die tionsschiff geriet in Brand, und die Explosionen in erfrorene Junge, etwa zwei Jahre alt, hatte die Ber- Katastrophennachricht um die Welt. europäischen Metropolen in die See vor Cape Race erfroren in ihren Korkschwimmwesten auf den den Laderäumen wurden von den Bewohnern der gungsmannschaft tief gerührt, und Wissenschaftler Wie kam es, David, dass ein Junge das Notsignal geworfen. Ein Schiff der Nachrichtenagentur Ame- Wellen getrieben hatten. Ein Teil wurde direkt auf Stadt als morgendliches Feuerwerk missverstanden: aus aller Welt versuchten, seine Identität zu klären. empfing? »Der Leiter der Station war kurz hinaus- rican Press war stets dort unterwegs, die Besatzung See bestattet, ein Teil nach Halifax gebracht. Sie liefen auf den Kais zusammen. Nach etwa 20 Heute, nach eingehenden DNA-Analysen, glaubt gegangen, um nach dem Leuchtfeuer zu sehen. Und fischte die Kanister auf und brachte sie zur Funk- Wir fahren durch den von eisigem Schneewind man zu wissen, dass es sich um einen kleinen Eng- mein Großonkel setzte sich an das Gerät«, sagt David. station, wo man die Nachrichten weitersendete. durchzogenen Hafen, und an einer Stelle, an der ein länder namens Sidney Leslie Goodwin handelt. »Als der Funkspruch kam, rannte er ins Freie und rief Ein wenig wirkt Neufundland so, als habe es sich Kriegsschiff der kanadischen Navy ankert, hält Blair Jetzt geht Blair zu einem anderen Grab. Mit einer alle Erwachsenen zusammen.« einst von Irland losgerissen und sei nur halb ent- an und deutet auf den Kai: »Hier kamen die Schiffe Halifax/St. John’s sanften Schaufelbewegung löffelt er die Schneedecke Schon in den Stunden vor der Kollision mit dem schlossen nach Amerika geschwommen: Wer durch an. Viele Opfer wurden mit dem Zug an ihr letztes vom Stein, und zu lesen ist: Eisberg war die Titanic im regen Kontakt mit Cape die Straßen von St. John’s geht, hat das Gefühl, er Ziel gebracht. Aber 150 Tote blieben hier.« Anreise: Direktflüge ab London nach Halifax, J. DAWSON Race gewesen: Der Funker des Schiffs, Jack Phillips, befinde sich noch in Europa. Man spricht einen Es gab nur keine Leichenhalle, die groß genug z. B. mit Air Canada. Mit derselben Airline DIED APRIL 15, 1912. mehrmals täglich von dort nach St. John’s hatte die Aufgabe, für wohlhabende Passagiere Ferien- starken südirischen Dialekt und pflegt den Humor gewesen wäre. »Weißt du, was geschah? Man hat alle Und darunter die Zahl 227 – was bedeutet, dass grüße zu versenden, die von der Station weiter nach der Iren: schnell, aber im Kern gutmütig, angriffs- Toten mit Pferdefuhrwerken dort den Hügel hinauf- Unterkunft: In Halifax: The Halliburton J. Dawson der 227. Tote der Titanic war, der aus New York geschickt wurden. Für Warnungen hatte lustig bei offener Deckung, immer bereit, gegneri- gefahren. Da stand der Mayflower Curling Club, und (5184 Morris Street, Tel. 001-902/420 06 58, dem Meer gezogen wurde. Phillips keine Zeit. Und so kam es auf dem Nord- sche Treffer einzustecken. dort gab es genügend Eis. So wurde aus dem Club www.thehalliburton.com), DZ ab ca. 112 Euro. Seit 1997 James Camerons Titanic-Film he- atlantik zu einem ungeheuerlichen Funkdialog: Die vorübergehend die größte Leichenhalle Kanadas.« In St. John’s: Sheraton Hotel Newfoundland rauskam, ist der Friedhof zu einem Wallfahrtsort S. S. Californian sandte der wenige Meilen südlich or meiner Abreise will mir David ei- Wie David Myrick in St. John’s hat auch Blair (115 Cavendish Square, Tel. 001- geworden: Vor dem Grab des J. Dawson versam- von ihr reisenden Titanic die Nachricht: »Say, old gentlich noch die alte Funkstation in Beed eine persönliche Beziehung zum Untergang der 709/726 49 80), DZ ab ca. 102 Euro meln sich Trauernde aus aller Welt, vor allem jun- man, we are stopped and surrounded by ice.« Zu Cape Race zeigen. Doch ein aufziehen- Titanic: Sein Großvater, damals ein kleiner Junge, ge Mädchen. Denn Jack Dawson heißt die männ- Deutsch: Leute, wir stecken fest, wir sind umgeben der Blizzard verhindert die Fahrt. »Kei- zog, angetan als trauernder Engel, mit den Leichen- Literatur: Blair Beed: Titanic Victims in liche Hauptfigur in Camerons Film. Der Regisseur von Eis. Jack Phillips erteilte, von der Brücke des ne Chance, mein Freund«, sagt David, zügen den Berg hinauf – ein minderjähriger Arbeiter Halifax Graveyards; Nimbus Publishing, hat diesen Namen zwar, wie er behauptet, wahllos sichers ten Ozeandampfers aller Zeiten, dem Mann »dieV Straßen werden gesperrt sein.« Einen neufund- des örtlichen Bestattungsunternehmens Snow & Co. Halifax 2010; 178 S., ca. 15 Euro aus der Liste der Toten von Halifax herausgepickt, im Eis eine kalte Abfuhr: »Shut up, shut up, I am busy. ländischen Blizzard will ich mir nicht entgehen Es wird erzählt, dass man die Toten gemäß den aber seinem Träger ist auf diese Art ein zweites I am working Cape Race« (Geh mir aus der Leitung, lassen, und so verbringe ich die Stunden vor dem Klassenverhältnissen aufgebahrt habe, die an Bord Labrador Leben und ein zweiter Tod zuteilgeworden, in der ich bin in Funkkontakt mit Cape Race). Das war um Sturm in einem überfüllten irischen Pub. Während herrschten: die Passagiere der ersten Klasse in Holz- KANADA Gestalt von Leonardo DiCaprio. Unsterblich wur- KANADA 23.05 Uhr. Die Titanic fuhr mit voller Kraft weiter. die Band – drei Gitarristen mit schwarzem Dubli- särgen, die der zweiten in Leintücher gehüllt, und die de er durch die Sätze der überlebenden Rose am Quebec USA New Es blieben noch 35 Minuten, bis sie den Eisberg ner Humor – vom Publikum mit Bier versorgt wird, der dritten seien so, wie sie aus dem eisigen Wasser f Schluss: »Das Herz einer Frau ist ein tiefer Ozean l York o rammte, und noch 3 Stunden und 15 Minuten, bis sieht man durchs beschlagene Fenster, wie draußen gezogen wurden, an Land gebracht worden. G voller Geheimnisse. Aber jetzt wissen Sie, dass es - ihr aufgerichtetes Heck in den Fluten versank. in den Straßen starre Dinge in Fahrt kommen und »Das ist eine Geschichte, die sich zäh hält, weil sie z einen Mann namens Jack Dawson gab und dass er n re Neufundland Die Tragödie beschäftigt David Myrick bis heute: alles Eckige sich in etwas Rundes, Weißes verwan- gut klingt. Aber sie stimmt nicht«, sagt Blair Beed. Sankt-Lo mich gerettet hat, in jeder Weise.« In der Nacht vom 14. auf den 15. April 2012 wird er delt. Ein paar Einheimische erzählen mir derweil Einen wahren Kern aber hat die Legende. Die Titanic St. John’s Unwahrscheinlich genug im Film, wäre der echte in Cape Race sitzen und jenen letzten Funkverkehr bei Guinness und Whiskey ihre liebsten Verschwö- war nicht nur ein Dampfer für Luxuspassagiere, sie Joseph Dawson der schönen und reichen Rose ganz Cape Race der Titanic noch einmal führen, kleines Detail einer rungstheorien: »Es war gar nicht die Titanic, die war auch ein Auswandererschiff, und die Passagiere Nova Scotia sicher nie begegnet. Er hatte es nicht einmal, wie weltweiten Beschwörung der Katastrophe. Man damals sank«, sagt einer, »sondern ihr beschädigtes der steerage (dritte Klasse) wurde mit Gittersperren DiCaprios Figur, zu einem Billett dritter Klasse ge- nennt das Reenact ment: Alle Beteiligten sollen vom Schwesterschiff, die Olympic – das Ganze ein Ver- davon abgehalten, sich an Bord frei zu bewegen. Aus- Halifax bracht. Der 23-jährige Ire war einer von Hunderten, Unglück der Titanic-Passagiere ergriffen werden, sicherungsbetrug.« – »Was für ein bullshit«, fällt wanderer galten als potenzielle Krankheitsträger. Route der die im glutheißen Bauch der Titanic schufteten. Einer ohne dass sie es bis zum Ende erleiden müssten. »Von ihm sein Freund ins Wort, »es war ein wohlkalku- Auch als der Befehl ausgegeben wurde, das Schiff zu »Titanic« der Kohlenschaufler, die dafür sorgten, dass das Licht Southampton und New York aus werden Kreuzfahrt- lierter Mord an ein paar wenigen Passagieren; und verlassen, hielt man die Unterklasse noch gefangen. Eisfeld in den Kabinen brannte, bis zum Schluss. schiffe aufbrechen, um sich an der Unglücksstelle zu damit die Tat unbemerkt bleiben konnte, mussten Viele erreichten das Oberdeck erst, als alle Rettungs- ZEIT-Grafik treffen«, sagt David. »Am frühen Morgen gibt es auch die 1500 anderen sterben.« – »Ach was«, sagt boote schon zu Wasser gelassen waren. 200 km www.zeit.de/audio REISEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 71 BLICKFANG Wird aber auch Zeit! Ein Gespräch über die schönsten Sonnenuhren im britischen Oxford

DIE ZEIT: Herr Harber, sind Sie sicher, dass Sie Harber: Als Statussymbole. Aber auch einfach am richtigen Ort leben? als Deko-Gegenstände: Eine besonders schöne David Harber: Ja, Oxford shire ist toll. Warum? steht etwa im Garten des Oxforder Trinity Col- ZEIT: Nun ja, Sie bauen Sonnenuhren für Fir- lege, sie hat die Form eines Globus und ist men und Privatleute – dabei ist die Gegend umgeben von Lavendel. Überhaupt, die engli- nicht gerade berühmt für viele Sonnenstunden. schen Gärten sind voll von Sonnenuhren! Viel- Auf Ihrer Homepage, www.davidharber.com, leicht gerade wegen des schlechten Wetters. empfehlen Sie sogar einen Stadtrundgang zu Denn wer eine Sonnenuhr sieht, erinnert sich: den schönsten Sonnenuhren Oxfords. Interes- Irgendwann bricht die Sonne durch. Die Uh- siert sich denn jemand dafür, wenn der Him- ren sind immer auch ein Hoffnungsschimmer. mel so oft bedeckt ist? ZEIT: Sie stimmen die Leute zuversichtlich? Harber: Oh, meine Seite ist gut besucht! Son- Harber: Ja. Und ich beobachte immer wieder, nenuhren sind bei jedem Wetter interessant; dass Menschen sehr ruhig werden beim An- auch dann, wenn man die Zeit nicht ablesen blick einer Sonnenuhr. Die Magie beruht auf kann. Es sind einfach faszinierende Objekte. der Kombination aus Zeit und Zeitlosigkeit. ZEIT: Inwiefern? Wer eine Sonnenuhr betrachtet, sieht die aktu- Harber: Sie basieren einerseits auf wissenschaft- elle Uhrzeit – und gleichzeitig etwas, das Men- lichen Kenntnissen – vielleicht gibt es deshalb schen schon vor 7000 Jahren vor Augen hatten. auch in dieser Universitätsstadt ZEIT: Wie unterschieden sich so viele. Und gleichzeitig sind die ersten Sonnenuhren von sie Kunstwerke: Die Sonnenuhr den heutigen? im Hof des Corpus Christi Harber: Die ursprüngliche Form College zum Beispiel, die aus war ein Stab, der in die Erde ge- dem 16. Jahrhundert stammt, steckt wurde. Mit Steinen mar- besteht im Grunde aus 27 Son- kierte man die Stunden. Dieses nenuhren. Jede einzelne trägt Urmodell ging allerdings nicht das Emblem des Gründers, des ganz exakt, denn die Sonne er- Bischofs Foxe von Winchester. reicht ihren Höchststand nicht Es zeigt einen Pelikan, der sich immer auf die Minute genau mit dem Schnabel in die Brust nach 24 Stunden. Inzwischen hackt, um mit dem Blut seine kann man die Uhren aber so Jungen zu nähren. Ein Symbol konstruieren, dass sie die Zeit

Fotos: Venetia Dearden(gr.); Mercer design & photography Mercer (kl.) Dearden(gr.); Venetia Fotos: für den Leib Christi. korrekt anzeigen. Ausgefeiltere ZEIT: Haben die Uhren meis- David Harber, 53, liebt Modelle haben sogar Markie- tens christliche Motive? die beruhigende Aura rungen für Sommer- und Win- Harber: Oh nein! Die Uhr im von Sonnenuhren tersonnenwende. Wer in Oxford Innenhof des Balliol College eine Sonnenuhr sehen will, die Ein Tanz mit dem Zufall erinnert zum Beispiel daran, sehr genau geht, sollte im Muse- dass dort vor 30 Jahren erstmals Frauen stu- um für Wissenschaftsgeschichte vorbeischauen: Freiheit. Das war es, wonach sich Venetia Dearden sehnte – und sie fand zeigt berückende Landschaftsfotos von Gebirgsseen und Kakteen im dieren durften: eine schlichte Stahlkugel mit Die Modelle dort wurden von Astronomen der diese Freiheit auf der Straße: Stark überarbeitet, beschloss sie, acht Tage gleißenden Licht – und intime Aufnahmen wie unser Bild, auf dem ein der Inschrift »About Time« – was sowohl frühen Neuzeit für Berechnungen verwendet. lang mit Freunden im Campingbus durch die Vereinigten Staaten zu frisch verheiratetes Paar im Bus miteinander tanzt. Eine Mischung, die »Über die Zeit« bedeutet als auch »Es ist an ZEIT: Ist der Frühling mit seinen ersten war- fahren; zum Burning Man Festival in der Wüste Nevadas. Auf dieser berührt. Nur ein einziges Zitat ist den Fotos vorangestellt. Dearden nahm der Zeit«. Und auf das Zifferblatt der Uhr am men Strahlen eigentlich Ihre liebste Jahreszeit? Reise sollte es kein Korsett aus Terminen und Vorgaben geben, wie die sich die Freiheit, diese persönliche Reise nur in Bildern zu erzählen. MIEL All Souls College ist eine zarte Libelle gemalt Harber: Klar! Die Sonne steht jeden Tag höher, britische Fotografin, die weltweit für Magazine arbeitet, es aus dem Alltag – als Symbol für die kurze Zeit, die wir im die Temperaturen steigen. Was wir am Körper kannte. Stattdessen sollte der Zufall entscheiden, was ihr vor die Linse Venetia Dearden: Eight Days Leben haben. spüren, zeigen die Sonnenuhren auf dem Zif- kommen würde. Der war kein schlechter Regisseur: Der Band Eight Days Kehrerverlag, Heidelberg 2011; 80 S., 36,– € ZEIT: Der Pelikan, der Spruch, die Libelle: ferblatt: Jetzt beginnt die gute Zeit des Jahres. Sonnenuhren scheinen oft Botschaften zu transportieren. Wozu dienen sie sonst noch? Interview: ANNE LEMHÖFER BERUF S. 87 LESERBRIEFE S. 88 DIE ZEIT DER LESER ab S. 75 STELLENMARKT CHANCEN 4. April 2012 DIE ZEIT No 15 73

DAS ZITAT

Jean-Jacques Rousseau sagt:

Um einen Liebesbrief zu schreiben, musst du anfangen, ohne zu wissen, was du sagen willst, und endigen, ohne zu wissen, was du gesagt hast.

Der Coach erklärt: Jeden Morgen, wenn der Briefträger kommt, reißt der Bewerber ihm die Post aus den Händen. Zusage oder Absage – das ist hier die Frage. Fast alle Bewerber verlegen sich aufs Warten, wenn das Vorstellungs gespräch geführt ist. Als hätten sie alles, was möglich war, für ihren Erfolg getan. Das stimmt aber nur fast. Denn das Tüpfelchen auf dem i versäumen sie derweil: ein Schreiben nach dem Vorstellungsgespräch. Ein solcher ch Brief oder eine solche Mail gibt Ihnen die ei t Gelegenheit, sich noch einmal von der Mas- mer br r Messe ingt B se abzuheben. Von zehn Bewerbern, die sich lger äckern n o H w vorstellen, nutzen nur ein bis zwei diese n ts. iede ch r t ni das i Chance. e is B Aber schreiben Sie nicht ins Blaue, wie s a c a ck r d en Jean-Jacques Rousseau es für Liebesbriefe n – b ge ei h empfiehlt. Vielmehr sollten Sie die Argu- N n V h O mente, die für Sie sprechen, noch einmal u h N sc zusammenfassen. Zählen Sie drei Gründe i ST üm E g F auf, warum Sie perfekt zu der offenen Stelle ti A t r er N F passen und sich schon auf Ihren ersten Tag s IE u u n a B freuen. Sie glauben ja gar nicht, wie wichtig n r e IL a h uc E ein solches Schreiben sein kann, gerade K N rot und wenn sich zwei Bewerber ein Kopf-an-Kopf- B Rennen liefern. Wer schreibt, ruft sich ins Gedächtnis. So kann er den Eindruck, den andere Bewerber hinterlassen haben, oft überstrahlen. Noch dazu sendet er die Bot- schaft: Ich bin engagiert, ich will diesen onatelang stand Messemer ist nicht nur gelernter wenn er sich unterfordert fühlt. So schmiss er das mittelrecht samt den Deklarationsvorschriften Arbeitsplatz wirklich haben! Die Vorstel- er sonntags zu Bäcker. Er ist Groß- und Außenhan- Handtuch, nachdem er sowohl für eine Bio- und studieren, fit im Controlling und in der EDV lung, begehrt zu sein, schmeichelt einem Backversuchen in der delskaufmann, ausgebildeter Erzieher, Holzofenbäckerei als auch konventionelle Filial- werden. Unternehmen. Backstube: Wenn er den außerdem hat er sich autodidaktisch die Software- betriebe gearbeitet hatte. Stattdessen entwickelte Seit ein paar Jahren wechselt das Sortiment in Die Wirkung ist umso größer, je indivi- Teig zu lange rührte, war er entwicklung angeeignet. Sein geballtes Wissen er eine Software für Bäcker, die sie bei der le- den tonangebenden Großstadtbäckereien so häu- dueller Sie Ihr Schreiben halten. Sagen Sie, nicht stabil genug. Wenn er nutzt er nun, um durch die Lande zu reisen und bensmittelrechtlich korrekten Deklaration ihrer fig wie Kleider in den Schaufenstern von H&M was Ihnen an Ihrem Vorstellungsgespräch zu kurz rührte, hatte er Bäckern das Backen nach herkömmlicher Art bei- Backwaren unterstützt. Aus diesem Geschäft ist oder Zara. Birchermüsli zum Frühstück, Pasta gefallen hat, zum Beispiel die offene Dis- kein Volumen. Nie gelang die Biskuitrolle am Ende zubringen. Den meisten organisiert er nebenher irgendwann die persönliche Beratung in der Bran- zum Lunch, Putenburger für zwischendurch. kussion über eine Fachfrage oder die an- so,M dass Holger Orlamünde zufrieden war. Dabei die Back stube neu, manche rettet er dabei vor der che geworden. Marketing ist keine Königsdisziplin mehr, es ist schaulichen Beispiele für die Unternehmens- backt der Bäckermeister aus dem niedersächsischen In solvenz. »Einen Biskuitboden ohne Emulgato- Der Branchendienst Backbusiness beschreibt essenziell geworden. So wurde auch der Arbeitstag philosophie. Und knüpfen Sie mit den drei Schwarme seit 40 Jahren Brot, Brötchen und Ku- ren herzustellen ist sehr schwer«, bestätigt der Messemer denn auch als »sehr umtriebig« und zi- der Bäcker, der morgens um zwei Uhr beginnt, Argumenten, die Sie für sich anführen, auch chen – erfolgreich. Sein Großvater hatte die Bäcke- Backberater. tiert zugleich Branchenvertreter, die ihn einen immer länger. Nach der Schicht in der Backstube an Informationen an, die Sie erst im Vor- rei 1919 gegründet, er selbst baute den Betrieb auf »Es ist wichtig, dass ihr genau arbeitet«, sagt er Quertreiber nennen. Denn Backmittelunterneh- schließt sich die zweite Schicht im Büro an. Die stellungsgespräch erhalten haben – statt nur sechs Filialen und drei Marktwagen aus. zu Holger Orlamünde. Messemer bringt dem men wie Puratos oder die Dr.-Oetker-Tochter meisten Bäcker-Unternehmer haben einen Zehn- Ihren Bewerbungsbrief nachzuplappern. Seinen Erfolg hat der Bäcker allerdings mithilfe Bäckermeister keine Techniken bei, die dieser nicht Martin Braun büßen Umsatz ein, wenn Messemer bis Zwölfstundentag, an sieben Tagen der Woche. Welche Form ist besser, Brief oder Mail? der Backmittelindustrie erreicht – wie das Gros ohnehin draufhat. Er stößt ihn vielmehr darauf, zu Werke geht. Eine Bäckerei, die eine Million Denn fast jede Bäckerei hat heute auch sonntags Ein Brief ist die größere Rarität, er erregt seiner Kollegen. Kaum ein Brötchen, kaum ein aufmerksamer und konzentrierter zu Werke zu Euro im Jahr umsetze, könne 60 000 Euro ein- geöffnet. Kein Wunder, dass die enorme Arbeits- mehr Aufmerksamkeit. Die Mail sollten Sie Kuchen aus deutschen Bäckereien wird noch ohne gehen. »Dazu gehört, dass ihr die Rezepte sparen, wenn sie sämtliche Backmittel rausschmei- erleichterung, die die freundlichen Kollegen von vorziehen, wenn ein Bewerbungsverfahren Fertigmischungen oder Zusätze produziert. Wenn genau notiert, die Bestandteile exakt abwiegt, die ße und alle Backwarenkomponenten selbst her- Dr. Oetker & Co. ins Haus brachten, hochwill- kurz vor der Entscheidung steht und eine Orlamünde seine Biskuitböden mit Backmischun- Ruhezeiten beachtet und die Ergebnisprotokolle stelle, rechnet Messemer vor. Eine Milliarde Euro kommen war. schnelle Wortmeldung gefragt ist. gen herstellte, musste er nicht lange experimentie- genau führt.« Eigentlich setzt beispielsweise Puratos Wer seinen Auftritt als Bewerber mit ei- ren, er schüttete alle Zutaten in einen Topf und eine Selbstverständlichkeit. weltweit um, Deutschland »Man braucht keine zwanzig Sorten nem solchen Schreiben abrundet, bekommt hatte den Teig binnen vier, fünf Minuten fertig. Orlamünde zuckt mit den gehört zu den wichtigsten Brot«, sagt der Bäckerberater zwar keinen Liebesbrief als Antwort – aber in Erfolgsgarantie: 100 Prozent. Schultern: »Man muss schon Märkten. vielen Fällen eine Zusage. MARTIN WEHRLE Trotzdem hatte er im vergangenen Jahr die Nase selbstkritisch sein und fest- Auch der Zentralver- Dass es nun einen Gegentrend gibt, ist für Markus voll von all den Hilfsmitteln. Von den vielen Fer- stellen, dass man die bis- band der Handwerksbä- Messemer logische Konsequenz: »Die Zutatenliste Unser Autor ist Coach. Sein neues Buch heißt tigmehlen, Emulgatoren und Aromen, die er beim herige Arbeitsweise viel zu cker ist nicht begeistert von der Produkte, die heute auf dem Markt sind, wird »Ich arbeite in einem Irrenhaus« (Econ) Kuchen unterrührte und selbst nicht verstand. wenig hinterfragt hat.« Bei Messemers Äußerungen, immer länger. Zugleich gibt es aber immer mehr Und vom unguten Gefühl, seinen Kunden nicht den Fertigmischungen wenn dieser sagt, deutsche Allergiker, die verträgliche Lebensmittel suchen, beste Handwerksware zu bieten. Zwar hatte sich kommt es eben nicht auf Bäcker hätten ihr Hand- und Menschen, die sich bewusst ernähren wollen.« niemand beschwert – aber der Bäcker selbst konnte zehn Gramm mehr oder werk verlernt. »Fast alle Wenn eine Bäckereiverkäuferin nicht beantworten TIPPS UND TERMINE es nicht mehr mit seiner Berufsehre vereinbaren, weniger an. Wenn Messe- Bäckereien arbeiten nach könne, ob ein Kuchenstück Soja, modifizierte dass er zum Anrührer geworden war. Orlamünde mer erzählt, wie manche traditionellen Rezepten«, Stärke oder Aromen enthalte – »Und diese Frage wollte zurück zu den Wurzeln, wieder so backen, Bäcker arbeiten, hat das Markus Messemer (Mitte) berät widerspricht Amin Wer- können oder sollen die allermeisten Verkäuferin- Social Entrepreneurship wie sein Großvater das getan hatte. Und damit ungewollt humoristische den Bäcker Holger Orlamünde (re.) ner, der Hauptgeschäftsfüh- nen auf Anweisung ihres Chefs nicht beantworten« An der Handelshochschule Leipzig nicht mehr »Handlanger der Backmittel industrie Züge: »Da wird mit sehr rer. »Und selbstverständ- –, sei das ein Wettbewerbsnachteil für einen Be- (HHL) findet am 12. Mai die Soci al- sein«, wie er sagt. unterschiedlichen Maß- lich lernen Bäcker ihr Hand- trieb. Der Mann mit dem dunklen Haar und den En trepreneurship-Konferenz statt. Dort einheiten hantiert. Manche rechnen in Teigscha- werk in der Ausbildung. Das Niveau in Berufs- und Schatten unter den Augen spricht schnell. Auch kommen Unternehmer aus den Berei- »Blubs« als Maßeinheit in der ber-Ecken, andere verwenden eine Handvoll, Meisterschulen ist hoch.« sein Arbeitstag orientiert sich an den Arbeitszeiten chen Bildung, Umwelt und Fair Trade Backstube – wie soll das funktionieren? manche tun so viel Zimt hinzu, bis die Farbe Doch was nützt alle Qualität in der theoreti- der Bäcker – zuzüglich der Fahrtzeiten quer durch zu Wort. Anmeldungen sind bis zum richtig ist, ohne dass festgeschrieben ist, was schen Lehre, wenn der ausbildende Betrieb dann die Republik. 1000 Euro Tagessatz verlangt er für 15. April möglich unter: www.accele- Einfach war das nicht. Allein der Biskuitboden, der ›richtig‹ ist. Und bei Flüssigkeiten arbeiten viele auf Backmischungen setzt? »Dass Bäcker Vormi- seine Dienste – und überlegt, sein Honorar weiter rate-entrepreneurship.com früher im Handumdrehen fertig war, verlangte nun mit ›Blubs‹. Keine Ahnung, wie das funktionie- schungen verwenden, können wir natürlich nicht zu erhöhen. Die Nachfrage ist groß, außerdem wesentlich mehr Zeit. Mehl, Wasser, Eier – die Be- ren soll.« ausschließen«, sagt Werner. »Doch da ist auch erzielen die Betriebe durch seine Beratung kräftige Journalistenaustausch standteile mussten nacheinander zugefügt, manche Seitdem Messemer Holger Orlamünde unter- nichts Verwerfliches dabei, da es sich in der Regel Einsparungen. Beim Stipendienprogramm der In- erhitzt werden, um dann wieder abzukühlen. So stützt, teilt der Bäcker sein Unternehmerdasein in um Randsortimente handelt.« Auch Orlamünde hat die Ausgaben für den ternationalen Journalisten Program- arbeitete der 52-Jährige nun 30 Minuten an einem zwei Zeitabschnitte auf: In die Zeit, bevor er »den Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Rohstoffeinsatz gesenkt. Er überlegt nun, sein me (IJP) für die Türkei erhalten fünf Teig, den er sonst in einem Sechstel der Zeit fertig Herrn Messemer kannte«, mit all den Backversu- eine urdeutsche Branche dazu übergeht, Bienen- Sortiment zu überdenken. »Man braucht keine junge deutsche Journalisten die Mög- hatte. Bei einem deutlich geringerem Output: Frü- chen, die schiefgegangen waren – und in die Zeit stich, Berliner oder Brötchen aus der Tüte an- 15 oder 20 Sorten Brot«, meint Messemer. Denn lichkeit, zwei Monate in einem türki- her konnte er aus dem Teig bis zu 20 Tortenböden danach. Heute kann er ohne Backmischungen ar- zurühren? Bei der Beantwortung dieser Frage der Kunde wähle aus dem Angebot, das vorhan- schen Medium zu arbeiten. Zeit- machen, jetzt waren es maximal fünf. Ohne Ge- beiten, weil Messemer Schritt für Schritt mit ihm hilft ein Blick zurück. In den 1960er/70er Jahren den sei, egal, wie viele Varianten im Regal lägen. gleich wird dieses Stipendium für währ, dass sie gelingen würden. Denn je mehr Zu- durchgesprochen hat. Sie haben Bestandsaufnah- galt meist das Prinzip: Ein Bäcker, ein Laden. Je breiter das Angebot, desto mehr Arbeitszeit Journalisten aus der Türkei ausge- taten abgewogen, je mehr Ruhe- und Erwärmungs- men gemacht, Protokolle verfasst und Fehlerana- Der Bäckermeister stand selbst in der Backstube, kostet es den Bäcker. Orlamünde hat einen neuen schrieben, die sich für einen Arbeits- zeiten penibel eingehalten werden müssen, desto lyse betrieben. Ein geschützter Beruf ist der verkaufte manchmal mit, die Buchführung Kollegen eingestellt. Das verursacht zwar mehr aufenthalt in Deutschland bewerben mehr Fehlerquellen gibt es. Als Orlamünde all- Back berater freilich nicht. Es gibt auch kaum mach te er am Sonntag, nachdem er ausgeschla- Personalkosten, aber die Geschäfte laufen gut. können. Das Stipendium umfasst mählich die Geduld verlor, hörte er in der Branche Kollegen, die eine ähnliche Arbeit wie Messemer fen hatte. Als dann Filialbetriebe wie Kamps und Demnächst eröffnet Orlamünde eine weitere 3500 Euro und beginnt Anfang Ok- von einem Berater, der sich auskennt mit solchen machen. Er ist ein Unikat. später die Supermarkt- und Discounter-Back- Filiale. Unter die angestammte Kundschaft mi- tober. Bewerben können sich Journa- Fällen: Markus Messemer. Rastlos ist er, Messemer will sich selbst stets stationen die Handwerker mit Kampfpreisen schen sich zunehmend neue Gesichter. Die Leute listen zwischen 23 und 35 Jahren bis Der 39-jährige Pfälzer ist keine imposante Er- verbessern, seine Ansprüche an sich und seine unter Druck setzten, expandierten auch die klei- fragen häufiger, was drin ist im Brot. Und die zum 15. April. www.ijp.org scheinung, weder groß noch klein, weder dick Kunden sind hoch. Immer wenn ihm langweilig nen Bäckereien. Sie eröffneten Filialen oder Verkäuferinnen sind nun froh, ganz offen und noch dünn, zum gestreiften Hemd trägt er Jeans, wurde, wechselte Messemer den Beruf. Auch sein übernahmen den Betrieb ihres Kollegen. Peu à ehrlich antworten zu können. Auch die Biskuit- Karrieremesse nicht nur für Schwule keine Schürze. Wenn aber Orlamünde – oder an- Dasein als Bäcker fand er irgendwann zu eintönig. peu mussten sie sich nicht mehr nur um die rolle ist wieder hoch im Kurs – sie gelingt Orla- Zum dritten Mal findet am 9. Juni dere in der Branche – von ihm zu erzählen begin- Er erzählt von einer Art psychosomatischer Er- Qualität ihrer Backwaren kümmern, jetzt muss- münde und seinen Kollegen inzwischen ohne Europas größte Job- und Karrieremesse

Fotos: Marlene Ford, Coll.: Flickr/Getty Images (o.); Felix Amsel für Felix Images DIE ZEIT (m.); Zoonar/Getty Coll.: Flickr/Getty Images (o.); Marlene Ford, Fotos: nen, wird er zum Messias des Bäckereihandwerks. krankung, bei der sein Arm zu kribbeln beginnt, ten sie auch Mitarbeiter einstellen, das Lebens- Probleme. »für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Trans- gender und Heteros«, die »MILK«, statt. Zahlreiche renommierte Unter- nehmen wie Allianz, Deutsche Bank, Deutsche Telekom, Deutsche Post DHL, Google oder IBM werden zwi- schen 11 und 18 Uhr im Berliner Hotel »nhow« vertreten sein. Anmeldeschluss ist am 15. Mai. www.milkmesse.de ZEIT DER LESER S. 88

4. April 2012 DIE ZEIT No 15 87 LESERBRIEFE o Aus N : So – nie 13 22. März 2012 Sabine Rückert: »Der Fall ›Tatort‹« ZEITMAGAZIN NR. 13

Ich bin vom Fach (ehemalige Richterin) und versuche immer wieder, Bekannten und Freunden zu erklären, dass eine po- Wie viel? lizeiliche Untersuchung nie so abläuft und in einem Rechtsstaat auch nicht so Thomas E. Schmidt: »Schluss ablaufen dürfte. Dennoch: Der Zuschau- mit dem Theater« ZEIT NR. 13 er freut sich offenbar, wenn Verbrecher hart angegangen werden, und hört nicht Auch für das Buch Kulturinfarkt gilt: gerne, dass auch Verdächtige und Straffäl- »Von allem zu viel und überall das Glei- lige Menschen sind, die ihre Rechte ha- che«. Trotzdem ist das Buch willkom- ben. Was übersehen wird: Die rechts- men, da es eine längst überfällige Dis- staatlichen Garantien schützen jeden kussion anstößt. Was ist Kultur, welche Bürger, auch uns, die sich nicht zu den Kultur will man fördern beziehungs- Verdächtigen und Straffälligen zählen. weise erhalten? Wenn wir und nicht die anderen betrof- Im Gegensatz zum »produzierenden Kul- Zum Beitrag von Hilal Sezgin im Feuilleton: »Von Mäusen und Menschen«, ZEIT Nr. 13 fen sind, sieht alles anders aus. turbetrieb« wird im Buch der für Museen Dr. Verena Bräm, Kilchberg, Schweiz wichtige Aspekt der Kulturgütererhal- tung nur gestreift. Es wäre dringend ge- Wie kann es angehen, dass im öffentlich- boten, auch über den sinnvollen Umgang rechtlichen Fernsehen jeden Sonntag zur … und Bio schmeckt doch besser mit materiellem Kulturgut in unseren besten Sendezeit unser Rechtssystem ad Sammlungen und Archiven nachzuden- absurdum geführt wird? Ist das – außer ken. Wie viel von was und wo? Hier stellt Titelthema: »Die Wahrheit über Bio« ZEIT NR. 13 Ihnen – noch niemandem aufgefallen?? sich analog zum Buch (Seite 209) die In der Praxis mag es Verstöße gegen die Frage, ob eine Reduktion der Bestände Rechtsordnung geben; aber offensichtlich »Ist Bio auch gesünder?« das Fehlen von Pestizideinsätzen und Wie der Experte für Risikobewertung »Hat die Natur etwas von Bio?« eine Tragödie wäre oder ob sich durch die werden diese in der Sonntags-Krimiserie die aufwendigere Bodenbearbeitung zu einräumt, gibt es bei den Wechsel- gezielte Auswahl langfristig eine höhere als Normalfall dargestellt – eine verant- Ob eine Ernährung gesund ist oder nicht, den wesentlichen Unterschieden zwi- wirkungen von Pestiziden Kenntnis- Die meisten einjährigen Nutzpflanzen, Sammlungsqualität erreichen ließe. wortungslose Erziehung zur Verachtung hängt eindeutig auch von der Schadstoff- schen Bio- und konventionellem An- lücken. Worauf fußt also Ihre Aussage, besonders Kartoffeln und die meisten Die Strategie lautet, die Bestände be- unseres Rechtsstaates! Stattdessen müsste belastung der Lebensmittel ab. bau. Der bisherige Mangel an wissen- Lebensmittel aus Ökoanbau sind nicht Gemüsearten, können nicht mehrere wusst und reflektiert zugunsten des gezeigt werden, dass man sich erfolgreich Zu bedenken geben möchte ich, dass es schaftlichen Studien, vor allem an gesünder als konventionelle? Jahre, meist nicht einmal zwei Jahre, hin- Ganzen zu reduzieren. Welche Mittel gegen solche Übergriffe wehren kann, wie für die meisten Pestizide keine Langzeit- Langzeitstudien über die Wirkung von Thomas Mehling, Hamburg tereinander angebaut werden. Auch beste sind wir bereit, für diese Aufgabe ein- Sie es in Ihrem Artikel andeuten. studien gibt. Weiterhin existieren kaum Pestiziden im menschlichen Körper, be- Versorgung mit Nährstoffen ändert da- zusetzen, und wo müssen wir bewusste Christine Harder, Fockbek Studien zur Wechselwirkung mehrerer sagt nicht, dass diese Stoffe nicht giftig »Was motiviert den Biokäufer?« ran nichts. Dies gilt für alle Bauern. Abstriche machen? Wirkstoffe auf den Organismus. Ich fra- sind und keine Auswirkungen haben. Fruchtfolge ist keine Maßnahme der Dr. Joachim Huber und Karin von Lerber, ge mich, ob dies überhaupt erwünscht Marianne Pollich, Stellt man diese Frage einer Verbrau- Nährstoffversorgung, andernfalls könnte Museumsberater, Winterthur/Schweiz ist. Meiner Meinung nach würden die- Erkrath cherin, die gern Gemüse, Obst, Eier, konventioneller Anbau wegen der Nähr- se Studien zeigen, dass ein sofortiges Geflügel und anderes von Bioland kauft stoffversorgung über Mineraldünger auf Umdenken und ein Umstellen der Sind die zuständigen Behörden, selbst und isst, wird die Antwort ganz ein- Fruchtfolge verzichten, was nicht der Fall Notwendig Landwirtschaft und der Ernährung wenn sie nicht von Lobbys beeinflusst fach: Mich motiviert, dass Bio besser ist! Auch konventionell wirtschaftende Sophie Crocoll: »Der Wert des notwendig ist. werden, aufgrund der Komplexität der schmeckt! Bauern müssen die Bodenfruchtbarkeit Sonja Müller-Kaya, Materie überhaupt in der Lage, richti- Der natürliche, nicht von Pestiziden und pflegen und erhalten, sonst würden die Keine Arbeit ZEIT NR. 13 Chefs« Dipl.-Oecotrophologin, Hamburg ge und zeitnahe Entscheidungen zu Düngern beeinflusste Wohlgeschmack Erträge sinken. treffen? von Bioerzeugnissen hat mich über- Wegen der nicht optimalen Nährstoff- C. Drösser: »Stimmt’s« NR. 13 Begründet man die im Vergleich zu Ar- Die Auswirkung von Pestiziden, Herbi- Gibt es nicht zahlreiche Lebensmittel- zeugt. Viele gute Köche denken ebenso. versorgung im Bioanbau sind dort die beitnehmern der unteren Unternehmens- ziden, Fungiziden, der Beschaffenheit skandale? Sind die berechneten Grenz- Und das soll ein nicht begründbarer Erträge erheblich niedriger als im kon- In der Antwort auf die Frage »Haben ebene höheren Gehälter der obersten mit der Böden auf die Nahrungsmittel und werte für einzelne Pestizide et cetera für Glaube sein? Gegen die Behauptung, das ventionellen Anbau. Der Bioanbau hat Steinzeitmenschen nur vier Stunden am dem hohen Einfluss der Unternehmens- deren Gesundheit für den Menschen den Menschen wirklich unbedenklich, Biolabel trübe das Urteils vermögen, das Problem der tendenziellen Unter- Tag gearbeitet?« heißt es, dass die »Urein- führung auf den Unternehmenserfolg, waren explizit nicht Gegenstand der be- wenn man sich vor Augen führt, dass es muss ich mich entschieden wehren. versorgung mit Nährstoffen. Der kon- wohner« Australiens noch heute »stein- dann sind alle Unternehmensleiter auch sagten Studie. Damit kann aber eine 400 zugelassene Pestizide gibt, die durch- Schade, dass in den Berichten am ventionelle Anbau steht in der Gefahr der zeitlich« leben würden. Abgesehen davon, im Falle von Verlusten verantwortlich und verallgemeinernde Aussage, dass Bio- aus auch kombiniert und nacheinander Schluss der Eindruck entstand, Bio- Überdüngung, denn der Boden kann dass man die »Ureinwohner« zumindest müssen mit ihrem über die Firma ver- lebensmittel nicht gesünder als kon- eingesetzt werden, und dass ein Mensch käufer seien egoistische Dummchen, die nicht beliebige Mengen an Nährelemen- höflicherweise indigene Australier nennen dienten Vermögen aufkommen. Sollten ventionell angebaute seien, gar nicht sie sein ganzes Leben lang zu sich auf Placebos hereinfallen. tionen zwischenspeichern. sollte, bezieht sich Christoph Drösser auf die »Chefs« und US-Ökonomen Lazear getroffen werden. Schließlich gehören nimmt? Ruth Stiegel, Neu-Ulm Artur Behr, Hermannsburg ethnologische Studien, die eigentlich nur und Kollegen zu dem Ergebnis kommen, die Lebensweise vor einigen Jahrhunder- dass sie das nicht wollen, ist es an der Zeit, ten meinen können und nicht die heutige. sich von den wahnwitzigen bestehenden Die meisten der indigenen Australier le- Einkommensunterschieden und Recht- ben in den Großstädten, was eine stein- fertigungsansätzen wie dem von Lazear Ein Machtwort von Joachim Gauck zeitliche Lebensweise doch sehr schwierig und Kollegen zu verabschieden. machen dürfte. Dass sie vielleicht nicht Ein Gegenansatz wäre aus meiner Sicht Ulrich Greiner: »Dank, Liebe, Verlangen ZEIT NR. 13 mehr als vier Stunden pro Tag arbeiten, folgender: Jeder Mensch sollte nach sei- mag eher daran liegen, dass viele keine nen Fähigkeiten eingesetzt werden. Ob Über Herrn Gauck wird sich der trans- ließ er völlig offen. Etwa das Europa der vertrauen und gegen Ängste. Bürger Ohren abzuquasseln«. Da dürfte gele- Arbeit haben. wir die Fähigkeiten und das Interesse parente Wutbürger hoffentlich noch zusammengewürfelten Nationalstaaten, und Politiker müssen einander wieder gentlich der Pastor Gauck nahe dran Elisabeth Bähr, Speyer haben, ein Unternehmen zu führen, oder wundern. Der Mann weiß zu schätzen, des Fiskalpaktes und der Schulden- näherkommen! Es braucht »Distanz- sein, wenn man zu seinen ausdrucks- ob unsere Stärken eher in der genauso was Politiker und ehrenamtlich enga- bremsen, wobei jeder Staat nur auf Verkürzung«. Damit Bürger als Bürger starken Proklamationen die weniger wichtigen handwerklichen Arbeit liegen gierte Bürger in diesem Land leisten. Ja, seinen eigenen finanziellen Vorteil be- wahr- und ernst genommen werden. überzeugenden Ansichten in seiner oder im Bereich der Kinderbetreuung, ist es gibt auch hier viele Probleme. Alles dacht ist? Etwa das Europa, welches Karl Brunner, Klagenfurt/Österreich Schrift Freiheit nachliest. Darin wird der Ihre Zuschriften erreichen uns am vor allem genetisch und soziokulturell be- in allem aber läuft es schon verdammt von den Banken und Börsen dominiert derzeitige Schwerpunkt seiner Reden, schnellsten unter der Mail-Adresse: dingt, mit anderen Worten, dafür ist man gut in unserem Land. Das ist auch ein und ruiniert wird? Oder vielleicht doch Joachim Gauck liebt den öffentlichen der Freiheitsbegriff, eher verschwom- [email protected] selber nicht hauptverantwortlich. Nach Verdienst der vom Volk allzu oft ge diss- die Vereinigten Staaten von Europa, die Auftritt mit großer Geste. Der Mann men dargestellt. diesem Ansatz müsste dann jeder rein ten Politiker! sich für direkte Demokratie, das Wohl stellt etwas dar: gutaussehend, frei re- Joachim Gauck wird hoffentlich gele- Beilagenhinweis nach seiner Arbeitszeit entlohnt werden. Markus Meister, Berlin ihrer Bürger, mehr soziale Gerechtig- dend und emotional vielgestaltig im gentlich auch ein »Machtwort« im Stil Mir ist klar, dass dieser Ansatz zu kurz keit, Frieden und gemeinsame Stan- persönlichen Ausdruck. So einen Dar- des Herrn von Weizsäcker an die tat- Die heutige Ausgabe enthält Prospekte greift. Aber er ist ein notwendiger Ge- Bundespräsident Joachim Gauck stellt dards in Europa engagieren? steller kennt man eigentlich nur vom sächlich Regierenden richten müssen, folgender Firmen, in der Gesamtauflage: Südtirol Marketing K.A.G, I-39100 genansatz, um einen notwendigen und explizit eine Idee in den Mittelpunkt Roland Klose, Bad Fredeburg dramatischen Theater. ohne direkte politische Macht ausüben Bozen; in einer Teilauflage: Ikarus De- deutlich gerechteren Kompromiss zur seiner Rede: »In Zeiten der Finanz- und Wie der Volksmund treffend sagt, ha- zu können. sign Handel GmbH, 63571 Gelnhausen; bestehenden Regelung zu finden. Bankenkrise sollten wir mehr Europa Bundespräsident Gauck plädiert ein- ben Kirchenleute manchmal die rheto- Dr. Horst Grünwoldt, Rostock sowie Greenpeace Media GmbH, Dr. Björn Mesenholl, Münster wagen.« Welches Europa Gauck meint, drucksvoll für (mehr) Mut und Selbst- rische Fähigkeit, den Menschen »die (geb. 1945, 1966 DDR-Ostseeflüchtling) 22767 Hamburg im ZEITmagazin 4. April 2012 Leserbriefe siehe Seite 87 DIE ZEIT No 15 8 8

2001 2011 Liebe ZEIT-Leserinnen Was mein und -Leser, »Ostern, das liebliche Fest ...« LEBEN Sie wissen Bescheid! Naheliegend also, dass reicher macht es diesmal im »Zeit- sprung« um Hasen Kapstadt, Anfang des Jahres, mein erster Besuch in dieser wunderbaren geht und dass wir die Stadt. Ich sitze mit meinem Freund Goethe-Parodie von in der Sonne am Greenmarket Squa- re und bestelle einen Cappuccino. Klaus Peter Poppe Der Ober reicht die Tasse meinem Zeitsprung Freund und sagt: »Geben Sie ihr den für diese Ausgabe am Kaffee!« Wir schauen irritiert. Da passendsten fanden. Am Ostersonntag 2001 bekamen unsere Enkel, voll umklammern. Zehn Jahre später, im Sommer fällt auf, dass die Tierchen hinter den mächtig ge- sehe ich den Milchschaum. Da Von Frühlingsgefühlen die damals dreijährigen Zwillinge Amir und Skan- 2011, erklärten sie sich nach einigem Zureden be- wachsenen Hän den fast vollständig verschwinden. steht: »I love you darling«. der, je einen Porzellan-Osterhasen geschenkt, den reit, das ursprüngliche Bild am gleichen Ort nach- Conny Lammel, Kassel ist auf dieser Seite sie in dem noch frühlingshaft kahlen Garten liebe- zustellen. Außer dem veränderten Hintergrund Hilde Schlömann und Werner Kullbach, Jülich Nach vier Monaten, in denen einiges ohnehin auch noch die in unserer Beziehung schiefgelaufen Rede. Mehrmals. WL ist, wieder fast jeden Abend liebevoll an die große Liebe meines Lebens zu schreiben. Mit der Gewissheit im EIN GEDICHT! Wiedergefunden: Herzen, dass ich nur mit ihr vor dem Kamin im Haus in der Provence Klassische Lyrik, neu verfasst Das Bild liegen will. Mein Martin Postel, Darmstadt vom Vater Im Supermarkt, vor dem Eierregal, Wort-Schatz Osterspaziergang 2012 versucht eine Frau, sich in dem An- (Nach Johann Wolfgang von Goethe, »Faust I«) gebot zurechtzufinden. Sie hat zwei Nicht der Speicher, nicht der schick Seit Jahren versuche ich, die Familie meines kleine Kinder bei sich. Das größere ausgebaute Dachboden, nein: der Vaters ausfindig zu machen. In vielen Ar- tippt auf ein Ei und fragt: »Mama, Söller ist der Ort meiner Kindheit, Vom Eise befreit sind Chrom und Bleche chiven habe ich schon geforscht, mit zahl- warum ist da ein Stempel drauf?« – auf dem ich mit meinem Bruder in Durch Waschmittel und des Frühlings wärmenden Blick, reichen Experten gesprochen. Bisher ohne »Damit man weiß, woher die Eier den fünfziger Jahren eintauchte in Ergebnis. Jetzt habe ich ein Foto gefunden, kommen«, antwortet die Mutter, ein eine andere Welt. Schummrig be- Im Tale dröhnt Motorenglück; auf dem mein Vater vor einem markanten wenig genervt. Da tönt es aus dem leuchtet durch nur eine kleine Kirchturm abgebildet ist. Die Aufnahme Einkaufswagen: »Von den Hüh- Die Winterreifen, in ihrer Schwäche, Dachluke und eine am Dachfirst entstand sehr wahrscheinlich im Jahr 1942. nern!« So einfach ist das Leben aus pendelnde Glühbirne, unheimli- Rollt’ man in dunkle Garagen zurück. Damals wurde mein Vater in einem Lazarett der Sicht eines Dreijährigen. che Ecken unter der Dachschräge, in Dallgow-Döberitz im Havelland be- Spinnweben und Staub, ein leichter Von dorther brechen nun brummend hervor handelt, nach der Genesung war er in Süd- Elisabeth Weber-Strobel, Heidenheim Duft von Mottenkugeln und Muff: frankreich stationiert. Mächtige Wagen zu tollem Gerase, Dort war das Refugium der ab- Wenn ich nun wüsste, in welchem Ort dieser Kirchturm steht (oder stand?), könnte mir dies Meine S-Bahn-Mitfahrerin. Erst gelegten Dinge, von denen sich Vereinen sich zu einem tosenden Chor, eventuell helfen, die militärische Einheit ausfindig zu machen, zu der mein Vater gehörte. kann ten wir uns nicht. Aber sie saß meine Eltern in der Nachkriegszeit Ob irgendein ZEIT-Leser diesen Kirchturm wiedererkennt? morgens immer schon in der Bahn, Den Himmel verdunkeln die Auspuffgase. nicht trennen konnten. Regale mit wenn ich einstieg. Immer am glei- alten Büchern, Zeitschriften, Poe- Überall regt sich der Werbung Streben, Rudolf Hanov, Weilheim an der Teck chen Platz. Und jetzt verbringen wir siealben in alter, unlesbarer Schrift, die halbstündige Fahrtzeit mit Ge- Pappkartons voller welliger, nicht Überall will man den Umsatz noch heben, sprächen über Familie und Feste, eingeklebter Schwarz-Weiß-Fotos, Doch an Blumen fehlt’s im Revier, ! Politik und Kultur. Am schönsten Schubladen mit Krimskrams; nicht aber ist unsere gemeinsame Garten- zu vergessen ein alter Kleider- Wir seh’n geputzte Autos dafür. STRASSENBILD leidenschaft. Da vergeht die Fahrt schrank, dessen quietschende Tü- fast schon zu schnell. Am nächsten ren uns den Blick auf alte Kleider, Kehre dich um, von diesen Brücken Morgen dann können wir uns wie- Hüte und Taschen öffneten, mit Auf die Autobahn zu blicken! dersehen – wenn keine von uns Ur- denen wir uns gern verkleideten. Klare laub hat oder krank ist. Da bleibt der Der Söller war für mich ein heime- Aus dem schmalen Raststättentor Platz leer. liges Eintauchen in die Vergangen- Aussage heit unserer Eltern. Drängt ein buntes Gewimmel hervor. Beate Schierle, Esslingen Johanna Gossel, Mönchengladbach Jeder drückt auf das Gas heut so gern. Büchereien! Als Mädchen, auf- gewachsen in einem Dorf im Müns- Im November kann ich mich kaum Wen kümmert die Auferstehung des Herrn? terland, haben mich die Bücher, die noch erinnern, in der Adventszeit Sieh nur, sieh! wie schnell sich die Menge ich nach der Sonntagsmesse in der denke ich an das bevorstehende Pfarrbücherei ausleihen konnte, in Fest, doch im Januar und Februar Auf den Straßen und Wegen verkeilt, die weite Welt geführt. Später waren wünsche ich mir, dass mich bald Wie ein Stau in Breit und Länge Büchereien häufig die erste Anlauf- mein Lieblingswort überkommt: stelle in einer fremden Stadt. Heute Frühlingsgefühle. Ist es nicht herr- Vor dem nächsten Engpass verweilt. Vergangenen Herbst verbrachten mein Liebster und ich einen traumhaften Kurzurlaub am versorge ich mich samstags mit Obst lich, wenn die ersten Schneeglöck- Achensee in Tirol. Bei einem Spaziergang sahen wir diese Wegweiser. Zur Information: Rote und Gemüse auf dem Markt und chen erscheinen, die Krokusse Und bis zum Achsbruch überladen Punkte bedeuten eine eher schwierige Route, Schwarz steht für sehr schwierig. Somit war für dann mit Büchern in der Bibliothek. sprießen und dann die Osterglo- uns klar: Eine all zu große Anstrengung im Urlaub ist einfach unnütz! Und ein nettes Wort von den Mit- cken und Tulpen die Gärten zum Entfernt sich hier ein Caravan. arbeiterinnen dort bekommt man Leuchten bringen? Dann habe ich Yvonne Gächter, Götzis, Österreich Schon von des Berges fernen Pfaden auch noch ganz umsonst. wieder meine Frühlingsgefühle. In früheren Jahren habe ich natürlich Blinken uns grelle Scheinwerfer an. Margarete Gemmeke, Eutin auch anderes unter diesem Wort An der Uferpromenade von Seattle subsumiert. Gar mancher fährt zu früh gen Himmel fährt die Eisenbahn vorbei. Manch- ALLTAGSKUNST Hans-Günter Loock, Aus diesem Straßen-Schlacht-Getümmel, mal sehr langsam. Heute hatte ich Friedrichsdorf Zerschlagen fragt sich Groß und Klein: die Zeit, alle Wagen eines Güterzugs zu zählen. Zu Hause in Deutschland Ruscheldupps – so nannte meine Bin ich hier Mensch? Muss das so sein? werde ich meinen beiden eisenbahn- Mutter, die aus Ostpreußen stamm- Die Kritzelei der Woche begeisterten Söhnen berichten, wie te, zärtlich ihre Enkelkinder, wenn sie unruhig auf ihrem Schoß he- viele Wagen die Züge in den USA rumturnten. Ein liebevoller und Klaus Peter Poppe, Quakenbrück haben. Es waren genau 56. lautmalerischer Ausdruck – viel- Nikolaus Braun, Friedrichsdorf leicht ähnlich unserem hessischen Zusammen mit meiner Freundin Zappelphilipp. Und niemand dach- den Nachbarinnen beim Aufbau von te dabei an ADHS. Möbeln helfen. Und danach von Christel Heukäufer, Hadamar den beiden durch ein genüssliches Das ist mein Ding Sonntagsessen verwöhnt werden. So schön und lecker kann Nachbar- schaft sein! Zugegeben: »Mein Ding« ist weder schön noch wertvoll. In einer Phase star- Schicken Sie Ihre Beiträge für Doch schon in meiner Kindheit in den fünfziger Jahren hat ker psychischer An- Kay Adenstedt, Halle an der Saale »Die ZEIT der Leser« bitte an: die stabile Kehrschaufel aus Metall dafür gesorgt, dass nichts spannung beschäf- unter den Tisch gekehrt wurde. So gezeichnet von einem tigen mich immer Die Neuausrichtung unseres Unter- [email protected] langen Arbeitsleben, wie sie jetzt ist, hätten die meisten sie wie der beängstigen- nehmens bringt viel Unerfreuliches oder an vermutlich längst ausgemustert. Selbst ich habe dem guten de Gedankenspiralen. mit sich. Und trotzdem albern wir Redaktion DIE ZEIT, alten Stück schon einmal den Rücken gekehrt, als mir jemand Um mich abzulen- manchmal ein paar Minuten auf »Die ZEIT der Leser«, einen stylischen, silbrig glänzenden Ersatz schenkte. Doch ken, kritzelte ich dem Flur herum. Mein Kollege hat 20079 Hamburg jenes neue Kehrblech war schon nach kurzer Zeit verbogen, drauflos. bei einer solchen Gelegenheit das und ich bin reumütig zurückgekehrt zu meiner unverwüstli- Diese Zeichnung ent- Wort »Abteilungsglück« erfunden. Die Redaktion behält sich die Hoffentlich vergessen wir es nie! Auswahl, eine Kürzung und die chen Kehrschaufel. Seit- stand in einem Zeit- übliche redaktionelle Bearbeitung dem kehrt sich alles wie- raum von mehreren Diana Jordan, Dornburg der Bei träge vor. Mit der Ein- der zum Besten. Tagen, spi ral för mig sendung eines Beitrags erklären von innen nach au- Neben mir im Café unterhalten sich Sie sich damit einverstanden, dass ßen. Währenddessen zwei Damen und ein Herr über das der Beitrag in der ZEIT, im Internet ging es mir stetig Für und Wider von Schönheits- unter www.zeit.de/zeit-der-leser besser. operationen. Mit einer Handbewe- und auch in einem ZEIT-der- gung zeige ich auf mein Gesicht. Da Leser-Buch (Sammlung von Sandra Gilles, beugt sich der Herr vor und meint: Leserbeiträgen) veröffentlicht »Ach, Sie sind so vielfältig!« werden kann Renate Steinhorst,Steinhorst, Aachen Bamberg Doris Roedig, Marburg